Ricki Nusser-Müller-Busch (Hrsg.) Die Therapie des Facio-Oralen Trakts 3. Auflage
Ricki Nusser-Müller-Busch (Hrsg.)
Die Therapie des Facio-Oralen Trakts F.O.T.T. nach Kay Coombes 3. Auflage Mit 125 farbigen Abbildungen und 13 Tabellen Mit Geleitworten von Kay Coombes und Prof. Dr. Peter Bülau Mit Beiträgen von: Jeanne-Marie Absil, Prof. Dr. Peter Bülau, Barbara Elferich, Dr. Ulrike Frank, Petra Fuchs, Karin Gampp Lehmann, Claudia Gratz, Wibke Hollweg, Daniela Jakobsen, Silke Kalkhof, Dipl.-Päd. Jürgen Meyer-Königsbüscher, Doris Müller, Ricki Nusser-Müller-Busch, MSc, Trine Schow, PhD, Dr. med. Rainer O. Seidl, Heike Sticher, MSc, Margaret Walker, Dr. med. Wolfgang Schlaegel
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Ricki Nusser-Müller-Busch, MSc Rüsternallee 45 14050 Berlin
ISBN-13 978-3-642-12942-1
Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
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Geleitwort Hirnveränderungen und ihre Folgen treten in sehr verschiedenen Formen und Schweregraden auf. Die Folgen von Hirnschädigungen können sehr einschneidend sein. Die auslösenden Ursachen sind verschiedener Art. An prominenter Stelle steht der Hirnschlag (und mit den Bemühungen um eine angemessene Therapie nach Schlaganfall ist der Name »Bobath« verbunden). Zusammenarbeit ist nötig: 4 Kooperation aller derjenigen, die den unmittelbar Betroffenen helfen, 4 Partnerschaft dieser »Helfer« untereinander und mit den Patienten sowie mit der Familie, 4 Verbindung zwischen den aktuellen Forschungsergebnissen und den Therapiemethoden des Rehabilitationsteams. Weltweit geht es darum, Menschen mit Hirnschädigungen ein sinnerfülltes Leben zu ermöglichen, so gut es unter den jeweiligen konkreten Bedingungen geht: 4 körperlich, 4 psychisch, 4 sozial. Der für die »Facial Oral Tract Therapy« (F.O.T.T.) charakteristische Grundzug der Kooperation kommt auch im Aufbau und in den Inhalten dieses Buchs zum Ausdruck. Diese in der Therapie gelebte Philosophie ist durchwegs handlungsanleitend in den Beiträgen. Die Autorinnen und Autoren kommen aus verschiedenen Fachrichtungen. Einige Texte entstanden als Gemeinschaftswerk. F.O.T.T. beschäftigt sich mit (Problemen beim) 4 Atmen, 4 (selbständigem) Essen und Trinken, 4 Schlucken und 4 verbaler und nonverbaler Kommunikation (besonders unter Einschluss des Gesichtsausdrucks und der Körpersprache). Das grundlegende Konzept der F.O.T.T. wird nun in diesem Buch dargelegt und an relevanten Behandlungsbeispielen aufgezeigt. Dabei ist zu beachten, dass F.O.T.T. keine starre Übungsabfolge ist, sondern eine Anwendung von Prinzipien, die auf der Physiologie des Menschen, den Neurowissenschaften und den Lerntheorien basieren. F.O.T.T. begleitet so die Therapeutinnen und Therapeuten (einschließlich Krankenpflege, ärztlicher Dienst und andere am Rehabilitationsprozess Beteiligte) bei der Betreuung »rund um die Uhr«. Behandlungsmethoden müssen maßgeschneidert sein, um die Bedürfnisse des individuellen Betroffenen zu treffen. Dabei ist unser aktuelles Wissen über normales und davon abweichendes Verhalten (nach Hirnschädigung) zu berücksichtigen – und dies bedeutet auch Zugriff auf aktuelle Technologien für Menschen mit »Handicaps«. Technische Geräte zur »Alternative & Augmentative Communication (AAC)« sind Beispiele hierfür. Dieses wichtige Thema wird in der ersten Auflage dieses Buches noch nicht abgedeckt, doch wer in diesem Bereich tätig ist, wird schnell erkennen können, wie wichtig und lohnend es ist, auch bei Auswahl, Einübung und Verwendung von High-tech- oder Low-tech-Hilfsmitteln die F.O.T.T.-Grundeinsichten praktisch umzusetzen. Oft passen die vorhandenen Fähigkeiten und die angebotenen Mittel nicht zusammen. So sehen wir in der Praxis beispielsweise Rollstuhlfahrer, die damit kämpfen, den E-Rollstuhl mit dem Joystick zu bewegen – ohne Möglichkeit, den Arm bei dieser Aufgabe abzustützen, und vielleicht wird dies noch durch instabile Fußstützen verschlimmert. Das vorhersagbare Resultat ist steigender Tonus (durch die Kombination von fehlschlagenden Versuchen, den Körper zu stabilisieren, auf Grund fehlender Balance, ohne angemessene dynamische Stabilität fehlschlagenden Versuchen einer willkürlichen, gezielten Bewegung und innerem Erregungsaufbau durch die Intention, sich anderen darüber mitzuteilen).
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Geleitwort
Kurz: Hier werden pathologischer Tonus und pathologische Handlungsmuster gefestigt. Diese aber sollten in der Rehabilitation »ent-lernt« werden, d.h., es ist nötig, hier gezielt zu hemmen und günstigere Muster anzubahnen, und dazu kann F.O.T.T. beitragen. Denn ohne den wirklich helfenden Eingriff gehen in diesem und anderen Fällen erhaltene Fertigkeiten verloren. Diese »spontane« Entwicklung unterdrückt die bei richtiger Behandlung mögliche Besserung. Für uns alle besteht die Verpflichtung, uns Rechenschaft abzulegen über unsere Vorgehensweisen bei Diagnose und Behandlung und über die Langzeitwirkung sowie die unmittelbar sichtbaren Ergebnisse der Behandlung. Wenn aufgrund medizinischer Fortschritte immer mehr Menschen auch schwere Schlaganfälle und schwere Hirnverletzungen überleben (mit schwergradigen und dauerhaften Behinderungen), ist auf der Seite der Rehabilitation die kontinuierliche Reflektion des Vorgehens und die Evaluation immer wichtiger, um bestmöglichst helfen zu können. Die Erforschung der Neurophysiologie normaler und gestörter Handlungsabläufe zeigt den Weg zur wirkungsvolleren Prävention und/oder Intervention. Aber in der Realität gibt es immer auch Verzögerungsgründe für die praktische Umsetzung des verbesserten theoretischen Verständnisses in der Therapie. Diese zeitlichen Verzögerungen müssen kürzer werden! Dazu kann auch beitragen – und das ist Ziel dieses Buches – die therapeutische Praxis präzise zu beschreiben und sie zu erklären. Die Beiträge entstanden aus Anlass des 1. F.O.T.T.-Syposiums im Oktober 2001 in Berlin. TherapeutInnen (mich eingeschlossen) und Krankenpfleger sind nicht gerade voller Selbstvertrauen, wenn es darum geht, eigene Erfahrung zu veröffentlichen. Ich persönlich stehe in der Schuld all der Autorinnen und Autoren dieses F.O.T.T.-Buches: Es freut mich, wie die komplexe und nicht leichte Aufgabe hier kooperativ gelöst wurde. Kay Coombes, 2004 (deutsch von Dr. V. M. Roth)
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Geleitwort Schluckstörungen nach einer Schädigung des ZNS können lebensbedrohlich sein. Bei gestörten Schutzreflexen werden sie häufig übersehen. Unsachgemäße orale Ernährung führt zur Aspiration, die erst nach Entwicklung einer Pneumonie klinisch auffällig wird. Dieses Problem wird mit zunehmender Kenntnis pathophysiologischer Zusammenhänge und intensiverer Betreuung der Patienten viel häufiger wahrgenommen. Insbesondere hat der Paradigmenwechsel von Versorgungspflege zu rehabilitativer Pflege den Blick für neurologische Funktionsstörungen geschärft. Das Verdienst von Kay Coombes, einer ausgewiesenen Sprachtherapeutin, ist es nun, neben einer genauen Beobachtung und Beschreibung dieses Funktionsdefizits auch fundierte Behandlungsansätze entwickelt und perfektioniert zu haben. Dabei kann sie sich auf die in der neurologischen Rehabilitation zusammengeführten vielfältigen Spezialisierungen und Kompetenzen der unterschiedlichen Berufsgruppen stützen. Das von ihr entwickelte Konzept der Facio-Oralen Trakt-Therapie (F.O.T.T.) beruht auf dieser breiten Interdisziplinarität. Die Autoren der hier publizierten Buchbeiträge repräsentieren somit auch alle Fachgebiete, die in eine erfolgreiche Therapie einbezogen sind. Nur die Synergie von Arbeiten am Schluckvorgang selbst, an der Atmung, der Stimme und der Körperhaltung erlauben die bemerkenswerten Resultate dieser Therapie. Diese intensive Arbeit am Patienten, oft nur als Doppelbehandlungen möglich, bindet große Personalressourcen der behandelnden Institutionen. Dies ist in unserer heutigen Zeit der Fallpauschalen und Ausgabenbegrenzungen nur sehr schwer zu vertreten. Deshalb ist es einerseits wichtig, die Behandlung durch begleitende wissenschaftliche Studien in ihrer Evidenz zu belegen. Andererseits gilt es, langfristige gesundheitsökonomische Überlegungen anzustellen. Es muss der finanzielle Benefit durch die Verhinderung von Aspirationspneumonien oder durch frühzeitige Entwöhnung von Trachealkanülen den Kosten der personalintensiven F.O.T.T. gegenübergestellt werden. Sowohl der Aspekt der Evidence-based Medicine als auch der langfristige ökonomische Gewinn muss in engagierter Lobbyarbeit gesundheitspolitisch vertreten werden. Die Idee für dieses Buch entstand beim ersten internationalen F.O.T.T.-Symposium in Deutschland. Heraus kam eine wertvolle, umfassende Darstellung des State of the Art der Schlucktherapie bei neurologischen Patienten aus dem Blickwinkel aller beteiligter Berufsgruppen. Dem Anliegen der Autoren, den Stellenwert der Schlucktherapie und der Rehabilitation des gesamten fazio-oralen Trakts in Deutschland zu heben, wünschen wir viel Erfolg. Prof. Dr. Peter Bülau, 2004
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Vorwort zur 3. Auflage Die 3. Auflage des F.O.T.T.-Buches in 7 Jahren bietet uns wieder Gelegenheit, Inhalte zu aktualisieren, noch nicht veröffentlichte Aspekte des Konzepts und unsere Arbeitsweise vorzustellen. Wie arbeiten wir mit dem F.O.T.T.-Konzept? Wir fokussieren die fazio-oralen Funktionen, die permanent und alternierend zusammenagieren, so dass wir sie nicht mehr als Akte, sondern als Sequenzen eines Funktionskomplexes begreifen, beschreiben und therapieren (7 Kap. 1). Das ist ein Alleinstellungsmerkmal des F.O.T.T.-Konzepts. Auf der Suche nach den »wirksamen Bestandteilen« der F.O.T.T. setzen wir in diesem empirisch phänomenologischen Vorgehen systematisch auch die Selbsterfahrung ein. Wir extrahieren daraus Hypothesen und Prinzipien, die uns eine Vorstellung darüber geben, wie und wann Funktionen zusammenspielen und wie menschliches Handeln funktioniert bzw. sich beeinflussen lässt. »In der Rehabilitation aktivieren wir Veränderungsprozesse durch Lernen, Anpassung, Feedbackund Feedforward-Schleifen. Diese sind kennzeichnend für neurale Plastizität und die Plastizität von Verhalten« (Schow, 7 Kap. 13). Grundlagenforscher, u.a. Eric Kandel, Giacomo Rizzolatti, haben uns Einblick in die Arbeitsweise des Gehirns gegeben. Wir können damit auch einige Prinizipien erklären, die wir in der F.O.T.T. anwenden und umzusetzen versuchen (7 Kap. 1). Daraus ergeben sich Ansatzpunkte für die Therapie, in der wir auch Wissen und Fertigkeiten unterschiedlicher Fachgebiete, u.a. der Physio- und Ergotherapie, der Logopädie, nutzen und erwerben (müssen). In den Konsensusempfehlungen werden erstmals die F.O.T.T.-»Ingredienzien« aufgeführt, deren Inhalte in den einzelnen Kapiteln des Buches ausgeführt werden (7 Kap. 2). Wir therapieren fazio-orale Störungen (auch) als Bewegungsstörungen und orientieren uns bei der alltagsorientierten Problemlösung (= Therapie) an den derzeit gültigen Prinzipien des motorischen Lernens (Gampp Lehmann, 7 Kap. 3). Karin Gampp Lehmann beschreibt haltungsbeeinflussende Faszienverbindungen, die für die faziooralen Funktionen relevant sind. Anhand ihrer Fallbeispiele lässt sich erahnen, dass viel mehr getan und viel mehr Potenzial genutzt werden könnte – auch in der Behandlung von Patienten mit progredienten Erkrankungen wie ALS, Morbus Parkinson u.a. (7 Kap. 4). Die International Classification of Functioning (ICF) hat schon 2004 Eingang in unsere Arbeit gefunden (7 Kap. 6). Unsere Aufmerksamkeit, Neugier und unser Entdeckergeist richten sich derzeit zum einen auf die Ebenen der Körperstrukturen und der Körperfunktionen, besonders auf die Faszienarbeit, die Neurodynamik des ZNS und die Biomechanik des Bewegungsapparates. Wir (er)spüren, verändern und sehen, dass sich durch den gezielten Einsatz unserer Hände die Körperstabilität der Patienten und dadurch ihre Mobilität verändern kann, verkürzte Muskeln oder ein unter Spannung stehendes Zwerchfell sich wieder lösen und in der Folge besser bewegen können. Zum anderen erforschen wir Handlungsprinzipien, die wir und unsere Mitmenschen implizit den ganzen Tag einsetzen. In der Tradition Berta Bobaths und Kay Coombes’ arbeiten wir weiterhin alltagsorientiert auf der Aktivitätsebene mit Fokus auf die bestmögliche Partizipation des Patienten in seinem weiteren Leben. Wichtig für den Patienten ist es, dass er und was er schlucken kann! Aber es gilt auch zu fokussieren, wie er in seinem Alltag wo seine Mahlzeit einnehmen kann: Zuhause am Couchtisch, wenn kein Esstisch zur Verfügung steht, im Restaurant, auf einer Picknickdecke – nicht nur im Therapieraum! Doris Müller erweitert Kapitel 5 um Aspekte der Therapie bei Patienten mit schweren pharyngealen Schluckstörungen und gibt eine Erstbeschreibung taktiler Schluckhilfen, deren Effektivität täglich erfahren werden kann, (wenn die biomechanischen Prinzipien beachtet werden). Die Gesichtsbehandlung nach neurogenen Schädigungen wird meist zugunsten der Behandlung der Dysphagie oder des Kostaufbaus nach einem akuten Ereignis vernachlässigt. Jakobsen und Sticher führen aus, dass Gesichtsbehandlung mehr ist als dem Patienten ein Blatt mit Fazialisübungen an die Hand zu geben, mit deren »Hilfe« der Patient u.U. weiter »in die Pathologie arbeitet« (7 Kap. 7). Das F.O.T.T.-Trachealkanülen-Management hat sich gut etabliert und durchgesetzt. Ulrike Frank berichtet über eine Studie zur Effektivitätsprüfung (7 Kap. 16).
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Vorwort zur 3. Auflage
Hilft es wirklich weiter, Kästchen in Screeningbögen und Checklisten anzukreuzen? Und danach? Wie setzen wir die Kreuze in den Kästchen in Handeln um? Zwei neue Kapitel widmen sich dem Themenkomplex, Probleme zu analysieren, Abweichungen zu befunden und Potenzial, Bedürfnisse, Möglichkeiten des Patienten zu eruieren und Lösungswege darauf abzustimmen. Der fortwährende Prozess der klinischen Befundung (Walker, 7 Kap. 12) und ein Entscheidungsalgorithmus für die Bereiche der F.O.T.T. (Schow und Jakobsen, 7 Kap. 13) sollen die Clinical Reasoning-Prozesse veranschaulichen, die notwendig sind, um den Patienten und dieser komplexen Materie gerecht zu werden, gemäß dem Motto:
» Gib Hilfen für ein besseres Leben, nicht Übungen! « (Berta Bobath) Ricki Nusser-Müller-Busch Berlin, Juli 2010
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Vorwort zur 2. Auflage Drei Jahre nach der 1. Auflage und einem Nachdruck geht das F.O.T.T.-Buch in seine 2. überarbeitete Auflage. Dem Wunsch vieler Leser folgend sind die Fotos nun überwiegend farbig abgedruckt. Zusätzlich wurden in einem weiteren Kapitel (7 Kap. 10) die Ergebnisse erster wissenschaftlicher Untersuchungen zur Wirkung von F.O.T.T. eingefügt. Teilergebnisse dieser Studie hat Wibke Hollweg im Rahmen einer Diplomarbeit an der Universität Aachen im Diplomstudiengang Forschungs- und Lehrlogopädie im Jahr 2003 unter dem Titel »Eine Therapiestudie zur Therapie des Facio-Oralen Trakts (F.O.T.T) bei neurogenen Schluckstörungen in der Akutphase und Frührehabilitation« untersucht. Damit soll zum einen die fortschreitende weitere Entwicklung von F.O.T.T. dokumentiert, aber auch die kritische Auseinandersetzung mit diesem komplexen Therapieansatz gefördert werden. Ricki Nusser-Müller-Busch Berlin, Januar 2007
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Vorwort zur 1. Auflage Die Rehabilitation des fazio-oralen Trakts hat sich innerhalb der neurologischen Rehabilitation vom »Niemandsland« zum vielbeachteten Bereich entwickelt. Das vorliegende Buch soll in das Konzept der Therapie des Facio-Oralen Trakts (F.O.T.T.) einführen, das bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung Anwendung findet. Die Autorenschaft setzt sich aus den Referentinnen und Referenten des 1. internationalen F.O.T.T.-Symposiums und Mitgliedern der special interest group (S.I.G.) F.O.T.T. International zusammen. Die »Facial Oral Tract Therapy« wurde in den letzten 30 Jahren von der englischen Sprachtherapeutin und Bobath-Tutorin Kay Coombes entwickelt, indem sie sprachtherapeutisches Wissen mit dem BobathKonzept und den Erkenntnissen und Erfahrungen benachbarter Berufszweige zusammenführte und daraus Behandlungsprinzipien für die Integration und Koordination der Funktionen des fazio-oralen Trakts ableitete. Kay Coombes stellte als Berufsanfängerin in ihrer Arbeit mit Patienten mit Hirnschädigungen fest, dass Physiotherapeuten oft bedeutend bessere Ergebnisse in der Sprechleistung ihrer Patienten erzielten als sie, die »Expertin für Stimme, Sprechen …«. (Eine Erfahrung, die mich übrigens auch – einige Jahre später – nach anderen Wegen als logopädischen Therapieansätzen suchen ließ). Deshalb besuchte sie 1969 als eine der ersten Sprachtherapeutinnen einen 8-wöchigen Bobath-Ausbildungskurs und arbeitete anschließend mit Kindern im Londoner Bobath-Zentrum, das von der Physiotherapeutin Berta Bobath und dem Psychiater und Neurologen Karel Bobath nach ihrer Emigration aus Berlin in London gegründet und geleitet wurde. Dort und auf vielen Reisen rund um die Welt haben das Ehepaar Bobath von den 70er Jahren an – bis zu ihrem gemeinsamen Tod 1991 – gelehrt. Ihr holistisches Therapiekonzept wurde und wird von ihren Schülern weiterentwickelt. Stellvertretend verwiesen sei auf die Kindertherapeutin Nancy Finnie und die heutige Senior Bobath-Instruktorin Pat Davies. Berta Bobath zeigte sich zu Beginn mehr als skeptisch über das Ansinnen einer Sprachtherapeutin, mit dem Bobath-Konzept arbeiten zu wollen. Kay Coombes erzählt, dass das Arbeiten mit den Bobaths eine Inspiration, aber nicht gerade bequem und entspannend (»relaxing«) war. Anfangs verging kein Tag, an dem sie nicht Berties Stimme hörte: »Why are you continuing with something that does not work?« (Warum machst du mit etwas weiter, das nicht wirkt?) Das sollte sich ändern! Im Laufe der Jahre hat Kay Coombes ein umfassendes, interdisziplinäres Konzept für die Rehabilitation des fazio-oralen Trakts bei neurogenen Störungen entwickelt, das sich eng am Alltag der Patienten und ihren bio-psycho-sozialen Bedürfnissen orientiert. In der Therapie, die auch nach Möglichkeit die Angehörigen miteinbezieht, wird der Tatsache Rechnung getragen, dass zentral bedingte Störungen von Haltung, Bewegung und Muskelspannung das Schlucken, die Atmung, die nonverbale Kommunikation, die Stimmgebung und das Sprechen nachhaltig und u.U. lebenslang beeinflussen. Gemeinsam mit Weggefährten wie Pat Davies, mit der sie in den 80er Jahren die ersten Kurse in Bad Ragaz unterrichtete, hat sie damit die Neurorehabilitation entscheidend mitgeprägt. Seit 1993 werden von Kay Coombes Multiplikatoren ausgebildet. Diese erste Generation von F.O.T.T.-Instruktoren kommen aus den Bereichen Physio-, Ergotherapie, Pflege und Sprachtherapie und unterrichten die Grundkurse in Europa. Die Kurse in Japan werden gemeinsam mit Kay Coombes gestaltet. Mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen und Erfahrungen prägen die Instruktoren und die S.I.G. F.O.T.T. International gemeinsam das interdisziplinäre Konzept weiter. Die F.O.T.T. steht, ebenso wie das Bobath-Konzept und viele andere Therapieansätze, erst am Beginn eines Prozesses, in dem ihre klinische Effektivität noch wissenschaftlich untermauert werden muss. In Zeiten sehr knapp werdender Ressourcen wird der Ruf nicht nur nach evidenzbasierter Medizin (»evidence-based medicine«), sondern auch nach evidenzbasierter Praxis (»evidence-based practice«) laut. Forschung tut not! Hier sollten neue Wege beschritten werden: die Finanzierung von Therapieforschung, Forschungsstellen und Stipendien auch für nichtakademische Professionen! Wer in diesem Buch Handlungsanweisungen im Sinne von Technikvermittlung oder festgelegten Übungsangeboten erwartet, wird enttäuscht werden. Wer F.O.T.T. bisher als Schlucktherapie oder nur als »Arbeit an der oralen Phase« oder gar nur als die Durchführung der taktilen Mundstimulation kennen-
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Vorwort zur 1. Auflage
gelernt hat, erhält hier die Möglichkeit, die Vielschichtigkeit des Konzepts in einigen seiner Bereiche kennenzulernen. Die Persönlichkeit und Individualität der Menschen, der Patienten zu berücksichtigen und ihre Probleme und Störungen effektiv zu behandeln, ist jeden Tag bei jedem Patienten eine Herausforderung. Als Therapeutin, Pflegende, Arzt usw. offen und wach zu bleiben, ist dafür Voraussetzung! Das heißt, Fragen zu stellen, unsere Arbeit auf die individuellen Probleme der anvertrauten Patienten abzustimmen und immer wieder unser Handeln mit anderen zu diskutieren, zu reflektieren und ggf. zu ändern. »The patients guide you in their treatment.« (Die Patienten führen uns in ihrer Behandlung.) (Berta Bobath) Ricki Nusser-Müller-Busch Berlin, Februar 2004
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Dankesworte zur 3. Auflage Teamwork ist die einzige Möglichkeit, die das neue Jahrhundert prägende Informationsflut ansatzweise zu sichten und zu kategorisieren! Neues, Ergänztes, Aktualisiertes findet sich in dieser Ausgabe. Margaret Walker, Heike Sticher, Daniela Jakobsen, Karin Gampp Lehmann haben neue Kapitel geschrieben. Als neue Autorinnen konnten wir Frau Dr. Ulrike Frank und Dr. Trine Schow gewinnen! Viele Menschen haben uns inspiriert und unsere Arbeit unterstützt. Wir danken: 4 Unseren Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen, die unsere besten LehrmeisterInnen sind. 4 Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konsensuskonferenzen und allen Kolleginnen und Kollegen, die unsere Plastizität in Co-Therapien, in Diskussionen und Reflexionen verändern. 4 Frank Gläser, Ergotherapeut in eigener Praxis in Dresden, lehrt uns eindrücklich in Symposien und durch die Bereitstellung von Fotos, wie F.O.T.T. und ICF im Hausbesuch kreativ umgesetzt werden können, auch wenn Hilfsmittel oder geeignete Möbel fehlen. Doris Müller bedankt sich besonders für seine Mithilfe und Unterstützung an der Überarbeitung von Kapitel 5. 4 Viele Helfer sind uns im rechten Moment zur Seite gesprungen; stellvertretend für die Mitarbeiter des Therapiezentrums Burgau sei diesmal Christian Knorr genannt! 4 Monika Pessler, Senior Bobath-Instruktorin, die die Special Interest Group F.O.T.T. International mit ihrem großen Know-how, Erfahrungsschatz und Supervisionswissen unterstützt. 4 Nora Kern, Bobath-Aufbaukurs-Instruktorin und Instruktorin des NOI (Neuro-Orthopaedic Institute Australasia), die uns konsequent die neurodynamischen Aspekte des ZNS lehrt und uns hilft, unsere motorischen Fertigkeiten zu optimieren. F.O.T.T. meets Neurodynamik! Gemeinsam mit ihr und Prof. Dr. Harry (Willem) von Piekartz erarbeiten wir die manuellen und kraniofazialen Handson-Techniken, die nun zusätzlich in der F.O.T.T. zum Einsatz kommen und teilweise schon an die Kursteilnehmer der Aufbaukurse weitergegeben werden können. 4 Dorothea Scheurlen, Fotografin am Unfallkrankenhaus Berlin, für das neue Titelfoto und allen weiteren Fotografen, die unsere Arbeit zu visualisieren suchen, um die Spiegelneurone der Leser und Leserinnen anzufeuern. 4 Mein besonderer Dank geht an Marga Botsch, Natalie Brecht und Maria Schreier vom Springer Verlag für die Unterstützung des Projekts und für die bewährte, gute Zusammenarbeit! Ricki Nusser-Müller-Busch, 2010
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Dankesworte zur 1. Auflage Mein Dank und der Dank aller »F.O.T.T.-Autorinnen« geht zu allererst an Kay Coombes, die uns immer wieder aufs Neue mit Enthusiasmus lehrt, das physiologische Wunder »Mensch« zu achten und seinen Geheimnissen nachzugehen, und die uns Vorbild ist, in ihrer Achtung und Respektierung der Patienten und ihrer Angehörigen. Dass der Patient und sein Befinden 24 Stunden pro Tag im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen, erfahren alle, die mit Kay Coombes Zeit verbringen können. Bis spät abends werden nach Kurs- oder Supervisionsschluss noch stationäre und ambulante »Problem«-Patienten von ihr angesehen, d.h. behandelt. Die – für ihre pünktliche Abreise – »Verantwortlichen« – nicht selten Nervenzusammenbrüchen nahe – müssen Taxifahrer bei Laune halten, die dann hoffnungslos verspätet in Richtung Flughafen rasen. Und wenn sie wieder einmal einen der Flüge nach Birmingham verpasst hat, kann es sein, dass gute Freunde ihr Haus in der Zwischenzeit mit einem Transparent geschmückt haben:
» Kay feeds the world! « Ein Konzept entwickelt sich durch die mannigfaltigen Impulse vieler Menschen, die einen Weg gemeinsam gehen oder ihn begleiten. Wir danken stellvertretend 4 allen Kliniken und ihren Mitarbeitern, die mit uns gemeinsam an der Umsetzung des Konzepts arbeiten, für die vielen fruchtbaren Diskussionen und die Unterstützung, die wir auch als Special Interest Group S.I.G. F.O.T.T.-International vonseiten der Verwaltungen erfahren. Allen voran sei das Therapiezentrum Burgau (TZB) genannt mit den Klinikchefs Dr. Lipp und Dr. Schlaegel, 4 Chefarzt Prof Dr. Bülau für das Geleitwort und der Westerwald Klinik Waldbreitbach für die Unterstützung in der Sache, 4 Chefarzt Prof. Dr. Meier-Baumgartner und dem Albertinen-Haus Hamburg, das maßgeblich an der Implementierung des Bobath- und F.O.T.T.-Konzepts im norddeutschen Raum beteiligt war und ist. Aber was wären diese Kliniken ohne ihre hervorragenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Stellvertretend seien genannt: 4 Barbara Kuhlmann, Logopädin am Albertinen-Haus Hamburg, eine der deutschen Pionierinnen der F.O.T.T, 4 Karen Nielsen, als Leiterin der Therapie-Abteilung im Therapiezentrum Burgau verantwortlich für die Qualität der therapeutischen Arbeit im TZB, 4 Annette Schneider, Leiterin des erfolgreichen Schulungszentrums im TZB, das eine qualitativ hochwertige Ausbildungsstätte im Bereich der neurologischen Rehabilitation ist, 4 die Bobath-Instruktorinnen Heidi Lessig, Reha Nova Köln, Bettina von Bidder, REHAB Basel, und Heidrun Pickenbrock, St. Barbara Hospital Gladbeck, für ihre unerlässliche Hilfe und Diskussionsfreudigkeit. Und – last but really not least – Senior Bobath-Instruktorin Pat Davies für ihre Ermutigung im November 2001, dieses Buch zu schreiben! Wir lernen jeden Tag, ganz besonders von Patienten wie Daniel, die uns lehren, das alltagsrelevante Konzept besser zu verstehen und umzusetzen! Bei der Realisierung dieses Buches haben uns viele Personen unterstützt und das Ergebnis mitgestaltet. Gedankt sei: 4 »unseren Fotografen« Bernd Milkereit, Thorsten Megele und Rainer Högl (Video- und Dokumentationsabteilung des TZB), Nicolas Lerch (Videoabteilung REHAB Basel) und Silke Lehmann (Ergotherapeutin, Klinik Bavaria Kreischa), die an der Erstellung einer nicht unerheblichen Anzahl von Patientenfotos beteiligt waren. Frau OÄ Dr. Christiane Laun, Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Unfallkrankenhaus Berlin, für die freundliche Überlassung der Aufnahmen zur Punktionstracheotomie in Kapitel 6 und Menschen wie Frank Winkler, die die elektronische Bildbearbeitung »fazilitiert« haben; 4 Marga Botsch, Heidrun Becker und Claudia Wallmann vom Springer Verlag für ihre professionelle Unterstützung dieses Vorhabens und ihre Geduld;
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Dankesworte zur 1. Auflage
4 unseren Lebenspartnern, Familien, Freundinnen und Freunden, Menschen, die uns Freiraum, aber auch »Unterstützungsfläche und dynamische Stabilität« gaben – »who kept us sane«. Das vorliegende Buch ist in der Freizeit entstanden, an unzähligen Abenden bis tief in die Nächte – nach der täglichen Arbeit, an Wochenenden, … sozusagen ein (Neben)Produkt des täglichen Lebens (»PtL«). Wir gingen schwanger mit dem Buch. Eine Zeit, die zwar auch an eine Schwangerschaft und Geburt erinnerte, aber eigentlich noch viel mehr an die doch anstrengenden Monate danach. Margaret Walker, »Kiwi in Schwaben«, verzweifelte daran, dass die deutschen Übersetzungen ihres englischen Manuskripts ihrer Meinung nach nie das widerspiegelten, was mit der englischen Sprache so prägnant auf den Punkt gebracht werden kann. Sie freut sich also schon auf eine englische Ausgabe dieses Buches! Ihrem »Übersetzer« Hartmut Bunse sei besonders gedankt. Es liegt nicht an ihm, sondern an der Sperrigkeit der deutschen Sprache, wenn »Kiwi« sich beschwert … Silke Breternitz, die neben der Leitung der Logopädie-Abteilung der Median-Klinik Grünheide, ebenso wie Margaret Walker noch »nebenbei« ihre Instruktoren-Ausbildung in England absolviert. Doris Müller, die ihren eigenen Haltungshintergrund und ihr Körper-Alignment beim regelmäßigen Bauchtanztraining dynamisch in Schwung hält, deren Lebensmittelpunkt Dresden während des Kapitelschreibens in den Fluten versank, … und die gemeinsam mit Heike Sticher, bis November 2002 langjährige und verdienstvolle Secretary der S.I.G. F.O.T.T. International, in dieser Zeit noch die kulturellen Unterschiede – nicht nur der Nahrungsaufnahme und nonverbalen Kommunikation – in Kursen in Japan erfahren und studieren konnte. Jeanne Marie Absil, als »niederländische Schweizerin« fähig, das Konzept in mehreren Sprachen zu unterrichten, deren Computer in dieser Zeit den Geist aufgab, und die – dem Himmel sei Dank – einen schweren Autounfall weitgehend unversehrt überstand. Petra Fuchs, die ihre Flexibilität bei mehrmaligen Wohnungswechseln in London und durch regelmäßiges »Jetten« über den Kanal und nach »Down under« unter Beweis stellte. Daniela Tittmann, unsere an Jahren jüngste »Schluckschwester« mit sehr ausgereiften, überzeugenden didaktischen Fähigkeiten, die sich hervorragend bei Tai Bo abreagieren kann, aber auch innerhalb einiger Wochen ihr Leben umkrempelte und jetzt als Supervisorin in Kopenhagen unsere dänischen F.O.T.T.-Kolleginnen unterstützt. Jürgen Meyer-Königsbüscher, der den organisatorischen Aufbau von FOrmaTT, Organisation der F.O.T.T.-Kurse in Europa, mitgestaltete. Barbara Elferich, die beim Aufbau von FOrmaTT nicht nur organisatorisch sondern auch inhaltlich aktiv war, so »nebenbei« noch ein geeignetes Domizil in einer größeren süddeutschen Stadt suchte und fand, zwei Umzüge durchführte und ihre »ambulante« Wochenendbeziehung in eine »stationäre« umwandeln konnte. Und selbstverständlich dabei noch einen geordneten Weggang aus Burgau hinlegte, um in einem neuen Arbeitsgebiet »die Ärmel hochzukrempeln«! Und den ärztlichen Autoren, Dr. Wolfgang Schlaegel, Dr. Berthold Lipp und Dr. Rainer Seidl. Ging es ihnen besser? … Nun ja, einige haben Frauen im Hintergrund, denen in solchen Worten dann immer gedankt wird (»Ohne sie …«). Aber auch hier hieß es, nach einem 10- bis 12-Stunden-Kliniktag: Ran an den Schreibtisch. Ich danke Rainer Seidl, meine permanenten wie penetranten Änderungswünsche für das gemeinsame Kapitel ausgehalten zu haben. Und dann noch der hehre Versuch, Menschen unserer Lebensgemeinschaften nicht zu vernachlässigen, was da heißt, unser Wichtigstes – Kinder – mit Liebe und Fürsorge zu begleiten. Ein Hoch auf unsere Mütter mit Kleinkindern, die nicht nur im übertragenen Sinne, sondern in vivo schwanger gingen. F.O.T.T. ist eben ein alltagsorientierter Ansatz! Karin Gampp Lehmann hat hier Extremes geleistet. Während des Schreibens noch einen neuen Eidgenossen zu gebären, in die Familie zu integrieren und die Aufgaben in der Gemeinschaftspraxis nicht zu vernachlässigen, ist gleichzusetzen mit den Leistungen bei einem Triathlon Marke Ironman Hawaii – nur länger andauernd. Und auch Claudia Gratz, die just in dieser Zeit ihre 3-köpfige Familie mit fast ebenso vielen Haustieren noch mal zu vergrößern begann. Mal sehen, wer früher da ist, N. N. oder das Buch …? Ricki Nusser-Müller-Busch, 2004
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Hinweise Die Bezeichnung »F.O.T.T.« wurde durch die Urheberin des Therapiekonzepts Kay Coombes geschützt, was auch durch die Schreibweise F.O.T.T.® verdeutlicht wird. Um den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen, haben wir die Schreibweise ohne das Trademarkzeichen »®« gewählt. Zur besseren Lesbarkeit wird im Text häufig nur eine Geschlechtsbezeichnung benutzt. Die Autorinnen und Autoren haben sich jeweils für die männliche oder weibliche Form entschieden. Es sind jedoch immer beide Geschlechter gemeint. Dasselbe gilt für die Bezeichnung »Patient«, die besonders in der ambulanten Arbeit z.B. in United Kingdom durch den Begriff »Klient« ersetzt ist bzw. gleichzusetzen ist. Der Begriff »Therapeut/in« kann ebenso durch den Begriff »Pflegende/r, die/der rehabilitativ arbeitet«, ersetzt werden.
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Inhaltsverzeichnis 1
Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen
1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.6 1.6.1 1.6.2 1.7
Die fazio-oralen Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungslernen und Bewegungsverhalten . . . . . . . . . . . . . Haltung und Bewegung am Beispiel der Nahrungsaufnahme . . . . . Störungen im Bewegungslernen und Bewegungsverhalten . . . . . . Lernen im F.O.T.T.-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was tun, wenn die Problemlösungsmaschine ZNS gestört arbeitet? . Wie lernt der Mensch, wie lernt das ZNS (Bewegungen)? . . . . . . . Das Bobath-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien der Neuroplastizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Vorgehen in der F.O.T.T. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Clinical Reasoning und F.O.T.T. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bereiche der F.O.T.T. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgabenstellungen in den verschiedenen Krankheitsphasen . . . . Das interdisziplinäre 24-Stunden-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . Der 24-Stunden-Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das interdisziplinäre Team . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle und multidisziplinäre therapeutische Kompetenz . . . . Nutzen und Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Wer A sagt, muss auch B sagen!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Wer A und B sagt, muss auch C, D, E und F sagen!« . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1
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2 4 5 5 6 6 6 7 11 13 13 15 19 22 22 23 24 25 25 26 27 27
2
Konsensusempfehlungen zur Facio-Oralen Trakt Therapie
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29
2.1 2.2 2.3 2.4
Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapiemaßnahmen-Katalog zur F.O.T.T. Mitwirkende am Konsensusprozess . . . . Conflict of Interest . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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31 32 34 34 34
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3
Motorische Kontrolle und motorisches Lernen in der F.O.T.T.
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.3 3.3.1 3.4 3.4.1 3.4.2 3.5
Grundlagen der motorischen Kontrolle und des motorischen Lernens . . . . . . . . . Schematische Darstellung der motorischen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feedback- und Feedforward-Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beeinflussung der motorischen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Konsequenzen zur Optimierung motorischen Lernens . . . . . . . Muskulo-skeletaler Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sensorische Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motorische Koordination: Erarbeiten physiologischer Abläufe . . . . . . . . . . . . . . . Anpassung an die Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungen zur Orientierung und Beeinflussung des Central Set . . . . . . . . . . Weitere Aspekte, die Lernen fördern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehen in der F.O.T.T. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel: Schlucktherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Fertigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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39 39 39 40 41 41 42 43 45 46 46 46 46 47 47 49 49
XXII
Inhaltsverzeichnis
4
Haltungshintergrund »Wir schlucken mit dem Becken …« .
. . . . . . . . . . . . . . .
51
4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.2.7 4.2.8 4.2.9 4.3 4.3.1 4.3.2
Grundlagen: Physiologie/Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haltungshintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dynamische Stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen: Anatomie/Physiologie des Schluckens . . . . . . . Os hyoideum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brustwirbelsäule – Halswirbelsäule – Schulterblatt – Os hyoideum Halswirbelsäule – Os hyoideum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Os temporale – Os hyoideum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mandibula – Os hyoideum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zunge – Os hyoideum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Larynx – Os hyoideum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. cricopharyngeus – Os hyoideum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thorako-abdominale Verbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiologische Bewegungen und Ausgangsstellungen . . . . . . . Patientenbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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52 52 55 55 55 56 58 59 59 60 61 61 62 64 64 66 70
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73
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5
Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.4 5.4.1 5.4.2 5.5 5.5.1 5.5.2 5.6 5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.7 5.7.1 5.7.2 5.7.3 5.7.4 5.7.5 5.7.6
Normale Nahrungsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nahrungsaufnahme bei neurologischen Patienten . . . . . . . . . . . . . . Typische Probleme beim Essen und Trinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nahrungsaufnahme wird unsicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wann ist die Nahrungsaufnahme ausreichend sicher? . . . . . . . . . . . . Nahrungsaufnahme ist mehr als die pharyngeale Phase . . . . . . . . . . . . . Die Schlucksequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluckhilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionelle Zusammenhänge erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sichere Nahrungsaufnahme ist mehr als Schlucken . . . . . . . . . . . . . . Sicherheitsrelevante Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bewertung sicherheitsrelevanter Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen für orale Nahrungsaufnahme erarbeiten . . . . . . . . . F.O.T.T. beginnt frühzeitig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutisches Essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharyngeale Schluckstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturspezifisches Angebot – Freiheit für das Hyoid . . . . . . . . . . . . . . Funktionsspezifisches Angebot – Vom Spucken zum Schlucken . . . . . . . . Aktivität und Teilhabe: Beginn der Nahrungsaufnahme und Ziel »Mahlzeit« . Assistierte Mahlzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen zur Gestaltung der Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbereitung der assistierten Mahlzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Hilfen bei der Mahlzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachbereitung der Mahlzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assistierte Mahlzeiten und enterale Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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74 75 75 75 76 76 78 80 84 86 86 87 91 91 92
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95 96 96 97 99 102 103 103 105 105 106 106
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110 110 111 115
Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig . . . .
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Aus der Geschichte der Mundhygiene . . . . . . . . . . . . . . . Probleme bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung . . Primärprobleme nach Hirnschädigung und Lösungsansätze . . . Sekundärprobleme nach Hirnschädigung und Lösungsansätze
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6.1 6.2 6.2.1 6.2.2
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6
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XXIII Inhaltsverzeichnis
6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.5 6.6 6.6.1 6.6.2
Die Mundhygiene in der F.O.T.T. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Prozess von Befundung und Behandlung . . . . . . . . . . . . International Classification of Functioning, Disability and Health Vorgehen bei der therapeutischen Mundhygiene . . . . . . . . . . Hilfsmittel für die Mundhygiene neurologischer Patienten . . Reguläre Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindizierte Hilfsmittel bei neurologischen Patienten . . . . . Mundhygiene: eine multidisziplinäre Aufgabe . . . . . . . . . . Angehörigenarbeit: eine individuelle Prozessbegleitung . . . Prozessbegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angehörigenanleitung: Beispiel Mundhygiene . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7
Die Behandlung des Gesichts – mehr als mimische Übungen
7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.2 7.2.1 7.2.2 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5 7.3.6 7.4 7.4.1 7.4.2 7.5
Normale Gesichtsbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuerung der Gesichtsbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anatomie und Physiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionen der Gesichtsmuskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentral bedingte Einschränkungen der Gesichtsbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zentrale Fazialisparese und ihr klinisches Erscheinungsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diffuse, zentral bedingte Störungen der Gesichtsbewegungen und ihr klinisches Erscheinungsbild . Grundlegende Prinzipien von Untersuchung und Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Untersuchung des Gesichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erarbeiten normaler Sensibilität und Bewegung in funktionellem Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . Prophylaxe von Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einsatz verschiedener Techniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfen für den Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigenprogamme: Wann? Mit wem? Wie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die periphere Fazialisparese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typisches klinisches Erscheinungsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Unterschiede gibt es in der Behandlung zur zentralen Lähmung? . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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120 120 121 125 134 134 135 136 138 139 139 144 146 149
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150 150 150 153 153 153 153 155 155 155 158 158 158 160 161 161 161 163 164
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167
8
Atmung und Stimme: wieder sprechen …
8.1 8.1.1 8.1.2 8.2 8.3 8.3.1 8.3.2 8.4 8.5 8.6 8.6.1 8.6.2 8.6.3 8.6.4 8.7 8.7.1 8.7.2
Atmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentrale Steuerung der Atmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte aus Anatomie und Physiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atem-Schluck-Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentrale Steuerung der Stimmgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte aus Anatomie und Physiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss von Körperhaltung und Muskeltonus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsätzliche Überlegungen und Behandlungsprinzipien in der F.O.T.T. . . . . . . . Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigung und einige Lösungsansätze . Zentrale Störungen der Atmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Probleme mit Haltung und Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Probleme, die die Atmung beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen pathologischer Atmung auf Stimme und Sprechen . . . . . . . . . . . . . . Ausgangsstellungen für die Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seitenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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168 168 169 171 171 172 172 173 174 175 176 176 178 181 185 186 186
XXIV
Inhaltsverzeichnis
8.7.3 8.7.4 8.7.5 8.7.6 8.7.7
Stehen . . . . . . . . . . . . . Rückenlage . . . . . . . . . . Bauchlage . . . . . . . . . . Teamarbeit und Anleitung Zusammenfassung . . . . . Literatur . . . . . . . . . . .
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191
9
Die Trachealkanüle: Segen und Fluch
9.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.4 9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.4.5 9.5 9.6 9.6.1 9.6.2
Indikationen zur Tracheotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arten der Tracheotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Temporäre Tracheotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plastische Tracheotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komplikationen der Tracheotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arten der Trachealkanüle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blockbare Kanülen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichtblockbare Kanülen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige Kanülen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kanülenzubehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trachealkanülenwechsel und Tracheostomapflege . . . . . . . . Einsetzen und Befestigen der Trachealkanüle . . . . . . . . . . . . . . Wechsel der Trachealkanüle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflege von Trachealkanülen und Tracheostoma . . . . . . . . . . . . Komplikationen am Tracheostoma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komplikationen an der Trachea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trachealkanülen und Schlucken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entfernung der Trachealkanüle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikationen zur Entfernung einer Trachealkanüle . . . . . . . . . . Entfernung der Trachealkanüle via Trachealkanülen-Management Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T.: der Weg zurück zur Physiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.3 10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.3.5 10.3.6 10.3.7
Grundlagen: Physiologie . . . . . . . . . . . . . . . Normale Atmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schutz- und Reinigungsmechanismen . . . . . . . . Atem-Schluck-Koordination . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen: Pathophysiologie . . . . . . . . . . . Veränderungen der Atmung . . . . . . . . . . . . . . Abnormale Haltung und Bewegung . . . . . . . . . Trachealkanülen und ihre Auswirkungen . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlungspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinigung des Atem-Schluck-Trakts . . . . . . . . . . Therapeutisches Absaugen . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutisches Entblocken . . . . . . . . . . . . . . Therapeutisches Vorgehen nach der Entblockung . Interdisziplinäre Zusammenarbeit . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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192 193 193 195 196 196 196 197 199 199 199 199 200 201 202 203 204 206 206 207 208
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XXV Inhaltsverzeichnis
11
Das F.O.T.T.-Konzept in der neurologischen Rehabilitation: Beispiel TZB (Therapiezentrum Burgau) . . . . . . . . . . . . . . . . .
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229
11.1 11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.2 11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.3 11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 11.4 11.5
Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24-Stunden-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . Standards (Organisationsanweisungen) . . . . Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Standardisierte Befunderhebung . . . . . . . . Management der oralen Nahrungsaufnahme Statistische Auswertung . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abklärung von Schluckstörungen . . . . . . . . Der Stellenwert der Laryngoskopie . . . . . . . Apparative Schluckdiagnostik im Vergleich . . Poststationäre Nachuntersuchungen . . . . . . Fortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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12
Befundung in der Facio-Oralen Trakt Therapie: ein fortlaufender Prozess
. . .
241
12.1 12.2 12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.3.4 12.4 12.5 12.6
Ziele der F.O.T.T.-Befundaufnahme . . . . Prinzipien der F.O.T.T.-Befundaufnahme Die Befundaufnahme . . . . . . . . . . . . . Datenerfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . »Handwerkszeug« . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Abklärungen . . . . . . . . . . . . . Was nicht abgeklärt wird . . . . . . . . . . Abschließende Gedanken . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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13
Der F.O.T.T.- Algorithmus: sich im und mit dem Konzept bewegen
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13.1 Struktur des Algorithmus . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Entscheidung für einen F.O.T.T.-Bereich . . . . . . . 13.2.1 Schlucken des Speichels und Nahrungsaufnahme . 13.2.2 Mundhygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.3 Atmung-Stimme-Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.4 Gesichtsausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.5 Gibt es Probleme? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.6 Wahl des Behandlungsdiagramms . . . . . . . . . . 13.3 Behandlungsdiagramme . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.1 Diagrammaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.2 Die vier Behandlungsdiagramme im Überblick . . . 13.4 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5 Klinischer Nutzen und Perspektiven . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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14
F.O.T.T. – Mythos oder messbar?
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265
14.1 14.1.1 14.1.2 14.1.3
Studiendesigns . . . . . . . . . . . . Nachweis der Therapiewirksamkeit Gruppendesigns . . . . . . . . . . . Einzelfalldesigns . . . . . . . . . . . .
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266 266 267 268
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XXVI
Inhaltsverzeichnis
14.2 14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.3 14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.3.4 14.3.5 14.3.6
Das F.O.T.T. Assessment Profile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung des F.O.T.T. Assessment Profile . . . . . . . . . . . . . . Inhaltliche Validität und Inter-Rater-Reliabilität . . . . . . . . . . . . Studiendesign für eine experimentelle F.O.T.T.-Einzelfallstudie Ausarbeiten der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Design . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studienteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Pilotstudie zu F.O.T.T. bei neurologischen Patienten
15.1 15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.2 15.2.1 15.2.2 15.3 15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4
Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beobachtungszeiträume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie- und Untersuchungsablauf am Behandlungstag Untersuchungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlauf über den Behandlungszeitraum . . . . . . . . . . . Verlauf am Behandlungstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielparameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlauf über den Behandlungszeitraum . . . . . . . . . . . Verlauf am Behandlungstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
Evaluation eines interdisziplinären Therapieansatzes nach dem F.O.T.T.-Konzept: wirksam oder nicht? . . . . .
16.1 16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.2 16.2.1 16.3 16.3.1 16.3.2 16.3.3 16.3.4 16.4
Therapie und Evaluation: Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mögliche Outcomevariablen in der Dysphagietherapie bei tracheotomierten Patienten Kriterien der Wirksamkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung einer Kontrollgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interdisziplinäres Trachealkanülen-Management: Basler Ansatz . . . . . . . . . . . . Therapeutisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluation des Basler Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Probanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Messinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Glossar
18
Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten
18.1 18.2 18.3 18.3.1
E/F.O.T.T.: Einführungsseminar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G/F.O.T.T.: Grundkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A/F.O.T.T.: Themenspezifische Aufbaukurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A/F.O.T.T.: Trach-Kurs (Behandlung tracheotomierter, nicht beatmeter neurologischer Patienten)
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272 272 273 275 276 277 277 277 277 277 278 279
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281
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311 312 312 312 312
XXVII Inhaltsverzeichnis
18.3.2 18.4
A/F.O.T.T.: Gesicht-Kurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . FOrmaTT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
312 313
18.5 18.6 18.7
F.O.T.T. International S.I.G. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . TOP – F.O.T.T. International . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313 313 313
Stichwortverzeichnis .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
315
XXVIII
Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis Jeanne-Marie Absil
Claudia Gratz
Pflegefachfrau F.O.T.T.®-Senior Instruktorin Instruktorin für Dysphagie Rehaklinik Bellikon CH-5454 Bellikon E-Mail:
[email protected]
Ergotherapeutin F.O.T.T.®-Senior Instruktorin Supervisorin F.O.T.T. Therapiezentrum Burgau Dr.-Friedl-Straße 1 D-89331 Burgau E-Mail:
[email protected]
Prof. Dr. Peter Bülau
Ärztlicher Direktor Westerwaldklinik Waldbreitbach Schwerpunktklinik Neurologie und Psychosomatik Klinikstraße 1 D-56588 Waldbreitbach E-Mail:
[email protected]
Wibke Hollweg
Barbara Elferich
Daniela Jakobsen
Ergotherapeutin F.O.T.T.®-Senior Instruktorin Am Schwarzenberg 14 D-97078 Würzburg E-Mail:
[email protected]
Ergotherapeutin F.O.T.T.®-Senior Instruktorin Fachliche Anleiterin Abteilung Neurorehabilitation Hvidovre Hospital Kettegård Allé 30 DK-2650 Hvidovre E-Mail:
[email protected]
Dr. Ulrike Frank
Dipl. Patholinguistin Department Linguistik Universität Potsdam Karl-Liebknecht-Straße 24–25 D-14476 Potsdam E-Mail:
[email protected] Petra Fuchs
Logopädin MSc in Human Communication 4 rue Alfred de Musset F-22000 Saint Brieuc E-Mail:
[email protected] Karin Gampp Lehmann
Physiotherapeutin Qualif. Therapeutin für Craniosacrale Osteopathie S.I.G. F.O.T.T. International Sandbühl 26 CH-3122 Kehrsatz E-Mail:
[email protected]
Diplom-Lehr und Forschungslogopädin Schulleiterin Lehrinstitut für Logopädie Emanuel-Leutze-Straße 8 (Aureum) D-40547 Düsseldorf E-Mail:
[email protected]
Silke Kalkhof
Dipl. Stimm- und Sprachtherapeutin F.O.T.T.®-Instruktorin Ltd. Therapeutin der Abteilung Logopädie MEDIAN Klinik Grünheide An der Reha-Klinik 1 D-15537 Grünheide E-Mail:
[email protected] Dipl.-Päd. Jürgen Meyer-Königsbüscher
Diplompädagoge F.O.T.T.®-Instruktor Leiter Abt. Stimm- und Sprachtherapie Hardtwaldklinik I Hardtstraße 31 D-34596 Bad Zwesten E-Mail:
[email protected]
XXIX Autorenverzeichnis
Doris Müller
Margaret Walker
Ergotherapeutin F.O.T.T.®-Senior Instruktorin Fachl. Leitung Ergotherapie Klink Bavaria II An der Wolfsschlucht 1–2 D-01731 Kreischa E-Mail:
[email protected]
Ergotherapeutin F.O.T.T.®-Instruktorin ARCOS Whitbourne Lodge 137 Christ Street, Malvern GB-WR 14 2 AN E-Mail:
[email protected] Dr. med. Wolfgang Schlaegel
Ricki Nusser-Müller-Busch, MSc
Logopädin F.O.T.T.®-Instruktorin Leitung Logopädie Abt. für physikalische Therapie und Rehabilitation Unfallkrankenhaus Berlin Warener Straße 7 D-12683 Berlin E-Mail:
[email protected] Trine Schow, PhD
OTR, MPH Research occupational therapist Department of Occupational Therapy Hvidovre Hospital, Copenhagen Kettegårdsallé 30 DK-2650 Hvidovre E-Mail:
[email protected] Dr. med. Rainer O. Seidl
Stellv. Klinikdirektor Klinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie Unfallkrankenhaus Berlin Warener Straße 7 D-12683 Berlin E-Mail:
[email protected] Heike Sticher, MSc
Physiotherapeutin F.O.T.T.®-Senior Instruktorin Supervisorin F.O.T.T. REHAB Basel Im Burgfelderhof 40 CH-4055 Basel E-Mail:
[email protected]
Schluckzentrum REHAB BAsel Im Burgfelderhof 40 CH-4025 Basel E-Mail:
[email protected]
XXX
»Erde an Daniel …«
»Erde an Daniel …« Daniel, ein 22-jähriger Patient mit Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma auf der neurologischen Intermediate Care (Wachstation), ist seit heute – tagsüber – mit einer Sprechkanüle versorgt. Seine Reaktionen sind noch sehr verlangsamt, er versteht und zeigt erste Ansätze, sprechen zu wollen. Er kann aber Stimmgebung und Sprechbewegungen noch nicht koordinieren. Auch die Schluckfrequenz ist herabgesetzt. An orale Nahrungsgabe ist noch nicht zu denken. Seine Freundin ist zu Besuch und in der Therapie anwesend. Es wird streng dogmatisch nach den Prinzipien der Therapie des Facio-Oralen Trakts (F.O.T.T.) vorgegangen: Einbeziehen der Angehörigen in die Therapie
Die F.O.T.T.-Therapeutin geht davon aus, dass die Freundin mehr zur Steigerung der Wachheit des Patienten beitragen kann als sie selbst, die vom Alter her Daniels Mutter sein könnte. Sie erfragt vorab Vorlieben ihres Patienten und den Namen seiner Partnerin. Zum besseren Verständnis der folgenden Situation: Die Freundin nennt Daniel »Hase« und er sie wahlweise »Erde« oder »Maus«. Ausgangsposition
Daniel ist »geschafft«, da er in der Physiotherapie heute zum ersten Mal wieder aufrecht gestanden hat. Er sitzt mit geschlossenen Augen gut gelagert in einem Sessel. Seine junge Freundin hat verständlicherweise andere Erwartungen. »Erde an Daniel … nicht schlafen, ich bin doch jetzt da …«. Fazilitation im Sinne des sensomotorischen Regelkreises unter Berücksichtigung der Umweltbedingungen: kontextbezogener Input – Verarbeitung – Output Mit therapeutischer Unterstützung des Haltungshintergrunds und der Ausatmung kommt ein tiefer Seufzer. Weiterer Input ist gefragt! Die Therapeutin »designt« die Ausgangsposition der co-therapierenden Freundin: Maus setzt sich seitlich sehr nahe zu Daniel hin. Die Therapeutin führt seinen Arm und berührt mit seiner Hand das Maus-Gesicht, ihren Hals, ihre Arme und Hände. Nach einiger Zeit fordert sie Maus/ Erde auf, Daniel einen Kuss zu geben – und siehe da – nach einer nur leicht verlängerten Verarbeitungszeit kommt die motorische Antwort: eine schwache, aber eindeutige Aktivität des M. orbicularis oris, die Lippen werden gespitzt. Nach dieser erfolgreichen Bahnung ist die F.O.T.T.-Therapeutin nun nicht mehr zu bremsen: Einsatz von Hilfen nach den Prinzipien des motorischen Lernens Eine Kombination von Hilfen bietet sich an: Neben den taktilen Hilfen kommt nun additiv auch verbaler Input zum Einsatz: »Jetzt soll Daniel Erde einen Kuss geben«. Erde hält ihr Gesicht hin – und Hase küsst seine Erde (so in etwa). Wiederholt! Therapieevaluation und Hypothesenbildung
Nach Evaluierung der therapeutischen Situation baut die F.O.T.T.-Therapeutin konsequent ihre Hilfen ab und lässt die beiden unter Bildung folgender Hypothese alleine: Erde und Maus werden – »hands-on« – die alltagsrelevante Therapie fortführen bzw. das in der Therapie Wieder-erfahrene im Alltag umsetzen! Die Übergänge sind hier fließend ... Hoffentlich ist Erde morgen wieder da ... Ricki Nusser-Müller-Busch
1
Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen Ricki Nusser-Müller-Busch
1.1
Die fazio-oralen Funktionen
–2
1.2
Bewegungslernen und Bewegungsverhalten
–4
1.2.1 Haltung und Bewegung am Beispiel der Nahrungsaufnahme – 5 1.2.2 Störungen im Bewegungslernen und Bewegungsverhalten – 5
1.3
Lernen im F.O.T.T.-Konzept
–6
1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4
Was tun, wenn die Problemlösungsmaschine ZNS gestört arbeitet? Wie lernt der Mensch, wie lernt das ZNS (Bewegungen)? – 6 Das Bobath-Konzept – 7 Prinzipien der Neuroplastizität – 11
1.4
Das Vorgehen in der F.O.T.T.
– 13
1.4.1 Clinical Reasoning und F.O.T.T. – 13 1.4.2 Die Bereiche der F.O.T.T. – 15 1.4.3 Aufgabenstellungen in den verschiedenen Krankheitsphasen
1.5
Das interdisziplinäre 24-Stunden-Konzept
– 22
1.5.1 Der 24-Stunden-Tag – 22 1.5.2 Das interdisziplinäre Team – 23 1.5.3 Individuelle und multidisziplinäre therapeutische Kompetenz
1.6
Nutzen und Kosten
– 25
1.6.1 »Wer A sagt, muss auch B sagen!« – 25 1.6.2 »Wer A und B sagt, muss auch C, D, E und F sagen!«
1.7
Ausblick
– 27
Literatur
– 27
– 19
– 26
– 24
–6
2
1
Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen
Mit dem Auftreten von Hirnschädigungen kann es zu unterschiedlich gearteten Störungen der Funktionen des Schluck- und Sprechtrakts kommen. Die von Kay Coombes entwickelte Therapie des FacioOralen Trakts (F.O.T.T.) hat die Integration und Koordination dieser Funktionen zum Ziel, so dass Atmen, Stimme geben, Sprechen, Schlucken von Speichel und Nahrungsaufnahme wieder koordiniert und sicher ablaufen und Schutz- und Reinigungsmaßnahmen bei Bedarf effizient eingesetzt werden können. Patienten mit neurogenen Dysphagien müssen oft viel mehr wiedererlernen als nur das Schlucken! Um wieder sicher essen und trinken zu können, müssen viele Patienten wieder lernen, sich im Raum halten zu können, die Nahrung zum Mund zu führen, ihre Mundhöhle mit der Zunge von Resten zu befreien, abzuhusten und das Expektorat durch Schlucken oder Ausspucken zu entsorgen. Dieses Einführungskapitel lädt den Leser zu einer Betrachtung der fazio-oralen Funktionen ein und gibt einen Einblick in das F.O.T.T.-Konzept. Alte und aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zur Neurorehabilitaton werden diskutiert.
» Wir müssen das Normale kennen! « (Coombes 2002) Atmen, Schlucken, Nahrungsaufnahme und Kommunikation sind essenziell für unser Leben. Theoretisch ist uns
das bewusst. Wir verschwenden aber keine Gedanken daran, wie wir morgens aus dem Bett kommen, was wir als Erstes dabei bewegen müssen, sondern eher, ob wir verschlafene Zeit einholen müssen, um pünktlich zu sein. Wir lesen die Tageszeitung, während wir – so nebenbei, ohne besondere Aufmerksamkeit und Anstrengung – frühstücken. Wir trinken den Kaffee im Stehen, wenn wir es eilig haben. Wir fahren zur Arbeit und begrüßen dort die Arbeitskollegen; dies tun wir individuell atemrhythmisch angepasst in der uns eigenen Sprechstimmlage. Seit dem Aufstehen haben wir unseren Körper in Aktivitäten eingesetzt, ohne darüber nachzudenken. Ein unausgesprochenes Ziel könnte gewesen sein, passend gekleidet, satt und pünktlich bei der Arbeit zu erscheinen, um den dort gestellten Aufgaben nachgehen zu können. Der Partizipation am gesellschaftlichen Leben ist unsere (Haupt-)Aufmerksamkeit gewidmet. Wir können die Frage nicht beantworten, wie oft wir seit dem Aufwachen geschluckt haben, wie oft wir unsere Stimme zum Sprechen genutzt haben, und wie oft wir unser Sprechen unterbrochen haben, weil – ja, weil wir schlucken mussten. Das Wechsel- und Zusammenspiel der fazio-oralen Funktionen hat bisher in der einschlägigen Literatur kaum Beachtung oder Niederschlag gefunden. Und obwohl wir, Therapeuten, Ärzte, Pflegende, diese Bewegungen und Funktionen auch den ganzen Tag selbst und permanent
ausführen, fließt das gelebte Körper- und Handlungswissen nur wenig in unser therapeutisches Vorgehen bei der Untersuchung und Behandlung von Störungen des fazio-oralen Trakts ein: 4 Vollziehen wir ein Update unseres physiologischen Wissens, indem wir das Wechselspiel von Atmung, Schlucken, Phonation etc. wahrnehmen, beobachten, analysieren und interpretieren! 4 Nutzen wir dazu die Selbsterfahrung und den Alltag zur Exploration! Erst dann können wir die brachliegende Ressource – unser eigenes implizites Körper- und Handlungswissen – explizit in der Therapie nutzen.
1.1
Die fazio-oralen Funktionen
In den herkömmlichen physiologischen Beschreibungen werden das Schlucken, das Sprechen oder das Atmen jeweils isoliert betrachtet. Im Folgenden werden diese sich im Tagesverlauf permanent abwechselnden Vorgänge und ihr Zusammenspiel modellhaft dargestellt (. Abb. 1.1). Dazu gibt es bisher keine Beschreibungen in der Literatur. jPrämisse 1 > Beachte Die fazio-oralen Funktionen wechseln sich permanent ab. Dabei passen sie sich an die jeweilige Aktivität im jeweiligen Kontext an.
Die primären vitalen fazio-oralen Funktionen Atmung und Speichelschlucken wechseln sich koordiniert ab. Während des Schluckens kommt es zu einem Atemstopp, und erst anschließend fließt der Atem wieder (AtemSchluck-Koordination). Kommt es zu einer Störung, z.B. dem Eindringen von Fremdkörpern in die unteren Atemwege, treten die Schutzmechanismen, Husten, Räuspern, auf den Plan. Diese Schutzmaßnahmen und auch weitere – die Atmung »störende« – Unterbrechungen, wie Niesen und das noch nicht vollständig zu erklärende Gähnen, werden ebenfalls meist von einem reinigenden Schlucken gefolgt. Hypothetisch kann vielleicht postuliert werden, dass dieses Schlucken neben der Reinigung des Schlucktrakts auch die Aufgabe hat, den Übergang zum physiologischen Atemverlauf, Einatmen – Ausatmen, wiederherzustellen und die Atmung wieder zu rhythmisieren.
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
3 1.1 · Die fazio-oralen Funktionen
. Abb. 1.1. Die fazio-oralen Funktionen wechseln sich koordiniert ab (Pfeile). Sie passen sich kontextmäßig an die jeweilige Aktivität an
> Beachte Die Atmung, als wichtigste vitale Funktion, ist essenziell für das Leben. Beim Sprechen und Singen kann sie aktiv und willkürlich modifiziert werden, beim Weinen und Lachen teilweise unwillkürlich. Beim Schlucken, Gähnen, Niesen und Pressen wird sie unterbrochen, um sich dann nach dem Schlucken wieder in einen neuen, der Situation angepassten Rhythmus einzufinden. Als zweitwichtigste vitale fazio-orale Funktion kann das Schlucken von Speichel angesehen werden. Ein Mensch, der seinen Speichel nicht schlucken kann, ist ohne medizinische Hilfe nicht lebensfähig.
Die sich entwickelnden fazio-oralen Funktionen sind genetisch angelegt. Während der Embryo über die Nabelschnur ernährt wird, fängt er ab der 12. Schwangerschaftswoche an, Fruchtwasser zu schlucken. Nach Hüther und Krens (2009) tragen diese und alle anderen Ganzkörperbewegungen zur »funktions- und nutzungsabhängigen Strukturierung (des Körpers) durch entwicklungsimmanentes Üben« bei. Im Laufe der postnatalen Entwicklung kann die rasante wie komplexe Entfaltung der fazio-oralen Funktionen beobachtet werden. Die Strukturen geben dabei die Funktion vor (vgl. Gjelsvik 2002), aber ebenso gilt, dass die Strukturen durch die Funktion modelliert werden.
Innerhalb der ersten beiden Jahre lernen wir, die Nahrung selbstständig zum Mund zu führen, zu verarbeiten und unterschiedliche Konsistenzen zu schlucken. Wir beginnen orale Reinigungsbewegungen auszuführen und entwickeln die nonverbalen und verbalen Formen der Kommunikation. Im Laufe der Kindheit erlernen wir auch Kulturtechniken wie Singen und Zähne putzen, bei denen motorischkoordinative Handlungen und fazio-orale Bewegungen aufeinander abgestimmt durchgeführt, automatisiert und perfektioniert werden. Dieses Lernen, erfolgte »handson«, durch Imitation und Anleitung durch die nächsten Bezugspersonen, später auch durch Erzieher und Lehrer, die uns im Laufe der Zeit dieses Faktenwissen auch mehr und mehr verbal und explizit vermitteln. In der Adoleszenz lernen wir die fazio-oralen Strukturen noch vielfältiger einzusetzen, u.a. beim Küssen und im Sexualleben oder beim Frönen der manu-orofazialen Aktivität des Rauchens oder der naso-fazialen Aktivität beim Schnupfen von Tabak. Auch diese sich entwickelnden Funktionen wechseln sich im Tages- und Lebensverlauf ab; sie wechseln sich aber auch mit den vitalen Funktionen ständig ab! jPrämisse 2 > Beachte
»
Die Funktion bestimmt die Form. (Castillo Morales 1998)
«
Der ganze Körper ist an den fazio-oralen Funktionen, an diesen Bewegungen beteiligt.
1
4
1
Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen
Die fazio-oralen Funktionen sind Teil eines größeren Ganzen, sie sind Teil des Aerodigestivtrakts, des AtemVerdauungs-Trakts, und Teil des ganzen Körpers, dessen Funktionsfähigkeit die Basis für alle Funktionen bietet. Bei der Ausscheidung arbeiten Atmung und Pressen koordiniert zusammen: Zum Pressen muss Druck aufgebaut werden. Es kommt dabei – wie beim Schlucken – zu einem kurzen Anhalten der Atmung; der Druck wird nicht, wie beim Husten nach oben, sondern nach unten abgegeben. Die Kontrolle über die Ausscheidung erlernen wir im Laufe der ersten Lebensjahre.
4 4
> Beachte Schlucken ist Bewegung – Sprechen ist Bewegung. Wenn wir fazio-orale Störungen (auch) als Bewegungsstörungen begreifen, dann sind für deren Befundung und spätere Behandlung nicht nur Kenntnisse der physiologischen Arbeitsweise des Sprechund Schlucktrakts, sondern auch Kenntnisse und Beeinflussungsmöglichkeiten des menschlichen Körpers und Bewegungsverhaltens hilfreich und notwendig.
1.2
4
Bewegungslernen und Bewegungsverhalten
» Das Gehirn ist eine Problemlösungsmaschine. « (Mulder 2003)
Die F.O.T.T. hat ihre Wurzeln im Bobath-Konzept und beinhaltet wie dieses eine strukturierte und lösungsorientierte Analyse normaler Bewegungs- und Handlungsabläufe und ihrer Abweichungen bei neurogenen Schädigungen. Aus der Analyse physiologischer Bewegungen und Handlungen, die im menschlichen Verhalten immer auch zielgerichtet sind, können wir schlussfolgern, dass uns das Zentralnervensystem während des ganzen Tages dabei unterstützt, Aufgaben und Probleme zu lösen. Folgende wissenschaftliche Annahmen u.a. liegen unseren Überlegungen zugrunde: 4 Mit einem großen Fundus reflektorischer, automatischer Bewegungen, die – wie man heute nach der Durchführung von Tierversuchen annimmt – auf die Aktivierung angeborener neuronaler Muster (Mustergeneratoren, »central pattern generators«) zurückzuführen sind, werden wir zu Beginn unseres Lebens ausgestattet (Kandel et al. 1996). Diese – einmal aktiviert – generieren sich ständig selbst (Paeth Rohlfs 1999), z.B. die Saug-/Schluckreaktion. 4 Aufgrund physiologischer, neuromuskulärer und biomechanischer Gesetzmäßigkeiten laufen die tagtäglich ausgeführten Bewegungssequenzen, wie sich
4
4
4
4 4
auf einen Stuhl setzen, von diesem aufstehen oder Nahrung zu sich zu nehmen, bei allen Menschen (muster-)ähnlich und doch individuell ab. Sie unterliegen einer körpereigenen posturalen Kontrolle, die auch den Einsatz von Schutz-, Ausweich- und Abwehrreaktionen steuert. Das Zentralnervensystem ermöglicht es uns, Ziele zu erreichen und unseren Körper dabei an die jeweilige Aufgabe und Umweltbedingung zu adaptieren. Wir lernen im Laufe unserer prä-, peri- und postnatalen Entwicklung Bewegungen und Bewegungsabfolgen auszuführen, indem wir sie zielgerichtet zigtausende Male wiederholen. (Man denke an die unermüdlichen Aktivitäten von Kleinkindern, vom Vierfüßlerstand in den Stand zu kommen). Dies führt zu automatisierten Bewegungen, die dann ohne die früher notwendige kortikale Initiierung, subkortikal, sicher, schnell und ökonomisch ausgeführt werden (Paeth Rohlfs 1999). Ein Bewegungsfundus entwickelt sich, aus dem wir schöpfen können (Mulder 2007). Lebenslang helfen uns vorbereitend, begleitend und reaktiv posturale Kontrollmechanismen mit FeedbackMechanismen unsere Bewegungen zu optimieren. Feedforward-Mechanismen antizipieren an diesem Erfahrungsschatz bei zukünftigen zu planenden Bewegungen und Handlungen. Die eingehenden Informationen werden selektiert und ausgewertet, indem sie mit unserem Wissen und unserer Erfahrung abgeglichen werden. Diese Erfahrungen dienen als Grundlage für die Ausführung gleichgearteter, ähnlicher oder aber auch neuartiger Bewegungen (7 Kap. 3). Beim Lösen von Aufgaben, Problemen lernen Menschen, angetrieben durch körperbezogene (propriozeptive, viszerale, vestibuläre etc.) und umweltbezogene (auditive, olfaktorische, visuelle, posturale etc.) Informationen (Mulder et al. 2002). Spezielle Neurone, sog. Spiegelneurone, lassen darauf schließen, dass der Mensch über motorisches Wissen verfügt, das es ihm ermöglicht, eigenes und beobachtetes Handeln – ohne Mithilfe des Denkens und der Sprache zu entschlüsseln (Rizzolatti 2008). Faktoren wie Wachheit, Aufmerksamkeit, Kognition, Gedächtnis, Psyche, Motivation, unsere bisherigen Erfahrungen, Wissen und die Umwelt beeinflussen die individuelle Ausführung unserer Handlungen. Die Ergebnisse werden gespeichert und sind dann in ähnlichen Situationen wieder abruf- bzw. adaptierbar (Banduras 1986, Kandel 2007). Dank der Mechanismen der Neuroplastizität kann das ZNS lebenslang lernen. Im Zuge der physiologischen Alterung baut sich die Fähigkeit, Fertigkeiten zu erlernen, wieder ab. Dieser Abbau ist individuell und geprägt von den persön-
5 1.2 · Bewegungslernen und Bewegungsverhalten
lichen Faktoren wie Allgemeinzustand, Konstitution und Auftreten von Erkrankungen etc., und den Umwelfaktoren, dem Lebensumfeld des Individuums.
1.2.1
Haltung und Bewegung am Beispiel der Nahrungsaufnahme
Ein gesunder Körper gibt Halt und ist zeitgleich ständig in Bewegung. Er bietet die Grundlage, fazio-orale Bewegungen und Aktivitäten auszuführen. Beobachtend und durch Selbsterfahrung können wir feststellen, dass unser Körper über dynamische Stabilität verfügt, die es ermöglicht, uns zu bewegen und Haltungsveränderungen vorzunehmen (7 Kap. 4). Beispiel Sitzen wir bei Tisch und wollen zu essen beginnen, werden wir i.d.R. die Augen, Kopf und Rumpf in Richtung des vor uns stehenden Essens ausrichten. Zerkauen der Nahrung und Durchmengen mit Speichel sind längst gelernte, automatisierte Bewegungen, die wir aber auch ausführen können, wenn z.B. der Kopf zum seitlich sitzenden Tischnachbar gedreht ist. Das anschließende Schlucken ist die reaktive Antwort auf die Verarbeitung des jeweiligen Bolus, seiner Konsistenz und Größe. Geschluckt wird häufig mit zentriertem Kopf; dieser kann aber auch – in einer besonderen Situation – zur Seite gedreht sein. Nehmen wir einen zu großen Schluck aus der Tasse und verschlucken uns, werden wir unseren Oberkörper eventuell abrupt nach vorne beugen und uns dabei abstützen – Stützreaktion – und den Kaffee wieder ausprusten – Schutzreaktion. Wir werden solange alles hochhusten, bis die Atempassage wieder frei ist und sich nach anschließendem (Speichel-)Schlucken wieder ein ruhiger, rhythmischer Atemzyklus einstellt.
Dies sind nur zwei Beispiele aus einem schier unerschöpflichen Repertoire an Ganzkörperbewegungen, in denen fazio-orale Bewegungen und Handlungen ablaufen können, Während einer Sprech- oder/und Schlucksequenz laufen im fazio-oralen Trakt Bewegungen ab, die auf einer dynamischen, d.h. veränderbaren Haltung basieren. Die Körperhaltung, die biomechanischen und neuromuskulären Einstellungen sind unterschiedlich, ob wir sitzend bei Tisch oder gehend ein Eis essen, ob wir ein Lied zum Besten geben oder im Liegestuhl nach einem Campari Orange greifen.
i Praxistipp Unser implizites Körperwissen hilft uns, die jeweiligen Aufgaben zu bewältigen (vgl. Central Set, 7 Kap. 3). Alle diese Handlungen basieren auf einer automatisierten Haltungskontrolle (posturale Kontrolle). Sie erfordern – je nach Aufgabenstellung und Kontextvertrautheit – mehr oder weniger Aufmerksamkeit, manchmal auch kognitive Kontrolle.
1.2.2
Störungen im Bewegungslernen und Bewegungsverhalten
Wenn ein Körperteil nicht mehr in gewohnter Weise einsatzfähig ist, z.B. ein Arm in einer Schiene ruhiggestellt ist, erfahren wir, wie schwierig die Bewältigung des Alltags werden kann. Wir sind jedoch in der Lage, die Ursache zu benennen und u.U. eingeschränkte Bewegungen des Arms zu kompensieren, indem wir z.B. den anderen Arm vermehrt einsetzen oder die Zähne zu Hilfe nehmen, um den Reißverschluss der Jacke aufzuziehen. Schwieriger wird das Erforschen der Ursache(n) bei Bewegungs- und Handlungsstörungen zentraler Genese, z.B. nach Hirntraumen, -blutungen oder Schlaganfällen. Beispiel Eine Tasse Kaffee steht zum Trinken bereit und wird nicht ergriffen: 4 Kann eine Tasse aufgrund einer Gesichtsfeldeinschränkung nicht wahrgenommen werden, wird nicht nach ihr gegriffen, vielleicht wird sie sogar aus Versehen umgestoßen. 4 Ist die Propriozeption (die Wahrnehmung der Stellung der Gelenke, der Richtung und Geschwindigkeit ihrer Bewegung) gestört, wird der Tonus in der greifenden Hand vielleicht übermäßig hoch sein, die Bewegung wird ruckartig ausgeführt, der Kaffee wird verschüttet. 4 Sind kognitive Prozesse gestört, kann der Aufforderung, die Tasse zu ergreifen, nicht nachgekommen werden, obwohl sie vielleicht gesehen wird. 4 Ist die zentrale Ansteuerung motorischer Bewegungen gestört, kann es zu einer Parese (Lähmung) im Arm oder während der Greifbewegung zu einer Tonuserhöhung im Arm kommen. Vielleicht merkt der Patient, dass die Bewegung nicht zu dem gewünschten Erfolg führt und versucht nun in der Folge mit verstärkter Anstrengung, die Tasse zu greifen. Dies kann dann zu einer weiteren sekundären Spannungszunahme in der Schulter und/ oder im Arm führen. 4 Zusätzlich: Ist die Sensorik eingeschränkt, und wird der Speichel im Mund deshalb nicht gespürt, läuft er irgendwann aus dem Mund heraus oder wird ohne einsetzende Schluckbewegung unkontrolliert in den Larynx (Kehlkopf ) und die unteren Atemwege eindringen.
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Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen
Die Störung ist oft nicht eindeutig kausal erklärbar. Ein und demselben Outcome können unterschiedliche zentrale Ursachen zugrunde liegen. Perzeptive, sensomotorische und/oder kognitive Störungen können – auch kombiniert Verursacher sein (7 Kap. 6). Ein anderer sensomotorischer Regelkreis entsteht und produziert als motorische Antworten oft veränderte Bewegungsmuster. Die Beeinträchtigungen selektiver Bewegungsmuster bei Hemiparese/-plegie, Tetraparese etc. wurden seinerzeit von B. und K. Bobath beschrieben (1977, 1986, 1990). Die Weiterführung dieser Grundlagen und Behandlungsprinzipien sind bei Davies (1995, 2002), Paeth Rohlfs (1999) und Gjelsvik (2007) nachzulesen. Vaughan Graham et al. (2009) stellen den Bezug zwischen dem aktuellen Bobath-Konzept in der gegenwärtigen klinischen Praxis und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie der ICF her.
1.3
Lernen im F.O.T.T.-Konzept
1.3.1
Was tun, wenn die Problemlösungsmaschine ZNS gestört arbeitet?
> Beachte Ein durch eine Störung veränderter sensomotorischer Regelkreis arbeitet ebenfalls 24 Stunden am Tag. Wird er nicht unterbrochen, zementiert sich das Erfahren und Lernen gestörter Bewegungen.
Es ist dem Gehirn egal, ob die Inputs physiologischer oder pathophysiologischer Natur sind. Es verarbeitet, arbeitet und lernt weiter, ohne das Lernende zu beurteilen. Bekommt ein Gehirn nach einer Schädigung nicht mehr die gewohnten physiologischen Inputs, werden die Bewegungen und Verhaltensweisen verändert ausfallen. Im schlimmsten Fall können sie den Patienten daran hindern, sich selbständig bewegen und handeln zu können. Der Patient wird dann auf die Hilfe und Kompetenz seiner Umgebung angewiesen sein, um im Alltag klarzukommen oder verloren gegangene bzw. neuartige Fertigkeiten lernen zu können.
1.3.2
» Ohne Information (ohne sensorischen Input) gibt es
»
Die einzige Möglichkeit das Gehirn zu verstehen, ist ein Computermodell, um die vorhandenen Daten zu sammeln, zu sortieren, zu bewerten und weiter zu untersuchen. Wir können alle Daten der Welt haben, aber ohne Modell werden wir nie genug Daten haben. (Markram 2010)
Wie lernt der Mensch, wie lernt das ZNS (Bewegungen)?
keine Kontrolle, kein Lernen, keine Veränderung, keine Weiterentwicklung. (Mulder u. Hochstenbach 2002)
«
«
Am 26.03.2010 wies Google in 0,19 Sekunden (!) 14.100000 Einträge zum Stichwort »blue brain« und in 0,09 Sekunden über 2 Millionen Einträge zu »blue brain project« auf. Kein Mensch kann diese und andere Datenmengen je lesen, geschweige denn verarbeiten! Im Blue Brain Project ist es gelungen, erste kortikale Säulen nachzubilden, die von hoch technisierten Rechnern in Lausanne jetzt maschinell fabriziert werden. Das künstliche Gehirn wächst weiter, Nervenzelle für Nervenzelle. Die faszinierenden dreidimensionalen Computeranimationen geben eine Ahnung, wie sich das Wissen in den nächsten Jahrzehnten entwickeln wird (www.bluebrain.epfl.ch; 26.03.2010). Das einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass unsere derzeitigen Denkmodelle und Erkenntnisse – demnächst überholt sein werden Dieser Prämisse folgend kann die Ausgangssituation des gestört arbeitenden ZNS – hilflos und behelfsmäßig – folgendermaßen beschrieben werden.
Nach erlittenen neurogenen Funktionseinschränkungen ist nicht das Wiedererlangen der Kontrolle über einzelne Muskeln, ihre Kräftigung und das Verbessern ihres Bewegungsausmaßes im Vordergrund, sondern auch und v.a. das Wiedererlangen der Anpassungsfähigkeit an ständig neue Situationen und Aufgaben. Heute werden in den Neuro- und Bewegungswissenschaften u.a. die nachfolgenden Annahmen zur Erklärung von Rehabilitation herangezogen. jNeuroplastizität
Entgegen früherer Annahmen können wir bis ins hohe Alter lernen. Neuroplastizität beschreibt die Fähigkeit des ZNS (seiner Synapsen, Zellen und ganzer Areale) zur lebenslangen funktionellen Veränderung durch aktivitätsabhängige Potenzierung oder Depression, durch Axonaussprossungen usw. Diese Entdeckung revolutionierte die Sichtweise über die Funktionsweise des ZNS (7 Kap. 1.3.4). jInput, Aktivität und Adaptation
Die Faktoren Input, Aktivität und Adaptation bestimmen unsere Entwicklung und unser (Über)leben und sind Basics für motorisches Lernen (Mulder u. Hochstenbach 2002), das Wiedererlernen motorischer Fertigkeiten. Ohne Aktivität gibt es keinen Input, ohne Input keine Anpas-
7 1.3 · Lernen im F.O.T.T.-Konzept
sung, und ohne Anpassungsfähigkeit ist Lernen nicht möglich. Mulder und Hochstenbach (2002) nennen drei Voraussetzungen für optimales Lernen (. Übersicht 1.1). . Übersicht 1.1. Voraussetzungen für optimales Lernen 4 Optimale sensorische Information 4 Variabilität der Aufgaben 4 Anwendungsbezogene Ausrichtung des kontextbezogenen Trainings
Das Anbieten sensorischer Information und therapeutischer Hilfen in der Therapie muss dosiert und angepasst erfolgen, d.h. kleinschrittig genug, um den Patienten nicht zu überfordern, aber auch großschrittig genug, um ihn nicht zu unterfordern. Es sollte am oberen Level der Leistungsfähigkeit des Patienten gearbeitet werden, um sein Potenzial nutzen und austesten zu können, inwieweit Anforderungen gesteigert werden können. Das Angebot sensorischer Inputs ist zu steigern, zu variieren und soll unter verschiedenen Bedingungen, in verschiedenen Lernzusammenhängen stattfinden. Es muss sowohl qualitativ wie quantitativ an der jeweiligen Aufgabenstellung, den Bedürfnissen und dem Potenzial des Patienten ausgerichtet werden.
4 wenn Lähmungen oder Störungen des Tonus die Haltung und Bewegung primär, aber auch sekundär aufgrund von Angst, Stress verändern? 4 wenn die höheren Hirnfunktionen es unmöglich machen, das gestörte Verhalten zu erkennen? 4 wenn der Körper nicht in der Lage ist, dies zu kompensieren? > Beachte Bobath-Leitidee Wir müssen dem rund um die Uhr gestört arbeitenden ZNS helfen, physiologische Bewegungen des Alltags im Alltag zu spüren, zu erfahren, zu benutzen, damit sich diese wieder automatisieren und Regeln und Pröblemlösungsstrategien gelernt werden können – rund um die Uhr! Pausen, die zur Erholung des Organismus und zur Verarbeitung der eingeströmten Informationen dienen, sind dabei zu berücksichtigen!
Diese Leitidee führte zu einem 24-Stunden-Konzept, also zu Überlegungen wie der (Reha-)Alltag des Patienten, wie Lernsituationen in denen adäquate Reize gesetzt werden, die erwünschte motorische Antworten nach sich ziehen – aber auch Pausen zur Verarbeitung und Erholung – zu gestalten sind (7 Kap. 1.5).
Konzept – Prinizipien – Methoden – Technik jHöhere Hirnfunktionen
jKonzept
Aber auch der Zugriff auf höhere Hirnleistungen ist von essenzieller Bedeutung für das Lernen.
Der Begriff Konzept (lat. das Zusammenfassen) steht synonym für einen Entwurf, einen Plan. Es stellt sozusagen den Rahmen oder die Hardware dar, innerhalb dessen als Software das Programm, die Philosophie lebt und beheimatet ist. Hier ist der Ausgangspunkt für die Ausarbeitung und Überprüfung von Fragestellungen. In diesem Rahmen ist es offen für Interpretationen und Erweiterungen. Flexible Lösungswege für individuelle Fragestellungen können in einem Konzept entwickelt und neue Forschungsergebnisse integriert werden. Der interaktive Prozess zwischen dem Patienten und der Therapeutin/ dem Team und die individuelle Schwerpunktsetzung prägen die Therapie, wenn sie nach einem Konzept erfolgt. Es macht den Charakter eines Konzepts aus, dass es offen für neue wissenschaftliche Erkenntnisse ist, und es entwickelt sich dadurch weiter. Prinzipien oder Leitsätze finden Anwendung in Konzepten. Diese werden planmäßig und handlungsorientiert mit Methoden umgesetzt. Zur tatsächlichen Ausführung stehen Techniken zur Verfügung. Ritter et al. (2007) und Welling (2008) definieren erstmals die Begriffe Konzept und die darin absteigend integrierten Prinzipien, Methoden und Techniken. Ein Konzept soll helfen, systematisch einen Standpunkt, eine Arbeitshypothese zu gewinnen. Innerhalb eines Konzepts sind Methoden und Techniken konzeptionell rückführbar,
> Beachte Hirnfunktionen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Motivation sind bestimmend für das Planen und die motorische Ausführung von Handlungen.
Nach Kandel (1996) richtet besonders die Motivation die Aufmerksamkeit auf ein Ziel und steigert dabei die Wachheit und Aufmerksamkeit. Sie hat auch organisierende und koordinierende Funktion, indem sie individuelle Komponenten zu einer kohärenten zielorientierten Verhaltenssequenz führen kann (vgl. auch Banduras 1986).
1.3.3
Das Bobath-Konzept
» Gib Hilfe für ein besseres Leben, nicht Übungen. « (B. Bobath 1985)
Was also tun, 4 wenn die Verarbeitungsprozesse der Sensomotorik, Wachheit, Aufmerksamkeit, Kognition und Psyche unsere Bewegungsabläufe, die Handlungsausführungen verändern?
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Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen
prinzipiell ableitbar und methodisch handhabbar. Die fundierte Anwendung dieser Basics entspricht nach Meinung der Autoren dem Vorgehen bei der Anwendung der evidenzbasierten Praxis nach Sackett (1996). Als Prinzipien des Bobath-Konzepts in der Kindertherapie sehen die Autoren die Individualisierung, die Lebensweltorientierung und die Integrierung von Bewegungs- und Handlungszielen. Für die Bobath- und F.O.T.T.-Arbeit mit Erwachsenen können als Grundaussagen die Alltagsbezogenheit und das lösungsorientierte Arbeiten genannt werden, zudem die Prinzipien Ziel- und Handlungsorientiertheit und das Clinical Reasoning mit hypothesenbezogenem Arbeiten. Das Bobath-Konzept, aus dem die F.O.T.T. hervorgegangen ist, ist in den letzten Jahren als veraltet und als »traditioneller Ansatz« in Verruf gekommen. Bei aller Kritik: Es muss festgehalten werden, dass die Versuche Karel Bobaths, die empirisch gewonnenen Erkenntnisse seiner Frau Berta wissenschaftlich zu erklären, »evidenzbasiert« auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft dieser Zeit waren. Dieser Wissensstand ist heute überholt. Selbst Karel Bobath revidierte noch zu Lebzeiten einige seiner Erklärungsversuche, scheiterte er doch früh am Widerstand seiner Frau, die sich aus ihrer großen praktischen Erfahrung heraus weigerte, den Menschen als »reflexgesteuertes Wesen« zu sehen. Sie ging von einer – für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen – ganzheitlichen Betrachtungsweise der Person in ihrer Umwelt, mit ihren Erfahrungen, Gefühlen, Erwartungen und v.a. ihrer Lernfähigkeit aus. Interessanterweise gibt es derzeit immer mehr wissenschaftliche Indizien aus der Grundlagenforschung und evidenzbasierte Ergebnisse, die einen Teil der »althergebrachten« Bobath- und F.O.T.T.-Vorgehensweisen und ihrer Prinzipien belegen. Einige werden hier vorgestellt. jPrinzip Alltagsorientierung
Das Eingangszitat Berta Bobaths »Gib Hilfe für ein besseres Leben, nicht Übungen«, ist heute hoch aktuell und zeigt, dass die Therapieintention schon im letzten Jahrhundert auf die Person/den Patienten, seine Umwelt und seine Aufgaben im Alltag ausgerichtet war. (Mittlerweile propagieren auch »moderne« Therapieansätze, dass die Ziel-/Aufgabenorientierung in der Bewegungstherapie Erwachsener effektiver ist als abstrakte Übungen (7 Kap. 3). Berta Bobaths Schlussfolgerungen basierten u.a. auf der systematischen Beobachtung und Kenntnis kindlichen Lernens. Das erklärte Ziel, einen Gegenstand erreichen zu wollen, versetzt das Kleinkind in die Lage, seine genetischen Programme zu aktivieren, um sich – zu einem auserwählten Ziel des Interesses – hinzubewegen. Die Aufmerksamkeit ist gerichtet auf den Gegenstand, »der
Auslöser und Motivator zugleich ist« (Kandel 2007). Die Motivation veranlasst das Kind, die – anfangs noch schwerfällig anmutenden – Mühen auf sich zu nehmen, sich zum begehrten Gegenstand hinzubewegen. Im Laufe der Zeit lernt das Kind dabei, diese Erfahrungen wiederholt anzuwenden und auf neue Situationen zu adaptieren. Die Alltagsbewegungen automatisieren sich und können im weiteren Leben ohne großes Nachdenken abgerufen werden. Methodisch übertragen auf die Therapie und das 24-Stunden-Management eines Patienten bedeutet das: Der Patient wird in seinem Alltag (und möglichst in seiner Umgebung) therapiert oder unterstützend begleitet. So können früher gelernte Bewegungs- und Verhaltensweisen wieder aus der »Speicherung« hervorgeholt, erinnert und eventuell wieder abgerufen werden. Das therapeutische Arbeiten im Alltagskontext bietet auch viel mehr Variations- und Repetitionsmöglichkeiten als jedes Übungsprogramm. Der Transfer in den Alltag beginnt damit in der Frühphase und nicht erst in der Spätphase der Therapie. Beispiel Hat der Patient schon mit einer Pflegenden gefrühstückt, heißt das nicht, dass die terminierte Schlucktherapie entfällt. Das anschließende Zähneputzen oder Ankleiden kann ebenfalls genutzt werden, um das Schlucken von Speichel im jeweiligen Kontext zu erarbeiten. Auch beim Zähneputzen und Ankleiden muss man den Speichel schlucken (7 Kap. 1.5)!
kKnowing-how – Knowing-what
» Das Verstehen der Intentionen anderer hat nichts »Theoretisches«, sondern stützt sich auf die automatische Selektion jener Handlungsstrategien, die sich gemäß unserem motorischen Wissen am ehesten mit der jeweils beobachteten Situation vereinbaren lassen. (Rizzolatti 2008)
«
Im Bobath-Konzept und in der F.O.T.T. wird versucht, die interne Repräsentation des impliziten Körper- und Handlungswissens des Patienten, sein Knowing-how, vorbereitend, begleitend und reaktiv in alltagsorientierten Therapiesequenzen wieder zu aktivieren, zu nutzen und auszubauen. Mit der Entdeckung und Erforschung des Spiegelneuronensystems scheint es möglich, das implizite Körper- und Handlungswissen bzw. die Teilhaberschaft zu entschlüsseln, »die die Voraussetzung unserer gesamten intersubjektiven Erfahrung bildet«. Rizzolatti (2008) bezeichnet das Spiegelneuronensystem als »die implizite, originär pragmatische Form des Verstehens«. Darüber hinaus ermöglicht unser »motorisches Wissen« die automatische Selektion von Handlungsstrategien – auch beim Beobachten (und Verstehen) der Intentionen anderer.
9 1.3 · Lernen im F.O.T.T.-Konzept
Nach Kandel (2007) ermöglicht uns das implizite Gedächtnis den Zugriff auf unser automatisiertes Tun, auf das Knowing-how. Wir erwerben es implizit, d.h. während wir uns die Fertigkeiten aneignen und abspeichern. So benutzen wir z.B. Sprache, ohne darüber nachzudenken. Wir haben in der Sprachentwicklung gelernt, die Regeln der Grammatik und Syntax auch mithilfe der Imitation und – mutmaßlich – des Mustervergleichs anzuwenden. Erst später in der Schule lernen wir Fakten und Sachverhalte, z.B. die Grammatik, müssen sie abspeichern und wieder abrufen, um Sachverhalte erklären können. Das explizite Gedächtnis, lokalisiert im Hippocampus, speichert unser kognitives, explizites Wissen, das Knowing-what (vgl. Goldenberg 2007). jPrinzip Lösungs- und Potenzialorientierung
» Schaue zuerst den Patienten an, was er in seinem Alltag kann, erst dann registriere seine Defizite und beginne die Behandlung damit, herauszfinden, warum der Bewegungsablauf gestört ist. (B. Bobath, zitiert bei Biewald 1999)
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Allein durch das Eruieren der Struktur- und Funktionsschäden ist der Verlauf der Rehabilitation noch nicht zu prognostizieren. Folgt man den Gedanken von Berta Bobath, dann geht es in der Befundung nicht nur darum, die Störung zu ermitteln, sondern zu analysieren, welche Probleme der Patient dadurch im Alltag hat, was der Patient (trotzdem) noch kann, und wie Ressourcen genutzt werden können (7 Kap. 12). Dieses Vorgehen entspricht dem heutigen Standard, der aktuellen International Classification of Functioning (ICF) der Weltgesundheitsorganisation WHO. Gesundheit wird hier definiert als »ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen« (vgl. www.who.int/classifications/icf/en). Die Ebenen Aktivität und Teilhabe/Partizipation am sozialen, gesellschaftlichen Leben sollen ebenso in die Bewertung der
Funktionsfähigkeit (und in die sich anschließende Therapie) eines betroffenen Menschen miteinbezogen werden wie seine individuellen Umwelt- und persönlichen Faktoren. Berta Bobath, aber auch Maggie Knott und Dorothy Voss, die Protagonistinnen der Propriozeptiven Neuromuskulären Fazilitation, PNF, haben die Notwendigkeit einer individuellen umwelt- und alltagsorientierten Therapiezielformulierung – wie sie jetzt in der ICF beschrieben wird – schon Mitte des letzten Jahrhunderts erkannt und propagiert! Insofern ist für therapeutische Teams, die nach diesen Prinzipien arbeiten, das ICF-Vorgehen nicht neu, sondern ein »alter Hut«.
» Alle Menschen reagieren auf Anforderungen. … Fähigkeiten, Kraft und Ausdauer werden durch aktive Partizipation am Leben entwickelt. (Knott u. Voss 1956)
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jMethoden
Methoden sind spezielle Verfahrensweisen, die im Rahmen dieser Prinzipien planmäßig und handlungsorientiert angewendet werden, mit dem Ziel, das Verhalten zu ändern. Als Methoden können die Fazilitation und die Elizitation, das Hervorlocken einer Aktivität, z.B. durch eine entsprechende Umfeldgestaltung (sitzend am Waschbecken), bei der Aufgabengestaltung (Zähneputzen) gesehen werden. Fazilitation ist dabei Bestandteil eines aktiven Lernprozesses zwischen Therapeut und Patient, der in die Lage versetzt werden soll, Trägheit zu überwinden, funktionelle Aufgaben zu initiieren, diese fortzuführen und zu vollenden. Dabei werden afferente Inputs (somatosensorische, taktil-kinästhetische, visuelle, vestibuläre und akustische Informationen) benutzt, um das motorische System zu stimulieren (Pessler 2009). Die Methode Kieferstabilisierung kann mit verschiedenen Techniken, z.B. dem Kieferkontrollgriff oder durch Kopf in Mittelstellung bringen etc., umgesetzt werden. jTechniken
Im Bobath-Konzept und in der F.O.T.T. werden v.a. taktile, visuelle und verbale Techniken – manchmal auch in Kombination – eingesetzt, um den vielfältigen Problemen bei/nach neurogenen Schädigungen begegnen zu können und Bewegungen, Aktivitäten zu beeinflussen. Die Wirksamkeit dieser Hilfen wird nach und nach wissenschaftlich untermauert. kVisuelle Hilfen
Die Spiegelneurone (Rizzolatti 2008) sind Indiz dafür, dass das Vor- und Mitmachen, aber auch das mentale Vorstellen von Bewegungen im ZNS des Beobachters ähnliche Erregungspotenziale auslösen können wie sie bei der Durchführung auftreten. Demnach erkennen wir beim Beobachten die Bedeutung oder Intention von Bewegungen oder Handlungen, die andere ausführen. Auch umgekehrt gilt, dass jede unserer Handlungen eine unmittelbare Bedeutung für denjenigen annimmt, der sie beobachtet. kTaktile Hilfen »Hands-on«-Techniken sollen dem Patienten »das Gefühl
für Haltung und Bewegung wiedergeben« (Bobath, zitiert bei Biewald 1999). Sie können zu biomechanischer Stabilität verhelfen, die dynamische Bewegungen erst ermöglicht, oder es können propriozeptive Reize gesetzt werden, wenn das eigene Körpersystem versagt. Bei der F.O.T.T.Mundstimulation (er)setzen die Finger der Therapeutin
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Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen
– vorübergehend – intraoral Reize, die die Zunge (noch) nicht selbst durchführen kann. Derzeit gibt es erste wissenschaftliche Hinweise mithilfe der transkraniellen Magnetstimulation, die Erregungspotenziale im Kortex gesunder Probanden während der taktilen FO.T.T.-Mundstimulation zeigen (Böggering 2008, Mütz 2009). kVerbale Hilfen
Nach neuen Studien führt Bewegungslernen gerichtet auf einen externen Fokus zu besseren Resultaten als das Lernen gerichtet auf einen internen Fokus. An Golfspielern und Patienten mit Morbus Parkinson u.a. konnte Wulf (2008) zeigen, dass das Richten der Aufmerksamkeit auf das zu erreichende Ziel zu besseren Ergebnissen führt als das bewusste Richten der Aufmerksamkeit auf die exakte Durchführung des Bewegungsablaufs. Es scheint also effektiver, einen Handlungsauftrag zu geben, den der Ausführende früher schon durchgeführt oder gesehen hat, als die detaillierte, sequenzielle Beschreibung der Bewegungsabfolge zu instruieren (vgl. auch Abschn. »Knowing-how – Knowing-what). Die verbale Instruktion mit externem Aufmerksamkeitsfokus entspricht sowohl dem alltagorientierten Vorgehen in der F.O.T.T. wie auch dem heutigen Wissen über Bewegungslernen (7 Kap. 3.2.3). Beim Durchführen von Bewegungssequenzen und Handlungen aktivieren sich andere Hirnareale als beim Durchführen von abstrakten Einzelbewegungen. Prof. Geralyn Schulz, Leiterin des Departments of Speech and Hearing Science an der George Washington Universität, erachtet eine Diskussion bzw. einen Paradigmenwechsel in der Behandlung der Dysarthrie als notwendig, da derzeit hauptsächlich über Bewegungsabläufe mit interner Aufmerksamkeitsfokussierung gearbeitet wird (Wulf 2009). Dies setzt u.a. auch kognitives Verstehen und Ressourcen voraus, die nicht jeder Patient aufbringen kann. jKonzept vs. Technik: Beispiel Kieferkontrollgriff
In den letzten 50 Jahren verselbständigten sich (Griff-) Techniken aus verschiedenen Konzepten und werden ohne die ursprüngliche Intention – aus dem Zusammenhang gerissen – publiziert. Warum eine Technik – starr und allein angewendet – oft nicht wirksam ist, ja scheitern muss, soll am Beispiel des seinerzeit im Bobath-Konzept entwickelten Kieferkontrollgriffs (KKG) verdeutlicht werden Es ist eine – heute weit verbreitete Annahme, dass der KKG zum Öffnen des Kiefers eingesetzt werden kann, indem man mit den am Unterkiefer positionierten Fingern Zug nach unten gibt: 4 Dieser taktile Reiz kann bei Patienten mit erhaltener Sensibilität, Reagibilität und Wahrnehmung zum gewünschten Erfolg führen. 4 Bei Patienten mit schweren Störungen führt der KKG aber oft zu einem gegenteiligen Ergebnis: Eine schon
eingangs sehr hypertone, »feste« Kiefermuskulatur wird auf Zug noch mehr reagieren, sprich kontrahieren – sie spannt noch mehr an – und es besteht die Gefahr, dass der Unterkiefer retrahiert (nach dorsal gedrückt) wird. Eine Öffnung des Kiefers ist auf diese Weise nicht zu erreichen. kFehleranalyse/Evaluierung Zur Fehleranalyse und Evaluierung sind notwendig: 4 Wissen bezüglich der physiologischen Funktionsweise von Muskeln: Muskeln reagieren auf Zug mit Kon-
traktion, d.h., durch Zug am Unterkiefer (Führen des Unterkiefers nach unten) kontrahiert die Muskulatur, hier u.a. die Mm. masseter und pterygoideus medialis. Ergebnis: Der Kiefer schließt noch fester. 4 Beobachten und Erspüren normaler Funktion: Entgegen der weit verbreiteten Annahme retrahiert der Unterkiefer bei der Öffnung nicht, sondern bewegt sich erst etwas nach vorne, dann nach unten. Dies kann durch Selbsterfahrung erspürt werden! 4 Überprüfen der Ausgangsposition: Ist sie abgestimmt auf die aktuellen individuellen Probleme des Patienten? 4 Überprüfen der Hypothese oder Formulieren einer neuen Arbeitshypothese: Sind die Probleme eher kognitiver, perzeptiver oder sensomotorischer Natur? kErgebnis der Fehleranalyse Ein mögliches Ergebnis der Fehleranalyse könnte sein:
4 Nach der Analyse des normalen Funktionsablaufs »Kieferöffnung« und der Funktionsweise der Muskeln wird man verstehen, warum dieser Griff bei einer schweren Kieferöffnungsstörung versagen muss. 4 Die Anwendung des Kieferkontrollgriffs war technisch nicht richtig. Die Bewegungsrichtung und der Einsatz von Zug sind kontraindiziert! Die Grifftechnik zur Unterstützung der physiologischen Kieferöffnung in der Bewegungsführung muss sowohl nach vorne als auch nach unten ausgerichtet sein (bei stabilem Rumpf, Nacken und Kopf in Mittelstellung). kVorgehen nach dem F.O.T.T.-Konzept Im F.O.T.T.-Konzept wird man zuerst differenzialdiagnostisch die zugrunde liegende Ursache für den festen
Kieferschluss im perzeptiven, kognitiven oder sensomotorischen Bereich suchen und eine darauf abgestimmte Arbeitshypothese formulieren, z.B. wenn ein Patient aufgrund eines gestörten Situationsverständnisses beim Zähneputzen auf die Zahnbürste beißt oder den Mund/ Kiefer nicht öffnet. Auf Basis dieser Hypothese muss eine alltagsorientierte Aufgabenstellung/Situation geschaffen werden, z.B. im Badezimmer am Waschbecken, in deren Setting sich eine Mundöffnung kontextabhängig – quasi
11 1.3 · Lernen im F.O.T.T.-Konzept
»zwangsläufig« ergeben soll. Erst dann werden passende Techniken gewählt, um das Ziel zu erreichen. Die Technik ist dabei methodisch in das Konzept eingebunden: 4 Versteht ein Patient die Aufgabe oder die verbale Aufforderung nicht, wird man ein konkretes Umfeld wählen, um über den situativen Kontext (hier Badezimmer) das Körper- und Handlungswissen und das implizite Gedächtnis zu aktivieren, die helfen können, die Situation zu erkennen. Der Therapeut wird helfen, die Hände des Patienten miteinzubeziehen, die Zahnbürste wird in die Hand gegeben und die Handlung therapeutisch geführt. 4 Findet sich als Hauptproblem hingegen eine sensomotorische Komponente, z.B. ein hypotoner Rumpf und eine kompensatorische Fixation, wird man vielleicht die Seitenlage wählen, damit der Patient seine Kompensation aufgeben kann und eine Kieferöffnung möglich wird. > Beachte Für die F.O.T.T. gilt: In der neurologischen Rehabilitation können keine Techniken oder Übungen eingesetzt werden, die bei allen Patienten gleichermaßen zum Erfolg führen.
Auf Grundlage einer Arbeitshypothese werden abgestuft uni- und multisensorische Informationen (u.a. Druck, Vibration, Tapping) eingesetzt, mit deren Hilfe notwendige Bewegungen elizitiert (hervorgelockt) oder fazilitiert (erleichtert, gebahnt) werden. Einsatz und Erfolg sind aber von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, z.B. 4 genaue und sorgfältige, situativ richtige Anwendung durch den Therapeuten, 4 individuelles Störungsbild, 4 Potenzial, Tagesverfassung und Motivation des Patienten.
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ge sich in der Folge überhaupt bzw. normaler bewegen kann, wie es für den Bolustransport notwendig ist, damit ein zurückgezogener, 7 retrahierter Kiefer tendenziell nach vorne gebracht werden kann, damit eine Kieferöffnung möglich wird und die physiologische Ausgangsstellung der Zunge, die Zungenruhelage, für eine folgende Schluckinitiierung erreicht werden kann, um normalere Gesichtsbewegungen zu erreichen, um Bewegungen der Zunge zu fazilitieren, die koordiniert mit Wangen-, Lippen- und Kieferbewegungen agieren, um die Kopfposition zu korrigieren oder zu unterstützen, um selektive Bewegungen der Zunge, des Gesichts zu fazilitieren.
Voraussetzung ist, dass das momentane gesamtkörper-
liche Haltungsmuster berücksichtigt und ggf. verändert oder optimiert wird. Die Grifftechnik ist nicht starr: 4 Sie kann und muss variiert werden, zum einen durch verschiedene Grifftechniken (extra- oder intraoral, bilateral etc.), zum anderen durch die Position des Anwenders: von vorne/unten, von der Seite, von hinten. 4 Sie sollte im Laufe der Therapie unter dem Aspekt »Abbau von Hilfen« abgewandelt und am Ende hoffentlich ganz entbehrlich werden. Weitere Ausführungen zum Zusammenspiel von Körperstrukturen finden sich in 7 Kap. 4 und 8. Verschiedene Varianten des Kieferkontrollgriffs sind im Buch abgebildet (. Abb. 6.8 c, 6.21 a, 6.24 c).
1.3.4
Die Reaktionen auf den Einsatz eines Stimulus oder einer Technik sind immer zu evaluieren! Der Kieferkontrollgriff ist eine – unter Supervision zu erwerbende – Fertigkeit, eine Grifftechnik, mit der unterschiedliche funktionelle Ziele erreicht werden können. Entscheidend ist, dass ein Plan, eine Hypothese existiert und eine fortlaufende Reflektion stattfindet, WARUM und WOFÜR der Griff in DIESER therapeutischen Situation bei DIESEM Patienten eingesetzt werden soll. Die anschließende Evaluierung kann zeigen, ob damit das gewünschte Ergebnis erreicht werden konnte. Der Kieferkontrollgriff ist hilfreich und kann notwendig sein, um die fehlende Stabilisierung des Unterkiefers zu gewährleisten, 4 damit die Zunge und damit verbunden Mundboden-, Nacken-, Hals- und Kopfmuskulatur ihre kompensatorische Haltefunktion aufgeben können und die Zun-
Prinzipien der Neuroplastizität
Kleim und Jones (2008) identifizierten in der Literatur der Neurowissenschaften 10 Prinzipien, die geeignet scheinen, die Neuroplastizität positiv beeinflussen zu können (. Übersicht 1.2). . Übersicht 1.2. Prinzipien der Neuroplastizität 4 Use it or lose it (Benutzen oder verlieren) 4 Use it and improve it (Benutzen und ausbauen) 4 Plasticity is experience specific (Plastizität ist spezifische Erfahrung) 4 Repetition matters (Wiederholungsfaktor) 4 Intensity matters (Intensitätsfaktor) 4 Time matters (Zeitfaktor) 6
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Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen
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Salience matters (Hervorspringende Faktoren) Age matters (Altersfaktor) Transference (Transfer) Interference
Diese Prinzipien sind in vielen Punkten deckungsgleich mit den Prinzipien des motorischen Lernens (7 Kap. 3). Besonders die ersten beiden Prinzipien der Neuroplastizität finden sich in der täglichen Denk- und Arbeitsweise von Therapeuten, die nach F.O.T.T. arbeiten. Unter der Lupe Studien: Dysphagietherapie Eine Expertengruppe der ASHA (American Speech-LanguageHearing Association) hat untersucht, ob und inwieweit die Prinzipien der Neuroplastizität derzeit in der Dysphagietherapie Anwendung finden (Robbins et al. 2008). Die Studienlage ist noch karg und nicht sehr aussagekräftig. Bisher wurden hauptsächlich Untersuchungen auf der Verhaltensebene durchgeführt. Erste Forschungen zum Nachweis einer Veränderung der Neuroplastizität bei Stroke-Patienten mit der transkraniellen Magnetstimulation finden sich u.a. bei Hamdy (1997, 2000), und Ergebnisse bei gesunden Probanden bei Böggering (2008) und Mütz(2009). Weitere Studien sind notwendig, um das Therapievorgehen effektiver und effizienter zu gestalten.
jUse it or lose it (Benutzen oder verlieren) Ein Non-Use (Nichtgebrauch) einer Funktion bewirkt, dass
das neuronale Substrat im Gehirn ebenfalls nicht benutzt wird, sich zurückbildet und verkümmert. So konnte seinerzeit ein Non-Use der Handfunktion mit einer verminderten kortikalen, somatosensorischen Representation der Hand nachgewiesen werden (Merzenich et al. 1983). Die Ausbildung von Forced-Use-Ansätzen und Constraint Induced Movement Therapy (CIMT) waren die Folge, also z.B. der alleinige Gebrauch der betroffenen Hand. Die ASHA-AG konstatiert: Der Nichtgebrauch der Schluckfunktion könne eine verminderte, versiegende Schluckfrequenz, Salivation und u.U. Aspiration nach sich ziehen. Die kompensatorisch einzusetzende künstliche Ernährung kann die Mangelernährung zwar verhindern, wird aber die oropharyngeale Biomechanik und die Schluckfunktion nicht verändern: Die dysphagischen Symptome, die Aspiration bleiben bestehen. Diskutiert wird, ob 4 ein kompensatorisches Arbeiten den Verlust der ursprünglichen, jetzt geschädigten motorischen Skills (Fertigkeiten), der Schluckfähigkeit und den Verlust der Repräsentanz im Kortex nach sich zieht, 4 eine Vorbereitungsarbeit (»warm-up-times«) die Möglichkeit, an der Schluckfunktion zu arbeiten, verbessert (Robbins u. Levine 1993),
4 das forcierte Üben des Speichelschluckens die kortikalen und subkortikalen Repräsentationen vergrößern kann. jUse it and improve it (Benutzen und Ausbauen)
Dieses Prinzip bedeutet, den Patienten in der Therapie an und über seine Grenzen zu bringen, die zu erarbeitende Funktion zu nutzen und so auszubauen, dass sie sich weiter verbessert und mit zunehmender Kompetenz genutzt werden kann. Nach ASHA können zwei Verfahren, die in den USA Anwendung finden, unterschieden werden: 4 Motor with swallowing (motorische Aktionen, die Schlucken beinhalten) und 4 Motor without swallowing (motorische Aktionen ohne anschließendes Schlucken). Kritisch diskutiert werden von Robbins et al. (2008) Muskel kräftigende Übungen und die Shaker-KopfhebeÜbung, also Übungen, die per se nicht intendiert sind, an der Schluckfunktion etwas zu ändern bzw. bisher nicht auf ihre Auswirkung hinsichtlich der Neuroplastizität untersucht wurden. Unter der Lupe F.O.T.T.-Schlucksequenz Um die Repräsentanz im Kortex nach Schädigung zu verbessern, verfolgt die F.O.T.T. das Prinzip »Zurück zur Physiologie«, also das Erarbeiten möglichst physiologischer Funktionen vor dem Einsatz von Kompensationen. Zur F.O.T.T.-Schlucksequenz gehört die Vorbereitung vor dem eigentlichen Schlucken: Als Leitmotiv gilt Maystons Zitat: »Setting the scene!« Zur Vorbereitung zählen: 4 Die Choreographie einer alltäglichen Situation, die vom Patienten erkannt wird und entsprechende Hirnareale aktiviert, die u.a. im EEG als Erregungspotenziale und Erwartungswellen und mittels Positronen-Emissions-Tomographie (PET) nachzuweisen sind. 4 Das Herstellen einer Ausgangsstellung, in der Schlucken biomechanisch überhaupt möglich, elizitiert und fazilitiert werden kann. Dazu werden u.a. Techniken wie die F.O.T.T.-Mundstimulation (7 Kap. 6) genutzt, um die Schluckfrequenz steigern und die Schluckkompetenz verbessern zu können (7 Kap. 15 und 16).
13 1.4 · Das Vorgehen in der F.O.T.T.
Das Vorgehen in der F.O.T.T.
1.4
In . Übersicht 1.3 sind die Kernpunkte des F.O.T.T.-Konzepts zusammengefasst. . Übersicht 1.3. Das F.O.T.T.-Konzept 4 Die F.O.T.T. ist alltagsbezogen und individuell auf den Patienten und seine Umgebung ausgerichtet. Sie ist aus dem Bobath-Konzept hervorgegangen, integriert Aspekte des Affolter-Modells (Affolter u. Bischofberger 1993) und aktuelle wissenschaftliche Modelle wie die Prinzipien des motorischen Lernens (7 Kap. 3) und der Neuroplastizität (7 Kap. 1.3). 4 Die Therapie des fazio-oralen Trakts bietet einen strukturierten, lösungsorientierten Ansatz zur Befunderhebung und Behandlung neurogener Störungen des mimischem Ausdrucks, oraler Bewegungen, des Schluckens und der Atmung, der Stimmgebung und des Sprechens bei Patienten aller Altersstufen. 4 Die F.O.T.T. beginnt so früh wie möglich nach der Hirnschädigung und hat zum Ziel, dem Patienten zu möglichst effizienter und effektiver Nutzung seiner fazio-oralen Funktionen im Alltag zu verhelfen. 4 Wo es notwendig ist, wird auf Körperstrukturebene gearbeitet, um Bewegungsvorgänge wieder zu bahnen (von Piekartz 2001), aber auch, um Einschränkungen in der Mobilität des Nervensystems, Kontrakturen und Faszienblockierungen des jeweiligen Zielgewebes zu minimieren (Butler 1995, Rolf 2007). 4 So weit wie möglich erfolgt die Behandlung in einem Alltagskontext. Der Patient soll die Nutzung seiner Funktionen möglichst implizit beim Tun (wieder)erlernen, also auf die Art und Weise, wie er sie ursprünglich auch erworben hat. 4 Die Umweltbedingungen in der Therapie sollen so gestaltet werden, dass die Aufnahme und Bearbeitung von Informationen und Lernen wieder möglich werden und sich das gewünschte Verhalten, die motorische Antwort quasi »zwangsläufig« aus dem Vorhergegangenen und aus der Situation entwickeln kann. Die Therapeutin lenkt die Aufmerksamkeit des Patienten auf einen externen Fokus, d.h. auf die Handlung statt auf einzelne Bewegungen oder Komponenten, die zur Zielerreichung notwendig sind, und fazilitiert Bewegungsoder Handlungsabläufe mit den zur Verfügung stehenden therapeutischen Hilfen. 6
4 Dieser Ansatz ist – alltagsorientiert und alltagsbegleitend, – interdisziplinär, – integriert in ein 24-Stunden-Konzept. 4 Die Mitglieder des Teams geben gezielt therapeutisch-strukturierte Hilfestellungen im Alltag. 4 Angehörige werden, soweit sie es wünschen und können, dabei angeleitet.
Durch die multimodalen Techniken, z.B. durch das taktilpropriozeptive Vorgehen, muss der Patient nicht unbedingt über Sprachverständnis verfügen. Mit der F.O.T.T. steht damit ein Therapieansatz auch für Patienten zur Verfügung, die kognitiven Lern- und Therapiestrategien nicht zugänglich sind bzw. diese aufgrund ihrer körperlichen Probleme nicht umsetzen können. Mit dem F.O.T.T.-Konzept ist es der Sprachtherapeutin und Bobath-Tutorin Kay Coombes gelungen, die konzeptionelle Bobath-Denkweise konsequent auf die Behandlung der gestörten Funktionen des fazio-oralen Trakts zu übertragen. Gemeinsam mit ihren Mitarbeitern widmet sie sich in ihrem Zentrum ARCOS (Association for Rehabilitation of Communication and Oral Skills, www.arcos.org. uk, 25.02.2010) der ganzheitlichen Versorgung schwer betroffener Personen. Arbeitsschwerpunkte sind u.a. auch 4 die Verbesserung der Sitzhaltung in Rollstühlen (»saddle seated wheelchair«), 4 die Zusammenarbeit mit Zahnärzten und Kieferorthopäden zur Verbesserung der oralen Funktionen bei Kiefer- und Gaumendeformationen bei Kindern mit Zerebralparesen, 4 die Verbesserung der Kommunikation (auch mithilfe der Unterstützten Kommunikation) und 4 die strukturierte Anleitung der Betreuer und Angehörigen bei Patienten in der Häuslichkeit und in Pflegeheimen.
1.4.1
Clinical Reasoning und F.O.T.T.
» Befundung ist Behandlung – Behandlung ist Befundung. « (Coombes 2002) jProbleme und Potenzial erkennen
Die Therapeuten, die nach F.O.T.T. arbeiten, werden sich immer im Kreislauf von Befundung, Behandlung, und Wiederbefundung bewegen. Permanent finden sie sich dabei in einem Prozess, Probleme zu erkennen und diese kausal zuzuordnen sowie Hypothesen aufzustellen, zu prüfen und diese ggf. auch wieder zu verwerfen. Das Erkennen von Problemen ist wichtig, genauso wichtig ist
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Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen
aber auch die Frage nach dem vorhandenen, zu aktivierenden Potenzial des Patienten (7 Kap. 12). i Praxistipp Befunderhebung, Therapie und Evaluation sind ein sich wechselseitig beeinflussender, permanenter Prozess. Dabei gilt es, die Potenziale des Patienten zu erkennen: 4 Was kann der Patient in seinem derzeitigen Alltag? Wie macht er das? (In welcher Qualität macht er das?) 4 Was sind mögliche derzeitige (fazio-orale) Alltagsbedürfnisse, die er aktuell nicht allein ausführen kann? 4 Wobei braucht er Hilfe und Unterstützung? 4 Wie müssen Therapie und Hilfen gestaltet werden, damit er diese alltagsrelevanten Ziele (und somit Bewegungs- und Handlungsmöglichkeiten) erreichen kann?
jLösungsorientiertes, alltagsrelevantes Vorgehen
Menschliche Bewegungen und Aktivitäten finden statt, um ein Ziel zu erreichen. Das Ziel ist dabei Motivation und Kontrolle zugleich. Soweit es möglich ist, werden Alltagsaktivitäten in der therapeutischen Situation genutzt: 4 die Hand zum Gesicht führen, um sich zu waschen, 4 Speichel von den Lippen ablecken oder mit dem Tuch abtupfen, 4 Zähne putzen, 4 die eintretenden Angehörigen mit »hallo« begrüßen. Die Patienten können dabei ein Ergebnis spüren, sehen und/oder hören und erhalten dadurch eine konkrete Rückmeldung, ob sie ihr Ziel erreicht haben. Dies kann zu einer Verbesserung des Verständnisses für das situative Geschehen, zum Abrufen von Erinnerungen und in der Folge hoffentlich zur erneuten, selbständigen Initiierung der Bewegung oder Handlung führen. Beispiel In der Untersuchungssituation öffnet ein Patient den Mund nicht bei verbaler Aufforderung. Eine störungsorientiert arbeitende Therapeutin befundet eine Kieferöffnungsstörung. Eine Therapeutin, die nach F.O.T.T. arbeitet, wird versuchen, herauszufinden, warum der Patient den Mund nicht öffnet. Lautet ihre Hypothese, dass Störungen im Sprach- und Situationsverständnis vorliegen, wird sie die Befundung an den Waschtisch verlegen und gibt dem Patienten eine Zahnbürste in die Hand. Er beginnt vielleicht die Zahnbürste zum Mund zu führen, den er dabei etwas öffnet. Die Armbewegung versiegt. Er schafft es nicht, die Zahnbürste an die Zähne zu führen. Die Therapeutin stellt jetzt die Hypothese auf, dass er die Situation erkennt, aber taktil-propriozeptive 6
Hilfe bei der Durchführung braucht. Die beobachteten situativen Fähig- und Fertigkeiten können dann in der Therapie aufgegriffen und mit entsprechenden Hilfen unterstützt werden. Hypothese: Unterstützung des Alignments (der Körperausrichtung) und Führen des Arms zum Mund, ausgebaut und variiert werden. Die Durchführung wird zeigen, ob die Interpretation der Therapeutin, ihre Hypothese richtig war und sich die Handlungskompetenz verbessert.
Die Kenntnis der Arbeitsweise des gesamten fazio-oralen Funktionskomplexes und der dabei ablaufenden ganzkörperlichen Haltungs- und Bewegungsvorgänge eröffnet mannigfaltige Möglichkeiten in der Befundung und Therapie – nicht nur für schwer betroffene Patienten. Der Patient wird zu Beginn in eine seiner Problematik entsprechende Ausgangsposition gebracht, in der er die Möglichkeiten hat, annähernd normale Bewegungen zu spüren und auszuführen (7 Kap. 8). Dieses Vorgehen ist in . Übersicht 1.4 schematisiert. . Übersicht 1.4. Lösungsorientiertes Vorgehen 4 Herstellen einer dem Patienten und der Situation angepassten Ausgangsstellung 4 Individuelle, alltagsnahe und problemorientierte Befunderhebung 4 Aufstellen von Arbeitshypothesen mit Behandlungsplanung, Planung einer ersten Aufgabenstellung 4 Durchführung der Aufgabe 4 Evaluieren der soeben abgelaufenen Sequenz 4 Analysieren, wieviel therapeutische Hilfe welcher Art dabei benötigt wurde 4 Analysieren und ggf. Behandeln von Körperstrukturen, die Funktionen und Aktivitäten einschränken 4 Wiederholen und Variieren der Aufgaben, Senken oder Erhöhen des Schweregrades 4 Evaluieren der soeben abgelaufenen Sequenz, ggf. weiterbehandeln oder 4 Durchführen einer ähnlich gearteten oder neuen Aufgabe in einer anderen Ausgangsposition 4 Evaluieren und ggf. neue Ziele setzen
Ob die gewählte Hypothese, die gewählte Aufgabe und/ oder die eingesetzten Therapiemaßnahmen richtig sind, zeigt sich daran, ob das funktionelle Ziel zur Lösung der Aufgabe – ansatzweise – erreicht wurde. Es bedarf dabei der ständigen Evaluation der motorischen Antworten und ihrer Interpretation durch die Therapeutin. Dieses Vorgehen wird heute als Clinical Reasoning bezeichnet (Klemme u. Siegmann 2006). Denk- und Entscheidungsprozesse des klinischen Handelns werden bewusst gemacht, um tragfä-
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15 1.4 · Das Vorgehen in der F.O.T.T.
hige Hypothesen in der Therapie zu bilden. Algorithmen, Behandlungspfade sind geeignet, den Therapeuten und das Team durch diese Prozesse zu lotsen (7 Kap. 12 und 13).
1.4.2
Die Bereiche der F.O.T.T.
Die fazio-oralen Funktionen arbeiten permanent koordiniert zusammen: 4 Wir atmen beim Kauen, unsere Atmung pausiert oder wird unterbrochen beim Schlucken, und erst danach atmen wir weiter. 4 Wir schlucken den Speichel meist nach Husten oder Gähnen, beim Zähneputzen nach dem Ausspucken von Wasser und in günstigen Momenten einer längeren Sprechphase. 4 Wir sprechen sogar während der Bolusformung in der oralen Phase der Schlucksequenz. 4 Unser Gesichtsausdruck und die mimischen Ausdrucksmöglichkeiten wechseln ständig und beleben unsere verbale Kommunikation. Der folgende Abschnitt soll in die konzeptionelle Sichtund Vorgehensweise der großen F.O.T.T.-Bereiche einführen: 4 Nahrungsaufnahme, 4 Mundhygiene, 4 Nonverbale Kommunikation, 4 Atmung-Stimme-Sprechen. Diese Aufteilung hat didaktische Gründe. Das folgende Beispiel zeigt, wie die verschiedenen F.O.T.T.-Bereiche ineinandergreifen und kein Bereich unabhängig vom anderen therapiert werden kann. Beispiel Nicht selten ist bei Patienten, die das erste Mal Stimme geben oder zum Sprechen ansetzen wollen, zuerst ein Schluckvorgang zu beobachten: Bei der Initiierung einer Sprechbewegung werden durch die Ausatemluft die in der Mundhöhle und/oder im Rachenraum befindlichen Speichelresiduen bewegt und dadurch gespürt. Dies führt dann zum (ggf. therapeutisch unterstützten) Abtransport des Speichels und Schlucken, und erst anschließend wird erneut zum Sprechen angesetzt.
Im deutschsprachigen Raum wurde in den letzten 20 Jahren besonders der F.O.T.T.-Bereich Nahrungsaufnahme bekannt, da dieser auch Therapiemöglichkeiten bei Patienten mit komplexen neurogenen Störungen eröffnet. Für diese schwer betroffenen Patienten hat sich auf der Basis dieser vier Bereiche auch ein spezielles TrachealkanülenManagement entwickelt (7 Kap. 9 und 10).
F.O.T.T.-Bereich: Nahrungsaufnahme Wenn Menschen zusammentreffen, miteinander kommunizieren, verbinden sie das oft mit einem gemeinsamen Essen. Dies ist eine Möglichkeit, ihre Anerkennung, Fürsorge, Zuneigung und Gastfreundschaft zu zeigen. Essen und Trinken sind wichtiger Bestandteil der menschlichen Kultur und eine Form der menschlichen Kommunikation, von der Geburt (Tauffeiern) bis zum Tode (Leichenschmaus). Diese Tatsachen prägen auch die F.O.T.T.Sicht und Vorgehensweise beim Thema Schlucken, und so wird in 7 Kap. 5 treffend formuliert:
» Nahrungsaufnahme dient neben der Ernährung und dem Genuss, der alltäglichen Begegnung mit unseren Mitmenschen und folglich der Nährung sozialer Kontakte. (Müller, 7 Kap. 5)
«
jSchlucksequenz nach Coombes
Wir produzieren Speichel beim Anblick und Geruch von Speisen und schlucken ihn. Bekommen wir eine Tasse Kaffee ans Bett gereicht, verändern wir automatisch unsere Position, um ihn sicher zu schlucken. Wir führen Nahrung zum Mund und öffnen dabei angepasst unseren Kiefer … Weil wir Aufgaben lösen und Ziele erreichen wollen, lernen wir im Laufe der Entwicklung den Schluck- und Sprechtrakt differenziert zu nutzen. Diese Bewegungsabläufe und Handlungen differenzieren sich im Laufe der ersten Lebensjahre aus, z.B. für die Nahrungsaufnahme: Vom frühkindlichen Schluckmuster des Neugeborenen, dem reflektorischen Ansaugen flüssiger Nahrung, bis zum perfektionierten Verarbeiten fester Konsistenzen, dem koordinierten Kauen mit seinen rotatorischen Komponenten. Zunehmend laufen sie automatisiert und unbewusst ab. Erst bei Auftreten einer außergewöhnlichen Situation (z.B. bei besonders feste Nahrung, Verschlucken oder Verschütten von Flüssigkeit) bedürfen diese Vorgänge einer besonderen Aufmerksamkeit, die ihnen dann auch sofort zuteil werden. In der F.O.T.T. betrachten wir nicht nur den Schluckakt, sondern auch den Handlungsablauf vor dem Mundöffnen, da er den weiteren Verlauf beeinflussen kann. Die prä-orale Phase, deren Bedeutung und Einfluss auf den Schluckvorgang mittlerweile anerkannt ist, wird bisher nur von Coombes im Rahmen der Schlucksequenz als eigenständige Phase beschrieben und in Untersuchung und Therapie miteinbezogen (7 Kap. 5). Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal des Konzepts ist, dass wir in der F.O.T.T. unsere Aufmerksamkeit auch darauf lenken, was nach dem Schlucken passiert.
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Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen
> Beachte Die Schlucksequenz (Coombes 1996) besteht aus vier Phasen: 1. Prä-orale Phase 2. Orale Phase 5 Bolusformung 5 Bolustransport 3. Pharyngeale Phase 4. Ösophageale Phase
Bei einer normalen, physiologischen Schlucksequenz lassen sich differenziert abgestimmte Bewegungsabläufe und -muster erkennen, die sich zusammensetzen aus 4 willkürlichen und automatisierten Bewegungen (wie angepasstes Mundöffnen, Kauen), 4 automatischen Bewegungen (das eigentliche Schlucken, die Schluckreaktion in der pharyngealen Phase) und 4 Kontroll- und Schutzmechanismen. Schutzreaktionen kommen besonders dann zum Tragen,
wenn der Schluckvorgang nicht erfolgreich verlaufen ist. Unter der Lupe Reflex vs. Reaktion Im (Kinder-)Bobath-Konzept (NDT, Neuro-Developmental Treatment) wird schon seit Jahrzehnten anstelle von Schluckreflex von der Schluckreaktion gesprochen, da die motorische Antwort im Bewegungs- und Zeitausmaß unterschiedlich ausfällt, ob wir Wasser trinken oder ein Stück Brot hinunterschlucken. Auch Würgen verläuft in seiner motorischen Antwort je nach zu regurgierender Konsistenz und Menge unterschiedlich. Deshalb sprechen wir auch von einer Würgreaktion statt eines Würgreflexes. Duysens et al. (1990) kamen ebenfalls zu dem Schluss, dass sich der reflektorische/automatische Anteil des Schluckvorgangs durch die Entwicklung des Schluckmusters und Adaptation an verschiedene Konsistenzen und Bolusarten verändert und seine neural gesteuerten motorischen Antworten im Laufe der Entwicklung differenzierter ausfallen. Eine Experten-Arbeitsgruppe der US-amerikanischen Sprachtherapeuten-Vereinigung ASHA hat sich jüngst in einer Grundsatzarbeit ebenfalls der Bobath-Terminologie angeschlossen und propagiert nun ebenfalls den Terminus Schluckreaktion (Robbins et al. 2008).
jKontroll- und Schutzmechanismen kAtem-Schluck-Koordination
Während des Schluckens ist die Atmung unterbrochen. Atmung und Schlucken verhalten sich reziprok. Nach dem Schlucken wird i.d.R. reflektorisch kurz ausgeatmet, um verbliebende Reste zu spüren und ggf. zu räuspern, husten und/oder wieder zu schlucken.
kReinigen der »Schluckstraße«
Die Zunge kontrolliert und sammelt Reste in der Mundhöhle ein, die wir nachschlucken. Durch wiederholtes Schlucken wird auch der Rachen von Resten (Residuen) gereinigt. kRäuspern
Räuspern transportiert Material aus dem Hypopharynx hoch (eine abgeschwächte Form des Hustens), oft gefolgt von Schlucken. kHusten
Husten transportiert Nahrung, die in den Kehlkopf penetriert oder gar unterhalb der Stimmbänder aspiriert wird, wieder hoch. Husten ist aber nur dann effektiv, weil (oder wenn) wir das Hochgehustete danach schlucken oder ausspucken. kWürgen/Erbrechen
Würgen befördert bei Gefahr den Bolus reflektorisch aus dem Rachen in die Mundhöhle und kann Erbrechen einleiten. kNiesen
Niesen befördert in den Nasen-Rachen-Raum eindringendes Material aus der Nase. > Beachte Willkürliches Husten, also bewusst ausgeführtes Husten, z.B. nach Aufforderung, tritt im Alltag äußerst selten auf. Es ist nicht gleichzusetzen mit einem unwillkürlichen, reflektorischen Husten als Antwort auf einen irritierenden, gefährdenden Reiz im Rachen oder in den Atemwegen, das anschließend meist ein reinigendes Schlucken nach sich zieht. Auch die Bewertung des Fehlens einer Würgreaktion bei klinischer Testung ist fragwürdig. Bei einem nicht unbeträchtlichen Teil gesunder Menschen (10% der Frauen, 40% der Männer) lässt sich in der Untersuchungssituation keine Würgreaktion auslösen (Logemann 1998). Die Effizienz und Effektivität der Schutzmechanismen Niesen, Husten und Würgen können in einer künstlichen Situation nur schwer überprüft werden. Sie erweisen sich in letzter Konsequenz oft nur im Alltag – im Ernstfall!
Viele der schluckgestörten Patienten haben Beeinträchtigungen im gesamten Vorgang der Nahrungsaufnahme, die »als komplexer Teil einer ganzkörperlichen Problematik zu sehen sind« (Gratz u. Woite 2004), und die den Schluckvorgang unsicher machen können (7 Kap. 5.4.1). in der F.O.T.T. werden daher nicht nur die Störungen des Schluckakts (= Boluspassage vom Mund in den Magen),
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17 1.4 · Das Vorgehen in der F.O.T.T.
sondern die Störungen der Nahrungsaufnahme, der gesamten Sequenz analysiert und therapiert (NusserMüller-Busch 1997, 2001). Ziel der F.O.T.T. ist nicht nur, dass der Patient angereichtes Essen wieder verarbeiten und schlucken kann, sondern auch, dass er es wieder selbständig und sicher aufnehmen kann, d.h., dass wir auch daran arbeiten, die Alltagsaktivitäten Essen und Trinken zu ermöglichen. Soweit es sicher und vertretbar ist, werden auch Ziele auf der Partizipationsebene angestrebt, z.B. das Essen am Stehbüffet oder im Schneidersitz auf einer Picknickdecke beim Grillen mit Freunden. Dazu gehört auch, daran zu arbeiten, den Patienten körperlich wieder in die Lage zu versetzen, Schutzreaktionen, das Ausspucken von Nahrung und Aushusten, wieder durchführen zu können. > Beachte Besondere Aufmerksamkeit wird im F.O.T.T.-Bereich Nahrungsaufnahme auf die Normalisierung von Haltung und Muskelspannung im gesamten Körper und das Erreichen der Haltungskontrolle gelegt, um im weiteren Verlauf die physiologischen Bewegungsabläufe in den Phasen der Schlucksequenz und die Schutzreaktionen zu bahnen und zu unterstützen.
F.O.T.T.-Bereich: Mundhygiene Wir nehmen die Fähigkeit des Aufspürens von Essensresten in den Zahnzwischenräumen und die motorischen Aktivitäten unserer Zunge beim Entfernen – oder ersatzweise das Hantieren mit Zahnstochern und allerlei diffizilen Gerätschaften – als selbstverständlich hin. Aber auch uns Gesunden kann es passieren, dass wir beim morgendlichen »verschlafenen« Zähneputzen würgen müssen. Das Auslösen der körpereigenen Schutzreaktion – hier eine Überreaktion – zeigt, dass unser sensorisches intraorales System für unvorhergesehene Inputs u.U. noch nicht wach genug ist. Wir gehen in der Folge also vorsichtiger und zarter ans Werk, damit unsere Mundhöhle noch ein bisschen Zeit zum Aufwachen hat. Im Laufe des Tages wird dieses Problem nicht mehr auftreten: Wir sprechen, schlucken unseren Speichel, essen, trinken, und geben uns dadurch ständig taktilen Input im oralen Trakt, so wie wir das den ganzen Tag über unbewusst auch mit unseren Händen im Gesicht tun. Das Säubern der Mundhöhle und der Zähne von Essensresten hat bei den Patienten einen hohen und sicherheitsrelevanten Stellenwert. Die strukturiert durchgeführte Mundsäuberung soll die noch fehlenden oder eingeschränkten Möglichkeiten von Schluck-, Reinigungsund Sprechbewegungen des Patienten ersetzen und ihn anleiten, die Mundhygiene später wieder allein ausführen zu können. Diese Berührungen und Manipulationen sind nicht zufällig oder gar »überfallartig«, sondern die taktilen
Informationen werden klar, eindeutig und strukturiert gesetzt. Für den Patienten sind das Möglichkeiten, im Laufe des Tages Erfahrungen im Mundbereich zu machen (7 Kap. 6). > Beachte F.O.T.T.-Bereich Mundhygiene:
» Medium zur Problemanalyse am Patienten, zur Anbahnung physiologischer Bewegungsabläufe und der Vermeidung von Sekundärproblemen. (Elferich u. Jakobsen, 7 Kap. 6)
«
Ziel ist es auch, die Koordination fazio-oraler Abläufe, wie intermittierendes Atmen und Speichelschlucken während des Zähneputzens, Ausspucken von Wasser, zu erarbeiten.
Die Herangehensweise, Methoden und Techniken dieses F.O.T.T.-Bereichs eignen sich auch für pflegebedürftige, demente und palliativ betreute Patienten (Penner et al. 2010).
F.O.T.T.-Bereich: Nonverbale Kommunikation Körpersprache und Mimik verraten viel über uns Menschen. Unsere auf dieser Ebene gezeigten Gefühle wie Zuneigung, Ängste, Akzeptanz oder Ablehnung werden vom Empfänger schneller wahrgenommen als verbal Geäußertes. Jeder, der schon mal das Phänomen »Liebe auf den ersten Blick« erleben konnte, weiß, wovon die Rede ist. Vom Säuglingsalter an lernen wir mimisch zu reagieren und im Laufe der Kindheit unsere Gefühle auszudrücken. Eltern erkennen den gleich einsetzenden Wutanfall ihrer Kleinkinder noch bevor ein Laut ausgestoßen ist. Wir lernen auch, Nonverbales zu interpretieren und wissen um die Bedeutung des differenzierten Spiels der Gesichtsmuskeln von Menschen, die wir gut kennen. Beispiel 4 Wir erkennen und nehmen wahr, ob der Chef langsam nervös wird, weil wir uns nicht kurz genug fassen oder ihm das Thema unangenehm ist. 4 Wir wenden uns einem lächelnden Mitmenschen (aber auch einem lächelnden Patienten?) eher und öfter zu als einem, dessen Gesichtsausdruck wir als missmutig, ernst oder abweisend interpretieren.
In unserem Kulturkreis lernen wir, dass wir unsere Gesprächspartner beim Sprechen interessiert – oder zumindest nicht gelangweilt – anzusehen haben. In anderen Kulturen ist es verpönt, Blickkontakt mit dem Lehrer aufzunehmen. Viele unserer Patienten haben Sensibilitäts- und Bewegungsstörungen im Gesicht und Mundbereich. Ein differenziertes Mienenspiel ist nicht mehr möglich:
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Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen
4 Der Gesichtsausdruck ist oft starr und wirkt dadurch abweisend. 4 Die Bewegungen sind verlangsamt und oft nicht sehr differenziert. 4 Massenbewegungen – beim Versuch, sich zu bewegen – vereiteln jedwede selektive emotionale Gesichtsbewegung. 4 Die Asymmetrie der Gesichtszüge durch eine Fazialisparese verstärkt sich oft bei Aktion. 4 Fehlende Sensibilität im Mundraum beeinträchtigt das Spüren und Wahrnehmen des Speichels. Der Mund steht offen, es kommt zu permanentem Speichelfluss, oder 7 protruhierende Zungenbewegungen befördern dann den Speichel aus dem Mund heraus, statt ihn in den Rachen zu transportieren. Die sozialen Folgen sind bekannt. Aber auch bei körperlich anstrengenden Aktivitäten, wie erste Gehversuche oder die Zahnbürste zum Mund führen, sind oft Mitbewegungen und Reaktionen im Gesicht und Speichelfluss als Zeichen der Anstrengung und fehlender selektiver Bewegungsmöglichkeiten wahrzunehmen. Mimische Bewegungen erfolgen nicht losgelöst vom Körper. Auch ihre Beeinträchtigungen sind daher nicht isoliert zu sehen oder isoliert zu behandeln. Oft sind sie Teil eines komplexen Musters, das aus eigenen Impulsen nicht aufgelöst werden kann. i Praxistipp Therapeutische Bemühungen, die Stirn eines Patienten zu bewegen, der konstant die Augenbrauen mithochzieht, werden u.U. scheitern, wenn man sich nur auf die Stirn konzentriert und den »erstaunten Gesichtausdruck« nicht als Teil und Folge eines ganzkörperlichen Musters in Erwägung zieht. Es gilt, den Blick von der Stirn zu lösen, um u.U. die weit geöffneten Augen, den offenen, zurückgezogenen Kiefer, den »kurzen Nacken«, den hypotonen, flektierten Rumpf, das nach hinten fixierte Becken als abnormes gesamtkörperliches Muster wahrzunehmen und zu verändern, um selektive Gesichtsbewegungen zu ermöglichen.
Bei der Arbeit an Gesichtsbewegungen kann es sein, dass die sitzende Ausgangsstellung u.U. nicht hilfreich ist, da sie das oben beschriebene Körpermuster provozieren oder unterhalten kann. Sitzen fordert dem Patienten viel posturale Kontrolle (Haltungstonus) ab, entsprechend weniger (»Rest-)Kapazität« steht dann für die selektiven Bewegungsausführungen im Gesicht zur Verfügung. Erst Veränderungen der Haltung, wie Becken- und Rumpfaufrichtung, oder die Wahl einer für den Patienten geeigneteren Behandlungsposition, z.B. im angelehn-
ten Halbsitz oder in Seitlage, die eine Veränderung der Kopfposition, der Nacken-, Kopf- und Gesichtsmuskulatur nach sich ziehen, können zeigen, ob die hochgezogene Stirn Teil eines kompensatorischen Gesamtmusters ist. Detaillierte Informationen finden sich in 7 Kap. 4, 7 und 8. i Praxistipp Bei vielen Patienten ist eine stärker unterstützte Ausgangsstellung wie z.B. Seitenlage von Vorteil, da das Gewicht von Kopf und Rumpf auf eine Unterstützungsfläche abgegeben werden kann. Die kompensatorische Haltearbeit (ggf. sogar Fixierung) des Kopfes oder Rumpfes kann dann entfallen. Die Aufmerksamkeit und die vorhandenen Kapazitäten können wieder auf das Spüren und Ausführen von Gesichtsbewegungen gerichtet werden. Bei einigen Patienten bietet sich als Ausgangsstellung (unterstütztes) Stehen an. Die Aufrichtung kann eine physiologischere Stellung des Nacken und Kopfes (»langer Nacken«) ermöglichen.
F.O.T.T.-Bereich: Atmung-Stimme-Sprechen Die erste Aktivität eines gesunden neuen Erdenbürgers ist eine Atemaktivität, entweder ein Einatmen oder ein Ausatmen, gefolgt von Schreien (Alavi Kia u. Schulze-Schindler 1998). Die Entwicklung der Atemmuster, die darauf aufbauende Ausbildung der individuellen Stimme, aber auch die Fähigkeit der Bildung von Konsonanten gehen einher mit verschiedenen Beuge- (Flexions-) und Streck(7 Extensions-)phasen in der motorischen Entwicklung eines Kindes. Die weitere Automatisierung von Bewegungsabläufen verfeinert im Laufe der Jahre unsere Artikulation. Gleichzeitig ergreifen wir mit den Händen Gegenstände, be-greifen so ihre Namen, und beginnen, die Sprache implizit zu erlernen. Dass wir mit der uns eigenen Sprechstimmlage, moduliert, atemrhythmisch angepasst und mit präziser Artikulation verständlich sprechen können, basiert auf dem soliden Fundament einer physiologischen Haltung und Atmung – unterbrochen von gelegentlichem Schlucken. Wie entscheidend dieses Fundament ist, wird erst klar, wenn es nicht mehr tragfähig ist. Bei zentralen Hirnschädigungen treten 7 Dysphagien und 7 Dysarthrophonien, d.h. zentrale Störungen von Atmung, Stimme, Sprechen und deren Koordination einzeln oder gemeinsam auf. Die Patienten haben Probleme, Bewegungsabläufe koordiniert auszuführen. Das Durchführen selektiver Bewegungskomponenten und das Überführen dieser zu Bewegungssynergien sind aufgrund der gestörten, veränderten neuromuskulären Aktivität, oft auch aufgrund gestörter Bewegungsmuster, z.B. Ataxien, nicht oder nur verzerrt und eingeschränkt möglich.
19 1.4 · Das Vorgehen in der F.O.T.T.
Der F.O.T.T.-Behandlungsbereich umfasst die Arbeit an 4 4 4 4
Atmung, Stimmgebung, Sprechen und intermittierend notwendigem Schlucken.
Durch Einflussnahme auf die Haltung und Regulierung der Körperspannung werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die an der Atmung beteiligte Muskulatur, die Artikulationsorgane etc. effizienter arbeiten können. Initial muss oft erst an der Koordination von Atmung und Schlucken gearbeitet werden, bevor Laute wieder gebahnt werden können (7 Kap. 8). Auch hier wird im Alltagskontext mit externem Aufmerksamkeitsfokus (Wulf 2009) gearbeitet. > Beachte Auch während des Sprechens müssen wir – gelegentlich – schlucken!
Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T. Die Hilfe durch die Trachealkanüle bei der Beatmung oder/und bei schluckgestörten und aspirationsgefährdeten Patienten – zu Beginn ein »Segen« – kann aus vielerlei Gründen zum »Fluch« werden. Zu den negativen Auswirkungen der Trachealkanülen zählen 4 mechanische Einschränkungen des Schluckvorgangs, 4 beobachtbare Reduzierungen der Schluckfrequenz, 4 Einschränkungen der Kommunikation und 4 sich erst später manifestierende Komplikationen wie Trachealstenosen. In . Übersicht 1.5 sind Hinweise zusammengefasst, die beim Umgang mit Trachealkanülen zu beachten sind.
. Übersicht 1.5. Hinweise für die Arbeit mit Trachealkanülen 4 Die Überwachungsparameter beim Monitoring (z.B. Sauerstoffsättigung im Blut) sollten beurteilt werden können. 4 Für ein Dekanülement sind die funktionellen Voraussetzungen und Kriterien zu kennen. 4 Das therapeutische Vorgehen bei der Entwöhnung von der Trachealkanüle (inkl. Absaugtechniken und Wechsel der Trachealkanülen) in Kombination mit dem therapeutischen Know-how der Schluck- und Stimmanbahnung ist zu beherrschen. 4 Die Beurteilung der Atmung, als ein Kriterium bei der Dekanülierung, ist nicht zu vernachlässigen.
Das Wissen über Trachealkanülen und Wege zur Dekanülierung verbreitet sich zunehmend. Im therapeutischen Umgang mit diesen Patienten bedarf es u.a. der Beurteilung des Schutzes der unteren Atemwege, seiner körpereigenen Kontroll- und Abwehrmöglichkeiten auf der Basis einer effizienten Haltung. Die 7 Kap. 9 und 10 zeigen die Beeinträchtigungen der physiologischen Abläufe und Kriterien auf dem Weg zurück zur Physiologie auf. Ein qualifiziertes Trachealkanülen-Management bei neurologischen Patienten ist dringend erforderlich. Es kann Rehabilitationszeit verkürzen, Kosten senken und die Lebensqualität der betroffenen Patienten verbessern helfen. ! Vorsicht Trachealkanülen-Management ist nicht so zu verstehen, dass allein das Entblocken und die Änderung der Luftstromlenkung zur Verbesserung des Schluckens führt (vgl. Heidler 2007). Der Patient darf nicht ungeschützt einer Aspiration ausgesetzt werden! Therapeutisches 7 Elizitieren und 7 Fazilitieren der Schluckreaktionen und reinigender Prozeduren im laryngo-pharyngealen Trakt (Hochräuspern, Hochhusten, Nachschlucken) sind notwendiger Teil dieser Arbeit.
1.4.3
Aufgabenstellungen in den verschiedenen Krankheitsphasen
» Den Patienten da abholen, wo er steht! « (Anonymus) Die Erst- und Notfallversorgung nach einem lebensbedrohlichen Ereignis hat sich in den letzten Jahren entscheidend verbessert. Heute überleben immer mehr Menschen schwere und schwerste Verletzungen, Poly- und Schädelhirntraumen etc. Die Menschen in den reichen Ländern werden aufgrund des sozialen und medizinischen Fortschritts immer älter. Es entstehen neue Probleme, Aufgaben und Herausforderungen für die Medizin und Therapie. Die prämorbiden Voraussetzungen und die Funktionseinschränkungen bei Patienten mit erworbenen Hirnschädigungen sind sehr unterschiedlich, so dass kein einheitliches, für alle Patienten gültiges therapeutisches Prozedere festgelegt werden kann.
Intensiv- und Akutphase Dank des engmaschigen Versorgungsnetzes werden viele Patienten in unseren Breitengraden heute am Auffindungsort oral intubiert und kommen kontrolliert beatmet per Notarztwagen – bodengebunden – oder per Rettungshubschrauber – luftgestützt – auf eine Intensivstation oder eine Stroke Unit (Station zur Akutversorgung von Schlag-
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Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen
anfällen). Muss die Beatmung längere Zeit fortgesetzt werden, ist eine 7 Tracheotomie (Luftröhreneröffnung) und die Beatmung mittels einer 7 Trachealkanüle, die in die Öffnung eingeführt wird, längerfristig ebenso erforderlich wie eine künstliche Ernährung. > Beachte Intensivmedizinische Maßnahmen, wie Sedierung und Langzeitbeatmung, beeinflussen: 4 Vigilanz (Wachheit), 4 Schluckfähigkeit, 4 Schutzreaktionen, 4 Nahrungsaufnahme und 4 Kommunikationsmöglichkeiten.
Die Anlage eines Tracheostomas, eine Trachealkanüle und die Ernährung über Sonde erschweren den Fortgang der Rehabilitation und führen nicht selten zu sekundären Komplikationen. Das sich anschließende Weaning (Abtrainieren von der künstlichen Beatmung), die Umstellung auf eine Atmung mit Trachealkanüle, gestalten sich je nach Ausmaß der Schädigung und Allgemeinzustand unterschiedlich (7 Kap. 9 und 10). ! Vorsicht Wer seinen Speichel nicht schlucken kann, wer keine Schutz- und Abwehrmechanismen hat oder sie nicht einsetzen kann, ist ohne medizinische Hilfe nicht lebensfähig! Patienten in der Intensiv- oder Akutphase können oft nicht oder nur sehr reduziert ihren Speichel schlucken. Wird dieser Faktor nicht beachtet, kann das nach Extubation dazu führen, dass die Lunge des Patienten innerhalb kurzer Zeit mit Speichel vollläuft. Re-Intubation bzw. Rekanülierung und andere Intensivmaßnahmen entscheiden dann über Leben und Tod! Die Kriterien zum Schutz der unteren Atemwege sind zu beachten (. Abb. 9.9).
Aufgrund des reduzierten Allgemeinzustandes und der oft multiplen medizinischen Probleme der Intensiv- und Akutpatienten ist zu diesem frühen Zeitpunkt das Schlucken von Nahrung oft noch gar nicht indiziert, obwohl diese Fragestellung immer wieder an die Therapeuten herangetragen wird. Die Nöte der Patienten sind zu diesem Zeitpunkt meist andere: Die fehlenden oder eingeschränkten Möglichkeiten des Patienten zur physiologischen Selbststimulation können 4 zu sensorischer Deprivation im fazio-oralen Trakt führen, 4 zum Versiegen der Bewegungsinitiierung und 4 primär wie sekundär Überreaktionen im Gesicht wie hypertonen Kieferschluss, Beißreaktionen etc. auslösen oder verstärken.
jFrühzeitiger Therapiebeginn
» Die Therapeutin wird zur wichtigsten Quelle externer Information. « (Mulder u. Hochstenbach 2002) In der Intensiv- oder Akutphase oder bei einem schwer betroffenen (auch komatösen) Patienten beginnt die F.O.T.T. mit der Vermittlung physiologischer Bewegungserfahrungen. Die Therapeutin kann dem Patienten helfen, seinen derzeitigen Alltag zu erfahren, z.B. 4 ihn in einer stabilen Umwelt in verschiedene Positionen bringen, 4 mit ihm gemeinsam seine Hände zusammenführen, um sie einzucremen, 4 die Hände zum Gesicht bringen für ein erstes Aufstützen des Kopfes auf den Händen, 4 die Atmung begleiten und lenken, 4 Husten und Schlucken unterstützen, wann immer erste Anzeichen dafür zu sehen sind. Die Mundhygiene kann als therapeutische Sequenz gestaltet werden, um Hyperreagibilität vorzubeugen und den Mund sauber und gesund zu erhalten. Schwerpunkte der Therapie in der Intensiv-/Akutphase sind in . Übersicht 1.6 aufgeführt. . Übersicht 1.6. Therapie in der Intensiv-/ Akutphase 4 Wir lernen, indem wir uns bewegen oder bewegt werden. Wenn wir selbst dazu nicht in der Lage sind, sollten so früh wie möglich von außen gesetzte Reize und Stimuli und geführte Bewegungen die fehlende Eigenaktivität und Selbststimulation ersetzen. 4 Regelmäßige Veränderungen der Positionen und Bewegen sind Teil der F.O.T.T.-Behandlung und helfen dem Patienten, sich immer wieder – anders – zu spüren und sich zu bewegen. Sie dienen darüber hinaus der Prophylaxe zur Vermeidung von Komplikationen. 4 Das therapeutische Vorgehen muss der Bewusstseinslage des Patienten angepasst werden. 4 In der Intensiv- oder Akutphase werden verstärkt taktile, propriozeptive Reize gesetzt. Die Hände der Therapeutin sind Sensor und Helfer. »Handson« spürt die Therapeutin die Möglichkeiten und die Nöte des Patienten und kann eingreifen, um Stabilität und Unterstützungsfläche anzubieten und anschließend selektive Bewegung zu fazilitieren. 4 Bei der F.O.T.T.-Mundstimulation werden taktile Reize im Mundraum gesetzt, die sich der vigilanz6
21 1.4 · Das Vorgehen in der F.O.T.T.
gestörte Patient derzeit weder mit seiner Zunge noch durch Sprech- oder Essbewegungen selbst geben kann. Damit soll einerseits sensorischer Deprivation vorgebeugt werden, andererseits können diese Inputs motorische Antworten der Zunge oder Schlucken auslösen und Bewegungen bahnen.
jTaktile Reize
Die therapeutischen Hilfen sind zu Beginn v.a. taktiler Art. Dies bringt den großen Vorteil, dass Patienten für die Therapie nicht wach sein und nicht unbedingt über Sprachverständnis zur Ausführung von Bewegungen verfügen müssen. Selbstverständlich wird mit dem Patienten kommuniziert. Er wird begrüßt, die kommende Aufgabe wird angekündigt, die (Bewegung) Aktivität durchgeführt und danach z.B. das Erlebte verbal kommentiert. Es gilt, nicht zu viele Reize zu setzen, z.B. nicht gleichzeitig zu sprechen und Bewegungen zu führen oder zu fazilitieren. Selbst wenn der Patient noch nicht aktiv mithelfen kann, gilt es, den Bewegungsablauf des Drehens auf die andere Seite für ihn nachvollziehbar zu machen. Timing ist das Zauberwort! Beispiel Der Patient liegt seit einer Stunde in Seitenlage links. Die Arbeit beginnt mit der Veränderung seiner Ausgangsposition. Er wird in ruhigem Tempo mit eindeutigen taktil-propriozeptiven Informationen auf die rechte Seite gelagert. Sind bei der Bewegung Ansätze einer Schluckinitiierung erkennbar, wird das Umlagern unterbrochen und ggf. eine Schluckhilfe angeboten. Mit der weiteren fazio-oralen Arbeit wird nach optimierter Positionierung in Seitenlage rechts fortgefahren. Der Patient darf ruhig spüren, dass ein T-Shirt schwer über den Kopf zu ziehen ist. Danach könnte die Therapeutin sagen: »Geschafft! Das ist ein enges T-Shirt.« Befund und Behandlung gehen wieder ineinander über, wenn die Therapeutin beobachtet, ob sich der schwer betroffene Patient lautlich oder mit Gesichtsbewegungen mitteilt, die als Zustimmung gedeutet werden könnten.
jMundstimulation
Da wir schlucken, weil wir den Speichel spüren – und nicht, weil eine Therapeutin neben uns steht und es uns sagt – wird an der Automatisierung des sensomotorischen Regelkreises gearbeitet. Das (Er)Spüren soll verbessert werden, um Reaktionen zu provozieren. Dazu wird u.a. die Mundstimulation (7 Kap. 6.3.3) durchgeführt, mit deren Hilfe der Patient seine Strukturen im Mund und den Speichel besser spüren kann. Dies löst oft – unwillkürlich
– eine motorische Reaktion, manchmal sogar ein Schlucken aus, ohne dass dies explizit per Aufforderung verlangt wurde. jVisuelle Hilfen
Neben den Händen kommen auch visuelle Hilfen der Therapeutin zum Einsatz, z.B. das Vormachen alltäglicher mimischer und Zungenbewegungen, die es dem Patienten leichter machen, Bewegungen zu übernehmen. Die Erfahrung zeigt, dass bei schwer betroffenen Patienten zum einen das Imitieren von Bewegungen eher zum Erfolg führt als das Umsetzen verbaler Aufforderungen (explizites Wissen), und zum anderen die Durchführung isolierter, abstrakter Bewegungen oft nicht möglich ist oder nur im Moment Wirkung zeigt. Heute weiß man auch, dass das Beobachten einer Aktion (vgl. Rizzolatti 2008), aber auch allein ihre mentale Vorstellung (Jeannerod 1997) Neurone aktiviert, die bei der Planung und Durchführung motorischer Leistungen helfen.
Rehabilitationsphase Die Verweildauer auf einer Intensivstation wird so kurz wie möglich gehalten. Viele Patienten werden mit Magensonden und Trachealkanülen auf periphere Stationen oder in Abteilungen für Frührehabilitation weiterverlegt. Eine liegende Magensonde und/oder eine geblockte Trachealkanüle behindern das Schlucken mechanisch. Es wird zu prüfen sein, ob es der Allgemeinzustand des Patienten schon zulässt, mit dem Trachealkanülen-Management zu beginnen und mit der physiologischen Lenkung des Ausatemstroms das Spüren im Rachen wieder zu ermöglichen und dadurch u.U. das Schlucken in seiner Frequenz zu erhöhen (Seidl et al. 2002) und in seiner Qualität zu verbessern (7 Kap. 9 und 10). > Beachte Nicht jede liegende Trachealkanüle ist Zeichen einer Schluckstörung! Trachealkanülen werden primär eingesetzt 4 als Hilfsmittel bei der Langzeitbeatmung, 4 zum Schutz des Larynx, 4 für die dabei notwendige Bronchialtoilette und 4 das Abtrainieren vom Beatmungsgerät.
Verbessert sich der Allgemeinzustand und die Bewusstseinslage eines Menschen, werden die eingangs initiierten basalen Reizsetzungen mehr und mehr durch die Fazilitierung (Bahnung, Erleichterung) aktiver und selektiver Funktionen abgelöst. Problem- und lösungsorientiert wird an der Verbesserung mimischer und schluckrelevanter Bewegungen, der Koordination von Atmung und Schlucken und der Stimm- und Sprechanbahnung gearbeitet. Eventuell kann schon passierte Kost angereicht werden. Der weitere zeitnahe Verlauf wird zeigen, ob die
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Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen
Magensonde entfernt werden kann, oder ob doch eine PEG-Sonde angelegt werden muss. Kann der Patient aktiv(er) am therapeutische Geschehen teilnehmen, können zunehmend »höhere« Ausgangsstellungen wie Sitzen, Stehen (Ausgangsstellungen für die Behandlung, 7 Kap. 8.7), in die Therapie integriert werden, um an der Verbesserung der Körperfunktionen, der dazu notwendigen Strukturen und der Alltagskompetenz zu arbeiten.
der Ernährung eingesetzt. Besonders in der finalen Phase können Handling, Atemunterstützung, Positionierungen und therapeutisch-strukturierte Maßnahmen (Mundstimulation, -befeuchtung und -hygiene) aus dem F.O.T.T.Konzept lindernd eingesetzt werden (Penner et al. 2010).
Spätphase
» Den Patienten da abholen, wo er steht – aber wo steht der, der abholt? « (Nusser-Müller-Busch)
Die manchmal lebenslang bestehenden Beeinträchtigungen (von Koordination, Atmung, Haltungs- und Bewegungskontrolle) nach erworbenen Hirnschädigungen bergen die Gefahr von Sekundär- und Langzeitschäden in sich, denen langfristig therapeutisch begegnet werden muss. Ist eine vollständige orale Ernährung bisher nicht möglich geworden, wird eine kombinierte Ernährungsform (oral und Sondennahrung via PEG) angestrebt. Eine tägliche orale Nahrungsgabe – auch kleinster, diätetisch modifizierter Mengen – hält die Bewegungsfähigkeit der schluckrelevanten Strukturen aufrecht und kann das Schleimhautmilieu im Schlucktrakt gesund erhalten (Therapeutisches Essen, 7 Kap. 5.5.2). jPatienten mit progredienten Erkrankungen
Bei progredient verlaufenden neurogenen Erkrankungen, z.B. Amyotrophe Lateralsklerose, Multiple Sklerose, Parkinsonerkrankung, müssen therapeutische Hilfestellungen und Hilfsmittel der jeweiligen Krankheitsphase angepasst werden. Eine Genesung des Patienten wird nicht erfolgen. Die Therapie soll noch vorhandenes Potenzial aktivieren, Symptome lindern, Fertigkeiten und Bewegungen erhalten. Sie erfolgt zu Beginn noch unter rehabilitativen, später oft mehr unter präventiven oder palliativen Gesichtspunkten. Ziel kann es sein, dem Patienten so lange wie möglich eine angemessene Kommunikation und/oder sicheres Essen und Trinken (ggf. diätetisch modifiziert oder in Kombination mit künstlicher Ernährung) zu ermöglichen und somit Lebensqualität zu erhalten (Bewertung sicherheitsrelevanter Faktoren, 7 Kap. 5.4.2). Frühzeitig müssen aber auch die verbleibenden Möglichkeiten oder Notwendigkeiten künstlicher Ernährungsformen und/oder alternativer Kommunikationshilfen aufgezeigt werden, damit rechtzeitig Zielvereinbarungen mit dem Patienten getroffen werden können, PEG-Anlagen noch bei ausreichendem Allgemeinzustand gelegt werden können und der Gebrauch von Kommunikationshilfen noch erprobt und automatisiert werden kann. jPalliativphase
In der Palliativphase werden, solange es noch möglich ist, adaptierende diätetische Modifikationen im Rahmen
Das interdisziplinäre 24-StundenKonzept
1.5
Ein 24-Stunden-Konzept ist nur auf der Basis einer gut funktionierenden Gemeinschaft (Patient, Angehörige und Team) zu verwirklichen, die verstanden hat, dass sie sich mit einem rund um die Uhr gestört arbeitendenden NS auseinandersetzen muss.
1.5.1
Der 24-Stunden-Tag
Das Vorgehen nach dem 24-Stunden-Konzept heißt nicht, dass die Patienten ständig Therapie haben. Es bedeutet, dass die vorab festgelegten Prinzipien und Vorgehensweisen bei den alltäglichen Verrichtungen zu jeder Tageszeit bei Untersuchungen, in der Therapie und bei der Durchführung von Pflegemaßnahmen und Besuchen beachtet und umgesetzt werden. Eine, aber auch drei Einzeltherapien pro Tag bringen den Patienten nicht weiter, wenn er in den Pausen stundenlang zusammengesunken im Rollstuhl sitzt oder den Rest des Tages in Rückenlage im Bett verbringen würde. Abgesehen von der Gefahr eines Dekubitus und einer übersteigerten Strecktendenz im Körper (z.B. Spitzfußgefahr), die die Rückenlage mit sich bringt, würde kein gesunder Mensch mehrere Stunden in derselben Position verbringen. > Beachte In der Therapie geht es darum, Grenzen zu verändern, Einschränkungen aufzuheben und Neues zu erarbeiten. Im täglichen Management sollen die erarbeiteten Bewegungen, die für diesen Patienten hilfreich sind, immer wieder abgerufen werden.
Alle Berufsgruppen können transdisziplinär helfen, das Schlucken von Speichel, das Husten (und das sich anschließende Schlucken) zu unterstützen. Jede Veränderung, jedes Positionieren, jedes Umlagern des Patienten und viele Pflegemaßnahmen und Alltagsverrichtungen (Wegziehen der Bettdecke, Mundhygiene, Mundabwischen, Fieber- und Blutdruck messen etc.) bieten dem Patienten Möglichkeiten, Erfahrungen zu machen und zu lernen. Es ist notwendig, dass bei allen Alltagsverrich-
23 1.5 · Das interdisziplinäre 24-Stunden-Konzept
tungen des 24-Stunden-Tages die festgelegten Hilfen immer wieder angewendet werden, z.B. die Art und Weise wie ausgetretener Speichel abgetupft wird). Dies gilt nicht nur für den Zeitraum der Schlucktherapie. Beispiel Wird in der Therapie die Transportbewegung der Zunge nach rückwärts erarbeitet, kann diese Bewegung im Alltag immer wieder fazilitiert werden, z.B. beim therapeutischen Essen anreichen durch die Pflegenden mittels Druck mit dem Löffel auf die Zunge.
Wenn kleinschrittig daran gearbeitet wird, dass der Patient Berührungen im Gesicht in unterschiedlichen Ausgangsstellungen und bei unterschiedlichen Tätigkeiten zulässt, ohne mit Zähneknirschen oder festem Kieferschluss zu reagieren, so muss dieses Vorgehen über den ganzen Tag beachtet werden. Ein Lernen und ein Transfer in den Alltag kann nur stattfinden, wenn die in der Therapie und im Pflegealltag wiedererworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten bei allen Verrichtungen und Tätigkeiten im Laufe des Tages erneut, aber in verschiedenen Situationen erfahrbar sind und angewendet werden. So können Regeln gebildet, so kann gelernt werden.
Hilfestellungen sollten durch alle Teammitglieder und angeleiteten Angehörige strukturiert und therapeutisch erfolgen können, wann immer sie erforderlich sind: 4 Im 24-Stunden-Konzept arbeiten die geschulten Mitarbeiter des interdisziplinären Teams an der Verbesserung der Spür- und Bewegungsinformation rund um die Uhr. 4 Schwer betroffene Patienten brauchen zu Beginn (und manchmal auch später) zwei Teammitglieder in CoTherapie zum Transferieren, Positionieren und Lagern oder für die Durchführung einer effizienten Therapie. Dies erfordert Teamarbeit, ausreichend Personal und viel Zeit!
! Vorsicht Pflegende und Therapeuten der Neurorehabilitation erleben oft Patienten, die einen übervollen täglichen Therapiemarathon absolvieren müssen. Die Notwendigkeit und Bedeutung von Pausen für die Patienten wurde schon von Berta Bobath gesehen und wird derzeit in der medizinischen Trainingstherapie untersucht. Pausen im Reha-Tag sind derzeit (leider) kein Forschungsthema in der Neurorehabilitation!
Die ASHA-Dysphagiegruppe konstatiert dazu, dass zeitintensives Training nicht gleichbedeutend heißt, effektiv zu sein (Robbins et al. 2008). Auch in der F.O.T.T.-Pilotstudie ergaben sich Hinweise darauf, dass sich die Kapazität in den Frühphasen erschöpfen kann. Ein Absinken der Schluckfrequenz nach einer 60-minütigen Therapie wurde beobachtet, die sich erst nach einer Erholungspause von 90 Minuten wieder normalisierte (7 Kap. 15.3.4). Hat der Patient anschließend aber gleich eine weitere Therapie, kann er u.U. keine Kräfte mehr aktivieren. > Beachte Ruhepausen in physiologischen Ausgangsstellungen sind dringend notwendig, sie dienen der körperlichen Erholung. Analog zu schwerer körperlicher Arbeit und zum kognitiven Lernen kann vermutet werden, dass das ZNS Pausen/Zeit braucht, un die erlebten Stimulationen und Eindrücke zu verarbeiten. Alltagshilfen, wie therapeutisch den Speichel abzutupfen und eine Hilfe zum Schlucken zu geben, sollten jedoch immer dann erfolgen, wenn es erforderlich ist (und ein Teammitglied zur Stelle ist), da die vitalen fazio-oralen Funktionen den ganzen Tag ablaufen.
Es bleibt abzuwarten, ob zukünftige wissenschaftliche Untersuchungen die Hypothese Pausen zur Verarbeitung bestätigen werden oder nicht.
jTherapieintensität – Therapiepausen
Derzeit sind in Deutschland in Komplexbehandlungen bis zu 300 Minuten Therapie und therapeutische Pflege/Tag bei Frühreha-Patienten nachzuweisen, um die Leistung abrechnen zu können. Diese 300 Minuten sind nicht evidenzbasiert! Die Datenlage, wie intensiv ein Training sein muss, um diese Veränderung zu erreichen, ist hierzu noch nicht aussagekräftig. Wir wissen nicht, ob wir den Patienten mit 300 Minuten Therapie und Pflege/Tag über- oder unterfordern. Dies wird individuell unterschiedlich sein.
1.5.2
Das interdisziplinäre Team
» Wir müssen den Patienten sehen, lesen und deuten! « (Daniela Jakobsen)
Das interdisziplinäre Team setzt sich aus allen Beteiligten zusammen, die sich im Rahmen eines Klinikaufenthalts oder in der häuslichen Betreuung und Langzeitpflege um das Wohl eines Patienten kümmern. Zum multiprofessionellen Team zählen Ärzte, Pflege, Therapeuten der Physiound Ergotherapie, Logopädie und alle im jeweiligen Team mitarbeitenden Berufsgruppen wie Neuropsychologen, Freizeit- und Musiktherapeuten etc. Die Pflege hat im
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Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen
Rahmen des stationären Aufenthalts des Patienten eine Schlüsselfunktion. Sie ist die Berufsgruppe, die den Patienten in seinem Tagesablauf kontinuierlich begleitet und die meisten Aktivitäten mit ihm durchführt. Jede Berufsgruppe kann von anderen Berufsgruppen lernen, und jede Berufsgruppe muss bereit sein, interdisziplinär und interprofessionell zu lernen: 4 Das heißt, Abstand zu nehmen von »berufsgruppenbedingten Neglecten«. 4 Das erfordert Bereitschaft zu Kommunikation und fachlichem Austausch, um sich auf ein einheitliches Vorgehen verständigen zu können. 4 Das erfordert, in gemeinsamen Schulungen, in Selbsterfahrungen die Situation des Patienten zu erleben, nachzuempfinden. > Beachte Das adäquate Handling im Umgang mit dem Patienten muss von ALLEN in der neurologischen Rehabilitation arbeitenden Berufsgruppen beherrscht werden. Von den anderen zu lernen, bietet die Möglichkeit, das eigene Wissen und seine eigenen therapeutischen Möglichkeiten zu erweitern!
Die Patienten profitieren davon, wenn das Team nach dem ICF-Modell arbeitet und die mit dem Patienten und/oder seinen Angehörigen gemeinsam festgelegten realistischen Ziele verfolgt. Das bedeutet, dass alle Berufsgruppen ihre Therapieinhalte auf die Unterstützung des aktuellen Ziels hin prüfen, im Team abstimmen und Kompetenzen klar geregelt werden. Ein Teammitglied sollte koordinierend für einen Patienten zuständig sein. Im häuslichen Bereich sind es meist die Angehörigen, die die koordinierende Schlüsselrolle innehaben.
1.5.3
Individuelle und multidisziplinäre therapeutische Kompetenz
» Feel the patient’s body function. « – Spürt die Körperfunktionen des Patienten. (Coombes 2002)
Um im konkreten Tun mit dem Patienten seine Probleme, die Abweichungen von der Norm wahrnehmen und beeinflussen zu können, sind neben theoretischem Wissen die Fähigkeiten aller Teammitglieder, zu sehen und zu beobachten, zu spüren und zu bewegen, zu hören, zu riechen, und alle ihre weiteren »siebten« Sinne gefragt. ! Vorsicht Kaum diskutiert wurde bisher die Frage, welche motorischen Fertigkeiten (Skills) ein Mitarbeiter eines Schluckteams, eines Neuro-Rehateams etc. haben muss, um effektiv arbeiten zu können!
Viele Berufsgruppen arbeiten an der Rehabilitation eines neurologischen Patienten mit, und jede Berufsgruppe verfügt über spezielles Wissen, hat ihre Sichtweise und Erfahrung im Umgang mit dem Patienten und den jeweiligen Störungsbildern: 4 Physiotherapeuten bringen ihr komplexes Wissen über normale Haltung, Bewegung, Atmung und den Umgang mit Störungen dieser Bereiche und spezifische Mobilisationstechniken ein. 4 Ergotherapeuten setzen dieses (und ihr Spezial-)Wissen in der Anleitung des Patienten zum Wiederbewältigen von Alltagsfunktionen und Aktivitäten des täglichen Lebens ein. 4 Pflegende lagern, transferieren, reichen Essen an und führen die Mundhygiene durch. Sie wissen um die aktuellen Vitalfunktionen, sind maßgeblich beteiligt an der Strukturierung des Tagesablaufs, sie haben Kontakt zu den Angehörigen. Kurz: Sie kennen den Patienten am besten, da sie viele Stunden am Tag mit ihm zusammen sind. 4 Sprachtherapeuten aus den Bereichen Logopädie, Sprachheilpädagogik und Linguistik bringen spezielle Kenntnisse im Umgang und in der Behandlung von Schluck-, Stimm-/Sprech- und Sprachstörungen ein. 4 Neuropsychologen bringen ihr Wissen über die höheren Hirnfunktionen ein.
Und trotzdem passiert es nicht selten, dass die »Spezialisten« im Laufe ihrer Arbeit in der neurologischen Rehabilitation immer deutlicher ihre »Defizite« und ihre Hilflosigkeit merken, mit den basalen Problemen des Patienten umzugehen. Das Arbeiten an den spezifischen Aufgaben gestaltet sich mitunter schwierig: 4 Das Erkennen einer asymmetrischen Kieferstellung und einer in den Rachen zurückgezogenen Zunge helfen einer Logopädin u.U. nicht weiter, wenn sie nicht in der Lage ist, das Problem ganzkörperlich zu sehen und z.B. dem Patienten aus seiner zusammengesunkenen Haltung »herauszuhelfen« und Rumpf-, Kopf- und Nackenmuskulatur zu mobilisieren! 4 Essen anreichen im Bett deckt zwar den Kalorienbedarf des Patienten, entspricht aber nicht dem Rehabilitationsziel, dem Patienten zu sicherer, selbständiger Nahrungsaufnahme zu verhelfen! 4 Das Durchführen neuropsychologischer Tests und Therapie in Rückenlage im Bett fördert weder das Situationsverständnis noch die Alltagskompetenz der Patienten!
25 1.6 · Nutzen und Kosten
! Vorsicht Die Teammitglieder müssen in der Lage sein (oder es erlernen), den Patienten gemeinsam mit anderen Teammitgliedern in eine geeignete Ausgangsstellung zu bringen oder diese zu korrigieren! Erst dann kann mit der therapeutischen Vorbereitung und ggf. dem Essen anreichen oder der Durchführung von Tests begonnen werden.
Teaminterne Fort- und Weiterbildungen sind dafür notwendig. In regelmäßigen Selbsterfahrungen können normale Bewegungen, die wir tagtäglich automatisiert ausführen, gespürt und bewusst nachvollzogen werden. Man lernt spürend, wie es dem Patienten in einer zusammengekauerten Stellung, bei erhöhtem Spannungszustand der Muskeln geht, ob und wie man dann noch in der Lage ist, zu sprechen oder mit nach hinten überstrecktem Kopf zu schlucken. Wer solche Situationen an sich selbst erlebt und die anschließenden wohltuenden Korrekturen und Erleichterungen durch eine sachgemäße Hilfestellung erfahren hat, wird wesentlich aufmerksamer die aktuellen Beeinträchtigungen der Patienten zu verändern suchen. Das bewusste Erspüren normaler Funktionen wie Kauen, Schlucken Atmen, das Erleben von Stabilität, die ein gut angesetzter Kieferkontrollgriff geben kann, und das Erleben von Sicherheit bei einem strukturiert durchgeführten Transfer vom Bett in den Stuhl, gibt den Teammitgliedern differenziertere Möglichkeiten an die Hand, die Patienten therapeutisch effizient zu unterstützen. > Beachte Theoretische Fortbildungen und praktische Selbsterfahrungs-Workshops im interdisziplinären Team erweitern die therapeutische Kompetenz. Das Üben therapeutischer und pflegerischer Techniken mit anderen hat den großen Vorteil, dass Rückmeldungen gegeben werden können, ob das Handling angepasst ist oder noch einmal verändert werden muss. Die Patienten können uns diese Rückmeldungen oft nicht verbal geben!
1.6
Nutzen und Kosten
Im Titel dieses Abschnitts soll es entgegen dem normalen Sprachgebrauch gestattet sein, den Nutzen für den Patienten vor den Kosten zu platzieren. So wichtig heute die Finanzierungsprobleme im Gesundheitswesen sind, der Patient sollte immer an erster Stelle der Betrachtung stehen.
1.6.1
»Wer A sagt, muss auch B sagen!«
Die Fortschritte der Medizin, der flächendeckende Ausbau der Notfall- und der intensivmedizinischen Versorgung zog den Ausbau neurologischer Rehabilitationskliniken nach sich. Die Behandlung von Patienten der Phase A (Akut) und B (Frührehabilitation) erfordert einen hohen Bedarf an Personalleistungen. Nach Schönle (1996) sind die Kosten der Frührehabilitation hoch, relativieren sich aber zu denen der Intensivpflege. Der Autor berechnet in einem Personalanforderungsprofil für neurologische Rehabilitation den Stellenbedarf für die Kombination der Phasen B und C (Mischung der unterschiedlichen Schweregrade der Patienten). Ausgehend von 4 Stunden Funktionstherapie pro Patient und Tag ergeben sich Stellenschlüssel für Pflegepersonal und Therapeuten (. Übersicht 1.7). . Übersicht 1.7. Stellenschlüssel in der Frührehabilitation (Schönle 1996) Pflege-/Therapeutenstellen 4 2,27 Pflegekräfte pro Patient, die sowohl kurative wie rehabilitationsmedizinische Aufgaben haben 4 1 Therapeut auf 1,15 Patienten Aufteilung der Therapeutenstellen 4 40% Motorik (Statomotorik, Lokomotion, obere Extremität) 4 30% Orofaziale Funktionen (Kauen, Schlucken, Sprechen) und Kommunikation 4 30% Mentale/kognitive Funktionen Doppel- bis Dreifach-Therapien sind im Pflegeschlüssel miteingerechnet. Bei Reduzierung des Pflegestellenschlüssels müssen diese dem Therapeutenschlüssel zugerechnet werden. Der ärztliche Stellenschlüssel ist von der Größe der Klinik abhängig.
Kostenträger, die diese Stellenschlüssel in den Pflegesätzen nicht berücksichtigen, Rehabilitationskliniken, die diesem Personalschlüssel nicht entsprechen, können weder die Aufgaben einer Frührehabilitation gewährleisten noch die derzeit gültigen Qualitätsstandards erfüllen oder sichern! Unter der Lupe Studien: Kosten und Nutzen der Frührehabilitation Nach Howarth (1995) wurden 1992 in den USA 500 Millionen Dollar für künstliche Ernährung ausgegeben. In nur 3 Jahren (1989–1992) stieg allein die Zahl der so versorgten ambulanten Patienten um 115% an.
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Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen
Haaks u. Walkenbach (1999) zeigen in einer Studie mit 233 neurologischen Patienten, dass 76,4% mittels F.O.T.T. und Funktioneller Dysphagietherapie (Bartolome 2006) wieder an eine komplette orale Ernährung herangeführt werden konnten. Auf Basis dieser und anderer Daten rechnen sie die monatlichen Ausgaben für Sondenernährung auf 30 Millionen Euro hoch. Ginge man von einem Therapieerfolg von nur 50% aus, könnten die Kosten halbiert werden. (Dies entspricht nach einer prospektiven Studie an Patienten der Phasen A bis E einer Oralisierungsrate von 55% [Prosiegel et al. 2002]). Unter Berücksichtigung der unsicheren Datenlage, des noch nicht wissenschaftlich untersuchten Spontanverlaufs anhand einer Kontrollgruppe, halbieren die Autoren in ihrer Diskussion diese Zahlen großzügig noch einmal. Es würden nach Abzug der Therapiekosten immer noch 7,5 Millionen Euro im Monat eingespart und – nicht zu vergessen – die Lebensqualität dieser Patienten wahrscheinlich verbessert werden!
1.6.2
»Wer A und B sagt, muss auch C, D, E und F sagen!«
Maximierung der Ausgaben in Phase A hat ihre Legitimation. Ziel ist es, optimale Therapie zu gewährleisten, um Pflegefälle zu verhindern. Die durchgehende Konzeption von Phase A bis F (Pflegeheim) ist fundiert. Angesichts der derzeitig verordneten Kostenreduktion im Gesundheitswesen wird deren Umsetzung aber zunehmend infrage gestellt. Kontinuierlich bauen sich die bereitgestellten Aufwendungen von Phase zu Phase ab. Die Personalsituation in Langzeitpflegeeinrichtungen ist bekanntermaßen schon seit Langem vollkommen unzureichend. Dies führt zu Sekundärkomplikationen (z.B. Aspirationspneumonien, Dekubiti, Kontrakturen, Komplikationen durch lang liegende Trachealkanülen), die medizinisch versorgt werden müssen, und damit zu weiteren Kosten. Mitarbeiter der Akutkrankenhäuser kennen diese bedauernswerten »Drehtürpatienten«. Unter der Lupe Untersuchungen: Ernährungssituation und Therapieerfolge Groher u. McKaig (1995) untersuchten in einem Review 212 Bewohner zweier Pflegeheime, die keine Therapie hatten. 91% waren auf eine Art Diät gesetzt, die nicht indiziert war. Adäquat war die Ernährung nur bei 5% der Bewohner, 49% waren auf eine Kost gesetzt, die für sie nicht sicher war. Klor u. Milianti (1999) untersuchten den Effekt von Therapie und Management an 16 Bewohnern eines Pflegeheims mit zerebro-vaskulären Schädigungen. Alle Bewohner waren zu diesem Zeitpunkt mindestens 10 Monate mit einer PEG versorgt und wiesen in einer zu Beginn der Studie durchgeführten radiologischen Eingangsuntersuchung Aspirationen
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auf. Nach Abschluss einer durchschnittlich 7-wöchigen Therapie (2–16 Wochen) konnte die PEG bei 10 Bewohnern (67%) entfernt werden. Bei ihnen wurde keine Aspiration mehr nachgewiesen. Die restlichen 6 Bewohner (37%) aspirierten nur mehr dünne Flüssigkeiten, wobei 5 mit diätetischen Maßnahmen (z.B. Andicken der Flüssigkeiten) ebenfalls oral ernährt werden konnten. Auch der Mangelernährung konnte entgegengewirkt werden: 15 Bewohner nahmen an Gewicht zu. Bei einem übergewichtigen Patienten wurde erfolgreich das Gewicht reduziert.
Die Ergebnisse sprechen für sich: Die täglichen Kosten für enterale Ernährung betrugen 27,95 bis 41,68 Dollar. Die Kostenhochrechnung für enterale Ernährung der 16 Patienten pro Jahr ergab einen Betrag von 163.228 bis 243.411 Dollar. Die Kosten für Untersuchung und Therapie bei einer durchschnittlichen Behandlungsdauer von 7 Wochen betrugen 3.125 Dollar. Die weiteren täglichen Kosten einer oralen Ernährung betragen maximal 7 Dollar pro Tag! Bei Fortbildungsveranstaltungen und Supervisionen in Alten- und Pflegeheimen erleben Referenten auch 2010 immer noch, wie hoch der Bedarf an fundiertem Wissen in der Langzeitversorgung von Patienten ist. Dieses Knowhow würde Kosten sparen und die Situation der Patienten verbessern, wie das folgende Beispiel zeigt. Beispiel Neun Patienten eines Modellprojekts für Patienten im Wachkoma wurden Mitte 2001 mit der Fragestellung nach Veränderungen des Trachealkanülenstatus in der interdisziplinären Schlucksprechstunde (HNO-Arzt/Logopädin) des Unfallkrankenhauses Berlin von ihrem Team vorgestellt und konsiliarisch mitbetreut. Im Zeitraum eines Jahres konnte durch das gemeinsam festgelegte Vorgehen bei 5 Patienten die Kanüle entfernt und das Tracheostoma verschlossen werden. Eine Patientin wurde auf eine gefensterte Sprechkanüle umgestellt. Eine weitere Patientin mit 7 Trachealstenose wurde mit einer speziellen Kanüle versorgt. Zwei Patienten mussten wegen permanenter Aspiration mit einer geblockten Trachealkanüle versorgt bleiben. Ihre Kanülen wurden jedoch in der Therapie entblockt bzw. auf Sprechkanüle umgestellt.
Ausgelöst wurden diese Veränderungen durch den Wunsch des therapeutischen Teams nach einer Fortbildung. Seither stellen Therapeuten und Pflegende Patienten in der Schlucksprechstunde vor, betreuen sie bei der endoskopischen Schluckuntersuchung mit und können anschließend ihre Fragen bezüglich Befund, Therapie und weiterem Vorgehen mit dem Untersucherteam besprechen. Als Ergebnis konnte resümiert werden, dass der Pflegeaufwand bei den dekanülierten Patienten verringert
27 Literatur
werden konnte und sich Erfahrung und Wissen der betreuenden Therapeuten und Mitarbeiter der Schlucksprechstunde erweitert haben. Dieses Wissen kommt weiteren Patienten zugute. Auch kann man von einer partiellen Verbesserung der Lebensqualität der 5 dekanülierten Patienten ausgehen, da die Prozeduren des Absaugens und Trachealkanülenwechsels entfallen. Eine Objektivierung, eine Befragung der Patienten zu ihrer Lebensqualität ist bei diesem Krankheitsbild nicht möglich. Leider konnte keine weitere Nachuntersuchung der Patienten erfolgen, da die Förderung als Modellprojekt bei dieser Einrichtung auslief und Stellen in Pflege und Therapie abgebaut wurden. Dies ging zulasten der Bewohner, die dann im Verlauf in andere Wohnheime des Trägers verlegt wurden. Als Trost bleibt: Die entlassenen Therapeuten haben ihr Wissen und ihre Kompetenz zu neuen Arbeitgebern und neuen Patienten mitgenommen, mit denen sie nun auch mit konkreten Fragestellungen zur Schluckuntersuchung kommen! > Beachte Neurologische Rehabilitation – soll sie effektiv sein – ist personalintensiv und verursacht hohe Kosten. Denkt man das ICF-Modell und die darin enthaltene Alltagsorientierung allerdings konsequent zu Ende, dann ist das Modell der Zukunft nicht, dass die Patienten in die Rehakliniken »auf die grüne Wiese« und in die Praxen kommen, sondern dass therapeutische Teams die Patienten in ihrem Alltag in häuslicher Umgebung und am Arbeitsplatz problem- und lösungsorientiert behandeln!
1.7
tisiert, die es mit anderen zu bearbeiten und befriedigend zu lösen gilt. Seit 1993 treffen sich Therapeuten, die mit dem Konzept arbeiten oder sich dafür interessieren, zum Austausch, u.a. stellen Instruktor-Kandidaten regelmäßig Fallstudien zur Diskussion. Die Special Interest Group S.I.G. – F.O.T.T. International tagt 3-mal jährlich. Absolventen eines F.O.T.T.-Grundkurses können daran teilnehmen. Mitglieder der S.I.G. haben in einer prospektiven Studie 2005– 2007 Konsensusempfehlungen zur F.O.T.T. entwickelt und verabschiedet (Nusser-Müller-Busch 2008, 7 Kap. 2). Ein Konzept lebt von Impulsen und Veränderungen. Medizinisches Wissen verdoppelt sich derzeit alle 5 Jahre. Das, was heute gilt, kann morgen verworfen sein. Das Grundlagenwissen wird sich ändern, und die F.O.T.T. wird sich dadurch weiterentwickeln. Die Philosophie der auf dem Bobath-Konzept basierenden Therapie des FacioOralen Trakts wird sich sicher nicht so schnell ändern. > Beachte Der Patient mit seiner Individualität und Persönlichkeit steht im Mittelpunkt unserer Bemühungen. Auch die Orientierung des therapeutischen Vorgehens an normalen, physiologischen Abläufen und Alltagssequenzen, die eine aktive Partizipation am sozialen und gesellschaftlichen Leben ermöglicht, wird wohl weiterhin eine zentrale Bedeutung in der Therapie einnehmen.
Die in diesem Buch dargelegten Inhalte geben einen Einblick in die derzeitig aktuellen Betrachtungs- und Arbeitsweisen. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht erhoben werden. Jeder ist aufgefordert und eingeladen, an diesem Prozess teilzunehmen.
Ausblick Literatur
Die Therapie des fazio-oralen Trakts kennenzulernen und mit ihr zu arbeiten, ist ein spannender Prozess. Dieser erfolgt mit und zwischen Menschen, die sich beim gemeinsamen Arbeiten theoretisch und praktisch mit dem Konzept auseinandersetzen. Wir lernen voneinander in der täglichen Arbeit und in Kursen, die in Kliniken stattfinden: durch das interdisziplinäre Behandeln von Patienten unter Supervision und die anschließende Evaluation und Diskussion. Die Kursangebote sind grundsätzlich auf eine multiprofessionelle Teilnehmergruppe gerichtet. Im Angebot sind 2-tägige Einführungen, 5-tägige Grund-, darauf aufbauende Refresher- und Aufbaukurse, u.a. zur Behandlung von Patienten mit Trachealkanülen (7 Anhang). Das Konzept lebt vor Ort in den Kliniken, den Praxen, bei Hausbesuchen, und es beginnt auch in Langzeiteinrichtungen zu leben. In der Arbeit mit dem einzelnen Patienten werden immer wieder Fragestellungen konkre-
Affolter F, Bischofberger W (1993) Wenn die Organisation des zentralen Nervensystems zerfällt – und es an gespürter Information mangelt. Neckar, Villingen-Schwenningen Alavi Kia R, Schulze-Schindler R (1998) Sonne, Mond und Stimme. Atemtypen in der Stimmentfaltung. Aurum, Braunschweig Banduras A (1986) Social foundations of thought and action: A social cognitive theory. Prentice Hall Bartolome G, Schröter-Morasch H (2006) Schluckstörungen. Diagnostik und Rehabilitation. Elsevier, München Biewald F (1999) Grußwort. In: Paeth Rohlfs B (1999) Erfahrungen mit dem Bobath-Konzept. Thieme, Stuttgart Bobath B (1985) www.fuko.ro/rptj/rptj_03.pdf 01.08.2010 Bobath B (1986) Abnorme Haltungsreflexe bei Gehirnschäden. Thieme, Stuttgart Bobath B (1990) Adult Hemiplegia. Heinemann Medical Books Bobath K (1977) Die motorische Entwicklung bei Zerebralparesen. Thieme, Stuttgart Böggering J (2008) Einfluss einer cutanen elektrischen Stimulation des Halses auf den motorischen Kortex bei gesunden Probanden. Diplomarbeit Lehr- und Forschungslogopädie RWTH Aachen 2008
1
28
1
Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen
Butler D (1995) Mobilisation des Nervensystems. Rehabilitation und Prävention. Springer, Heidelberg New York Castillo Morales R (1998) Die Orofaziale Regulationstherapie, 2. Aufl. Pflaum, München Coombes K (1996) Von der Ernährungssonde zum Essen am Tisch. In: Lipp B, Schlaegel W (Hrsg) Wege von Anfang an. Frührehabilitation schwerst hirngeschädigter Patienten. Neckar, VillingenSchwenningen Coombes K (2002) Zitate im Rahmen des F.O.T.T.-Refresher Kurses im Therapiezentrum Burgau 12/2002 Davies PM (1995) Wieder Aufstehen. Frühbehandlung und Rehabilitation für Patienten mit schweren Hirnschädigungen. Springer, Berlin Davies PM (2002) Hemiplegie, 2. Aufl. Springer, Berlin Duysens J, Trippel M, Horstmann GA, Dietz V (1990) Gating and reversal of reflexes in ankle muscles during human walking. Experimental Brain Research 82:351-358 Gjelsvik BE (2007) Form und Funktion. Neurologie, Bobath-Konzept, Physiotherapie. Thieme, Stuttgart Goldenberg G (2007) Neuropsychologie. Grundlagen, Klinik, Rehabilitation, 4. Aufl. Urban & Fischer, Stuttgart Gratz C, Woite D (2004) Die Therapie des Facio-Oralen Traktes bei neurologischen Patienten, 3. Aufl. Schulz-Kirchner, Idstein Groher ME, McKaig TN (1995) Dysphagia and dietary levels in skilled nursing facilities. J Am Geriatr Soc 43:528-532 Haaks T, Walkenbach K (1999) Klinisches Management neurogener Dysphagie unter Berücksichtigung einer Kosten-Nutzen-Analyse. Neurol Rehabil 5:269-274 Hamdy S, Aziz Q, Rothwell JC, Crone R, Hughes DG, Tallis RC, Thompson DG (1997) Explaining oropharyngeal dysphagia after unilateral hemispheric stroke. Lancet 350:686-692 Hamdy S, Rothwell JC, Aziz Q, Thompson DG (2000) Organization and reorganization of human swallowing motor cortex: implications for recovery after stroke. Clin Sci 99(2):151-7 Heidler MD (2007) Rehabilitation schwerer pharyngo-laryngo-trachealer Sensibilitätsstörungen bei neurologischen Patienten mit geblockter Trachealkanüle. Neurol Rehabil 13(1):3-14 Howarth L (1995) Current use of clinical outcome of home parenteral and enteral nutrition therapies in the USA Gastroenterology 199:355-365 Hüther G, Krens I (2009) Das Geheimnis der ersten neun Monate. Beltz, Weinheim IBITA International Bobath Instructors Training Association: www. ibita.org 03.01.2010 ICF http://www.who.int/classifications/icf/en oder http://www.dimdi. de/static/de/klassi/icf/index.htm 03.01.2010 Jeannerod M (1997) The Cognitive Neuroscience of Action. Blackwell Publishers Cambridge Kandel EC (2007) Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Pantheon, München Kandel EC, Schwartz JH, Jessel TM (Hrsg) (1996) Neurowissenschaften Spektrum. Akademischer Verlag, Heidelberg Kleim JA, Jones TA (2008) Principles of experiencedependent neural plasticity: Implications for rehabilitation after brain damage. Journal of Speech, Language, and Hearing Research Vol. 51, S225239 Klemme B, Siegmann G (2006) Clinical Reasoning Therapeutische Denkprozesse lernen. Thieme, Stuttgart Klor BM, Milianti FJ (1999) Rehabilitation of Neurogenic Dysphagia with Percutaneous Endoscopic Gastrostomy. Dysphagia 14:162164. Springer, Heidelberg New York Knott M, Voss DE (1956) Proprioceptive Neuromuscular Facilitation – Patterns and Techniques. New York: Harper and brothers Logemann JA (1998) Evaluation and Treatment of Swallowing Disorders. Pro-ed Austin Markram H (2010) Vortrag Weltkongress Neurorehabiliton; 25.03.2010
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2
Konsensusempfehlungen zur Facio-Oralen Trakt Therapie Ricki Nusser-Müller-Busch
2.1
Präambel
2.2
Therapiemaßnahmen-Katalog zur F.O.T.T.
2.3
Mitwirkende am Konsensusprozess
2.4
Conflict of Interest Literatur
– 31
– 34
– 34
– 34
– 32
30
2
Kapitel 2 · Konsensusempfehlungen zur Facio-Oralen Trakt Therapie
In einem vierstufigen Konsensusverfahren (Grilli 2000, Ollenschläger 1999, Rotondi 1997, Selbmann 1992, AWMF 2006) haben Experten und Anwender der Special Interest Group (S.I.G.) F.O.T.T. International im Zeitraum 06/2006 bis 03/2007 Empfehlungen in Form eines Aufgaben- und Maßnahmenkatalogs erarbeitet und verabschiedet, der für das Vorgehen in der Therapie des Facio-Oralen Trakts herangezogen werden kann. Ziel ist der größtmögliche Benefit für die Patienten in den Bereichen Nahrungsaufnahme, Mundhygiene, Nonverbale Kommunikation und Sprechen sowie die bestmögliche Partizipation am gesellschaftlichen Leben. Diese Konsensusempfehlungen sollen bis zum Vorliegen höher bewerteter evidenzbasierter Studien (Sackett 1996, Wade 2005a) die Basis für die therapeutische Arbeit bilden. Diese Empfehlungen sind gedacht für Ärzte, Pflegende, Therapeuten und angeleitete Angehörige, die mit Patienten aller Altersstufen mit erworbenen und/oder progredient verlaufenden neurologischen Erkrankungen arbeiten. Die Behandlung kann ambulant oder stationär, alleine oder in Teams, in allen Stadien der Erkrankung, von der Akut- und Intensivphase über die verschiedenen Rehabilitationsphasen bis hin zur zustandserhaltenden Pflege erfolgen. Detaillierte Ausführungen dazu und zu den verwendeten Termini finden sich in diesem Buch. Die Planung, Konzipierung und Durchführung des Konsensusprozesses wurde im Rahmen einer Master Thesis des Studiengangs Neurorehabilitation 2005–2007 an der Donauuniversität Krems (DUK) durch die Autorin wissenschaftlich begleitet und von Univ.-Prof. Dr. Michael Brainin betreut. Weitere Ausführungen zur Studie finden sich in der Originalarbeit »Die Entwicklung von Konsensusempfehlungen zur Facio-Oralen Trakt Therapie (F.O.T.T.)« (Neuro Rehabil 2008; 14(5):275-281). Die Konsensusempfehlungen werden hier in der Originalversion abgedruckt. Sie können als pdfDatei unter www.formatt.org heruntergeladen werden.
jEntwicklung der Konsensusempfehlungen kZielgruppe
Die F.O.T.T. (Coombes 1996) findet interdisziplinär Anwendung in der Rehabilitation neurologischer Patienten aller Altersstufen mit Problemen in den vier Bereichen 4 Nahrungsaufnahme, 4 Mundhygiene, 4 Nonverbale Kommunikation und 4 Atmung-Stimme-Sprechen. kEvidenz
Bisher liegen für die F.O.T.T. Bewertungen der Evidenzklassen III und IV nach Jäckel (2002) und Bewertungen der Klasse IV nach der Evidenzklassifikation für therapeutische Interventionen der European Federation of Neurological Societies (EFNS 2006) vor (u.a. Gratz u. Müller
2004, Fuchs 2001, Hollweg 2003, Welter et al. 1998, Seidl et al. 2007a, Frank et al. 2007). kS.I.G. F.O.T.T. International
Die 17 Teilnehmer sind Mitglieder oder Interessenten der S.I.G. F.O.T.T. International, einer internationalen Fachgesellschaft von Therapeuten, die in der F.O.T.T. ausgebildet wurden. Sie arbeiten mit diesem Konzept seit 16 Jahren und bilden sich regelmäßig in der S.I.G. weiter (Teilnehmerliste, 7 Kap. 2.3). Die Gruppe ist multidisziplinär, die Teilnehmer kommen aus den Bereichen Pflege, Logopädie, Physio- und Ergotherapie. kArbeitskatalog
Auf der Grundlage einer systematischen Literaturrecherche in den Datenbanken Cinahl, PeDRO, Embase, PubMed wurde in vier Konsensuskonferenzen eine Präambel und ein Arbeitskatalog zum Thema Therapiemaßnahmen erarbeitet. Zu Beginn wurden die Studieneinwilligungen und empirische Daten der Experten (lizensierte F.O.T.T.-Instruktoren der Level-I- und Senior-Instruktoren (Level II) und Anwender erhoben. kKonsensbildung
Als formelles Verfahren zur Konsensbildung dienten der nominale Gruppenprozess (NGP) und die Durchführung eines Delphi-Verfahrens (Raine 2006) mit einer fünf-stufigen Likert-skalierten Bewertung (Ludwig-Mayerhofer et al. 2004, Nagata 1996, Tastle 2006) im Anschluss an die letzten beiden Konferenzen. In einem begleitenden Fragebogen wurden Fragen zum Gruppenverhalten in den vier Konferenzen erfasst (Bühner 2004, Kirchhoff 2003, Tzschöckel 2007). Zur Berechnung wird die Formel des AGREE Instruments verwendet (Appraisal of Guidelines for Research & Evaluation, www.agreecollaboration.org). Im 1. Rating erreichten alle 47 Items eine über 80%ige Zustimmung. Im 2. Rating erreichten die verbliebenen 46 Items einen Zustimmungsgrad von über 90%. Im Laufe des Verfahrens konnte somit eine Steigerung des Konsensus festgestellt werden. kVeröffentlichung
Die Studienteilnehmer genehmigten die Veröffentlichung des Dokuments und der Teilnehmerliste (Shiffman 2003, Shaneyfeldt 1999). kAusblick
Übereinstimmung wurde darin erzielt, die Empfehlungen regelmäßig alle zwei Jahre zu überarbeiten und zu erweitern.1 Die Erstellung von Behandlungspfaden (Whyte 1 Für die erste Überarbeitung hat sich Ende 2009 eine Task Force gebildet.
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
31 2.1 · Präambel
et al. 2003, Campbell 2000), Algorithmen, Ausbildungsrichtlinien, aber auch die Anwendung der Maßnahmen im Bereich der Kindertherapie sollen in der nächsten Revision genauer spezifiziert werden.
2.1
Präambel
Die Therapie des Facio-Oralen Trakts (F.O.T.T.) basiert auf dem Bobath-Konzept (Raine 2006, Lennon 2005) und ist ein multi- und interdisziplinärer, alltagsorientierter Behandlungsansatz für die Rehabilitation des fazio-oralen Trakts bei Patienten mit Schädigungen des zentralen Nervensystems. Als Funktionen und Aktivitäten des fazio-oralen Trakts werden u.a. angesehen: 4 Nahrungsaufnahme, 4 Mundhygiene, 4 Nonverbale Kommunikation, Mimik und Gestik, 4 Komplex: Atmung-Stimmgebung-Sprechen. Ein Teil dieser Funktionen läuft reflektorisch und automatisch ab und steht je nach Aktivität und Wachheit 24 Stunden am Tag zur Verfügung, z.B. Speichelschlucken, Abruf von Schutzmechanismen wie Husten, Räuspern (Seidl et al. 2002). Ein anderer Teil umfasst willkürliche Bewegungen und komplexe Leistungen, z.B. die nonverbale Kommunikation und kognitiv gesteuerten Aktivitäten des täglichen Lebens (AdL), die intermittierend ausgeführt werden, z.B. Zähneputzen. Gemeinsam ist diesen Funktionen, dass sie in einem integrativen und koordinierten Wechselspiel stattfinden, z.B. Atmung-Schlucken, Sprechen-Schlucken. Hirnschädigungen (Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma, kindliche Hirnschädigung oder progrediente Erkrankung) manifestieren sich in vielen Fällen in Störungen der Körperhaltung, der Bewegungsfähigkeit und der Muskelspannung verschiedener oder aller Körpersegmente (Wade 2005b, Mulder et al. 2002). Daneben können Wahrnehmung und Kognition betroffen sein. Aktivitäten des täglichen Lebens wie Ankleiden, Körperpflege können ebenso beeinträchtigt sein wie das Schlucken von Speichel und/ oder Nahrung, die Atmung und das Sprechen. F.O.T.T. bietet einen strukturierten Ansatz zur klinischen Befunderhebung und Behandlung und hat die Entwicklung, Reorganisation und Integration der faziooralen Funktionen im Alltagskontext zum Ziel. Dabei werden die Probleme des fazio-oralen Trakts nicht nur isoliert, sondern auch bzgl. ihrer Zusammenhänge mit anderen Strukturen oder Funktionen befundet, analysiert und Arbeitshypothesen aufgestellt. Gegebenenfalls werden apparative Untersuchungen (z.B. die fiberoptisch-endoskopische Schluckuntersuchung, FEES [Langmore 2001], und die Videofluoroskopie [Loge-
mann 1993]) notwendig. In der anschließenden Behandlung werden die angewendeten Maßnahmen evaluiert, die Arbeitshypothese überprüft und ggf. verändert. In Abhängigkeit von der Schwere des Krankheitsbildes und der Krankheitsphase müssen in der Therapie grundlegende, alltagsrelevante Fähigkeiten erlernt oder wieder aktiviert werden. j»Hands-on«-/»Hands-off«-Arbeit
Grundlage der F.O.T.T. bildet dabei die »Hands-on«-/ »Hands-off«-Arbeit in verschiedenen Ausgangsstellungen, um z.B. eine Anpassung des Haltungshintergrunds, des ganzkörperlichen Muskeltonus, der Atemfunktionen und der Atem-Schluck-Koordination zu erreichen (Kalkhof u. Walker 2007). So wird z.B. die Hand des Patienten zu seinem Gesicht oder sein in einem Wasserglas befeuchteter Finger an seine Lippen geführt. Diese Alltagsorientierung kann dem Patienten helfen, seinen Mund zu öffnen. jVorgehen in der Intensivphase
Bei Patienten auf der Intensivstation ist der Lagewechsel eine der Situation angepasste Alltagshandlung: Ein funktionelles, der Wahrnehmung des Patienten angepasstes Drehen von der rechten auf die linke Körperseite kann dem Patienten helfen, seinen Körper im Raum und in Beziehung zur Umwelt wahrzunehmen und die Aufmerksamkeit zu steigern. Durch den Positionswechsel wird es ihm evt. möglich, seinen nicht wahrgenommenen und nicht geschluckten Speichel im Mund zu spüren. Die veränderte Wahrnehmung kann als motorische Antwort erste Zungentransportbewegungen auslösen, die durch den Therapeuten oder die Pflegende mit einer zusätzlichen taktilen Hilfe z.B. am Mundboden zu einem Schlucken fazilitiert werden kann (Nusser-Müller-Busch 2007b,c). jMundstimulation
Eingeschränktes Sprechen und Schlucken führen zu einer Deprivation im Mundraum. Als Ersatz für fehlende aktive Zungen- und Schluckbewegungen kann hier die Mundstimulation eingesetzt werden. Die Sequenz der Mundstimulation beinhaltet auch eine Stabilisierung des Kiefers sowie Pausen, um den Patienten Zeit und die Voraussetzung für eine orale Reaktion oder Antwort, evt. für ein Schlucken zu geben (Elferich u. Tittmann 2007). jTrachealkanülen-Management Ist ein Patient mit einer geblockten Trachealkanüle versorgt, dann ist physiologisches Husten als Schutzmecha-
nismus nicht möglich. Larynx und Pharynx werden nicht mit dem physiologischen Reiz des Ausatemstroms stimuliert. Dadurch werden Residuen im fazio-oralen Trakt nicht oder vermindert gespürt und die Frequenz der Reinigung durch Schlucken sinkt. Im Rahmen des Tracheal-
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32
2
Kapitel 2 · Konsensusempfehlungen zur Facio-Oralen Trakt Therapie
kanülen-Managements werden zur Wiederherstellung des physiologischen Ausatemweges, z.B. soweit möglich die therapeutisch entblockte Trachealkanüle mit einem Sprechaufsatz versorgt oder eine temporäre Dekanülierung vorgenommen. Ziel ist es, das Schlucken als physiologische Antwort auf die verbesserte Sensibilität anzubahnen und die Schluckfrequenz zu steigern, die physiologischen Schutzmechanismen zu aktivieren und Phonation und ggf. Sprechen zu ermöglichen (Seidl et al. 2007b, Sticher u. Gratz 2007).
Sprechen sowie Nonverbale Kommunikation (Kalkhof u. Walker 2007). > Beachte Die Zielsetzungen in der F.O.T.T. werden immer an der bio-psycho-sozialen Situation der Patienten ausgerichtet. Ziel ist der größtmögliche Benefit in den Bereichen Nahrungsaufnahme, Mundhygiene, Nonverbale Kommunikation, Atmung-Stimme-Sprechen unter Berücksichtigung der notwendigen Sicherheitsaspekte und die bestmögliche Partizipation am gesellschaftlichen Leben.
jInterdisziplinäre Teamarbeit
Im Rahmen der konzeptionell verankerten interdisziplinären Teamarbeit werden alle Aktivitäten immer unter therapeutischen Aspekten durchgeführt. Dies sollte dem Patienten von allen an einer Rehabilitation beteiligten und geschulten Behandlern (Pflegende, Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden …) und auch durch Angehörige im Laufe des 24-Stunden-Rehatages angeboten werden, z.B. das Abtupfen des Mundes mit festem taktilem Druck in Richtung Mundschluss oder das Unterbrechen einer Tätigkeit, wenn der Patient Schluckbewegungen zeigt (Elferich u. Tittmann 2007). jRehabilitationsprozess
Im Rehabilitationsalltag können gezielte und differenzierte Hilfen bei komplexeren Alltagshandlungen eingesetzt werden. Auch die Mundhygiene bietet mehrmals täglich die Möglichkeit zur Verbesserung der Sensibilität und der Bewegungsanbahnung. Die zunächst therapeutisch durchgeführte Reinigung der Zähne und die Entfernung von Speichel oder Nahrungsresten kann im Laufe der entstehenden oralen Routine zur Aktivierung von Reinigungsbewegungen der Zunge, zum Schlucken von Speichel und/ oder zum Ausspucken von Wasser führen. Im Rahmen der Schluckanbahnung und des therapeutischen Essens wird der prä-oralen Phase der Schlucksequenz Rechnung getragen, indem Maßnahmen wie die Positionierung am Tisch, das Essen sehen, riechen und evt. zubereiten und zum Mund führen u.a. in die Therapie miteinbezogen werden. Hilfsmittel, die den Wiedererwerb funktioneller Fertigkeiten für die Nahrungsaufnahme und die Mundhygiene unterstützen, werden eingesetzt (Müller et al. 2007, Elferich u. Tittmann 2007). jTherapeutische Hilfen
In der F.O.T.T. werden vor allem taktil-kinästhetische, aber auch visuelle, auditive, olfaktorische und gustatorische Stimuli als therapeutische Hilfen in den Handlungssequenzen eingesetzt und in variierenden funktionellen, alltagsbezogenen Wiederholungen die Prinzipien des motorischen Lernens angewendet. Diese Prinzipien finden auch Anwendung in den F.O.T.T.-Bereichen Atmung-Stimme-
Therapiemaßnahmen-Katalog zur F.O.T.T.
2.2
F.O.T.T. bietet einen strukturierten Ansatz zur Befunderhebung und Behandlung von Störungen des fazio-oralen Trakts bei Patienten mit neurologischen Schädigungen (Coombes 1996). F.O.T.T. versteht sich als multi- und interdisziplinäres 24-Stunden-Konzept, das auch das Umfeld des Patienten, z.B. die Angehörigen, einbezieht. Je nach Bedarf können in den einzelnen Behandlungen die Anzahl der Behandler (Co-Therapien) und die Professionen der Behandler variieren. Die Anzahl und Art der durchgeführten Maßnahmen werden dem Allgemeinzustand, dem Befinden und der Zielsetzung bezüglich relevanter Strukturen, Funktionen, Aktivitäten und Partizipation des Patienten sowie den Veränderungen im Behandlungsverlauf angepasst. Der Behandler gibt gezielte, strukturierte Hilfen (primär taktil, aber auch visuell und verbal) und variiert diese. Eine Auflistung möglicher therapeutischer Maßnahmen und Zielformulierungen für eine Therapieeinheit finden sich in . Übersicht 2.1. . Übersicht 2.1. Therapiemaßnahmen-Katalog Vor- und nachbereitende und die Therapie begleitende Behandlungsprinzipien 4 Ganzkörperliche Tonusregulation (Davies 2002) 4 Erarbeiten geeigneter Ausgangsstellungen bzw. eines funktionellen Haltungshintergrunds im Alltagskontext (Kalkhof u. Walker 2007) 4 Erarbeiten der Koordination von Funktionen (z.B. Atmen und Schlucken) 4 Erarbeiten der Koordination von Bewegungsabläufen (z.B. selbständig Nahrung zum Mund führen, gleichzeitig Sprechen und Gehen) 6
33 2.2 · Therapiemaßnahmen-Katalog zur F.O.T.T.
4 Einbeziehen der Hände und Sinne des Patienten (z.B. den Finger des Patienten in Tee eintauchen und an seinen Mund führen) 4 Erarbeiten der Kopfkontrolle (z.B. für Schlucken, Nahrungsaufnahme, verbale und nonverbale Kommunikation und Mundhygiene) 4 Erarbeiten der Kieferstabilität und -kontrolle, der Hyoid- und Larynxbeweglichkeit (Sticher u. Gampp Lehmann 2007) 4 Lagerungen vor, während und im Anschluss an die Behandlung Behandlung des Gesichts 4 Einbeziehen der Hände des Patienten (z.B. Eigenberührung, auch geführt) 4 Reduzieren überschießender, ungezielter Bewegungen 4 Erarbeiten/Erhalten normaler Sensibilität im Gesicht 4 Fazilitieren normaler, funktioneller Bewegungen im Gesicht (z.B. für Nahrungsaufnahme, Mundhygiene und die verbale und nonverbale Kommunikation) Behandlung des Mundes 4 Taktile Mundstimulation (Elferich u. Tittmann 2007) 4 Fazilitation oraler Bewegungen (z.B. für Schlucken, Nahrungsaufnahme, Sprechen, Mundhygiene) 4 Therapeutisches Essen (Müller et al. 2007) Mundhygiene 4 Fazilitation oraler Bewegungen zur Reinigung des Mundes (z.B. Zunge, Wangen zum Ausspucken) 4 Erarbeitung einer strukturierten, kompletten und möglichst selbständigen Mundhygiene 4 (Elferich u. Tittmann 2007) Atem-, Schluck- und Stimm-Koordination 4 Atemfördernde/-unterstützende Ausgangsstellungen 4 Taktile Unterstützung der Ausatmung am Brustkorb (Kalkhof u. Walker 2007) 4 Anbahnung von Schutzmechanismen, z.B. Räuspern, Husten (Sticher u. Gratz 2007) 4 Anbahnung von Phonation 4 Fazilitation und Unterstützung effektiver und koordinierter Schutzmechanismen (z.B. taktile Hilfe beim Husten mit anschließendem reinigenden Schlucken oder Ausspucken, taktile Schluckhilfe) 6
4 Unterstützung des Hustenstoßes mit anschließendem reinigendem Schlucken oder Ausspucken Fazilitation von Speichelschlucken 4 Mundstimulation, Fazilitation oraler Bewegungen, oraler Sammel- und Transportbewegungen sowie deren Koordination 4 Direkte Schluckhilfen, die dem Patienten helfen, Speichel zu spüren, zu sammeln und zu transportieren, (z.B. mit Kieferkontrollgriff und/oder Fazilitation am Mundboden und Zungengrund [Müller et al. 2007]) 4 Indirekte Schluckhilfen, die Patienten helfen, Speichelresiduen zu spüren, (z.B. durch Bewegungen des Körpers, des Kopfes, der Zunge, taktile Unterstützung der Ausatmung und bei der Stimmproduktion) 4 Erarbeiten des sicheren, automatischen Speichelschluckens im Alltag Fazilitation von Schlucken verschiedener Nahrungskonsistenzen 4 Therapeutische Nahrungsgabe zur Fazilitation von Bolusformung und -transport (u.a. Apfelmus, Kauen in Gaze) 4 Stimulation und Fazilitation normaler oraler und pharyngealer Bewegungen durch ein angepasstes Nahrungsangebot (z.B. Kauen weich gekochter Speisen, Schlucken und Nachschlucken) 4 Erarbeiten des sicheren, automatischen Schluckens verschiedener Nahrungskonsistenzen (Müller, Meyer-Königsbüscher, Absil 2007); Ziel: von der enteralen zur oralen Ernährung 4 Interdisziplinäre Begleitung des Patienten beim Kostaufbau (z.B. assistierte Mahlzeiten bis zur selbständigen oralen Nahrungsaufnahme, Essen in der Öffentlichkeit) Atmung-Stimme-Sprechen 4 Anbahnung einer dynamischen Stabilität des Rumpfes (Davies 2002) für physiologisches Atmen und Sprechen 4 Fazilitation fazio-oraler und pharyngo-laryngealer Bewegungen für das Sprechen 4 Anbahnung von Phonation, Artikulationsbewegungen, Sprechen und Kommunikation 4 (Kalkhof u. Walker 2007) 4 Transfer der einzelnen Leistungen in einen alltagsrelevanten Kontext (z.B. Koordination verbaler 6
2
34
Kapitel 2 · Konsensusempfehlungen zur Facio-Oralen Trakt Therapie
kBereich Ergotherapie
Margret Walker, F.O.T.T.-Instruktorin (NZL), Jörg Weglöhner (D), Uwe Wernicke, F.O.T.T.-Instruktor (D)
und nonverbaler Fähigkeiten im Dialog, Sprechen beim Gehen)
2 Trachealkanülen-Management 4 Vorbereitende und begleitende Reinigung des naso-oro-pharyngealen Trakts inkl. Mundstimulation, Absaugen (z.B. therapeutisches Absaugen [Sticher u. Gratz 2007]) und Entblocken 4 Lenken des Ausatemstroms durch Larynx/Pharynx (intermittierendes Zuhalten der Kanüle/des Tracheostomas; Einsatz eines Sprechaufsatzes, Verschluss der Kanüle, nach Möglichkeit temporäre Dekanülierung) unter Sicherung der Sauerstoffversorgung und Beachtung des Aspirationsrisikos (Nusser-Müller-Busch 2007c, Seidl et al. 2007b, Sticher u. Gratz 2007)
2.3
Mitwirkende am Konsensusprozess
jStudienteilnehmer kBereich Ergotherapie
Barbara Elferich, F.O.T.T.-Senior-Instruktorin (D), Frank Gläser (D), Claudia Gratz, F.O.T.T.-Senior-Instruktorin (D), Silke Huth (D), Daniela Jakobsen, F.O.T.T.-Senior-Instruktorin (DK), Jim Jensen, Annette Kjaersgaard, beide F.O.T.T.-Instruktoren (DK), Stephanie Menn (D), Doris Müller, F.O.T.T.-SeniorInstruktorin (D) kBereich Logopädie/Sprachtherapie
Silke Kalkhof, F.O.T.T.-Instruktorin, Modesta Maurer, Jürgen Meyer-Königsbüscher, F.O.T.T.-Instruktor (alle D) kBereich Pflege
Jeanne-Marie Absil, F.O.T.T.-Senior-Instruktorin (CH), Ursula Dürr (CH) kBereich Physiotherapie
Karin Gampp Lehmann (CH), Balil Udsen (D), Heike Sticher, F.O.T.T.-Senior-Instruktorin (CH) jWeitere Mitwirkung kBereich Logopädie
Kay Coombes, MRCSLT, F.O.T.T.-Senior-Instruktorin (GB), Petra Fuchs (F), Ruth Bitzer (D)
kBereich Pflege
Heiko Wilhelm (CH) kKonzeption und Moderation
Ricki Müller-Busch, Logopädin, F.O.T.T.-Instruktorin (D) kDatenanonymisierung
Stefanie Strauß (D)
2.4
Conflict of Interest
Die Studienleiterin und einige Studienteilnehmer sind F.O.T.T.-Instruktoren (7 Teilnehmerliste). Sie sind Gesellschafter und/oder Dozenten der FOrmaTT GmbH, einer von F.O.T.T.-Instruktoren gegründeten Gesellschaft mit Sitz in Deutschland, die für Kliniken und Einrichtungen F.O.T.T.-Grundkurse und Aufbaukurse anbietet. Die anfallenden Kosten der Studie und Konsensuskonferenzen wurden nicht durch Drittmittel finanziert. Für die kostenlose Bereitstellung der Räumlichkeiten und Medien für die Konferenzen ist den Therapiezentren REHAB Basel (CH), Burgau (D) und Hvidovre (DK) zu danken.
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35 Literatur
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2
3
Motorische Kontrolle und motorisches Lernen in der F.O.T.T. Karin Gampp Lehmann
3.1
Grundlagen der motorischen Kontrolle und des motorischen Lernens – 39
3.1.1 Schematische Darstellung der motorischen Kontrolle 3.1.2 Feedback- und Feedforward-Mechanismen – 39 3.1.3 Beeinflussung der motorischen Kontrolle – 40
– 39
3.2
Therapeutische Konsequenzen zur Optimierung motorischen Lernens – 41
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5
Muskulo-skeletaler Bereich – 41 Sensorische Organisation – 42 Motorische Koordination: Erarbeiten physiologischer Abläufe Anpassung an die Umwelt – 45 Wahrnehmungen zur Orientierung und Beeinflussung des Central Set – 46
3.3
Weitere Aspekte, die Lernen fördern – 46
3.3.1 Motivation
3.4
– 46
Vorgehen in der F.O.T.T.
– 46
3.4.1 Beispiel: Schlucktherapie – 47 3.4.2 Therapeutische Fertigkeiten – 47
3.5
Schlussbemerkung Literatur – 49
– 49
– 43
38
3
Kapitel 3 · Motorische Kontrolle und motorisches Lernen in der F.O.T.T.
Die aktuellen Erkenntnisse über motorische Kontrolle, motorisches Lernen und Neuroplastizität sind wichtige Grundlagen der rehabilitativen Therapie. Sie helfen, die Handlungsabläufe sinnvoll zu gestalten und soweit an die Möglichkeiten der Patienten und deren Umgebung anzupassen, dass Gelerntes integriert werden kann und somit Fortschritte ermöglicht werden. Forschungsergebnisse zum motorischen Lernen sind bisher bekannt in der Arbeit mit den Funktionen der unteren Extremitäten (mit muskulospinalen Mechanismen) und aus dem Sport. Zunehmend findet sich das klinische Vorgehen in der F.O.T.T. durch diese und weitere neurowissenschaftliche Forschungen bestätigt. Dies soll im folgenden Kapitel prozesshaft erläutert werden und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es sind noch viele Fragen offen, zumal sich die Prinzipien des motorischen Lernens nicht auf alle Aspekte der fazio-oralen Funktionen übertragen lassen, aber zumindest auf Bewegungsabläufe, die in der Kindheit erworben, also gelernt wurden.
Im Gegensatz zu den früheren hierarchisch-deterministischen Erklärungsmodellen zur Arbeitsweise des ZNS, von reflektorisch zu willkürlich gesteuerter Motorik, entsprechen die heutigen Vorstellungen der Arbeitsweise eines systemisch-ökologischen Modells. Bei jeder Handlung, Aktivität oder Bewegung findet eine Interaktion zwischen Individuum, Aufgabe und Umgebung statt (vgl. International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF). Die Vorstellung von motorischer Kontrolle und motorischem Lernen basiert heute auf einem aufgaben- oder ziel-orientierten Modell (»task oriented model«): Eine Bewegung wird hinsichtlich des Erreichens der Zielvorgabe als Ganzes geplant/gelernt und nicht in einzelnen Bewegungssegmenten oder Muskelaktivitäten. Eine mit normaler Bewegung ausgeführte Aktivität entsteht als Interaktion verschiedener körpereigener Systeme, wobei jedes System eigene Aspekte zur Kontrolle beiträgt. Im Gehirn sind dabei verschiedene Netzwerke aktiv. Dies impliziert, dass das Nervensystem die Endpunkte des motorischen Verhaltens und das Erreichen der Zielvorgaben auswertet und nicht die einzelne Bewegung (Horak 1991, Shumway-Cook u. Woollacott 2007).
An einer zielorientierten Bewegung sind unterschiedliche Hirnareale verschiedenartig beteiligt. Welche Hirnareale aktiviert werden, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab: 4 Muss eine Bewegung neu erlernt werden, oder geht es um die Verbesserung bekannter Bewegungsabläufe? 4 Wird die Bewegung selbst initiiert (interne motorische Steuerung = Schreiben, Schwimmen, Essen) oder als Reaktion auf Vorgänge in der Umwelt (externe motorische Steuerung = Ballspielen, Bewegen im Verkehr)? 4 Welche sensomotorischen Kanäle stehen der Bewegungskontrolle zur Verfügung (visuell, akustisch, kinästhetisch, gustatorisch)? 4 Welche Komplexität beinhaltet die Bewegung (Seiltanz, Essen von Krustentieren und gleichzeitiges Sprechen oder Bewegen der Zungenspitze)? 4 Kann die Bewegung mental (in der Vorstellung) durchgeführt werden? Wie wach ist der Patient, und wie groß ist die Konzentrationsfähigkeit vor und während der Bewegung? 4 Wie vollständig funktioniert die begleitende Motorik? Diese Faktoren müssen für Bewegungslernen, für eine zielgerichtete Therapieplanung und zur Gestaltung der therapeutischen Abläufe beachtet werden. i Praxistipp Es kann für den Patienten als Vorbereitung auf ein sicheres Essen wichtig werden, in der prä-oralen Phase (bevor das Essen in den Mund gelangt) das Essen erst einmal olfaktorisch, gustatorisch und visuell zu erkennen. So können mehrere für die folgende Bewegungskontrolle wichtige Hirnareale aktiviert werden, bevor das Essen in den Mund gelangt. Es kann dem Patienten helfen, sich das Essen der Speisen zuerst vorzustellen (muss eine Suppe gelöffelt oder Brot gekaut werden oder gilt es, einen Löffel Kartoffelbrei zu essen), um den Essablauf sicherer zu machen. Interessanterweise regt alleine die Vorstellung einer Handlung dieselben Hirnareale an, wie die Handlung selbst (Doidge 2008, Eiichi et al. 2002, Yue u. Cole 1992). In der F.O.T.T. ist die prä-orale Phase therapeutisch von großer Bedeutung!
» Für die Neurorehabilitation bedeutet das, dass wir auch bei einer sehr systematischen Vorgehensweise mit einem ausschließlichen Muskel- und Bewegungstraining die falschen Hirnregionen aktivieren. Da jede spezifische Handlung ein einmaliges Verhaltensmuster der Hirnaktivität hervorruft, muss die Rehabilitation so handlungsorientiert wie möglich ausgerichtet werden. Nur so wird es gelingen, im Gehirn die gewünschte plastische Veränderung auszulösen. (van Cranenburgh 2007)
«
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
39 3.1 · Grundlagen der motorischen Kontrolle und des motorischen Lernens
Grundlagen der motorischen Kontrolle und des motorischen Lernens
3.1
jMotorisches Lernen > Beachte Motorisches Lernen umfasst alle Lernprozesse, mit denen wir Bewegungen und die Koordination von Bewegungen, die Teil von Aktivitäten und Handlungen sind, erwerben, erhalten und verändern können.
In der Neurorehabilitation geht es (zumeist) um das Verändern (= Wiedererlernen) von Bewegungen, die aufgrund einer Schädigung nicht mehr oder nur insuffizient ausgeführt werden können. Es gilt zu unterscheiden, ob eine Intervention zu einer besseren Ausführung der eingeübten Bewegung am Ende der Therapie führt, Changes in Performance, oder ob der verbesserte Bewegungsablauf auch in den nächsten Tagen und unter anderen Voraussetzungen erhalten bleibt. Erst dann kann von motorischem Lernen gesprochen werden, Changes in Learning. Lernen ist eine Problemlösungs-Suche! Um einen Lerneffekt, Changes in Learning, und evt. Einfluss auf die Neuroplastizität zu haben, müssen Aufgabenfolgen genügend oft, regelmäßig und mit einem für den Patienten möglichst hohen Schwierigkeitsgrad durchgeführt werden. Die Aufgabenfolgen sollten randomisiert wechseln, damit jedes Mal ein neuer Lösungsweg gesucht werden muss. Im ersten Moment resultieren bei randomisierten Übungsfolgen mehr Fehler, in Transfertests zeigen sich dabei aber bessere Resultate, der auf andere Situationen übertragbare Lerneffekt ist höher (= Kontext-InterferenzEffekt). Nach Wulf (2007) und Gentile (1995) kommt es erst dadurch zu einer Beeinflussung der zentralen Kontrolle und somit der Neuroplastizität.
. Abb. 3.1. Schema der motorischen Kontrolle. Das Schema zeigt, wie Bewegung geplant und nach deren Ausführung abgespeichert wird, und welche Komponenten zur Bewegungsplanung und fortlaufenden Bewegungssteuerung beitragen
frühere Erfahrungen aus ähnlicher Situation, ähnlichen Bewegungungen und die aktuellen Verhältnisse miteinbezieht. Die Bewegung wird dann in ihrem Verlauf nachgeregelt und mit anderen, gleichzeitig ablaufenden Aktivitäten und Gegebenheiten der Umwelt abgeglichen. Am Ende der Bewegung wird deren Erfolg ausgewertet (Aufgabe erfüllt/Ziel erreicht?), als Erfahrung abgespeichert und für eine nächste, ähnlich geartete Bewegungsstrategie wieder zur Verfügung gestellt. Das Nervensystem organisiert sich so, dass die Endpunkte des motorischen Verhaltens, d.h. das Erreichen der Zielvorgabe, ausgewertet werden und nicht die einzelnen Bewegungen, die zu dem Ziel führen (Horak 1991, Shumway-Cook u. Woollacott 2007, Wulf 2007).
3.1.2
Feedback- und FeedforwardMechanismen
jMotorische Kontrolle
jFeedback
> Beachte
> Beachte
Motorische Kontrolle ist die Fähigkeit, Bewegungen planen, durchführen und das Ergebnis kontrollieren zu können.
Feedback ist eine Ergebniskontrolle. Diese überprüft das Erreichen der Aufgabe, also die Bewegung nach der Ausführung. Diese Erfahrung wird abgespeichert.
Zum besseren Verständnis der dabei stattfindenden komplexen neuralen Abläufe zur Bewegungsplanung und zum Bewegungslernen, kann ein einfaches Schema (. Abb. 3.1) helfen.
Feedback meint die Gesamtheit der sensorischen Informationen (Reafferenz, van Cranenburgh 2007), die durch die eigene Bewegung entstanden ist. Die Auswirkungen der Ergebniskontrolle können bei bereits erlernten Bewegungen erst in der nächsten Bewegung berücksichtigt und angepasst werden. Das Ergebnis der laufenden Bewegung bleibt davon unbeeinflusst. Beim Erlernen neuer Bewegungen oder bei langsam ablaufenden, sehr exakten Bewegungen (Zielbewegungen, Balancieren, Essen von Fisch mit Gräten) wird der Feedbackmechanismus auch in der laufenden Bewegung
3.1.1
Schematische Darstellung der motorischen Kontrolle
Das Nervensystem bildet eine Bewegungsstrategie, indem es in die Planung und Durchführung einer Bewegung
3
40
Kapitel 3 · Motorische Kontrolle und motorisches Lernen in der F.O.T.T.
berücksichtigt. Feedback kann aus dem eigenen 7 sensomotorischen System (auch unter Nutzung visueller oder akustischer Kompensationen) oder aus der Umwelt kommen (Schewe 1988, Shumway-Cook u. Woollacott 2007, Umphred 2000).
3
jFeedforward > Beachte Feedforward ist die ständige Verlaufsplanung und Verlaufssteuerung, die vor (und während) der Ausführung einer Bewegung/Handlung abläuft. Das System ist vorbereitet, auf die laufende Bewegung einwirken zu können, d.h. diese zu verändern oder anzupassen.
Der Feedforward-Mechanismus ist ein Teil der Bewegungsstrategie. Er bewirkt, dass unser Körper schon vor der eigentlichen Bewegung Maßnahmen ergreift, die die Bewegung sicher und fließend ermöglichen. So werden vor dem Anheben eines Serviertabletts mit Gläsern die Rückenstrecker aktiviert und die Tonusverhältnisse im Rumpf entsprechend angepasst. Die Feedforward-Steuerung ist eine vorwegnehmende Korrektur, die schon regulierend eingreift, bevor ein potenzieller Fehler der laufenden Bewegung gemeldet werden kann (Edwards 1996, Schewe 2000, Umphred 2000). Die Feedforward-Mechanismen ermöglichen schnelle Bewegungen. Besonders visuelle Informationen und das Erkennen des Handlungsziels sind dabei wichtig.
3.1.3
Beeinflussung der motorischen Kontrolle
Jede Bewegungsstrategie wird von verschiedenen Komponenten beeinflusst (. Abb. 3.2). Zur Verdeutlichung soll hier das Schema aus der Gangmotorik nach Horak (1991) dienen. Dieses Modell hilft bei der Beobachtung und Befundung unserer Patienten und beschreibt Potenziale und Schwächen bzgl. motorischen Lernens und motorischer Kontrolle. Es kann bei der Befundung nach ICF berücksichtigt werden. jBeispiel: Komponenten der Schlucksequenz kMuskulo-skeletales System
Strukturelle Voraussetzungen, Tonus, Bewegungsfähigkeit der Muskeln, Bänder, Faszien, Gelenke: 4 Sind Kopf- und Rumpfkontrolle gegeben? 4 Sind Kiefer und Zunge frei beweglich? 4 Bewegen sich Os hyoideum und Larynx regelrecht? 4 Kann sich der Patient aufrecht halten, und hat er freie thorakale Beweglichkeit? 4 Ist der Patient genügend ernährt?
. Abb. 3.2. Beeinflussung der motorischen Kontrolle des Schluckens. Die Graphik veranschaulicht, wie Bewegungsplanung und motorische Kontrolle des Schluckens fortwährend von zahlreichen Faktoren beeinflusst werden
kSensorische Organisation
Geschmack, Temperatur, Konsistenz und Viskosität des Bolus, Wahrnehmung/Sensibilität prä-oral und oral: 4 Nimmt der Patient wahr, was er wo im Mund hat? 4 Hat er eine effiziente (ausreichende) Hustenreaktion? kMotorische Koordination
Koordination der Funktionen des fazio-oralen und pharyngo-ösophagealen Trakts im Zusammenspiel mit Haltung und Atmung: 4 Nimmt der Patient eine zum Essen günstige Haltung ein? 4 Stehen genügend Muskelkraft und Muskelvolumen zur Verfügung? 4 Kann die Zunge den Bolus richtig sammeln und transportieren? 4 Wechseln sich Atmung und Schlucken koordiniert ab? 4 Erlaubt die motorische Koordination ein sicheres Funktionieren im Alltag? kAnpassung an die Umwelt
Unter welchen Umständen erfolgt der Bewegungsablauf, und was passiert gleichzeitig in der direkten Umgebung: 4 Ist der Patient durch seine Umgebung motiviert/angeregt, die entsprechende motorische Aktivität durchzuführen, oder ist er durch die Umgebung abgelenkt, überfordert oder behindert? 4 Befindet sich der Patient alleine in einem Therapieraum, oder befindet er sich in einem Speisesaal, in dem gleichzeitig Gespräche stattfinden? 4 Freut sich der Patient auf das Essen und die Gesellschaft oder das Lösen einer Aufgabe? 4 Würde er die Situation selbst auch so gestalten?
41 3.2 · Therapeutische Konsequenzen zur Optimierung motorischen Lernens
kWahrnehmungen zur Orientierung
Örtliche, räumliche und zeitliche Orientierung: 4 Erkennt der Patient, in welchem Umfeld, in welcher Situation und in welcher Tageszeit er sich befindet? jCentral Set > Beachte Das Central Set ist ein neural gespeichertes Abbild der Körperdynamik und der Dynamik unserer Umgebung (Horak 1991).
Das Central Set beschreibt die Fähigkeit des Körpers, das motorische System auf kommende sensorische Informationen vorzubereiten und umgekehrt das sensorische System auf kommende Bewegungen vorzubereiten. Es ermöglicht die Feedforward-Mechanismen und kombiniert motorische und dazugehörende sensorische Erfahrungen, die miteinander verkoppelt und als zentrale Einheit gespeichert werden, dank derer dann zukünftige Bewegungen fließender und sicherer geplant und durchgeführt werden können.
Eine therapeutische Situation soll geschaffen werden, in der sich das gewünschte Verhalten – quasi zwangsläufig – entfalten kann. Das erfordert vom Therapeuten ebenfalls Feedforwardleistungen!
Die in . Abb. 3.2 dargestellten Komponenten zur Beeinflussung der Motorik können für die Überlegungen und Hypothesenerstellungen in der Therapieplanung genutzt werden.
3.2.1
Muskulo-skeletaler Bereich
» Im aufgabenorientierten Modell der motorischen Kontrolle ist das muskulo-skeletale System ein wichtiges Kontrollelement der motorischen Koordination. Daher ist es von primärer Bedeutung, alle Einschränkungen zu identifizieren und zu korrigieren, die sich in irgendeiner Weise auf die Bewegung auswirken können. (Horak 1991)
«
Muskulo-skeletale Einschränkungen können von außen Beispiel Man beißt auf eine ganz bestimmte Art in einen Apfel, da man aus Erfahrung weiß, dass sich dieser Apfel wahrscheinlich hart, sauer und saftig anfühlen wird. Wenn es sich bestätigt, dass er sehr saftig ist, wird man den Saft sofort mit der schon vorbereiteten Mundhaltung auffangen können.
Das Central Set ist der Bewegungsspeicher, und es entwickelt die Bewegungsstrategie. Es ist zuständig für 4 die Spezifizierung, welche Muskeln an der Bewegung teilnehmen, 4 die Reihenfolge der Kontraktion, 4 die zeitliche Abfolge der Muskelaktivität und 4 die relative Kraft der Kontraktion (Keshner 1991). Es benötigt ein gewisses Maß an gespeicherter und abrufbarer Erfahrung und vor allem ein funktionierendes sensomotorisches System.
3.2
Therapeutische Konsequenzen zur Optimierung motorischen Lernens
» Setting the scene! « (Mayston 2001) i Praxistipp In der Therapieplanung müssen wir uns vergegenwärtigen, bei welchen der beschriebenen Komponenten der Patient Probleme hat, und wie durch Aufgabenstellung und Therapiesituation optimale Voraussetzungen geschaffen werden, um diese Ausfälle auszugleichen. 6
beeinflusst werden durch 4 eine andere Ausgangsstellung, 4 Unterstützung der Haltungsschwächen mittels Lagerungs- und Stabilisierungshilfen oder angepasste Stühle, 4 zusätzliche Kopf- oder Kieferstabilisierung, 4 veränderte Kostformen (andere Bolusbeschaffenheit) oder 4 spezielle Hilfsmittel (spezielle Löffel oder Becher). Gleichzeitig muss definiert werden, welche Einschränkungen mit geeigneten therapeutischen Maßnahmen verändert werden können (z.B. Dehnungen, Kraftaufbau oder manuelle Techniken). ! Vorsicht Damit die Muskulatur optimal funktionieren kann, braucht sie genügend Nahrung! Gerade bei Patienten, die sich nicht mehr oder nur ungenügend selbst ernähren können, darf mit entsprechenden Maßnahmen zur Gewährleistung vollwertiger Nahrungszufuhr (inkl. Vitamine, Mineralien etc.) nicht gewartet werden! Die am Schlucken und Atmen beteiligte Muskulatur ist aufgrund ihrer Muskelfasertypen sehr schnell vom Abbau durch Mangelernährung/Vitaminmangel betroffen (Veldee u. Peth 1992).
3
42
Kapitel 3 · Motorische Kontrolle und motorisches Lernen in der F.O.T.T.
3.2.2
Sensorische Organisation
Unter der Lupe Sensomotorisches System
3
Sensorische Informationen erhalten wir vor allem via Mechanorezeptoren (Druck, Berührung) und Propriozeptoren (Stellungsänderung, Bewegung, tiefer Druck) und entsprechend über Geschmacks- und Geruchsbahnen, optische Bahnen sowie Gehör- und Gleichgewichtsbahnen. Das sensomotorische System, auch sensomotorischer Regelkreis genannt, brauchen wir beim Erlernen und Planen von Bewegung, für alle Anpassungen an die Umwelt, an veränderte Bewegungsvoraussetzungen und zum Erkennen und Korrigieren von Fehlern während der Bewegungen. Wir lernen dabei nicht nur, ob die Bewegung erfolgreich war, sondern auch, wie sich die Bewegung anfühlt (Montgomery 1991). Zu jeder Bewegung gehört eine entsprechende sensorische Struktur (van Cranenburgh 2007). Allerdings dient das sensomotorische System selbst nicht zur Generierung motorischer Aktivitäten (Keshner 1991, Robbins et al. 2008).
> Beachte Eine Handlung oder Bewegung reflektiert sozusagen die verarbeitete Summe aller auf- und absteigenden Inputs/Informationen (Keshner 1991, Shumway-Cook u. Woollacott 2007).
Wir wissen, dass es bei Patienten mit erworbenen Hirnschädigungen, aber auch bei Patienten mit fortschreitenden neurologischen Erkrankungen, sehr schnell zu Einschränkungen der Aufnahme oder Verarbeitung der sensorischen Inputs kommen kann, zu einer sensorischen Deprivation (van Cranenburgh 2007, Lipp u. Schlaegel 1996). Folgende Annahmen leiten das F.O.T.T.-Vorgehen: 4 Bewegungen werden umso genauer und adäquater ausgeführt, je mehr Inputs/Informationen zu Bewegungsplanung und Nachregelung vorhanden sind. 4 Fehlende sensorische Informationen können oft durch zusätzliche propriozeptive, visuelle oder taktile Informationen bzw. mittels Vorstellungshilfen kompensiert werden (Horst 2005). 4 Zur Verbesserung der motorischen Kontrolle muss der Informationsfluss in den betroffenen Regelkreisen verstärkt werden (van Cranenburgh 2007). 4 Zum Erlernen neuer motorischer Fertigkeiten wird vor allem die visuelle Kontrolle genutzt. 4 Nach Automatisierung einer Fertigkeit wird die propriozeptive Kontrolle genutzt. 4 Erwachsene mit neurologischen Schädigungen scheinen zu Anfang der Rehabilitation vermehrt von der visuellen Kontrolle abhängig zu sein. Wir vermuten, dass sie auch für ihre posturale (Haltungs-)Kontrolle
zu Anfang viel visuelle Hilfe (Wie steht der Körper im Raum?) brauchen. 4 Erst mit dem Wiedererlangen motorischer Fertigkeiten und posturaler Kontrolle kann auch auf die sensomotorische Kontrolle zurückgegriffen werden (ShumwayCook u. Woollacott 2007). Es ist wahrscheinlich, dass die Verbindung von funktionellem Erarbeiten der Schlucksequenz mit gleichzeitigem peripherem Input eine positive Wirkung auf die Neuroplastizität hat (Robbins et al. 2008). Die Kontrolle einer Bewegung, auch die der faziooralen Funktionen und des Schluckens, liegt auf vielen verschiedenen Ebenen des Nervensystems. Bezüglich Rolle und Wichtigkeit der einzelnen möglichen sensorischen Inputs/Informationen und der möglichen Stimuli zur besseren motorischen Kontrolle ist noch Vieles ungeklärt (Hamdy et al.1998, 1999, 2003; Power et al. 2004). So ist z.B. der Einfluss der Temperatur von Speisen auf die Schluckreaktion noch unklar, andererseits scheint die Verbindung therapeutischer Interventionen mit adäquaten basalen Stimuli wie z.B. Geruch oder Geschmack einen positiven Einfluss auf die motorische Kontrolle zu haben; ein reaktiv-spontanes Schlucken kann ausgelöst werden. Nach Logemann (1993) haben die verschiedenen Bolusgrößen und die Bolusviskosität einen Einfluss auf die motorische Kontrolle des Schluckens.
Kortikale Repräsentation Jede Aktion des Menschen aktiviert sein Gehirn. Merzenich et al. (1983) haben am Beispiel der Hand nachgewiesen, dass fehlende periphere Inputs die entsprechende kortikale somatosensorische Repräsentation vermindern. Das Ziel muss also sein, die betroffene Motorik mittel sensorischer Reize zu aktivieren und dabei für die größtmögliche Variation an Inputs zu sorgen. Im F.O.T.T-Vorgehen werden u.a. die folgenden Prinzipien der Neuroplastizität seit jeher berücksichtigt, die Robbins et al. (2008) im Hinblick auf die Dysphagietherapie untersuchten. jPrinzipien der Neuroplastizität k»Use it or lose it« > Beachte Kortikale Repräsentation verändert sich analog zu den sie erreichenden Inputs!
Wir müssen eine einmal erlernte Fertigkeit kontinuierlich gebrauchen (»use it«), weil sie sonst verloren gehen kann (»lose it«). Dieses Prinzip aus der Motorik kann nicht 1:1 auf das Schlucken übertragen werden, da hierfür auch ein reflektorischer Anteil verantwortlich ist. Soweit in der Praxis zu beobachten, geht die Fähigkeit zu schlucken nicht verloren, aber durch
43 3.2 · Therapeutische Konsequenzen zur Optimierung motorischen Lernens
4 4 4 4
Schwäche, Hirndruck, Einschränkungen der Vigilanz oder sensorische Deprivation
kann das Auftreten dramatisch abnehmen. Fehlen alltägliche sensorische Inputs im Mundraum durch 4 Zungenbewegungen, 4 Zähne putzen, 4 Sprechen oder 4 Essen,
Beispiel Nachdem das Schlucken von Speichel sicher und automatisiert ist, kann das Anbahnen differenzierter Kau-, Transport- und Schluckbewegungen in zahlreichen verschiedenen Abläufen erarbeitet werden. Beim therapeutischen Essen werden dann zunehmend anspruchsvoller zu verarbeitende Konsistenzen angeboten. Dabei wird der Schluckvorgang variationsreich wiederholt und die Aufgaben gesteigert (Shaping).
3.2.3
kommt es zu einer Reduzierung der Schluckfrequenz, die u.a. eine Veränderung der Schleimhautflora mit weißem Belag auf der Zunge nach sich ziehen kann.
Motorische Koordination: Erarbeiten physiologischer Abläufe
»
Schlucken lernt man durch Schlucken! (Logemann 1993, Coombes 1979)
«
Beispiel Mit der F.O.T.T.-Mundstimulation (7 Kap. 6.3.3) können die fehlenden oder eingeschränkten Reize im Mundraum ersetzt und so die motorischen Antworten, das Schlucken von Speichel, stimuliert werden. Regelmäßige Mundstimulationen bei/nach Intensivpflichtigkeit oder als Vorbereitung des fazio-oralen Trakts sind das Mittel der Wahl, die faziooralen Bewegungen und Funktionen wieder zu normalisieren.
Da unser Gehirn nicht zwischen physiologischen und pathologischen Inputs unterscheidet, ist es umso wichtiger, dass die Patienten möglichst fortlaufend physiologische Inputs über Haltung und Bewegung erhalten, damit zentral gespeicherte Bewegungs- und Haltungsmuster erhalten bleiben, bzw. neu erlernt werden können. Daher ist das Vorgehen nach dem therapeutischen 24-h-Konzept in der F.O.T.T. konsequent. Robbins et al. (2008) diskutieren in Bezug auf Schlucken und Neuroplastizität kritisch den Einsatz nicht-physiologischer Inputs und hinterfragen dabei die Effektivität kompensatorischer Therapiemanöver auf die kortikale Repräsentation.
jÜbungen vs. alltagsorientiertes Arbeiten
Damit der Patient im Alltag zurechtkommt, werden in der F.O.T.T. Bewegungserfahrungen vermittelt oder physiologische Bewegungsabläufe erarbeitet, die im Alltagskontext erfahrbar und gebraucht werden. Hier finden sich Übereinstimmungen mit den eingangs erwähnten Therapiezielen und der gegenwärtigen Forschung: 4 Alltagshandlungen sind aufgaben- und zielorientiert. 4 Die kortikalen Netzwerke, die im Alltag gebraucht werden, werden aktiv. 4 Die Aufmerksamkeit wird dabei auf einen externen Fokus gelenkt und nicht auf die Durchführung der Bewegung. Neue Studien aus dem Sport, aber auch schon mit Patienten mit Morbus Parkinson (Wulf 2007) untermauern dieses Vorgehen: Richtet der Patient seine Aufmerksamkeit bei einem Bewegungsablauf auf das Erreichen der Aufgabe oder den Effekt der Bewegung (externer Fokus), so bewegt und lernt er in der Regel besser, als wenn er die Aufmerksamkeit auf die Bewegung selbst (interner Fokus) richtet. Beispiel
k»Use it and improve it«
Dies bedeutet in der F.O.T.T., Schlucken hinsichtlich Genauigkeit und Sicherheit bzw. Effektivität und Effizienz zu schulen, indem regelmäßig und repetitiv der ganze Ablauf des Schluckens durchgeführt wird. Spezielle Aktivitäten der Zunge werden nach ihrem Einsatz in ein Schlucken überführt. Das könnte diesbezüglich kortikale Repräsentation erhalten und verbessern.
»Sie haben noch Joghurtreste auf den Lippen, lecken Sie die ab!« (externer Fokus) anstatt »Strecken Sie die Zunge an die Unterlippe!« (interner Fokus).
Wulf (2007) diskutiert die Ergebnisse dahingehend, dass bei externem Fokus vermehrt auf automatische, zentral gesteuerte Kontrollprozesse zurückgegriffen wird und die Koordination daher automatischer abläuft.
3
44
Kapitel 3 · Motorische Kontrolle und motorisches Lernen in der F.O.T.T.
jKräftigung vs. Koordination
3
Kräftigungsübungen der Zunge können einen positiven Einfluss auf 4 das Zungenvolumen, 4 den Zungendruck, 4 die intraorale Transitzeit und 4 die pharyngeale Phase haben und damit eine verbesserte Voraussetzung für das Schlucken bieten (Lazarus et al. 2003, Robbins et al. 2005, 2007). Nach heutigen Ansichten sind aber abstrakte monoton-motorische Übungsabfolgen, die auf die Kräftigung einzelner Muskeln abzielen, zu hinterfragen: 4 Nützt eine kräftige Zunge, wenn die anderen mitarbeitenden Strukturen nicht gekräftigt sind? 4 Muss wirklich die Zunge gekräftigt oder nicht vielmehr das koordinierte Zusammenspiel der Zunge mit den anderen Strukturen des Schlucktrakts wie Kiefer, Gaumen, Pharynx und Larynx wieder in Gang gebracht werden? In jedem Fall gilt es, den Zweck einer Aufgabe genau zu definieren und sich dabei über die möglichen Ursachen einer scheinbaren Schwäche im Klaren zu sein. Es ist wenig sinnvoll, das Herausstrecken der Zunge kräftigend zu üben, wenn die Zunge durch eine veränderte Stellung des Os hyoideum oder durch eine ungünstige Kopf- und Unterkieferstellung zu weit dorsal gehalten wird (7 Kap. 4). ! Vorsicht Es sollte immer beobachtet werden, ob durch Behandlung isolierter Teile des Schluckablaufs oder durch spezifisch entwickelte Schlucktechniken nicht sogar andere Komponenten des Schluckablaufs negativ beeinflusst oder sogar verunmöglicht werden (Huckabee u. Doeltgen 2009).
Einzelne Übungen können zur Verbesserung einzelner
Funktionen oder evt. zur Verbesserung der neuralen Mechanismen dieser Funktionen führen, haben aber deshalb noch keine erwiesene direkte Wirkung auf die zentrale Planung beispielsweise des Schluckens und die entsprechende Neuroplastizität (Robbins et al. 2008). An der Verbesserung von Teilaspekten des Bewegungsablaufs Schlucksequenz muss schwerpunktmäßig auch gearbeitet werden. Die Bewegung sollte aber in den Bewegungsablauf »Schlucken« münden, wodurch gleichzeitig das Therapieziel »Schlucken« repetiert und die dabei stattfindende Atem-SchluckKoordination erfolgen kann. Wird die Bewegung in eine sinnvolle Tätigkeit eingebunden, kann die Aufmerksamkeit auf einen externen Fokus gerichtet und der gesamte Ablauf in verschiedenen Varianten koordiniert erarbeitet werden. Auch Atemsequenzen können alltagsnah gestaltet werden, wenn dabei beispielsweise ein Gegenstand ange-
blasen und bewegt bzw. gleichzeitig phoniert wird oder körperliche Bewegungen stattfinden (7 Kap. 8). > Beachte Für eine Bewegungsaktion braucht es neben kräftigen Muskeln eine normale Geschwindigkeit und Koordination.
Damit wird wiederum deutlich, dass erst in der Kombination der verschiedenen Funktionen die Funktionalität erreicht wird. Die zentrale Planung des Schluckens scheint in erster Linie durch das Erarbeiten des Schluckens selbst beeinflusst zu werden (Logemann 1993). > Beachte In der F.O.T.T. gehen wir davon aus, dass Schlucken erst sicher und vollständig ist, wenn zwischen den fazio-oralen Funktionen (und somit bzgl. ihrer neuralen Kontrolle) und den Funktionen Atmung, Phonation, Artikulation und Verdauung eine fein abgestimmte Koordination besteht (7 Kap. 1).
jKompensatorische Abläufe vs. Erarbeiten physiologischer Abläufe kKörpereigene Kompensation Jede Bewegungsstrategie wird so angelegt, dass das Ziel/
die Aufgabe möglichst effektiv und gleichzeitig mit größtmöglicher Effizienz und Sicherheit erreicht wird. Dazu können normalerweise unendlich viele Bewegungsvarianten kreiert werden. Hat der Körper selbst nicht mehr alle motorischen oder sensorischen Möglichkeiten zur Verfügung, benutzt er häufig selbst kompensatorische Bewegungen oder kompensatorische Haltungen im Versuch, effektiv, effizient und sicher zu sein. ! Vorsicht Kompensationen gehen (leider) meist auf Kosten der Dynamik und der Mannigfaltigkeit der Bewegungen. Der Patient hat nie mehr die ganze Bandbreite seiner Bewegungsvarianten zur Verfügung, es entstehen stereotype Bewegungsmuster (vgl. Gangbild bei Hemiplegikern).
Die wichtigste und schwierigste Aufgabe der Therapeuten ist es, herauszufinden, ob die aktuelle Haltungs- und Bewegungsstrategie des Patienten tatsächlich für diesen langfristig effektiv und effizient ist, oder ob es eine kompensatorische Strategie ist, die langfristig evt. einschränkend wirkt und das Erlernen des vollen Bewegungsablaufs behindert.
45 3.2 · Therapeutische Konsequenzen zur Optimierung motorischen Lernens
» Die von den Patienten entwickelten kompensatorischen Strategien sind nicht immer optimal. Daher kann es ein Ziel der Therapie sein, die Effizienz der kompensatorischen Strategien zu verbessern, die zur Ausführung funktioneller Tätigkeiten gebraucht werden. (Shumway-Cook u. Woollacott 2007)
«
Spastik, Hypertonie, Hyperreflexie sagen allerdings noch nichts über die funktionellen motorischen Fähigkeiten aus (Craik 1991), oder dass zwangsläufig Kompensationen zum Einsatz kommen werden. Das heißt, dass ein Patient auch mit diesen Voraussetzungen immer noch imstande sein kann, sicher zu essen und zu trinken. Die wirklich fixierenden und die Motorik langfristig behindernden Einschränkungen sind die durch die primäre Krankheit entstehenden sekundären strukturellen, dauerhaften Veränderungen (Verkürzungen, Gelenkeinschränkungen, Haltungsveränderungen etc). Diese müssen in größtmöglichem Maß verhindert werden (Horak 1991, 7 Kap. 4.3.2). > Beachte In einer funktionell orientierten Therapie wie der F.O.T.T. geht es darum, keine vorliegenden Pathologien zu verstärken und den Weg für physiologische Abläufe freizuhalten, freizulegen. Was der gesunde Körper anstrebt, streben auch wir in der Therapie an!
kKompensatorische Techniken
Kompensatorische Schlucktechniken werden häufig zur Sicherung der Atemwege ergänzend gebraucht. Sie ersetzen die physiologische Schlucksequenz aber nicht. Sie verändern die Umstände des Schluckens, sie beeinflussen aber den Ablauf des Schluckens und aller beteiligten Strukturen nicht unmittelbar. Nach Robbins et al. (2008) haben sie, soweit bisher bekannt, keinen direkten Einfluss auf die zentrale Neuroplastizität bzgl. des Schluckens. Kompensatorische Techniken können ein therapeutisches Hilfsmittel sein. Sie ersetzen jedoch nie den physiologischen Ablauf, wenn dieser letztendlich erlernt werden soll! Wir erleben, dass Patienten Haltungsprobleme kompensieren oder Tumorpatienten von selbst merken, dass sie mit einer Kopfdrehung zu einer Seite besser schlucken können. Bei neurologischen Krankheitsbildern verwenden wir kompensatorische Techniken mit äußerster Zurückhaltung, da wir die Erfahrung gemacht haben, dass sie Haltung und Atmung negativ beeinflussen können und sekundär sogar ein Wiedererlernen des physiologischen Ablaufs erschweren können. Kompensatorische Techniken erfordern auch eine Compliance, die nur Patienten ohne kognitive Beeinträchtigungen aufbringen können.
> Beachte Die F.O.T.T. versteht Rehabilitation als ein »Zurück zur Physiologie«. Die Sicherung der Atemwege, die Stimmgebung und möglichst frühzeitiges Fördern von Schlucken und Atem-Schluck-Koordination sind ein primäres Anliegen, das die in diesem Buch beschriebenen Ansätze zu erreichen suchen.
3.2.4
Anpassung an die Umwelt
In jedem Stadium der Therapie wird idealerweise die Umgebung und die Aufgabenstellung so gestaltet, dass der Patient die Situation erfassen kann und aktiv daran teilhaben möchte. Er soll aus der entsprechend gestalteten Situation heraus zum Lernen gebracht werden. Dies kann letztendlich die Partizipation des Patienten innerhalb seiner Umwelt verbessern! Das kann im Frühstadium, wenn Wachheit, Aufmerksamkeit und Kognition (Voraussetzungen für motiviertes Mitarbeiten) noch stark eingeschränkt sind, eher durch eine sehr ruhige oder strukturierte Umgebung (Gewohnheiten aus dem früheren Alltag des Patienten nach Möglichkeit einbeziehen) und eine dem Tonus und der Haltung angepassten Ausgangsstellung beeinflusst werden. Vertraute Tätigkeiten (möglichst geführt mit den Händen des Patienten) können durchgeführt werden, wie Gesicht waschen, Zähne putzen (ohne Zahncreme). Mit der Zeit werden die Situationen dann schrittweise in höheren Ausgangsstellungen komplexer gestaltet und in die Umwelt integriert. > Beachte Therapeutischer Idealfall wäre das Begleiten der Patienten durch ihren Alltag, so dass in Phasen optimaler Aufmerksamkeit, optimaler Motivation und in bekannter Umgebung direkt aus einer eingeschränkten Alltagssituation heraus Aufgaben entstehen und bewältigt werden könnten. Derart situationsbasiertes Lernen bietet die besten Voraussetzungen für motorisches Lernen!
jLernen aus Fehlern
Unter Umständen mag es dem Patienten helfen, verschiedene Problemlösungsstrategien selbst zu suchen und auszuprobieren und dabei Fehler zu machen. Dabei wird therapeutisch nur dort eingegriffen, wo der Patient sich gefährden könnte. Der Patient sollte das Ziel der Aufgabe und die nötigen Kriterien für »richtig« und »falsch« genau kennen. Diese Methode eignet sich evt. für Patienten mit guten kognitiven Leistungen. Bei Patienten mit Gedächtnisverlust oder verminderter Krankheitseinsicht birgt diese Methode große Gefahren, da Fehler dort zur Routine werden können und das effektive Lernen überlagern.
3
3
46
Kapitel 3 · Motorische Kontrolle und motorisches Lernen in der F.O.T.T.
3.2.5
Wahrnehmungen zur Orientierung und Beeinflussung des Central Set
In der F.O.T.T. sollte sich der Patient an einem alltagsbezogenen Therapiesetting (z.B. essensbezogene Handlungen am Esstisch, Mundhygiene am Waschbecken zu passenden Tageszeiten) und alltagsrelevanten Aufgabenstellungen (z.B. Entfernen von Resten im Mundraum mit der Zunge, Reinigen des Rachens durch Hochräuspern, Ausspucken und Schlucken) orientieren können. Beispiel Eine sichere Sitzhaltung am Esstisch mit einem Teller appetitlich angerichteter Speisen, die visuelle und olfaktorische Wahrnehmung der Speisen, das geschmackliche Probieren und darüber Kommunizieren entspricht einer multimodalen Stimulation, Hilfe zur Orientierung und damit einer optimalen Unterstützung für motorische Kontrolle und motorisches Lernen.
3.3
Motivation hat einerseits damit zu tun, dass der Patient die Situation erfassen muss (Kognition), und dass wir und seine Umgebung jeweils seinem Potenzial entsprechend erfassbare und umsetzbare Ziele anbieten. Es ist z.B. interessanter, an einer schönen Blume oder Speise zu riechen als Atemübungen (»Tief ein- und ausatmen!«) zu machen. Es gibt keinen Grund, selbständig essen zu lernen, wenn man sowieso gefüttert wird. Es ist motivierender, einem Freund einen Gruß zuzurufen als Stimme auf »ho« zu üben. > Beachte Motivation steigert die Performance und die motorische Kontrolle! Das Lernen unter positiven Emotionen wird besser abgespeichert! Gedächtnis und Emotionen werden im limbischen System kombiniert (Kandel 2007).
Weitere Aspekte, die Lernen fördern
Für das zentrale Planen und Lernen einer Bewegungsstrategie sind weitere Aspekte von Bedeutung. Eine Bewegung wird umso kontrollierter und effizienter ablaufen können, wenn der Patient z.B. 4 Situation und Ziel im Voraus erfassen kann, 4 sich die geplante Handlung vielleicht sogar vorstellen kann, und 4 dazu überhaupt motiviert ist (van Cranenburgh 2007, Shumway-Cook u. Woollacott 2007). Auszugsweise soll auf die Bedeutung der Motivation eingegangen werden.
3.3.1
4 Möchte der Patient eine motorische Aktion durchführen? 4 Sieht er dazu überhaupt einen Grund? 4 Ist die Umwelt/Umgebung anregend und gleichzeitig bekannt genug, ihn zu einer Tätigkeit zu motivieren?
Motivation
» Lernen hängt stark von Faktoren wie Motivation (Lernbereitschaft), Aufmerksamkeit und Neugierde ab. … Fokussierte Aufmerksamkeit ist die entscheidende Voraussetzung für bewusstes Lernen. … Wie wir alle wissen, lernen wir dann am besten, wenn das Ziel für uns bedeutsam ist und uns emotional anspricht. … Notwendig ist die Bedeutsamkeit, Wichtigkeit der betreffenden Information für das Individuum. … Ist die neue Information zu fremd, existiert also kein bestehendes Vorwissen, an das sie anknüpfen kann, wird sie als irrelevant empfunden und ignoriert oder abgelehnt … (Herschkowitz 2008)
«
Ein ganz wichtiger Faktor der zentralen Steuerung ist die Motivation:
Für die Behandlungen heißt das: 4 Der Patient bestimmt idealerweise selbst die Ziele. Wir motivieren ihn dabei durch eine entsprechend strukturierte Umgebung/Situation. 4 Das Ziel ist den Fähigkeiten des Patienten angepasst und dennoch herausfordernd. 4 Der Patient kann ausprobieren, wie er zum Ziel kommt. Kann der Patient das Ziel dann erreichen, die Bewegung sinnvoll ausführen, so erhält er eine intrinsische Verstärkung: das Erreichen eines nutzbringenden Handlungsziels, z.B. 4 die Kaffeetasse alleine zum Mund führen und einen Schluck genießen, 4 klar genug sprechen, dass die Therapeutin einen Wunsch versteht oder ein Telefongruß verstanden wird, 4 die Zahnbürste zum Mund bringen, um die Zähne zu putzen.
» Intrinsische Verstärkung ist der wichtigste motivierende Faktor in der Neurorehabilitation. « (van Cranenburgh 2007)
3.4
Vorgehen in der F.O.T.T.
Die F.O.T.T. begreift sich als problemorientierter Ansatz. Im Eingangsbefund erhalten wir Erkenntnisse bzgl. der
47 3.4 · Vorgehen in der F.O.T.T.
vorliegenden Störungen und der Probleme, die dadurch im Alltag hervorgerufen werden, aber auch über das vorhandene Potenzial und die Stärken eines Patienten, die in der Therapie genutzt und ausgebaut werden können.
3.4.1
Beispiel: Schlucktherapie
4 Die Therapiesituation wird durch den aktuellen Zustand des Patienten vorgegeben. 4 Es wird eine dem Patientenalltag angepasste Therapiesituation und Ausgangsstellung gewählt. Die entsprechende Körperposition und Haltung dazu muss erarbeitet werden. 4 Im fazio-oralen Trakt werden strukturiert propriozeptive, visuelle, akustische, olfaktorische und gustatorische Alltagsreize gesetzt, um gewünschte motorische Anworten, z.B. Schlucken oder Stimme, auszulösen. 4 Eine möglichst frühzeitige fazio-orale Stimulation nach Eintritt der Schädigung scheint gerechtfertigt, wenn wir sehen, wie viele sensorische Inputs für eine koordinierte Schlucksequenz notwendig sind, und wie viele Inputs ein gesunder Mensch diesbezüglich im Alltag erhält im Vergleich zu einem Patienten in der Akutphase eines Schlaganfalls. 4 Die Stimulationen im Gesicht und intraoral mittels taktiler (Berührung, Ausstreichung), thermaler (Eis), motorischer (Kauen) und geschmacklicher Informationen (verschiedene Tees, salzige Speisen) und mittels angepasster Mundhygiene (mit Finger oder Zahnbürste ohne Zahnpasta) werden sowohl in der Frühstimulation als auch bei der Schulung und Erhaltung der physiologischen Schlucksequenz eingesetzt. 4 Zur Vorbereitung aktiver Zungenbewegungen werden der Mundraum und die Zunge taktil oder geschmacklich stimuliert und so bewusst gemacht. Anschließend können zielgerichtete Bewegungen oder Teilaspekte von Bewegungen (Lippen/Löffel ablecken, Wangentaschen mit der Zunge säubern, Eis lecken usw.) erarbeitet werden, die immer mit einem Schlucken beendet werden solllten. Kaubewegungen können mithilfe in Gaze gewickelter und festgehaltener Apfel- oder Trockenfleischteile in systematischer Abfolge erarbeitet werden. 4 Die Sicherung der Atemwege und Fertigkeiten zur Reinigung des oralen, pharyngo-laryngealen Trakts (Hochhusten – Schlucken) werden in entsprechenden Sequenzen bei optimierter Ausgangsstellung erarbeitet. 4 Im Rahmen einer therapeutisch-strukturierten Mundhygiene am Waschtisch können die Sequenzen Ausspucken und ggf. Husten und Schlucken erarbeitet werden.
4 Auch therapeutisches Essen, assistierte und später supervidierte Nahrungsgaben bieten die Möglichkeit, Bewegungsabläufe variationsreich und mit Steigerung der Anforderungen zu repetieren. Unter der Lupe Alltagskontext in der F.O.T.T.-Therapie 4 Durch den Alltagskontext in der Therapie werden lernbegünstigende Faktoren wie das implizite Körperwissen, das Situationsverständnis und auch emotionale/ motivationale Aspekt beim Patienten angesprochen, die Wachheit und Aufmerksamkeit fördern. 4 Obwohl die optimale Frequenz und Intensität der Stimuli bisher unklar bleibt, gilt es als erwiesen, dass speziell Inputs über die Hirnnerven Trigeminus (V), Glossopharyngeus (IX) und Vagus (X) Einfluss auf die entsprechende motorische Aktivierung der Großhirnrinde haben (Hamdy 2003). Dies mag bzgl. der sensorischen Organisation erklären, wieso in der praktischen Arbeit Vorbereitungen durch Mundstimulation, Kau- und Zungenbewegungen und Stimulation der Schlucksequenz häufig zu einer verbesserten motorischen Koordination beim anschließenden therapeutischen Essen führen. 4 Es ist von Bedeutung, dass der Patient nach Möglichkeit mit seiner eigenen Hand (geführt) die Zähne putzen oder essen kann. Dadurch wird die Hand-Mund-Koordination eingebunden, die zusätzlich weitere periphere Inputs vermittelt und durch die Freilegung bekannter Bewegungsmuster (Central Set, implizites Wissen, 7 Kap. 1) wichtige synaptische Verbindungen zur motorischen Kontrolle anregen kann. Oft lösen gerade altbekannte Stimuli, wie eine Zahnbürste in der Hand, ein adäquates Mundöffnen und spontanes Schlucken aus.
3.4.2
Therapeutische Fertigkeiten
» Mach es möglich, mach es notwendig, lass es geschehen! « (B. Bobath 1977) Alle Menschen (auch Patienten, auch Therapeuten) lernen durch konkrete Erfahrung und durch das Beobachten anderer Menschen. Das Gehirn bildet seine eigenen Hypothesen zu einem Bewegungsvorgang und überprüft sie bei der Anwendung. So lernen wir auch im fortgeschrittenen Alter neuen Werkzeuggebrauch, z.B. den Umgang mit einer PC-Maus. Patienten müssen verloren gegangene Bewegungsabläufe wieder erlernen. Auch Therapeuten müssen praktische motorische Fertigkeiten erlernen, um ihren Patienten effizient weiterhelfen zu können. jFeedforward-Leistungen
In der F.O.T.T.-Ausbildung steht zu Beginn der zu vermittelnden Bewegung oder Aktivität immer zuerst eine praktische Selbsterfahrung derselben mit anschließender Reflexion. Dies erscheint oft als »nicht-professionell«. Es ist
3
48
Kapitel 3 · Motorische Kontrolle und motorisches Lernen in der F.O.T.T.
jedoch das Mittel der Wahl, ständig automatisiert durchgeführte Aktivitäten bewusst zu machen und dieses erfahrbare Wissen dann explizit in der Anleitung des Patienten einsetzen zu können.
3
Beispiel Wenn die Therapeutin aus (Selbst)Erfahrung weiß, welche Reaktionen auf bestimmte fazio-orale Aktivitäten folgen, kann sie dieses Feedforward bei den einzelnen Aufgaben einsetzen, z.B. ein spontanes Schlucken abwarten oder schon vorab bereit sein, um ggf. Hilfen zum Mundschluss oder Schlucken anbieten zu können (7 Kap. 4).
jTherapeutische Hilfen In der F.O.T.T. werden visuelle, taktile und verbale Hilfen
– auch in Kombination – eingesetzt.
» Bewegungskomponenten, die unbewusst organisiert werden, sollten propriozeptiv fazilitiert werden, wohingegen Bewegungskomponenten, die bewusst ausgeführt werden, durch visuelle Stimulation oder durch die mentale Visualisierung dieser Bewegung fazilitiert werden sollten. (Horst 2005)
«
kVisuelle Hilfen
Die Therapeutin macht eine Bewegung vor, damit der Patient sie anschließend imitieren kann, oder sie macht die Bewegung gleichzeitig mit dem Patienten, z.B. Lippen befeuchten. Heute nimmt man an, dass ein System von Spiegelneuronen in prämotorischer Rinde (Area 6) und im Broca-Zentrum (Area 44) beim Betrachten sinnvoller und bekannter Handlungen aktiviert wird. Kinder lernen so beispielsweise bestimmte Fertigkeiten der Eltern. Zwischen dem Betrachten einer entsprechenden Handlung und ihrer Durchführung existiert also zentral eine kurzgeschlossene Verbindung. Sofern das Handlungs-ImitationsSystem eines Patienten intakt ist, kann das beim Lernprozess sehr nützlich sein (van Cranenburgh 2007). kVerbale Hilfen
Das alltagsorientierte F.O.T.T.-Vorgehen verändert die Sprache der Therapeutin, die verbalen Aufforderungen. Beispiel »Schauen Sie zum Fenster raus, ich glaube, es wird bald regnen!« (externer Fokus) anstatt »Drehen Sie den Kopf nach links!« (interner Fokus).
Das alltagsorientierte Arbeiten verändert aber v.a. die Therapieinhalte bei zentralen Schluck- und Sprechstörungen ganz entscheidend. Dass positive Rückmeldungen motivierend und leistungssteigernd sein können, wissen wir aus unserem eige-
nen Alltag. Neue Erkenntnisse gibt es zum Timing therapeutischer Rückmeldung nach erfolgter Tätigkeit/Bewegungsablauf: 4 Rückmeldungen, die gleichzeitig mit der Bewegung gegeben werden, sind ineffektiv. 4 Die besten Lerneffekte werden durch Rückmeldungen erzielt, die der Patient sich selbst gibt. 4 Ist dies noch nicht möglich, sollte nach Ende der Bewegung mit der Rückmeldung mindestens einige Sekunden gewartet werden, da dieses Intervall offensichtlich zu spontanem Nachdenken über den Erfolg anregt (Wulf 2007). kTaktile Hilfen
Viele Diskussionen gibt es zu der Frage »hands-on«- oder »hands-off«-Strategien in der Therapie. Führt man sich das Spektrum der Patienten vor Augen, dann wird diese Diskussion überflüssig. Es gibt Patienten, die nach verbaler Aufforderung eine Bewegung/Aktivität (z.B. den Mund öffnen) nicht ausführen können. Ihre persönlichen Faktoren, ihr Allgemeinzustand macht es erforderlich, sie beim Bewegungslernen – mehr oder weniger – propriozeptiv zu unterstützen. Nach Coombes (2007) gehen wir allerdings davon aus, dass dem ZNS je nach Ausmaß der Unterstützung Feedbacks unterschiedlicher Stärke gemeldet werden (. Übersicht 3.1). . Übersicht 3.1. Hilfen zum Erlernen der Bewegung 4 + 4 ++
Passiv: (Aus-)Führen durch den Therapeuten Selbst initiieren: Ausführung wird vom Therapeuten weitergeführt 4 +++ Aktiv: Der Patient führt die Bewegung/ Handlung selbständig aus 4 ++++ Wiederholen: Der Patient repetiert (optional mit Variation und ansteigendem Schweregrad) (Coombes: Kursunterlagen F.O.T.T.-Grundkurs 2007)
Im Akutstadium brauchen viele Patienten viel Unterstützung durch die Umgebung oder Lagerung, damit Haltung, Bewegung oder Aufrichtung überhaupt möglich werden. Kann der Patient selbst noch keine Bewegung halten oder initiieren, versuchen wir über passive Bewegung ein Bewegungsangebot zu machen, um ihm die Suche nach dieser Bewegung zu erleichtern. Der Therapeut kann durch seine Hände die Stabilität vermitteln, dank der der Patient dann aktiv bewegen kann. Mit der Zeit wird diese Unterstützung schrittweise abgebaut, und die Patienten übernehmen im Idealfall die Koordination von Haltung und gleichzeitiger Bewegung. Hands-on beim Herstellen einer
49 Literatur
ausreichenden Stabilität für den Rumpf ist u.a. auch notwendig, damit sich die Atmung überhaupt wieder frei entfalten kann. Ein Kieferkontrollgriff zur Stabilisierung des Kiefers kann notwendig werden, damit die Zunge sich selektiv bewegen und die Rückwärtsbewegung einleiten kann. Damit der Patient eine Bewegung selbst ausprobieren kann, die Aufgabe aber nicht zu einem Misserfolg entgleitet, greifen wir evt. führend oder unterstützend dort ein, wo der Patient die Aktivität nicht zu Ende bringen kann oder sich gefährden könnte. Wir überlassen ihm die Kontrolle sobald wie möglich wieder. Unter der Lupe Diskussion der »Hands-on«-Aspekte Viele Autoren diskutieren die »Hands-on«-Aspekte ähnlich: 4 Um die posturale Kontrolle für Alltagsfunktionen zu verbessern, braucht es propriozeptive Information während der gleichzeitigen Ausführung von willkürlichen, funktionellen Bewegungen (Horst 2005). 4 Der Therapeut kann auch durch passives Bewegen eine Vorstellung für die Bewegung geben und zeigt das Alignment, in der die Bewegung/Funktion ausgeführt werden kann (Hüter-Becker u. Dölken 2004). 4 Die passive Bewegung vermittelt sensorische Informationen, die Innervation in die gewünschte Richtung lenken können (van Cranenburgh 2007).
Hofstetter (2008) transferiert das Bobath-Einganszitat dieses Abschnitts in die heutige Terminologie:
» Mach es möglich – hands on, lass es geschehen – hands off, mach es notwendig – hands off und on. « (Hofstetter 2008)
3.5
Schlussbemerkung
Das Arbeiten nach den Grundsätzen der motorischen Kontrolle und des motorischen Lernens mag kompliziert klingen. Es ist jedoch nicht facettenreicher als die Inputs, denen wir tagtäglich und permanent in unserem Leben ausgesetzt sind, und die wir im Umgang mit anderen Menschen setzen. Wenn wir unseren Alltag, unsere Bewegungen, Funktionen und Aktivitäten kennenlernen und analysieren, können wir unsere Behandlungen darauf ausrichten. Die Arbeit für uns und unsere Patienten wird evidenzbasierter, sie ist mit Spaß und Abwechslung verbunden, und gleichzeitig verringert sich die Gefahr von Monotonie sowohl für den Patienten als auch für den Therapeuten. Hoffen wir, dass unsere eigenen kognitiven Funktionen uns dabei aus Fehlern lernen lassen! Die Basis all unserer therapeutischen Interventionen bleibt dabei die genaue Beobachtung unserer Patienten und die Beobachtung, Interpretation und Evaluation der motorischen Reaktionen bis in die Zehenspitzen!
Ungeachtet aller Theorien werden wir dabei auch immer wieder unseren klaren Menschenverstand und unsere Empathie einbringen und uns die Frage stellen: Wie würde ich mich in dieser Situation fühlen, und was könnte mir dann weiterhelfen? Literatur Bobath B, Bobath K (1977) Die motorische Entwicklung bei Zerebralparesen. Thieme, Stuttgart Coombes K (2007) Kursunterlagen G/F.O.T.T. FOrmaTT GmbH, Strohgäuring 55, D-71254 Ditzingen Craik LR (1991) Abnormalities of Normal Behavior. Chapter 16, Proceedings the II Step Conference, Alexandria The Foundation for Physical Therapy 16 Doidge N (2008) Neustart im Kopf. Wie sich unser Gehirn selbst repariert. Campus, Frankfurt/M Edwards S (1996) Neurological Physiotherapy. New York Churchill Livingstone Eiichi N, Takanori K et al. (2002) Internally Simulated Movement Sensations during Motor Imagery activate Cortical Motor Areas and the Cerebellum. The Journal of Neuroscience, May 1, 22(9): 3683-3691 Gentile AM (1995) Motor Learning. Kursunterlagen, Kurszentrum Hermitage, Bad Ragaz Hamdy S et al. (1998) Long-term reorganisation of human motor cortex driven by short-term sensory stimulation. Nature Neuroscience 1:64-68 Hamdy S et al. (1999) Cortical activation during human volitional swallowing: an event-related fMRI study. The American Physiological Society Hamdy S (2003) The organisation and re-organisation of human swallowing motor cortex. Transcranial Magnetic Stimulation and Transcranial Direct Current Stimulation (Supplements to Clinical Neurophysiology, Vol. 56). Elsevier Science B.V. Herschkowitz N (2008) Was stimmt? Das Gehirn. Die wichtigsten Antworten. Herder, Freiburg Hofstetter C (2008) Bobath-Therapie bei Erwachsenen In: Viebrock H, Forst B (Hrsg) Therapiekonzepte in der Physiotherapie, Thieme, Stuttgart. S 89 Horak F (1991) Assumptions Underlaying Motor Control for Neurologik Rehabilitation. Contemporary Management of Motor Problems, Chapter 4. Proceedings the II Step Conference, Alexandria The Foundation for Physical Therapy 16 Horst R (2005) Neuromuskuläre Untersuchungen, Therapie und Management In: Von Piekartz H et al (Hrsg) Kiefer, Gesichts- und Zervikalregion. Thieme, Stuttgart. S 269-282 Huckabe M L, Doeltgen S (2009) In: Stanschuss S (Hrsg) Evidenzentwicklung in der Dysphagiologie: Von der Untersuchung in die klinische Praxis, Dysphagieforum. Schulz- Kirchner, Idstein. S 133 Hüter-Becker A, Dölken M (2004) Physiotherapie in der Neurologie. Thieme, Stuttgart Kandel EC (2007) Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Pantheon München Keshner EA (1991) How Theoretical Framework Biases Evaluation and Treatment, Chapter 6. Proceedings the II Step Conference, Alexandria The Foundation for Physical Therapy 16 Lipp B, Schlegel W (1996) Wege von Anfang an. Frührehabilitation schwerst hirngeschädigter Patienten. Neckar, Villingen-Schwenningen
3
50
3
Kapitel 3 · Motorische Kontrolle und motorisches Lernen in der F.O.T.T.
Lazarus C et al. (2003) Effects of two types of tongue strengthening exercises in young normals. Folia Phoniatr Logop Jul-Aug; 55(4): 199-205 Logemann JA (1993) Intro to Swallowing disorders Kursunterlagen. Academisch Ziekenhuis Utrecht Mayston Margaret (2001) Problem solving in neurological physiotherapy – setting the scene In: Edwards S (ed) Neurological physiotherapy: a problem-solving approach, 2nd ed. Churchill Livingstone, Elsevier Merzenich MM, Kaas JH et al. (1983) Progression of change following median nerve section in the cortical representation of the hand in areas 3b and 1 in adult owl and squirrel monkeys. Neuroscience 10:639-665 Montgomery PC (1991) Perceptual Issues in Motor Control, Chapter 18. Proceedings the II Step Conference, Alexandria The Foundation for Physical Therapy 16 Power M et al. (2004) Am J Physiol. Gastrointest Liver Physiol. 286 G45-G50 Robbins JA et al. (2005) The effects of lingual exercise on swallowing in older adults. J Am Geriatr Soc. Sep; 53(9):1483-9 Robbins JA et al. (2007) The effects of lingual exercise in stroke patients with dysphagia. Arch Phys Med Rehabil Feb 88(2):150-8 Robbins JA et al. (2008) Swallowing and Dysphagia Rehabilitation: Translating Principles of Neural Plasticity Into Clinically Oriented Evidence. Journal of Speech, Language and Hearing Research Vol. 51, S 276-300 Schewe H (1988) Die Bewegung des Menschen. Thieme, Stuttgart Schewe H (2000) Wege zum Verständnis von Bewegung und Bewegungslernen. In: Gefangen im eigenen Körper. Neurorehabilitation. Neckar, Villingen-Schwenningen Shumway-Cook A, Woollacott M (2007) Motor control Theory and practical applications, 3rd ed. Lippincott Williams & Wilkins, Baltimore Umphred DA (2000) Neurologische Rehabilitation, Bewegungskontrolle und Bewegungslernen in Theorie und Praxis. Rehabilitation und Prävention, Bd 52. Springer, Berlin Van den Berg F (2008) Angewandte Physiologie. Thieme, Stuttgart Van Cranenburg B (2007) Neurorehabilitation. Elsevier, München Veldee MS, Peth LD (1992) Can protein-calorie malnutrition cause dysphagia? Dysphagia 7(2):86-101 Wulf G (2007) Motorisches Lernen, Physiopraxis. Refresher. 1.07./2.07. Thieme, Stuttgart Yue G, Cole KJ (1992) Strength increases from the motor program: comparison of training with maximal voluntary and imagined muscle contractions. Journal of Neurophysiology, Vol 67, Issue 5:1114-1123
4
Haltungshintergrund »Wir schlucken mit dem Becken …« Karin Gampp Lehmann, Heike Sticher
4.1
Grundlagen: Physiologie/Haltung
– 52
4.1.1 Haltungshintergrund – 52 4.1.2 Dynamische Stabilität – 55
4.2
Grundlagen: Anatomie/Physiologie des Schluckens
4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.2.7 4.2.8 4.2.9
Os hyoideum – 55 Brustwirbelsäule – Halswirbelsäule – Schulterblatt – Os hyoideum Halswirbelsäule – Os hyoideum – 58 Os temporale – Os hyoideum – 59 Mandibula – Os hyoideum – 59 Zunge – Os hyoideum – 60 Larynx – Os hyoideum – 61 M. cricopharyngeus – Os hyoideum – 61 Thorako-abdominale Verbindungen – 62
4.3
Therapie
– 64
4.3.1 Physiologische Bewegungen und Ausgangsstellungen 4.3.2 Patientenbeispiele – 66
Literatur
– 55
– 70
– 64
– 56
52
4
Kapitel 4 · Haltungshintergrund »Wir schlucken mit dem Becken …«
Der Titel »Wir schlucken mit dem Becken« mag provokant oder irritierend klingen, in der praktischen Arbeit der F.O.T.T. (Facial Oral Tract Therapy) soll diese Aussage die Zusammenhänge zwischen Haltung und Motorik hervorheben. Ein Patient mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma, nach einem Apoplex oder mit einer schweren neurologischen Erkrankung ist häufig nicht in der Lage, seine Position selbständig in einer physiologischen und dynamischen Art und Weise zu verändern. Die Gründe dafür können sehr vielfältig sein: Neben fehlender Kraft sind es häufig auch mangelnde oder verzerrte sensorische und sensomotorische Informationen oder Schwierigkeiten bei der Verarbeitung der entsprechenden Informationen. Die Informationen können dadurch nicht adäquat eingeordnet werden. Der Patient wird sich bewegen, seine Position verändern – aber nur so, wie es ihm durch seine veränderte Sensomotorik möglich ist. Die Bewegungen werden z.B. stereotyp und können nicht variabel angepasst werden. Durch eine Hirnschädigung ist der gesamte Mensch betroffen, nicht nur bestimmte Nerven- oder Muskelgruppen. So ist eine Schluckstörung häufig kein isoliertes Problem, sondern ein Teil eines »Gesamtproblems« (Gratz u. Woite 2000). Für die Arbeit mit Patienten in der neurologischen Rehabilitation ist es wichtig, dass kein behandlungsbedürftiger Bereich isoliert betrachtet wird, sondern der Mensch immer individuell in seinen funktionellen Zusammenhängen gesehen wird. In diesem Kapitel werden anatomische und funktionelle Beziehungen aufgezeigt zwischen einzelnen Körperstrukturen und motorischen Aktivitäten und daraus physiologische bzw. unphysiologische Haltung erklärt: zuerst allgemeiner Art und danach detailliert bezogen auf das Schlucken. Mithilfe dieses Wissens um die funktionellen Zusammenhänge und möglichen Abweichungen bei neurogenen Schädigungen können in der Arbeit mit neurologischen Patienten muskuläre Fehlfunktionen, Haltungsveränderungen und ihre Auswirkungen spezifisch analysiert und therapiert werden. Es soll begründet werden, warum die alleinige Behandlung des fazio-oralen Trakts ohne Einbeziehung des gesamten Körpers zu Ausgangsstellungen führen kann, die dem Patienten das Wiedererlernen möglichst effektiver und sicherer Bewegung unter Umständen verunmöglichen (NusserMüller-Busch 1997, Gampp 1991, 1994).
Wir wollen dem Patienten eine optimale Möglichkeit bieten, normale, d.h. variable und modifizierbare Bewegung im fazio-oralen Trakt zu erfahren. Wir Therapeuten arbeiten deshalb vorbereitend und begleitend immer auch an der Grundlage, nämlich an physiologischer Haltung und möglichst uneingeschränkter Bewegung. Dazu brauchen wir die Fähigkeit, Spannungsunterschiede und Verkürzungen wahrzunehmen, zu analysieren
und vor allem ihre Ursachen (meist sekundär, krankheitsbedingt und/oder haltungsbedingt) zu differenzieren. Unabdinglich sind fundierte Kenntnisse der Anatomie und der funktionellen Zusammenhänge und vor allem wache Augen und Hände, die gewohnt sind, Patienten zu berühren und feinste Spannungsunterschiede wahrzunehmen.
Grundlagen: Physiologie/Haltung
4.1
> Beachte Unser Körper ist darauf ausgerichtet, alle Bewegungen effektiv, sicher und ökonomisch durchzuführen.
Unsere 7 Bewegungsmuster sind teilweise bereits vor der Geburt angelegt, teilweise werden sie erst nach der Geburt gelernt, danach ständig benutzt, weiter verfeinert und dadurch optimiert (automatisierte Bewegungen). Mit der Zeit werden sich Eigenheiten ausbilden: Gewisse individuelle Muster verfestigen sich, andere Bewegungsabläufe sind nicht mehr so fließend, es werden Umwege gemacht, oder es muss – bei Fehlhaltungen – gar kompensiert werden. Das hat einerseits mit Gewohnheiten und andererseits auch mit »Abnutzung« zu tun.
4.1.1
Haltungshintergrund
» Es muss betont werden, dass die Haltung die Basis jeder Bewegung ist und dass jede Bewegung aus der Haltung ihren Anfang nimmt und in ihr endet. (Wright 1954)
«
In unserem Körper befinden sich auf kleinstem Raum viele verschiedene Strukturen (Knochen, Muskeln, Sehnen, Nerven, Blutgefäße, Bindegewebe ...), die miteinander in Beziehung stehen, aufeinander aufbauen und gemeinsam funktionieren müssen. Da der Mensch eine unendliche Anzahl von Bewegungsmöglichkeiten hat, braucht er ein gut koordiniertes System von begleitender Haltung – 7 Haltungshintergrund – um zu jeder Zeit zu gewährleisten, dass er nicht aus dem Gleichgewicht gerät – gleichzeitig aber einfache oder komplexere Funktionen effizient ausführen kann (Davies 1994, Edwards 1996, Umphred 2000). Dieser flexible Haltungshintergrund wird von K. Bobath (1980) umschrieben mit »angehaltene Bewegung in jedem Augenblick eines Bewegungsablaufes«, von Davies (1991) als »dynamische Stabilität« oder auch »stabile Dynamik«, von Vojta (1992) als »Jede Bewegung wird von einer ausgewogenen, automatisch gesteuerten Körperhaltung begleitet (posturale Aktivität)« und von van Cranenburgh (2007) als »Je schwieriger die Fertigkeit, umso
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
53 4.1 · Grundlagen: Physiologie/Haltung
. Abb. 4.1. Normale Sitzhaltung
. Abb. 4.3. Veränderte Sitzhaltung
höhere Anforderungen werden an die Ausgangssituation gestellt«. Der Haltungshintergrund kann niemals starr sein, da er Bewegung begleiten soll, sondern er muss stabil und dennoch jederzeit modifizierbar, änderbar sein (Shumway-Cook u. Woollacott 2007).
Ausgangsstellung normale Sitzhaltung aufgezeigt werden (. Abb. 4.1). Beim Sitzen am Tisch, z.B. beim Essen, ist das 7 Becken als Basis des Sitzens nach vorne gekippt, die Belastung wird an den Sitzhöckern spürbar. Die Füße stehen auf dem Boden, Hüften und Knie sind flektiert (+/– 90°). Lenden-, Brust- und Halswirbelsäule sowie der Kopf richten sich entsprechend darüber aus; es entsteht eine S-Form der Wirbelsäule, wobei die 7 Schwerkraftlinie zwischen die Sitzhöcker fällt. Aus diesem optimalen Haltungshintergrund heraus ist es normalerweise möglich, den Kopf (. Abb. 4.2) in jede beliebige Richtung zu drehen oder zu neigen, mit seinem Nachbarn zu reden und die Hände frei zu benutzen, zu kauen und zu schlucken. Auch das Os hyoideum (Hyoid, Zungenbein) und der Larynx (Kehlkopf) sind dabei in alle Richtungen frei beweglich. Ebenso hat das Diaphragma thorakale (Zwerchfell) in dieser Stellung eine große Bewegungsfreiheit, was für eine uneingeschränkte Atmung beim Essen wichtig ist.
jPhysiologische Sitzhaltung bei der Nahrungsaufnahme
Als Beispiel soll der Zusammenhang zwischen Becken, Lenden-, Brust- und Halswirbelsäule sowie Kopf in der
jVeränderte Sitzhaltung
. Abb. 4.2. Das funktionelle Gleichgewicht des Kopfes
Oft sehen wir bei Patienten, dass das Becken infolge einer Haltungsinsuffizienz nicht mehr 7 nach vorne gekippt ist, sondern nach hinten (. Abb. 4.3). Die Folge davon ist, dass die Belastung jetzt nicht mehr an den Sitzhöckern zu spüren ist, sondern dahinter. Es wird zu einer nach oben weiterlaufenden 7 Flexion der Lendenwirbelsäule kommen und daraus resultierend zu vermehrter 7 Kyphose der Brustwirbelsäule, die dann zu einer 7 Flexion der Halswirbelsäule führt. Da jeder Mensch aber das Bedürfnis hat, etwas von der Welt oder seinem Gegenüber zu sehen, wird die Augenlinie nicht
4
54
Kapitel 4 · Haltungshintergrund »Wir schlucken mit dem Becken …«
Unter der Lupe Zusammenhang: Kopfstellung und Schluckvorgang Eine Untersuchung (Castell et al. 1993) zeigt interessante Zusammenhänge zwischen Veränderung der Kopfstellung und Ablauf des Schluckvorgangs. Im Pharynx und am oberen Ösophagussphinkter (oÖS) wurden während des Schluckens manometrische Messungen vorgenommen und zwar jeweils bei einer Kopf-7 Flexion von 30 Grad, 15 Grad, 0 Grad und dann bei zunehmender Kopf-7 Extension von 15 Grad, 30 Grad und 45 Grad. Die Ergebnisse zeigen, dass die Kopfflexion keine nennenswerten Effekte auf Pharynxkontraktion oder oÖS-Öffnung hatte. Mit zunehmender Kopfextension erhöhte sich die Grundspannung des oÖS jedoch markant, die oÖS-Öffnungszeiten verkürzten sich dabei ebenso markant, und die Koordination zwischen Pharynxkontraktion und oÖS-Öffnung verschlechterte sich zunehmend bis zu dem Punkt, an dem sich der oÖS erst verspätet nach Beginn der Pharynxkontraktionen öffnete und verfrüht vor Ende der Pharynxkontraktion wieder verschloss.
4
. Abb. 4.4. Ungleichgewicht des Kopfes
zum Boden gerichtet bleiben, sondern sie wird sich wieder horizontal einstellen; dadurch kommt es zu einer kompensatorischen 7 Hyperextension der oberen Halswirbelsäule also zu einem sehr »kurzen Nacken«. Häufig ist hierbei eine gleichzeitige Translation (Verschiebung) des Kopfes nach vorne und eine Rückverlagerung des Unterkiefers (ggf. auch Schmerz im Kiefergelenk) zu beobachten (. Abb. 4.4, Engström 2001). Verändert sich nur schon einer dieser eben genannten Faktoren, hat dies sofort Auswirkungen auf die anderen hier beschriebenen Strukturen (Engström 2001, Liem 1998, Orth u. Block 1987). Die vorher übereinander aufgerichteten Strukturen sind jetzt im Ungleichgewicht und können ihre Funktionen deshalb biomechanisch nicht mehr regelrecht ausführen. Bei Gesunden kann dies mit Muskelkraft ausgeglichen werden, bei Patienten fehlen aufgrund der primären Schwächen meistens die spontanen Kompensationsmöglichkeiten. ! Vorsicht 4 Schon kleine Verlagerungen des Beckens (Kippen) nach dorsal bewirken Veränderungen der oberen Halswirbelsäule in Richtung verstärkter 7 Extension (30–40°). 4 Schon kleine Veränderungen der oberen Halswirbelsäule in Richtung Extension von 8° bewirken eine Veränderung der Unterkieferstellung nach dorsal von 1 mm (von Piekartz 2009).
Eine verstärkte Extension der Halswirbelsäule hat sofortigen und direkten Einfluss auf alle am Schluckvorgang beteiligten Strukturen wie Gelenke, Muskeln, Faszien, Ligamente, Nerven etc. (Orth u. Block 1987, Liem 1998, Sasaki 1985, Schewe 1988). Achtet man in . Abb. 4.3 auf den Bereich unterhalb des Beckens, werden auch hier Auswirkungen sichtbar. Als Gegengewicht für die Verlagerung des Rumpfes nach hinten strecken sich die Beine in Knie und Hüfte (evt. sogar auch noch die Arme), d.h., die Füße stehen nicht mehr auf dem Boden, sondern gleiten nach vorne über ihn hinweg, und der Kopf 7 translatiert nach vorne. Die beschriebenen Reaktionen sind normal und bei allen Menschen in verschiedenen Alltagssituationen zu beobachten (Edwards 1996, Engström 2001), z.B. beim Sitzen in einem Liegestuhl oder Rollstuhl. jZusammenfassung Mit einem intakten sensomotorischen System kann die
Körperposition, der Haltungshintergrund modifiziert oder angepasst werden. Dies ist in einer großen Bandbreite möglich, wenn die Voraussetzungen zu normaler Bewegung gegeben sind (Panturin 2001, Shumway-Cook u. Woollacott 2007, Umphred 2000). Bei völlig intakter Sensomotorik ist Essen und Schlucken aus fast jeder Ausgangsstellung möglich, da der Körper dann unzählige Kompensationsmöglichkeiten hat. Sind Sensomotorik und die flexiblen Kompensationsmöglichkeiten eingeschränkt, muss die Ausgangsstellung entsprechend physiologischer Grundsätze optimiert werden.
55 4.2 · Grundlagen: Anatomie/Physiologie des Schluckens
4.1.2
Dynamische Stabilität
Um den unzähligen verschiedenen Funktionen gerecht werden zu können, muss unser Körper viele verschiedene, zeitlich und räumlich komplexe und hoch koordinierte Bewegungen ausführen. > Beachte Ein und dieselbe Struktur kann je nach Bewegungsablauf unterschiedliche, oft gegensätzliche Aufgaben erfüllen. Sie kann einmal stabilisierend und das andere Mal agierend (mobil) tätig sein.
jPunctum stabile/Punctum mobile Unter der Lupe Der Begriff »Muskelzugrichtung« Wird in der Vojta-Therapie (Vojta 1992) verwendet und beschreibt folgenden Vorgang: Muskeln haben jeweils einen Ansatz und einen Ursprung. Die Muskelzugrichtung und damit die Richtung der Bewegung ist normalerweise vom Ansatz hin zum Ursprung, da der Ursprung als Punctum stabile (der Ansatz als Punctum mobile) dient. Dies kann sich aber umkehren, wenn der Ansatz zum Punctum stabile wird und sich dann der Ursprung dem Ansatz nähert (7 Kap. 4.2).
Durch den Wechsel einer Struktur in ihrer Funktion (als Punctum stabile oder Punctum mobile) bietet sich eine breitere Funktionsfähigkeit. Durch den Wechsel von Punctum stabile und Punctum mobile kann es zur Änderung der Muskelzugrichtung kommen. > Beachte Dynamische Stabilität bedeutet, dass die Funktion bestimmt, wann eine Struktur als Punctum stabile oder Punctum mobile benutzt wird. Damit ist auch die Fähigkeit gegeben, schnell und adäquat zwischen Punctum stabile und Punctum mobile hin und her zu wechseln. Dies erfordert einen flexiblen Haltungshintergrund, d.h. die Fähigkeit, seine Haltung und Position verändern zu können. Diese Fähigkeit des Wechsels zwischen Punctum stabile und Punctum mobile trägt viel zur Ökonomie und Effektivität von Bewegungen bei, setzt aber eine große Selektivität von Bewegungen voraus.
Um den funktionellen Zusammenhang zwischen der Haltung der Wirbelsäule und der an der Schlucksequenz beteiligten ossären (knöchernen) und faszialen Strukturen und der entsprechenden Muskulatur aufzuzeigen, folgen genauere anatomisch-funktionelle Betrachtungen, mit denen unsere These »Wir schlucken mit dem Becken« untermauert werden soll. Daraus können Überlegungen zur je-
weils physiologischen Ausgangsstellung für die Patienten abgeleitet werden.
4.2
Grundlagen: Anatomie/Physiologie des Schluckens
4.2.1
Os hyoideum
Das Os hyoideum (Zungenbein, Hyoid) ist ein hufeisenförmiger Knochen an der Knickstelle zwischen Mundboden und Hals auf Höhe des 3. Halswirbelkörpers. Als einziger Knochen im Körper hat es keine knöcherne Gelenkverbindungen, sondern ist nur über Muskeln, Ligamente und Faszien mit anderen Knochen verbunden (. Abb. 4.5 a, b) (Liem 1998, Sobotta 2000, Upledger u. Vredevoogd 1996). Diese Verbindungen bestehen zur Mandibula (Unterkiefer), zum Os temporale (Schläfenbein), zum Sternum (Brustbein), zur Klavikula (Schlüsselbein), zur Skapula (Schulterblatt) und zur Wirbelsäule. Von Upledger (Upledger u. Vredevoogd 1996) wird das Os hyoideum als schwimmender Anker beschrieben, der einerseits über Muskeln und Faszien mit den darunterliegenden Partien (Kehlkopf, Sternum etc.) verbunden ist und andererseits den Muskeln des Schädels Fixationsmöglichkeiten bietet, u.a. auch der Muskulatur der Mandibula und der Zunge (. Abb. 4.5 c). jSpezielle Funktionen des Os hyoideum > Beachte Das Os hyoideum hat wechselnde Funktionen als Punctum stabile oder Punctum mobile bei allen Bewegungen der oralen und der pharyngealen Phase des Schluckens!
In . Übersicht 4.1 sind die verschiedenen Funktionen des Os hyoideum beschrieben. Durch die Umkehr von Punctum stabile (vorher: Os hyoideum, jetzt: Mandibula) und Punctum mobile (vorher: Mandibula, jetzt: Os hyoideum) kann eine Änderung der Muskelzugrichtung stattfinden, d.h., die Muskulatur, die vorher den Unterkiefer zum Beißen und Kauen geöffnet hat, ermöglicht jetzt die Hebung von Os hyoideum und Larynx beim Schlucken nach vorne/oben (. Abb. 4.6 d). ! Vorsicht Ein koordiniertes Zusammenspiel der Muskulatur, die am Os hyoideum Ansatz oder Ursprung hat, ist für das muskuläre Gleichgewicht und die dynamische Stabilität im Kopf-/Halsbereich wichtig!
Ist einer dieser Muskeln nicht mehr in der Lage, seine Funktion – anspannen oder loslassen – auszuführen, oder kommt es zu fixierenden Längenveränderungen der Struk-
4
56
Kapitel 4 · Haltungshintergrund »Wir schlucken mit dem Becken …«
. Übersicht 4.1. Funktionen des Os hyoideum 4 Punctum stabile bei Kieferöffnung Stützpunkt und Stabilisierung für Bewegungen der Mandibula. Gleichzeitig wird dabei das Os hyoideum durch die 7 infrahyoidale und 7 retrohyoidale Muskulatur und durch den M. constrictor pharyngis medius stabilisiert (. Abb. 4.6 a, b; Liem 1998). 4 Punctum mobile bei Kieferschluss und beim Schlucken Bei stabilisierter Mandibula kann sich das Os hyoideum 7 kranial/7 ventral bewegen und zieht so aufgrund seiner Verbindungen den Larynx (Kehlkopf ) und die sich anschließenden Strukturen bis zum oÖS mit (. Abb. 4.6 c).
4 a
turen, kann es zu Funktionsstörungen aller umliegenden Muskeln kommen. Das Bild des schwimmenden Ankers zeigt eindrücklich, wie labil dieses funktionelle Gleichgewicht sein kann. Das Os hyoideum kann somit als sensibler Marker dienen (Paik 2008). Gleichzeitig ist aber festzuhalten, dass Schlucken ohne Os hyoideum möglich ist, z.B. bei Patienten mit nicht-neurogenen Ätiologien, nach Hyoidektomie im Rahmen einer Laryngektomie, einer horizontalen Kehlkopf-Teilresektion oder einer Halszysten-OP. b
4.2.2
c . Abb. 4.5 a-c. Das Zungenbein. a, b Lage des Os hyoideum (Zungenbein). c Das Os hyoideum in seiner Funktion als schwimmender Anker
Brustwirbelsäule – Halswirbelsäule – Schulterblatt – Os hyoideum
Als Auswirkung der bereits beschriebenen veränderten Beckenstellung (nach hinten gekippt, . Abb. 4.3) ergibt sich im Sitz eine verstärkte 7 Kyphose der Brustwirbelsäule (BWS) und – zur Aufrechterhaltung des Blickkontakts – eine verstärkte 7 Extension der Halswirbelsäule (HWS). Die Schulterblätter werden dabei hochgezogen (die Muskulatur hilft, das Gewicht von Kopf und HWS zu tragen). Die Schulterblattstellung beeinflusst den und wird beeinflusst vom M. omohyoideus (. Abb. 4.7). Da der M. omohyoideus durch seinen Verlauf indirekt beugend auf die Kopf- und Halsgelenke wirkt, wird er bei einer 7 Hyperextension der oberen HWS in seinem 7 kranialen Teil gedehnt und zieht dadurch das Os hyoideum nach 7 kaudal, was wiederum eine ausgleichende Gegenspannung der 7 suprahyoidalen Muskulatur zur Folge hat. Ist durch diese 7 Hyperextension der Raum für den Austritt der Nerven (der M. omohyoideus wird von den ersten Zervikalnerven innerviert) zu eng, kann es dort zu Druckläsionen und dadurch zur Beeinträchtigung – z.B. Schwäche – der »ungenügend« innervierten Muskulatur kommen (Liem 1998, Upledger u. Vredevoogd 1996).
57 4.2 · Grundlagen: Anatomie/Physiologie des Schluckens
a
c
b
d
. Abb. 4.6 a-d. Das Os hyoideum. a Os hyoideum als Punctum stabile. b Funktion: Öffnung des Unterkiefers. c Os hyoideum als Punc-
tum mobile. d Funktion: Hebung des Os hyoideum nach kranial/ ventral beim Schluckvorgang gegen den stabilen Unterkiefer
4
58
Kapitel 4 · Haltungshintergrund »Wir schlucken mit dem Becken …«
4 a
. Abb. 4.7. Lage des M. omohyoideus
b . Abb. 4.9 a, b. Lage des M. constrictor pharyngis medius a von lateral links, b von dorsal
. Abb. 4.8. Stabilisation des Os hyoideum nach dorso-kranial
! Vorsicht Folgt man dieser Erklärung, dann macht es bei Schwäche keinen Sinn, die suprahyoidale Muskulatur oder die Zunge kräftigende Übungen ausführen zu lassen, ohne vorher genaue funktionelle und strukturelle Abklärungen durchzuführen! Es wird in die Pathologie hineingearbeitet.
4.2.3
Halswirbelsäule – Os hyoideum
Eine 7 Hyperextension der oberen HWS bewirkt 4 eine Verengung der neuralen Austrittsstellen 7 dorsal: Dies kann direkten Einfluss auf das Os hyoideum haben, da der M. geniohyoideus auch vom ersten Zervikalnerv sowie vom N. hypoglossus innerviert wird (Umphred 2000). Die 7 ventrale 7 infrahyoidale Mus-
kulatur sowie der oben erwähnte M. omohyoideus werden ebenfalls von den ersten zervikalen Nerven innerviert (Ansa cervicalis); 4 eine Verkürzung der Distanz zwischen Os temporale und Os hyoideum (. Abb. 4.8): Dadurch kommt es zu einer Dehnung der 7 ventralen Strukturen 7 suprahyoidal und als Folge u.U. zu einer Gegenspannung der 7 infrahyoidalen Muskulatur: Der M. constrictor pharyngis medius verliert seine optimale Ausdehnung und kann als Folge in seiner Funktion – Peristaltik des Pharynx – eingeschränkt sein. Der M. constrictor pharyngis medius setzt am Os hyoideum und an der Raphe pharyngis an. Diese wiederum ist an der Schädelbasis befestigt und über straffes Bindegewebe mit den Halswirbeln verbunden. Aufgrund dieser Verbindungen kann es über den M. constrictor pharyngis medius zu Wechselwirkungen zwischen HWS und Os hyoideum kommen (. Abb. 4.9 a, b, Liem 1998). Auch die 7 ventralen Halsfaszien (z.B. läuft die Lamina 7 suprahyoidea vom oberen Rand des Os hyoideum zu beiden Seiten des Unterkiefers) haben einen starken Einfluss auf die Beweglichkeit des Os hyoideum (Liem 1998).
59 4.2 · Grundlagen: Anatomie/Physiologie des Schluckens
4.2.4
Os temporale – Os hyoideum
Der M. stylohyoideus und das gleichnamige Ligamentum bilden eine Verbindung vom Os hyoideum zum Os temporale: vom Corpus ossis hyoidei zum Proc. styloideus. Ebenso bildet der M. digastricus eine Verbindung vom Os hyoideum zum Os temporale, indem er mit dem M. digastricus venter posterior (hinterer Anteil des M. digastricus) am Proc. mastoideus ansetzt und mit seinem vorderen Anteil, dem M. digastricus venter anterior an der Mandibula (Unterkiefer). Diese Muskeln bilden das Gleichgewicht nach dorso- 7 kranial und stabilisieren beim Schlucken auch in diese Richtung (. Abb. 4.10). ! Vorsicht Der M. stylohyoideus und der Venter posterior des M. digastricus werden vom N. facialis innerviert. Der Venter anterior des M. digastricus wird vom N. trigeminus innerviert. Bei entsprechenden neuralen Läsionen ist an diese Innervationen zu denken!
Hält die 7 Hyperextension der oberen HWS über längere Zeit an, kann es zu Kontrakturen (Verkürzungen) der Verbindungen zwischen Os temporale und Os hyoideum kommen. So ist es möglich, dass der Kopf nur noch mit vermehrtem Kraftaufwand in der Neutralstellung gehalten werden kann, und dass es in dieser Neutralstellung zu einem Spannungsgefühl (Würgen) kommt, da das Os hyoideum – durch die Kontraktur der Muskulatur (M. digastricus und M. stylohyoideus) – zu weit nach dorso-7 kranial gezogen wird. Langjährige Erfahrungen aus der physiotherapeutischen Praxis von Gampp Lehmann zeigen: 4 Schon bei gesunden Personen kann eine arbeitsplatzbedingte, täglich mehrstündige unphysiologische Sitzhaltung (z.B. bei Bildschirm-Arbeit) zu Kontrakturen der Extensoren der oberen HWS und der Verbindungen zwischen Os temporale und Os hyoideum führen und bei 7 Flexion der oberen HWS ein Würgegefühl erzeugen! 4 Viele unklare Globusgefühle (das Gefühl eines Fremdkörpers, der im Hals steckt) lassen sich mit der Dehnung der Os-hyoideum-Verbindungen im Zusammenhang mit der Stellung der oberen Halswirbelsäule und der Stellung des Diaphragma thoracale beheben (7 Kap. 4.2.8). Fazit Aufgrund dieser Zusammenhänge ist es wahrscheinlich, dass das sekundär beeinträchtigte Spannungsgleichgewicht der hyoidalen Muskulatur (z.B. als Folge neurogener Schädigungen) für die oft eingeschränkte kranioventrale Bewegung von Os hyoideum und Larynx beim Schlucken verantwortlich ist.
Es ist durchaus denkbar, dass die häufig als erfolgreich beschriebene Kopf-Hebe-Übung nach Shaker (ShakerExercise) ihre eigentliche Wirksamkeit aufgrund obiger Zusammenhänge erhält. Bei idealer Ausführung der Übung kommt es zu einer optimalen Flexion der oberen Halswirbelsäule und damit zu einer regulierenden Dehnung der oft verkürzten dorsalen Hyoidmuskulatur. > Beachte 4 Die Bewegungen des Os hyoideum nach 7 kranial sind eng mit Geschehnissen in der Mundhöhle verknüpft, 4 die Bewegung des Os hyoideum nach anterior hingegen ist eng mit der Öffnung des oberen Ösophagussphinkters (oÖS) verknüpft (Ishida u. Palmer 2002, Paik 2008).
i Praxistipp Die wechselnde Arbeit an der Flexion der oberen HWS und freier Hyoidbeweglichkeit vor allem nach kaudal und lateral in Form von sanften Dehntechniken bei vertiefter Atmung in völlig entspannter physiologischer Ausgangsstellung der Patienten ist die wichtigste Grundlage für das Erreichen der vollen Beweglichkeit aller hier beschriebenen Strukturen. Erst dann wird es dem Patienten möglich, ohne passiven Widerstand der Strukturen aktiv zu bewegen und zu schlucken.
Wir wissen oft nicht, welche Kräfte bei Schädel-Hirn-Verletzungen auf die Halswirbelsäule eingewirkt haben. Wir können aber aufgrund der Kopfverletzung häufig davon ausgehen, dass die HWS ein Distorsionstrauma (Schleudertrauma) erlitten hat. Unter Berücksichtigung der biomechanischen Folgen solcher HWS-Veletzungen müssen wir der physiologischen Haltung des Kopfes entsprechende Beachtung schenken und Kopf-Hals-Übungen gegen Widerstand unbedingt vermeiden!
4.2.5
Mandibula – Os hyoideum
Durch den M. digastricus (. Abb. 4.10 a), den M. geniohyoideus (. Abb. 4.10 b) und den M. mylohyoideus (. Abb. 4.10 c) ist der Unterkiefer mit dem Os hyoideum muskulär verbunden. Diese Muskeln bilden den Mundboden. ! Vorsicht Ist das Os hyoideum zu sehr 7 dorsal oder 7 kaudal blockiert und verliert dadurch seine Funktion als Punctum mobile oder Punctum stabile, wird in der Folge auch der M. geniohyoideus den Unterkiefer vermehrt unten halten. Dies erschwert den Kieferschluss und die Zungenfunktion beim Schlucken (Upledger u. Vredevoogd 1996).
4
60
Kapitel 4 · Haltungshintergrund »Wir schlucken mit dem Becken …«
4.2.6
4 a
Zunge – Os hyoideum
Eine vermehrte 7 dorsale oder 7 kaudale Fixation des Os hyoideum kann einen entsprechenden Zug auf den M. hyoglossus (. Abb. 4.11 a) und den M. chondroglossus (. Abb. 4.11 b) bewirken. Dadurch können wiederum sowohl die Zunge wie auch der Unterkiefer einen vermehrten Zug in dieselbe Richtung nach 7 kaudal erfahren, was gerade die oft schon beeinträchtigte Hebung der Zunge weiter erschwert. Aufgrund ihrer muskulären und ligamentären Verbindungen wird das Spannungsgleichgewicht der Zunge
a b
b
c
c . Abb. 4.10 a-c. Muskuläre Verbindungen zwischen Os hyoideum und Mandibula. a M. digastricus, b M. geniohyoideus, c M. mylohyoideus
c . Abb. 4.11 a-c. Muskuläre Verbindungen zwischen Os hyoideum und Zunge. a M. hyoglossus, b M. chondroglossus, c Spannungsgleichgewicht der Zunge
61 4.2 · Grundlagen: Anatomie/Physiologie des Schluckens
von Os hyoideum, Mandibula und Os temporale beeinflusst (. Abb. 4.11 c; Ishida u. Palmer 2002, Liem 2000). Im Umkehrschluss wird so ersichtlich, wie sehr die Zungenfunktion von einer optimalen Kopfhaltung – und damit von der Beckenstellung – abhängig ist.
! Vorsicht
i Praxistipp Der Kieferkontrollgriff wird in der F.O.T.T. primär als Stabilisierungshilfe für den Unterkiefer angeboten, um das Punctum stabile adäquat zu unterstützen, d.h. der Zunge einen stabilen Referenzpunkt zu geben, die Transportbewegung einzuleiten und somit den oralen Transport von Speichel und Nahrung zu fazilitieren. Der Kieferkontrollgriff ermöglicht dadurch eine Optimierung der Muskelfunktion und eine qualitativ verbesserte Ausführung der Bewegung (. Abb. 4.6 d). Die Strukturen können unter biomechanischen Gesichtspunkten regelrecht arbeiten.
4.2.7
kranio- 7 ventraler Bewegung. Dadurch wird u.a. die Stellung der Epiglottis (Kehldeckel) und der Cartilago arytaenoidea (Stellknorpel) beeinflusst (Beachte auch das Lig. hyoepiglotticum als Verbindung zwischen Os hyoideum und Epiglottis, . Abb. 4.12 b).
Larynx – Os hyoideum
Der M. thyrohyoideus (. Abb. 4.12 a) zieht den Larynx beim Schlucken an das Os hyoideum und folgt so dessen
a
Eine veränderte Stellung des Os hyoideum und damit eine veränderte Spannung der 7 infrahyoidalen Muskeln kann Heiserkeit und Schluckstörungen zur Folge haben (Liem 1998).
4.2.8
M. cricopharyngeus – Os hyoideum
Über den Cartilago cricoidea (Cricoidknorpel, Ringknorpel) hat der Kehlkopf eine direkte Verbindung zum oberen Ösophagus-Sphinkter (oÖS, . Abb. 4.13 a). Die Verbindung verläuft über muskuläre und ligamentäre Strukturen vom Os hyoideum über den Larynx zur Cartilago cricoidea und schließlich zum M. cricopharyngeus als Teil des oÖS (. Abb. 4.13 b). Der M. cricopharyngeus ist der 7 kaudale Teil des M. constrictor pharyngis inferior und wird auch als Schlundschnürer bezeichnet.
a
b b . Abb. 4.12 a, b. Larynx. a Lage des M. thyrohyoideus, der den Larynx an das Os hyoideum zieht. b Larynx (Kehlkopf ), Medianschnitt
. Abb. 4.13 a, b. Muskuläre Verbindung zwischen Larynx und Cartilago cricoidea (Ringknorpel). a M. cricopharyngeus (kaudaler Teil des M. constrictor pharyngis inferior) als Teil des oÖS, b M. cricothyroideus
4
62
Kapitel 4 · Haltungshintergrund »Wir schlucken mit dem Becken …«
i Praxistipp
4
Je freier das Os hyoideum in seinen Bewegungen ist, und je weiter es beim Schlucken nach 7 ventral (und 7 kranial) bewegen kann, desto früher und schneller öffnet sich auch der oÖS (Garon et al. 2002, Ishida u. Palmer 2002, Paik 2008, Sasaki 1985). In der F.O.T.T. wird bei Öffnungsstörungen des oÖS besonderes Augenmerk auf die funktionelle Regulation der oberhalb des oÖS liegenden Strukturen gelegt. Die Therapie einer funktionellen Öffnungsstörung des oÖS beginnt aufgrund der funktionellen Zusammenhänge immer am Becken, d.h. mit einer physiologischen Basis als Ausgangsstellung für die Therapie.
4.2.9
Thorako-abdominale Verbindungen
Im Folgenden sollen Faszienverbindungen dargestellt werden, die vom Diaphragma thoracale ausgehend, Auswirkungen nach kranial bis zur Schädelbasis haben und damit direkt auf die schluckrelevanten Strukturen einwirken können. jFaszien Das Mesoderm als Grundstruktur aller Körpergewebe (ausser Haut und Schleimhäute) bildet den Ausgangspunkt der Faszien und der Knochen- und Knorpelgewebe,
die letztlich verdichtete Faszienstrukturen sind. Faszien bilden eine ununterbrochene Gewebeeinheit vom Kopf bis zu den Füßen und von außen nach innen. In der faszialen Kontinuität gibt es keine Unterbrechung. Auch die Ansatzpunkte der Faszien an knöchernen Strukturen sind Übergänge oder (biomechanisch gesehen) Umlenkrollen. In ihrer Struktur können Faszien dicht (Sehnen, Bänder) und widerstandsfähig sein (Faszien des Haltungssystems) oder sehr locker (Drüsen, areoläres Gewebe). Faszien verstärken in dem Maße, in dem sie beansprucht werden, ihre Kollagenfasern und können damit umgehend auf Verletzungen und Überbeanspruchung reagieren. Faszien sind damit das Übertragungssystem für die Kräfte, die Bewegung einleiten und koordinieren. Somit sind Faszien auf allen Ebenen des Körpers präsent: sie umhüllen, stützen, unterteilen, verbinden (Paoletti 2001). ! Vorsicht Faszien können genau wie Muskeln kontrakt werden, wenn sie z.B. aufgrund von fixierter Haltung nicht mehr in ihrer ursprünglichen Ausdehnung gebraucht und bewegt werden. Narben können Fixierungen und Adhäsionen bilden, die sich sehr störend auf die freie Elastizität der Faszien auswirken können.
. Abb. 4.14. Schematische Darstellung der haltungsbeeinflussenden Faszienverbindungen. Nach kranial: von Zwerchfell über Herzbeutel zu Brustbein, Brust-, und Halswirbelsäule. Nach kaudal: über Lendenwirbelsäule, Bauchraum, Oberschenkel bis zu den Füßen. Die Faszienverläufe der oberen Halswirbelsäule und des Schädels sind hier nicht dargestellt
kFaszienverbindungen
Es gibt äußere und innere Faszienverbindungen, auch Faszienketten genannt, wobei die inneren Faszienketten im Zusammenhang mit der F.O.T.T. von besonderer Bedeutung sind. Das Diaphragma thoracale (Zwerchfell, Atemmuskel) als Teil der inneren Faszienkette ist die Schnittstelle und
63 4.2 · Grundlagen: Anatomie/Physiologie des Schluckens
gleichzeitig ein Stoßdämpfer zwischen Thorax und Abdomen (. Abb. 4.14). kFasziale Läsionsketten
Fasziale Läsionsketten sind Faszienketten, deren physiologische Funktion durch Trauma, Überlastung oder veränderte/eingeschränkte Längenverhältnisse gestört ist. Statt Bewegung zu übertragen und harmonisch zu verteilen, werden sie in diesem Fall zu Fixierungspunkten, von denen immer wieder Reizungen und Störungen der Beweglichkeit ausgehen. Funktionsstörungen können entlang einer Faszienkette weiterlaufen und eine Dysfunktion an (von der primären Läsion) weit entfernten Stellen auslösen (Paoletti 2001, van den Berg 2008). kDie wichtigsten Faszienverbindungen in der F.O.T.T.-Arbeit In der Arbeit mit F.O.T.T. spielen vor allem die inneren Faszienverbindungen vom Diaphragma thoracale nach
. Abb. 4.15. Thorakale Faszienverbindungen. Die anatomische Darstellung verdeutlicht die direkten faszialen Verbindungen zwischen Diaphragma (Zwerchfell), Perikard (Herzbeutel) und Pleura parietalis (Lungenfell)
kranial verlaufend eine Rolle. Nach kranial laufen die faszialen Verbindungen vom Diaphragma über Perikard, Pleura, und Fascia endothoracica zu Schulter, HWS und Schädelbasis bzw. weiter in die oberen Extremitäten (. Abb. 4.15). Das Diaphragma (Zwerchfell) hat folgende Aufhängung: 4 Über das Perikard (Herzbeutel), welches direkt mit dem Zwerchfell verbunden ist, wird es mit Bändern von C4–Th4 und am Sternum fixiert (C6 = Höhe oÖS!) (Paoletti 2001, Souchard 1989). 4 Die Pleura parietalis (Lungenfell) ist einerseits mit dem Diaphragma fest verwachsen, andererseits bedeckt sie die Organe des Mediastinums (entspricht einer inneren Schicht der Fascia endothoracica). An der Pleurakuppel ist die Pleura parietalis fest mit der Fascia endothoracica (Brustfell, kleidet Innenseite des Brustkorbs aus) verbunden und bildet hier das zervikothorakale Diaphragma (. Abb. 4.16). Mit starken Bändern ist sie an C6–Th1 aufgehängt (C6 = Höhe oÖS)! Von den Pleurabändern laufen die Verbindungen weiter in die Halsfaszien, über Rachenfaszie, Gaumenfaszie, Flügelgrubenfaszie bis zur Aufhängung an der Schädelbasis (Paoletti 2001). In 7 Kap. 4.2.3 wird die Aufhängung der Raphe pharyngis erwähnt, die ebenfalls ein Teil der faszialen Verbindung ist. > Beachte Es besteht eine bindegewebige Verbindung vom Diaphragma bis zur Schädelbasis (. Abb. 4.17). Innerhalb dieser Verbindungen liegen alle für das Schlucken, Sprechen und Atmen relevanten Strukturen!
Folgende Faktoren können zu Spannungen/Verkürzungen der Faszienverbindungen führen:
. Abb. 4.16. Faszienverbindungen von der Pleurakuppel zum Hals. An der Pleurakuppel, wo Lungen- und Brustfell miteinander verbunden sind, wird das zervikothorakale Diaphragma gebildet. Von hier laufen die faszialen Verbindungen über die Pleurabänder weiter zu den Halsfaszien auf Höhe des oberen Ösophagussphinkters
4 Täglich mehrstündige Sitzhaltung mit flektiertem Rumpf (ventrale Verkürzung). 4 Fehlende oder ungenügende Tiefatmung entweder aufgrund von Haltungsinsuffizienz oder als Folge geschwächter Atem- und Atemhilfsmuskeln (v.a. Zwerchfell, Interkostalmuskulatur und Rückenstrecker). Das Zwerchfell senkt sich dann bei Inspiration nicht regelmäßig nach kaudal ab, es kommt zu einem Zwerchfellhochstand mit hoher Atemmittellage (Brustatmung statt Bauchatmung, . Abb. 8.5).
4
64
Kapitel 4 · Haltungshintergrund »Wir schlucken mit dem Becken …«
Einschränkung der normalen posturalen Funktionen bewirken (Horak 1990, Shumway-Cook u. Woollacott 2007). Unter der Lupe Zusammenhang: Haltungshintergrund und Schluckfähigkeit Eine retrospektive Untersuchung von Detoledo et al. (1994) an 36 Erwachsenen, die seit Geburt behindert waren (Ursachen u.a. perinatale Hypoxie, Meningitis), zeigt ebenfalls den Zusammenhang zwischen Haltungshintergrund und der Fähigkeit zu schlucken auf. Obwohl die orale Ernährung in der 1. und evt. 2. Dekade ihres Lebens möglich war, wurden die Schluckprobleme im Laufe der Zeit so massiv, dass eine orale Ernährung nicht mehr möglich war. Sie mussten mit einer Ernährungssonde versorgt werden. Die Untersucher konstatieren den sich verschlechternden Haltungshintergrund (häufig starke Kyphoskoliose, Kontrakturen an den Extremitäten …) als die Hauptursache für die Zunahme der Schluckprobleme dieser Patienten.
4
. Abb. 4.17. Beschreibung der direkten inneren Faszienverbindungen vom Diaphragma zur Schädelbasis
4 In der Folge kann es bei thorakaler Aufrichtung oder versuchter Tiefatmung zu Spannung der eingeschränkten oder bereits kontrakten faszialen Strukturen und zu einem Zug vom Zwerchfell her auf die Halsfaszien mit den entsprechenden Folgen für Schlucken und Sprechen kommen. 4 Die Strukturen können aufgrund mangelnder Bewegung und mangelnder Ausdehnung ihre Elastizität einbüßen und so eine Dauerspannung verursachen. i Praxistipp Da die nach kranial verlaufenden inneren Faszienverbindungen vom Diaphragma aus direkte Verbindungen zu den Halsfaszien haben, beeinflussen sie mit ihrer Spannung von kaudal her u.a. die freie Beweglichkeit von Larynx und Os hyoideum und können so zu einer Öffnungsstörung des oÖS führen oder zu Schluckbeschwerden, wie z.B. unklarem Globusgefühl. Diese Verkürzungsmuster finden sich häufig schon bei Personen mit täglicher mehrstündiger Arbeit vor einem Bildschirm, aber auch bei Patienten mit Rumpfinstabilität wie unter 7 Kap. 4.1.1 und 4.2.4 beschrieben. Wie die Arbeit aus der Praxis von Gampp Lehmann empirisch zeigt, können die oben beschriebenen Störungsmuster sehr erfolgreich über die Dehnung der betreffenden inneren Faszienketten behandelt werden, was wiederum zur besonderen Beachtung einer physiologischen Sitzhaltung führen muss.
Bei Patienten mit neurologischen Defiziten treten muskulo-skeletale Einschränkungen meist sekundär auf. Allerdings können muskulo-skeletale Probleme eine bedeutende
4.3
Therapie
Am Anfang der Therapie steht die Befunderhebung, die das Ausführen von Aktivitäten, das Potenzial des Patienten erfasst. Danach werden Hypothesen aufgestellt – häufig mehr als eine – die dann in der Behandlung überprüft und ggf. verändert werden. Wir gehen von der Annahme aus, dass jeder Patient das Potenzial hat zu lernen. Ob das Lernpotenzial genutzt werden kann, um alle oder nur einen Teil der funktionellen Bewegungen wieder physiologisch zu erlernen, kann zu Anfang noch nicht prognostiziert werden. Ob Therapeuten in der Lage sind, dem Patienten die entsprechende Lernumgebung und das entsprechende Angebot zur Weiterentwicklung oder Wiederentdeckung anzubieten, stellt sich erst mit der Zeit heraus.
4.3.1
Physiologische Bewegungen und Ausgangsstellungen
Ein Ziel des F.O.T.T.-Konzepts ist es, dass der Patient wieder physiologische, sichere und ökonomische Bewegungen und Funktionen ausführen kann. Die Voraussetzung zum Erlernen neuer oder vollständiger Bewegungen ist ein möglichst uneingeschränkter Bewegungsapparat. Horak beschreibt dies folgendermaßen:
» Im aufgaben-orientierten Modell der motorischen Kontrolle ist das muskulo-skeletale System ein wichtiges Kontrollelement der motorischen Koordination. Daher ist es von primärer Bedeutung, alle Einschränkungen zu identifizieren und zu korrigieren, die sich in irgendeiner Weise auf die Bewegung auswirken können. Horak (1991)
«
65 4.3 · Therapie
Die als Folge der Krankheit entstehenden sekundären Einschränkungen können sich u.U. störender auf das Erlernen einer physiologischen Bewegung auswirken als die primär veränderte Sensomotorik! Wenn z.B. die Zungenhebung oder das Herausstrecken der Zunge eingeschränkt ist, liegt dies nicht unbedingt an der primär veränderten Sensomotorik oder einem vermeintlichen »Kraftproblem«, sondern kann durch sekundär entstandene Verkürzungen der Muskeln, Bänder oder Faszien verursacht sein, d.h., bestimmte physiologische Bewegungen werden durch die Auflösung sekundärer Einschränkungen ermöglicht (Patientenbeispiele, 7 Kap. 4.3.2). Deshalb ist in der F.O.T.T. das Einbeziehen des gesamten Haltungshintergrunds und der funktionell zusammenhängenden Strukturen von primärer Bedeutung. i Praxistipp Die Lernsituation soll so gestaltet werden, dass primär möglichst ausschließlich physiologische Inputs zum Tragen kommen, um soweit als möglich sekundäre Einschränkungen und Kompensationen zu verhindern.
Der Patient soll die Möglichkeit erhalten, durch eine entsprechende Ausgangsstellung physiologische Aktivitäten – primär ohne Kompensation – zu erfahren. Dies kann gelingen, indem wir für eine gewisse Zeit seine ungenügende Stabilität durch Hilfestellungen »von außen« ersetzen. Der Begriff »entsprechende Ausgangsstellung« bezieht sich auf das Ziel der jeweiligen Therapieeinheit.
Wissen über motorisches Lernen zuerst den ursprünglich automatisierten physiologischen Ablauf wieder stimulieren möchten (7 Kap. 3). Wir können nicht beurteilen, wie weit sich die volle Motorik wieder rehabilitieren lässt, wenn wir von Anfang an Kompensationen schulen.
Um wirklich beurteilen zu können, ob es sich um einen geeigneten Haltungshintergrund für eine bestimmte Funktion handelt, oder ob dadurch eine »fixierte« Position entsteht, sollte der Patient Bewegungsveränderungen in der Therapie erfahren. i Praxistipp 4 Ausgangsstellungen müssen während der Therapie immer wieder variiert werden, damit der Patient Bewegungsveränderungen erfährt, dadurch das neu Erlernte auf andere Situationen übertragen kann und seine anatomischen Strukturen in den physiologischen Längen- und Kraftverhältnissen arbeiten lernen. 4 Dabei soll nur so viel Hilfestellung angeboten werden, wie es die physiologische Bewegung erfordert. 4 Je variabler und vielfältiger eingeübte Bewegungen und Handlungen sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Generalisierung, und desto besser ist der Patient auf das Alltagsleben vorbereitet, in dem Haltungen ständig verändert werden (Shumway-Cook u. Woollacott 2007, van Cranenburgh 2007, 7 Kap. 3).
Beispiel 4 Ist das Ziel der Therapieeinheit, wieder vermehrte Selektivität der Zunge zu erhalten, kann das für den Patienten die Ausgangsstellung Seitenlage (. Abb. 5.9) bedeuten, als Ausgangsstellung mit größerer Unterstützungsfläche und zusätzlicher Stabilisation des Unterkiefers durch den Kieferkontrollgriff. 4 Die Produktion einer kräftigeren Stimme erfordert eventuell – bei demselben Patienten – die Ausgangsstellung Stehen (. Abb. 5.12) oder Gehen (. Abb. 5.11). 4 Wird bei der Phonationsanbahnung an einem koordinierten Einsatz von Atmung und Stimmgebung gearbeitet, wird die Ausgangsstellung vielleicht zu Anfang das Sitzen am Tisch mit nach vorne abgelegtem Oberkörper und gelagerten Armen sein.
! Vorsicht In der F.O.T.T. werden i.d.R. zu Beginn keine kompensatorischen Hilfen oder Techniken angeboten, um primär alle möglichen Wege zum Erlernen von ökonomischen, physiologischen Bewegungen offen zu halten. Das bedeutet, dass wir entsprechend dem 6
Ermöglichen wir dem Patienten die vorher beschriebenen physiologischen Ausgangsstellungen nicht, muss er kompensieren, d.h., er wird zu unphysiologischen/unökonomischen Bewegungen gezwungen. Es können dann sekundäre Probleme resultieren, z.B. häufigeres Verschlucken ohne sichere Schutzmechanismen oder eingeschränkte Zungenbeweglichkeit, hervorgerufen durch die zunehmend fixierte 7 Hyperextension der oberen HWS und veränderte Hyoidstellung. i Praxistipp In der F.O.T.T. können keine einheitlichen Lösungen angeboten werden, sondern gemeinsam mit dem Patienten wird an Lösungswegen/Lösungsstrategien gearbeitet. Wir müssen in Selbsterfahrung erspüren und nachvollziehen, in welcher Haltung oder Spannung sich Patienten befinden, denen Essen oder Trinken angereicht wird.
4
66
Kapitel 4 · Haltungshintergrund »Wir schlucken mit dem Becken …«
4.3.2
Patientenbeispiele
Die folgenden Fallbeispiele verdeutlichen die im Kapitel beschriebenen Zusammenhänge.
Herr A.B., 39 Jahre Anamnese
4
4 Multiple zerebrovaskuläre Ischämien im hinteren Stromgebiet 20.01.2004. Homocysteinämie. DD: Protein S-/ C-Mangel, klinisch initial akutes tiefes Mittelhirnsyndrom bei initial GCS 7 bis 24.03.2004. Passagere Trachealkanüle 26.01.–17.02.2004. PEG-Sonde seit 30.01.2004. Rechtsbetonte inkomplette Tetraspastik, neurogene Blasenstörung. Schwere neurogene Dysphagie. Schwere Dysartrophonie. 4 Erstrehabilitation bis 12.01.2005, danach Verlegung in ein Wohnheim für Behinderte und ambulante Physiotherapie 2-mal wöchentlich. Als Physiotherapeutin und F.O.T.T.-Therapeutin übernimmt Gampp Lehmann ab April 2005 auch die Behandlung des fazio-oralen Trakts, mit dem Ziel der Verbesserung und Steigerung der Nahrungsaufnahme.
Hauptprobleme Die Hauptprobleme werden benannt: 4 A Zu Beginn der ambulanten Therapie bei Eintritt ins Wohnheim. 4 B Heutiger Stand.
Rumpf: 4 A Linke Seite deutlich verkürzt und hyperton, rechte Seite hypoton, Pushersymptomatik rechts. Sitzen im Lot zu Beginn nicht möglich, Wirbelsäule stark rechtskonvex. Becken nach hinten gekippt. Rumpfaufrichtung im Stehen wegen starker Flexionshaltung, Spitzfußstellung (beidseits 30–40°) und ungenügender Knie- und Hüftstreckung zu Beginn nicht möglich. Der Oberkörper wird in einem Winkel von 40° nach ventral flektiert. Gehen nicht möglich. 4 B Spontane reduzierte Pushertendenz nach rechts im Sitz und im Stand. Der Patient kann sich auf Aufforderung ins Lot bringen. Gehen mit einer Hilfsperson und aufgerichtetem Rumpf möglich, Treppensteigen ebenso mit Hilfe möglich.
Arme: 4 A Rechter Arm hyperton mit starker Flexorenspannung, vor allem als assoziierte Reaktion.
6
4 B Erhöhter Grundtonus der Flexoren, aber verbesserte Selektivität und Spontaneinsatz als Hilfshand.
Beine: 4 A Beide Hüften stehen spontan in Innenrotation. Spitzfußstellung beidseits größer als 30°. Beide Hüften und Knie dementsprechend im Stehen stark flektiert. Im Liegen leichte Beugekontrakturen unter 10°. Spezialschuhe zum Ausgleich der Spitzfüße und Halt der Fußgelenke. 4 B Spitzfußstellung noch rechts in 20°, links in 10°. Spezialschuhe.
4 B Der Mund wird vermehrt geschlossen gehalten. Bei Müdigkeit ist der Mund spontan geöffnet, kann auf Aufforderung aber entspannt geschlossen gehalten werden. Zunge, Zungengrund und Os hyoideum in regelrechter Stellung, aber mit noch leicht erhöhter muskulärer Spannung nach dorsal. Volle selektive Zungenbeweglichkeit. Zungenbewegungen nach rechts brauchen noch mehr Konzentration. Das Gesicht ist entspannter, Augen normal geöffnet.
Schlucken: Atmung: 4 A Ausreichender unwillkürlicher Husten, aber nur minimale willkürliche Tiefatmung. Endinspiratorischer Halt nicht möglich, das Zwerchfell kann nur minimal willkürlich aktiviert werden. 4 B Vollständige Tiefatmung, die Atmung kann in jeder Atemlage kurz angehalten werden.
Kopf: 4 A Hyperextension der oberen Halswirbelsäule (HWS) und entsprechende Rückneigung des Kopfes. Aktiv und passiv können Kopf und obere HWS nur bis zur Neutralstellung gebracht werden. Eine 7 Flexion der oberen HWS ist nicht möglich. Muskelspannungen sind im gesamten Hals-/Gesichts-/Mundbereich zu tasten und zu sehen. 4 B Flexion der oberen Halswirbelsäule aktiv in leichte Flexion möglich, passiv volle Flexion der oberen Halswirbelsäule.
Fazio-oraler Bereich: 4 A Der Unterkiefer ist meistens geöffnet und wird nach 7 dorsal gezogen. Dabei fließt der Speichel andauernd aus dem Mund. Der Mundschluss kann nur kurz bei voller Konzentration gehalten werden. Zunge, Zungengrund und Os hyoideum werden nach 7 dorsal gezogen. Willkürliche Zungenbewegungen können nur unvollständig ausgeführt werden. Die Zunge kann bis zur Unterlippe bewegt werden. Laterale Bewegungen nach rechts sind eingeschränkt. Die Augen sind meistens weit geöffnet.
4 A Es finden sich willkürlich zum Teil dyskoordinierte, ungenügende Bewegungen der Zunge in der oralen Phase. Larynx- und Hyoidbwegungen beim Schlucken eingeschränkt. Die obere HWS wird dabei jedes Mal leicht in Extension gebracht. Häufiges starkes Husten beim Kauen von Speisen in Gaze. 4 B Je nach Speisebolus noch Mühe bei der Schluckeinleitung. Zunge und Mundboden zeigen dann einige Pumpbewegungen, bevor der Schluck ausgelöst werden kann. Hyoid- und Larynxbewegungen vollständig mit leichtem Hypertonus der entsprechenden dorsalen Muskulatur.
Essen: 4 A Durch PEG-Sonde. Ab Mitte 2005 in Absprache mit Hausarzt und unter regelmäßiger pulmonaler Kontrolle zunehmender Kostaufbau in Koordination mit der Physiotherapie/ F.O.T.T. Zuerst selektiv pürierte Kost, dann Übergang zu weich gekochter Kost. 4 B Inzwischen vollständige orale Ernährung (weich gekochte Kost wie Gemüse, Teigwaren, Fleisch, Salat und weiche Früchte). Kauen ist möglich. Flüssigkeiten weiterhin per PEG-Sonde.
Arbeitshypothesen 4 Neben den primär neurologisch bedingten Ausfällen entstanden viele der oben beschriebenen Schwierigkeiten aufgrund sekundärer Kontrakturen. 4 Diese Kontrakturen verhindern die Aktivitäten der eigentlich vorhan-
67 4.3 · Therapie
4
4
4
4 4
denen Motorik und sind mit der Behandlung der thorako-abdominalen Verbindungen, der Kopfstellung und der hyoidalen Verbindung zu beeinflussen. Das heisst, dass die sekundär entstandene Tonusdysbalance aufgelöst werden muss, um an die vorhandene Motorik anzuknüpfen und diese zu fördern. Das nach hinten gekippte Becken ist sowohl Folge der Beugekontrakturen der Hüfte, der mangelnden Rumpfaufrichtung, der Pushersymptomatik und der inneren thorako-abdominalen Verkürzungen. Das Gleiche gilt für die stark nach rechts verlagerte Sitzhaltung und die fixierte Taillenfalte links (. Abb. 4.18), die ebenfalls eine Folge sekundärer innerer Verkürzung ist und deshalb vom Patienten nur mit Kraftaufwand ausgeglichen werden kann. Die verminderte Tiefatmung ist sekundär auf einen haltungsbedingten Hochstand des Zwerchfells zurückzuführen und konnte deshalb bisher nicht verbessert werden. Als Folge der Hyperextension der oberen HWS, der nach dorsal verkürzten hyoidalen Muskulatur und der verkürzten inneren kaudalen Verbindungen kann die Zunge nicht ausreichend nach ventral/vorne bewegt werden (. Abb. 4.19). Das Gleiche gilt für die verminderten Larynx- und Hyoidbewegungen. Die Spannungen im ganzen Gesichtsbereich und die weit geöffneten Augen sind ebenfalls ein Zeichen der Tonusdysbalance im Bereich der oberen HWS und der fehlenden Rumpfaufrichtung.
Vorgehen in der Therapie Der Patient kommt seit April 2005 wöchentlich 2-mal für eine dreiviertel Stunde zur ambulanten Therapie. Ergotherapie und Logopädie können aus organisatorischen Gründen erst ab Ende 2005 einsetzen. Die Therapie verläuft in enger Zusammenarbeit mit der Pflege des zuständigen Wohnheims, die viele fördernde Aktivitäten übernimmt. Die Behandlungen werden zu Beginn folgendermaßen aufgeteilt: 4 Jeweils eine wöchentliche Behandlung gilt den Extremitäten, dem Rumpf und der allgemeinen Motorik. Dabei wird an der Dehnung der Beinkontrakturen, der inneren Faszienverbindungen, an der Aufrichtung, an der Atmung und am Stehen, später am Gehen und allgemein an der Anbahnung normaler Motorik gearbeitet. Der Patient steht zudem
im Wohnheim regelmäßig im Stehtisch. 4 Die zweite wöchentliche Behandlung gilt dem fazio-oralen Bereich und dem kontrollierten Kostaufbau. Dabei werden in verschiedenen Ausgangsstellungen die obere HWS und die hyoidalen Verbindungen in ein funktionelles Gleichgewicht gebracht und an der Verbesserung der Gesichts-, Zungen- und Schluckmotorik gearbeitet. Es werden Kauübungen und später der Kostaufbau begonnen. Dieser wird vom Pflegedienst im Wohnheim in den Alltag übernommen. Im weiteren Verlauf werden die Behandlungsschwerpunkte immer mehr verbunden und funktionell kombiniert. Da die Pflege des Wohnheims mit der Zeit den Kostaufbau und das regelmäßige Gehen übernehmen kann, wird die Therapiefrequenz – aus organisatorischen und finanziellen Gründen 2007 – nach zwei Jahren – auf einmal wöchentlich reduziert. In der seit Ende 2005 wöchentlichen Logopädie und Ergotherapie wird vor allem an der Atmung und dem Sprechen bzw. am funktionellen Einsatz der Hände und dem Gebrauch von Kommunikationsmitteln gearbeitet. Das Sprechen ist nach wie vor sehr verwaschen und sehr schwer verständlich, verbessert sich allerdings nach wie vor.
Exemplarischer Behandlungsaufbau: Herstellung physiologischer Längenverhältnisse und Freilegung vorhandener Motorik 4 Das Ziel dieser Behandlung ist die Auflösung sekundärer Verkürzungen (s. Ausführungen in diesem Kapitel). Die ohnehin geschwächte Motorik hat keine Kraft und keine Ausdauer, gegen diese Verkürzungen anzukommen und wird dadurch endgültig verhindert! 4 Die folgenden Dehnungen werden jeweils in Rückenlage ausgeführt, damit die entsprechenden Strukturen in eine symmetrische Lage gebracht werden können. 4 Herr A.B. wird so gelagert, dass ein Nachlassen des Tonus möglich wird. Je nach Kontrakturen und Spasmen müssen die Extremitäten tonusreguliernd vorbehandelt und unterlagert werden. 4 Zur verstärkten Dehnung der linken kontrakten Hüftmuskulatur wird die Lagerung so modifiziert, dass sein linker Unterschenkel über die Bettkante hängt. Das Bein ist dabei nicht abduziert. Sein rechtes Bein wird mit
Kissen so hoch unterlegt, dass die Lendenwirbelsäule in schonender Mittelstellung ist und das Knie leicht gebeugt ist (. Abb. 4.20). 4 Aus dieser Stellung kann sowohl die Tiefatmung in die verkürzte linke Seite gefördert werden (die Brustatmung wird dabei manuell durch sanften Druck auf das Sternum erschwert (. Abb. 4.21) als auch an der Dehnung der dorsalen oberen Halswirbelsäule in Flexion und an den hyoidalen Verbindungen gearbeitet werden (. Abb. 4.22). 4 Die oben beschriebene Taillenfalte und die eingeschränkte Ventralbewegung der Zunge konnten so innerhalb jeweils einer Sitzung sichtbar beeinflusst und in etwa fünf weiteren Sitzungen definitiv gelöst werden. Das Erreichte musste dazu aber sofort im Alltag integriert und gebraucht werden (. Abb. 4.23)!
Ergebnis Durch den oben beschriebenen Behandlungsansatz wurde dem Patienten innerhalb kurzer Zeit Folgendes ermöglicht: 4 Becken, Rumpf, HWS und Kopf können nun aktiv aufgerichtet und im Lot gehalten werden. Dadurch kostet die aufrechte Haltung den Patienten viel weniger (Muskel-)Energie, die er nun für selektive Aktivitäten und Partizipation im Alltag zur Verfügung hat. Die Sitzhaltung im Rollstuhl kann entsprechend angepasst werden, das Gehen wird gefördert, und die Nahrungsaufnahme läuft kontrollierter und sicherer ab. 4 Die Tiefatmung ist sofort vergrößert und kann nun weiter verbessert werden. 4 Die HWS kann in einer physiologischen Stellung gehalten werden. 4 Mund und Unterkiefer können nun ohne Anstrengung geschlossen gehalten werden. 4 Die hyoidale Muskulatur hat regelrechte Längenverhältnisse, und die Zunge kann dadurch sofort deutlich weiter und zielgerichteter bewegt werden, obwohl in den beschriebenen Therapiesitzungen weder intraoral noch zungenspezifisch gearbeitet wurde (. Abb. 4.24). Der Erfolg dieser Behandlung hängt aber davon ab, dass die neu erhaltene Beweglichkeit im Alltag sofort in der Haltung übernommen und motorisch weiter gefördert wird, z.B. beim Atmen, Essen, Trinken und Sprechen.
4
68
Kapitel 4 · Haltungshintergrund »Wir schlucken mit dem Becken …«
4
. Abb. 4.18. Vor der Therapie: Fixierte Taillenfalte links, bedingt durch interne sekundäre Verkürzungen aufgrund der Haltungsinsuffizienz
. Abb. 4.23. Nach der Therapie: Die Taillenfalte konnte nach einer Behandlung aufgelöst werden. Das Sitzen im Lot ist nicht mehr strukturell behindert (vgl. . Abb. 4.18)
. Abb. 4.19. Vor der Therapie: Eingeschränkte Zungenbeweglichkeit. Die Zunge kann aufgrund sekundärer Verkürzungen nicht weiter herausgestreckt oder selektiv nach rechts bewegt werden. Es kommt durch die Anstrengung zur Verstärkung der gesamten Haltungsasymmetrie
. Abb. 4.24. Nach der Therapie: Erleichterte Zungenbeweglichkeit. Die vorhandene Zungenmotorik wird strukturell nicht mehr behindert und erlaubt der vorhandenen Motorik größtmögliche Aktivität (vgl. . Abb. 4.19)
69 4.3 · Therapie
. Abb. 4.20. Therapie: Individuell angepasste tonusregulierende Dehnlagerung. Die Verkürzungen der linken Thoraxseite und der Hüftbeuger sollen dehnend beeinflusst werden, und gleichzeitig wird die Wirbelsäule in einer neutralen Stellung gelagert. Durch diese Lagerung werden die faszialen Verbindungen in optimale Vordehnung gebracht . Abb. 4.22. Therapie: Dehnung der oberen HWS und der hyoidalen Verbindungen. Während die obere Halswirbelsäule sanft in Flexion gedehnt wird, werden die hyoidalen Verbindungen in ihren verschiedenen Richtungen vorsichtig gedehnt
. Abb. 4.21. Therapie: Förderung der Tiefatmung aus angepasster Dehnlage. Während die obere Halswirbelsäule sanft in Flexion gedehnt wird, wird die Atmung in den Brustkorb gebremst, um die Bauchatmung zu fördern. Dadurch werden die beschriebenen thorakalen Faszienverbindungen von Zwerchfell bis Schädelbasis gedehnt
Frau C.D., 60 Jahre Diagnose ALS April 2005. Vorwiegend bulbäre Form. Seit Oktober 2004 Schluckstörungen.
Krankheitsverlauf 4 Frau C.D. kommt im April 2005 wegen Atemproblemen in die ambulante Physiotherapie. Nach kurzer Zeit werden aber die Schluckproblematik und die zunehmende Gangunsicherheit primäre Therapieziele. Sie bleibt bis Herbst 2005 berufstätig als Büroangestellte. 4 Die Spontansprache ist bereits im April 2005 schwer verständlich. Es besteht eine zunehmende Dysarthro-
6
phonie und eine zunehmende Dysphagie. Eine Logopädin behandelt sie beratend über zwei Monate im Herbst 2005. Frau C.D. kommuniziert solange es geht handschriftlich.Die Gangunsicherheit nimmt stetig zu, deshalb benötigt sie ab Herbst 2005 einen Gehstock und bald darauf einen Rollator. 4 Ab Ende 2005 hat sie 1- bis 2-mal wöchentlich Physiotherapie, wobei auch die Behandlung nach F.O.T.T. erfolgt. Zu Hause wird sie von Familienangehörigen, Freunden und der spitalexternen Pflege intensiv betreut.
4 Etwa einmal jährlich geht sie zur intensiven Behandlung für 3 Wochen in eine Klinik. 4 Ab Sommer 2006 ist die Patientin auf einen Rollstuhl angewiesen. Im Januar 2007 wird eine PEG-Sonde gelegt zur Gewährleistung ausreichender Flüssigkeitszufuhr. Ab März 2007 kommuniziert sie ausschließlich mittels Kommunikationsgerät. 4 Bis Mai 2008 nimmt sie normale weiche Kost zu sich (Joghurt, Müsli, Fisch, geschnittenes weich gekochtes Geflügel, Teigwaren, Kartoffeln, Gemüse etc.) und die Sondenkost wird nur nach Bedarf gewichtsregu-
4
70
4
Kapitel 4 · Haltungshintergrund »Wir schlucken mit dem Becken …«
lierend eingesetzt. Bis Ende 2008 kann sie sich teilweise oral ernähren, ergänzt durch Sondenkost per PEG. 4 Ab Ende 2008 bestand ein Ziel der F.O.T.T. vor allem darin, dass das Speichelschlucken spontan möglich und sicher war. 4 Im Frühjahr 2009, vier Jahre nach der Diagnosestellung, wird Frau C.D. von ihren Beschwerden erlöst.
Behandlungsschwerpunkte bezüglich F.O.T.T. 4 Wegen der rasch fortschreitenden Krankheit wurde besonders auf Erhalt möglicher Aktivitäten und vor allem auf Verhinderung von tonusbedingten Verspannungen und sekundären, lähmungsbedingten Kontrakturen geachtet und damit der noch vorhandenen Motorik stets ein optimales Arbeiten ermöglicht. 4 Da die Patientin ein sehr gutes Körpergefühl und eine große Motivation hatte, konnten die optimalen Behandlungsansätze mit ihr gemeinsam bestimmt werden, was auch für die behandelnden Therapeuten sehr bereichernd und lehrreich war. 4 Eines der sehr schnell auftretenden Probleme war die zunehmend ge-
schwächte und schließlich ab 2007 fehlende selbständige Rumpf- und Kopfkontrolle und die damit verbundenen Schwierigkeiten der oralen Nahrungsaufnahme. 4 Die Patientin litt schon sehr früh an einer retrahierten und zum Teil schmerzhaft verspannten Zunge. Es war ihr spontan oft nicht möglich, die Zunge aktiv zu den Lippen zu bewegen, was das Essen natürlich erschwert hat. 4 Das Sprechen war aufgrund der sehr geschwächten Atmung und der Zungenspannung zu einem sehr frühen Zeitpunkt nicht mehr verständlich und konnte leider auch nicht erhaltend beeinflusst werden. 4 Neben dem Erhalt der zumindest passiv freien Rumpf- und Kopfbeweglichkeit und einer möglichst tiefen Atemmittellage, war es Ziel jeder Therapiestunde, die Strukturen der Halswirbelsäule, der Zunge und des hyoidalen Komplexes soweit zu behandeln, dass die Zunge am Ende der Sitzung aktiv mindestens bis zu den Lippen bewegt und anschließend auch mehrere Schlucke ausgelöst werden konnten. Diese Lockerung der Strukturen und die damit verbesserte Zungen- und Hyoidbeweglichkeit hielten dann laut
i Praxistipp 4 Tonusregulierende Dehnungen von Halswirbelsäule und hyoidalem Komplex und Dehnungen der thorako-abdominalen Verbindungen finden in entspannter Rückenlage statt. 4 Anschließend werden die erreichten – möglichst physiologischen – Verhältnisse in aufgerichteter Haltung (Sitz oder Stand, mit angepasster Unterstützung) mit der Ausführung entsprechender Aktivitäten, dem Schlucken und – wenn möglich – der atemangepassten Stimmgebung kombiniert. 4 Das Erreichte muss sofort in andere Therapien und v.a. in den Alltag transferiert werden. Nur so kann der Status quo erhalten bleiben und daraus motorische Verbesserung resultieren.
Dieses Vorgehen verpflichtet uns Therapeuten zu einer konstanten, ergänzenden Zusammenarbeit mit den Angehörigen und Pflegenden. Diese Zusammenarbeit ist zeitintensiv, aber die einzige Chance effektiv, effizient und kostendämmend – und damit glaubwürdig – zu intervenieren!
Patientin jeweils über 2–3 Tage an und ermöglichten ihr – langfristig – die orale Nahrungsaufnahme. Diesem Ziel konnte bis Ende 2008 entsprochen werden.
Vorgehen in der Therapie Die Therapiesitzungen von 45 Minuten wurden jeweils so geplant, dass zuerst im Liegen (oder solange wie möglich in aufgerichteter Haltung) auf die Extremitätenbeweglichkeit erhaltend – und nach Möglichkeit fördernd – eingegangen und vor allem tonusregulierend gearbeitet wurde. Danach wurde im Liegen an Rumpfaufrichtung und Atmung passiv (Dehnung der thorako-abdominalen und hyoidalen Verbindungen) und aktiv (Atemführung) gearbeitet. Die letzten 15 Minuten galten der Motorik des fazio-oralen Trakts. Im Sitzen mit physiologisch gehaltenem Kopf wurde zuerst passiv an der Zungendehnung und anschließend an motorischen Abläufen wie Zungenbewegungen und Schlucken von wenig Flüssigkeit bzw. von Speichel gearbeitet. Die Vorarbeit an Rumpf und Atmung war immer die grundlegende Voraussetzung für das anschließende Arbeiten am hyoidalen Komplex und weiteren faziooralen Strukturen und Funktionen!
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4
5
Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken Doris Müller, Jürgen Meyer-Königsbüscher, Jeanne-Marie Absil
5.1
Normale Nahrungsaufnahme
– 74
5.2
Nahrungsaufnahme bei neurologischen Patienten
– 75
5.2.1 Typische Probleme beim Essen und Trinken – 75 5.2.2 Die Nahrungsaufnahme wird unsicher – 75
5.3
Wann ist die Nahrungsaufnahme ausreichend sicher?
5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4
Nahrungsaufnahme ist mehr als die pharyngeale Phase Die Schlucksequenz – 78 Schluckhilfen – 80 Funktionelle Zusammenhänge erkennen – 84
5.4
Sichere Nahrungsaufnahme ist mehr als Schlucken
5.4.1 Sicherheitsrelevante Aspekte – 86 5.4.2 Die Bewertung sicherheitsrelevanter Faktoren
5.5
– 76
– 76
– 86
– 87
Voraussetzungen für orale Nahrungsaufnahme erarbeiten
– 91
5.5.1 F.O.T.T. beginnt frühzeitig – 91 5.5.2 Therapeutisches Essen – 92
5.6
Pharyngeale Schluckstörungen
– 95
5.6.1 Strukturspezifisches Angebot – Freiheit für das Hyoid – 96 5.6.2 Funktionsspezifisches Angebot – Vom Spucken zum Schlucken 5.6.3 Aktivität und Teilhabe: Beginn der Nahrungsaufnahme und Ziel »Mahlzeit« – 97
5.7
Assistierte Mahlzeiten
5.7.1 5.7.2 5.7.3 5.7.4 5.7.5 5.7.6
Überlegungen zur Gestaltung der Situation – 102 Vorbereitung der assistierten Mahlzeit – 103 Therapeutische Hilfen bei der Mahlzeit – 103 Nachbereitung der Mahlzeit – 105 Assistierte Mahlzeiten und enterale Ernährung – 105 Zusammenfassung – 106
Literatur
– 106
– 99
– 96
74
Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
» Die Nahrungsaufnahme ist ein wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens. Sie dient neben der Ernährung und dem Genuss, der alltäglichen Begegnung mit unseren Mitmenschen und folglich der Nährung sozialer Kontakte. (Müller)
«
5
Die Bewegungsabläufe bei der Nahrungsaufnahme im Alltag sind einerseits auf das sichere Essen und Trinken, andererseits auf Kommunikation und Interaktion ausgerichtet. Für Patienten, die nicht essen, trinken und schlucken können, steht die Wiedererlangung möglichst 7 physiologischer Bewegungsabläufe im Vordergrund. Ihnen fehlen der Genuss und auch die gesellschaftliche Einbindung über die gemeinsame Mahlzeit. In diesem Kapitel sollen basierend auf dem F.O.T.T.-Konzept Wege zur sicheren oralen Nahrungsaufnahme aufgezeigt werden. Dazu werden zunächst verschiedene Aspekte bei der normalen Nahrungsaufnahme beleuchtet, aus denen sich eine erweiterte Betrachtung der Schlucksequenz ergibt. Es erfolgt dabei die Betrachtung struktureller, funktioneller und aktivitätsbezogener Aspekte im alltagsbezogenen Kontext. Die Beschreibung der Arbeit mit Nahrung im Sinne der therapeutischen Nahrungsgabe und der assistierten Mahlzeit schließen sich an. Ferner werden Aspekte der Sicherheit in Bezug auf orale Ernährung diskutiert. Es soll verdeutlicht werden, warum das Essen in Gemeinschaft für viele Patienten ein sehr hohes Ziel ist.
5.1
Normale Nahrungsaufnahme
Im Rahmen der F.O.T.T. lenken wir bei der Betrachtung einer Funktion unser Augenmerk zunächst auf deren physiologischen Ablauf. Erst danach beurteilen wir Abweichungen vom Normalen. Damit schaffen wir uns die Möglichkeit, Störungen der Funktion zu erkennen und zu beschreiben, über funktionell zugrunde liegende Ursachen Hypothesen zu bilden, den Behandlungsplan zu formulieren und die Behandlung zu beginnen. Nahrungsaufnahme verläuft vielschichtig und komplex. Sie geschieht aber auch nebenbei. Kein Gesunder macht sich Gedanken darüber. Wenn wir mit anderen Menschen zusammentreffen, verbindet sich damit oft gemeinsames Essen. Die Nahrungsaufnahme ist dabei in einigen Situationen das zentrale Thema, in anderen erfolgt sie nebenbei. . Übersicht 5.1 nennt die Kennzeichen der normalen Nahrungsaufnahme.
. Übersicht 5.1. Kennzeichen der normalen Nahrungsaufnahme Normale Nahrungsaufnahme ist: 4 4 4 4
komplex, sicher und automatisiert, zentral oder nebenbei, mit Genuss in den Alltag integriert.
Beispiel Stellen wir uns vor: Die Familie und die Verwandtschaft sitzen anlässlich der Konfirmation der Tochter um die große, festlich geschmückte und gedeckte Tafel. Der Ober hat bereits allen Gästen das Hauptgericht serviert und wünscht »guten Appetit«. Jeder von uns kennt eine derartige Situation und weiß, dass die Anwesenden ihre Aufmerksamkeit dem Essen widmen. Sie sitzen auf den Stühlen, wenden sich zum Nachbarn und bitten um die Gewürze. Sie schneiden ein Stück Fleisch ab, führen es mit der Gabel zum Mund. Sie drehen den Kopf, um nach dem 4-jährigen Sohn zu schauen, zerkauen das Fleisch und korrigieren zeitgleich ihre Sitzposition. Sie richten sich auf, verändern die Stellung ihrer Beine und Füße und greifen nach dem Weinglas, um auf die Konfirmation anzustoßen. In der Situation des festlichen Zusammenseins besitzt die Nahrungsaufnahme eine zentrale Bedeutung. Sie ist ein komplexer, vielschichtiger Vorgang und läuft automatisiert ab.
Bei Betrachtung der . Abb. 5.1 fällt auf, dass die Nahrungsaufnahme nicht im Mittelpunkt steht. Es geht am Tisch lebhaft und kommunikativ zu. Die Nahrungsaufnahme ist in die Situation integriert. Ihre Komplexität zeigt sich besonders in den Variationen der prä-oralen Phase, dem Zerteilen der Pizza, dem Halten des Bestecks oder Glases, dem Nach-vorne-gerichtet-Sein des Oberkörpers. Die Personen nehmen in unterschiedlichem Maße an der Kom-
. Abb. 5.1. Fröhliche Gesellschaft beim gemeinsamen Essen an einer langen Tafel
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
75 5.2 · Nahrungsaufnahme bei neurologischen Patienten
munikation, der Unterhaltung bei Tisch teil. Für einige ist das Essen in diesem Moment zentrales Thema, sie sind voll darauf konzentriert, für andere erfolgt es nebenbei. Das Bild macht darüber hinaus deutlich, dass der Gesunde in der Lage ist, seine Haltung der Situation anzupassen, asymmetrisch zu sitzen, Ablenkung zu tolerieren, dass die Hände ins Gespräch eingebunden werden können oder Kontakt zu Gesicht und Körper halten. > Beachte Nahrungsaufnahme ist in manchen situativen Zusammenhängen nicht von zentraler Bedeutung, sondern erfolgt nebenbei.
Gesunde Menschen sind im gemeinsamen Kontakt mit anderen in der Lage, verschiedene Handlungen gleichzeitig zu tun. Trotz der Komplexität der Situation erfolgt
Essen und Trinken im Rahmen gemeinsamer Mahlzeiten automatisiert, unabhängig davon, ob die Nahrungsaufnahme in diesem Moment von zentraler Bedeutung ist, oder ob sie nur nebenbei erfolgt. Gesunde bewegen sich angepasst an die Situation, nehmen an der sozialen Interaktion teil, essen und trinken, sprechen und lachen.
5.2
Nahrungsaufnahme bei neurologischen Patienten
Bei neurologisch erkrankten Patienten finden wir die Grundvoraussetzungen für alltägliche Aktivitäten wie Nahrungsaufnahme verändert: 4 Sie haben u.a. Probleme in der Wahrnehmung, Sensibilität und Koordination von Haltung und Bewegung. 4 Sie sind oft nicht in der Lage, ihre Haltung ohne Aufwand und Anstrengung zu verändern. 4 Sie haben Bewegungseinschränkungen, die es ihnen unmöglich machen, z.B. den Kopf zu drehen, den Rumpf zu bewegen, Beine und Füße in ihrer Stellung zu verändern, Gegenstände zu greifen und Nahrung zum Mund zu führen. Beispiel Ein Patient kann durch eine Halbseitenlähmung in eine asymmetrische Sitzhaltung gezwungen sein, die er nicht auflösen kann. Er hat Koordinationsprobleme bei Bewegungen, die alltägliche Aktivitäten beeinflussen. Diese Probleme setzen sich im Gesicht und oralen Trakt fort und zeigen sich z.B. als gestörte Bewegungen und Bewegungsasymmetrien.
Zur psychosozialen Bedeutung des Essens und Trinkens verweisen wir auf Elferich (2001). Die Autorin fokussiert die fachlichen und ethischen Aspekte der Dysphagierehabilitation, die psychodynamischen Prozesse bei der normalen Nahrungsaufnahme und deren Veränderungen bei gestörter oraler Nahrungsaufnahme, sie beschreibt häufig beobachtbare Verhaltensmuster bei oraler Nahrungskarenz und während des oralen Kostaufbaus bei Patienten, Teammitgliedern und Angehörigen, und sie formuliert Gedanken zur Angehörigenarbeit.
5.2.1
Typische Probleme beim Essen und Trinken
Beim Essen und Trinken treten typische Probleme auf. Sie sind in . Übersicht 5.2 zusammengefasst. . Übersicht 5.2. Typische Probleme beim Essen und Trinken 4 Komplexe Leistungen zerfallen. 4 Die Bewegungsqualität verändert sich. 4 Essen wird zu »Schwerstarbeit«.
Vielen Patienten mit einer neurogenen Schädigung ist nicht mehr möglich, gleichzeitig zu sprechen und zu laufen; andere Patienten spüren beim Zuhören oder Aktivität ihren Speichel nicht, es kommt zu Speichelfluss. Komplexe Leistungen stellen für die Patienten sehr große Herausforderungen dar. Sie können oft nicht mehr während des Essens zuhören oder sprechen, indem sie die Nahrung in der Wange parken, um das Tischgespräch aufrecht erhalten. Die mangelnde Koordination von Haltung und Bewegung bei alltäglichen Aktivitäten kann dazu führen, dass komplexe Leistungen, bei denen man mehreres gleichzeitig macht, zerfallen. Die Qualität der Bewegungen verändert sich u.U. dramatisch. Die Bewegungen werden unökonomisch, wirken ineffektiv und verlaufen nicht mehr harmonisch, sondern unphysiologisch. Es kommt zu Tonuserhöhungen und Fixierungen in bestimmten Haltungen, die auch Schmerzen verursachen können. Jede Bewegung bedarf besonderer Anstrengung, das Essen wird zur »Schwerstarbeit«.
5.2.2
Die Nahrungsaufnahme wird unsicher
> Beachte Sensomotorische Probleme beeinträchtigen Bewegungen und die Koordination von Abläufen. Sie betreffen den ganzen Körper, so auch den Rumpf und die Kopfhaltung, und setzen sich im fazio-oralen Trakt fort.
Trotz dieser Probleme ernähren sich viele der Patienten oral oder werden oral ernährt. Die Patienten konzentrieren sich vollständig auf die Nahrungsaufnahme, ohne in der Situation Kapazität für eine Unterhaltung zu haben.
5
76
Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
Manche Patienten beginnen während der Mahlzeit zu sprechen und können den Bolus dabei nicht ausreichend kontrollieren. Die Folgen sind vielfältig: 4 Nahrung fällt aus dem Mund, 4 Penetration/Aspiration von Nahrung in den Kehlkopf, auf die im günstigsten Fall mit einem kräftigen Husten mit Nachschluck »geantwortet« wird, 4 bestimmte z.B. feste oder flüssige Konsistenzen können nicht mehr problemlos aufgenommen werden.
5
Die Diät wird deshalb modifiziert, z.B. passierte Kost angeboten. Viele Patienten benötigen Unterstützung oder Hilfe von außen, um die Essenssituation zu meistern. Die Teilnahme an sozialen Interaktionen, die eine Essenssituation darstellt, erfolgt nur noch selten. ! Vorsicht Werden die benötigten Leistungen bei der Nahrungsaufnahme für den Patienten zu komplex, wird die Nahrungsaufnahme unsicher. Der Schutz der unteren Atemwege ist nicht mehr gegeben. Dies ist ein Alarmsignal, da Aspiration lebensbedrohliche Komplikationen nach sich ziehen kann.
Die Rehabilitation von Störungen der Nahrungsaufnahme muss daher verschiedene Stufen anbieten (. Übersicht 5.3).
. Übersicht 5.3. Behandlungsstufen bei Störungen der Nahrungsaufnahme 4 Eine ausreichend sichere Schlucksequenz erarbeiten. 4 Fazilitierend arbeiten mit therapeutischer Nahrungsgabe. 4 Alle von Patient und Umfeld eingebrachten Faktoren einbeziehen, um den richtigen Zeitpunkt für den Beginn und die optimale Art des Nahrungsangebots festzustellen. 4 Oralen Kostaufbau beginnen. 4 Nahrungsmenge und angebotene Konsistenzformen erweitern. 4 Orale Nahrungsaufnahme im Sinne der assistierten Mahlzeit begleiten. 4 Nahrungsaufnahme (zunächst mit therapeutischer Begleitung) in den individuellen Alltagskontext integrieren. Funktionelle Zusammenhänge und Wahrnehmungskontext sind in allen Stufen zu berücksichtigen. Das Ziel ist es, langfristig eine sichere Nahrungsaufnahme mit Genuss (evt. sogar) in Gesellschaft zu erreichen bzw. zu erhalten.
Wann ist die Nahrungsaufnahme ausreichend sicher?
5.3
Es gilt, sich zunächst mit folgenden Fragen zu befassen: 4 Welche Faktoren müssen gegeben sein, um die Nahrungsaufnahme sicher zu machen? 4 Über welche Fähigkeiten müssen neurologisch erkrankte Patienten verfügen, um wieder zu sicherer oraler Ernährung geführt werden zu können?
5.3.1
Nahrungsaufnahme ist mehr als die pharyngeale Phase
Die pharyngeale Phase – kritisch betrachtet Physiologische Abläufe in der pharyngealen Phase werden in der Literatur detailliert und einheitlich beschrieben (Logemann 1983, Neumann 1999 etc.). Durch die Schubkraft der Zunge und v.a. des Zungengrundes wird der mit Speichel vermengte Bolus in den Rachen befördert und mithilfe der peristaltischen Pharynxwelle durch den Rachen in Richtung Ösophagus befördert. Dabei ziehen das Zungenbein nach vorne und der sich verschließende Kehlkopf nach oben/vorne, und der obere Ösophagussphinkter öffnet sich. Der Nasen-RachenRaum sowie die unteren Atemwege werden dabei verschlossen und somit vor eindringendem, fehlgeleitetem Material geschützt. jDie pharyngeale Phase ist wichtig … Das Wort Schlucken wird oft als Synonym für den Vor-
gang in der pharyngealen Phase genutzt. Die Bedeutung dieser Phase ergibt sich daraus, dass sich im Rachen der Atem- und Nahrungsweg überschneiden. Kommt es nicht zum adäquaten Nahrungstransport und zum effektiven Schutz der Atemwege, so ist das Eindringen von Nahrung in den Kehlkopfbereich bis zu den Stimmlippen – Penetration – oder gar unterhalb der Stimmlippen – Aspiration – die gefürchtete Konsequenz. In der pharyngealen Phase entscheidet sich also, ob die Nahrung oder der Speichel »den richtigen Weg nimmt«. Daher ist es wichtig, durch funktionell fokussierte klinische Diagnostik, die im günstigsten Falle mit bildgebender Diagnostik untermauert wird, Kompetenzen, Probleme und folglich die Sicherheit des Patienten zu beurteilen. ! Vorsicht Werden Nahrung und/oder Speichel aspiriert und gelangen in die Lunge, kann dies zu Komplikationen bis hin zu lebensbedrohlichen Aspirationspneumonien führen.
77 5.3 · Wann ist die Nahrungsaufnahme ausreichend sicher?
j… aber das ist nicht alles!
Die Fokussierung in der Therapie auf das Schlucken – auf die pharyngeale Phase – bringt aber auch Probleme mit sich: 4 Die pharyngeale Phase ist nur ein Teil der Schlucksequenz. 4 Ein direkter Zugriff auf diese Phase – seitens Patient und Therapeut – ist nicht möglich. 4 Relevante therapeutische Mittel werden nicht ausgeschöpft. 4 Das Therapiepotenzial wird unterschätzt. kIndirekte Beeinflussung des Schluckvorgangs
Die Strukturen und Bewegungsabläufe in der pharyngealen Phase können therapeutisch nicht direkt taktil beeinflusst werden wie die der oralen Phase. Der orale Anteil der Zunge kann berührt und bewegt werden, um sensomotorischen Input zu geben. i Praxistipp Der pharyngeale Anteil der Zunge kann beeinflusst werden durch: 4 passives Bewegen der Zunge, 4 7 Fazilitieren des oralen Zungenanteils und/oder 4 Stimulation am Mundboden, Bewegen und Positionieren des Kopfes (7 Kap. 5.3.3).
durchführen, muss die Therapeutin herausfinden, warum das nicht geht. Die Antwort darauf dient ihr später als Grundlage ihrer Behandlung. Sie wird versuchen, dem Patienten wieder ein normales ökonomisches Bewegen mit geringem Kraftaufwand zu ermöglichen. (Davies 2002)
«
Die Beobachtung und Auswertung normaler Abläufe bei der Nahrungsaufnahme und beim Speichelschlucken zeigen, dass sich das Schlucken durch vorhersagbare Abläufe und 7 Bewegungsmuster auszeichnet. In . Übersicht 5.4 sind die typischen Aspekte 7 normaler Bewegung bei der Nahrungsaufnahme dargestellt. . Übersicht 5.4. Einige typische Aspekte normaler Bewegung 4 Sie ist ökonomisch, fließend und harmonisch koordiniert. 4 Sie ist auf ein Ziel ausgerichtet. 4 Der Ablauf wird den Erfordernissen angepasst. 4 Die Bewegungsabläufe, Bewegungsmuster sind bei verschiedenen Konsistenzen ähnlich, weisen aber relevante Unterschiede auf.
Beispiel kUnwillkürliches Schlucken
Weder Patient noch Therapeut können die reflektorischen Anteile der Schlucksequenz in der pharyngeale Phase willentlich beeinflussen. Der Begriff Schluckreflex, der auch häufig synonym für das pharyngeale Schlucken verwendet wird, versinnbildlicht die »Ohnmächtigkeit«, die Therapeuten und Ärzte oft im Bezug auf die pharyngeale Phase bzw. auf das Schlucken empfinden (vgl. 7 Kap. 1.4.2).
Wenn eine Person ein Stück Apfel isst bzw. einen Löffel Apfelmus zu sich nimmt, verläuft dies ähnlich, aber nicht genau gleich. Wir wissen, dass beim Essen von Apfelmus Beißen und Kauen nicht erforderlich sind. Mit bildgebenden Verfahren wie 7 Endoskopie und 7 Videofluoroskopie wird auch erkennbar, dass sich der Transport dieser beiden Nahrungskonsistenzen durch den Rachen nicht gleich darstellt. Dies spiegelt sich u.a. durch eine veränderte pharyngeale Transit-Time des Bolus wider (Bisch et al. 1994).
i Praxistipp Wenn ein Reiz – hier im Bereich der Pharynxschleimhaut – nicht mit dem adäquaten, unwillkürlich regelrecht ablaufenden Vorgang – hier koordinierte Erregung der Schlund-, Kehlkopf- und Ösophagusmuskulatur – beantwortet wird, wie kann da eine sinnvolle therapeutische Intervention aussehen?
jF.O.T.T. nach Kay Coombes: Die erweiterte Sichtweise
Diese Frage beantwortet sich, wenn wir die Nahrungsaufnahme/das Schlucken im erweiterten Blickwinkel betrachten, der über die pharyngeale Phase hinausgeht.
Der Ablauf des Schluckens ist also durchaus variabel – und auch beeinflussbar. Dabei spielen nicht nur verschiedene Nahrungsmittel oder -konsistenzen eine Rolle. Es ist wichtig, die Nahrungsaufnahme als Ganzes zu betrachten, und nicht nur die kritischste, die pharyngeale Phase. Kay Coombes hat als Bobath-Tutorin mit ihrem Wissen um 7 normale Bewegungsabläufe das Schlucken und die Nahrungsaufnahme analysiert und kommt zu nachfolgendem Ergebnis.
jNahrungsaufnahme und Sichtweise des Bobath-Konzepts
> Beachte
»
Im Allgemeinen führen Menschen die Aktivitäten in der prinzipiell gleichen energiesparenden Weise aus. Kann ein Patient eine dieser Aktivitäten nicht auf diese Weise 6
Für eine effektive pharyngeale Phase sind auch zeitlich vorgelagerte Abläufe wie Haltung und Bewegung des Körpers, das Einbeziehen der Sinne (spüren, sehen, riechen, schmecken …) und Bewegungen im Mund wesentlich.
5
78
Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
Aus dem Alltag ist uns die Komplexität der Nahrungsaufnahme vertraut. Intuitiv nutzen wir für uns selbst unsere Erfahrung, wie wir z.B. das Trinken ausreichend sicher gestalten können. Beispiel
5
Nur mit äußerster Vorsicht würden wir in Rückenlage aus einer Flasche oder gar einer Schnabeltasse trinken! Wenn Sie sich nicht sicher sind, ob diese Aussage stimmt, probieren Sie aus! Sie werden sehr behutsam versuchen, nicht zuviel Flüssigkeit auf einmal in den Mund aufzunehmen, indem Sie über Hand- und Armbewegungen sowie Kopf-, Lippenund Zungenposition die Flüssigkeit bremsen. Würden Sie sich auch gerne seitlich drehen und abstützen oder gar aufsetzen? Sofort ist uns bewusst, dass die Rückenlage – mit ihrer typischen beschleunigenden Schwerkraftwirkung auf die Flüssigkeit – uns zum Husten bringen würde bzw. den Schluckvorgang unsicher macht. Überlegen Sie: Wie mag es einem neurologischen Patienten auf der Intensivstation gehen, der noch nicht ins Sitzen mobilisiert werden kann? Wie wird er – in unkorrigierter Position mit dem hochgestellten Kopfteil des Bettes »aufgerichtet« – eine Mahlzeit zu sich nehmen können?
Diese Sichtweise integriert auch weitere, die Nahrungsaufnahme beeinflussende Bereiche: 4 Haltung/7 Tonus, 4 Atmung, 4 Artikulationbewegungen, 4 mimische Bewegungen und 4 deren Koordination. Einige Komponenten mimischer und artikulatorischer Bewegungen, z.B. der Lippen und der Zunge, werden auch bei der Nahrungsaufnahme genutzt. Durch 7 Fazilitieren alltagsrelevanter Lippen- und Zungenbewegung unter gleichzeitiger Hemmung der für neurologische Patienten
typischen abnormalen Bewegungskomponenten, wie 4 Überaktivität der weniger betroffenen Seite beim Halbseitengelähmten, 4 Ausweichbewegungen, 4 assoziierte Reaktionen oder 4 spastische Tonuserhöhung,
Das therapeutische Vorgehen zeigt . Übersicht 5.5. . Übersicht 5.5. Therapeutisches Vorgehen 4 Erarbeiten der sicheren Schlucksequenz 4 Erarbeiten von effizienten Schutzmechanismen Das Ziel ist, dass beide Funktionen automatisch und wenn notwendig erfolgen, und dass dies in verschiedenen Ausgangsstellungen, bei allen alltäglichen Aktivitäten und im variablen Kontext geschieht. Währenddessen: 4 Berücksichtigung beeinflussender Bereiche: Haltung/7 Tonus, Atmung, Artikulation und mimische Bewegungen und deren Koordination 4 Erleichtern/7 Fazilitieren 7 physiologischer, alltagsrelevanter Bewegungen (z.B. für die Bolusformung) 4 Hemmen/Inhibieren abnormer Bewegungskomponenten 4 Meiden von reinen »Übungen«, die der funktionellen Kompetenz des Patienten nicht angepasst sind, und die keine Variation und keine Alltagsanbindung beinhalten
Dieser Behandlungsansatz hat sich für schwer betroffene neurologische Frührehabilitationspatienten bewährt. Auch bei leichter betroffenen Patienten mit umschriebenen Störungen, die das Schlucken und die Nahrungsaufnahme beeinträchtigen, sind eine genaue Analyse der vorhandenen Bewegungskomponenten sowie das »handson«-Vorgehen zum Lenken der sensomotorischen Abläufe erforderlich. Damit wird der Grundstein für ein sicheres Schlucken gelegt. > Beachte Die F.O.T.T. ist mehr als »Schlucktherapie« für neurologische Patienten. Sie bezieht Aspekte und Vorbedingungen ein, die für die alltägliche Nahrungsaufnahme wesentlich sind, um 7 normale Bewegungsabläufe auszubauen, so dass der Patient lernt, während des Essens und Trinkens – und später im Alltag – wieder Zugriff darauf zu erlangen.
5.3.2
wird der Zugriff auf 7 normale, ökonomische Bewegungsabläufe für den Patienten gebahnt und erleichtert.
Die Schlucksequenz
» Schlucken ist eine Alltagsaktivität, die sich durch Schnelligkeit, höchste Koordination, Variabilität und Automatisierung auszeichnet. Ökonomische Bewegungsabläufe, die auf gespürter Information und normalen 7 Bewegungsmustern basieren, sind für ein effektives, unwillkürliches Schlucken unerlässlich. (Müller 2004)
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79 5.3 · Wann ist die Nahrungsaufnahme ausreichend sicher?
Aus der erweiterten Betrachtungsweise des Schluckablaufs im Rahmen der F.O.T.T. ergibt sich ein Beobachtungsschema, das die Nahrungsaufnahme als einen aufeinander aufbauenden, sequenziellen Vorgang beschreibt. jDie Schlucksequenz nach Coombes
Die Schlucksequenz besteht aus vier Phasen, in . Übersicht 5.6 dargestellt.
. Übersicht 5.6. Phasen des Schluckvorgangs Prä-orale Phase 4 7 Haltungshintergrund: Aufgerichtetes Becken, entspannter, symmetrischer Schultergürtel, Kopf in Mittelposition, langer Nacken 4 Zielgerichtete Bewegungen unter Einbeziehen der Sinneskanäle und der Wahrnehmung: 5 »Hand« bereitet die Nahrung vor 5 »Hand« bewegt Nahrung zum Mund 5 Spüren der Bewegung und der Position 5 Augen (Nase + Ohren) sammeln Information über die Vorbereitung der Nahrung
Orale Phase 4 Bolusformung: Zerkleinern der Nahrung und Durchmischen mit Speichel 4 Bolustransport: Horizontaler oraler Transport mit der Zunge durch die Mundhöhle
Pharyngeale Phase 4 Vertikaler Bolustransport unter Verschluss der Atemwege Ösophageale Phase 4 Vertikaler Transport in den Magen
kUnzureichend: eine isolierte Betrachtung …
… der einzelnen Phasen oder Bewegungskomponenten! Das ist die logische Schlussfolgerung, wenn der Ablauf bei der Nahrungsaufnahme als Schlucksequenz betrachtet wird. Dies beinhaltet auch, dass nicht nur die Funktion einzelner Muskeln oder Bewegungskomponenten in deren Effektivität bewertet werden, sondern dass koordinierte Bewegungsabläufe in funktionellen Zusammenhängen und die Koordination verschiedener Abläufe miteinander – wie Atmen und Schlucken – beurteilt und therapeutisch beeinflusst werden (7 Kap. 4 und 8). i Praxistipp Der 7 Haltungshintergrund – und somit die prä-orale Phase – beeinflusst die Bewegungsmöglichkeiten in der oralen und der pharyngealen Phase und somit die Sicherheit. Zu beachten und zu nutzen ist, dass eine Phase die nächste Phase beeinflusst!
Bei einem wahrnehmungsgestörten Patienten ist es besonders wichtig, die prä-orale Phase auszubauen. Die gespürte Information über das Geschehnis, die Alltagsaktivität muss vermittelt werden (Affolter u. Bischofberger 1996). Nur so kann er die Situation »begreifen« und adäquate Bewegungen in der oralen Phase ausführen. Ohne ausreichende Spürinformation kommt es z.B. zum Beißen ins Glas, aus dem der Patient trinken soll. Gratz (2002) führt in diesem Zusammenhang den Begriff erweiterte prä-orale Phase ein. Diese bezieht neben der Vor- und Zubereitung der Nahrung auch ggf. deren Zusammenstellung und das Einkaufen (Besorgen) gemeinsam mit dem Patienten mit ein. i Praxistipp Bei der Frage nach Sicherheit wird 4 die prä-orale Phase oft unterschätzt, 4 die orale Phase ebenfalls unterschätzt, 4 die pharyngeale Phase zu isoliert betrachtet.
kTherapeutische Konsequenzen
Die Betrachtung der Nahrungsaufnahme als Schlucksequenz gibt dem therapeutischen Team, den Patienten und den Angehörigen eine Möglichkeit, den Ablauf des Schluckens, Essens und Trinkens zu verändern, ihn effektiver und somit sicherer zu machen. Auch die pharyngeale Phase kann positiv beeinflusst werden durch: 4 Einbeziehen der Hände, 4 Unterstützen von 7 Haltungshintergrund, Kopfposition, koordinierter Kiefer- und Zungenaktivität und 4 »Vorbereitung des Mundes« durch Stimulation von Bewegung und vermehrten taktilen Input. i Praxistipp Generelle Überlegungen und einige Beispiele: 4 Wir gestalten das Davor und Danach der pharyngealen Phase. Dazu nutzen wir die Überlegungen und Mittel der therapeutischen Nahrungsgabe, der assistierten Mahlzeit und der Mundhygiene unter Einbeziehung basaler Zusammenhänge wie Haltung und Atmung. So wird das Zähneputzen in einer hilfreichen Ausgangsstellung bei vielen Patienten vermehrtes Schlucken auslösen. 4 Wir richten unsere Arbeit auf Erweiterung und Ausbau sensomotorischer Fähigkeiten zur Erreichung funktioneller Ziele aus: Gestaltung des 7 Haltungshintergrunds und Berührung der Zunge verhilft häufig zum Schlucken von Speichel. 4 Wir kontrollieren, ob unser Vorgehen etwas verändert, z.B.: Ist die Stimme nicht mehr »nass« nach dem Schlucken? Dies bedeutet, dass der Patient Residuen im Bereich der Stimmlippen entfernen konnte und heruntergeschluckt hat. 6
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Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
4 Wir achten bei der Ausführung von Bewegungen, z.B. der Zunge, auf die Bewegungsqualität und beeinflussen sie, z.B. durch den Kieferkontrollgriff. 4 Wir korrigieren die Kopfposition. 4 Wir fördern die 7 dynamische Stabilität des Unterkiefers durch einen an die Fähigkeiten des Patienten angepassten Kieferkontrollgriff. Dieser stabilisiert den Kiefer vom Beginn des oralen Bolustransports bis zum Ende der pharyngealen Phase. 4 Wir geben Schluckhilfen am Mundboden, die 5 den Kiefer stabilisieren, 5 Transportbewegungen der Zunge initiieren oder unterstützen, 5 Residuen z.B. im 7 Vallecularraum spürbar machen (. Abb. 5.2 b, 5.8 b, 5.12)
Beispiel Erarbeiten einer ausreichend sicheren Schlucksequenz Herr B., der sich normalerweise mit dem Rollstuhl fortbewegt, sitzt in korrigierter Haltung auf einem Stuhl am Tisch. Zwischen der Wand und dem rechten Bein wurde ein Pack (fester Schaumstoffblock) positioniert, über den der Patient die Wand als stabile Seite (stabile Umwelt) spüren kann. Nach dieser Vorbereitung des 7 Haltungshintergrunds wird die Mundstimulation durchgeführt und somit die oralen Strukturen und das Schlucken vorbereitet. Dann erfolgt das Entblocken der 7 Trachealkanüle. Da Herr B. ein punktiertes 7 Tracheostoma hat, das sich innerhalb kurzer Zeit verkleinert, schrumpft, kann die Trachealkanüle nicht für die Therapie entfernt werden. Sie kann aber für einige Zeit mit einem Sprechventil »verschlossen werden«. Herr B. kann trotzdem ruhig und fließend – jetzt über Kehlkopf und Rachen – ausatmen (Informationen zur Trachealkanüle, 7 Kap. 9 und 10). Herr B. hält ein Glas mit gekühltem Apfelsaft in der Hand (. Abb. 5.2 a). Er hat schon mit dem Finger gekostet und prompt geschluckt. Nun berührt die Therapeutin die Zunge des Patienten gezielt und mit etwas Druck. Ihr Finger ist mit etwas Apfelsaft angefeuchtet, um den Geschmacksstimulus zur Anregung vermehrter Bewegung und der Speichelproduktion zu nutzen. Der rechte Arm der Therapeutin unterstützt mit dem Kieferkontrollgriff von der Seite die Kopfposition des Patienten. Nach der Berührung der Zunge 7 fazilitiert die Therapeutin das Schlucken (. Abb. 5.2 b). Ihre rechte Hand unterstützt am Okziput die Kopfposition »langer Nacken«. Daumen und Mittelfinger der linken Hand stabilisieren bilateral den Unterkiefer und heben über den Mundboden leicht den hinteren, oralen Zungenanteil an. Herr B. schluckt. Nach dem Schlucken erfolgt die »Stimmkontrolle« (. Abb. 5.2 c). Die Therapeutin erspürt Herrn B.’s Atemrhythmus und unterstützt ihn bei der Ausatmung und beim koordinierten Einsatz der Stimme, indem sie zum rechten Zeit6
punkt gemeinsam mit ihm ihre Stimme erklingen lässt (statt ihn dazu aufzufordern). Herr B. artikuliert, einsetzend mit der Ausatmung für 5 Sekunden ein kräftiges, klares »a«. Die Stimme ist »frei«, es hat sich kein Speichel auf die Stimmlippen gelegt und im Bereich des Sternums ist kein Rasseln zu spüren. Dies sind klinische Zeichen für ein »erfolgreiches«, sicheres Schlucken.
Es gibt keine »Zaubergriffe«, die bei allen Patienten wirken. Wir müssen uns mit der Komplexität von Alltagsleistungen wie der Nahrungsaufnahme vertraut machen. Wir müssen detektivische Arbeit leisten, um herauszufinden, was dem einzelnen Patienten hilft, normalere Alltagsbewegungen auszuführen. Dadurch ermöglichen wir dem Patienten, diese Abläufe später auch ohne externe Hilfe zur Verfügung zu haben.
» Give the patients their body back! « – Gebt den Patienten (die Kontrolle über) den eigenen Körper zurück! (Coombes)
5.3.3
Schluckhilfen
» Effiziente Bewegung basiert auf der Fähigkeit, Bewegungen selektiv zu kombinieren und limitieren, so dass die erwünschte funktionelle Aktivität im variablen Kontext möglich wird. (Graham et al. 2009)
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jGrundgedanken zu Schluckhilfen in der F.O.T.T.
Effektives und effizientes Schlucken von Speichel, Nahrung und Getränken ist ein Ziel in der Behandlung von Patienten mit neurogenen Schluckstörungen. Die Hauptstrategie in der F.O.T.T. zielt darauf ab, Patienten dazu zu verhelfen, dann zu schlucken, wenn es nötig ist. Daher wird der Patient sowohl dabei unterstützt, »den Grund für das Schlucken« (Speichel oder Nahrung) zu spüren als auch fazilitiert, effizienter zu schlucken, z.B. mit weniger Pumpbewegungen, mit kompletter Kehlkopfhebung usw. Darüber hinaus werden Schluckbewegungen durch taktile Hilfen initiiert bzw. der Schluckvorgang fazilitiert. »Hands-on« wird dabei der Bewegungsablauf in möglichst normale, physiologische Bahnen gelenkt. Sobald wie möglich werden die externen taktilen Hilfen reduziert, und es wird zunehmend »hands-off« gearbeitet. Die gewählte Intervention beim Patienten hängt von der klinischen Befunderhebung und der Hypothese zum Hauptproblem des Patienten ab: Was hilft diesem Patienten in dieser Position und Situation zu schlucken? Die im Folgenden aufgeführten Schluckhilfen sind die Interventionen, die sich im klinischen Alltag als hilfreich erwiesen haben. Sie stellen eine Aufzählung möglicher In-
81 5.3 · Wann ist die Nahrungsaufnahme ausreichend sicher?
. Abb. 5.2 a-c. Erarbeiten einer ausreichend sicheren Schlucksequenz mit Herrn B. a Die Therapeutin berührt Herrn B’s Zunge. b An-
schließend erfolgt die Stimulation des Schluckens. c Stimmkontrolle, war das Schlucken effektiv?
terventionen dar, welche im Sinne des clinical reasonings (7 Kap. 1.4.1) auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse des einzelnen Patienten abgestimmt werden müssen.
kStabilisierung des Unterkiefers
Direkte und indirekte Schluckhilfen In der F.O.T.T. unterscheiden wir direkte und indirekte Schluckhilfen. 4 Direkte Schluckhilfen an Kiefer und Zunge unterstützen den Patienten, beim Schluckvorgang koordinierte Schluckbewegungen auszuführen. 4 Indirekte Schluckhilfen unterstützen den Patienten dabei, Residuen zu spüren, die ein Schlucken erforderlich machen, d.h., sie können helfen den Schluckvorgang zu initiieren. jDirekte Schluckhilfen
Mit direkten Schluckhilfen werden Bewegungsanteile der Schlucksequenz fazilitiert. Dazu gehören dynamisches Stabilität des Unterkiefers und selektive Zungenbewegungen in der oralen und pharyngealen Phase der Schlucksequenz auf der Basis eines optimierten Haltungshintergrundes (posturale Kontrolle).
» Bei menschlichen Bewegungen wird selektive Bewegung einer jeden Struktur von Aktivitäten begleitet, die unerwünschte Bewegungen einer anderen Struktur ausgleichen. (Graham et al. 2009)
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Im klinischen Alltag ist bei einer Vielzahl von Patienten mit neurogenen Schluckstörungen und Störungen der Nahrungsaufnahme zu beobachten, dass sie nicht in der Lage sind, ihren Unterkiefer mit Beginn des oralen Bolustransports zu stabilisieren. Sie setzen »pumpende« Unterkiefer- und zum Teil auch Mundwinkelbewegungen fort, obwohl der Unterkiefer in dieser Phase der Schlucksequenz das Punctum stabile für Zungen-, Hyoid- und Kehlkopfbewegung bilden sollte (7 Kap. 4). Als Maßnahme zur Stabilisierung des Unterkiefers sowie zur Unterstützung des Mundschlusses bieten wir den Kieferkontrollgriff an, der in seiner Ausführung von Patient zu Patient variieren kann. Zu diesem Zweck müssen wir sicherstellen, dass diese taktile Hilfe so ausgeführt wird, dass eine stabile Referenz gewährleistet ist. Der Therapeut muss sich dafür selbst in einer stabilen Position befinden, und der
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Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
tens einstellt, z.B.: Patient gibt einen Teil des Kopfgewichts in die Kieferkontrollgriffhand ab und der Nacken des Patienten »wird länger«, d.h., die Hyperextension der oberen Halswirbelsäule wird aufgelöst (Haltung, 7 Kap. 4). Damit ist ein adäquateres Alignment zwischen Rumpf, Schultergürtel und Kopf für die Funktion Schlucken hergestellt. 4 Die Schluckbewegung verändert sich 5 qualitativ, z.B. die Pumpbewegung des Unterkiefers vor der Larynxelevation wird in Bewegungsausmaß oder/und Häufigkeit reduziert, das Ausmaß der Larnyxelevation in der pharyngealen Phase nimmt zu, dem Schlucken folgt kein Husten mehr oder die Stimme bleibt frei, 5 quantitativ, z.B der Patient schluckt häufiger.
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kFazilitieren von Zungenbewegungen
. Abb. 5.3. Kieferkontrollgriff von vorne. Die am Tisch abgestützte Hand der Therapeutin gibt stabile Referenz am Sternum des Patienten und stabilisiert den Kiefer. Damit der Patient die Unterstützungsfläche des KKG annehmen kann, optimiert die 2. Hand an der Stirn die Kopfeinstellung Richtung »langer Nacken«. Ziel: Der stabile Kiefer ermöglicht die selektive Bewegung der Zunge in der oralen und pharyngealen Phase (und somit eine Reduzierung der Pumpbewegungen des Unterkiefers) sowie ein prompteres Einsetzen der Kehlkopfbewegungen mit größerem Bewegungsausmaß
fazilitierende Griff muss für den Patienten spürbar sicher sein, d.h., der Griff muss wirkliche Stabilität vermitteln. i Praxistipp Geeignete Maßnahmen, um Stabilität zu gewährleisten: 4 Therapeut schafft sich selbst eine stabile Referenz, indem er das Gewicht seines Arms auf einer Unterstützungsfläche abstützt (. Abb. 5.3). 4 Therapeut bietet einen flächigen, an die Unterkieferkonturen des Patienten angepassten Kieferkontrollgriff an. 4 Therapeut hat alle benötigten Utensilien (Zahnbürste, Becher mit Wasser, Tücher, Nahrung …) in greifbarer Nähe bereitgestellt, so dass der Griff nicht zwischenzeitlich aufgegeben werden muss.
Zeichen für eine erfolgreiche Stabilisierung des Unterkiefers sind:
4 Die Intervention erweist sich als hilfreich, wenn der Patient die angebotene Unterstützung annehmen kann und sich eine Veränderung des motorischen Verhal-
Hauptakteur des horizontalen Bolustransports in der oralen Phase ist die Zunge, die von ventral nach dorsal (»wellenförmig«) Kontakt zum (harten) Gaumen herstellt. Dadurch wird der Bolus in den Rachen transportiert. In der pharyngealen Phase wird der Bolus durch Kontraktion zwischen Rachenrückwand und Zunge (vom Zungenrücken bis zur Zungenbasis) in Richtung Ösophagus transportiert. Es ist möglich, Anteile dieser Zungenbewegung zu fazilitieren!
In . Abb. 5.4 a wird die Wirkungsrichtung möglicher Fazilitationen anhand von Vektoren (a-c) in einem Sagittalschnitt schematisch verdeutlicht. Ziel der Fazilitation ist je nach funktionellem Status des Patienten: 4 Den vorderen Anteil der oralen Zunge in Kontakt mit dem harten Gaumen bringen und damit die Transportbewegung initiieren oder koordinieren. Der Basisgriff für diese Fazilitation ist in der Regel ein klassischer Kieferkontrollgriff von vorne (. Abb. 5.3) oder von der Seite (. Abb. 6.8 c). Mit dem Mittelfinger kann die Schluckhilfe mittig nach oben fazilitierend, hinter dem Kinn über den Mundboden, ausgeführt werden. 4 Dem Zungenrücken zum koordinierten Weitertransport des Bolus verhelfen (. Abb. 5.4 b). Auch hier treten bei neurologischen Patienten wiederkehrende dyskoordinierte und am Mundboden spürbare Bewegungen auf. Klinisch ist zu beobachten, dass nach Fazilitation des Kontakts zwischen Zungenrücken und hartem Gaumen häufig eine deutlichere Elevationsbewegung von Hyoid und Kehlkopf erfolgt. 4 Den pharyngealen Zungenanteil nach dorso-kranial bewegen. Dadurch werden einerseits Reste im Bereich der Valleculae mobilisiert und somit durch den entstehenden Kontrast spürbar gemacht. Andererseits wird die Zunge in die pharyngeale Transportbewegung hinein fazilitiert (. Abb. 5.2 b, 5.8 b).
83 5.3 · Wann ist die Nahrungsaufnahme ausreichend sicher?
a . Abb. 5.4 a, b. a Schluckhilfen im Sagittal-Modell: Die Vektoren a-c verdeutlichen die Bewegungsrichtungen, in die die Zunge fazilitiert werden kann. Bei den Schluckhilfen der Vektoren b und c ist eine bilaterale Fingerpositionierung erforderlich. Zu beachten: Bei Sagittalschnittmodellen ist die Wirbelsäule immer vertikalisiert – mit ver-
In . Übersicht 5.7 sind die Kennzeichen dieser Schluckhifen zusammenfassend aufgelistet. . Übersicht 5.7. Kennzeichen direkter Schluckhilfen im Zungenbereich 4 Stabiler Unterkiefer, ggf. durch Kieferkontrollgriff fazilitiert (s.o.). 4 Gezieltes Begleiten der Struktur Zunge in die funktionelle Position. Diese Schluckhilfen wirken durch einen an die Strukturen des Patienten angepassten Griff, der die Zunge nach und nach in die gewünschte Bewegung hineinführt. Der Therapeut muss dabei feinfühlig wahrnehmen, wie der Patient reagiert, und ob Richtung und Input der Veränderung hilfreich für die gewünschte Funktion »Schlucken« ist. 4 Physiologisches und funktionelles Alignment von Schulter-Nacken-Kopf, Unterkiefer, Lippen sowie eine physiologische Zungenlage. Andernfalls ist die Spannung der Mundbodenmuskulatur 6
kürztem Nacken – dargestellt. Die optimierte Ausgangsstellung für das Schlucken ist immer ein »langer Nacken«. b Fazilitation des Anhebens des hinteren oralen Zungenanteils. Therapiesequenz im unterstützten Stand (Vektor b in . Abb. 5.4 a)
in der Regel so verändert, z.B. so angespannt, dass die Zungenmuskulatur durch die taktilen Hilfen nicht erreicht wird. Dem Patienten Zeit lassen, auf die Schluckhilfe zu reagieren. Meist muss das taktile Angebot über mehrere Sekunden beibehalten werden, bevor der Patient »antwortet«.
! Vorsicht Nicht hilfreich im Sinne der fazilitierenden Schluckhilfe sind: 4 Oberflächliche, streichende Bewegungen über Mundboden und Hals. Diese sind nicht geeignet, die Strukturen in die Bewegung »Schlucken« hineinzufazilitieren. 4 Schnelle, »rührende« Bewegungen, da diese nach unserer Erfahrung nicht zur gewünschten strukturellen bzw. funktionellen Veränderung für das Schlucken führen. Sie tragen nicht zur räumlichzeitlichen Organisation des Bewegungsablaufs bei.
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Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
jIndirekte Schluckhilfen
» Man kann nicht spüren, ohne zu bewegen. « (Hofer 2009)
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Indirekte Schluckhilfen dienen dem Erspüren von Speichel bzw. Nahrungsresiduen. Die normale Reaktion auf die Wahrnehmung von oralen und besonders pharyngealen Resten sind Sammel- und Transportbewegungen und in diesem Kontext das automatische Schlucken. Um die Residuen leichter spürbar zu machen, nutzen wir Bewegungen oder Funktionen, die die Residuen mobilisieren, in Bewegung versetzen. Dadurch wird der Wahrnehmungskontrast verstärkt. Nachfolgend sind mögliche Angebote, um Residuen wahrnehmbar und somit »schluckbar« zu machen, beschrieben. kVeränderung des gesamten Körpers oder von Körperabschnitten, z.B. Schultergürtel- und Kopfposition
Dies erfolgt im Schwerkraftfeld (z.B. beim Lagewechsel) oder durch Bewegen von Körperabschnitten (z.B. Korrektur der Kopfposition, Bewegungen von Schultergürtel und Kopf) (. Abb. 5.10 j). Dadurch verändern sich Residuen von ihrer Lage im oro-pharyngealen Trakt und bieten mit der Veränderung einen Reiz, der leichter wahrnehmbar ist. Je nach Ausführung des Positionswechsels, der Qualität von Alignment und Tonusanpassung können die relevanten Strukturen koordinierter für ein effektives Schlucken bewegt werden. kMobilisation der Zunge
Im funktionellen Kontext (z.B. Sammel- und Reinigungsbewegungen (. Abb. 5.10 f)) oder durch Berühren und Bewegen der Zunge durch den Therapeuten (. Abb. 5.10 e). kTaktile Unterstützung der Ausatmung ggf. mit Stimmgebung
Zur Mobilisierung von Residuen: Spontan folgende Transportbewegungen im Sinne von Schlucken, Räuspern, Husten oder Ausspucken werden ggf. unterstützt, um dem Patienten zur effektiven und koordinierten Funktion zu verhelfen. Fazit Wir nutzen sensorischen Input (indirekte Schluckhilfen), um eine motorische Antwort zu elizitieren, hervorzurufen und lenken diese durch Fazilitation (direkte Schluckhilfen). Art und Weise sowie Schwerpunkt der Intervention hängen vom zugrunde liegenden Problem des Patienten ab. In der Praxis werden Kieferstabilitat, Aktivierung und Lenkung der Zungenbewegungen und Schluckhilfen kombiniert. Wichtig ist hierbei, dass die Strukturen deutlich und gezielt in ihre Funktion hinein unterstützt werden, d.h., die Griffe müssen eine klare funktionelle Ausrichtung haben. Sie dürfen nicht diffus, oberflächlich und streichend angewandt werden.
Dieses Vorgehen setzt funktions- und aktivitätsorientierte Kenntnis der normalen Bewegungsmuster beim Schlucken sowie eine genaue Beobachtung des Patienten und Feedforwardaktivitäten des Therapeuten voraus. Der Patient sollte dann unterstützt werden, wenn es nötig ist, zu schlucken, z.B. auch während des Transfers vom Bett in den Rollstuhl, nach dem Räuspern oder Husten, in der Pause während des Sprechens. i Praxistipp Als günstig erweist es sich, wenn alle Teammitglieder und die Angehörigen mit der Schluckhilfe vertraut sind, die den Patienten am erfolgreichsten unterstützt. Diese muss vorher geübt werden, um dann aufmerksam im Alltag angewendet zu werden.
Mit diesem Vorgehen werden die Erkenntnisse der Forschung zur neuronalen Plastizität in den Alltag umgesetzt, nach denen das Gehirn die besten Adaptions- und Lernveränderungen aufweist, wenn wiederholt, intensiv und in alltagsnahen Variationen eine Fähigkeit geübt oder besser gebahnt und (wieder-) erlernt wird (Robbins et al. 2008; Martin 2009). So wird gewährleistet, dass der Patient die größtmögliche Chance erhält, das sichere, ökonomische, automatische und somit alltagstaugliche Schlucken wieder zu erlernen (7 Kap. 3).
» Ohne Information (sensorischen Input) erfolgt keine Kontrolle, kein Lernen, keine Veränderung, keine Verbesserung. Afferente Information ist unerlässlich für genaue Feedforward-Bewegungskommandos. (Graham et al. 2009)
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5.3.4
Funktionelle Zusammenhänge erkennen
jNormale Koordination von Atmung und Schlucken Normalerweise können wir beobachten, dass Atmung und Schlucken in einer vorhersagbaren Weise miteinander
koordiniert wird. Wir wissen, dass mit der Ausatmung nach dem Schlucken Residuen aus dem unteren Pharynx oder gar Larynxeingang bewegt werden können. Damit werden sie leichter spürbar, die unteren Atemwege werden geschützt, und Reste können in den oberen Pharynx transportiert und dann geschluckt werden. Auch bei gesunden Personen wird teilweise nach dem Schlucken eine Ausatmung hörbar. In der Regel wird vor der pharyngealen Phase der Schlucksequenz etwas ausgeatmet, dann erfolgt das Schlucken (die Atmung stoppt – Schluckapnoe), woraufhin erneut die Ausatmung einsetzt (7 Kap. 8). Dieser Ablauf, also Ausatmen-Schlucken-Ausatmen, wurde auch mit verschiedenen Studien belegt. Die ermittelten Prozentsätze variierten jedoch.
85 5.3 · Wann ist die Nahrungsaufnahme ausreichend sicher?
Unter der Lupe Studienergebnisse Nach einer Studie von Klahn und Perlman (1999) ging in 93% der Fälle dem Schlucken eine Ausatmung voraus, und zu 100% folgte Ausatmung. Bei dieser Untersuchung bekamen die Testpersonen die Nahrung angereicht. Hiss et al. (2001) berichteten, dass bei 900 bzgl. AtemSchluck-Koordination analysierten Schluckvorgängen die Ausatmung zu 75% vor dem Schluck und zu 86% nach dem Schluck erfolgte. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass normale Testpersonen dieses sichere Schluck-AtemMuster nutzen, wenn sie aufgrund der Versuchsanordnung die Nahrung nicht selbst zum Mund führen können.
Aus den Studienergebnissen kann man schließen, dass eine Beeinträchtigung in der normalen prä-oralen Phase – das Anreichen von Nahrung – eine Umstellung auf mehr Kontrolle – mehr Sicherheit – in den funktionellen Zusammenhängen verlangt. Mehr Sicherheit bedeutet in diesem Fall Ausatmung vor und nach dem Schlucken. Damit werden Residuen entfernt, z.B. aus dem Kehlkopfeingangsbereich. > Beachte Menschen mit normaler Sensomotorik sichern sich über Umstellung der Atem-Schluck-Koordination annähernd maximale Sicherheitsfaktoren, wenn sie selbst nicht die Nahrung zum Mund führen können. Schlucken und Schutzmechanismen basieren auf effizienter Atmung: 4 Räuspern und Husten sind durch koordinierte, forcierte Ausatmung möglich. 4 Die Atempause für das Schlucken ist nur möglich, wenn der Körper ausreichend mit Sauerstoff versorgt ist. Ansonsten ist die fortlaufende Atmung – ohne Pause – vorrangig. Ein Patient, der erkennbar erschwerte Atemarbeit leistet, hat denkbar schlechte Voraussetzung für effektives Schlucken und ausreichende Schutzmechanismen.
Im Klinikalltag begegnen wir immer häufiger Patienten, die bei Beatmung oder nach Beatmungsentwöhnung an einer Dysphagie leiden, ohne dass strukturelle oder neurologische Befunde diese erklären können. In den Leitlinien »Neurogene Dysphagien« (2008) wird die Häufigkeit des Auftretens von Schluckstörungen nach Critical-IllnessPolyneuropatie und Critical-Illness-Myopathie nach Langzeitbeatmung mit ca 80% beziffert (basierend auf Erfahrung der Autoren, in deren Literaturrecherche wurden keine Angaben gefunden). Dies spricht einerseits für die Wichtigkeit effizienter und effektiver Atmung für das Schlucken und andererseits dafür, dass man die Funktionen Schlucken und Atmung nicht voneinander losgelöst therapieren sollte (7 Kap. 10).
jTypische Probleme im Bezug auf Haltung, Atmung und Schlucken
Beim Anreichen von Essen und Trinken in den Selbsterfahrungs-Workshops, die in den F.O.T.T.-Kursen durchgeführt werden, versuchen die Kursteilnehmer, mit den ihnen zur Verfügung stehenden (präoralen) Bewegungen und Schutzreaktionen, die Situation zu kontrollieren. Es können dabei generell gültige Beobachtungen gemacht werden: Wir kompensieren mit vermehrter Informationssuche über Augenbewegungen und neigen Kopf- und Oberkörper oder gar den ganzen Rumpf vor, wenn uns Nahrung angereicht wird. Ziel dieser kontrollierenden (Re-)Aktionen auf die veränderte Situation ist das Herstellen der Sicherheit in den einzelnen Phasen der Schlucksequenz. Neben dem Vermeiden von prä-oralen »Unfällen«, z.B. dem Verschütten von Flüssigkeit aus dem Glas, das jemand anreicht, soll besonders auch ein sicherer oraler und pharyngealer Flüssigkeitstransport ermöglicht werden. Beim Übergang von der prä-oralen zur oralen Phase kontrollieren wir vor allem die Nahrungsmenge und kehren dann schnell in eine für das Schlucken günstige »Mittelposition mit langem Nacken« zurück, um vor allem die pharyngeale Phase sicher zu bewältigen. Wird im Alltag Patienten Nahrung angereicht, so müssen wir berücksichtigen, dass sie damit die Kontrolle über den Ablauf verlieren können. Gerade schwerer betroffene Patienten können aufgrund ihrer koordinativen Beeinträchtigung die o.g. Strategien zur Sicherung der Nahrungsaufnahme nicht oder nur eingeschränkt einsetzen. Sie sind damit einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Beispiel Die fixierte Rumpfposition oder Rumpfinstabilität der Patienten verhindert häufig die Möglichkeit, sich selbst in eine normale »Schluckposition« zu bringen und auch die Atmung ökonomisch den Erfordernissen anzupassen. Dies scheitert gerade dann, wenn die Anforderung komplexer wird und mit weiteren Funktionen kombiniert wird, hier Atmung und Schlucken, aber auch Atmung und Stimmgebung/Sprechen. Neurologische Patienten haben in der Regel auch Mühe, ihre Haltung und Bewegung ökonomisch an die Situation anzupassen. Hier sind die Probleme vielschichtig: Besonders den Rumpf selektiv aufzurichten und mit dem Oberkörper vorzukommen, fällt den Patienten schwer. Auf dieser Position und den Tonusverhältnissen des Rumpfes basierend ist der Kopf nicht frei beweglich (7 Kap. 4). Der Körper kann der Nahrung nicht »entgegenkommen« und damit etwas Kontrolle übernehmen. Auch für die visuelle Kontrolle des Vorgangs wäre eine differenzierte Kopfeinstellung nötig. Die Probleme verstärken sich noch, wenn die Nahrung von der Seite angereicht wird.
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Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
Sichere Nahrungsaufnahme ist mehr als Schlucken
5.4 Unter der Lupe Studie zum Pneumonierisiko
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Untermauert werden diese Überlegungen durch eine Studie von Langmore et al. (1998), die übrigens selbst vom Ergebnis ihrer Recherchen überrascht waren. In der Arbeit werden Faktoren, die das Auftreten von Pneumonien wahrscheinlich machen, untersucht. Der wesentlichste Vorhersagefaktor für das Auftreten einer Pneumonie war, dass Patienten die Nahrung angereicht werden musste! Als weitere relevante prognostische Faktoren erwiesen sich: 4 Abhängigkeit bei der Mundpflege, 4 Anzahl der schlechten Zähne, 4 Sondenernährung, 4 mehr als eine medizinische Diagnose und, dies sei der Vollständigkeit halber genannt, Rauchen. Eine 7 Dysphagie, also eine Schluckstörung, war keine der relevantesten Prognosefaktoren für eine Pneumonie!
jEin umfassender Therapieansatz ist nötig! Die therapeutische Konsequenz dieser Studie liegt auf
der Hand: Um Sicherheit zu schaffen – und hier schwebt dem Schlucktherapeuten vor allem die Vermeidung einer Aspiration und einer lebensbedrohlichen Pneumonie vor – müssen Parameter betrachtet werden, die über die Beurteilung der pharyngealen Phase hinausgehen. Des Weiteren bekräftigt das Ergebnis der Studie, dass es für eine effektive Behandlung mehr als die Fokussierung auf das Schlucken braucht. Besonders die Wichtigkeit einer adäquaten Mundhygiene, der Gesunderhaltung des oralen Milieus, wird betont. F.O.T.T.-Therapeuten arbeiten mit diesem Schwerpunkt während der Mundstimulation nach Coombes (7 Kap. 6.3.3), bei der Anbahnung von Zungen- und Schluckbewegungen und innerhalb der Durchführung einer strukturierten Mundhygiene. All dies ist eng mit dem Thema »Sicherheit« bzw. Vermeidung von Pneumonie verknüpft. > Beachte 4 Durch Arbeit in der prä-oralen und oralen Phase wird die pharyngeale Phase beeinflusst. 4 Denken in funktionellen Zusammenhängen erleichtert die Analyse und Beeinflussung von Alltagsproblemen, z.B. sollte der Therapeut mit der Koordination von Atmen und Schlucken vertraut sein. 4 Sichere Nahrungsaufnahme setzt voraus, dass der Patient seinen Alltag möglichst automatisiert bewältigen kann. Ist dies nicht möglich, ist eine therapeutische Begleitung des Patientenalltags erforderlich.
» Um Pneumonien zu verhindern, müssen wir mehr als
einen Faktor, wie die 7 Dysphagie, betrachten. Die Behandlung muss alle relevanten Faktoren umfassen. (Langmore et al. 1998)
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Dies erfordert einen umfassenden interdisziplinären Ansatz in der Dyphagietherapie.
5.4.1
Sicherheitsrelevante Aspekte
In der täglichen Arbeit mit Patienten und auch in F.O.T.T.Kursen beschäftigt Therapeuten, Pflegende und natürlich Patienten und Angehörige häufig die Frage, zu welchem Zeitpunkt mit dem Angebot von Nahrung begonnen werden kann. Zu dieser dringenden Frage gibt es keine einfache, allgemein gültige Antwort. Im Ansatz der F.O.T.T. werden bei der klinischen Untersuchung, häufig untermauert mit bildgebenden Verfahren, folgende Fragen beantwortet: 4 Ist der 7 Haltungshintergrund des Patienten in der sitzenden Position dynamisch-stabil bzw. durch den Therapeuten kontrollierbar? 4 Wie ist die Schulter-/Nackenposition? i Praxistipp 4 In der Regel sollte der Patient für die Nahrungsaufnahme aktiv sitzen! 4 Schluckt der Patient seinen Speichel? Sind orale Transportbewegungen und pharyngeale Bewegungen vorhanden? 4 Patienten, die aufgrund von Speichelaspiration eine geblockte 7 Trachealkanüle haben, werden auch Nahrung aspirieren! 4 Kann der Patient effektiv husten, wenn es nötig ist? 4 Husten nach Aufforderung ist kein alltagsrelevantes Kriterium! 4 Der Patient muss husten, wenn er in Aspirationsgefahr ist, und über einen kompletten Schutzmechanismus verfügen, d.h. spontanes, kräftiges Husten gefolgt von Schlucken (oder Husten und anschließendes Ausspucken)!
! Vorsicht Bedenke die besondere Situation von tracheotomierten Patienten! Patienten, die eine 7 Trachealkanüle haben, werden dadurch funktionell sowohl beim Husten als auch beim Schlucken beeinträchtigt (7 Kap. 10).
Wenn der Patient diese Kriterien erfüllt, kann in einer kontrollierten Situation mit der im Folgenden beschrie-
87 5.4 · Sichere Nahrungsaufnahme ist mehr als Schlucken
benen therapeutischen Nahrungsgabe begonnen werden. Erfüllt der Patient über längere Zeiträume diese Kriterien nicht, so sollte der Therapeut weitere Gesichtspunkte heranziehen, um abzuwägen, ob die therapeutische Nahrungsgabe zwar mutig, aber chancenreich oder einfach leichtsinnig wäre. Für die frühzeitige kontrollierte Nutzung von Nahrungs- und Geschmacksreizen sprechen die Chancen, die Geschmack und Nahrung mit sich bringen. Im Klinikalltag ist immer wieder zu beobachten, dass Patienten nach einer guten Vorbereitung des 7 Haltungshintergrunds sowie oraler Vorbereitung und darauffolgender Geschmacks- oder Nahrungsgabe effektiver schlucken als wenn nur Speichel zu schlucken ist. Dies bringt der gesteigerte sensorische Input, die Kontraste an Geschmacks- und Spürinformation der Nahrung, mit sich. ! Vorsicht Trotz der positiven, stimulierenden Aspekte des Nahrungsangebots ist von der »trial and error«-Methode (Versuch und Irrtum) dringend abzuraten. Der Patient muss bestmöglich auf die therapeutische Nahrungsgabe vorbereitet und optimal begleitet werden. Die Unterstützung und Bewertung aller Aspekte der Schlucksequenz und der Schutzfunktionen stehen im Mittelpunkt der therapeutischen Intervention.
5.4.2
Die Bewertung sicherheitsrelevanter Faktoren
Die Beurteilung der Situation des Patienten in Bezug auf eine ausreichend sichere Nahrungsaufnahme ist häufig Mittelpunkt der Diskussion zwischen Mitgliedern des Behandlungsteams, Patienten und Angehörigen. Essen ist eine der wichtigsten alltäglichen Aktivitäten, die eine vielschichtige Relevanz hat. Mit einem Festessen tun wir uns oder unseren Gästen etwas Gutes. Eine Zeitlang nicht essen oder trinken zu dürfen, z.B. vor und nach einer Operation, stört unser Wohlbefinden erheblich. Auch wenn die Zufuhr von Nährstoffen gesichert ist, ist besonders das Nicht-trinken-Dürfen für viele Patienten eine deutliche Beeinträchtigung. Der Mundinnenraum fühlt sich bei Nahrungs- und besonders Flüssigkeitskarenz unangenehm an. Und wie soll man ohne etwas »Richtiges zwischen den Zähnen und im Bauch« wieder zu Kräften kommen? Es ist daher nicht verwunderlich, dass häufig Kontroversen um das Thema Nahrungsaufnahme entstehen und auch Gesichtspunkte der Lebensqualität einfließen, die sogar zu emotional geladenen Debatten in den Behandlungsteams oder mit den Angehörigen führen können. Zur Entscheidungsfindung können gedankliche Modelle beitragen, die klare, aber nicht eindimensionale Kriterien beinhalten.
. Abb. 5.5. Kernfaktoren (rot unterlegt): Schlucken und Schutzmechanismen; Zusatzfaktoren: Wachheit, Haltungshintergrund und Handling, Gesamtkonstitution (Modell: Lehmann u. Müller, Klinik Bavaria Kreischa)
Sicherheits- und entscheidungsrelevante Kriterien Ursprünglich wurde das folgende Modell genutzt für die Entscheidungsfindung bei der Kanülenentwöhnung (. Abb. 5.5). Die dargestellten Faktoren bieten aber auch Entscheidungshilfen zur Erwägung einer ausreichend sicheren oralen Nahrungsaufnahme. Es werden Kernfaktoren und Zusatzfaktoren unterschieden. Sind die Kern-
faktoren »Schlucken und Schutzmechanismen« vorhanden, aber noch nicht sicher genug, so sollten die Zusatzfaktoren die Situation absichern. > Beachte Ausreichende Sicherheit: Für jeden Patienten setzt sich die Entscheidungsfindung individuell aus den unterschiedlichen Kern- und Zusatzfaktoren zusammen.
jDie Kernfaktoren Effektives Schlucken und effektive Schutzmechanismen
sind die wesentlichsten Gesichtspunkte in der Bewertung einer ausreichend sicheren Nahrungsaufnahme, daher Kernfaktoren genannt. kSchlucken Das normale sichere Schlucken (pharyngeale Phase) und die Schlucksequenz sollen die Grundlage für die Bewer-
tung des Schluckens sein. Doch wann ist das Schlucken ausreichend sicher? Noch schwieriger wird die Entscheidung, wenn Studien belegen, dass auch Normalpersonen nicht »perfekt« schlucken, wie die Studie von Robbins et al. (1999) sehr anschaulich verdeutlicht.
» Obwohl keine der normalen, gesunden Personen aspirierte, zeigte die Penetrations-Aspirations-Skala, dass bei Normalpersonen während des Schluckens Material in die Atemwege eindringt. Es verbleibt jedoch oberhalb 6
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Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
der Stimmlippen, ein Phänomen, das wir als »hohe Penetration« bezeichnen, und wird meist (97% der Schlucke) vor Beendigung des Schlucks aus den Atemwegen befördert. (Robbins et al. 1999)
«
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Zum gleichen Ergebnis kam Schlaegel bei der Endoskopie von nicht schluckgestörtem Personal (7 Kap. 11.3.2). Eine Kollegin entsprach der erwarteten Norm so wenig, dass Schlaegel bei einem Patienten mit gleichem Befund erwogen hätte, eine 7 Trachealkanüle einzusetzen. Hier schließt sich deshalb die Frage an: Verlangen wir den Patienten nicht einen hypernormalen, supersicheren Schluck ab? Logemann zweifelt ebenfalls an den bisher üblichen Kriterien. Sie fragt:
» Wissen wir, was normaler und was abnormaler Schutz der Atemwege ist? « (Logemann 1999) Diese Aussage unterstützt die Wichtigkeit der Evaluation normaler Funktionen, die eine wesentliche Grundlage der F.O.T.T darstellt. Normale Funktionen sind sowohl Grundlage als auch das primäre Ziel der Behandlung. Der Schutz der Atemwege wird nicht ausschließlich durch den effektiven Verschluss der Atemwege und den regelgerechten Nahrungstransport innerhalb der Schlucksequenz gewährleistet. > Beachte Das Material, das »hochpenetriert«, das also beginnt, in den Kehlkopf einzudringen, wird durch eine kurze Ausatmung aus den Atemwegen befördert. Eine sichere Atem-Schluck-Koordination stellt somit einen wesentlichen Schutzaspekt dar.
Ein ausreichend sicheres Schlucken kann auch dann gegeben sein, wenn der Patient bei Penetration oder Aspiration einen effektiven Schutz zeigt. Kommt es zu Residuen im Rachen oder oberhalb der Stimmlippen, muss geprüft werden: 4 Kann der Patient verbliebene Residuen z.B. während der therapeutischen Nahrungsgabe spüren, durch Hochräuspern oder Mundausspülen aus dem Larynxeingang oder Pharynx-Bereich entfernen und ausspucken oder herunterschlucken? 4 Ob und inwieweit beeinträchtigen veränderbare Faktoren wie z.B. eine Nasensonde zusätzlich mechanisch das Schlucken? Huggins et al. (1999) kommen in ihrer Studie zu folgenden Schlüssen: 4 Eine naso-gastrale Sonde verlangsamt das Schlucken bei jungen, gesunden Erwachsenen, die aber ausreichend kompensieren können und auch mit Nasensonde sicher schlucken.
4 Möglicherweise beeinträchtigt die Nasensonde die Erholung und Rehabilitation von Patienten mit Schluckstörungen. In den letzten Jahren hat sich die Anlage von 7 perkutanen endoskopischen Gastrostomien (PEG) zunehmend durchgesetzt. Die frühzeitige Anlage schafft oft erst die Voraussetzung für einen erfolgreichen Rehabilitationsprozess, da viele Patienten nach PEG-Anlage und Entfernung der Nasensonde ihren Speichel deutlich effektiver schlucken. i Praxistipp Wird aufgrund medizinischer Erwägungen die PEG-Anlage verzögert, empfiehlt es sich – im Rahmen des Sondenwechsels – eine Therapieeinheit ohne Nasensonde durchzuführen.
Beispiel Endoskopisch lässt sich immer wieder beobachten, dass Speichel entlang der Nasensonde, die quasi als Schienung dient, nach unten läuft und an der hinteren Kommissur in den Larynx überläuft. Patienten, bei denen dies zu beobachten ist, aspirieren ihren Speichel permanent und brauchen oft eine geblockte 7 Trachealkanüle. Nach Entfernung der Sonde beginnen sie, den Speichel zu schlucken, und im weiteren Verlauf werden dann therapeutische Nahrungsgaben oder die Aufnahme kleiner Mahlzeiten sicher möglich.
Da die Schlucksequenz auch bei gesunden Menschen mit zunehmendem Alter tendenziell langsamer werden kann (Schaupp 2000) und bei neurologischen Patienten die verzögerte Initiierung des pharyngealen Schluckens ein 7 Leitsymptom ist (Bisch et al. 1994, die auch auf weitere Studien mit entsprechenden Ergebnissen verweisen), ist es nur zu verständlich, dass bei einigen Patienten die Nasensonde mit den oben beschriebenen Effekten sozusagen »das Fass zum Überlaufen« bringt und der entscheidende Faktor sein kann, der das Schlucken zu langsam und damit nicht ausreichend sicher macht. kSchutzmechanismen
Effektive Schutzmechanismen zeichnen sich durch nachfolgende Kriterien aus: Effektive Schutzmechanismen setzen rechtzeitig und automatisch ein. Beispiel Der Patient hustet oder räuspert sich, da er spürt, dass Material in die Atemwege eindringt. Dies müssen wir im Alltag beobachten. Effektive Schutzmechanismen sind nicht verlässlich dadurch zu prüfen, dass ein Patient auf Aufforderung husten kann.
89 5.4 · Sichere Nahrungsaufnahme ist mehr als Schlucken
Effektive Schutzmechanismen sind produktiv. Beispiel Das in die Atemwege eingedrungene Material wird durch Husten oder Räuspern zurück in den pharyngealen oder oralen Bereich befördert.
Teil der effektiven Schutzmechanismen ist eine reinigende Aktivität. Beispiel Nach oben – in den Pharynx – befördertes Material muss anschließend geschluckt oder ausgespuckt werden. Geschieht dies nicht, besteht die Gefahr, dass es wieder in die Atemwege eindringt.
Funktionelle Voraussetzungen für effektives, präzise koordiniertes Husten sind: 4 Adäquates 7 Bewegungsmuster des gesamten Körpers: Husten geht mit 7 Flexion v.a. des Rumpfes einher. 4 Ausreichende Möglichkeiten zum Druckaufbau sind vorhanden: Bei forcierter Ausatmung, die auf einem koordinierten Zusammenspiel von Diaphragma, Bauchmuskulatur und Atemhilfsmuskulatur basiert, müssen die Stimmlippen zunächst fest geschlossen bleiben, um dann explosionsartig geöffnet zu werden. > Beachte Eine 7 Trachealkanüle beeinträchtigt den effektiven Druckaufbau – beim Schlucken wie beim Pressen (z.B. beim Stuhlgang).
kKoordination der Kernfaktoren
Gerade bei Patienten, bei denen es zu pharyngealen Residuen, zur Penetration und/oder Aspiration kommt, ist es wichtig, zu beurteilen, was in diesen kritischen Momenten passiert. Ein wesentlicher Aspekt ist die Frage nach 4 der individuellen Effektivität des Schluckens, 4 den Schutzmechanismen und 4 deren Koordination. Hierbei kann neben der geschulten klinischen Beurteilung ein bildgebendes Verfahren (wie die Endoskopie) Aufschluss über erweiterte Fragestellungen geben (. Übersicht 5.8). jZusatzfaktoren
Überlegungen bezüglich der Kernfaktoren Schlucken und Husten müssen dahingehend gelenkt werden, ob sie gemeinsam oder unter Mitberücksichtigung der Zusatzfaktoren-Liste ausreichend sicher sind.
. Übersicht 5.8. Fragen zur Beurteilung der Kernfaktoren 4 Unter welchen Gegebenheiten schluckt dieser Patient effektiv und sicher? (z.B. prä-oral: Wie muss der 7 Haltungshintergrund unterstützt werden?) 4 Schluckt der Patient nach, wenn er hustet? 4 Wie effektiv und spontan sind die Schutzmechanismen des Patienten? 4 Wie muss dieser Patient unterstützt werden, um effektiv Schlucken und Husten zu können? 4 Welche Vor- und Nachbereitung benötigt dieser Patient, um sicher etwas therapeutische Nahrungsgabe oder gar eine assistierte Mahlzeit zu erhalten?
kWachheit
Wache Patienten ohne erhebliche Einschränkung der Wahrnehmung bzw. der kognitiven Leistungen können selbst zur Sicherheit der Nahrungsaufnahme beitragen. Sie können zu Experten für ihre eigenen Fähigkeiten bei der Nahrungsaufnahme werden. Beispiel Die Patienten können selbst prüfen, ob die servierte Mahlzeit ausreichend passiert ist. Sie können die gut gemeinte, aber gefährliche, dekorative Petersilie beiseite legen und nicht mitessen.
Auch die Möglichkeit einer selbständigen Mundpflege nach der Mahlzeit ist sicherheitsrelevant. Kognitiv nicht beeinträchtigte, nicht sprachgestörte Patienten können sich melden, wenn sie Probleme haben, Unterstützung oder Hilfe benötigen. All diese positiven Aspekte schaffen Sicherheit, vorausgesetzt, der Patient ist sich der Tragweite der Problematik bewusst und nicht leichtsinnig. Dies hängt beides oft nicht nur von der neurologischen Störung, sondern auch von der Persönlichkeit des Patienten, seiner Compliance ab. ! Vorsicht Aus der Wachheit des Patienten und seinen kognitiven Fähigkeiten schließen Laien häufig, dass der Patient Essen können müsste. Aufgrund ihres Leidensdrucks übersehen besonders Angehörige und Pflegende, dass der Patient seine Schluckprobleme i.d.R. nicht kognitiv lösen kann.
kHaltungshintergrund und Handling Patienten, die sich selbst in eine 7 dynamisch stabile Sitzposition für die Nahrungsaufnahme und das Schlu-
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5
Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
cken bringen können, unterstützen damit die Sicherheit der Nahrungsaufnahme. Können Patienten selbst eine adäquate Veränderung des Rumpfes und Kopfes (selektive Verstärkung der flexorischen Komponenten) z.B. für das Husten vornehmen, ist die Nahrungsaufnahme insgesamt sicherer als bei Patienten, die auf Hilfe durch das Personal oder Angehörige angewiesen sind. Patienten, die sicherheitsrelevante Unterstützung benötigen, sind davon abhängig, wie geschult und aufmerksam der Angehörige daheim oder die professionelle Hilfe z.B. im Pflegeheim ist, oder auch wieviel Zeit die betreuende Person hat. Wenn der Patient selbst seine Haltung nicht korrigieren kann und in kritischen Situationen Hilfe braucht, müssen wir uns fragen, ob dieser externe Faktor im Alltag des Patienten wirklich »abgesichert« werden kann. > Beachte Anleitung der Angehörigen und klare Informationen an Alltagsbetreuer sind genauso wichtig wie eine Reflexion der (oft ernüchternden) Möglichkeiten oder Grenzen der Betreuung in den individuellen Lebensumständen des Patienten.
i Praxistipp Typische Fragestellungen bei progredienten Erkrankungen: 4 Würde eine frühzeitige PEG-Anlage den Druck von Familie und Patient nehmen, ständig auf die ausreichende Flüssigkeitszufuhr zu achten, wenn selbst angedickte Getränke nur langsam getrunken werden können? 4 Möchte der Patient weiterhin, auch wenn es zeitintensiv und unsicher ist, Nahrung zu sich nehmen? Definiert er darüber schwerpunktmäßig Lebensqualität? Ist er über die Risiken aufgeklärt?
Konflikte können verhindert werden, indem
4 über medizinische Probleme aufgeklärt wird, 4 Patienten und Angehörige ihre Bedürfnisse äußern und diese ernst genommen werden, 4 eine gemeinsame Zielformulierung erfolgt und 4 sich alle Beteiligten auf ein gemeinsames Prozedere einigen. Auch hier muss sich der Therapeut oder das Team der Lebenssituation des Patienten stellen und Abstriche im Bereich Sicherheit abwägen.
kGesamtkonstitution
Wenn Schlucken und Schutzmechanismen nicht als sicher eingestuft werden können, 4 muss beurteilt werden, wie anfällig und vorgeschädigt die unteren Atemwege, die Lungen des Patienten sind; Beispiel Pneumonien seit dem Krankheitsbeginn oder eine zusätzliche Erkrankung mit Vorschädigung der Lungen wie chronisch obstruktive Lungenerkrankungen etc. sind ein Warnsignal.
4 müssen prognostische Faktoren in Erwägung gezogen werden. Beispiel Bei einigen progredienten Erkrankungen wie z.B. beim Krankheitsbild Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist im Laufe der Zeit mit deutlichen Verschlechterungen bis hin zum völligen Funktionsausfall der Schluck- und Schutzmechanismen zu rechnen. Da ein Aufhalten des Prozesses bisher nicht möglich ist, hat die Frage nach Sicherheitsaspekten einen anderen Stellenwert. Mit dem Patienten, den Angehörigen und dem behandelnden Team sollte eine Klärung erfolgen, die neben der medizinischen Situation die Definition von Lebensqualität und Bedürfnissen des Betroffenen mit in den Mittelpunkt rückt.
kAnmerkungen zur Teamarbeit Klare Regeln bzgl. oraler Nahrungskarenz bzw. diäteti-
schen Einschränkungen beim oralen Kostaufbau müssen allen Teammitgliedern, den Angehörigen und Besuchern bekannt sein. Dies betrifft besonders Patienten, die funktionelle Fortschritte machen, aber aus Sicherheitsgründen noch keine Nahrung zu sich nehmen dürfen. Beispiel Ein Patient mit Schädel-Hirn-Trauma »erwacht« langsam aus dem Koma. Er beginnt, seine nicht gelähmte Seite zu bewegen, Dinge zu ergreifen und wieder loszulassen. Allmählich versucht er, seinen Besuch anzuschauen. In dieser Situation kommt es wieder zu »normaleren« Krankenbesuchen. Es werden kleine Präsente mitgebracht, die zur Genesung beitragen oder Freude machen sollen, wie Obst oder das Lieblingskonfekt, das dem Patienten fürsorglich angeboten wird.
i Praxistipp Eine geschriebene Information am Bett des Patienten oder das Eingreifen des anwesenden Pflegepersonals kann gefährliche Situationen vermeiden.
Manchmal scheint es einfacher, sich mit heimlichen und «unheimlichen« Mahlzeitensituationen nicht auseinanderzusetzen, aber welchen Sinn hat dann die Therapie? Günstig ist, wenn es gelingt, den Wunsch, etwas
91 5.5 · Voraussetzungen für orale Nahrungsaufnahme erarbeiten
Bestimmtes zu sich zu nehmen, in die Therapie zu inte-
grieren. Beispiel Die Ehefrau bringt Herrn B. einen Apfel aus dem eigenen Garten mit, der dann für die therapeutische Nahrungsaufnahme genutzt wird. Wenn die Angehörigen von Frau G. zu Besuch kommen, möchte sie gerne auch etwas Kaffee, »nur ein paar Löffel«, zu sich nehmen. Die sichere Aufnahme dieser Konsistenz wird in der Therapie erarbeitet.
> Beachte Nur über ein Team-Managment lassen sich sicherheitsrelevante Faktoren effektiv beeinflussen: 4 Lagerung und Handling, 4 Hilfen beim Husten und Schlucken, 4 adäquate Begleitung, Vor- und Nachbereitung der Nahrungsaufnahme, 4 effektive und strukturierte Mundhygiene. Um Sicherheit zu schaffen, bedarf es eines interdisziplinären 24-Stunden-Behandlungsansatzes für den Patienten ggf. unter Einbeziehung der Angehörigen.
Voraussetzungen für orale Nahrungsaufnahme erarbeiten
5.5
oralen und pharyngealen Phase, wieder angebahnt werden. Arbeit in diesen Bereichen bahnt nicht nur 7 normale Bewegung und Verarbeitung von Spürinformation an, sondern verhindert auch Sekundärkomplikationen wie Beißen, allgemeine 7 Tonuserhöhung bei der Berührung des Mundes, die von Nusser-Müller-Busch (1997) als Folgen sensorischer oraler Deprivation verstanden werden. Diese Arbeit geschieht, genau wie der Beginn der therapeutischen Nahrungsgabe, losgelöst von Mahl-Zeiten, da sie im günstigsten Falle eine Art Vorbereitungsstufe für den Beginn oraler Nahrungsaufnahme darstellt. F.O.T.T.Behandlungsansätze werden beschrieben von Davies (1995, 2002), Nusser-Müller Busch (1997), Woite (1998), Gratz und Woite (2000) und Tittmann (2001). . Übersicht 5.9 fasst die Aspekte anbahnender Arbeit der F.O.T.T. zusammen. . Übersicht 5.9. Wesentliche initiale F.O.T.T.-Aspekte 4 Aktiven 7 Haltungshintergrund und Kopfkontrolle erarbeiten. 4 Hand-Mund-Bezug fördern. 4 Atmung und Schutzmechanismen/Sprechen/ Kanülenentwöhnung anbahnen. 4 Mimische und orale Bewegungen 7 fazilitieren, orale Stimulation. 4 Mundhygiene (auch zur Vermeidung von Sekundärproblemen wie Bissstellen oder Pneumonien).
» Bedenke, dass die Mahlzeiten wahrscheinlich die schwierigsten Zeiten sind, um die Bewegungsabläufe des Essens zu üben. (Coombes)
«
5.5.1
F.O.T.T. beginnt frühzeitig
> Beachte Therapeuten und Pflegende dürfen nicht mit der Therapie warten, bis der Patient zu schlucken beginnt.
Intensive Therapie ist besonders bei Patienten nötig, die keine orale Nahrung zu sich nehmen können (und auch nicht sprechen können). Diese Patienten erleiden durch mangelnde Spürinformation und herabgesetzte Bewegungsmöglichkeiten sensorische Deprivation in einem Bereich, der normalerweise hoch sensibel und äußerst selektiv beweglich ist. An dieser Stelle sei besonders die Wichtigkeit der Mundstimulation (der taktilen Stimulation von Zahnfleisch, Zunge und Gaumen) und der strukturierten Mundhygiene unter Einbeziehen des 7 Haltungshintergrunds und der Hände erwähnt (7 Kap. 6). Bevor dem Patienten Nahrung angeboten wird, müssen die benötigten Fähigkeiten, die Funktionen der prä-oralen,
jZungenbewegungen
Um normal essen zu können, sind selektive Zungenbewegungen notwendig. Die Fazilitation 7 normaler Bewegungen dieses für die orale und pharyngeale Phase der Schlucksequenz wichtigen Organs »Zunge« wird im Folgenden als Beispiel der anbahnenden Arbeit im Rahmen der F.O.T.T. vorgestellt (7 Kap. 5.6.2). i Praxistipp Kiefer- und Zungenbewegungen müssen sehr koordiniert erfolgen. Erst durch eine Selbsterfahrungsübung wird uns bewusst, wie viele koordinierte Bewegungen erfolgen, wann z.B. der Kiefer sich beim Abbeißen selektiv bewegt. Beim Kauen erspüren wir das koordinierte Ausweichen der Zunge vor dem sich schließenden Kiefer. Wäre diese Koordination nicht vorhanden, würden wir uns auf die Zunge beißen. Durch aktive oder passive Zungenbewegungen beeinflussen wir indirekt die pharyngeale Phase.
Bei unseren Patienten kommt es vor, dass sie Reste unzureichend spüren oder keine adäquate Reinigungsbewe-
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92
Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
rung führt bei Patienten häufig zu effektiveren und ökonomischeren Bewegungen im Mund- und Rachenbereich als beim Speichelschlucken zu beobachten sind. Dies ist auf den erhöhten sensorischen Input, das funktionelle Ziel und die Vertrautheit der Nahrung zurückzuführen. Bei unzureichender Sicherheit der Schlucksequenz oder der Situation wird es eher zu Spannungen kommen, die sich auch im veränderten 7 Tonus des Patienten widerspiegeln werden. Daher muss therapeutisches Essen gut vorbereitet sein, engmaschig und 7 fazilitierend begleitet werden. Die therapeutische Nahrungsgabe wird häufig zunächst nur eine kleine Sequenz in einer Therapieeinheit darstellen.
5
Beispiel . Abb. 5.6. Der Patient wird aufgefordert, einen Tropfen Flüssigkeit vom Mundwinkel abzulecken. Der Kieferkontrollgriff stabilisiert dabei den Unterkiefer, damit die Zunge die selektive, laterale Bewegung optimal ausführen kann. Der Kopf ist zentriert. Zur Verbesserung des Haltungshintergrundes wird mit seitlichen Packs am linken Bein ein stabiler Referenzpunkt gegeben
gung ausführen können. Dadurch fällt es ihnen schwer,
ein Stückchen Fleisch mit der Zunge zu entfernen. Beim Versuch, es mit dem Finger zu entfernen, beobachten wir meist ganzkörperliche Bewegungen. Es ist das Ziel, den Patienten dahin zu bringen, mit der Zunge die »Zähne zu putzen« und damit den kleinen Rest zu entfernen. i Praxistipp 4 Patienten, bei denen das Nachschlucken nicht automatisch erfolgt, können es häufig mittels gezielter Zungenbewegungen aktiv erlernen und automatisieren. 4 Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, die im Rahmen der Arbeit mit Nahrung eingeschränkte laterale Zungenbeweglichkeit zu verbessern, z.B.: 5 Der Patient soll etwas mit der Zunge am Mundwinkel ablecken (. Abb. 5.6). 5 Man platziert einen Gazeknoten zwischen Wange und Zähnen, den der Patient mittels koordinierter Wangen- und Zungenaktivität aus der Mundhöhle heraus oder in die andere Wange befördern soll. 5 Kauen von Nahrung, die in Gaze eingehüllt ist.
5.5.2
Herr B. Zunächst erfolgt die Vorbereitung durch Erarbeiten eines adäquaten 7 Haltungshintergrunds und die taktile Stimulation des Mundes. Anschließend wird der Patient dabei geführt, den Apfel zu schneiden (. Abb. 5.7 a, b). Erst dann wird der in einer Lage feuchter Gaze gesicherte Apfel zum Mund geführt und seitlich angeboten (. Abb. 5.7 c). Herr B. kaut mehrfach, schluckt den Saft, saugt kurz und schluckt nach Fazilitation erneut. Das Apfelstück wird aus dem Mund genommen. Auf die Frage der Therapeutin, ob der Apfel schmeckt, antwortet Herr B. »Ja«, mit klarer, deutlich hörbarer Stimme. Apfelsaft und Speichel haben die Stimmlippenebene nicht erreicht. Die Atmung ist ruhig, ohne spür- oder hörbares Rasseln. Dennoch können Saftreste im Rachen, im 7 Vallecularraum liegen. Die Therapeutin unterstützt Herrn B. dabei, die Zunge wiederholt in die Wangentaschen zu bewegen. In den Pausen zwischen den Bewegungen unterstützt sie das Schlucken erneut.
Die Vorteile und Ziele des therapeutischen Essens finden sich in . Übersicht 5.10. . Übersicht 5.10. Therapeutisches Essen 4 Nahrung wird genutzt, um 7 normale Bewegung zu erleichtern. 4 Therapeutische Nahrungsgabe ermöglicht eine hilfreiche Bewegungserfahrung in sicherer und kontrollierter Situation. 4 Therapeutische Nahrungsgabe erleichtert die Beobachtung für den Therapeuten. Die Situation ist weniger komplex als eine Mahlzeit.
Therapeutisches Essen
Beim therapeutischen Essen werden dem Patienten kleine Mengen Nahrung angeboten, um einzelne Aspekte oder den Gesamtverlauf der Schlucksequenz zu einem Teil des automatischen Bewegungsrepertoires zu machen. Nah-
jWas geschieht, wenn DIESE Nahrung auf DIESEN Mund trifft?
» What happens when that food meets that mouth? « (Coombes)
93 5.5 · Voraussetzungen für orale Nahrungsaufnahme erarbeiten
b
a
c
. Abb. 5.7 a-c. Herr B.: »Apfel kauen in Gaze«. Therapieschwerpunkt: prä-orale, orale und pharyngeale Phase. a Geführte Sequenz: Messer ergreifen. b Den Apfel schneiden. c Apfel kauen: Der Apfel
wird in einer Lage angefeuchteter Gaze gesichert und zwischen den Kauflächen platziert
Die Anforderungen, die mit der therapeutischen Nahrungsgabe an den Patienten gestellt werden, sind nicht zu unterschätzen. Der Therapeut muss sich mit den selektiven Bewegungen und den koordinativen Leistungen innerhalb der Schlucksequenz vertraut machen, die verschiedene Nahrungsmittel erfordern, und muss die sensomotorischen Fähigkeiten des Patienten befunden und bewerten. Erst dann kann das Medium »therapeutische Nahrungsgabe« gezielt und individuell auf den Patienten abgestimmt eingesetzt werden. . Tab. 5.1 gibt ein Beispiel für die Analyse der Anforderungen, die an den Patienten gestellt werden und die Zielsetzungen bei der therapeutischen Nahrungsgabe.
keiten in den Larynxeingang, ohne dass es zu Residuen kommt! Sie werden vorher »hochgeatmet«.
jCharakteristika von Nahrungskonsistenzen
Eine solche Analyse kann auch für weitere Konsistenzen erstellt werden. Einige Charakteristika von bestimmten Nahrungskonsistenzen sind uns aus dem Alltag, der Arbeit mit Patienten und der Literatur vertraut: Dünne Flüssigkeit muss schnell geschluckt werden.
Nach einer Studie von Robbins et al. (1999) penetrieren auch gesunde Personen 20% der Schlucke dünner Flüssig-
! Vorsicht Bei Patienten mit deutlich verzögertem Schlucken führt das Trinken von Flüssigkeit i.d.R. zu Penetration oder Aspiration.
Breiige Konsistenz fließt langsamer, hat bereits annähernd Bolusform, erfordert also weniger orale Vorbereitungsarbeit und kann direkt mittig auf der Zunge platziert werden. Sie kann insgesamt von Patienten im oralen Bereich leichter kontrolliert werden als Flüssiges und erfordert weniger selektive Vorbereitungsarbeit der oralen Strukturen als feste Nahrung während der Bolusformung. ! Vorsicht Breiresiduen sind häufig schwerer zu entfernen als flüssige Residuen, die durch Bewegung des Körpers (Zunge, Kopf, Veränderung der Ausgangsposition, Husten) wieder in Bewegung versetzt werden können.
Feste Nahrung muss gekaut werden. Die normale Kaubewegung erfordert das Zusammenspiel und höchste Se-
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94
Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
. Tab. 5.1. Kauen in Gaze: Eine beispielhafte Analyse der Anforderungen an den Patienten und der Zielsetzungen bei der therapeutischen Nahrungsgabe Phase
Anforderung
Therapeutisches Ziel
Wahrnehmung
Person ↔ Umwelt: in Berührung sein, Bewegen, Spannung Geschehnis: verstehen → mitmachen → übernehmen 4 Durch modalitätsspezifische Leistungen (spüren, sehen, riechen, hören, schmecken) 4 Durch intermodale Leistungen: !Umweg/unvertraut: Gaze
Quellenwechsel in der Interaktion zwischen Person und Umwelt im Alltagsgeschehnis »Apfel essen« Vom Verständnis zur Produktion
Haltungshintergrund
Rumpf dynamisch stabil Langer Nacken
Basis schaffen für koordinierte Dynamik der oropharyngealen Strukturen
Bolusformung
Gut koordiniert: 4 Wangentonus und geschlossene Lippen 4 Unterkieferrotation 4 Laterale Zungenbewegungen
Dosierter Tonus ↑ Wangen, Kaumuskulatur, Zunge Laterale Aktivität: ↑ 4 Seite spüren → seitlich bewegen 4 Beißen → Kauen 4 Saugen hemmen Speichelproduktion ↑ Kontrast (schmecken, spüren) ↑ Bewegung ↑
Bolustransport
Dynamisch stabiler Unterkiefer Geschlossene Lippen Zungenrinne hält Bolus »Wellenförmiger« Abdruck der Zunge gegen harten Gaumen
Räumlich und zeitlich koordinierte Bewegung ↑
Koordinierter aktiver Bolustransport: 4 Zunge (pharyngealer Anteil) 4 Pharynx Schutz der Atemwege: 4 Weicher Gaumen hebt sich ↑ 4 Kehlkopfanhebung ↑ 4 Verschluss Stimmlippen und Taschenfalten → ← 4 Kehldeckel senkt sich ↓ 4 Oberer Ösophagussphinkter öffnet sich ← →
Effektiver Nahrungstransport Schluck und Nachschluck Effektiver Schutz durch Koordination, Atmung und Schlucken: 4 Atempause → Schlucken 4 Einatmung → Schlucken → Ausatmung 4 ! Spüren ↑ 4 Räuspern/Husten → Schlucken
Aktiver Transport
Reflux und Erbrechen vermeiden → aufrechte sitzende Position
Prä-oral
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Oral
Pharyngeal
Ösophageal
lektivität von Kiefer, Zunge, Wangen und Lippen. Daher
sind feste Konsistenzen gerade für Patienten mit Einschränkung der Koordination eine hohe Anforderung. Je nachdem, in welche Bestandteile die Nahrung beim Kauen zerkleinert wird, können weitere Anforderungen an die Koordination entstehen, z.B. das »Zwischenschlucken« der Flüssigkeit beim Apfel, das Entfernen von Fleischfasern mit der Zunge.
i Praxistipp Die Aktivitäten Kauen und Beißen eignen sich sehr gut 4 zum Ausbau selektiver lateraler Bewegungen von Zunge und Kiefer, 4 zum Tonusaufbau der Wangen und Kaumuskulatur (z.B. bei fehlendem Mundschluss) und 4 zur Vorbereitung einer koordinierteren und sicheren pharyngealen Phase.
95 5.6 · Pharyngeale Schluckstörungen
kVerwendung von Kältereizen
Beispiel
In Literatur und therapeutischer Praxis wird die Arbeit mit Eis und anderen Kältestimuli als wesentlich(st)er Auslöser des Schluckens erachtet. Nach Bisch et al. (1994) beeinflussen Viskosität und Menge des Bolus jedoch das Schlucken mehr als Kälte, die »in aller Munde« ist. Nur bei kleinen Mengen Flüssigkeit war für eine signifikante Anzahl von neurologisch leichter betroffenen Patienten Kälte von Vorteil. Der genutzte 1-ml-Bolus entspricht in etwa der Menge von Speichel, die kontinuierlich geschluckt werden muss. Bei dieser Konsistenz hatten leicht schluckgestörte Patienten die größten Probleme. Bei diesen wie auch bei Patienten, bei denen es unter Nutzung von Kältereizen zu qualitativ besseren und effektiveren Bewegungen (z.B. Schlucken) kommt, scheint das Mittel Kälte angebracht.
Kleine Medizin- oder Plastikbecherchen werden von Patienten schwer über den taktilen Sinneskanal wahrgenommen und leicht zerdrückt! Stattdessen kann ein festes Glas oder eine stabile Tasse günstiger sein. Durch den klaren taktilen Input ist der Gegenstand leichter zu erkennen und diese Erkenntnis bietet die Chance, dass der Patient das Geschehnis begreift und in der Therapie adäquater mitmachen kann.
! Vorsicht Kälte darf nicht als Allheilmittel oder als das einzige Mittel zur Auslösung der Schluckreaktion missverstanden werden!
i Praxistipp Für jeden Patienten muss die Bolusmenge, -beschaffenheit und -temperatur genau geprüft werden, um den optimalen Bolustyp zu entdecken (Bisch et al. 1994).
> Beachte Es gibt keine Patentrezepte für die richtige Konsistenz beim Beginn der therapeutischen Nahrungsgabe bzw. beim oralen Kostaufbau. Eine gezielte Analyse der Fähigkeiten des Patienten ist notwendig.
jAuswahl von Situationen und Konsistenzen: Beispiele kSchwer wahrnehmungsgestörte Patienten
Bei schwer wahrnehmungsgestörten Patienten steht meist die Arbeit in der prä-oralen Phase im Vordergrund. Einige wesentliche Aspekte zur Gestaltung der Situation der therapeutischen Nahrungsgabe unter Einbeziehung von Prinzipien des Affolter-Konzepts sind (Gratz 1996, Schütz 2000, Hofer 2009, Affolter et al. 2009): 4 Durch das Nutzen vertrauter Nahrung und einer vertrauten Situation, z.B. der gemeinsamen Mahlzeit im Essensraum, kann das Geschehnis »Essen« verständlich werden. 4 Durch Nahrung, bei deren Vorbereitung der Patient geführt werden kann, entsteht ein taktiler Bezug zum Geschehnis. Der Patient beginnt zu verstehen, er begreift, was geschieht. Diesbezüglich ist auch die Verwendung von Gegenständen zu empfehlen, die klare Widerstände bieten und damit leichter spürbar sind.
Durch das Schaffen einer spürbaren, stabilen Umwelt können viele Patienten ihre Kapazität besser auf das Geschehnis »Essen« ausrichten. Beispiel Platzwahl und -gestaltung: 4 Patienten sollte man eher an eine Wand setzen, statt in den freien Raum. (Auch in Restaurants sind die Nischenplätze beliebter als die Mitte in einem bahnhofshallenartigen Raum!). 4 Eventuell sollte man Packs (feste Schaumstoffblöcke) nutzen, um spürbare Widerstände zu schaffen (. Abb. 5.6, 5.7 a, 5.12).
Nicht zwingende Handlungssequenzen (= nicht unbedingt notwendige Handlungsbestandteile) wie Essen mit Besteck sind häufig schwierig für Patienten. Essen mit den Fingern ist der direkte Weg, der zunächst sinnvoller für wahrnehmungsgestörte Patienten sein kann. Generell sollte die Therapeutin die Situation gut planen, den Therapieplatz und die Gegenstände vorbereiten, bevor sie beginnt, mit dem Patienten zu arbeiten. Unterbrechungen, weil z.B. noch das Glas fehlt, sind schwierige Situationen, bei denen die Handlungsstruktur, die sog. Schirmstruktur (Peschke 1996) leicht zerfällt. Es sei denn, es gelingt, das Problem gemeinsam mit dem Patienten in einer geführten Situation zu lösen, z.B. das Glas gemeinsam mit dem Patienten zu holen.
5.6
Pharyngeale Schluckstörungen
In den Leitlinien »Neurogene Dysphagien« der Deutschen Gesellschaft für Neurologie wird hervorgehoben, dass F.O.T.T. auch bei nicht kooperativen bzw. bewusstseinsgestörten Patienten angewendet werden kann (www.dgn. org 2008). Neben dieser Stärke der F.O.T.T. kommt im klinischen Alltag zum Tragen, dass sie auf einer genauen klinischen Analyse der strukturellen, koordinativen, funktions- und alltagsbezogenen Symptome des Patienten beruht. Darauf basieren auch die gezielte Behandlung scheinbar »umschriebener« neurogener Probleme des fazio-oralen Trakts, so auch die Therapie von Patienten mit schwer-
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96
Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
punktmäßig pharyngealen Schluckstörungen, die im folgenenden skizziert wird. jF.O.T.T. – ein systemischer Ansatz bei pharyngealen Schluckstörungen Als Kernhypothese der Arbeit gilt: Innerhalb der Schlucksequenz beeinflusst eine Phase die nächste! Daher muss folgenden Punkten Aufmerksamkeit ge-
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widmet werden: 4 Haltungshintergrund 5 optimieren, 5 bewegen/verändern, Residuen spürbar machen (vgl. 7 Kap. 5.3.3); 4 Bolusformung und -sammlung, Stimulation als Vorbereitung für den Bolustransport; 4 Im Moment des »Schluckens« 5 dynamisch stabiler Unterkiefer, geschlossene Lippen, 5 selektiv und koordiniert bewegende Zunge (vgl. 7 Kap. 5.3.3); 4 Koordination von Atmung, Schlucken und Schutzmechanismen.
5.6.1
Strukturspezifisches Angebot – Freiheit für das Hyoid
Haltungshintergrund und Bewegung sind auch bei Patienten, die gesamtkörperlich über »gute« Bewegungsmöglichkeiten verfügen, ein schluckrelevantes Thema. Im Bereich der Neurologie treffen wir immer wieder auf Patienten, die weitestgehend mobil und selbständig in ihren Alltagshandlungen sind und dennoch unter z.T. schwersten Schluckstörungen leiden. Betrachtet man jedoch die hoch komplexe und blitzschnelle muskulo-skeletale Koordination, die sicheres Schlucken erfordert, so ist es unerlässlich, dem Patienten durch optimiertes Alignment der Körperabschnitte die besten Möglichkeiten für Schlucken und Atmung zu bieten. Dies ist besonders relevant, da die Kopf- und Halseinstellung sozusagen als »schwere Krone« (wertvoll, die Sinne beherbergend und auf der (Wirbel-)Säule ausbalanciert) des Körpers absolut abhängig von den darunter gegen und mit der Schwerkraft arbeitenden Strukturen (Becken, Wirbelsäule, Beine) und der angebotenen Unterstützungsfläche ist. Der anatomische Aufbau und das Zusammenspiel der fazio-oralen Strukturen sind darüber hinaus sehr bemerkenswert. Man bedenke, dass nur eine der bei der Nahrungsaufnahme beteiligten oropharyngealen Strukturen über eine gelenkige Verbindung zum Schädel weitestgehend in ihrer Position gehalten wird. Diese Struktur ist der Unterkiefer. Alle anderen Strukturen sind in ihrer Position und folglich in ihrer
Funktionsfähigkeit vom umgebenden Gewebe, von Muskelspannung und Muskelzügen abhängig. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das Hyoid der einzige Knochen im menschlichen Körper ist, der keine gelenkige Verbindung zu einem anderen Knochen hat (vgl. 7 Kap. 4.2). Therapeutische Konsequenz dieses Wissens ist, dass es nicht ausreicht, den Patienten »möglichst aufrecht hinzusetzen«. Die Strukturen müssen im Rahmen des Möglichen mobilisiert werden: 4 Es muss eine Ausgangsstellung mit angepasster Unterstützungsfläche aufgebaut werden, die dem Patienten optimale Bewegungsmöglichkeiten im fazio-oralen Trakt bietet. Dabei ist es funktions- und aktivitätsabhängig, ob eine Ausgangsstellung gewählt wird, in der dem Patienten die Arbeit gegen die Schwerkraft weitestgehend abgenommen wird, oder ob der Patient seine Position gegen die Schwerkraft halten muss (Sitzen, Stehen, Gehen). Eine höhere Position – wie das Sitzen – darf nicht zu statisch werden, da die aktive Aufrichtung sonst nach einer Weile verloren geht. Es müssen immer wieder kleine Veränderungen geschaffen werden oder ein Lagewechsel vollzogen werden, um das optimale Alignment für ein funktionelles Arbeiten wiederherzustellen. 4 Zur Mobilisierung der schluckrelevanten Strukturen bieten sich ferner spezifische neurodynamische Techniken an, z.B. die Mobilisation neuraler Strukturen nach dem Prinzip der Neurodynamik (Rolf 2007) oder aber die Mobilisation von Muskeln, Gelenken und/ oder Bindegewebe (von Piekartz 2005).
5.6.2
Funktionsspezifisches Angebot – Vom Spucken zum Schlucken
jSpeichelmanagement
Für einen Großteil der Patienten mir schweren pharyngealen Störungen ist es eine Herausforderung, ihren Speichel sicher zu transportieren. Es muss zunächst ein funktioneller, alltagsbezogener Status erhoben werden, wie der Patient seinen Speichel »managt«. Dies beinhaltet immer den Schutz der Atemwege und Schlucken oder notfalls ausspucken. kSchutz der Atemwege
Bezüglich des Schutzes der Atemwege ist es wesentlich, klinisch zu evaluieren, ob, wann und wie der Patient spontan auf drohendes Eindringen von Speichel in die unteren Atemwege reagiert. Wenn er z.B. immer spontan räuspert, sobald die Stimme belegt klingt, prompt nachschluckt und die Stimme danach frei klingt, so kann er die Atemwege wahrscheinlich ausreichend schützen.
97 5.6 · Pharyngeale Schluckstörungen
> Beachte Es ist sehr wichtig, Timing und Effizienz spontanter Schutzmechanismen als Reaktion auf Material, z.B. Speichel, zu beschreiben und in ihrer Alltagsrelevanz zu bewerten. Bei der Nutzung bildgebender Verfahren müssen diese koordinativ-funktionellen Aspekte einbezogen werden. Die Nutzung der Penetrations-/Aspirationsskala nach Rosenbek (1996) kann hier sehr hilfreich sein, auch wenn darin lediglich das Timing und die Effizienz des Herausbeförderns von Material aus den Atemwegen geprüft werden. Es ist unerlässlich, weitergehend zu evaluieren, was dann mit dem herausbeförderten Material geschieht: 4 Wird es geschluckt? 4 Wird es ausgespuckt? 4 Bleibt es zunächst liegen und gelangt dann mit der Schwerkraft oder dem Atemstrom wieder in die unteren Atemwege (7 Kap. 10)?
kVom Spucken zum Schlucken
. Tab. 5.2. Funktion als Schutz vor Aspiration: Vom Spucken zum Schlucken 0
Aspiration (ohne effektive Reaktion)
+
Ausspucken von Speichel
++
Schlucken, notfalls Ausspucken und Nachschlucken
+++
Automatisches Schlucken
Qualität Timing + Effizienz = Sicherheit
Schematisch kann das Prozedere wie in . Tab. 5.2 dargestellt werden.
5.6.3
Aktivität und Teilhabe: Beginn der Nahrungsaufnahme und Ziel »Mahlzeit«
Bei vielen Patienten mit pharyngealen Problemen ist ein erster Schritt zur eigenständigen Sicherung der Atemwege das kraftvolle und effektive Reinigen von Rachen
und Mund durch Ausspucken. Viele kognitiv nicht beeinträchtigte Patienten beginnen spontan, sich derart zu schützen. Es ist wichtig, sie zu bestärken, auszuspucken, auch wenn dies im sozialen Kontext nicht akzeptabel erscheint. Und natürlich ist es zwingend, sie mit den nötigen Materialien (Becher, Nierenschalen, Tüchern) zu versorgen. Aspekte des Ausspuckens (Druckaufbau über die Atmung, Rachenreinigung, Einstellung der oralen Strukturen, Einnehmen einer flektierten Körperposition, Halten des Tuches …) müssen in der Therapie erarbeitet werden. Darüber hinaus muss ein adäquates Mundpflegeprozedere (. Abb. 5.9 a) für eine aspirationsfreie Routinereinigung und ggf. für zwischenzeitliches Entfernen von Residuen erarbeitet werden. Natürlich sind Patienten mit schwersten Schluckstörungen unter Umständen auch auf einen »passiven Schutz« der Lunge vor Aspirat angewiesen. Sie sind mit einer geblockten Trachealkanüle versorgt (7 Kap. 9 und 10) und/oder müssen so gelagert werden, dass Speichel mit der Schwerkraft aus dem Mund fließt und Sekrete leicht abgehustet werden können. > Beachte Das primäre Ziel der Therapie ist es, mit dem Patienten zunehmend häufiges ökonomisches und effektives Speichelschlucken zu erarbeiten. Ein Wendepunkt vom Spucken zum Schlucken kann sein, die für den Patienten geeignete Schluckhilfe (7 Kap. 5.3.3) ausfindig zu machen und in Therapie und Alltag variabel zur Anwendung zu bringen, bis der Patient automatisch und effektiv schluckt, wann immer es notwendig ist.
Bei Patienten, bei denen vor allem die pharyngeale Phase beeinträchtigt ist, muss genau analysiert werden, wo das funktionelle Hauptproblem liegt. Die Therapeutin muss die initiale Konsistenz ermitteln, die der Patient mit Vorbereitung und 7 Fazilitation am sichersten schlucken kann. Bei vielen Patienten ist die Arbeit mit dieser einen Konsistenz im Sinne der therapeutischen Nahrungsgabe der Schlüssel zur automatisch(er)en, physiologisch(er)en Schlucksequenz. Diese Automatisierung ist der erste Schritt zum effektiven Schlucken. Danach kann an der Variation von Konsistenzen und dem Ausbau der aufgenommenen Nahrungsmenge gearbeitet werden (Nusser-Müller-Busch 2001). Soweit möglich, kann auch ein Wiederholen der normalen Abläufe über ein selbständiges oder von Angehörigen begleitetes Heim- oder Eigenprogramm zur Automatisierung der Schlucksequenz beitragen. Auf den Tag verteilte, variabel gestaltete, supervidierte, kurze Übungssequenzen sind in der F.O.T.T. beim Wiedererlernen der Schlucksequenz wichtig. Auch aus diesem Grund sieht sich die F.O.T.T. als 24-Stunden-Konzept. Die Therapeutin muss jedoch sicherstellen, dass das Eigenprogramm ausreichend sicher ist und in 7 physiologischen Bewegungsbahnen verläuft.
5
98
Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
Beispiel
5
Frau G. Initial: Speichelschlucken sehr erschwert. Es kommt immer wieder zum Pooling (Ansammlung von Speichel bis in den Stimmlippenbereich mit belegter Stimme). Das Sekret wird dann ausgespuckt. Erste Therapiephase: Ausbau sensomotorischer Fähigkeiten, mit dem Ziel, sicher den Speichel zu schlucken. Herangehensweise: 4 Wochen F.O.T.T. ohne Nahrung mit minimalen Geschmacksreizen. Mundstimulation in Seitenlage, da im Sitzen eine Tendenz zu hochgezogenen Schultern und Bewegung des Kopfes in den kurzen Nacken besteht, während sie versucht, zu schlucken. Frau G. spuckt nach diesem Therapiezeitraum nur noch sehr selten ihren Speichel aus und schluckt auch, wenn sie auf etwas anderes konzentriert ist, z.B. beim Treppensteigen in der Physiotherapie. Das Schlucken von Speichel verläuft automatisch. Zweite Therapiephase: Ziel ist die normale Schlucksequenz beim sicheren Schlucken kleiner Nahrungsmengen. Herangehensweise: Vorbereitung in Seitenlage wie in Phase 1; anschließend therapeutische Nahrungsgabe in sitzender, mit Packs unterstützter Ausgangsposition auf der Therapieliege. Als erste genutzte »Nahrungs«-Konsistenz wird kaltes Wasser gewählt (. Abb. 5.8 a, b), da sich als Hauptproblem ein Pooling im 7 Vallecularbereich herausgestellt hat. Es verbleiben Reste im Bereich zwischen Zunge und Epiglottis. Dünnflüssige Reste kann Frau G. durch Zungenbewegungen wieder aus dem 7 Vallecularraum entfernen, sozusagen herausmobilisieren und dann schlucken. Zähflüssige oder breiige Retentionen verbleiben in der Struktur, führen mit erneuter Nahrungsgabe zum Überlaufen ohne rechtzeitigen Schluck und zum Husten. 4 Die Patientin hat gute orale Kontrolle (Patientin kann bei der Mundpflege aspirationsfrei gurgeln). 4 Bei kaltem Wasser ist mittlerweile die Schluckeinleitung nicht mehr verzögert (keine Pumpbewegungen des Unterkiefers oder der Zunge, keine assoziierten Bewegungen im Schultergürtel). 4 Es ist eine gute Atem-Schluck-Koordination zu beobachten (nach dem Schlucken und meist auch davor Ausatmung). 4 Effektive Schutzmechanismen sind vorhanden (produktives Räuspern und Husten, rechtzeitig mit Nachschluck). Alle anderen Nahrungsmittel setzen sich schwerpunktmäßig im Rachen fest und müssen dann wieder ausgespuckt werden. Nach einigen Tagen aspirationsfreien Trinkens von 3–4 Schlucken Wasser wird die Möglichkeit des Eigenprogramms erprobt: das selbständige, gut vorbereitete Trinken auf ihrem Zimmer (. Abb. 5.9 a, b) Frau G. trinkt selbständig 2-mal täglich einige Schlucke Wasser, nachdem sie den Mund ausgespült und noch vor6
. Abb. 5.8 a, b. Frau G.: Therapeutische Nahrungsgabe. a Die Patientin führt selbständig das Glas zum Mund und nimmt einen Schluck. b Das erste Schlucken erfolgt prompt und automatisch, beim Nachschluck wird Frau G. taktil unterstützt
handene schaumige Speichelresiduen ausgespuckt hat. Nach ähnlich aufgebauter Arbeit mit Götterspeise (Joghurt und Apfelmus führten wieder stärker zum Pooling – im Gegensatz zur Götterspeise, die sich in der oralen Phase verflüssigt) erfolgt nun die therapeutische Nahrungsgabe mit Kauen von Apfel in Gaze und teils ohne Gaze. Nach weiteren 3 Wochen nimmt Frau G. kleine Mahlzeiten breiiger Konsistenz bzw. sehr weicher Konsistenz, die sie zu einem sehr homogenen Bolus formen kann, auf. Es beginnt die Phase der assistierten Mahlzeiten.
Mit der Verkürzung der Verweildauer in neurologischen Rehabilitationseinrichtungen und der steigenden Anzahl schwer betroffener Patienten nimmt die Anzahl von Pa-
99 5.7 · Assistierte Mahlzeiten
Beispiel Frau F. Frau F. hat eine schwere pharyngeal betonte Schluckstörung. Sie wird im Hausbesuch behandelt. Sie wohnt in einer kleinen Wohnung mit Küche ohne Sitzgelegenheit, besitzt keinen Stuhl und hat immer auf dem Sofa sitzend am Wohnzimmertisch gegessen. Innerhalb des stationären Rehabilitationsaufenthalts hat sie gelernt, ihren Speichel sicher zu schlucken. Sie muss ihn nicht mehr ausspucken. Die Ernährung erfolgt vollständig über PEG (. Abb. 5.10).
jGrundprinzipien des Vorgehens bei pharyngealen Schluckstörungen in der F.O.T.T.
a
Know-how und Fähigkeiten zur gesamtkörperlichen und lokal fokussierten taktilen Beeinflussung im Sinne der ICFEbenen (Frommelt u. Grötzbach 2005) – Struktur, Funktion, Aktivität – sind für den »Schlucktherapeuten« auch bei pharyngealen Schluckstörungen unerlässlich. Auf dieser Basis bahnen wir Schlucken, Atmung und deren Koodination an und beurteilen, wann der Patient soweit ist, die Funktionen »hands-off« und im komplexen Alltagskontext qualitativ ausreichend auszuführen (7 Kap. 5.5.2 und 5.7). Abhängig von den kognitiven Fähigkeiten und Persönlichkeitsfaktoren wägen wir ab, ob eine »physiologienahe Kompensation« notwendig, sinnvoll und praktikabel ist, z.B. vom Patienten selbst initiierte Reinigungsbewegungen der Zunge, um erforderliches Nachschlucken auszulösen.
5.7
Assistierte Mahlzeiten
In der Phase der assistierten Mahlzeiten erhält der Patient, der nicht selbständig essen kann, Hilfe und Unterstützung vor, während und/oder nach der Einnahme von Mahlzeiten. b . Abb. 5.9 a, b. Eigenprogramm (selbständiges supervidiertes Üben): a Zunächst spült Frau G. den Mund aus. Speichelresiduen werden damit aus dem Mund- und Rachenraum entfernt. b Anschließend trinkt Frau G. am Tisch sitzend langsam, Schluck für Schluck ein halbes Glas kaltes Wasser
tienten, die über Sonde ernährt werden, im ambulanten Setting zu. Eine im stationären Umfeld begonnene Therapie muss heutzutage häufig durch ambulante Kollegen fortgeführt werden. (Noch in den Fallstudien Gratz u. Müller [2004] wurden beide Patienten Mitte der 90er Jahre jeweils länger als 1 Jahr stationär rehabilitiert. Diese stationäre Behandlungsdauer ist 15 Jahre später undenkbar). In folgenden Patientbeispiel wird die ambulante F.O.T.T.-Therapie anhand von Therapiephotos skizziert (. Abb. 5.10).
> Beachte Assistiertes Essen umfasst eine volle Mahlzeit und dient der Ernährung, aber es ist unselbständiges Essen!
In . Übersicht 5.11 sind die Voraussetzungen für assisitiertes Essen zusammengestellt. Die in . Übersicht 5.11 aufgeführten Fertigkeiten werden zunächst in der Therapie angebahnt. Im Rahmen der therapeutischen Nahrungsgabe werden sie weiter gefestigt und automatisiert. Während der Mahlzeit werden sensomotorische Abläufe der einzelnen Phasen der Schlucksequenz unterstützt. > Beachte Genaue Beobachtung und eine genaue Evaluation der Fähigkeiten des Patienten sind nötig, um die Begleitung so zu gestalten, dass der Patient Hilfe erhält, wann immer er sie braucht.
5
100
Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
5 a
b
c
d
. Abb. 5.10 a-l. Prä-orale und orale Vorbereitung (August 2008): a Positionierung im Sessel mit Decke und Kissen. b Mundstimulation mit Eis. c Therapeutische Nahrungsgabe, soweit möglich »hands-
off«: Frau F. führt einen Löffel gefrostetes Apfelmus zum Mund. d Nach zwei spontanen Schluckbewegungen nutzt sie eine direkte Schluckhilfe, um weitere reinigende Schlucke zu fazilitieren
101 5.7 · Assistierte Mahlzeiten
e
f
g
h
i
j
. Abb. 5.10 a–l. Prä-orale und orale Vorbereitung (August 2008): e »Hands-on«-Sequenz mit passiver Zungendehnung (indirekte Schluckhilfe) zum Abschluss der Arbeit mit Apfelmus. Frau F. kann mit dieser Unterstützung letzte verbleibende Residuen herunterschlucken. f Trinken von angedicktem kaltem Saft. Frau F. bewegt die Zunge im Mund, um zum Nachschlucken zu kommen. g Einbeziehen von Variationen: Trinken mit dem Strohhalm im unterstützten Stand. Sequenz h-j (November 2008): Mahlzeit angepasster Konsis-
tenzen, »hands-off«-Sequenz: h Frau F. achtet darauf, dass der Mund von Brotresten geleert ist und trinkt dann etwas. Sie kann die verschiedenen Konsistenzen nun schon im Wechsel zu sich nehmen. i Wenn sie zu hastig vorgeht, muss sie gelegentlich husten. j Das Husten erfolgt rechtzeitig und kräftig. Frau F. nutzt im Anschluss an das Husten noch Strategien wie das Drehen des Kopfes zur Seite im Sinne einer indirekten Schluckhilfe. Damit mobilisiert sie Residuen, spürt diese und kommt zum reinigenden Nachschluck
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102
Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
5 k
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. Abb. 5.10 a–l. Prä-orale und orale Vorbereitung (August 2008): k, l (Januar 2009) Mittageseen (Normalkost), Status nach Abschluss der F.O.T.T: k Obwohl Frau F. sich für das Aufnehmen der Nahrung in den Mund in eine Position mit stark verkürztem Nacken begibt,
. Übersicht 5.11. Voraussetzungen für assistierte Mahlzeiten 4 Angemessener 7 Haltungshintergrund 4 Auge-Hand-Mund-Koordination 4 Bei fester Kost: Kieferbeweglichkeit, um beißen und kauen zu können 4 Ausreichende Zungenbeweglichkeit, um das Essen zum Bolus zu formen und den Bolus transportieren zu können 4 Ausreichender Wangentonus, um das Essen mitzubewegen 4 Ausreichende Transportbewegungen, um den Bolus in den Rachen zu bewegen, um schlucken zu können 4 Ausreichende Schutzmechanismen
5.7.1
Überlegungen zur Gestaltung der Situation
In Alltagssituationen, in denen wenig Personal viel Arbeit zu erledigen hat, ist es oft schwierig, die Patienten in einer ruhigen Umgebung und ohne Stress bei der Nahrungsaufnahme zu unterstützen. Sobald z.B. ein Telefon klingelt oder eine Kollegin ins Zimmer kommt und etwas fragt, wird es für den Patienten schwierig, sich auf das Wesentliche, auf die Nahrungsaufnahme, zu konzentrieren. i Praxistipp Wird die Mahlzeit von Pflegenden begleitet, so ist mehr Zeit und Ruhe gegeben, wenn sie außerhalb der pflegerischen Rush-hour stattfindet.
l kann sie die Nahrung sicher zum Bolus formen, herunterschlucken und gleichzeitig den nächsten Bissen vorbereiten. Essen und Trinken sind in allen Variationen sicher und laufen automatisch ab
Eine ruhige und stressfreie Umgebung ist Voraussetzung, solange das Automatisierungsniveau der Abläufe noch zu gering ist, um 7 normale Bewegungssequenzen (Physiologie) wieder erlernen zu können oder im Rahmen der Essensbegleitung zu festigen. i Praxistipp Patienten lernen durch aktives Tun und neue Erfahrungen. Sie können sich besser auf eine sichere Nahrungsaufnahme konzentrieren, wenn die Umgebung ruhig und ablenkungsarm gestaltet wird.
Beispiel Herr N. Herr N. benötigt noch intensive Vorbereitung und Begleitung bei der Mahlzeit mit taktilen Hilfen. Sein 7 Haltungshintergrund muss immer wieder verändert bzw. korrigiert werden. Aufgrund des bestehenden 7 Neglects ist die Exploration des Tisches eingeschränkt. Herr N. nimmt eine Seite nicht wahr. Um den Löffel zum Mund zu bringen, müssen seine Hände geführt werden. Weil er nicht nachschluckt, benötigt Herr N. Schluckhilfe (. Abb. 5.12). Es verbleiben Speisereste im Mund. Beim Ausspülen des Mundes, bei der anschließenden Mundhygiene benötigt er Hilfe, um das Wasser auszuspucken.
Bei diesem Patienten wäre das Essen in Gesellschaft oder Gruppe noch eine zu hohe Anforderung, aber er kann mit Unterstützung sicher seine Mahlzeit in ruhiger Umgebung einnehmen.
103 5.7 · Assistierte Mahlzeiten
. Abb. 5.11. Vor der Mahlzeit: Die Beckenaufrichtung wird fazilitiert. Die Arme sind bereits auf dem Tisch gelagert
5.7.2
Vorbereitung der assistierten Mahlzeit
. Abb. 5.12. Die angebotene Schluckhilfe ermöglicht dem Patienten effektiv zu schlucken
Zeigt der Patient eine ausreichende oro-pharyngeale Bewegungssequenz, kann mit der Mahlzeit begonnen werden.
jVorbereitung des Haltungshintergrunds
Für die Handlungssequenz benötigt der Patient einen adäquaten 7 Haltungshintergrund. Zu Beginn wird die Sitzposition optimiert (. Abb. 5.11). Packs bieten 7 Unterstützungsfläche und dienen als stabile Referenzpunkte (. Abb. 5.6, 5.7 a, 5.12). Während der Mahlzeit muss die Sitzposition immer wieder kontrolliert und ggf. korrigiert werden. jVorbereitung des Mundes und der oro-pharyngealen Bewegungsabläufe kTaktile Mundstimulation Zu Beginn führen wir häufig die taktile Mundstimulation
durch. Ziel ist es, die intraorale Wahrnehmung zu verbessern und die oralen Bewegungen und das anschließende Schlucken zu fördern, sozusagen »in Gang zu bringen«, bevor die Nahrungsaufnahme beginnt. Es können verschiedene Flüssigkeiten benutzt werden wie z.B. Apfelsaft, Orangensaft, Kaffee. Vorlieben und Abneigungen des Patienten werden berücksichtigt. Durch den intensiven Geschmack erhält der Patient spezifischen gustatorischen Input, den er oft besser als Wasser spüren kann. kFörderung der lateralen Zungenbeweglichkeit Wie die laterale Zungenbeweglichkeit verbessert werden
kann, wurde in 7 Kap. 5.5.1 dargestellt.
5.7.3
Therapeutische Hilfen bei der Mahlzeit
Die Speise steht vor dem Patienten auf dem Tisch. Wenn es dem Patienten nicht möglich ist, aktiv mitzuhelfen, erhält er angemessene Unterstützung. jMöglichkeiten der Unterstützung kFühren bei der Vorbereitung Beispiel Die Therapeutin 7 führt den Patienten beim Heranholen des Suppentellers. Sie entfernen zusammen den Warmhaltedeckel. Der Löffel wird in die Hand genommen.
kDie Nahrung geführt zum Mund bringen
Auch mit sehr viel Unterstützung können manche Patienten noch nicht mit Messer und Gabel essen. Die Beeinflussung der oralen Phase durch die prä-orale Phase wird bei diesen Patienten besonders deutlich. Hier kann evt. ein angepasstes Besteck helfen, den Löffel selbst zum Mund zu bringen. Dieser verringert die Verletzungsgefahr, z.B. wenn der Patient zusätzlich eine 7 Ataxie hat.
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104
Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
Gelingt dies nicht, muss die Therapeutin die Mahlzeit anreichen. Beispiel
5
Der Patient holt sich den Suppenteller heran. Er ist noch nicht in der Lage, ausreichend koordiniert den Löffel selbst in die Hand zu nehmen. Die Therapeutin führt die Aktion »Löffel in die Hand nehmen«. Unterstützend führt sie den Patienten auf dem Weg mit dem Löffel zum Mund und platziert diesen auf der Zunge. Wenn notwendig, hilft sie dem Patienten beim Mundschluss und dem Transport des Bolus durch die Mundhöhle.
kTrinken
Beim Versuch, zu trinken, verschütten die Patienten manchmal den Inhalt des Bechers. Für sie ist es eine schwierige Aufgabe, sich aufrecht stabil zu halten und gleichzeitig noch etwas anderes zu tun (trinken). ! Vorsicht Das Trinken ist für viele Patienten problematischer als das Essen. Ursächlich hierfür ist die dünnflüssige Konsistenz, die schneller die Mundhöhle passiert.
Es ist zu überlegen, welche Unterstützung es dem Patienten ermöglicht, zu trinken.
. Abb. 5.13. Hilfsmittel: Vorne: Besteck mit Griffverdickungen, Cheyne Spoon. Hinten: Trinkbecher mit und ohne Aufsatz, Pat Saunders-Strohhalm
Beispiel Unterstützung durch Führen des Arms gibt dem Patienten die Möglichkeit, den Becher zum Mund zu führen und dann trinken zu können. Eine weitere Hilfe könnte der von Coombes entwickelte Trinkbecher sein (. Abb. 5.13).
i Praxistipp 4 Bei verzögertem Schlucken oder reduzierter oraler Kontrolle empfiehlt es sich, die Getränke anzudicken, um einen vorzeitigen Übertritt der Flüssigkeit zu vermeiden. Durch Andicken der Getränke wird die Konsistenz an die jeweiligen Fähigkeiten des Patienten angepasst. 4 Einige Andickungspräparate lösen sich nicht gut auf; es kommt zu Klumpenbildung, oder sie benötigen mehr Zeit, um die gewünschte Konsistenz zu erreichen. 4 Auf die Inhaltsstoffe des Andickmittels ist zu achten. Sehr oft sind Vitamine beigemischt, die die Patienten bereits verabreicht bekommen. Ein Übermaß an Vitaminen ist nicht notwendig.
position (langer Nacken) und ggf. mit Kieferkontrollgriff (. Abb. 5.12). Kommt es zum Verschlucken und Husten, beeinflusst die Therapeutin die Effektivität des Hustens durch Unterstützung einer kontrollierten Rumpfflexion und taktile Unterstützung der Ausatembewegung, z.B. am seitlichen Brustkorb. Sie achtet darauf, dass unmittelbar nach dem Husten ein Schlucken erfolgt. Sofern dies nicht geschieht, 7 fazilitiert sie das Schlucken. jHilfsmittel kCheyne Spoon Der Löffel aus stabilem Plastik ist für Patienten mit Beiß-
tendenz besser geeignet als ein Metalllöffel. Metall verstärkt durch seine »Kälte« das Beißen. Die Aufnahme von Nahrung in die Mundhöhle ist durch die abgeflachte und verbreiterte Löffelfläche therapeutisch gut zu fazilitieren. Die Lippen können die Nahrung leichter abnehmen, und die Nahrung kann mit deutlichem Input auf der Zunge plaziert werden (. Abb. 5.13).
kSchluckhilfe
kBecheraufsatz
Erfolgt das Schlucken nicht spontan oder versiegen die oralen Aktivitäten, 7 fazilitiert die Therapeutin das Schlucken mittels Schluckhilfe (7 Kap. 5.3.3) bei guter Kopf-
Der Becher und der Aufsatz sind aus Plastik. Der von Coombes entwickelte Becheraufsatz hat kleine Öffnungen, damit eine bestimmte anzureichende Menge in dem Auf-
105 5.7 · Assistierte Mahlzeiten
satz gehalten und dann angereicht werden kann. Um den verbreiterten Rand kann der Patient seine Lippen gut anlegen und umschließen. Die Sicherheit beim Schlucken wird durch die Beibehaltung eines »erwachsenen« Abnehmens der Flüssigkeit (veränderte orale Transportphase im Gegensatz zum »Ansaugen«) erhöht (. Abb. 5.13).
dass sich noch Reste in der Mundhöhle befinden, fordern wir den Patienten auf, mit der Zunge die Zähne zu putzen, und unterstützen danach das Schlucken. Gegebenenfalls untersuchen wir bei der anschließenden Durchführung der Mundhygiene die Mundhöhle auf das Vorhandensein von Speiseresten.
kTrinkhalme
i Praxistipp
Der Pat Saunders-Strohhalm hat am unteren Ende ein »Ventil«, das ein Rückfließen der angesaugten Flüssigkeit verhindert. Die bereits angesaugte Flüssigkeit bleibt dadurch im Trinkhalm stehen, wenn der Patient sein Ansaugen unterbricht. Beim erneuten Ansetzen muss der Patient dann weniger Arbeit leisten, um Flüssigkeit anzusaugen (. Abb. 5.13). Der Trinkhalm wurde für Patienten entwickelt, die über gut koordinierte orale und pharyngeale Bewegungen verfügen, aber Probleme haben, die Nahrung sicher zum Mund zu führen. kBesteck Griffverdickungen an Löffeln, Messern und Gabeln er-
leichtern es dem Patienten, das Besteck selbständig zu greifen und zum Mund zu führen. Durch individuell gebogenes Besteck können Bewegungseinschränkungen des Patienten ausgeglichen werden (. Abb. 5.13). jVerbale Aufforderung?
Oft wird die Ansicht vertreten, dass Patienten besonders durch verbale Aufforderung veranlasst werden könnten, zu schlucken. Aber was passiert, wenn kein Therapeut oder Pflegender neben dem Patienten steht und ihn zum Schlucken auffordert?
» Wir schlucken, weil wir den Speichel oder Nahrung spüren und nicht, weil wir einen »kleinen Mann im Ohr« haben, der uns ein- bis zweimal pro Minute sagt, dass wir schlucken sollen! (Nusser-Müller-Busch)
«
! Vorsicht Da verbale Aufforderungen, zu schlucken, bereits bei Normalpersonen zu assoziierten Bewegungen und Tonuserhöhungen führen können, achten wir bei den Patienten darauf, dies zu vermeiden. Stattdessen geben wir taktile Hilfen zur Unterstützung des sensomotorischen Zyklus, zum Wiedererlernen der Funktion (7 Kap. 5.3.3).
5.7.4
Nachbereitung der Mahlzeit
Wenn Patienten unmittelbar nach dem Essen hingelegt werden, besteht die Gefahr einer Aspiration durch im Schlucktrakt verbliebene Residuen. Um auszuschließen,
Jeder Patient mit Neigung zu pharyngealen Residuen sollte nach dem Essen in aufrechter oder vorgeneigter Haltung für ca. 20–45 Minuten therapeutisch gelagert werden.
Diese Position fördert das Schlucken von Residuen und mithilfe der Schwerkraft den Speisetransport durch die Speiseröhre in den Magen. Hierzu wird der Patient in Vorlage, z.B. am Tisch, Bauch in Richtung Tisch, Kopf seitlich gedreht und leicht flektiert gelagert. Durch Kissen oder Packs vor dem Oberkörper kann die Aufrichtung des Rumpfes und Oberkörpers gehalten werden. Die Arme sind als breite 7 Unterstützungsfläche seitlich der Packs auf dem Tisch gelagert. Die Füße haben Kontakt zum Boden. . Übersicht 5.12 fasst die Möglichkeiten der Unterstützung vor, während und nach der Mahlzeit zusammen. . Übersicht 5.12. Assistierte Mahlzeit (= unselbständiges Essen) Vorbereitung 4 Ausgangsposition schaffen 4 Taktile Mundstimulation 4 Anbahnung spezifischer oraler und pharyngealer Bewegungsabläufe Unterstützung während der Mahlzeit 4 Führen (der Arme) 4 Kieferkontrollgriff 4 Schluckhilfen 4 Modifizierte Diät 4 Hilfsmittel Nachbereitung 4 Lagerung/Sitzposition 4 Mundhygiene (Kay Coombes)
5.7.5
Assistierte Mahlzeiten und enterale Ernährung
Bei der assistierten Mahlzeit bieten wir dem Patienten eine mehr oder weniger vollständige Mahlzeit an. Damit kann
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Kapitel 5 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken
der Anteil der Sondenernährung an der Kalorienbilanz verringert werden. Hierbei arbeiten nach Möglichkeit Ernährungsberater und Diätassistenten mit Ärzten und Pflegenden zusammen, um die Kalorien- und Flüssigkeitsbilanz sicherzustellen. Solange die Flüssigkeitszufuhr oral nicht 100% gewährleistet werden kann, muss darauf geachtet werden, dass der Patient ausreichend Flüssigkeit über die Sonde zugeführt bekommt. Dies gilt vor allem für Patienten in Pflegeheimen und in häuslicher Betreuung. Da für viele Patienten die Aufnahme von 2 Liter Flüssigkeit/Tag sehr anstrengend ist, stellt die Flüssigkeitszufuhr über die PEG-Sonde eine große Erleichterung dar. Die PEG-Sonde sollte nicht zu früh entfernt werden. Durch Verschlechterungen des Allgemeinzustandes ist bei manchen Patienten das sichere Schlucken nicht immer gewährleistet. In solchen Phasen kann man unmittelbar wieder auf die Sonde zurückgreifen. In . Übersicht 5.13 sind Kriterien für die Fortsetzung der PEG-Sondierung zusammengefasst. . Übersicht 5.13. Kriterien zum Belassen der PEG-Sonde 4 Orale Flüssigkeitsaufnahme beträgt weniger als 1,5 l pro Tag 4 Gefahr der Dehydratation (Martino 2002) 4 Ansteigen der Entzündungsparameter (CRP-Wert ) 4 Medikamente werden nicht immer sicher geschluckt oder müssen noch gemörsert werden 4 Temperaturschwankungen (subfebril morgens und abends) 4 Quantitative Menge ist nicht gewährleistet (1/2 Portionen), Proteinmangel!! 4 Nahrungsmenge (Kilokalorien, Kcal) ist noch ungenügend, dem Patienten müssen extra Kcal angeboten werden 4 Schwankender Allgemeinzustand (z.B. epileptische Anfälle, regelmäßige Infekte) 4 Progredienter Erkrankungsverlauf (Amyotrophe Lateralsklerose, Morbus Parkinson, Multiple Sklerose …)
> Beachte Die Kombination von oraler und Sondenernährung kann ein reelles Ziel bei schwer betroffenen Patienten sein.
5.7.6
Zusammenfassung
Die Art und Intensität der Hilfen während der Mahlzeit wird den Bedürfnissen des Patienten angepasst und je nach Patient unterschiedlich sein. Die Begleitung ermöglicht einerseits eine sichere und weniger anstrengende Nahrungsaufnahme. Damit kann der Patient in einem gewissen Rahmen das Essen und Trinken genießen. Andererseits wird der Abbau von Hilfen angestrebt, sobald Bewegungsabläufe und -qualität ausreichend sind. Der Weg zur Selbständigkeit von der assistierten Mahlzeit zum normalen Essen beinhaltet folgende Aspekte: 4 Sicherheit in der alltäglichen Ess- und Trinksituation, 4 sicheres Schlucken aller Konsistenzen, 4 Möglichkeit des Essens in Gesellschaft. Patienten müssen sich das Erreichen dieser Ziele oft über Monate erkämpfen! Mit zunehmenden Verbesserungen der oralen Nahrungsaufnahme können sie dann wieder gemeinsam mit anderen die Mahlzeit einnehmen – ein weiterer Schritt zur Selbständigkeit. Literatur Affolter F, Bischofberger W, Fischer L, Hoffmann W, Linzmeier S, OttSchindele R, Peschke V, Stöhr S, Strathoff S, Trares M (2009) Erfassung der Wirksamkeit gespürter Interaktionstherapie bei der Behandlung von Patienten mit erworbener Hirnschädigung Neurol Rehabil 15(1):12-17 Affolter F, Bischofberger W (1996) Gespürte Interaktion im Alltag. In: Wege von Anfang an. Neckar, Villingen-Schwenningen Bisch E, Logemann J, Rademaker A, Kahrilas P, Lazarus C (1994) Pharyngeal Effects of Bolus Volume, Viscosity, and Temperature in Patients With Dysphagia Resulting From Neurologic Impairment and in Normal Subjects. Journal of Speech and Hearing Research, Vol 37:1041-1049 Coombes K Coursenotes und Skript zum Grundkurs F.O.T.T., unveröffentlicht Davies PM (1995) Wieder Aufstehen. Frühbehandlung und Rehabilitation für Patienten mit schweren Hirnschädigungen. Springer, Berlin Davies PM (2002) Hemiplegie. Ein umfassendes Behandlungskonzept für Patienten nach Schlaganfall und anderen Hirnschädigungen, 2. Aufl. Springer, Berlin Deutsche Gesellschaft für Neurologie (2008) Leitlinien Neurogene Dysphagien. www.dgn.org 15.11.2009 Elferich B (2001) Rehabilitation von Dysphagiepatienten, In: Therapiezentrum Burgau (Hrsg) 1991-2001 »Jubiläumsschrift« 10 Jahre Schulungszentrum, Therapiezentrum Burgau Dr. Friedl Str 1 89331 Burgau Frommelt P, Grötzbach H (2005) Einführung der ICF in der Neurorehabilitation. Neurologie und Rehabilitation 4:171-178 Gratz C (1996) Essen und Trinken als geführtes Alltagsgeschehnis. In: Wege von Anfang an. Neckar, Villingen-Schwenningen Gratz C (2002) F.O.T.T. – Therapie des fazio-oralen Traktes. In: Habermann C, Kolster F (Hrsg) Ergotherapie im Arbeitsfeld Neurologie. Thieme, Stuttgart
107 Literatur
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Schütz M (2000) Die Bedeutung der präoralen Phase im Rahmen des oralen Kostaufbaus. In: Lipp B, Schlaegel W, Nielsen K et al. Gefangen im eigenen Körper – Lösungswege. Neckar, Villingen-Schwenningen Tittmann D (2001) F.O.T.T. – ein interdisziplinäres Konzept. Not 2001/2 Weber, Leimersheim Von Piekartz H (2005) Kiefer, Gesichts- und Zervikalregion. Neuromuskuloskeletale Untersuchung, Therapie und Managment. Thieme, Stuttgart Woite D (1998) Therapie des Facio-Oralen Traktes nach Coombes. Praxis Ergotherapie 10(5):350-352
5
6
Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig Barbara Elferich, Daniela Tittmann
6.1
Aus der Geschichte der Mundhygiene
– 110
6.2
Probleme bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung
– 110
6.2.1 Primärprobleme nach Hirnschädigung und Lösungsansätze – 111 6.2.2 Sekundärprobleme nach Hirnschädigung und Lösungsansätze – 115
6.3
Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
– 120
6.3.1 Der Prozess von Befundung und Behandlung – 120 6.3.2 International Classification of Functioning, Disability and Health 6.3.3 Vorgehen bei der therapeutischen Mundhygiene – 125
6.4
Hilfsmittel für die Mundhygiene neurologischer Patienten
6.4.1 Reguläre Hilfsmittel – 134 6.4.2 Therapeutische Hilfsmittel – 135 6.4.3 Kontraindizierte Hilfsmittel bei neurologischen Patienten
Mundhygiene: eine multidisziplinäre Aufgabe
6.6
Angehörigenarbeit: eine individuelle Prozessbegleitung
Literatur
– 146
– 144
– 134
– 136
6.5
6.6.1 Prozessbegleitung – 139 6.6.2 Angehörigenanleitung: Beispiel Mundhygiene
– 121
– 138 – 139
110
6
Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
Eine gesunde Mundhöhle ermöglicht eine optimale Aufnahme und Zerkleinerung der Nahrung. Bleiben Nahrungsreste an den Zähnen hängen, sind es in erster Linie Zungen- und Kieferbewegungen und der Speichel, die einen natürlichen Selbstreinigungsmechanismus in Gang setzen. Experten der Zahnheilkunde sind sich darüber einig, dass sich präventive Maßnahmen zur 7 Karies- und Parodontalprophylaxe nicht alleine auf eine optimale Mundhygiene beschränken, sondern wesentlich mit einer ausgewogenen Ernährung und einer regelmäßigen Fluoridierung der Zähne zusammenhängen (Reich 1995, Bauch 1995). In neueren Studien ist ein deutlicher Trend erkennbar, dass die Frequenz des Zähneputzens die Zahngesundheit wesentlich beeinflusst (Nover u. Netzter 1998, Schiffner 1995). In unserer Gesellschaft ist ein sauberer und gepflegter Mund die Norm (York u. Holtzman 1999, Wardh et al. 1997). Für das äußere Erscheinungsbild sind gepflegte Zähne ein wichtiger Faktor, wenn wir mit unseren Mitmenschen in Kontakt treten. Was aber, wenn wir z.B. aufgrund einer Krankheit unsere Zähne nicht mehr selbst oder nur unzureichend putzen können und auf die Hilfe anderer angewiesen sind? Wir beleuchten in diesem Kapitel aus der Vielzahl der Aspekte diejenigen, die im klinischen Alltag der neurologischen Rehabilitation am häufigsten auftreten. Typische Probleme und prinzipielle, aber auch konkrete Lösungsansätze werden beschrieben.
6.1
Aus der Geschichte der Mundhygiene
» Zahnpflege betreibt der Mensch, seit er das Bedürfnis hat, seine Mundhöhle von haften gebliebenen Nahrungsrückständen zu säubern. (Peters 1978)
«
Da schon verschiedenen Naturvölker die Selbstreinigung nicht ausreichte, benutzten sie zusätzliche Utensilien zur Zahnpflege. So ließ der Gebrauch von weißem Sand und der Finger das Bedürfnis nach Putzmitteln und Werkzeug zur Zahnreinigung erkennen. Daraus entwickelte sich der Zahnstocher, der als Vorläufer der Zahnbürste betrachtet wird (Peters 1978). Zahnstocher wurden in frühester Zeit aus kleinen Zweigen verschiedener Holzarten, Knochen, Horn und Federkielen gefertigt. Der Vorläufer der eigentlichen Zahnbürste bestand im 16. Jahrhundert aus einer ausgefaserten und als Pinsel benutzten Wurzel des Eibisch, des Süßholz oder der Malve – nicht nur zum Putzen der Zähne, sondern auch zum Frottieren des Zahnfleisches (Peters 1978). »Zahnpflege« zu betreiben war bereits zu Zeiten des römischen Dichters Ovid ein Merkmal von Schönheit. Er riet, die Zähne fleißig zu putzen und die Mundhöhle mit kaltem Wasser zu waschen. Hippokrates (459–377 v.Chr.)
fiel bereits auf, dass die Frequenz der Benutzung des Zahnstochers mit der Gesundheit der Zähne zu tun hatte. Es dauerte jedoch noch einige Jahrhunderte, bis spezifische Aspekte der Mundhygiene erstmals im 19. Jahrhundert durch systematische Verwendung von Putztechnik und Bürsten erkannt und gelehrt wurden. Regelmäßige Mundhygiene galt als eine allgemeine Tischsitte der Kulturvölker. Anfangs als »Mahnung zur Mundspülung und Abreiben der Zähne mit Salz, Salbei oder Alaun und höchstens einmal am Tag« – dies sollte möglichst privat durchgeführt werden (Peters 1978). Neben kosmetischen Gründen waren auch religiöskulturelle Bräuche verantwortlich für eine regelmäßige Mundhygiene. In alten indischen Rechtsbüchern und in Gesetzbüchern der islamischen Welt finden sich Hinweise auf eine ausgedehnte, rituelle Mundhygiene. So führten indische Mönche mit einer »Zahnfege« eine 1-stündige Zahnpflege während ihrer Gebete durch. Uralte religiöse Vorstellungen verlangen noch heute von jedem Japaner nach dem Aufstehen den Mund zu spülen und die Zähne zu reinigen, bevor er seine Andacht verrichtet (Peters 1978). In der industrialisierten Welt gibt es eine reichhaltige Auswahl an Mundhygieneartikeln zur präventiven Zahnund Mundhygiene. Diverse manuelle und elektrische Zahnbürsten, Zahnpasten mit verschiedenen Inhaltsstoffen, Zahnseide für Zahnzwischenräume bis hin zu Mundwässern und Zungenreinigern sind auf eine individuelle Mundhygiene abstimmbar. Die präventive Zahnheilkunde wird durch eine Informationskampagne der Weltgesundheitsorganisation (WHO) – das Oral Health Programme – unterstützt und in groß angelegten Projekten weltweit betrieben, denn für viele Menschen ist Mundhygiene noch keine selbstverständliche Routine (www.who.int/icf/icftemplate.cfm). > Beachte Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Mundhygiene ist in Forschungsprojekten der letzten Jahrzehnte beschrieben worden.
»Gesunde Zähne – gesunder Körper« – so lautete der Slogan der Bundesärztekammer auf ihrer Pressekonferenz in Berlin 2002, in der die zunehmende Bedeutung der Forschung bezüglich der bakteriellen parodontalen Erkrankungen als eigenständige Risikofaktoren und auch der Zusammenhang mit Herz-Kreislauf- und Gefäßerkrankungen dargestellt wurden (Deutsches Zahnärzteblatt 2002).
6.2
Probleme bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung
Mundhygiene ist eine ursprünglich pflegerische Tätigkeit. Im Rehabilitationsalltag erschweren die vielfältigen
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
111 6.2 · Probleme bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung
Probleme der Patienten mit Hirnschädigungen auch diese alltägliche Routine. In den folgenden Abschnitten werden typische Probleme, die bei der Mundhygiene auftreten können, und Lösungsansätze, die wir als spezielle, therapeutische und interdisziplinäre Aufgaben verstehen, aus unserem Praxisalltag beschrieben.
6.2.1
Primärprobleme nach Hirnschädigung und Lösungsansätze
Unter primären Problemen verstehen wir in der F.O.T.T. Störungen oder Einschränkungen, die als Folge der Hirnschädigung auftreten können. Gestörte Sensibilität und abnorme Bewegungen finden sich auch im fazio-oralen Bereich und beeinträchtigen in der Folge die Durchführung der Mundhygiene.
Kognitive Probleme jPrimärproblem: Fehlendes Verständnis für Situation, Sprache, Gestik Lösungsansatz. Für die Situation Verständnis schaffen
durch das Vermitteln gespürter Information über das Führen nach Affolter (Affolter u. Bischofberger 2001) (7 Kap. 6.3.2). Die Arbeit mit dem Patienten findet in einer ruhigen Atmosphäre statt, in der wenig gesprochen wird. Die Umwelt wird möglichst realistisch gestaltet, z.B. findet die Mundhygiene im Badezimmer oder am Waschbecken statt. Beispiel Der Patient ist desorientiert, motorisch unruhig, will aufstehen oder weglaufen, wirft Zahnputzutensilien von sich, versteht Erklärungen oder Gesten nicht. Mögliche Problemlösung: Die Therapeutin umfasst mit dem Patienten den Zahnputzbecher, geht mit ihm zum Waschbecken und hilft ihm, sich auf einen Stuhl setzen. Dann füllt sie mit ihm den Zahnputzbecher mit Wasser. Sie spricht möglichst wenig und vermittelt über das Führen gespürte Informationen beim »Mit-dem-Patienten-agieren«.
jPrimärproblem: Gestörte Handlungsplanung/ eingeschränkte Gedächtnisleistungen Lösungsansatz. Die Mundhygiene als therapeutisches
Medium in den täglichen Therapieplan mit aufnehmen, das Zähneputzen z.B. nach der therapeutischen Essensbegleitung integrieren im Sinne einer Tagesstrukturierung, die man dem Patienten anbietet. Das Personal dokumentiert die durchgeführte Mundhygiene, um deren Regelmäßigkeit zu gewährleisten. Auch die Angehörigen können zur Mundhygiene mit dem Patienten angeleitet werden.
Beispiel Der Patient kann ohne fremde Hilfe nicht mit dem Zähneputzen beginnen, er braucht jemanden, der ihm die Utensilien vorbereitet. Mögliche Problemlösung: Nach und nach werden mit dem Patienten gemeinsam die Utensilien zur Mundhygiene aus dem Schrank geholt, die Zahnpasta geführt auf die Bürste aufgetragen und dann mit dem Putzen begonnen. Danach werden die Utensilien mit dem Patienten gemeinsam aufgeräumt. Durch das Einbeziehen des Patienten erhöht sich die Chance, dass er wieder lernt, seinen Alltag zu planen und Aktivitäten zu initiieren.
Sensomotorische Probleme jPrimärproblem: Unzureichender Haltungshintergrund Lösungsansatz. Erarbeiten selektiver Rumpfaktivität und
automatischer Haltungskontrolle. Auswahl geeigneter Positionen zur Mundhygiene wie Sitz, erhöhter Sitz oder Stand unter Einsatz geeigneter Hilfsmittel wie Packs (stabile Schaumstoffpolster) oder Kissen. 7 Fazilitieren von Rumpfaufrichtung und Kopfkontrolle durch die Hände des Therapeuten. Führen von Bewegungsübergängen erfolgt in Verbindung mit zielorientiertem Arbeiten im Alltag. Beispiel Ein Patient mit mangelnder Rumpfkontrolle (hypotone 7 ventrale Rumpfmuskulatur) und mangelndem Gleichgewicht. Um im Sitzen nicht umzufallen, muss er sich über seine oberen Extremitäten fixieren. Er kann deshalb zum Zähne putzen den Arm nicht vom Rand des Waschbeckens nehmen. Mögliche Problemlösung: 7 Fazilitieren von selektiver Aufrichtung des Beckens nach anterior (vorne), 7 Tonusnormalisierung durch kleine Bewegungen des Rumpfes. Die Therapeutin stellt ihr Bein direkt hinter den Patienten auf den Stuhl und gibt ihm damit Hilfe bei der Rumpfaufrichtung. Außerdem unterstützt sie den Rumpf mit ihrer Hand am Brustbein. Gegebenenfalls wird sie seinen Arm beim Putzen der Zähne führend unterstützen.
jPrimärproblem: Gestörte Hand-Hand-Koordination, die das Hantieren mit den zur Zahnpflege nötigen Utensilien unmöglich bzw. unökonomisch und ineffizient macht Lösungsansatz. Einsatz der mehr – und weniger betrof-
fenen Seite in sinnvollem Zusammenspiel. Hier können Aktivitäten geführt werden, wie z.B. das Aufschrauben der Zahnpastatube oder das Einfüllen von Wasser in den Zahnputzbecher, die das beidhändige Arbeiten erfordern.
6
112
Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
Beispiel Ein Patient mit linksseitiger Hemiplegie hat Schwierigkeiten beim Öffnen der Zahnpastatube aufgrund fehlender Selektivität der Finger und mangelnder Stabilität der Schulter und des Ellenbogens auf der mehr betroffenen Seite. Mögliche Problemlösung: Die linke Hand kann als Haltehand eingesetzt werden. Die Therapeutin gibt dem Patienten die Tube in die Hand, hält sie mit ihm zusammen fest. Dabei sollten, um möglichst adäquate Spürinformationen zu vermitteln, die Finger der Therapeutin genau auf den Fingern des Patienten liegen. Gemeinsam wird nun die Tube aufgeschraubt.
6
jPrimärproblem: Gestörte Hand-Augen-Koordination Lösungsansatz. Erarbeiten freier Kopfbeweglichkeit bei
dynamisch-stabilem Rumpf. Beispiel Der Patient hat aufgrund einer zur rechten Seite fixierten Kopfposition keine visuelle Kontrolle darüber, ob die Zahnpasta wirklich auf den Bürstenkopf oder daneben gedrückt wurde. Mögliche Problemlösung: Vorbereitende Mobilisation der Schulter- und Nackenmuskulatur im Liegen. Unterstütztes Sitzen auf einem Stuhl vor dem Waschbecken nach Rumpfmobilisation und Unterstützen des Kopfes mit dem Kieferkontrollgriff von der Seite.
jPrimärproblem: Gestörte Hand-Mund-Koordination Lösungsansatz. 7 Tonusnormalisierung im Rumpf für
eine dynamische Stabilität. Führen des Arms, Einbeziehen der stabilen Umwelt (Waschbecken, Wand etc., um der Patientin Sicherheit zu vermitteln). Regulation der gestörten Sensibilität im Bereich des Gesichts und der Mundhöhle. Beispiel Die Patientin putzt mit der Zahnbürste außen an der Wange, ohne es zu merken. Sie spürt nicht, wo sich die Zahnbürste befindet. Mögliche Problemlösung: Vorbereitende Mundstimulation (7 Kap. 6.3.3) mit den Händen der Patientin, die von der Therapeutin zum Gesicht und zum Mund geführt werden. Ihre Hand wird beim Einführen der Zahnbürste in den Mund geführt. Dabei stabilisiert der Kieferkontrollgriff den Unterkiefer.
jPrimärproblem: Eingeschränkte Mundöffnung bei Annäherung der Zahnbürste an den Mund Lösungsansatz. Auswahl einer Ausgangsposition mit
großer und stabiler 7 Unterstützungsfläche, z.B. der Seitenlage. 7 Tonusregulation der Kieferschließer und Ausschließen von Kieferretraktion (Zurückziehen des Unterkiefers bei 7 ventraler Translation (Überstreckung der Halswir-
belsäule) als Voraussetzung für adäquate Mundöffnung. Situatives Verständnis beim Patienten schaffen. Beispiel Aufgrund hypertoner Kaumuskulatur und schwacher 7 suprahyoidaler Muskulatur kann der Patient seinen Mund nur 1 cm öffnen. Es besteht keine freie Kopfbeweglichkeit, der Kopf wird kompensatorisch über Erhöhung des Extensionstonus der Nackenmuskulatur gehalten. Mögliche Problemlösung: Die Seitenlage im 7 Alignment und eine optimale Unterstützung von Kopf und Nacken in Verbindung mit dem Kieferkontrollgriff bieten eine Möglichkeit zur Tonusregulierung der kompensatorischen Hyperextension der Nackenmuskulatur. Das Situationsverständnis kann verbessert werden, wenn der Patient in die Vorbereitung des Zähneputzens einbezogen wird, z.B. kann in Seitenlage die Zahnbürste aus einem Kulturbeutel geholt werden, oder die Hand des Patienten mit der Zahnbürste zum Mund geführt werden.
jPrimärproblem: Eingeschränkte Dauer und Weite der Mundöffnung beim Reinigen der Kauflächen Lösungsansatz. Arbeit am 7 Haltungshintergrund und
der Kopfkontrolle. Erarbeiten selektiver oraler Bewegungen und gezielter Einsatz von Hilfsmitteln. Hemmen von Beissreaktionen, wie konstantes oder 7 phasisches Beißen, Pump-, Saug- und Schmatzbewegungen durch Anbieten dynamischer Kieferstabilität mit dem Kieferkontrollgriff. Beispiel Aufgrund subkortikaler Automatismen, die der Patient oft nicht selbst steuern kann (z.B. 7 phasisches Beißen, »Pumpbewegungen« der Zunge, bei deren Auftreten sich der Unterkiefer hebt), können die 7 Kauflächen nicht ausreichend gereinigt werden bzw. es ist ein erhöhter Zeitaufwand für die Mundhygiene erforderlich. Mögliche Problemlösung: Arbeit in einer Position mit viel 7 Unterstützungsfläche, z.B. der Seitenlage. Anwendung des Kieferkontrollgriffs und 7 Fazilitieren des Schluckens am Mundboden, um »pumpende« Bewegungen der Zunge zu hemmen. Einsatz eines gepolsterten Spatels (7 Kap. 6.4.2), der zwischen die 7 Molare geschoben wird, um die Kauflächen der Gegenseite putzen zu können.
jPrimärproblem: Orale Überempfindlichkeit (Hyperästhesie) Lösungsansatz. Normalisierung der Reagibilität (in Rich-
tung Normosensibilität) durch regelmäßige Mundhygiene. Zu kaltes oder zu heißes Zahnputzwasser ist ebenso zu vermeiden wie »Attacken« beim Zähneputzen zugunsten eines strukturierten taktilen Inputs. Vorbereitend wird die Mundstimulation durchgeführt, dabei ist es hilfreich, die Hände des Patienten mit einzubeziehen, sowohl in
113 6.2 · Probleme bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung
Kontakt zueinander als auch in Kontakt mit Gesicht und Mund zu bringen. Desweiteren kann als Variation der vorbereitenden Mundstimulation eine Mobilisation des N. trigeminus und des N. fazialis zur Normalisierung der Reagibilität angewendet werden (7 Kap. 7.3.2). Beispiel Der Patient reagiert aufgrund einer Kieferfraktur und abgebrochener Zähne (als Folge eines Polytraumas) extrem auf Berührung durch die Zahnbürste und baut im gesamten Körper viel Spannung auf. Dabei verzieht er schmerzvoll das Gesicht. Mögliche Problemlösung: Zahnärztliche Beratung zur Sanierung der abgebrochenen Zähne, um Verletzungen von Wangen und Lippen zu vermeiden. Körperwarmes Zahnputzwasser verwenden. Langsames, vorsichtiges Bürsten der Zähne unter Einbeziehen der Arme und Hände des Patienten.
jPrimärproblem: Fehlende oder eingeschränkte Aktivität mimischer Muskulatur für den Mundschluss Lösungsansatz. Tonusregulation der mimischen Muskula-
tur. 7 Fazilitieren von Lippen- und Wangenbewegungen nach vorne, z.B. durch Mund spitzen, Lippen schließen, Wangen aufblasen. Beispiel Ein Patient mit Fazialisparese links und damit fehlender Aktivität der perioralen Muskulatur (M. orbicularis oris, M. buccinator) aufgrund von Hypotonus hat Schwierigkeiten beim Mund ausspülen bzw. Ausspucken von Speichel und Zahnpasta. Mögliche Problemlösung: Vorbereitende Gesichtsbehandlung vor der Mundhygiene mit Tonusregulation durch Hemmen der Überaktivität der rechten Gesichtsseite bei gleichzeitigem 7 Tapping auf der linken Gesichtsseite und anschließender Aktivierung durch Fazilitation mimischer Bewegungen, z.B. Lippen spitzen, Lippen schließen. Beim anschließenden Zähneputzen wird das Ausspucken fazilitiert (. Abb. 6.1, 6.2).
. Abb. 6.1. Die Mundhygiene findet im Stehen an einer Waschtheke statt. Der Physiotherapeut begleitet durch gezieltes Führen der paretischen Hand das Auftragen der Zahnpasta auf die Zahnbürste
jPrimärproblem: Salivation bei herabgesetzter Schluckfrequenz Lösungsansatz. Steigern der spontanen Schluckfrequenz
und Anbahnung eines physiologischen Schluckmusters auf der Basis eines möglichst adäquaten 7 Haltungshintergrunds.
. Abb. 6.2. Nach dem Zähneputzen fazilitiert der Therapeut das symmetrische Mundspitzen, um das Ausspucken zu ermöglichen
6
114
Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
Beispiel
6
Bei einem Patienten mit herabgesetzter Schluckfrequenz und damit verbundenem Speichelfluss ist bei der Mundpflege durch den mechanischen Reiz in der Mundhöhle mit vermehrter Speichelproduktion zu rechnen. Es kann zu Aspirationen mit Hustenattacken kommen. Mögliche Problemlösung: Mundhygiene in Seitenlage oder im nach vorne abgelegtem Sitz, um zu verhindern, dass Speichel mit der Schwerkraft in die Atemwege gelangt, bevor der Patient schluckt. Rückenlage vermeiden! In Seitenlage wird während der Mundstimulation der Speichel mit Gaze im Mundvorhof und auch die Speichelseen in den Wangentaschen entfernt. Versuche des Patienten zu schlucken, werden während der gesamten Prozedur durch taktile Schluckhilfe am Mundboden unterstützt. Zu beachten ist dabei die möglichst physiologische Position von Kiefer, Nacken, Schultergürtel und Becken in Relation zueinander.
Input für das Gesicht und den Mund geben, z.B. durch die Mundstimulation. Therapeutisches Essen (7 Kap. 5.5.2), wenn der Patient die Voraussetzungen dazu erfüllt. Die therapeutische Mundhygiene kann auf eine gesamte Therapieeinheit ausgedehnt werden, wenn der Patient intensiv in die Vorbereitung mit einbezogen wird und vorher eine für ihn geeignete und tonusnormalisierende Lagerung erarbeitet wurde. Ausgehend von der Hypothese, dass Patienten mit gestörter sensibler Rückmeldung mit den Zähnen knirschen, um über die Rezeptoren des 7 stomatognathen Systems Spürinformationen zu bekommen (Reiber 1992), soll ein alternatives Angebot an Spürinformation vermittelt werden. Für einen verbesserten Impulstransport senso-motorischer Reize kann auch hier in der Vorbereitung die Mobilisation des N. trigeminus und N. fazialis beitragen (7 Kap. 7.3.2). Beispiel
Zähneknirschen/Bruxismus – ein besonderes Problem Zur Ätiologie des 7 Bruxismus gibt es neben psychischen (Stress) auch somatische Erklärungsmodelle (Universität Mannheim, Internet-Website). So z.B. 7 okklusale Interferenzen, wie sie auch bei neurologischen Patienten durch veränderten Tonus der Nacken-, Kau- und 7 suprahyoidalen Muskulatur und damit einhergehenden Fehlstellungen von Kiefer und Halswirbelsäule vorkommen können. Anhaltendes Zähneknirschen verhindert das Reinigen der Kauflächen und Zahninnenseiten und führt mittelfristig zu Sekundärproblemen: 4 Zahnbeweglichkeit und Zahnwanderungen (Plagmann 1998, Künkel 1990), 4 7 Schlifffacetten im Kauflächenbereich und 4 hypertropher Kaumuskulatur. Fehlbelastungen des Parodonts sind z.B. unphysiologische Funktionen des Kauapparates wie das Knirschen, die verstärkte 7 Zungenprotrusion (Zungenpressen) oder das Beißen. Störungen der 7 Okklusion wiederum können Schmerzen im Kiefer-, Ohr- und Kaumuskulaturbereich zur Folge haben (Plagmann 1998). Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass unterschiedliche physische Beschwerden, die durch Malokklusionen hervorgerufen werden, auf neurologische Schaltkreise, besonders auf die des limbischen Systems reagieren und damit sehr wahrscheinlich das »Stresslevel« unseres Organismus erhöhen können (Greven et al. 2009). jPrimärproblem: Zähneknirschen/Bruxismus Lösungsansatz. Erkennen der Ursachen des Zähneknir-
schens. Stress und Schmerzen ggf. ausschalten oder mildern. 7 Haltungshintergrund erarbeiten, insbesondere den Kopf in eine neutrale Stellung bringen. Strukturierten
Ein Patient nach intrazerebraler Massenblutung knirscht mit den Zähnen, wenn er im Bett liegt oder im Rollstuhl sitzt und nichts mit ihm passiert. Bei plötzlichem Berühren des Patienten oder beim Bewegtwerden nimmt das Knirschen noch zu. Mögliche Problemlösung: Langsame, geführte Lagewechsel entlang einer stabilen Umwelt. Im Rahmen der morgendlichen Körperpflege wird der Patient geführt, sein Gesicht zu waschen, abzutrocknen und einzucremen (auch das bedeutet Behandlung des fazio-oralen Trakts!). In Vorbereitung zur Mundstimulation werden die Hände des Patienten zum Gesicht geführt und die Mundstimulation durchgeführt. Danach packt die Therapeutin gemeinsam mit dem Patienten eine Tüte mit Trockenobst aus. Ein Stück Trockenobst wird in Gaze gewickelt und zwischen die 7 Molaren gegeben. Nach 1–2 Kaubewegungen wird das Stück wieder herausgenommen und ein Schlucken sowie Nachschlucken fazilitiert durch Hilfe am Mundboden (vgl. 7 Kap. 5.3.3). Anschließend ggf. geführtes Zähneputzen.
> Beachte Als Ursache des 7 Bruxismus und Zähneknirschens kommt auch »Spür-Informationssuche« aufgrund gestörter sensibler Rückmeldungen infrage.
jBotulinumtoxin
Ebenso stellt sich die Diskussion der Behandlung mit 7 Botulinumtoxin bei neurologischen Patienten als insgesamt sehr kontrovers dar, da eine Reihe von Sekundärproblemen auftreten können (Universität Mannheim, Internet website). Nach hinreichender Evaluation des Symptomkomplexes im multidisziplinären Team, zu der in diesem Fall auch der Kieferchirurg zählt, kann im Falle einer muskulären Kieferklemme diese Behandlung eine ergänzende Massnahme darstellen, um die Kieferöffnung für die tägliche Mundhygiene zu ermöglichen.
115 6.2 · Probleme bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung
Grundsätzlich sollte die Injektion nur dann erfolgen, wenn es 4 pflegerische Indikationen gibt, z.B. wenn die Innenseiten der Zähne nicht mehr geputzt werden können und Infektionen drohen, und 4 nach der Injektion ganzheitliche therapeutische Maßnahmen ergriffen werden, um die Mundöffnung auch nach abklingender Wirkung des Botulinumtoxins zu erhalten. i Praxistipp Bei Hyperaktivität der Kaumuskulatur liegt häufig eine multikausale Funktionsstörung im 7 stomatognathen System vor. Eine differenzierte, interdisziplinäre Befundung und Behandlungsevaluation ist notwendig.
> Beachte Primäre Probleme als direkte Folge einer Hirnschädigung können einzeln oder kombiniert sowohl in der Vorbereitung als auch bei der Durchführung der Mundhygiene auftreten. Sie verhindern normales sensomotorisches Feedback und damit physiologische Bewegungen. Bei Nichtbehandlung treten mannigfaltige Sekundärprobleme auf.
Unter der Lupe Studien: Notwendigkeit der Mundhygiene Englische und amerikanische Studien bestätigen die Notwendigkeit einer adäquaten Mundhygiene. In diesen Studien werden Zusammenhänge zwischen sanierungsbedürftigen 7 Kariesläsionen, deutlich reduzierter oraler Hygiene, pflegerisch abhängigen, enteral ernährten Patienten und dem Auftreten von Aspirationspneumonien beobachtet (Nelson u. Lesser 1997, Langmore et al. 1998, Dyment u. Casas 1999, Clarke 1993). Eine weitere Studie beobachtete Reservoire für respiratorische Infektionen besonders bei hospitalisierten und geschwächten Patienten durch schlechte Mundhygiene. Gerade an den Zahnoberflächen und Prothesen wurde eine stärkere Kolonisation von respiratorischen Keimen festgestellt (Hayes et al. 1998, Scannapieco 1999). Bei fehlendem Mundschluss kommt es beispielsweise zur Mundtrockenheit. Der Speichel kann seine Funktion nicht mehr erfüllen, die physiologische Mundflora wird zerstört und es kommt zu 7 Karies (Reich 1995, Holmes 1998) (7 Kap. 6.3.2).
Lösungsansatz. Regelmäßige Mundhygiene zur Prophylaxe unter Verwendung individuell ausgewählter Zusätze zur Reinigung, z.B. entzündungshemmende Gels – eine zahnärztliche Konsultation ist ggf. indiziert. Beispiel
6.2.2
Sekundärprobleme nach Hirnschädigung und Lösungsansätze
Sekundärprobleme sind Komplikationen oder Spätfol-
gen, die 4 einerseits durch fehlerhafte Behandlung der Probleme des Patienten oder inadäquat durchgeführte Mundhygiene (z.B. Infektionen des Zahnfleisches durch mangelnde und zu selten durchgeführte Mundhygiene) entstehen oder 4 andererseits aus den Spätfolgen der Hirnschädigung resultieren können. > Beachte Sekundärprobleme können auch durch nicht hilfreiche Kompensationsstrategien entstehen, die 7 pathologische Bewegungsmuster verstärken. Die Patienten eignen sich diese an, wenn nicht frühzeitig therapeutisch interveniert wird oder wenn diese Probleme vom therapeutischen Team nicht erkannt werden.
Probleme im Mund- und Rachenraum und den Atemwegen jSekundärproblem: Karies und Infektionen 7 Karies und Infektionen treten aufgrund dentaler 7 Plaques oder bakterieller Besiedelung der Zungenschleimhaut oder Infektionen des Zahnfleisches auf.
Ein Patient mit Fazialisparese und Sensibilitätsstörungen im rechen Bereich der Mundhöhle putzt sich die Zähne selbständig und vernachlässigt dabei die mehr betroffene Seite. Es kommt auf dieser Seite zur 7 Plaquebildung mit Infektion des Zahnfleisches (. Abb. 6.3). Mögliche Problemlösung: Therapeutische Mundhygiene mit Einbeziehen der mehr betroffenen Seite. An Stellen, die vom Patienten nur unzureichend geputzt werden, wird die Hand des Patienten beim Putzen geführt, ggf. wird die Therapeutin /Pflegende anschließend nochmals nachputzen. Zusätzlich wird zum Spülen des Mundes ein entzündungshemmendes Mundwasser benutzt. Infektionen der Mundhöhle und 7 Erosionen des Zahnschmelzes können auch durch gastralen 7 Reflux (häufig beobachtbar bei neurologischen Patienten aufgrund von Nahrungsunverträglichkeit und/oder Motilitätsstörungen der Speiseröhrensphinkter und des Verdauungstrakts) verursacht werden, der in die Mundhöhle regurgitiert wird. Mögliche Problemlösung: Therapie des gastralen 7 Refluxes (medikamentös, veränderte Geschwindigkeit der enteralen Nahrungsgabe, 30-Grad-Schrägstellung des Bettes des Patienten, jejunale Schenkellegung über PEG-Sonde). Regelmäßige, hochfrequente Mundhygiene, (wenn nötig, öfter als 3-mal am Tag), um den Schutz der Atemwege vor regurgitiertem 7 Refluxmaterial zu gewährleisten. Einsatz entzündungshemmender und zahnschmelzhärtender Zusät6
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Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
Lösungsansatz. Arbeit am Mundschluss und regelmäßig durchgeführte Mundhygiene, speziell vor dem Entblocken der 7 Trachealkanüle und sorgfältiges Entfernen von Speichelresten aus der Mundhöhle, z.B. im Rahmen der Mundstimulation mit feuchter Gaze. Absaugen des Sekrets oberhalb der Blockung erfolgt unmittelbar in der Situation des Entblockens der 7 Trachealkanüle. jSekundärproblem: Lockerung von Zähnen
Lockere Zähne können entweder als Folge anhaltenden Zähneknirschens oder bei fortgeschrittener Parodontose auftreten.
6 . Abb. 6.3. Patient mit Fazialisparese rechts und Zahnfleischentzündung (markiert)
ze im Zahnputzwasser, zahnhärtende Gels zum Putzen verwenden. Bei Patienten, die lange beatmet wurden, können Defekte der Mundschleimhaut entstehen. Sind diese Defekte mit einer lokalen Mundtrockenheit vergesellschaftet, kann eine 7 Candidabesiedlung begünstigt werden (Holmes 1998). Mögliche Problemlösung: Erarbeitung des Mundschlusses in der Therapie. Lagerung grundsätzlich in jeder Position mit langem Nacken und geschlossenen Kiefer. Hier können eventuell Handtücher zu Hilfe genommen werden, um dem Kiefer seitlich Halt zu geben und damit das Austrocknen der Mundschleimhaut zu verhindern. Therapie zum Mundschluss und durch Fazilitierung des langen Nackens (z.B. in Seitenlage). Zusätzlich hochfrequente Mundhygiene mit Mundstimulation zur Befeuchtung der Mundhöhle und Anregung der Speichelproduktion. Zur Beseitigung des Zungenbelags wird eine mechanische Entfernung mit dem Noppenstab (z.B. Nuk-Putztrainer) bei jeder Mundhygiene vorgenommen.
jSekundärproblem: Pneumonie und oder Infektion des Pharynx und Larynx
Pneumonie und oder Infektion des Pharynx und Larynx können durch Aspiration 7 kontaminierten Speichels verursacht werden (Langmore et al. 1998, Dyment u. Casas 1999, Hayes et al. 1998). Als Folge des offenen Mundes und unregelmäßig durchgeführter Mundhygiene kommt es neben der bakteriellen Besiedelung des Speichels oft auch zur Veränderung der Speichelkonsistenz. Er wird zäher und ist deshalb schwieriger zu schlucken. Beim Patienten mit bestehender Dysphagie kommt es zu Speichelresiduen in den 7 Vallecularräumen, im Pharynx oder Larynx, die das Schlucken und die Atmung erschweren.
Lösungsansatz. Siehe 7 Kap. 6.2.1.3, Primärproblem: Zähneknirschen/7 Bruxismus. jSekundärproblem: Kiefer- und Gaumendeformitäten
Aufgrund veränderter Tonusverhältnisse bei zerebralen Bewegungsstörungen führt dies oft zu einer Hyperextension der Halswirbelsäule mit einhergehender Retraktion des Unterkiefers. Die damit veränderten Tonusverhältnisse der Wangen und eine Vorverlagerung der Zunge (z. B. durch 7 Zungenprotrusion) führen zu Zahnfehlstellungen, in diesem Beispiel zum »offenen Biss«, (. Abb. 6.4 a). Bei hypertonem M. orbicularis oris und nach innen gezogener Unterlippe können die Zähne nach dorsal, Richtung Zunge geschoben werden, (. Abb. 6.4 b, c) Eine Verformung des Gaumens (hoher Gaumen) mit letztlich auch erschwerter Nasenatmung (Broich 1992, Künkel 1990) kann eine weitere Sekundärproblematik sein. Lösungsansatz. Regelmäßige F.O.T.T. ausgerichtet auf
eine allgemeine Tonusnormalisierung (Lagerung, Mobilisation und Arbeit im Mund und Erarbeitung möglichst physiologischer Zungenbewegungen). jSekundärproblem: Abrasionen des Dentins und Defekte an der Gingiva
Durch gestörte Hand-Mund-Koordination wird mit zu viel Druck und groben horizontalen Scheuerzügen geputzt. Dies kann zu keilförmigen Defekten an der 7 Gingiva und am Dentins (Zahnhartsubstanz) führen (Plagmann 1998). Lösungsansatz. Neue Putztechnik, z.B. Rot-Weiß-Methode (Roulet et al. 1999). Der Patient wird dabei geführt; ggf. werden die Zähne durch die Therapeutin oder Pflegende in präventiver Putzmethode nachgeputzt. jSekundärproblem: Druckstellen durch eine nicht mehr passende Prothese
Bereits nach kurzer Zeit des Nichttragens der Prothese (z.B. nach der Intubationszeit auf der Intensivstation), löst sich diese nach dem Einsetzen vom Kiefer. Gründe dafür
117 6.2 · Probleme bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung
Die Unterfütterung der Prothese durch den Zahnarzt ist ggf. notwendig. Eine passgerechte Prothese lässt Rötungen und selbst Ulzera schnell abheilen (Schubert 1991). jSekundärproblem: Orale sensorische Deprivation (Nusser-Müller-Busch 1997) Lösungsansatz. Die F.O.T.T. sollte möglichst direkt nach a
der Hirnschädigung, also bereits im Akutkrankenhaus und der Intensivstation, beginnen. Regelmäßiger, »strukturierter Input« für Gesicht und Mund durch die Mundstimulation unter Einbeziehen der Hände des Patienten. Bei Patienten mit geblockter 7 Trachealkanüle kann zu gegebener Zeit ein Entblocken und evt. Verschließen der Kanüle (der Patient atmet dann über Mund und Nase) hilfreich sein: Der Patient lernt durch diesen physiologischen Input, den ihm der Ausatemstrom gibt, seine oralen Strukturen wieder zu spüren und zu gebrauchen (7 Kap. 9 und 10). Beispiel
b
c . Abb. 6.4 a-c. Kiefer-/Zahnstellungsdeformität. a Offener Biss, b invertierte Unterlippe, c dorsal gekippte untere Schneidezähne
sind u.a. ein veränderter Wangen- und Lippentonus und eine reduzierte Zungenbeweglichkeit. Auch kann die Mundschleimhaut beim ersten Tragen empfindlich reagieren, und es bilden sich leicht Rötungen, Druckstellen und im schlimmsten Fall Ulzera. Lösungsansatz. Die Prothese so bald als möglich wieder einsetzen und ggf. mit Prothesenhaftpulver/creme stabilisieren. Nach jedem Tragen den Gaumen und den Zahndamm gründlich vom Haftmaterial befreien und auf Rötungen hin untersuchen. Tägliches Herausnehmen der Prothese zum Reinigen, auch bei non-oraler Ernährung.
Ein Patient nach SHT reagiert auf das Einführen der Zahnbürste in seinen Mund mit extremen Tonusanstieg und Wegdrehen des Kopfes zur Seite. Dabei stöhnt er und verzieht das Gesicht. Mit der linken Hand greift er zur Hand des Therapeuten und schiebt diese von sich weg. Mögliche Problemlösung: Der Patient wird in die Vorbereitung des Zähneputzens miteinbezogen. Die Therapeutin taucht dazu seinen Finger in eine Tasse Tee, die sie ihm zum Halten gibt und führt langsam seinen Finger zum Mund und später auch am Zahnfleisch entlang. Bei der anschließenden Mundstimulation berührt ihr Finger erst einige Sekunden das Zahnfleisch des Patienten, ohne den Finger sofort weiterzubewegen. Erst dann fährt sie langsam am Zahnfleisch entlang. Um die Dauer der Berührung für den Patienten absehbar zu machen, kann sie das Entlangreiben des Fingers am Zahnfleisch verbal begleiten, indem sie bis 3 zählt. Nach jedem Quadranten wird eine Pause einlegt. Ggf. lässt sich danach ein Schlucken 7 fazilitieren. Erst dann gibt sie dem Patienten die Zahnbürste zum Erspüren in die Hand und beginnt vorsichtig, diese in seinen Mund zu einzuführen.
Überreaktion mit Beißen – ein besonderes Problem Durch Überreaktionen im fazio-oralen Trakt, häufig in Kombination mit festem Kieferschluss oder 7 Bruxismus, ergeben sich massive Einschränkungen bei der Durchführung der Mundpflege. Durch negatives sensomotorisches Feedback und unangenehme Erfahrungen des Patienten, besonders wenn physische Gewalt und kontraindizierte Hilfsmittel (. Abb. 6.19, 6.20) zur Mundpflege eingesetzt werden, entsteht ein Circulus vitiosus, in dem die Hyperreagibilität und damit auch der Tonus der Kieferschließer weiter steigen – dies erschwert das aktive Öffnen des Kie-
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Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
fers noch mehr. Diesen Kreislauf gilt es durch therapeutische Interventionen zu unterbrechen. Es folgen einige Beispiele. jSekundärproblem: Bisswunden an Zunge, Wangeninnenseiten und Unterlippe (. Abb. 6.5) Lösungsansatz. Abhängig von den Ursachen der Bisswun-
den (s.u.) (Millwood u. Fiske 2001). Beispiel
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Ein Patient nach Schädelhirntrauma (SHT) hat weder Kopfnoch Rumpfkontrolle, überstreckt im Bereich des Nackens und zieht den Unterkiefer zurück. Er gähnt häufig, danach schließt sich der Unterkiefer jedes Mal schnell und unkoordiniert. Die Unterlippe gerät dabei zwischen die Zähne, er beißt sich massiv auf die Lippe und verletzt sich. Mögliche Problemlösung: Da Rückenlage den Extensorentonus im Nacken erhöhen kann, wird der Patient in Seitenlage mit angebeugten Hüften und Knien gelagert bzw. im Halbsitz oder im Sitz mit nach vorne abgelegtem Oberkörper, um eine Hyperextension des Nackens zu vermeiden. Eine ausreichende stabile Unterstützung von Kopf und Nacken in neutraler Stellung durch eine gefaltete Bettdecke oder gefaltete Handtücher verhindert, dass der Kopf des Patienten, der von ihm selbst nicht gehalten und bewegt werden kann, verrutscht. Bei der Arbeit im Gesicht und Mund korrigiert die Therapeutin die Stellung des Kiefers. Bestehende Bisswunden werden mit entzündungshemmenden Salben versorgt. Die Mundhygiene erfolgt entsprechend vorsichtig und langsam, um der Überempfindlichkeit Rechnung zu tragen und dem Patienten keine zusätzlichen Schmerzen zuzufügen.
a
! Vorsicht Schmerzen und Angst lassen den Gesamttonus des Patienten ansteigen und verstärken so die sensomotorische Dysfunktion (Davies 1995).
b
jMögliche Ursachen für die Entstehung von Bisswunden Sensibilitätsverlust in der Mundhöhle. Zum Beispiel in
Verbindung mit hypotoner Wangenmuskulatur, die zwischen die Kauflächen gerät. i Praxistipp Therapeutisch steht hier neben dem Erarbeiten von normaler Reagibilität im Gesicht und Mund auch die Tonusregulation der mimischen (hier: Wangenmuskulatur) und Kaumuskulatur im Vordergrund. Je früher ein Patient wieder über selektive orale Bewegungen verfügt, umso eher werden stereotype Bewegungsmuster wie diese Art des Beißens gehemmt und überlagert.
c . Abb. 6.5 a-c. Beispiele für Bisswunden an der Unterlippe
119 6.2 · Probleme bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung
Starkes Beißen (Beißreaktionen) des Patienten. Durch allgemeine Tonuserhöhung, z.B. bei Lagewechsel oder bei diffuser Berührung im Gesicht und Mund und bei Hyperreagibilität (s.u.). Lagewechsel werden therapeutisch geführt, ein plötzliches Bewegen des Patienten ohne stabile Umwelt sollte vermieden werden. Die Behandlung von Gesicht und Mund erfolgt langsam, durch strukturierten Input (hier: eindeutige taktile Berührung) im Rahmen der Mundstimulation und unter Einbeziehen der Hände des Patienten. Diffuse Wisch- und Streichbewegungen im Gesicht sind kontraindiziert. Zusätzlich muss der Gesamttonus des Patienten reguliert werden. Retrahierter Unterkiefer. In Verbindung mit nach innen gezogener Unterlippe, die beim Gähnen und anschließendem (vom Patienten nicht zu kontrollierenden) Zuschnappen des Unterkiefers zwischen die Zähne gerät. i Praxistipp Hier spielt eine stabile, gut unterstützte und eine den Extensionstonus hemmende Lagerung eine wichtige Rolle. Das stundenweise Lagern des wahrnehmungsgestörten Patienten auf einer Therapieliege und der Einsatz von stabilem Lagerungsmaterial (Packs) haben sich als hilfreich erwiesen. Im Gegensatz zur normalen Matratze bietet die Therapieliege eine deutlich stabilere 7 Unterstützungsfläche. Dies trägt zur Regulation des Gesamttonus bei. Die Anwendung des Kieferkontrollgriffs während der Arbeit in Gesicht und Mund erleichtert es, den Kiefer in eine neutrale Position zu bringen und da zu stabilisieren.
kHyperreagibilität Hyperreagibilität (Hyperästhesie, Parästhesie) (Weizsä-
cker 1990) entsteht durch 4 gestörte sensible Rückmeldung oder verminderte Reize, 4 aufgrund mangelnder oder fehlender Sprech- und Schluckbewegungen bzw. Fehlen von Atemstrom in den oberen Luftwegen (hier: bei Patienten mit geblockter 7 Trachealkanüle). Die Reizschwelle des Patienten für Berührung und Bewegung im Mund- und Gesichtsbereich ist herabgesetzt. Hyperreagibilität kann als 4 primäre Folge der Hirnschädigung auftreten und 4 sekundär als Folge der »Vernachlässigung« von Gesicht und Mund während der Neurorehabilitation. Es wird angenommen, dass nach einer Hirnschädigung die Reizschwelle für Berührung und Bewegung heraboder heraufgesetzt ist (Davies 1995).
Im sensomotorischen Kortex findet sich ein relativ groß angelegtes Areal für Gesicht, Mundhöhle und Hände im Gegensatz zu den Repräsentationen des Rumpfes (McNaught u. Callander 1983). Dies ist noch mehr zu verstehen, wenn wir die vielfältigen Reize und Stimulationen dieser Gebiete über den ganzen Tag verteilt bedenken. So erhalten wir durch die Berührung der Hände im Gesicht, beim Sprechen, Kauen und Schlucken kontinuierlich sensorische Informationen. Verschiedene Muskeln des Gesichts, der Zunge, des Rachens und Gaumens und des Kiefers werden dabei ständig bewegt und erfahren sensomotorisches Feedback. Ein sensorischer Entzug beginnt dann, wenn der Patient bewusstlos ist oder schwere Lähmungen im Gesicht oder in der Mundhöhle erleidet (Davies 1995, Weizsäcker 1990, Nusser-Müller-Busch 1997). Dieser Entzug kann zur sensorischen Deprivation führen, mit allen schon beschriebenen Problemen der Hyperreagibilität, und damit auch zur Verschlechterung der oralen Hygiene führen. Beim Berühren im Gesicht und Mundbereich kann bei diesen Patienten mit schweren zentralen Läsionen oft ein 7 phasisches oder tonisches Beißen beobachtet werden. > Beachte Hyperreagibilität zeigt sich klinisch in Form von ansteigender Gesamtkörperspannung bzw. abwehrenden Reaktionen bei Eigen- oder Fremdberührung im Gesicht und Mund (auch bei der Mundhygiene).
jKonsequenzen für den Umgang mit dem Patienten
Vom Personal oder den Angehörigen werden diese Reaktionen oft fälschlicherweise als Ausdruck mangelnder Kooperation missverstanden. Hinzu kommt die oftmals gestörte Kommunikationsfähigkeit vieler Patienten, die sich nicht oder nur unzureichend mitteilen können (z.B. bei Aphasie). Daher ist besondere Achtsamkeit bei der Befundung und Therapie geboten. Das Auftreten einer Beißreaktion (tonisches Beißen) verunsichert die Teammitglieder, erinnert an schlechte Erfahrungen wie Schwierigkeiten, Gegenstände nach dem Zubeißen wieder aus dem Mund zu bekommen oder gar erlittene Verletzungen. Solche Erfahrungen bewirken einen zaghaften Umgang mit Patienten und können zu einer deutlichen Vernachlässigung der Mundhygiene führen. Eine frühe Intervention zur Reaktivierung der Potenziale des Patienten und zur Vermeidung der Sekundärprobleme ist notwendig (Annunciato 2000, Davies 1995).
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Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
i Praxistipp Es ist wichtig, 4 das Phänomen Hyperregiabilität und das Auslösen der Beißreaktion zu kennen, 4 Handlungskompetenz im Umgang mit diesem Reaktionsmuster und auch in Notfallsituationen, wie z.B. dem Zubeißen auf die Unterlippe oder auf die Zahnbürste oder den Finger des Helfenden zu erwerben. Damit die sensorische Deprivation im orofazialen Bereich, mit dem typischen Symptom des hyperaktiven Beißens, erst gar nicht in dem Ausmaß entstehen kann, gilt es, bereits in der frühen Phase der Rehabilitation vorzubeugen. Nur mit konstanter und strukturierter »sensomotorischer Inputgabe« kann auf Dauer eine routinierte individuelle Mundhygiene für den Patienten möglich bleiben. Ist das Problem bereits entstanden, so stellt die strukturierte Behandlungsweise zur Behandlung der Überempfindlichkeit einen sehr wesentlichen und oftmals auch langfristigen Behandlungsanteil im Rehabilitationsprozess dar.
6
> Beachte Fehlender oder mangelnder taktiler Input im faziooralen Trakt verhindert normales sensomotorisches Feedback, d.h., er wirkt motorischem Lernen und 7 physiologischer Bewegung und Sensibilität entgegen. Daraus können sich Sekundärprobleme entwickeln, die sich äußern in: Bewegungseinschränkungen (7 Kontrakturen), 4 Schmerzen, 4 Deformitäten, 4 sensorischer Deprivation oder 4 Infektionen. Sekundärprobleme sind zu vermeiden!
6.3
therapeutische Mundhygiene fehlende oder eingeschränkte orale Bewegungen ersetzen, z.B. Bewegungen der Zunge zum Entfernen von Speiseresten in den Wangentaschen, auf die der Patient aufgrund seiner Hirnschädigung noch nicht wieder zurückgreifen kann. Die individuellen Maßnahmen werden im Rehabilitationsprozess über den 24Stunden-Tag geplant und interdisziplinär durchgeführt. Die Ziele und Prinzipien der F.O.T.T.-Mundhygiene werden in . Übersicht 6.1 erläutert. . Übersicht 6.1. Ziele und Prinzipien der therapeutischen Mundhygiene Ziele der Mundhygiene 4 Gesunderhaltung der Mundhöhle 4 Erwerb möglichst physiologische Bewegungen und Sensibilität oraler Strukturen in Verbindung mit möglichst normalem 7 Haltungshintergrund 4 Prävention von Sekundärproblemen 4 Zugang zum Situationsverständnis und dem fazio-oralen Trakt des Patienten schaffen über die Aktivität der Mundhygiene (durch geführte Interaktionen) 4 Anbahnen von Reinigungsbewegungen der Zunge in der Mundhöhle Prinzipien der Mundhygiene 4 Arbeiten im Alltagskontext 4 Interdisziplinäres Arbeiten, Einbeziehen Angehöriger 4 Individueller Einsatz von Hilfsmitteln 4 Befund und Therapie der auftretenden Probleme gehen ineinander über
6.3.1
Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
» Ich bin davon überzeugt, dass es nicht die Läsion allein ist, die das Endresultat diktiert, sondern auch die Behandlung, die der Patient in der Frühphase bekommt ... Was ist die »richtige« Behandlung? Diejenige, die vermeidbare sekundäre Komplikationen verhindert und die ein Wiederkehren funktioneller Aktivität fördert und verbessert. (Davies 1995)
«
In der F.O.T.T. ist die Mundhygiene neben der Pflege und Gesunderhaltung des Mundes ein wichtiges Medium zur Problemanalyse am Patienten, zur Anbahnung physiologischer Bewegungsabläufe und zur Vermeidung von Sekundärproblemen. Häufig muss eine strukturierte und
Der Prozess von Befundung und Behandlung
Wie schon aus den beiden vorangegangen Abschnitten ersichtlich wird, bietet die therapeutische Arbeit eine ständige Quelle für die Befunderhebung und Bewertung. jDer fortlaufende Prozess von Befundung und Behandlung nach Coombes > Beachte Der F.O.T.T.-Bereich Mundhygiene bietet einen Behandlungsansatz zur Problemanalyse und Erstellung eines Therapieplans, um möglichst 7 physiologische Bewegungsmuster zu erarbeiten.
Zur Befundung und Behandlung der Probleme bei der Mundhygiene, die aus gestörter sensomotorischer Kontrolle und/oder eingeschränkter Handlungsplanung bzw.
121 6.3 · Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten resultieren können, nutzen wir die Prinzipien der F.O.T.T.®: Wir filtern im Rahmen der klinischen Untersuchung die Hauptprobleme des Patienten in Bezug auf seine Haltungskontrolle und seine Fähigkeiten im fazio-oralen Trakt heraus und registrieren gleichzeitig die Reaktion des Patienten auf unsere Interventionen. 4 Was hilft dem Patienten zu möglichst normaler Bewegung? 4 Was kann der Patient alleine und wie ist die Qualität der Bewegung? 4 Was hindert den Patient daran, sich normal zu bewegen?
auf den Patienten abgestimmte Therapie zulässt und auf die Bedürfnisse des Patienten eingeht. Das folgende Beispiel soll dies erläutern. jWechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF . Abb. 6.7 zeigt eine graphische Darstellung des Modells.
Betrachtet wird die Aktivität Mundpflege und die Probleme des Patienten in allen Ebenen der 7 ICF (Körperfunktion/-struktur, Aktivität und Teilhabe sowie Kontextfaktoren). Auf dieser Basis ergeben sich konkrete Gedanken zum weiteren Behandlungsplan. Beispiel
Anschließend wird für die nächsten Behandlungsziele ein Behandlungsplan erstellt. Dieser wird in Absprache mit dem interdisziplinären Team, bestehend aus Arzt, Pflegenden, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten und Sprachtherapeuten etc. umgesetzt (7 Patientenbeispiel Herr K.). > Beachte Problemanalyse und Therapie gehen ineinander über.
Der Prozess der Problemanalyse und Behandlung impliziert ebenfalls die Evaluation der erreichten Ergebnisse in der Therapie (. Abb. 6.6): 4 Ist das Ziel, z.B. das Erlernen einer hilfreichen Putzmethode, erreicht? 4 Welches Ziel kann als Nächstes gesetzt werden? 4 Wie wird es erreicht? > Beachte Das Schema zur Evaluation und Behandlung hilft, das Problem des Patienten zu erkennen und realistische, konkrete und funktionelle Ziele zu planen und zu verfolgen. Es verlangt vom Therapeuten und Pflegenden, immer wieder die Bewegungen und das Verhalten der Patienten zu analysieren. Erst die genaue Kenntnis von normalen Bewegungen und Abläufen und die Beobachtung der Abweichungen ermöglicht es, Hypothesen aufzustellen, zu verwerfen oder zu bestätigen.
6.3.2
International Classification of Functioning, Disability and Health
Als konzeptioneller Behandlungsansatz ist die F.O.T.T. offen für neue Forschungsergebnisse und andere Standards der Befunderhebung und Problemanalyse. Das bio-psychosoziale Modell der International Classification of Functioning, Disability and Health (7 ICF 2001) bietet eine strukturierte Möglichkeit, gesundheitliche Störungen auf verschiedenen Ebenen zu befunden und auf dieser Basis einen Behandlungsplan zu erstellen, der eine individuell
Herr F. hat eine Gesundheitsstörung oder Krankheit, in diesem Fall einen rechtshirnigen Insult. Er ist 45 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder. Er ist Versicherungsvertreter und seit 2 Monaten in einer Rehabilitationsklinik. Das Rehabilitationsziel ist die Wiedereingliederung in seinen Beruf, in einer Außenstelle der Versicherung. Herr F. kann sich selbst im Rollstuhl fortbewegen, in der Therapie geht er bereits kürzere Strecken, auf der Station in Begleitung durch eine Hilfsperson.
jDie Körperfunktions- und Körperstrukturebene
Zunächst betrachten wir die Körperfunktions- und -strukturebene. Unter Körperfunktionen versteht man physiologische Funktionen von Systemen (einschließlich psychologischer Funktionen). Körperstrukturen sind anatomische Teile des Körpers, wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile. Wenn eine Körperfunktion- oder Struktur eine wesentliche Abweichung oder einen Verlust aufweist, spricht man von einer Schädigung. Es handelt sich hier jeweils um eine Auswahl von für die Aktivität Mundpflege relevanten Problemen, welche die Anwendung der 7 ICF veranschaulichen sollen. Beispiel Herr F. hat auf Köperfunktionsebene u.a. folgende Schädigungen: 4 eingeschränkte Handlungsplanung, 4 Gedächtnisprobleme, 4 Arm und Hand der linken Seite sind plegisch, 4 deutlich eingeschränkte Sensibilität in der linken Mundhöhle und linken Gesichtsseite, 4 eingeschränkter Mundschluss links. Auf Körperstrukturebene hat Herr F. keine Einschränkungen, die für unsere Beispiele relevant wären.
jDie Aktivitätsebene
Sie bezeichnet die Durchführung einer Aufgabe oder Handlung (Aktion) durch einen Menschen. Beeinträchti-
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Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
a
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d . Abb. 6.6 a-e. a Evaluationsprozess in der Mundhygiene. b Die seitlichen Schneide- und Eckzähne des Patienten wurden beim selbstständigen Putzen vernachlässigt. Es finden sich folglich dessen Plaques und gerötete Zahnsäume. Der Patient wendet horizontale Scheuerzüge an (Plagmann 1998). c Die Anleitung im Umgang mit der Zahnbürste erfolgt durch die Therapeutin, die dem Patienten die Putztechnik vermittelt. Die Hand der Therapeutin unterstützt die Kopfstellung mit dem »langen Nacken« . Die Holzstufe unter dem linken Fuß erleichtert die Hüftkontrolle auf dem rechten Standbein. Gleichzeitig wird die ventrale untere Rumpfmuskulatur aktiviert. d Die Stehhilfe erleichtert Herrn W. seinen Rumpf zu stabilisieren. Die eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten von Hand- und Fingern können durch das Verwenden einer elektrischen Zahnbürste kompensiert werden. Eine effiziente und komplette Reinigung der Zähne ist somit selbstständig möglich. e Nach Anleitung des Patienten im Putzen mit der elektrischen Zahnbürste wurden große Teile der Plaques entfernt
123 6.3 · Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
Herr K., 21 Jahre, Z.n. Schädelhirntrauma und Hypoxie Problemanalyse beim Zähneputzen Herr K. hat keine Kopf- und Rumpfkontrolle. Im Sitzen weisen seine Arme Flexionsmuster, die Beine Extensionsmuster auf. Bei Berührung der Hände, des Gesichts und Mundes zuckt er zusammen und stöhnt. Dabei beißt er seine Zähne fest zusammen. Er kann die Zahnbürste nicht selbst halten und zum Mund führen. Bei Annäherung der Zahnbürste an die Lippen erfolgt keine Öffnung des Mundes. Die Reinigung der Kauflächen und Zahninnenseiten ist nicht möglich, dabei wäre es mindestens 3-mal täglich nötig, denn in der Mundhöhle befinden sich häufig Speichelreste und Sekret, die Herr K. weder ausspucken noch schlucken kann. Die Mundhygiene inklusive Vorbereitung durch Lagerung, Mundstimulation und Putzen der Außenflächen dauert ca. 60 Minuten, da Herr K. mit starker Tonuserhöhung auf Berührung und Bewegung reagiert und Lagewechsel sehr langsam durchgeführt werden müssen.
Ziele setzen Funktionelle Ziele sind: 4 Der Patient toleriert Berührung ohne extremen Anstieg der Gesamtkörperspannung. 4 Der Patient kann zumindest mit Hilfe einige Putzbewegungen an den Außenseiten der Zähne ausführen.
Prävention/Prophylaxe 4 Durch Putzen aller Flächen der Zähne innerhalb einer Therapiestunde soll einer Aspirationspneumonie durch 7 kontaminierten, aspirierten Speichel vorgebeugt werden. 4 Entzündungen des Zahnfleisches und 7 Karies vermeiden. 4 Minimieren der Beißreaktionen, um Schäden an den Zähnen zu vermeiden. 7 Kontrakturprophylaxe durch Einbeziehen der Hände.
Behandlungsplan (für eine Therapiestunde) festlegen Die Mundhygiene erfolgt 2-mal täglich durch die Pflegenden, einmal in Therapie
(Ergo- oder Physiotherapie), bei Bedarf häufiger. Die Mutter des Patienten ist angeleitet worden, die Mundstimulation durchzuführen. Wenn sie Herrn K. besucht, führt sie diese mit einer um den Finger gewickelten Kompresse durch, um Speichelreste zu entfernen. 4 Den Patienten positionieren in stabiler Umwelt, z.B. Wand, Nische, Tisch, Stuhl einbeziehen. 4 Hand-Mund-Bezug und HandAugen-Koordination erarbeiten. 4 Abbau von Überreaktionen im Gesicht und Mund und normale Reagibilität erarbeiten. 4 Alle Flächen der Zähne reinigen, einen gepolsterten Spatel einsetzen. 4 Schluckfrequenz von Speichel während der Mundhygiene steigern.
Behandlung beginnen (Behandlungsablauf) 4 Der Patient wird mit festem Lagerungsmaterial in Seitenlage gelagert. Nacken und Kopf werden stabil unterstützt, um eine neutrale Position des Kopfes zu erreichen. 4 Hände des Patienten in sein Gesicht führen, um die Berührung mit einem konkreten Ziel zu verbinden: Das Gesicht wird mit einem feuchten Waschlappen gewaschen und anschließend abgetrocknet (HandMund-Koordination, Hand-AugenKoordination). Diffuse Wischbewegungen werden dabei vermieden. Anschließend berührt die Therapeutin mit eindeutigem Druck und ohne zu streichen mit ihren Händen das Gesicht des Patienten. 4 Bei der anschließenden Mundstimulation hilft sie dem Patienten, seinen Mund mit einem Tuch abzutupfen, wenn Speichel herausfließt. Pumpende Kiefer- und Zungenbewegungen des Patienten, die darauf hindeuten, dass er zu schlucken versucht, unterstützt sie durch Stabilisieren des Unterkiefers und taktiler Schluckhilfe am Mundboden, um ein komplettes Schlucken zu erleichtern. 4 Vor der Mundhygiene gibt sie dem Patienten die Zahnbürste in die Hand, führt diese zum Mund und begleitet seine Hand während einiger Putzbewegungen. Um auftretenden
Überempfindlichkeitsreaktionen vorzubeugen, wird sie klaren Input geben und den Kopf mittels Kieferkontrollgriff unterstützen. 4 Nach dem Putzen jedes Quadranten der Mundhöhle erhält der Patient die Möglichkeit, den Mund zu schließen und wieder zu schlucken. Zur Reinigung der Kauflächen und Innenseiten der Zähne wird ein mit Gaze gepolsterter Spatel verwendet, der jeweils auf einer Seite flächig zwischen die 7 Molare platziert wird, um den dann geöffneten Kiefer zu stabilisieren. Mit einer Kinderzahnbürste ist es nun möglich, die Kauflächen rechts und links, oben und unten zu putzen. Nach dem Putzen jeder Kaufläche wird der Spatel entfernt, damit der Patient den Mund schließen kann.
Reaktionen evaluieren 4 Die Reaktionen des Patienten werden an kurzfristigen Veränderungen deutlich: Zunächst baut der Patient viel Tonus auf und die Atemfrequenz steigt, als der Waschlappen über seine Hand gestreift wird. Bei Berührung der linken Wange ist die Gesamtkörperspannung noch recht hoch. Als der Waschlappen zur rechten Wange kommt, dreht Herr K. leicht den Kopf zu diesem hin. Kopfund Handbewegungen sind für einen kurzen Moment koordiniert. Der Tonus lässt nach, die Atmung wird wieder ruhiger. Die Augen öffnen sich. Für einen kurzen Moment lässt sich Blickkontakt herstellen. 4 Pumpende Kiefer- und Zungenbewegungen lassen sich leicht unterbrechen und ein anschließendes Schlucken 7 fazilitieren. 4 Die Öffnung des Kiefers ist grundsätzlich möglich. Allerdings steigt der Gesamtkörpertonus beim Einführen des Spatels. Das hat u.a. eine eingeschränkte Beweglichkeit im 7 temporo-mandibularen Gelenk zur Folge und erschwert die weitere Öffnung des Kiefers. Die Halswirbelsäulenextension geht mit Kieferretraktion einher (Hochschild 1998). An diesem Problem muss noch weiter gearbeitet werden. Die Analyse beginnt erneut.
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Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
6 . Abb. 6.7. Das bio-psycho-soziale Modell der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF 2001)
gungen der Aktivität sind Schwierigkeiten, die ein Mensch bei der Durchführung einer Aktivität haben kann. In der vorläufig neuen Fassung der 7 ICF (Mai 2002) sind die Komponenten der Aktivitäten und Teilhaben in einer einzigen Liste zum Zwecke der Kodierung enthalten. In unserem Beispiel beziehen wir uns auf das Schema in . Abb. 6.7. Auf 7 Aktivitätsebene finden sich u.a. folgende Probleme, verursacht durch die Probleme auf Körperfunktionsebene: 4 Schwierigkeiten beim Planen/Problemlösen einer Aktivität: Vorbereitung der Utensilien zum Zähneputzen, nachdem er ein Teilziel erreicht hat, z.B. Utensilien aus dem Spiegelschrank zu holen, hört er auf zu agieren, weil er nicht weiter weiß. 4 Herr F. vergisst die Zähne nach dem Essen oder im Rahmen der Körperhygiene zu putzen, wenn man ihn nicht daran erinnert. 4 Die Hand-Handkoordination ist eingeschränkt. So ist das Aufschrauben der Zahnpastatube eingeschränkt aufgrund der fehlenden Funktion in der linken Hand. 4 Herr F. putzt die linke Seite der Mundhöhle nicht, da er sie nicht spürt. 4 Er kann seinen Mund nicht effektiv ausspülen, da das Wasser aus dem betroffenen Mundwinkel herausrinnt.
ping und bei auftretenden Problemen (z.B. die Zahnpastatube ist leer oder eine neue Zahnbürste muss besorgt werden), angemessen zu reagieren und das Problem zu lösen. Teilhabe beinhaltet auch andere Arten der Mundhygiene, z.B. das Benutzen von Zahnpflegekaugummi vor dem Kontakt mit Kunden etc. In unserem Beispiel hat Herr F. folgende Probleme auf Ebene der 7 Partizipation, bedingt durch die Probleme auf 7 Aktivitätsebene: 4 Herr F. hat aufgrund mangelnder Mundhygiene Mundgeruch und nach dem Essen häufig Speisereste zwischen den Zähnen oder in der Wangentasche, die ihm beim Sprechen aus dem betroffenen Mundwinkel herausfallen oder dort hängen bleiben, da er sie nicht spürt. 4 Herr F. hat momentan aufgrund seiner Planungs-, Gedächtnis- und Sensibilitätsprobleme keine Strategien zur Verfügung, die das Problem beheben könnten. 4 Er kann nicht um Hilfe bitten, weil ihm das Problem nicht bewusst ist. Somit ist Mundhygiene für Herrn F. momentan nur auf 7 Aktivitätsebene, nicht auf 7 Partizipationsebene möglich. Anmerkung: Herr F. wäre auf 7 Partizipationsebene, wenn er z.B. um Hilfe bitten könnte oder zumindest die Speisereste spüren und mit dem Finger entfernen könnte. jDie Kontextfaktoren Mit der Aktivität Mundpflege sind außerdem die Kon-
textfaktoren zu betrachten, die den gesamten Lebenshintergrund des Menschen darstellen. Sie umfassen zwei Komponenten: 4 Umweltfaktoren und 4 personenbezogene Faktoren. kUmweltfaktoren
Die Umweltfaktoren teilt man wiederum in zwei Ebenen ein: 4 Ebene des Individuums und 4 Ebene der Gesellschaft. Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, in der Menschen leben und ihr Leben gestalten.
jDie Partizipationsebene
Die Ebene der 7 Partizipation/Teilhabe umfasst das Einbezogensein in eine Lebenssituation. Sie bedeutet auch, dass ein Mensch bei auftretenden Problemen Strategien findet, um die Aufgabe zu lösen. Auf Mundpflege bezogen kann das bedeuten, dass der Mensch in der Lage wäre, die Zähne in jedem anderen Badezimmer als zu Hause zu putzen bzw. zu anderen Gelegenheiten, beispielsweise beim Cam-
kPersonenbezogene Faktoren Auf Ebene des Individuums lassen sich bei Herrn F. fol-
gende Faktoren vermerken.
125 6.3 · Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
Vorgehen bei der therapeutischen Mundhygiene
Beispiel
6.3.3
Herr F. ist momentan in der Rehaklinik, jedes zweite Wochenende verbringt er zu Hause. Er hat bereits früher viel Wert auf eine gute Mundhygiene gelegt, war regelmäßig beim Zahnarzt und hat häufig, bevor er seine Kunden besucht hat, die Zähne nochmals geputzt oder Zahnpflegekaugummis verwendet.
» Lernen läuft aufgabenorientiert ab. Dazu sind Bewegen und Fühlen notwendig. « (Davies 1995)
Auf der Ebene der Gesellschaft ist zu beachten, dass in unserer Kultur ein ungepflegter, schlecht riechender Mund als Zeichen mangelnder Hygiene gewertet wird und sozial nicht akzeptiert wird. jBehandlungsplan
Auf der Basis dieser sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren wird der Behandlungsplan erstellt, der sich auf alle Ebenen der 7 ICF erstreckt. Auf Körperfunktionsebene: 4 Handlungsplanung und Verbesserung von Gedächtnisleistungen durch das Führen bei problemlösenden Aktivitäten erarbeiten 4 Mundstimulation zur Sensibilisierung der Mundhöhle durchführen 4 Gesichtsbewegungen 7 fazilitieren 4 Zungenbewegungen und Lippenschluss 7 fazilitieren 4 In Rumpf und linkem Arm nach Bobath Aktivität anbahnen, mobilisieren und fazilitieren. Auf Aktivitätsebene: 4 Führen beim Zähneputzen, inkl. Vor- und Nachbereitung 4 Linken Arm als Haltehand während des Auf- und Zuschraubens der Zahnpastatube einsetzen 4 Führen der Putzbewegungen mit der Zahnbürste in der rechten Hand, auch in die linke Seite der Mundhöhle. Auf Partizipationsebene: 4 Mundpflege als festen Bestandteil der Essensbegleitung und Körperhygiene in die Tagesstruktur integrieren, d.h., alle Teammitglieder, die mit dem Patienten arbeiten, führen mit ihm zusammen die Mundpflege durch 4 Ehefrau für die Gewährleistung der Mundpflege zu Hause anleiten. Zu den ausführlichen Definitionen vgl. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Entwurf der deutschsprachigen Fassung, Juli 2002.
Die Befunderhebung und Prozessevaluation bestimmen das Vorgehen. Die therapeutisch durchgeführte Mundhygiene ist Therapie! Während der sorgfältigen Vorbereitung und der anschließenden Reinigung der Mundhöhle werden therapeutische Hilfestellungen gegeben, Bewegungen 7 fazilitiert und unerwünschte Reaktionen gehemmt. Die Reinigung der Zähne erfolgt strukturiert und bietet dem Patienten immer wieder die Möglichkeit, seine oralen Strukturen zu spüren und im Alltagskontext zu gebrauchen. > Beachte Erst wenn wir uns im Rahmen von Befund und Behandlung darüber klar werden, welche Hilfe der Patient braucht, können wir ihn gezielt unterstützen und seinen Alltag so gestalten, dass er mit unserer Hilfe wieder lernt, Probleme des Alltags zu lösen.
jVorbereitung
Je schwerer der Patient in seinem Situationsverständnis beeinträchtigt ist oder auch durch sensomotorische Defizite der Hand-Mund-Koordination gestört ist, um so wesentlicher ist die Vorbereitung auf die Mundhygiene. Bei eingeschränktem Situationsverständnis bietet die Durchführung der Mundhygiene einen Einstieg in die Behandlung von Gesicht und Mund. Die Situation ist so zu gestalten, dass der Patient verstehen kann, »dass es jetzt um das Zähneputzen geht«. Die Prinzipien und Erfahrungen des Affolter- Konzepts lassen sich mit dem Behandlungsansatz der F.O.T.T. gut verbinden, d.h., dass der Patient in die Vorbereitung der Mundhygiene miteinbezogen und dabei geführt wird (. Abb. 6.8).
» Wir können nicht die Augen des Patienten nehmen, sie bewegen und sicher sein, dass der Patient sieht, noch können wir seine Ohren bewegen und wissen, dass er hört. Aber wenn wir seine Hände und seinen Körper führen und in Kontakt mit Oberflächen und Gegenständen bringen, dann ist einiges an taktilem Input und Interaktion gesichert. (Affolter 2001)
«
i Praxistipp Die Alltagsaktivität Mundhygiene wird bewusst so gestaltet, dass der Patient durch das Vermitteln von gespürter Information zu verbessertem Situationsverständnis kommen kann.
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126
Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
Bei Patienten mit Beeinträchtigungen des Situationsverständnisses muss deshalb besonders der Umweltgestaltung Rechnung getragen werden. i Praxistipp
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a
Eine individuell auf den Patienten abgestimmte Vorbereitung beginnt bereits extraoral und bedeutet für den Patienten eine »Einstimmung« auf die sich anschließende intraorale Berührung und Mundhygiene. Das Putzen der Zähne am Waschbecken und die eindeutige Gestaltung der Situation erleichtern dem Patienten den Einstieg in diese alltägliche Routine. Oftmals bieten die vertrauten und eindeutigen Situationen eine Möglichkeit für erste funktionelle Bewegungen.
Beispiel Der Gebrauch vertrauter Mundhygieneartikel ist eine Möglichkeit zur Verbesserung der vielfältigen koordinativen Leistungen von Augen, Händen und des Mundes. Durch das Miteinander-Öffnen der Zahnpastatube und Aufbringen der Paste auf die Zahnbürste werden oftmals erste aktive kleine Handlungssequenzen vom Patienten übernommen. Fehlt in anderen Situationen, wie z.B. passiv im Bett liegend oder sitzend, das Öffnen des Mundes bei der Mundhygiene gänzlich, so kann es dem Patienten vielleicht erst am Waschbecken und mit der gemeinsam bewegten Zahnbürste möglich sein, den Mund zu öffnen. b
Bei der Vorbereitung und Aktivierung des Patienten helfen viele Aspekte, die Situation Mundhygiene eindeutig zu erkennen. So könnte z.B. nach dem Berühren der Hände, der Zahnputzbecher vom Patienten umfasst und mit der Therapeutin/Pflegenden gehalten werden. Das Hantieren mit den notwendigen Gegenständen und das Integrieren der stärker betroffenen Körperhälfte ermöglicht es darüber hinaus, gezielt geführte Bewegungen mit taktilem Input zu vermitteln. Eine intensive stufenweise Vorbereitung benötigt auch der hyperreagible Patient, der bei Berührung mit deutlichen Zeichen reagiert, wie Wegdrehen des Gesichts und 7 Tonusanstieg am ganzen Körper. Dann kann sich die Mundstimulation anschließen. Sie ist hierbei die intraorale Vorbereitung auf die Mundhygiene. jDie Mundstimulation
c . Abb. 6.8 a-c. Der Patient wird in die Vorbereitung der Mundpflege miteinbezogen. a Öffnen des Wasserhahns zum Füllen des Zahnputzbechers. b Der Patient versteht die Situation und öffnet aktiv den Mund, damit die Zahnbürste eingeführt werden kann. Mit dem Kieferkontrollgriff wird ihm sowohl das Halten des Kopfes als auch die Mundöffnung erleichtert. c Das Abtupfen des Mundes mit dem Handtuch wird geführt
> Beachte Das Gesicht und besonders der Mund gehören zu den intimen Körperregionen des Menschen. Um so größer ist die Verantwortung bei der Durchführung bei Patienten, die auf unsere Hilfe angewiesen sind.
Um sich dem Mund gezielt und nicht überfallartig zu nähern, werden zuerst die Hände und das Gesicht durch
127 6.3 · Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
. Abb. 6.9. Gedankliche Einteilung des Mundes in Quadranten
eine ruhige, langsame und strukturierte Eigenberührung (die Hände des Patienten werden dabei geführt) oder durch die Fremdberührung (durch die Hände des Therapeuten/ Pflegenden) berührt. Mit einem »taktilen Hallo« wird auf die kommenden Berührungen im Mund vorbereitet. Gedanklich wird die Mundhöhle in Abschnitte (Quadranten) aufgeteilt (. Abb. 6.9) und auf einer Mundseite begonnen. Die Berührungen werden gezielt und mit eindeutigem, nicht zu festem Druck durchgeführt. i Praxistipp 4 Die Fingerbeere des kleinen Fingers des Therapeuten wird am oberen Zahnfleisch von vorne nach hinten und zurück (i.d.R. 3-mal) entlang geführt und dehnt danach einmal die Innenseite der Wange. Der Mund wird geschlossen und die Reaktionen des Patienten abgewartet. 4 Diese Prozedur wird auf derselben Seite unten am Zahnfleisch durchgeführt und dann auf der anderen Mundseite (oben, unten). 4 Kann eine Beißreaktion ausgeschlossen werden, wird im nächsten Schritt die Zunge im vorderen Zungendrittel in drei kleinen Schritten von 7 ventral nach dorsal berührt (von der Zungenspitze zur Zungenmitte) und anschließend der Mund geschlossen. 4 Der harte Gaumen wird einmal hinter den oberen Schneidezähnen berührt und der Mund wieder geschlossen. 4 Bei jedem Mundschluss abwarten, ob Zungenbewegungen etc. erfolgen und ob ein Schlucken fazilitiert werden kann. 4 Während der Mundstimulation wird der 7 Haltungshintergrund ständig kontrolliert und ggf. korrigiert, um das Schlucken zu erleichtern. 4 Es erhöht die Aufmerksamkeit, wenn der Finger des Patienten zur Stimulation benutzt und geführt wird. Aber Vorsicht: Phasisches Beißen unterliegt nicht der Eigenkontrolle des Patienten!
Das Vorgehen, die Anzahl und Art der Berührungen wird der individuellen Problematik und den Reaktionen des Patienten angepasst. So kann eine einmalige deutliche Berührung ohne Bewegung oder das Einbeziehen der Hände des Patienten sinnvoll sein. Die Wiederholungen der Reize können bereits zur 7 Tonusregulation der Wangeninnenseite führen und zu einer normalen Reagibilität führen. Der Transport von Speichel wird aktiviert und die Speichelproduktion angeregt. Durch das Berühren und Bewegen werden die Strukturen stimuliert und wahrgenommen und damit ein reaktives Schlucken ausgelöst. Gegebenenfalls helfen weitere taktile Hilfen (z.B. stabilisierender Kieferkontrollgriff am Mundboden, Zungengrund), den Schluckvorgang zu komplettieren. Mit der gleichzeitig massierenden Stimulation wird das Zahnfleisch besser durchblutet. Dies ist besonders wichtig bei Patienten mit oraler Nahrungskarenz, da hier die natürlichen taktilen Inputs durch die mechanischen Reibungen der festeren Nahrung fehlen und damit auch durchblutungsfördernde Bewegungen beim Reinigen mit der Zunge. In . Übersicht 6.2 werden die wichtigsten Apekte der Mundstimulation zusammengefasst. . Übersicht 6.2. Die Mundstimulation nach Coombes 4 Dient der Vorbereitung der Arbeit im Mund und der Mundhygiene bei hyper- und hyporeagiblen Patienten. 4 Verhilft durch ihr langsames, strukturiertes Vorgehen mit gezielten Berührungen und Bewegungen der oralen Strukturen den 7 Tonus zu regulieren; verbessert die Durchblutung des Zahnfleischs. 4 Verbessert das Wahrnehmen der oralen Strukturen und löst in der Folge oft eine motorische Antwort der Zunge bzw. ein Schlucken aus. Das Schlucken von Speichel kann den Wachheitsgrad und damit den Gesamttonus des Patienten verändern. 4 Erhöht den Wachheitsgrad der Patienten und wird daher auch bei komatösen Patienten eingesetzt. 4 Verhilft zu verbesserter neuronaler Impulsweitergabe bei zusätzlich spezifischer Mobilisation des N. trigeminus als Variation der Mundstimulation (7 Kap. 7).
Die Mundstimulation eignet sich gut als Einstieg in die Therapiesituation Mundhygiene. So strukturiert vorbereitet, wird das Einführen der weichen Kinderzahnbürste oder des mit einer Kompresse umwickelten Fingers erleichtert. Selbständige Patienten können danach oft ihre hyporeagible Seite besser spüren und die betroffene Seite
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Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
der Mundhöhle daher besser putzen bzw. die Seite ohne externe Hilfestellungen integrieren. > Beachte Vorbereitung in der Mundhygiene bedeutet: 4 Umweltgestaltung im Alltagskontext zur Förderung von Situationsverständnis, 4 Extraoraler Abbau von Hyperreagibilität und Sensibilisierung (»taktiles Hallo«), 4 Intraoralen Abbau von Hypereagibilität und Sensibilisierung durch die Mundstimulation, 4 7 Tonusregulation.
Fehlender Input durch das tägliche Essen und Trinken macht eine Mundhygiene als Ersatz-Input und die Mundstimulation für alle oralen Strukturen zunehmend bedeutungsvoller, je länger die Nahrungskarenz anhält. Dies gilt in besonderem Maße für Patienten mit geblockter 7 Trachealkanüle. Eine geblockte Trachealkanüle impliziert nach unserem Verständnis i.d.R. eine totale Nahrungskarenz (7 Kap. 10.3.1). Während des Kanülenmanagements bedarf es immer wieder des Entblockens der Kanüle, u.a. um physiologische Bewegungen der Atmung und des Schluckens zu erreichen. ! Vorsicht
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jReinigung der Mundhöhle
Es gibt generelle Empfehlungen zur Putzweise der Zähne, wenn bereits ein erhöhtes Erkrankungsrisiko besteht (Plagmann 1998). Unter der Lupe Studien: Mundhygiene bei älteren Menschen Eine Studie mit Bewohnern einer geriatrischen Rehabilitationsklinik in Würzburg ergab, dass nur etwa die Hälfte der zu rehabilitierenden Senioren physisch und psychisch in der Lage waren, ohne Unterstützung optimale Mund- und Prothesenhygiene zu betreiben und Prophylaxeprogramme für die Patientengruppe der Alten und Behinderten notwendig sind (Stark et al. 1999). Studien bei älteren pflegebedürftigen Menschen weisen auf die Bedeutsamkeit oraler Hygiene bei nicht selbständigen Patienten hin (Clarke 1993, Holmes 1998, Lechner 1998).
Derzeit existieren noch keine Empfehlungen zur Mundhygiene bei neurologischen Patienten, die die Bandbreite der Probleme, z.B. orale Nahrungskarenz, kanülenbedingte Probleme etc., berücksichtigen. Die Reinigung der Mundhöhle bedeutet nicht nur die Entfernung von Essensresten, sondern oft auch die Beseitigung von Zungenbelag, Borken, Speichel- und Sekretansammlungen. i Praxistipp 4 Patienten mit fazio-oralen Problemen haben Schwierigkeiten beim Transport von Speichel und/ oder Nahrung. Sie spüren Residuen nicht und/oder können diese nicht entfernen. 4 Die Mundhygiene in der F.O.T.T. beschränkt sich nicht nur auf die Reinigung der Zähne, sondern auch auf weitere Strukturen der Mundhöhle (Gaumen, Zunge und Sulci etc). 4 Auch bei oraler Nahrungskarenz ist eine Reinigung der Mundhöhle von Speichel und Sekretresten notwendig, besonders dann, wenn keine selbstständige Mundhygiene betrieben werden kann (Dyment u. Casas 1999, Holmes 1998).
Vor der Entblockung einer Trachealkanüle muss als Vorbereitung jedes Mal eine sorgsame Mundhygiene erfolgen, damit das Risiko einer bronchopulmonalen Infektion durch Aspiration von alten Speichel- und Sekretresten mit 7 nosokomialen Keimen (u.a. Staphylokokken, 7 Candida albicans, Streptokokken) minimiert wird (Knöbber 1991).
kVeränderungen der Speichelfunktion und ihre Folgen
Der Speichel spielt für die Gesunderhaltung der oralen Strukturen eine wichtige Rolle und hat verschiedene wichtige Funktionen, die zur Prophylaxe von 7 kariesauslösenden 7 Plaqueansammlungen beitragen: 4 Durch seine Spülfunktion wird ein Anheften von Mikroorganismen (Bakterien) im Mund erschwert. 4 Der Speichel befeuchtet die Schleimhäute als Schutz vor dem Austrocknen. 4 Er ist Transportmittel für Nahrung und Mikroorganismen. Nur mit der Bewegung und der Berührung entlang der oralen Strukturen kann diese spülende Funktion stattfinden. 4 Er ist Säurepuffer und hat eine remineralisiernde Wirkung auf die Zahnhartsubstanzen. Besonders der dünnflüssige Speichel hat diese natürlichen Reparaturmechanismen. 4 Speichel ist bedeutsam für die Bakterienabwehr und zieht einen Schutzfilm über die Schleimhäute (Plagmann 1998, Roulet et al. 1999). > Beachte Zeigt ein Patient keine ausreichenden oralen Sammelund Transportbewegungen, kein Schlucken von Speichel und/oder keinen aktiven Mundschluss, dann ist die natürliche Reinigungs- und Schutzwirkung des Speichels eingeschränkt oder aufgehoben. Selten sind große Speichelmengen auf eine wirkliche Überproduktion von Speichel (7 Hypersalivation) zurückzuführen. Ursachen sind meist 6
129 6.3 · Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
4 eine zu niedrige Schluckfrequenz und/oder 4 ein verändertes, abnormales Schluckmuster, bei dem die Zunge nach vorne stößt und Speichel aus dem Mund geschoben wird.
Die prädisponierenden Faktoren wie Mundatmung, offen stehender Mund und mangelnder Speichelfluss (Roulet et al. 1999) führen in der Folge zu Zahnfleischentzündung (7 Gingivitis) besonders im Frontzahnbereich. Dort findet keine Benetzung zur lokalen Abwehr statt, kein Lippenschluss zur Verringerung der mechanischen Reinigungswirkung. Wenn der Speichel zu mukös wird, verringern sich diese natürlichen Schutzmechanismen. Geringe Speichelproduktion ist z.B. auch bei Verabreichung von Psychopharmaka, Antibiotika oder nach Bestrahlung zu beobachten. Trockene Schleimhäute bei erheblicher Dehydrierung oder bei Fieber führen zur Veränderung der gesunden Mundflora. Weitere prädisponierende Faktoren sind Mangel- und Fehlernährung durch einseitige Nahrungszusammensetzungen und Konsistenzen (Plagmann 1998). Durch den Verzehr ausschließlich breiiger Nahrung ohne feste Konsistenzen, welche bekanntlich zur mechanischen Reinigung der Kauflächen beitragen, wird die 7 Plaquebildung begünstigt. Durch Zahnstein (verkalkte Plaque), auf dessen rauer Oberfläche sich frischer Plaque ablagert, wird der 7 Kariesprozess unterhalten (Roulet et al. 1999). kZungenbelag und Mundgeruch
Neben dem harmlosen Belag, der in der Regel am Morgen stärker auf der Zunge haftet als abends, ist dem Zungenbelag mehr Aufmerksamkeit zu widmen, der bei wenig Bewegungen der Zunge, durch einen offen stehenden Mund oder durch Nahrungskarenz entsteht. Dieser meist grau-weiße Belag stellt einen Nährboden für Pilze und Bakterien dar und sollte in diesem Stadium regelmäßig abgetragen werden (. Abb. 6.10).
Eine Pilzinfektion ist häufig durch eine örtlich begrenzte Schwächung der Hautbarriere, z.B. durch Austrocknung der Schleimhaut zu beobachten. Zu diesen Pilzbelägen gehört auch der Soor mit dem weißlichen, schwer zu entfernenden Belag. Er kann die gesamte Mundhöhle befallen und gehört zur Gruppe der Hefepilze (Plagmann 1998; Roulet et al. 1999). So können Entzündungen der Mundschleimhaut entstehen und dadurch bedingt Pneumonien durch Aspiration (u.a. auch 7 Candidapneumonie) hervorgerufen werden (Knöbber 1991, Langmore et al. 1998, Meyer et al. 1999). i Praxistipp Ein mehrdimensionaler Lösungsansatz gegen Zahnbelag ist erfolgversprechend: 4 Regelmäßiges mechanisches Abtragen der Beläge, 4 Bewegungen der Zunge und Befeuchtung der Schleimhäute, 4 der Einsatz medizinischer Mundwasser und Kräutertees bei der Mundhygiene, 4 eine eingehende Ursachenforschung und ggf. ergänzende medizinische Maßnahmen.
Auch das therapeutische Kauen in Gaze (7 Kap. 5.5.2), falls es bereits eingesetzt werden kann, fazilitiert den notwendigen mechanischen Abrieb und stimuliert die natürliche Befeuchtung der Schleimhäute durch Zungen- und Kieferbewegungen. ! Vorsicht Beim Abtragen vom Zungenbelag kann es zum Auslösen einer Würgreaktion kommen!
Mundgeruch hat verschiedene Ursachen, wie z.B. eine
mangelhafte Mundhygiene, Entzündungen der oralen und pharyngealen Strukturen. Bei Erkrankungen des Verdauungstrakts und auch bei enteraler Ernährung sind spezifische Gerüche wahrzunehmen (Meyer et al. 1999). Gastroösophagealen 7 Reflux kann man am stark säuerlichen Geruch erkennen. Patienten mit eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit bedürfen diesbezüglich der sorgsamen Beobachtung. In jedem Fall muss die Ursache für den schlechten Atem diagnostiziert werden und darf nicht einfach mit einem Mundwasser übertüncht werden (Roulet et al. 1999). kMedizinische Mundwasser und Heilkräutertees
. Abb. 6.10. Nach therapeutischer Kieferöffnung kommt wochenlang wuchernder Zungenbelag zum Vorschein
In nationalen und internationalen Publikationen zum Thema der Prävention und Behandlung von Entzündungen werden verschiedene Mittel unterschieden: 4 Schleimhaut schützende Mittel (z.B. Kamille und steriles Wasser), 4 Zellschutzmittel (z.B. Vitamin E, A und pflanzliche Inhaltstoffe, wie Ringelblume, Arnika, Früchtetee),
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Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
4 Mittel mit antiseptischer/antibakterieller (Chlorhexidin, Fluoride, Johanniskraut, Nelkenöl), 4 mit antifungaler und 4 mit antiviraler Wirkung (z.B. schwarzer Tee) (Gottschalk u. Dassen 2002).
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Zur symptomatischen Behandlung bei kleineren Entzündungen der Mundschleimhaut, wie z.B. Aphten und Rhagaden sind Salbeitee, Kamillentee und Thymiantee geeignet – lokal als Tinktur oder als Spülung (bei Patienten, die den Mund ausspülen können), wobei zu beachten ist, dass die Speichelproduktion durch Salbeitee reduziert werden kann. Bei eher trockenen Schleimhäuten wird die Speichelbildung durch Malvenblütetee angeregt und ermöglicht dadurch einen natürlichen Impuls im Heilungsprozess. Eine Reihe von Heilkräutertees, wie der Pfefferminz-, Anis- und Fencheltee verhelfen zu frischem Atem (Meyer et al. 1999). Gebrauchsfertige Mundspülpräparate haben einen nachgewiesenen entzündungshemmenden Effekt (Gottschalk u. Dassen 2002). Sie ersetzen aber keineswegs das Zähneputzen. Langzeitanwendungen sind wegen diverser Nebenwirkungen mit dem Zahnarzt zu klären. i Praxistipp Alle Heilkräutertees können je nach Indikation zur Mundstimulation und neben dem mechanischen Abtragen der 7 Plaque beim Zähneputzen benutzt werden.
jDie Putzmethode
In der Zahnmedizin werden bezüglich der Putzhäufigkeit und Putzdauer folgende Empfehlungen gegeben. 4 Die Putzdauer eines vollbezahnten Gebisses sollte 3– 5 Minuten betragen, pro Zahn werden dabei ca. 10–15 Putzbewegungen durchgeführt. 4 Die Zähne sollten 2- bis 3-mal täglich geputzt werden, idealer Weise morgens nach dem Frühstück, mittags und abends vor dem Schlafengehen (Schubert 1991). 4 Bei der Reinigung der Mundhöhle ist zu beachten, dass es eine Rangfolge hinsichtlich des Erkrankungsrisikos der zu putzenden Areale (der schwer zugänglichen Zahnflächen) gibt. In der F.O.T.T. wird die »Rot-Weiß-Methode« (Plagmann 1998; Roulet et al. 1999) als Basisputzmethode verwendet (. Abb. 6.11). Sie ermöglicht in Verbindung mit einer klaren Vorgehensweise und Bewegungsführung der Zahnbürste eine individuell angepasste Reinigung der Zähne. Dabei gilt es einige grundsätzliche Regeln zu beachten: 4 Eine gedankliche Einteilung der Mundhöhle in vier Quadranten (. Abb. 6.9) ermöglicht eine strukturierte
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Vorgehensweise und Beobachtung von Reaktionen auf die Reinigung. Begonnen wird in dem oberen Quadranten und je nach individueller Zielsetzung des Patienten auf der stärker betroffenen Seite – z.B. zum Abbau von Überreaktionen – oder weniger betroffenen Seite – z.B. zur Sensibilisierung (Coombes 1994). Danach folgt i.d.R. der untere Quadrant auf der gleichen Seite. Von »Rot nach Weiß« (. Abb. 6.11 b, c): Die Zahnbürste wird vom Zahnfleischsaum zum Zahn geführt und am nächsten Zahn wieder neu angesetzt. Damit soll verhindert werden, dass Speichel, Sekret oder Speisereste verteilt werden. Von »hinten nach vorne« (. Abb. 6.11 d, e): Die Bürste wird intraoral immer von dorsal (Backenzähne) nach 7 ventral (Schneidezähne) auf den Zahnflächen bewegt. Dadurch wird vermieden, Speise- oder Speichelreste beim Putzen zu verteilen. Speise- und Sekretreste sind auf dem direkten Weg heraus zu nehmen, dies ist besonders wichtig bei den Patienten, die nicht ausspülen können. Von »außen nach innen« (. Abb. 6.11 e, f): Die Außenseiten werden zuerst geputzt. Die Innenseiten werden nach den Kauflächen gereinigt. Nach jedem Quadranten wird eine Pause eingelegt, damit der Patient entweder seinen Speichel schlucken oder ausspucken kann und damit seine Toleranzgrenze für Berührung nicht überschritten wird. Die Zahnbürste wird nach jedem Putzgang ausgespült. Überschüssiges Wasser an der Bürste sollte an einem sauberen Tuch abgetupft werden, damit nicht zuviel Flüssigkeit in den Mund eingebracht wird. (Wichtig bei aspirationsgefährtden Patienten!)
. Übersicht 6.3 fasst die Regeln kurz zusammen.
. Übersicht 6.3. Grundsätzliche Regeln zur Zahnreinigung 4 Im oberen Quadranten und auf der stärker betroffenen Seite beginnen 4 Von »Rot nach Weiß« putzen 4 Von »hinten nach vorne« putzen 4 Von »außen nach innen« vorgehen 4 Nach jedem Quadranten eine Pause einlegen, Möglichkeit zum Schlucken
131 6.3 · Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
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. Abb. 6.11 a-k. Zahnreinigung. a Einführen der Bürste: Die Oberlippe wird leicht angehoben und abgehalten. Die glatte Seite des Bürstenkopfes zum Zahn gehalten und erst in der Wange zum Zahn gewendet. Damit wird eine diffuse Wischbewegung durch die Borsten in der Wangeninnenseite vermieden. b, c Oberer und unterer Quadrant: Die Außenseite wird geputzt – vom Zahnfleisch zum Zahn (»rot nach weiß«), vom Backenzahn zum Schneidezahn (von »hinten nach vorne«). d Oberer Quadrant: Die Kaufläche wird geputzt. Von
»hinten nach vorne«. e Unterer Quadrant: Die Kaufläche wird geputzt. Von »hinten nach vorne«. f, g Oberer und unterer Quadrant: Die Innenseite wird geputzt. »Von rot nach weiß – von hinten nach vorne«. h, i Oberer und unterer Quadrant: Die Innenseite vorne wird geputzt. Von »rot nach weiß«. j Die Borsten reinigen auch die Approximalräume (Zahnzwischenräume). k Zusätzliche Interdentalpflege mit einer Zahnseide in Halterung
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Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
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. Abb. 6.11 a-k (Fortsetzung)
133 6.3 · Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
i Praxistipp Bei vielen Patienten mit einer Hyperreagibilität wird als Einstieg das Putzen der Außenseiten der Zähne leichter toleriert als das Putzen der Kauflächen oder Innenseiten der Zähne. Dabei kann die Reaktion beim Berühren mit der Zahnbürste genau beobachtet werden. Beginnt eine Tonuszunahme mit 7 phasischem Beißen, kann ein vorsichtiges Putzen dennoch fortgesetzt werden, nach einer Pause mit z.B. einer Aufbisshilfe (7 Kap. 6.4.2). Professionelle Putzmethoden: 4 Die Rot-Weiß-Methode kann individuell durch andere Putzmethoden ergänzt und abgewandelt werden (7 dazu Bass-Methode, 7 Stillmann-Methode, Rotationsmethode (Plagmann 1998, Roulet et al. 1999). 4 Professionelle Putzmethoden verlangen aber sowohl vom Patienten als auch vom Helfer eine hohe Koordinationsleistung der Hand- und Fingerbewegungen. 4 Die verwendete Putzmethode ist in jedem Fall zu überprüfen, auch wenn der Patient bereits selbständig putzt, da es immer wieder zu »traumatisierendem, aggressiven Putzen bei falscher Putztechnik« (Plagmann 1998) kommt und Areale ausgespart bleiben (. Abb. 6.6 a–e).
jZahnprothesen und ihre Pflege Eine passgenaue Prothese stellt einen wesentlichen Teil
in der funktionellen Einheit von Zunge, Wange, Gaumen und Kiefer dar. Sie ist qualitätsbestimmend für die Artikulation und den oralen Transport von Speichel und Nahrung. Störungen im 7 Tonus der Gesichtsmuskeln, z.B. Gesichtslähmungen, beeinflussen die Stellung der Zähne im Zahnbogen und somit auch die Passgenauigkeit der Prothese (Rateitschak et al. 1998, Schubert 1991). Ein veränderter Wangen- und Lippentonus und eine reduzierte Zungenbeweglichkeit kann deren Sitz instabil machen. Ist der Patient durch akut- und intensivmedizinische Maßnahmen (z.B. Beatmung, Operation) längere Zeit ohne seine Prothese, kann es bereits in kürzester Zeit zu einer Veränderung des Zahnhalteapparates/Kieferkammes kommen. Atrophien (z.B. des Pars alveolaris des Unterkiefers) machen dann zusätzlich große Schwierigkeiten bei der Neuanpassung (Rauber u. Kopsch 1996). Mangelnde Passgenauigkeit der Totalprothese führt zur Atrophie des Kieferkammes und bedingt die Entwicklung von 7 Stomatitiden – dies erschwert die Mundhygiene zusätzlich.
i Praxistipp Durch eine mit Haftcreme stabilisierte, gut sitzende Prothese nimmt die Beißkraft und Kaufähigkeit zu und verbessert die Artikulation (Slaughter et al. 1999, Stark u. Welfers 1998). Eine passgerechte Prothese lässt Rötungen und selbst akute Ulzera schnell abheilen (Schubert 1991). Ein Haftmittel kann vorübergehend zum besseren Halt der Prothese empfohlen werden oder wenn alle Möglichkeiten der Anpassung ausgeschöpft sind (Slaughter et al. 1999, Stark u. Welfers 1998). Bei Patienten mit Mundtrockenheit empfiehlt sich eher die Verwendung von Haftcreme als Haftpulver.
! Vorsicht Das vorschnelle Benutzen von Haftmittel verdeckt unerwünschte Anpassungsfehler. Auch Haftcreme kann aspiriert werden. Reste der Haftcreme müssen entfernt werden!
Besonders beim ersten Wiedereinsetzen und Tragen kann die Mundschleimhaut empfindlicher reagieren. Nach jedem Tragen (auch bei oraler Nahrungskarenz) ist die Prothese zu reinigen, der Gaumen und Zahnkamm gründlich von eventuellen Resten des Haftmaterials zu befreien und auf Rötungen zu untersuchen. Sitzt die Prothese (auch mit Haftcreme) nicht mehr stabil, muss der Zahnarzt ggf. eine Unterfütterung vornehmen. i Praxistipp 4 Die Zahnprothese sollte sobald und so lange wie möglich am Tag getragen werden. 4 Die Prothese ist täglich und nach jeder Mahlzeit zu reinigen. Auch müssen der Gaumen und der Kieferkamm gebürstet werden, um Beläge abzutragen. 4 Reinigt der Patient seine Prothese bereits selbständig, muss die Reinigung mit Sorgfalt regelmäßig supervidiert werden. Visuseinschränkungen und feinmotorische Störungen sind oftmals Gründe für ein Hygienedefizit. 4 Die Prothese wird nachts in einem Extrabehälter mit Wasser oder antiseptischer Lösung aufbewahrt und morgens vor dem Einsetzen nochmals abgespült (Bundesärztekammer 2002, Lechner 1998). 4 Die Zahnprothese sollte mit einer speziellen Prothesenbürste gereinigt werden. 4 Die Mundstimulation wird ohne Prothese und anschließend mit Prothese durchgeführt.
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134
Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
6.4
Hilfsmittel für die Mundhygiene neurologischer Patienten
Der Einsatz von Hilfsmitteln bei der Mundhygiene wird den momentanen individuellen Bedürfnissen des Patienten angepasst. Nach Möglichkeit werden nur solche Gegenstände verwendet, die der Patient aus seinem Alltag kennt und die ihm vertraut sind. Es werden Hilfsmittel benutzt, die zum einen direkt auf die physiologischen Bewegungen der Mundhöhle einwirken und zum anderen indirekt auf die gesamtphysiologischen Bewegungen des 7 Haltungshintergrunds einwirken, um eine Mundhygiene für den Patienten und Helfer überhaupt zu ermöglichen.
6.4.1
Reguläre Hilfsmittel
Die reguläre Auswahl an Mundhygieneartikeln beschränkt sich auf 4 zwei Zahnputzbecher, 4 eine Kinderzahnbürste, 4 Kompressen, 4 Spatel aus Kunststoff, 4 Fingerlinge (oder Handschuhe) und 4 Zahnseide (. Abb. 6.12). Zur visuellen Untersuchung der Mundhöhle wird eine Lampe mit Spatelhalter bereitgehalten. Es werden zwei Zahnputzbecher benutzt. Ein Becher dient zum Säubern der Zahnbürste nach jedem Putzgang und der andere Becher zum Eintauchen der Zahnbürste in frisches Wasser oder ggf. zum Ausspülen des Mundes.
Das Benutzen einer Kinderzahnbürste hat viele Vorteile. Der schmale und kurze Bürstenkopf erweist sich bei Patienten mit reduzierter Kieferöffnung geeignet zum Putzen der Kauflächen und Innenseiten der Zähne. Die weichen, abgerundeten Borsten ermöglichen eine sanfte Säuberung und schonen empfindliches Zahnfleisch. Eine individuell angepasste Griffverdickung kann das Halten und Handhaben der Zahnbürste und damit auch die Putzbewegungen erleichtern. Durch den kurzen Stiel wird das Bewegen der Zahnbürste im Mund auch für den Pflegenden/Therapeuten erleichtert, wenn der Patient in Seitenlage liegt. > Beachte Im Umgang mit der manuellen Zahnbürste kommt es häufig zu Putzfehlern aufgrund fehlender koordinierter selektiver Bewegungen der Hand.
Der Kunststoffspatel dient einerseits zum Befunden der Mundhöhle und wird auf dem Spatelhalter der Untersuchungslampe befestigt (. Abb. 6.13). Andererseits kann der Spatel mit Gaze umwickelt werden und zur Reinigung der Zunge eingesetzt werden oder als Aufbisshilfe dienen (s.u.). Die um den Finger des Therapeuten gewickelte Kompresse (. Abb. 6.14) ersetzt vorübergehend die Zahnbürste, wenn eine Reinigung mit der Zahnbürste aufgrund des sehr leicht blutenden Zahnfleisches und/oder erheblicher Hyperreagibilität nicht möglich ist. Speichel und Sekretreste können so mit eindeutiger taktiler Stimulation aus der Mundhöhle entfernt und abheilende Salben oder antibakterielle Gels bei Entzündungen aufgetragen werden. > Beachte Nur passgenaue Fingerlinge oder Handschuhe ermöglichen eine eindeutige taktile Information.
Das Reinigen der Zahnzwischenräume – immerhin sind dies 40% der Gesamtzahnfläche – mit Zahnseide gehört zu einer kompletten Mundhygiene (Roulet et al. 1999). Nur bei ausreichend weiter (und sicherer) Kieferöffnung
. Abb. 6.12. Standardausstattung bei der F.O.T.T.-Mundhygiene: 2 Zahnputzbecher, 1 Kinderzahnbürste, Gaze, Kunststoffspatel, Zahnseidenhalter, Fingerlinge
. Abb. 6.13. Untersuchungslampe mit Spatel und Halterung
135 6.4 · Hilfsmittel für die Mundhygiene neurologischer Patienten
. Abb. 6.14. Umwickelter Finger mit Gaze zum Reinigen der Zähne und der Mundhöhle
. Abb. 6.15. Interdentalpflegemittel von oben nach unten: 1 Interdentalbürste, 2 Zahnseide, 3 Halterung mit Zahnseide
können die 7 Interdentalräume mit Zahnseide auf einer entsprechenden Halterung gereinigt werden. Diese Halterung ist sowohl für den selbständigen Patienten, der mit einer Hand reinigen kann, als auch bei Reinigung durch den Helfer sehr hilfreich. Dieser kann mit seiner zweiten Hand zusätzlich die Mundöffnung 7 fazilitieren (Davies 1995). Bei größeren Zahnzwischenräumen empfiehlt sich die Interdentalbürste (. Abb. 6.15). Die elektrische Zahnbürste bietet eine Alternative bei Patienten, die eine manuelle Zahnbürste nicht oder nur unzureichend einsetzen können, da sie die geforderten feinen Rotations- und Rüttelbewegungen größtenteils ausführen kann. Zusätzlich erleichtert der dickere Griff das Umfassen im Faustschluss (. Abb. 6.16). Plagmann (1998) empfiehlt den Einsatz elektrischer Zahnbürsten auch bei geistig Behinderten.
. Abb. 6.16. Elektrische Zahnbürste und Griffverdickung bei einer manuellen Zahnbürste
! Vorsicht Bei Patienten mit Hyperreagibilität und 7 phasischem Beißen, kann die elektrische Zahnbürste kontraindiziert sein. Die Vibrationen und der Geräuschpegel des Motors verursacht oft ein Ansteigen des Gesamtkörpertonus und löst ein reaktives Beißen aus. Auch kann sich der Wechselkopf der Zahnbürste beim Beißen auf die Bürste lösen bzw. abbrechen und in der Mundhöhle verbleiben.
i Praxistipp Es sollte zuerst am Handrücken des Patienten getestet werden, ob die Vibration der Zahnbürste toleriert wird. Erst dann wird die Zahnbürste in den Mund eingeführt. Die Vibration wird erst am Zahn eingeschaltet und vor dem Herausnehmen jeweils ausgestellt. So können diffuseVibrationen an Wangen und Lippen vermieden werden.
6.4.2
Therapeutische Hilfsmittel
jGriffverdickung am Zahnputzstiel
Oftmals ist für die paretische Hand des Patienten der verdickte Griff der Kinderzahnbürste nicht ausreichend zum Umgreifen und Halten. Bei beginnenden Bewegungen der Hand und Finger kann die Verwendung einer Griffverdickung (. Abb. 6.16) erste selbständige Putzbewegungen erleichtern oder beim geführten Putzen der Faustschluss fazilitiert werden. jAufbisshilfe
Bei Patienten mit 7 phasischem Beißen und reduzierter aktiver Kieferöffnung hat sich ein gepolsterter Mundspatel oder das Stielende des Cheyne-Löffels zur Stabilisierung der Kieferöffnung bewährt (. Abb. 6.17). Nach sukzessiver Erarbeitung der Kieferöffnung wird die plane Aufbisshilfe
6
136
Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
6 . Abb. 6.17. Aufbisshilfen: Kunststoffspatel, gepolstert mit Gaze und Tapeband. Cheyne-Löffel, am Stiel umwickelt mit Gaze und Tapeband
. Abb. 6.18. Noppenputzstäbe
– von lateral kommend – zwischen die 7 Molare gebracht. Danach kann die gegenüberliegende Kaufläche und Innenseite der Zahnreihe geputzt werden. Nach einer Pause mit Mundschluss wird das Putzen auf der anderen Seite fortgesetzt. Der gepolsterte Spatel dient nicht zum »Aufhebeln des Mundes«. Bei gleichzeitiger Anwendung des Kieferkontrollgriffs soll er dazu dienen, den Unterkiefer zu stabilisieren und das 7 phasische Beißen zu hemmen.
6.4.3
Unter der Lupe Zusammenhang: Funktionsstörungen des Kiefergelenks und des Bewegungsapparates Zusammenhänge zwischen Funktionsstörungen des Kiefergelenks und des Bewegungsapparates sind in verschiedenen Untersuchungen bekannt (Broich 1992, Künkel 1990, Nicolais et al. 1998, Robinson 1996, Schafer 1987). Das 7 stomatognathe System reagiert nach Erregung von Pressorezeptoren besonders im Front- und Eckzahnbereich auf Druck- und Zugsetzung. 7 Okklusale Kontakte leiten den Druck auf den Zahnhalteapparat an die Trigeminuskerne des Hirnstamms weiter (Reiber 1992).
Kontraindizierte Hilfsmittel bei neurologischen Patienten
! Vorsicht Bei Patienten mit einer Beißreaktion dürfen keine Gegenstände aus Metall und keine zerbrechlichen Mundhygieneartikel benutzt werden.
jEinweg-Zahnbürsten
Sie sind in der Rehabilitation von neurologischen Patienten in vielerlei Hinsicht kontraindiziert. Bei der dargestellten Zahnbürste (. Abb. 6.19) ist bereits getrocknete Zahnpasta aufgebracht. Zahnpasta kann aspiriert werden. Die sehr harten, nicht abgerundeten Borsten können das Zahnfleisch verletzen und führen bei leicht erhöhtem Druck bereits bei gesundem Zahnfleisch zu Zahnfleisch-
i Praxistipp Durch eine vorsichtige Vorgehensweise (beim Einführen, Platzieren und Herausnehmen) und den lateralen Input kann eine Hemmung der Beißreaktionen erzielt werden. Der Patient lernt durch die gleichmäßige laterale Verteilung des Aufbeißdrucks die Kieferschließer zu entspannen.
jNoppenputzstäbe
Zur Verbesserung der Durchblutung des Zahnfleisches und zum Abtragen/Reinigen von Zungenbelag eignet sich ein kleiner gummierter Noppenputzstab (. Abb. 6.18), der ggf. mit einer Kompresse umwickelt und ebenfalls zur Zahnpflege benutzt werden kann.
. Abb. 6.19. Kontraindizierte Mundhygieneartikel: (v. links) Metallklemme mit Kompresse, Wechselkopfzahnbürste, Einwegzahnbürste mit Zahnpasta, Watteträger, Beißkeil
137 6.4 · Hilfsmittel für die Mundhygiene neurologischer Patienten
blutungen. Durch unkontrolliertes Zubeißen können sich Borsten lösen oder die Bürste kann abbrechen. Es besteht Verletzungs- und/oder Aspirationsgefahr durch die losen Partikel. i Praxistipp Bei sehr abwehrgeschwächten Patienten sollte aus hygienischen Gründen alternativ zur Einwegzahnbürste eine Desinfektion der weichen Kinderzahnbürste erfolgen oder mit Gaze gesäubert werden.
jFette oder Öle
Auch hier kann sich ein Fettfilm auf der Mundschleimhaut bilden. Das Verwenden von Fetten oder Ölen zum Entfernen von Borken ist bei Patienten mit Schluckstörungen kontraindiziert, da es im Larynx keine Rezeptoren gibt, die Fette und Öle erkennen und auf deren Eintritt in die unteren Atemwege reagieren. ! Vorsicht Es besteht Aspirationsgefahr!
jWatteträger
jTupfern an Metallklemmen
Watteträger sind durch ihre glatte Oberflächenstruktur keine Alternative zur Zahnbürste. Sie helfen lediglich, Sekret mittels einer wischenden Bewegung zu absorbieren und aus den Wangentaschen herauszuholen. Dabei wird das Zahnfleisch nur kurz gestreift, nicht aber massiert. Bei Patienten mit einer Hyperreagibilität kann diese leichte, flüchtig wischende Bewegung der Auslöser für eine Tonuserhöhung sein (Davies 1995). Reflektorisches Beißen kann dadurch ausgelöst werden.
Die Verwendung z.B. von Tupfern an Metallklemmen (. Abb. 6.19) zur Reinigung der Zähne bedeutet in vielerlei Hinsicht eine diffuse taktile Information in der Mundhöhle und ermöglicht zudem – analog zu Watteträgern – keine effektive Entfernung von Plaque. Das Verletzungsrisiko für den Patienten durch die dabei schnell auszulösende Beißreaktion ist hoch. Es kann dabei zum Abbrechen der Zähne kommen.
! Vorsicht Eine effektive 7 Plaqueentfernung kann mit einem Watteträger nicht erfolgen.
i Praxistipp 4 Durch die unspezifische Wischbewegung kann keine eindeutige Stimulation und daher kein verbessertes Spüren der mehr betroffenen Seite erreicht werden. 4 Durch unkontrolliertes Zubeißen besteht die Gefahr des Zerbrechens des Watteträgers. 4 Watteträger mit Zitronengeschmack sind ebenso wie der Einsatz von Fetten/Ölen bei aspirationsgefährdeten Patienten kontraindiziert!
jGlycerin-Zitronenstäbchen
Glycerin-Zitronenstäbchen zum Abtragen der Beläge sind dauerhaft angewendet ungeeignet. Die Zitronensäure greift den Zahnschmelz an (Gottschalk u. Dassen 2002, Meyer et al. 1999) und kann durch den intensiven Geschmack oder auch im Kontakt mit Mikroverletzungen der Schleimhaut Schmerzen verursachen und tonuserhöhend wirken. Glycerin trocknet die Schleimhaut aus und kann mangels fehlender oraler Transportbewegungen einen Fettfilm auf der Schleimhaut bilden, unter dem Erregerkeime weiter wachsen können. Bei permanent geöffnetem Mund kann dieser Fettfilm in den Wangen, auf der Zunge und am Gaumen austrocknen und verborken!
! Vorsicht Metallklemmen und Watteträger gehören nicht zu den alltäglichen Mundhygieneartikeln, mit denen der Patient vor seiner Hirnschädigung die Zähne gereinigt hat und haben somit keinen Wert für das Wiedererkennen der Alltagsaktivität Mundhygiene. Metallklemmen sind bei Patienten mit 7 phasischem Beißen kontraindiziert (Verletzungsgefahr)!
Ein Beißkeil (. Abb. 6.19) wird in der F.O.T.T. nicht eingesetzt, denn er führt zu einem ungleich verteiltem Aufbiss beim Kieferschluss. Ein »Aufhebeln« der Kieferöffnung hat auch durch die Druckreizauslösung an den Front- und Eckzähnen (Rezeptoren des 7 stomatognathen Systems) ein vermehrtes Beißen zur Folge (Reiber 1992). In Verbindung mit allen vorbereitenden Maßnahmen und dem Kieferkontrollgriff, kann mit einem weichen, plan gepolsterten Spatel als Aufbisshilfe eine gleichmäßigere Druckverteilung beim Zubeißen erreicht werden. jGebrauchte Zahnbürsten
Gebrauchte Zahnbürsten, die von zu Hause mitgebracht werden, müssen auf ihre Funktionstüchtigkeit überprüft werden (. Abb. 6.20). Sind die Borsten bereits umgeknickt, ist eine Entfernung der 7 Plaque, insbesondere des 7 Interdentalraums und des Zahnsaums der 7 Gingiva nicht mehr ausreichend möglich (Plagmann 1998). Daneben ist der hygienische Zustand der Zahnbürste zu beurteilen, damit es bei einem bereits abwehrgeschwächtem Patienten nicht zu einer oralen Keimverschleppung durch die Zahnbürste kommen kann.
6
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Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
Kann Zahnpasta verwendet werden, ist auf den 7 Abrasionsfaktor (ABR) der Zahncreme zu achten. Bei freiliegenden Zahnhälsen ist ein niedriger ABR unter 30 zu verwenden. Ein hoher 7 Abrasionsfaktor und eine falsche Putztechnik können zu 7 Erosion der Zahnhartsubstanz führen (Plagmann 1998, Roulet et al. 1999). ! Vorsicht
6
Die Verwendung von Zahnpasta ist kontraindiziert bei 4 Aspirationsgefahr, 4 geblockter Trachealkanüle, 4 mangelndem Situationsverständnis für das Ausspucken von Zahnpasta, 4 sensomotorischen Störungen, die das Ausspucken und Mundausspülen beeinträchtigen.
. Abb. 6.20. Abgenützte Zahnbürste mit umgeknickten Borsten
! Vorsicht Die 7 Plaqueentfernung mit einer Zahnbürste mit verbogenen Borsten ist unzureichend und bei Patienten mit einer oralen Hyperreagibilität kontraindiziert. Die umgeknickten Borsten erzeugen beim Einführen in den Mund und beim Putzen kitzelnde, diffuse Wischbewegungen in der Wangeninnenseite und unterhalten die Hyperreagibilität mit ihren bekannten Folgen.
jZahnpasta
Zahnpasta soll mit den beinhaltenden Wirkstoffen wie Tensiden (Schaumbildner) und Fluoriden den Reinigungseffekt erhöhen. Aus zahnmedizinischer Sicht sind lediglich die Putzkörper (Abrieb oder Politurwirkung) entscheidend für die Plaqueentfernung (Plagman 1998). Dies haben auch vergleichende klinische und experimentelle Untersuchungen zur Wirkung von 7 Zahnpasten auf die Zahnhartsubstanzen und die 7 Gingiva gezeigt (Albers et al 1982, Gottschalk u. Dassen 2002, Roulet et al. 1999). > Beachte Es ergaben sich keine signifikanten Unterschiede bei der Verwendung von Wasser als Putzmedium im Vergleich zur Zahnpasta (Gottschalk u. Dassen 2002).
Lediglich der Zeitgewinn, den man bei der Benutzung von Zahnpasta erreicht, rechtfertigt den Gebrauch. Auch der Wunsch nach einem frischen Geschmack ist eine Motivationskomponente bei der Wahl der Zahnpasta. ! Vorsicht Bei neurologischen Patienten empfiehlt sich generell ein eher zurückhaltender Gebrauch von Zahnpasta. Vielfach ist das Ausspucken des schäumenden Materials nach dem Putzen nur schwer bis gar nicht möglich. Es besteht die Gefahr der Aspiration von Zahnpasta. Das Putzen mit wenig Wasser oder Tee ist aus Sicherheitsgründen vorzuziehen.
Hilfreiche Alternativen zur Zahnpasta sind in erster Linie 4 die Putztechnik und 4 die Putzfrequenz. Daneben können Mundwasser und Heilkräutertees unterstützend eingesetzt werden.
6.5
Mundhygiene: eine multidisziplinäre Aufgabe
» Der Mund bietet ausgezeichnete Möglichkeiten zur Stimulation im Rehabilitationsalltag. « (Coombes 1994) Mundhygiene ist eine ursprünglich pflegerische Tätigkeit. Im Rehabilitationsalltag von Hirnverletzten lassen die vielfältigen Probleme und ihr Schwierigkeitsgrad diese alltägliche Routine zu einer multiprofessionellen und interdisziplinären Zusammenarbeit anwachsen. Die vielen Aspekte im Rehabilitationsprozess benötigen eine gemeinsame Sicht auf die Probleme und Bedürfnisse des Patienten, damit es zu einer »synergistischen Wirkung« der einzelnen Therapieelemente kommen kann (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 1994). Neben Organisationsformen und Umgangsregeln gehören auch Tätigkeitsbeschreibungen mit Kompetenzregelungen der verschiedenen Fachdisziplinen zu den personellen Voraussetzungen. Das F.O.T.T.-Behandlungskonzept ermöglicht jedem Teammitglied und den Angehörigen, verschiedene Schwerpunkte im Tagesablauf des Patienten umzusetzen. So kann die konkrete Maßnahme der Mundhygiene über eine gemeinschaftliche und speziell kompetenzorientierte Zielsetzung für die einzelnen Teammitglieder definiert und realisiert werden.
139 6.6 · Angehörigenarbeit: eine individuelle Prozessbegleitung
> Beachte
6.6
Der sorgsame Umgang mit dem Mund als Intimbereich ist von allen Teammitgliedern zu beachten!
Angehörigenarbeit: eine individuelle Prozessbegleitung
» Die Genesung des hirnverletzten Patienten schließt fast Die festgelegte Vorgehensweise der F.O.T.T.-Mundhygiene muss für das ganze Team verbindlich sein. Mit ihrer klaren Struktur hilft sie sowohl dem Patienten, der Hilfe benötigt, als auch dem Teammitglied, das die Hilfestellung gibt. Patienten mit Überempfindlichkeit im fazio-oralen Trakt profitieren im besonderen Maße von der einheitlichen und behutsamen Vorgehensweise. Durch die mehrfach am Tag stattfindende Routine kann die gemeinsame Zielsetzung – die Verbesserung der Berührungstoleranz des Patienten – auf alle Teammitglieder chancenreich verteilt werden (. Abb. 6.21). In den verschiedenen Ausgangspositionen sowohl des unselbständigen Patienten mit 7 Trachealkanüle wie auch des weitgehend selbständigen und oral ernährten Patienten können die Situationen einfach bis komplex gestaltet werden. Welche Berufsgruppe den jeweiligen Aspekt der F.O.T.T. schwerpunktmäßig praktiziert, hängt im wesentlichen von der Organisationsstruktur der Einrichtung ab. Verschiedene Faktoren sind dabei entscheidend für die praktische Umsetzung: 4 Stellnbeschreibung, 4 Personalkapazität, 4 Einzel- und Gesamtqualifikation der Mitarbeiter und 4 persönliche Schwerpunkte der Mitarbeiter (Gratz 2001). In den folgenden Abbildungen werden Möglichkeiten der interdisziplinären Teamarbeit am Therapiezentrum Burgau während der Mundhygiene dargestellt (. Abb. 6.21, 6.22, 6.23). Auch zahnärztliche Untersuchungen sollten ein Bestandteil der Maßnahmen in allen Rehabilitationsphasen neurologischer Patienten und darüber hinaus sein, damit orale und parodontale Erkrankungen frühzeitig erkannt und behandelt werden können (Nitschke et al. 2000). Regelmäßige Konsultationen in Alten- und Behindertenheimen werden als Bestandteil des Prophylaxeprogramms in einer Veröffentlichung der bayrischen Landeszahnärztekammer (Bundeszahnärztekammer 2002) propagiert, um die Lebensqualität des einzelnen zu erhalten bzw. wieder zu verbessern. Die strukturierte Mundhygiene kann einen wesentlichen Beitrag dazu liefern, die Untersuchungssitutation stressfrei und effizient für den Patienten zu gestalten, insbesonders durch den Abbau von hyperreagiblen Symptomen und Gewöhnung an festes zahnärztliches Untersuchungsmaterial.
immer eine erolgreiche Arbeit mit der Familie ein. Die Angehörigen arbeiten eng mit dem Team zusammen. Wenn sie ermutigt werden, auf therapeutische Art und Weise mitzuhelfen, können sie viele Entscheidungen für die Zukunft und zu jeder Therapie ihre Zustimmung geben. Deshalb müssen sie gut informiert sein. (Davies 1995)
«
Viele Angehörige gehen vom ersten Tag an mit ihrem Patienten den Weg der Rehabilitation. Studien zeigen, dass die Anleitung von Angehörigen ein essenzieller Bestandteil der Rehabilitation ist (Zasler et al. 1993). Darin liegen viele Möglichkeiten und Chancen, aber auch Gefahren. Da die Angehörigen gleichermaßen Mitbetroffene sind, können ihre Krisenreaktionen denen einer Trauerbewältigung gleichen. Auch sie bedürfen ggf. der psychosozialen Unterstützung durch Fachmitglieder des Reha-Teams. Bei fehlender Prozessbegleitung wird die »Wahrheits-Entdeckung« (Schuchardt 2002) unverhältnismäßig lange hinausgeschoben. Die Berater sollen sich der »Spiralförmigkeit« der Verarbeitungsphasen bewusst sein. Diese Phasen können nebeneinander und miteinander existieren und sind individuell von unterschiedlich langer Dauer (Heusler u. Heinz 2001). Nur das Akzeptieren der Situation kann eine Bereitschaft für ihre Neugestaltung initialisieren (Schuchardt 2002). Die Erwartungshaltung der Angehörigen bezüglich der Genesung des Patienten kann sich mithilfe einer intensiven und kontinuierlichen Begleitung durch das Rehabilitationsteam realistisch entwickeln, wobei das Team die Möglichkeiten und Grenzen der Angehörigen sorgfältig einschätzen muss (. Abb. 6.24).
6.6.1
Prozessbegleitung
Eine kompetente Angehörigenanleitung versteht sich als Prozessbegleitung und besitzt i.d.R. eine didaktische Lernstruktur, die sich individuell modifizieren lässt. Eine stufenweise Steigerung der Aufgaben bezogen auf die pflegerisch-therapeutischen Zielsetzungen ist beabsichtigt, um längerfristig die co-therapeutische Kompetenz der Angehörigen für eine selbständige Übernahme individueller Pflegemaßnahmen zu ermöglichen. In der F.O.T.T. gehören verschiedene Inhalte in die prozessbegleitende Angehörigenanleitung und ermöglichen dem Angehörigen einen individuellen Lernprozess. Sie sind in . Übersicht 6.4 dargestellt.
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Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
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a
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b
. Abb. 6.21 a-c. Therapeutische Hilfestellungen. a Die Pflegende unterstützt die Kieferöffnung mit dem Kieferkontrollgriff und führt die Mundstimulation durch. Die Ergotherapeutin stabilisiert die Aufrichtung des Rumpfes und unterstützt die paretische Hand der Patientin beim Halten des Zahnputzbechers. b Die Pflegende führt den paretischen Arm zum Mund und verhilft damit der Patientin beim Putzen der Kauflächen. Die Ergotherapeutin stabilisiert dabei die Nackenextension. c Die Pflegende unterstützt das Abtupfen des Mundes
141 6.6 · Angehörigenarbeit: eine individuelle Prozessbegleitung
a
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b
. Abb. 6.22 a-c. Hilfestellungen beim Zähneputzen. a Mit dem Rollator angekommen am Waschbecken, um Zähne zu putzen: Der Physiotherapeut fazilitiert die Gewichtsübernahme auf das paretische Bein des Patienten und hilft ihm beim Abstellen des Zahnputzbechers auf den Beckenrand. b Während der Patient selbständig die Zähne putzt, fazilitiert der Physiotherapeut mit Hilfe der stabilen Lagerungselemente die Hüft- und Knieextension. Die paretische Hand wurde auf dem Beckenrand platziert. c Das Umfassen und Halten des Zahnputzbechers mit der paretischen Hand wird fazilitiert
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Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
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. Abb. 6.23 a-c. Nach dem Zähneputzen. a, b Die Sprachtherapeutin erarbeitet mit dem Patienten das Benennen von Gegenständen zur Mundhygiene. c Beim Lesen der Sätze kann die paretische Hand geführt mit eingesetzt werden
143 6.6 · Angehörigenarbeit: eine individuelle Prozessbegleitung
. Abb. 6.24. F.O.T.T interdisziplinär im Tagesablauf
. Übersicht 6.4. Anleitung der Angehörigen 1. Anwesenheit Die Anwesenheit des Angehörigen in der Therapie und während der pflegerischen Maßnahmen geben die Möglichkeit, erste Funktionen, aber auch Grenzen des Patienten zu erleben. Dies soll und kann eine Art erste Vermittlung von Sicherheit durch den professionellen Umgang mit der Situation und durch das Erleben von situationsbezogener Problemlösung geben. 2. Information Zum Verständnis der therapeutischen Maßnahmen und Zielsetzungen werden Gespräche angesetzt, in denen zusätzlich Medien wie Abbildungen, Modelle, und Videos eingesetzt werden können, um offene Fragen zu klären. Die Medienauswahl wird dabei individuell auf den Angehörigen abgestimmt. 6
3. Selbsterfahrung Zum weiteren Verständnis und zum Erlernen des Handlings mit dem Patienten vermitteln Selbsterfahrungen spürbare, mehrdimensionale Lernerfahrungen. Selbsterfahrungen sind ein wesentlicher Bestandteil in der Problemdarstellung und verhelfen zum Verstehen von Rehabilitationsmaßnahmen. Sie sind eine essentielle Voraussetzung für die co-therapeutische Tätigkeit des Angehörigen im Verlauf der Rehabilitation. 4. Praktische Anleitung Nach der Selbsterfahrung wird das Handling direkt am Patienten geübt. Die neu erworbenen Fertigkeiten werden dabei zuerst am Anleiter (Therapeutin/Pflegende) geübt. Anschließend praktiziert der Angehörige unter der Supervision des Anleiters am Patienten.
6
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Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
5. Erlernen von Notfallmaßnahmen Der Umgang mit Notfallsituationen, das Erkennen und Wissen um die Art möglicher Notfälle (z.B. Verschlucken, Erbrechen, Beißen) ist ein unerlässlicher Teil der Anleitung. Auch hier wird mit den Angehörigen in einzelnen Schritten die Vorgehensweise und die dazugehörigen Maßnahmen theoretisch und anschließend praktisch erarbeitet, so dass sich Sicherheit durch Kompetenz etablieren kann. Notfallsituationen müssen vor dem ersten Tages-/ Wochenendaufenthalt des Patienten zu Hause von
den Angehörigen erkannt werden können und helfende Maßnahmen geübt worden sein. 6. Erstellung eines Heimprogramms Bei der Erstellung eines Heimprogramms gilt es, die Stärken und Ressourcen des Patienten und seiner Angehörigen in Bezug zueinander zu setzen, um dem Patienten in seinem sozialen Umfeld eine dauerhaft zufriedenstellende und sichere Situation zu ermöglichen. Informationen u.a. über Lagerungstechniken sowie Hilfestellungen für konkrete Situationen im Alltag werden formuliert und besprochen.
6 Können die Angehörigen das Wissen im Umgang mit dem Patienten weitgehend umsetzen, ist die Anleitung abgeschlossen. Die Prozessbegleitung kann im Idealfall bis in die ambulante Weiterbehandlung weitergeführt werden. Die Vermittlung von Kontakten zu weiterführenden ambulanten Therapeuten, zu anderen Angehörigen oder Selbsthilfegruppen ist eine weitere Aufgabenstellung des Rehabilitationsteams.
6.6.2
Angehörigenanleitung: Beispiel Mundhygiene
men einzelner pflegerisch-therapeutischer Maßnahmen erarbeitet werden. Dies beinhaltet zwangsläufig auch 4 den Umgang mit notwendigen Hilfsmitteln, 4 den Erwerb einer Notfallkompetenz und 4 das Erkennen von Sekundärproblemen, um entsprechende Maßnahmen später eigenständig einleiten zu können. . Abb. 6.25 zeigt exemplarisch die Anleitung der Ehefrau eines Patienten während eines stationären Aufenthalts.
> Beachte
Signalisieren die Angehörigen Bereitschaft bei den Rehabilitationsmaßnahmen mitzumachen, kann die Durchführung der Mundhygiene ein guter Einstieg dazu sein. In der Anleitung müssen prozessbegleitend die (Albers et al. 1982, Gottschalk u. Dassen 2002, Roulet et al. 1999) Wertigkeit der Aufgaben vermittelt werden. Die Angehörigen müssen die Folgen der Schädigungen verstehen lernen. Dies bedeutet hier z.B. dass ihr Patient auf Hilfe angewiesen ist, sich die Zähne nicht selber putzen kann, eine (evt. sogar lebensbedrohliche) Schluckstörung hat, die das gewohnte normale Essen und Trinken für lange Zeit verbietet. Die Vorgehensweise bei der Mundhygiene und das schrittweise Erlernen von Hilfestellungen können im Rah-
Angehörige sind immer auch Mitbetroffene und müssen zu Beginn des Rehabilitationsprozesses in ihren Phasen der Verarbeitung begleitet werden. Eine fachgerechte Informationsweitergabe ist eher als Prozessbegleitung mit stetem Informationsabgleich, Diskussionen über gewonnene Einsichten bezogen auf das Ziel und die Maßnahmen anzusehen. Auch die Anleitung von Angehörigen muss vom ganzen Rehabilitationsteam getragen werden. Eine zufriedenstellende Wiedereingliederung des Patienten in sein häusliches Umfeld kann nur unter der Berücksichtigung aller fachlichen, sozialen und ethischen Aspekte erreicht werden.
145 6.6 · Angehörigenarbeit: eine individuelle Prozessbegleitung
a
b
d
c
e . Abb. 6.25 a-g. Angehörigenanleitung. a Die Ehefrau des Patienten zeigt, wie sie die Mundpflege bei ihrem Mann zu Hause durchführt. Der Kopf bleibt dabei unkorrigiert in einer für die oralen und pharyngealen Bewegungen nicht hilfreichen Position. b Die Ergotherapeutin demonstriert die Vorgehensweise und das Fazilitieren der Mundöffnung. c Lernen durch Selbsterfahrung: Die Ehefrau
des Patienten spürt den Kieferkontrollgriff und die Korrektur des Nackens durch die Therapeutin. d Das anschließende Üben an der Therapeutin ermöglicht hilfreiche Rückmeldungen zum neuerlernten Handling zu geben. e Beim erneuten Zähneputzen wird das neu Gelernte angewendet. Die Therapeutin gibt dabei noch Hilfestellung
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Kapitel 6 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig
Literatur
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g . Abb. 6.25 a-g (Fortsetzung) f Das Anwenden des neu erlernten Handlings erfolgt unter der Supervision der Therapeutin (hier nicht im Bild). Kopf und Nacken sind jetzt optimal positioniert. g Die Angehörige putzte bisher mit einer Wechselkopfzahnbürste. Auf die Gefahren mit dieser Art Zahnbürste wird hingewiesen
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6
7
Die Behandlung des Gesichts – mehr als mimische Übungen Daniela Jakobsen, Heike Sticher
7.1
Normale Gesichtsbewegungen
– 150
7.1.1 Steuerung der Gesichtsbewegungen – 150 7.1.2 Anatomie und Physiologie – 150 7.1.3 Funktionen der Gesichtsmuskulatur – 153
7.2
Zentral bedingte Einschränkungen der Gesichtsbewegungen – 153
7.2.1 Die zentrale Fazialisparese und ihr klinisches Erscheinungsbild 7.2.2 Diffuse, zentral bedingte Störungen der Gesichtsbewegungen und ihr klinisches Erscheinungsbild – 153
7.3
Grundlegende Prinzipien von Untersuchung und Behandlung – 155
7.3.1 Die Untersuchung des Gesichts – 155 7.3.2 Erarbeiten normaler Sensibilität und Bewegung in funktionellem Kontext – 155 7.3.3 Prophylaxe von Komplikationen – 158 7.3.4 Einsatz verschiedener Techniken – 158 7.3.5 Hilfen für den Alltag – 158 7.3.6 Eigenprogamme: Wann? Mit wem? Wie? – 160
7.4
Die periphere Fazialisparese
– 161
7.4.1 Typisches klinisches Erscheinungsbild – 161 7.4.2 Welche Unterschiede gibt es in der Behandlung zur zentralen Lähmung? – 161
7.5
Ausblick
– 163
Literatur
– 164
– 153
150
7
Kapitel 7 · Die Behandlung des Gesichts – mehr als mimische Übungen
In der Neurorehabilitation wird die Behandlung des Gesichts oft zugunsten der sog. Schluckproblematik vernachlässigt oder auf ein Minimum in Form eines Heimübungsprogramms vor dem Spiegel reduziert. Zu Unrecht, denn das Gesicht – ein Teil unseres Körpers, den wir nicht verstecken können – »verrät« oft den Patienten mit neurogener Schädigung. Auch unser kommunikatives Verhalten und unsere sozialen Interaktionen (Leppänen 2009) werden – ob wir wollen oder nicht – durch fehlende, überschießende oder allgemein von der Normalität abweichende, Gesichtsbewegungen unseres Gegenübers beeinflusst. Nach einer Einführung in die Anatomie und Physiologie wird dem Leser die Untersuchung und Behandlung des Gesichts auf der Basis des F.O.T.T.-Konzepts verdeutlicht, wie man mit einem Patienten mit zentralen oder peripheren Läsionen der Gesichtsnerven funktionell und alltagsorientiert arbeiten kann. Operative Maßnahmen werden in diesem Kapitel nur kurz erwähnt; hier verweisen wir auf die entsprechende Literatur.
7.1
Normale Gesichtsbewegungen
Unsere Gesichtsbewegungen, egal ob wir sie zum Sprechen, für die Nahrungsaufnahme oder zur nonverbalen Kommunikation gebrauchen, müssen schnell, teilweise automatisch und oft nur für kurze Zeitdauer erfolgen und die dafür genutzte Muskulatur muss genauso schnell wieder entspannen können.
plette Fazialisparese ipsilateral zum Läsionsort (Mazhar 2008). Interessant ist die Tatsache, dass die motorischen Fazialiskerne nicht nur von der Präzentralregion, sondern auch vom Diencephalon (Zwischenhirn) mitinnerviert werden, vor allem bei emotionaler Regung. Dieser Umstand führt dazu, dass eine Trennung zwischen Willkürmotorik und emotionaler Motorik bestehen kann. So kann im Neurostatus zwar ein fokal motorisches Defizit mit Einschränkung des Mundastes bestehen, gleichzeitig aber beim spontanen Lachen die zentrale Fazialisparese für den Betrachter »verschwinden«. Dies ist vor allem bei Läsionen des Frontalhirns bzw. des dortigen Centrum semiovale oder der Basalganglien kontralateral zur klinischen Manifestation der Fall (Mazhar 2008). Im Verlauf des N. facialis vom Kortex bis zu den verschiedenen Endorganen, kommt es zur Bildung von Anastomosen mit anderen Hirnnerven. Bischoff (1977) zeigte auf, dass es unzählige Verbindungen und Passagen zwischen 4 N. trigeminus, 4 N. facialis, 4 N. intermedius, 4 N. vestibularis, 4 N. glossopharyngeus, 4 N. vagus, 4 N. accessorius, 4 N. hypoglossus und den 4 oberen zervikalen Nerven als auch zwischen den sympathischen und parasympathischen Nerven gibt.
7.1.1
Steuerung der Gesichtsbewegungen
Willkürliche und emotionale Gesichtsbewegungen wer-
den von unterschiedlichen Hirnarealen gesteuert. Willentlich die Stirn hochziehen, z.B. auf Aufforderung, wird von den motorischen Arealen in der Großhirnrinde gesteuert, das Hochziehen der Stirn, z.B. beim Erschrecken oder Erstaunen – also unwillentlich, geschieht über präfrontale, limbische Strukturen und subkortikale Kerne. Die Stirnmuskulatur bzw. deren Repräsentation im Hirnstamm wird von beiden Hirnhemisphären versorgt (oberes Kerngebiet des N. facialis); die weiteren Äste, zuständig für die Augen- und Mundversorgung (unteres Kerngebiet), werden lediglich von der kontra-lateralen Präzentralregion versorgt. Dementsprechend kommt es bei einem Infarkt supranukleär bei Schädigung einer Hemisphäre bzw. der zuständigen kortikobulbären Bahnen zu einer Fazialisparese vom »zentralen Typ« mit Aussparung und damit funktionstüchtigem Stirnast. Stirnrunzeln und Augenschluss sind auf der betroffenen Seite möglich. Kommt es aber zu einer nukleären oder peripheren Läsion, entwickelt sich dementsprechend eine kom-
> Beachte Die enge Beziehung des N. facialis mit vielen anderen Nerven bedeutet, dass die Läsion eines Nervs nicht nur diesen einen betrifft, sondern Auswirkungen auf andere Nerven und dessen Innervationsgebiet haben kann (Bischoff 1977, Lacombe 2009, Tohma 2004, Baumel 1974).
7.1.2
Anatomie und Physiologie
Für die Untersuchung und Behandlung des Gesichts ist es bedeutsam, die anatomischen und funktionellen Besonderheiten der Gesichtsmuskulatur zu kennen. Erst das Studium des normalen Bewegungsverhaltens im Gesicht gibt uns Aufschluss über die Probleme des Patienten und Ideen zum Behandlungsansatz. Die Bewegungsqualität ist hierbei das Beurteilungskriterium, z.B. 4 in welcher Art die Bewegungen in den einzelnen Aktivitäten ausgeführt werden, z.B. schnell, langsam selektiv etc.,
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
151 7.1 · Normale Gesichtsbewegungen
4 wann die Gesichtsbewegungen anstrengend werden, 4 wann Überaktivität entsteht, und 4 wie oft Bewegungen in welcher Qualität wiederholt werden. Um das tatsächliche Problem des Patienten herauszufinden, bedarf es sowohl einer Untersuchung in Ruhe als auch einer Bewegungsanalyse: 4 Wo bewegt der Patient sich zuviel/zuwenig? 4 Sind die Kompensationen verfrüht, zu stark oder nicht hilfreich? 4 Sind die Bewegungen abgeschwächt? Der Vergleich von normalem Bewegungsverhalten mit dem des Patienten führt dann zum Erstellen von individuellen Zielen und einem individuellen Behandlungsplan. jAufbau
Die Gesichtsmuskeln gehören zur Skelettmuskulatur und bestehen aus quergestreifter Muskulatur, die willkürliche Bewegungen ermöglicht. In diesem Kapitel verzichten wir auf eine bildliche Darstellung der Muskeln im Gesicht und verweisen auf die entsprechende anatomische Literatur. Die Muskeln setzen sich jeweils aus Typ-I- und Typ-II(a+b-)Fasern zusammen, die für die Muskelkontraktionen zuständig sind: 4 Typ-I-Fasern sind langsamer reagierend, dafür ausdauernd. 4 Typ-II-Fasern sind schnell reagierend, dafür rasch ermüdbar. Das Verhältnis der Fasertypen, ob es in einem Muskel mehrheitlich Typ-I- oder Typ-II-Fasern gibt, ist abhängig von der jeweiligen Funktion – besser gesagt dem Gebrauch – des Muskels (Lieber 2000, 2001; Kent 2004, Freilinger 1990, Stal 1994, Burkhead 2007). Beispiel 4 Der M. buccinator muss sich, um seiner Funktion beim Saugen, Pusten, Kauen und Schlucken gerecht werden zu können, ausdauernd und kräftig kontrahieren können. Hier sind eher tonische Fasern (Typ-I-Fasern) vonnöten. Deshalb findet man in diesem Muskel überwiegend (zu 67%) Fasern vom Typ I. 4 Der M. orbicularis oculi, der für den Lidschlag verantwortlich ist, muss sich kurz und schnell kontrahieren können. (Pro Minute schließen wir unser Auge ca. 12- bis 13-mal, d.h. 750-mal pro Stunde!). Deshalb finden sich hier hauptsächlich Fasern vom Typ II und nur 15% Fasern vom Typ I.
Generell weisen die Funde in der Literatur darauf hin, dass die Gesichtsmuskulatur mit mehrheitlich schnell zucken-
den, also phasischen Fasern ausgestattet ist. Diese Faserverteilung adaptiert sich bei veränderter Funktion, z.B. kommt es aufgrund konstanter Anspannung nachfolgend zu einem Umbau der Fasern. Am ehesten werden phasische Fasern zu tonischen umgebaut (Pette 2002, 2001). Dieser Umbau beeinträchtigt die eigentliche Funktionsweise des Muskels, und deshalb gilt es, diesem durch Vermeidung von Überaktivität vorzubeugen. Ein Dauergrinsen, wie z.B. in einem amüsanten Film, wird auf Dauer unangenehm und schmerzhaft. Ähnlich muss es Patienten ergehen, die stundenlang mit ein und demselben Gesichtsausdruck verharren müssen, weil sie entweder keine sensible Rückmeldung oder/und nicht die motorischen Möglichkeiten haben, ihren Gesichtsausdruck zu verändern. i Praxistipp Für die Arbeit mit Patienten bedeutet das, dass die normale Funktionsweise der Muskulatur uns leiten sollte, die entsprechenden Aufgaben auszuwählen und sie mit entsprechend vielen bzw. wenigen Wiederholungen und/oder Widerstand durchzuführen.
jAnordnung, Ursprung und Ansatz der Gesichtsmuskeln Die 23 paarig angelegten Gesichtsmuskeln und der unpaarige M. orbicularis oris liegen in Schichten (Freilinger
1987) übereinander: 4 Teilweise wirken sie »erweiternd«, wie z.B. der M. risorius und die Mm. zygomatici major et minor, die den Mund breitziehen bzw. die Mundwinkel heben. 4 Sie können jedoch auch »verengend« wirken, wie der M. orbicularis oris, der für den Mundschluss und das Spitzen des Mundes verantwortlich ist. Die Muskulatur ist eng mit- und ineinander verflochten und daher nicht klar abgrenzbar. Sie setzt teilweise aneinander an. Die Aufgabe der Gesichtsmuskeln ist es, Haut und nicht Gelenke zu bewegen. Deshalb entspringen sie von Knochen oder Faszien des Schädels und inserieren in die Gesichtshaut bzw. in andere Muskeln. Beispiel 4 Der M. zygomaticus major setzt am Modiolus (Muskelknoten) (Pelissier 2000) des Mundwinkels an. 4 Der M. levator labii superioris hat seinen Ansatz an der Haut der Oberlippe und am M. orbicularis oris. 4 Der Ansatz des M. buccinator ist ebenfalls am M. orbicularis oris.
Eine Umkehrung der Muskelzugrichtung, wie sie bei anderen Skelettmuskeln möglich ist, um dynamische Stabilität zu gewährleisten, ist in dieser Form nicht möglich.
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
7
152
Kapitel 7 · Die Behandlung des Gesichts – mehr als mimische Übungen
7
. Abb. 7.1. Typische Verteilungsmuster des N. facialis
. Abb. 7.2. N. facialis
Beispiel
Beispiel
Innerhalb der Schlucksequenz ist das Hyoid – während des Kauens – das Punctum stabile für den mobilen Unterkiefer. Im Moment der pharyngealen Phase – des Schluckens – kehrt sich die Muskelzugrichtung um, der Unterkiefer wird zum Punctum stabile für das mobile – sich nach vorne, oben anhebende – Hyoid (7 Kap. 4).
Der M. depressor anguli oris (Funktion: Senken der Mundwinkel) wird sowohl aus den Rr. buccalis als auch dem R. marginalis mandibulae des N. facialis innerviert (. Abb. 7.2).
Im Gesicht kann man sich die Umkehr der Muskelzugrichtung eher als Gewährleistung der dynamischen Stabilität vorstellen: Der M. zygomaticus (Ursprung: Arcus zygomaticum, Ansatz: Mundwinkel) hebt die Mundwinkel beim Lachen (konzentrische Aktivität) an. Wird der Mund gespitzt (also bei Aktivität des M. orbicularis oris) muss er sich exzentrisch verlängern können und in dieser Verlängerung bleiben, damit der M. orbicularis oris sein gesamtes Bewegungsrepertoire nutzen kann. jInnervation
Bei der Innervation der Gesichtsmuskeln fällt auf, dass diese wie ein Baum aufgebaut ist, dessen Stamm sich in zwei Hauptäste aufspaltet. Diese verzweigen sich in eine variable Anzahl von Ästen, die untereinander »kommunizieren«. Diese Art der Innervation wird als polyneural (. Abb. 7.1) bezeichnet und ist bei jedem Menschen individuell, es gibt jedoch einige typische Verteilungsmuster. Es wird vermutet, dass diese Art der Innervation im Falle einer isolierten Läsion weiterhin eine Versorgung des Muskels gewährleistet, da noch Impulse von anderen Nervenästen gegeben werden.
Ein weiterer interessanter Aspekt der Innervation der Gesichtsmuskulatur liegt in der Anzahl und Anordnung der motorischen Endplatten. Die 7000 myelinisierten motorischen Axone aus dem pontinen Fazialiskern innervieren jeweils nur 25 Muskelfasern (May 2000); zum Vergleich: Im M. gracilis, Adduktorenmuskel am Oberschenkel, werden 1500–2000 Muskelfasern von einem motorischen Axon innerviert. In einer Muskelfaser eines Gesichtsmuskels können bis zu fünf motorische Endplatten angesiedelt sein, die traubenförmig angeordnet sind. Diese Art der Innervation bezeichnet man als multifokal. Happak (1997) zeigt auf, dass die polyneuralen und multifokalen Innervationen der Grund sind für unsere individuellen Gesichtsbewegungen mit all ihren feinen Nuancen (Monti et al. 2001) Gleichzeitig ist eine solch komplexe neurale Versorgung sehr »störanfällig«, und vielleicht liegt hier der Grund, warum nach einer Läsion des N. facialis oft keine hundertprozentige Regeneration, zumindest des spontanen Gesichtsausdrucks, möglich ist oder es sogar zu unerwünschten Mitbewegungen kommt. Es bedarf einer sehr fein abgestimmten muskulären Koordination, damit unser Gesicht eine normale Mimik zeigt. Gesichtsmuskeln haben keine Muskelspindeln (May 2000, Stal 1987, 1990; Goodmurphy 1999), jedoch spindel-
153 7.2 · Zentral bedingte Einschränkungen der Gesichtsbewegungen
ähnliche Strukturen, deren Fuktion nicht eindeutig geklärt ist. Verschiedene Autoren sind der Ansicht (Dubner, Sessle, Storey 1987), dass Mechanorezeptoren in der Gesichtshaut die durch Kontraktionen hervorgerufenen Hautbewegungen registrieren. Diese sensorischen Impulse werden dann über den N. trigeminus zum Hirnstamm übertragen. Die Erklärung für die »fehlenden« Muskelspindeln wird in der Literatur kontrovers geführt. Eine Erklärung ist, dass die Gesichtsmuskulatur keine Dehnungsrezeptoren braucht, da im Bereich des Gesichts – im Gegensatz zur restlichen Skelettmuskulatur – keine Gefahr der plötzlichen Überdehnung besteht. > Beachte Was können wir im Gesicht selektiv bewegen, was nicht? Da die Gesichtsmuskulatur teilweise aneinander ansetzt, gibt es bei den meisten Menschen gezwungenermaßen Mitbewegungen, die physiologisch sind: 4 Normal ist es, wenn beim Rümpfen der Nase eine Falte an der Nasenwurzel, zwischen den Augenbrauen, entsteht oder die Oberlippe mit hochgezogen wird. 4 Nicht normal ist es jedoch, wenn beim verbalen Auftrag »Ziehen Sie die Stirn hoch« gleichzeitig die Nase gerümpft oder beim »Mundspitzen« das Auge geschlossen wird.
7.1.3
Funktionen der Gesichtsmuskulatur
Im Vergleich zum oft verwendeten Begriff »mimische Muskulatur« ist es sicher eher korrekt, über die Gesichtsmuskulatur zu sprechen, da sie ja auch noch andere Aufgaben erfüllt als unserem Gesicht nur einen bestimmten Ausdruck zu verleihen. Mimik bedeutet ja nichts anderes als Gesichtsausdruck, und dieser hat in der Regel mit Emotionen oder Kommunikation zu tun. In . Tab. 7.1 werden die verschiedenen Funktionen der Gesichtsmuskulatur in Alltagsbeispielen beleuchtet, um Verständnis zu schaffen für die mannigfaltigen Zusammenhänge, in denen wir diese aktivieren.
7.2
Zentral bedingte Einschränkungen der Gesichtsbewegungen
7.2.1
Die zentrale Fazialisparese und ihr klinisches Erscheinungsbild
Aufgrund der kontralateralen Innervation erhält der Stirnast des N. facialis bei einer zentralen Faziliasparese immer noch Informationen, d.h., Bewegungen wie Stirn hochziehen, Augenbrauen zusammenziehen und Augen-
. Tab. 7.1. Aufgaben der Gesichtsmuskulatur mit funktionellen Beispielen aus dem Alltag Funktion
Beispiele
Nonverbale Kommunikation
Stirnrunzeln, Lächeln, Augenzwinkern
Schutz
Reflektorisches Zukneifen eines Auges (z.B. bei einer plötzlich herannahenden Mücke beim Fahrradfahren) Blinzeln, wenn ein Fremdkörper ins Auge eingedrungen ist
Mundhygiene
Heben der Oberlippe beim Einführen der Zahnbürste Spannung der Wangen beim Ausspülen des Mundes
Artikulation
Vorwärtsbewegung der Lippen beim Formen von Vokalen wie »o« oder »u«
Nahrungsund Flüssigkeitsaufnahme
Abnehmen der Nahrung vom Löffel Lippenspitzen zum Ansaugen von Flüssigkeit Halten des Bolus beim Kauen zwischen den Molaren durch Spannung der Wange
Allgemeine Körperpflege
Anspannung des Platysma beim Rasieren, Eincremen
schließen sind symmetrisch möglich, es sei denn, es handelt sich um eine nukleäre Läsion im Hirnstamm, die sich klinisch wie eine periphere Lähmung zeigt. Neue Forschungsergebnisse legen nahe, dass nicht nur die Stirn kontralateral innerviert ist (Fischer et al. 2005), sondern auch Anteile des Mittel- und unteren Gesichts (. Abb. 7.3); für weiteres Studium wird May empfohlen.
7.2.2
Diffuse, zentral bedingte Störungen der Gesichtsbewegungen und ihr klinisches Erscheinungsbild
Betroffene Patienten, z.B. nach 4 Schädel-Hirn-Trauma, 4 Hirnblutung oder 4 hypoxischem Hirnschaden, leiden nicht an einer klassischen Fazialisparese. Ihre Gesichtsbewegungen sind jedoch aufgrund der Hirnschädigung in Qualität und/oder Quantität eingeschränkt. Oft entsteht der Eindruck, dass beide Seiten betroffen sind; bei genauerer Betrachtung können dennoch Unterschiede zwischen rechter und linker Gesichtsseite bestehen. Es finden sich eher generelle Einschränkungen des Bewegungsausmaßes, der Selektivität der Bewegungen, und es liegen ver-
7
154
Kapitel 7 · Die Behandlung des Gesichts – mehr als mimische Übungen
. Abb. 7.3. Diagramm der Anatomie des VII. Hirnnervs
7
änderte Tonusverhältnisse vor – von schlaff über hypoton bis hin zu hyperton. Teilweise kann man beobachten, dass die Stirn des Patienten konstant hochgezogen ist, was 4 entweder als Teil eines Extensionsmusters im gesamten Körper 4 oder als Versuch (Kompensation), sich gegen die Schwerkraft aufzurichten, interpretiert werden kann. Zeigt sich dieses Verhalten, ist nicht sicher, ob es sich um Aktivität des M. frontalis handelt, oder ob es eine Auswirkung des Extensionsmusters ist. In beiden Fällen ist es für den Patienten schwierig, seine Stirn zu entspannen oder eine Bewegung in die Gegenrichtung auszuführen, z.B. die Augenbrauen zusammenzuziehen. Bei der klinischen Untersuchung zeigt sich oft eindrücklich, dass neben verändertem Tonus auch stark veränderte Sensibiliät, Allodynie, Hyper- oder Hypoästhesie auftreten können, die dazu führen, dass Patienten 4 entweder deutlich (bei Allodynie, Dysästhesie und Hyperästhesie) oder
4 überhaupt nicht (Hypästhesie) auf Berührung im Gesicht reagieren. Beide Extreme verhindern normales sensorisches Feedback und damit eine »normale« motorische Antwort. Wie mit diesen klinischen Symptomen umgegangen und die Behandlung spezifisch darauf ausgerichtet werden kann, wird in 7 Kap. 7.3 besprochen. Unter der Lupe 4 Hyperästhesie: Überempfindlichkeit für Berührungsreize, die auch schmerzhaft sein können. 4 Hypästhesie: Umschriebene oder allgemeine Verminderung der Berührungs- und Drucksensibilität der Haut. 4 Allodynie: Schmerzempfindung, die durch Reize ausgelöst wird, die normalerweise keinen Schmerz verursachen. 4 Dysästhesie: Empfindungsstörung, abnorme Empfindung auf einen normalen Reiz hin, auch schmerzartig. Überempfindlichkeit auf äußere Reize oder Verminderung der Empfindlichkeit.
155 7.3 · Grundlegende Prinzipien von Untersuchung und Behandlung
! Vorsicht Im klinischen Alltag werden viele Patienten, die extrem auf Berührung und/oder Bewegung im faziooralen Trakt reagieren, als hypersensibel bezeichnet. Dieser Ausdruck bezeichnet jedoch ein psychologisches Phänomen, deshalb sollte man die korrekte Terminologie wählen.
7.3
7.3.1
Grundlegende Prinzipien von Untersuchung und Behandlung Die Untersuchung des Gesichts
Ziel der Untersuchung ist es, sich ein Bild über das sensorische Feedback und die Bewegungsmöglichkeiten des Patienten sowohl im sozialen Kontext (spontan) als auch bei verbaler Aufforderung zu machen. Außerdem gilt es, herauszufinden, mit welcher Art von Hilfen, z.B. taktiler, visueller oder auditiver oder einer Kombination daraus, der Patient Bewegungen funktioneller, selektiver, häufiger oder zielgerichteter ausführen kann. Mit eingeschlossen sind hier auch Hilfen bezüglich Unterstützungsfläche in einer Position oder Haltungskontrolle. Diese Informationen sind überaus wichtig, um Hypothesen über die zugrunde liegenden Ursachen für die Probleme zu bilden, messbare Ziele zu formulieren und einen Behandlungsplan mit oder für den Patienten zu erstellen.
7.3.2
Erarbeiten normaler Sensibilität und Bewegung in funktionellem Kontext
jArbeit an posturaler Kontrolle
Um selektive Bewegungen im Rahmen einer Aufgabe, z.B. Lippenpomade auftragen, ausführen zu können, braucht man Core Stability und Rumpfstabilität als Bestandteile posturaler Kontrolle. Bei Patienten mit neurologischer Schädigung ist diese Fähigkeit oft unzureichend und muss deshalb angebahnt bzw. ausgebaut werden. Dies geschieht 4 einerseits durch Positionierung oder Lagerung in einem für die Aktivität günstigen Alignment, 4 andererseits durch die Aktivierung des posturalen Systems durch Mobilisation, Führen von Bewegungen oder Fazilitation.
> Beachte Posturale Kontrolle ist die Fähigkeit, bei jeder Aktivität die Körperposition gegen die Schwerkraft zu kontrollieren. Nahezu jede Bewegung, die ein Individuum ausübt, entsteht durch zwei Komponenten: 4 Die eine, die den Körper stabilisiert, und 4 die andere als treibende Kraft, die mit einem bestimmten Bewegungsziel zusammenhängt (Massion u. Woollacott 1994, 2004). Als Core Stability bezeichnet man die reziproke CoAktivierung der tiefen posturalen Muskeln (Extensoren und Flexoren im unteren Rumpf ), um die Kontrolle gegen die Schwerkraft und für bevorstehende Extremitätenbewegungen aufzubauen. Core Stability stellt ein stabiles Alignment, eine Körperausrichtung in den einzelnen Körpersegmenten her und minimiert dadurch das Bewegungsausmaß im unteren Rumpf, so dass die Körperteile (oberer Rumpf, Kopf und Extremitäten) sich selektiv bewegen können (Hodges u. Richardson 1997).
jAusgangsstellung Die Wahl der Ausgangsstellung spielt eine wichtige Rolle:
4 In einer Position, die dem Patienten zuviel Unterstützungsfläche anbietet, wird dieser diese annehmen und darauf reagierend eher passiv sein. 4 In einer Position mit zuwenig Unterstützung wird bei unzureichender posturaler Kontrolle die Qualität und/ oder Quantität der Bewegung in der Aktivität leiden. Hier gilt das Prinzip der Evaluation der »Antwort« des Patienten: Reagiert der Patient so, wie man es erwartet oder beabsichtigt hat? Wenn das nicht der Fall ist, gilt es, entweder die Umwelt, die Aufgabe oder die therapeutische Intervention zu verändern – qualitativ oder quantitativ. Beispiel Ein typisches Dilemma aus der Praxis: Der Patient wurde aufgrund mangelnder posturaler Kontrolle für die Behandlung in Seitlage gelagert – und schläft ein. Da dies keine hilfreiche Voraussetzung für das Wiedererlernen normaler Gesichtsbewegungen ist, entschließt sich der Therapeut, den Patienten an die Bettkante zu mobilisieren, um über die Veränderung der Körperposition und die Aktivierung des posturalen Systems die Vigilanz zu steigern. Dies gelingt ihm auch. Der Patient öffnet die Augen, als er aufgesetzt wird, hält seinen Kopf und stützt sich mit der rechten Hand ab. Nun besteht die Herausforderung darin, den Sitz auf der eher unstabilen Bettkante mit vergleichsweise wenig Umwelt so zu modifizieren, dass der Patient aktiv und sicher sitzt und nicht all seine Kapazität darauf verwenden muss, 6
7
156
Kapitel 7 · Die Behandlung des Gesichts – mehr als mimische Übungen
sich gegen die Schwerkraft aufrecht zu halten, denn das wird ihm die Chance nehmen, selektive Gesichtsbewegungen hervorzubringen. Der Therapeut muss nun geeignete Maßnahmen ergreifen wie z.B.: 4 Unterstützung des Patienten im Rücken durch Packs und/oder Kissen, 4 Angebot einer stabilen Unterstützung von vorne durch einen Tisch, 4 Kieferkontrollgriff etc. oder 4 er muss den Patienten auf einen Stuhl transferieren und stabile Umwelt durch eine seitliche Wand und einen Tisch von vorne vermitteln.
7
Manch ein gesunder Mensch erkennt sich vielleicht in Ansätzen wieder: Sitzen oder liegen wir über längere Zeit, ohne uns zu verändern, werden wir müde. Automatisch beginnen wir uns dann oft zu strecken, oder wir stehen auf und gehen – wenn das möglich ist – ein wenig umher. Mit Patienten befinden wir uns oft in dem Dilemma, dass sie einerseits nicht lange in einer sog. »niedrigen« Position mit viel Unterstützungsfläche, wie es bei der Seitlage der Fall ist, bleiben können, ohne einzuschlafen, andererseits ist ihre posturale Kontrolle in höheren Ausgangsstellungen, wie z.B. dem Sitz, so unzureichend, dass das Sitzen nur im Mal-Alignment, einer ungünstigen Anordnung der einzelnen Körperteile zueinander, möglich ist und eher passiven Charakter hat. Zwei Dinge gilt es zu verinnerlichen: 4 Haltung ist angehaltene Bewegung, und wir müssen den Patienten zwischendurch immer wieder bewegen, um höhere Ausgangspositionen dynamisch-stabil und somit aktiv zu gestalten. 4 Besonders in sog. »höheren« Ausgangsstellungen wie Sitz oder Stand müssen wir dafür sorgen, dass der Patient genug Unterstützung hat, entweder durch Lagerungsmaterial, die natürliche Umwelt (Tisch, Wand etc.) und/oder unsere Hände!
Gelingt es nicht, die Überaktivität zu reduzieren und diese »Ruhe« zu schaffen, kann es sein, dass man die in ihrer Beweglichkeit und Gleitfähigkeit eingeschränkten Gesichts- und Zervikalnerven und/oder bereits verkürzte Muskeln mobilisieren muss (. Abb. 7.4). jMobilisation neuraler Strukturen und Muskeln
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Ein Muskel ist nur so gut, wie der Nerv, der ihn versorgt! (Rolf 2000)
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Die Mobilisation des Nervensystems (Butler 1995, Elvey 1997) ist ein ursprünglich aus der Manualtherapie verbreiteter Ansatz zur Befundaufnahme und Behandlung neuraler Gewebe. Vielen Physiotherapeuten ist bewusst, dass sie das Nervengewebe nach einer Läsion direkt (durch die Anwendung neurodynamischer Tests, Palpationstechniken am Nerv selbst) oder indirekt (durch Mobilisation, Aktivierung von Muskulatur oder Positionskorrekturen) beeinflussen können. Da das Nervensystem alle Muskeln, das Bindegewebe, alle Organe, Bandscheiben, Knochen und Gelenke und letztlich auch das nerveneigene Bindegewebe (kurz Zielgewebe genannt) innerviert, erscheint es offensichtlich, dass erhöhte Spannung und verminderte Mobilität im Nervensystem nach einer Läsion (patho-neurobiomechanische und patho-neurophysiologische Veränderungen) fatale Folgen für Tonus, sensible Rückmeldung und selektive Bewegung haben. Die F.O.T.T. als neurophysiologisches Konzept, das aus der empirischen Arbeit mit Patienten entstanden ist und sich ständig weiterentwickelt, ist offen für neue Einflüsse und damit auch offen für andere Ansätze, die den Men-
jErhalten/Wiederherstellen von Symmetrie
Bei einer Fazialisparese neigt die nicht-betroffene Seite zu Hypertonie und Überaktivität. Das kann dazu führen, dass aus einer nicht-betroffenen Seite eine weniger betroffene Seite wird. Die damit entstehende zusätzliche Verstärkung der Asymmetrie ist ein Hindernis für jegliche normale Bewegung. Daher ist es wichtig, als Ausgangspunkt oder Basis eine Art »Ruhe« im Gesicht zu schaffen, durch 4 Wahl einer geeigneten Ausgangsposition, 4 Unterstützung für Kopf und Kiefer oder 4 flächigen Kontakt durch die Hände des Therapeuten oder des Patienten selbst auf der überaktiven Muskulatur.
. Abb. 7.4. Eine Kurssituation: Die Patientin sitzt im angelehnten Langsitz mit Unterstützung durch Kissen auf der Behandlungsbank. Kursteilnehmer fazilitieren die Patientin, die Überaktivität in der Stirn (M. occipitofrontalis) mit ihrer eigenen Hand zu reduzieren. Aufgrund der vorherrschenden Extension ist der Nacken in Flexion gebracht
157 7.3 · Grundlegende Prinzipien von Untersuchung und Behandlung
schen ganzheitlich betrachten und behandeln. Seit einiger Zeit wird in der F.O.T.T. dem Aspekt der Neurodynamik, der Mobilisation des Nervensystems (Rolf 2001), für selektive Bewegung und normale Funktion im fazio-oralen Trakt große Aufmerksamkeit zuteil, die aus der Untersuchung und Behandlung der Patienten nicht mehr wegzudenken ist. Die Neurodynamik stellt eine Bereicherung dar, weil sie eine Möglichkeit bietet, die neuralen Strukturen zu beeinflussen. Die Mobilisation des Nervensystems kann in der Therapie sowohl im Bereich der Körperfunktions- als auch der Aktivitäts- und Partizipationsebene stattfinden. Für normale Bewegungen und normales Spüren im Gesicht spielen der N. facialis, N. trigeminus, Neuraxis aber auch der Plexus cervicalis eine wichtige Rolle. Nach unserer klinischen Erfahrung können wir durch Palpationstechniken, wie transversales Verschieben oder Rollen der Nerven in ihrem Nervenbett bzw. Mobilisation der Nerven in ihrem Umgebungsgewebe, den Tonus, aktive Bewegungen, Sensibilität, Reagibilität und sogar Speichelsekretion beeinflussen. (Der N. facialis innerviert u.a. auch die Speicheldrüsen [Monkhouse 1990]). Ein anderer neuer Aspekt der Mobilisation des Nervensystems ist der der Kranioneurodynamik. Sie ist topographisch für die Kopf-, Nacken- und Gesichtsregion reserviert (von Piekartz 2001). Durch Veränderungen des den Nerv umgebenden Gewebes (neuraler Kontainer, Mechanical Interface z.B. durch Ödem, Narbenbildung, Hypertonus von Muskulatur) kann das Nervengewebe mechanischer Belastung ausgesetzt sein, die zu neuronaler Degeneration und Fibrotisierung führt (von Piekartz 2005). Hier kann es sich lohnen, das Umgebungsgewebe des Nervs, in unserem Fall das Gewebe des N. facialis zu mobilisieren (Umgebungsgewebe des N. facialis ist das Os temporale, Os petrosum und die mimische Muskulatur) oder das Umgebungsgewebe der Mm. occipitofrontalis, die Galea aponeurotica, die Sehnenplatte am Schädeldach. Die Mobilisation einzelner Muskeln oder Muskelgruppen im Gesicht, z.B. der Wangenmuskulatur, kann durchaus Sinn haben, wenn Muskeln aufgrund von Hyperaktivität chronisch verkürzt oder bereits kontrakt sind (neuropathische Kontraktur). Kontrakturen bedeuten Bewegungseinschränkungen, die normale Bewegung verhindern/erschweren und u.U. zu einem funktionellen Fehl- oder Übergebrauch (Over-use) von Muskeln führen können.
> Beachte Idealerweise führen neurale und/oder muskuläre Mobilisation zu verbesserter Qualität von Bewegungen im Sinne von 4 erhöhtem Bewegungsausmaß, 4 aktiver, selektiver Bewegung und/oder 4 erhöhter Wiederholbarkeit von Bewegungen aufgrund verbesserter sensibler Rückmeldung und/ oder Veränderungen bzgl. Alignment, Länge und Elastizität von Muskeln und/oder Nerven. Diese Qualitätsverbesserungen, im Anfangsstadium der Behandlung oft nur kurzfristig anhaltenden Veränderungen, gilt es nun funktionell zu nutzen, um den Übertrag (Carry- over) in den Alltag zu erleichtern und motorisches Lernen zu ermöglichen.
Dieses Vorgehen führt zu der Frage, wie man funktionelle Bewegungen im Alltag erleichtern und hervorrufen kann. jFazilitieren/Elizitieren normaler Bewegung in funktionellem Kontext
In der F.O.T.T. werden funktionelle Bewegungen in Aktivitäten des täglichen Lebens (AdL) fazilitiert oder elizitiert. Dies geschieht u.a., um nicht hilfreiche kompensatorische Bewegungen zu vermeiden, Bewegungen zu bahnen oder Bewegungsansätze zu unterstützen, aber auch, um Patienten die Frustration zu ersparen, eine Aufgabe nicht meistern zu können. ! Vorsicht Bekommt ein Patient mit einer Fazialisparese nur ein Blatt mit Aufgaben oder verbale Anweisungen, um Bewegungen auszuführen, wird er in Stress geraten, wenn er keine Fortschritte sieht. Stress und Frustration blockieren das Großhirn1. Wir alle wissen, dass Lernen mit Erfolgserlebnissen leichter möglich ist.
Ausgehend von der Annahme, dass menschliches motorisches Verhalten abhängig ist von kontinuierlicher Interaktion zwischen dem Menschen, seiner Umgebung und der Aufgabe (Shumway- Cook u. Woollacott 1995), ist der Behandelnde aufgefordert, die Umwelt, die Aufgabe und die Unterstützung für den Patienten konstant so zu gestalten, dass normale Bewegung erleichtert und das Ziel erreicht wird. Dazu bedient man sich sowohl des Fazilitierens als auch des Elizitierens von Bewegungen.
1 http://www.lernspuren.de/lernberatung_publikationen.html
7
158
Kapitel 7 · Die Behandlung des Gesichts – mehr als mimische Übungen
> Beachte Fazilitation, die Bahnung, Erleichterung (neuro)muskulärer Bewegungen, erfolgt taktil durch manuelle Unterstützung des Patienten. Sei es, dass 4 der Patient stabilisiert wird, um bestimmte Bewegungen ausführen zu können, oder 4 durch spezifisches Handling Muskeln oder Muskelgruppen aktiviert werden, die der Patient ohne fremde Hilfe nicht selbst aktivieren könnte.
7
Elizitieren (engl. to elicite; entlocken, hervorlocken) von Bewegungen bedeutet, den Patienten zu einer Bewegungen zu verhelfen, z.B. durch 4 das Anpassen der Aufgabe, der Umwelt oder 4 spezifische Hilfen, die taktil, verbal oder visuell sein können.
Wir erleben immer wieder, dass verbale Kommandos im Umgang und in der Arbeit mit hirngeschädigten Patienten dazu führen, dass keine motorische Antwort möglich ist, oder dass eine »falsche« Antwort kommt. Coombes (2008, persönlicher Kontakt) erklärt dies damit, dass der Patient nur die abnormen Bewegungen oder Bewegungsmuster, die ihm zur Verfügung stehen, abrufen kann. i Praxistipp Im klinischen Alltag sehen wir, dass es vielen Patienten leichter fällt, funktionelle Bewegungen oder Bewegungsmuster auszuführen, wenn diese fazilitiert, elizitiert bzw. beide Methoden kombiniert angewendet werden oder der Aufgaben- bzw. Alltagsbezug hergestellt wird. Auch der Carry-over, also der Übertrag des Erlernten in den Alltag, ist oft eher möglich, wenn das Lernen bereits im Alltagskontext stattgefunden hat (7 Kap. 3)!
Beispiel Die verbale Aufforderung »Bringen Sie die Lippen aufeinander« führt zu nicht erfolgreichen Suchbewegungen. Wird der Patient dagegen geführt, die Lippenpomade zu öffnen und aufzutragen, führt er oft spontan und symmetrisch die geforderte Bewegung aus. Wird also statt der verbalen Aufforderung »Bringen Sie die Lippen aufeinander« (interner Fokus), die Aufmerksamkeit mit den Worten »Cremen Sie sich die Lippen ein« auf die Aufgabe gelenkt (externer Fokus), bringt der Patient im Rahmen des Tuns die Lippen u. U. von selbst aufeinander (7 Kap. 3). Die Aufgabengestaltung elizitiert die gewünschte motorische Antwort.
möglichst zu vermeiden sind. . Tab. 7.2 zeigt mögliche Komplikationen und Lösungsvorschläge auf.
7.3.4
Immer wieder wird über den Einsatz von thermischer Stimulation (Kälte) und Vibration (z.B. mittels elektrischer Zahnbürste) diskutiert. Allgemein gesprochen, steigert die thermische Stimulation mit Kälte – bei kurzer Anwendungsdauer – den Tonus, dies jedoch nur solange eine Differenz besteht zwischen der Temperatur des Reizes und der Temperatur des Gewebes. Diese Wirkung hält nicht länger an als die Anwendung selbst (Miglietta 1973). Es kommt also darauf an, diese kurzzeitige Tonuserhöhung für das Erreichen einer verbesserten Funktion zu nutzen und dem Patienten somit die Möglichkeit für ein stärkeres sensomotorisches Feedback zu geben. Um diese allgemein gültige Wirkung auf die Behandlung des Gesichts zu übertragen, wird der Patient nach der Stimulation der Lippen und Wangen mit Kälte direkt anschließend in einer Bewegung/funktionellen Aktivität unterstützt, z.B.: 4 Ansaugen von Flüssigkeit aus einem Strohhalm, 4 Trillern auf einer Trillerpfeife, 4 Halten eines Spatels zwischen den Lippen oder 4 Lippenspitzen. Spezielle Untersuchungen über die Anwendung von Eis im Gesicht finden sich unseres Wissens nicht. In der Literatur gibt es keinen einheitlichen Konsens über die Wirksamkeit von Vibration, dieses Thema ist außer im Bereich »Training für Hochleistungssportler« relativ unerforscht. Um Muskeln optimal zu aktivieren, sollte eine Frequenz zwischen 30–50 Hz benutzt werden (Luo 2005). Die häufig verwendeten elektrischen Zahnbürsten haben Frequenzen zwischen 80–250 Hz. Aus klinischer Erfahrung lässt sich sagen, dass Menschen unterschiedlich auf Vibration reagieren und darum individuell entschieden werden muss, ob diese Technik sinnvoll eingesetzt werden kann. Auch zum Thema Elektrotherapie und Akupunktur gibt es unterschiedliche und zu wenige aussagekräftige Angaben in der Literatur (Targan 2000, Gittins 1999, Teixeira 2008, He et al. 2009, Zhou et al. 2009, Wang 2009).
7.3.5 7.3.3
Prophylaxe von Komplikationen
Bei zentraler Fazialisparese können Komplikationen auftreten, die einer Regeneration im Weg stehen und deshalb
Einsatz verschiedener Techniken
Hilfen für den Alltag
Im Sinne des Patienten und des 24-Stunden-Managements müssen wir in Zeiten immer knapper werdender ökonomischer und personeller Ressourcen darüber nachdenken, wie wir:
159 7.3 · Grundlegende Prinzipien von Untersuchung und Behandlung
. Tab. 7.2. Mögliche Komplikationen und Lösungsvorschläge zu deren Minimierung oder Vermeidung Komplikation
Lösungsvorschläge
Überaktivität der weniger betroffenen Seite
Neurale Mobilisation des N. facialis, Mundstimulation mit Mobilisation der überaktiven Wangenmuskulatur Bewegungen in Gegenrichtung zur Überaktivität fazilitieren
Kontrakturen in der Muskulatur der überaktiven, weniger betroffenen Seite
Mobilisation der überaktiven Muskulatur, verhindern/begrenzen der Überaktivität durch Optimieren der Ausgangstellung Einsatz der Hände von Patient oder Therapeut zum Inhibieren der Überaktivität und zum Vermitteln taktiler Inputs (Kontakt) Anstelle unkritischen Übens von Bewegungen in unkorrigierter Stellung, Tonusregulation und Fazilitation auf der mehr betroffenen Seite Generelles Vermeiden von Bewegungen/Aktivitäten am sensomotorischen Limit des Patienten ohne ausreichende Unterstützung, z B. Treppe gehen, stehen, Körperpflege im freien Raum
Bei peripheren oder nukleären zentralen Paresen mit Beteiligung des Augenlids: Infektionen und Austrocknung des Auges
Patienten in der Therapie/Pflege bei täglichen Verrichtungen helfen, das Auge regelmäßig zu schließen (. Abb. 7.7) Augentropfen/-salbe Sonnenbrille, Schutz vor Zugluft und Fremdkörpern, z.B. Staub Nachts den vollständigen Augenschluss unterstützen/herbeiführen
Bisswunden in der Wangentasche bei fehlender oder zu hoher Spannung in der Wange (M. buccinator)
Tonusregulierung/Aktivierung der mehr betroffenen Seite taktilen Input geben, z.B. durch Mundstimulation
Entzündungen, Aphten aufgrund liegengebliebener Nahrungsreste durch fehlende Aktivität/Sensibilität in der Wange
Regelmäßige Mundhygiene nach jedem Essen Patienten auf Reste in der Wange aufmerksam machen Mundstimulation, therapeutisches Essen
Kontraktur der Muskulatur
Beweglichkeit der Strukturen erhalten und Erweiterung des bereits eingeschränkten Bewegungsausmaßes
4 den Patienten oder seine Angehörigen/Betreuer anleiten können, sich selbst im Gesicht zu mobilisieren und/oder zu entspannen; 4 den Patienten, während er spricht, isst, Zähne putzt und seinen Speichel schluckt, unterstützen, Überaktivität und Asymmetrie im Gesicht vermeiden zu können, um ihm somit zu normalerem sensiblen Feedback zu verhelfen; 4 den Patienten in Zeiten, in denen er ruht, fernsieht oder sich anderwertig beschäftigt, positionieren/ lagern; 4 uns während der Kommunikation mit dem Patienten bewusst so platzieren, dass wir auf gleicher Augenhöhe mit ihm sind oder etwas unterhalb seiner Augenhöhe, um durch Extension und/oder Rotation des Kopfes keine Überaktivität im Gesicht zu provozieren; 4 wichtige Maßnahmen wie Heimprogramme, Augentropfen, Verbände und Beobachtungen des Personals oder betreuender Personen im Team für alle zugänglich machen und dokumentieren können. (Beispiele, . Abb. 7.5–7.9)
. Abb. 7.5. Patient mit peripherer Fazialisparese links, sitzend. Das untere Augenlid hängt und wird durch das Gewicht der hypotonen Wange zusätzlich noch nach unten gezogen. Es besteht Infektionsgefahr für das Auge. Die Funktion des Augenschlusses wird zusätzlich erschwert
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160
7
Kapitel 7 · Die Behandlung des Gesichts – mehr als mimische Übungen
. Abb. 7.6. Zwei Steristrips, über Kreuz geklebt, können als Alternative zum Uhrglasverband intermittierend benutzt werden, um das Augenlid an seine Normalposition anzunähern und damit zu schützen
. Abb. 7.8. Patient mit peripherer Fazialisparese links, sitzend (Kurssituation): Die Therapeutin hemmt die überaktive rechte Seite und fazilitiert die linke Seite, um symmetrisches Spitzen der Lippen zu erarbeiten
. Abb. 7.7. Patient mit peripherer Fazialisparese rechts in Rückenlage (Kurssituation): Das Gesicht wird mit den Händen der Therapeutin in einer geeigneten Ausgangsposition so unterstützt, dass das Auge rechts aktiv nahezu geschlossen werden kann. Die Hand der Kollegin an Kiefer und Wange hilft, Gesichtsmuskeln und Gewebe in die normale Position zu bringen
. Abb. 7.9. Die Therapeutin fazilitiert das Ansaugen der Flüssigkeit beim Trinken aus dem Kay-Coombes-Becher: Um zu verhindern, dass Flüssigkeit wieder aus dem Mund herausläuft, muss die Unterlippe an der linken Seite stabilisiert werden, um eine symmetrsiche Bewegung zu erhalten. Der Becher mit Aufsatz gibt der mehr betroffenen linken Seite außerdem sensorischen Input
7.3.6
Eigenprogamme: Wann? Mit wem? Wie?
jWann kommt ein Eigenprogramm infrage?
Ein Heimprogramm oder Eigenprogramm sollte bereits erstellt werden, wenn der Patient noch stationär behandelt wird, um die Intensität der Behandlung zu steigern. Ein Heimprogramm für die Zeit nach der Entlassung muss rechtzeitig erarbeitet werden, um sicherzugehen, dass der Patient korrekt nach der Anleitung vorgeht bzw. so gut spürt, dass er sie korrekt ausführen kann. Es liegt in der Verantwortung des Therapeuten, die individuell geeigne-
ten Positionen und Maßnahmen zu finden und den Patienten ausreichend anzuleiten und zu supervidieren, bevor er das Heimprogramm eigenverantwortlich (selbständig) ausführt. Geeignet sind Bilder oder Fotos, die mit kurzen, prägnanten Beschreibungen versehen werden. ! Vorsicht Ein generalisiertes, vorgefertigtes Übungsblatt kann nicht das individuelle Heimprogramm ersetzen und wird häufig der Problematik des Patienten nicht gerecht.
Wenn der Patient aufgrund seiner Schädigung nicht in der Lage ist, ein Heimprogramm selbständig auszu-
161 7.4 · Die periphere Fazialisparese
führen, kann dieses auch mit Angehörigen erarbeitet werden. jWer soll ein Eigenprogramm erhalten? Ein Eigenprogramm ist indiziert, wenn der Patient über
die perzeptiven, sensomotorischen und kognitiven Fähigkeiten verfügt, die unter Anleitung erlernten Positionen einzunehmen sowie Bewegungen und Aktivitäten durchzuführen, ohne dass assoziierte Reaktionen und Hyperaktivität auf der weniger betroffenen Seite auftreten. Patienten mit zentralen Läsionen haben oft Störungen des Gedächtnisses, der räumlich-konstruktiven Leistungen, des Sehvermögens und generell veränderten Tonus und Sensibilität. Diese Faktoren können verhindern, dass ein Eigenprogramm korrekt ausgeführt wird. In diesem Fall müssen die Umweltfaktoren oder Ressourcen des Patienten geprüft werden, z.B., ob es Angehörige oder andere betreuende Personen gibt, die ihn anleiten können. jWie kann ein Eigenprogramm aussehen? Ein Eigenprogramm könnte folgende Elemente enthalten: 4 Korrekte Ausgangsposition: Der Patient sitzt auf
einem Stuhl am Tisch mit aufgerichtetem Becken. Er stützt mit der weniger betroffenen Hand seinen Kopf an der rechten Wange, um die bestehende Überaktivität zu hemmen und eine symmetrische Ausgangsposition zu gewährleisten. Der Ellenbogen ruht dabei auf dem Tisch. 4 Der Patient führt an sich selbst die Mundstimulation durch und entspannt mit zwei – in der Therapie erarbeiteten – spezifischen Handgriffen die überaktive Wangenmuskulatur der weniger betroffenen Seite. Die Innenseite der mehr betroffenen Wange wird ebenfalls spezifisch mobilisiert und stimuliert. Danach führt der Patient verschiedene Lippen- und Wangenbewegungen aus, die er maximal 5-mal hintereinander wiederholt. Bei überaktiver Wangen- und Lippenmuskulatur der weniger betroffenen Seite empfiehlt es sich, Bewegungen auszuführen, die in die Gegenrichtung der Überaktivität gehen, z.B. das Schließen und Spitzen des Mundes, das Schieben der Oberlippe über die Unterlippe und umgekehrt (7 Kap. 7.3.2).
7.4
Die periphere Fazialisparese
7.4.1
Typisches klinisches Erscheinungsbild
Bei einer peripheren oder infranukleären Läsion ist die gesamte kontralaterale Seite des Gesichts gelähmt. Im Gegensatz zur supranukleären Läsion kann der Patient weder die Stirn runzeln noch das Auge schließen. Das Auge ist potenziell gefährdet, da weder das Blinzeln noch der voll-
ständige Augenschluss möglich sind. Die ständige Befeuchtung und Reinigung des Auges durch den Lidschlag fehlt, es trocknet aus, und dadurch kann die Hornhaut in Mitleidenschaft gezogen werden. Auch gegen Wind, Staub, andere Fremdkörper oder grelles Licht kann sich das Auge nicht schützen. Es ist häufig gerötet oder sogar entzündet. Das Unterlid hängt und die Tränenflüssigkeit rinnt heraus, die zusätzlich die Haut unter dem Auge reizen kann. Dies hat auch Auswirkung auf die Körperhaltung, um dem Auge mehr Schutz zu bieten: Der Kopf wird schräg gehalten und der Körper leicht verdreht. Ständig wird die Hand zum Auge gebracht, um dieses zu schließen oder die Tränen wegzuwischen. Essen, Trinken und Mundpflege sind deutlich erschwert. Der Betroffene zieht sich deshalb oft aus seinem sozialen Umfeld zurück.
7.4.2
Welche Unterschiede gibt es in der Behandlung zur zentralen Lähmung?
jUrsachenforschung
In der klinischen Untersuchung wird die Art der Fazialislähmung festgestellt. Ist es eine periphere Läsion, muss nach der Ursache geforscht werden. Ursachen einer peripheren Fazialislähmung können sein: 4 Virale und bakterielle Infektionen (z.B. Herpes simplex, Herpes zoster, Borrelien, Lues, HIV), 4 Tumoren, 4 Nervenentzündungen, 4 Frakturen (z.B. Felsenbeinfraktur) oder chirurgische Eingriffe (z.B. Operation eines Akustikusneurinoms). Bei 50% der Fälle bleibt die Ursache jedoch ungeklärt, dann wird von einer idiopathischen Fazialisparese gesprochen. jBefundung
Im Verlauf der Erkrankung können zusätzliche Diagnoseverfahren wie 4 Schichtaufnahmen des Kopfes (MRI) oder 4 Überprüfung des Nervs (Elektroneurographie) notwendig sein, um eine prognostische Aussage machen zu können. Eine traumatische Läsion sollte nach Verletzung klassifiziert werden (. Tab. 7.3). Ebenso sollte ein Assessment genutzt werden, um den Verlauf zu dokumentieren. Je nach Verletzung bzw. Behandlungsart können verschiedene Assessments gewählt werden (z.B. House-Brackmann-Scale, May, Peitersen, Adour und Swanson, Ross etc.) (Coulsen 2005, de Ru 2006). Von Vorteil ist eine einfache, gut durchführbare Skala, die auch Synkinesien, unerwünschte Mitbewegungen, erfasst. Über
7
162
Kapitel 7 · Die Behandlung des Gesichts – mehr als mimische Übungen
. Tab. 7.3. Klassifikation von Verletzung und Erholung Schädigungsgrad
Pathologie
EEMGAntwort in % des Normalen
Neurale Erholung
Klinische Erholungszeichen
Spontane Erholung ein Jahr nach Verletzung
1
Kompression, Verletzung des Axonplasmas, keine morphologischen Veränderungen (Neurapraxia)
100
Keine morphologischen Veränderungen sichtbar
1–3 Wochen
Gruppe I: Komplette Erholung (kein Auftreten von Fehlinnervation)
2
Kompression persistiert. Erhöhter intraneuraler Druck. Verlust von Axonen, aber endoneurale Hülle bleibt (Axonotmesis)
25
Axone wachsen in die intakte endoneurale Hülle mit einer Wachstumsrate von 1 mm/Tag; dies ist der Grund für die verlängerte Erholungszeit von Verletzungsgrad 2 im Vergleich zu Grad 1; bei Verletzungsgrad 3 ist inkomplette Erholung einiger Fasern möglich
3 Wochen bis 2 Monate
Gruppe II: Gute Erholung (einige Unterschiede sind bemerkbar bei willkürlichen oder spontanen Bewegungen, minimales Auftreten von Fehlinnervation)
3
Intraneuraler Druck steigt an. Verlust der endoneuralen Hülle (Neurotmesis)
0–10
Durch den Verlust der endoneuralen Hülle haben die Axone die Möglichkeit, sich zu vermengen und aufzuspalten, was zu Mundbewegungen mit Augenschluss (als Synkinesie bezeichnet) und Massenbewegungen führt
2–4 Monate
Gruppe III–IV: Befriedigende bis wenig Erholung (offensichtlich inkomplette Erholung mit lähmenden Deformitäten mit deutlicher Synkinesie, Spasmen, Massenbewegungen)
4
Wie oben plus Zerreißung des Perineurum (teilweise Durchtrennung)
0
Zusätzlich zu den Problemen von Schädigungsgrad 2+3 werden die Axone nun durch Narben blockiert und die Erholung behindert
4–18 Monate
Gruppe V: Schwerwiegende Schwäche (Synkinesien und Massenbewegungen selten/ kaum sichtbar oder nicht vorhanden)
5
Wie oben plus Zerreißung des Epineurum (komplette Durchtrennung)
0
Komplette Zerreißung mit narbengefüllter Lücke bildet eine unüberwindbare Barriere für das Nachwachsen und die Innervation der Muskeln
Keine
Gruppe VI: Keine Erholung (Tonusverlust, hängendes/schlaffes Gesicht)
7
(VI modifiziert nach House)
die medikamentöse Behandlung in der akuten Phase wird in der Literatur unterschiedlich geurteilt (Allan 2009). Wird eine Operation durchgeführt, sollte die nachfolgende Erholung ebenfalls erfasst und im Verlauf dokumentiert werden.
Ort der Läsion bzw. der Genese können sowohl das Ergebnis der Restitution als auch der Zeitrahmen variieren. Nach der Befundung wird festgelegt, wie das Auge tagsüber und bei Nacht geschützt werden muss. Hier ist die Zusammenarbeit mit einem Augenarzt vorteilhaft.
jTherapeutisches Vorgehen Zu Beginn erfolgt die Aufklärung des Patienten. Die In-
i Praxistipp
formationen müssen sowohl mündlich als auch schriftlich gegeben werden. Der Patient muss wissen, wie lange es dauern kann, bis es eventuell wieder zu Bewegungen kommen kann. Der Nerv wächst pro Tag 1 mm. Abhängig vom
Es geht nicht ausschließlich darum, das Auge möglichst gut zu schützen, sondern auch darum die Funktion des Auges wiederherzustellen. Ein Uhrglasverband schafft zwar eine »feuchte Kammer«, verhindert aber gleich6
163 7.5 · Ausblick
zeitig, dass der Augenschluss mit der Hand unterstützt werden kann. Hilfen zur Unterstützung des Essens und Trinkens werden besprochen: 4 Welche Hilfsmittel sind hilfreich? 4 Wo und wie kann sich der Patient selbst unterstützen, damit es nicht zu einer Überaktivität der nichtbetroffenen Seite kommt?
Ein spezielles Übungsprogramm wird erstellt, das die Hirn-Nerv-Muskel-Verbindung aufrechterhalten soll: 4 Solange noch keine aktiven Bewegungen möglich sind, wird der Therapeut durch Mobilisation aller Gewebe im Gesicht diese passiv beweglich erhalten. Die einzelnen Haut- und Gewebeschichten müssen gegeneinander verschiebbar bleiben, um später, wenn aktive Bewegungen wieder möglich sind, normale Bewegung zu ermöglichen (Vanswearingen 2008). 4 Darüber hinaus wird mit mentalem Vorstellen von Bewegungen gearbeitet. Dabei wird nur an die Bewegung gedacht, ohne sie motorisch durchzuführen. Die Bewegungsvorstellung, wie z.B. die Lippen sich bewegen/verhalten müssen, um den korrekten Ansatz für das Spielen einer Querflöte zu bieten, ist als eigenes Bewegungsmuster vielfältiger abgespeichert als die Vorstellung des Mundspitzens (7 Kap. 3). 4 Kehren aktive Bewegungen zurück, wird das Übungsprogramm modifiziert. Die Übungssequenzen sollten jedoch nur von kurzer Dauer sein – etwa 10 Minuten, um eine Überanstrengung der noch schwachen Muskulatur zu vermeiden und ungewollte Mitbewegungen (Overflow) zu verhindern (s.a. www.bellspalsy.ws). Ziel sind feine, fließende Bewegungen und keine Massenbewegungen. Dafür sollte der Patient jedoch mindestens 2- bis 3-mal täglich üben. ! Vorsicht Die Qualität der Bewegung ist wichtiger als die Quantität! Patienten müssen aufgeklärt werden, dass angestrengtes und übermäßiges Üben kontraindiziert ist. Dies ist häufig zu Beginn für die Patienten schwer einzusehen.
4 Ein Teil der Behandlungszeit wird immer darauf verwendet, das Gewebe (Muskeln, Haut, Bindegewebe) beweglich zu erhalten und die Nerven zu mobilisieren. Die neurale Mobilisation kann sowohl auf der betroffenen als auch auf der nicht-betroffenen Seite notwendig sein und sich – dem Verlauf aller Äste des N. facialis folgend – auf die Hals- und Schädelregion erstrecken. 4 Werden die ersten Reinnervationen sichtbar oder spürbar, muss das Übungsprogramm entsprechend angepasst werden. Die Erarbeitung der Symmetrie in
4
4
4
4
Ruhe ist Voraussetzung, um symmetrische Bewegungen zu fazilitieren. Das Üben vor dem Spiegel – um die Mitte wieder zu finden – muss zuerst in der Therapie ausprobiert werden, da nicht alle Menschen damit zurechtkommen, dass sie die Bewegungen spiegelverkehrt machen müssen. Sind Ansätze von Synkinesien sichtbar, sollte das Gewicht darauf gelegt werden, verstärkt selektive Bewegungen zu elizitieren. Dies geht am besten mit dem Vorstellen einer funktionellen Bewegung – ohne diese auszuführen (Hussemann u. Mehta 2008). Wahlweise lässt man den Patienten Bewegungen ausführen, die nicht alltäglich und routinemäßig ablaufen können, z.B. die Oberlippe nach vorne bringen und gleichzeitig von den Zähnen abheben. Dabei muss im Bewegungsspeicher/-repertoire »gesucht« werden, um diese neue Bewegung durchführen zu können. Dadurch kommt es zum optimalen sensorischen Feedback, da die Bewegung selbst initiiert und auf verschiedene Art versuchsweise durchgeführt wird (7 Kap. 3). Weitere Therapieansätze, wie z.B. EMG-Biofeedback, Botulinumtoxin, Akupunktur (Zheng et al. 2009) etc., können die Normalisierung der Gesichtsbewegungen unterstützen. Welche Ansätze zum Einsatz kommen, ist abhängig von den Symptomen und davon, wie der Patient auf diese Interventionen reagiert.
jOperative Möglichkeiten
Ist der Nerv definitiv nicht mehr funktionsfähig (. Tab. 7.3), z.B. nach Entfernung eines Akustikusneurinoms, bei dem der Nerv über eine längere Strecke entfernt werden musste, kann ein operatives Vorgehen gewählt werden. Verschiedene operative Eingriffe stehen zur Verfügung, z.B. 4 die mikrovaskuläre Nervendekompression, 4 selektive Myotomie, 4 die Nervenanastomosen, 4 die Muskelverpflanzungen des M. temporalis, M. masseter oder M. digastricus. Bei der Cross-face nerve Graft wird eine Substitution des nicht mehr funktionsfähigen Nervs, z.B. durch den Nerv der kontralateralen Seite oder durch den HypoglossusNerv vorgenommen. Zur Unterstützung des Augenschlusses am Oberlid können z.B. Gold- bzw. Titanimplantate zum Einsatz kommen. Für genauere Darstellungen und Erläuterungen sei dem Leser das Buch »The facial nerve« empfohlen.
7.5
Ausblick
Die Rehabilitation des Gesichts verlangt von Ärzten, Therapeuten und Pflegenden neben Empathie für den Pa-
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Kapitel 7 · Die Behandlung des Gesichts – mehr als mimische Übungen
tienten, Weitblick für die mannigfaltigen Probleme und Lösungsansätze auch die genaue Kenntnis der Anatomie und Physiologie, Erfassung der Symptome und deren Bedeutung für den Patienten sowie die Fähigkeit und den Willen, über die eigenen Fachgrenzen hinaus offen zu sein für Einflüsse aus anderen Fachgebieten. Dieses Kapitel soll ermutigen, sich mit dem Thema Gesichtsbehandlung auseinanderzusetzen. Unser Anliegen ist es, dem Leser zu verdeutlichen, dass der Gesichtsnerv nicht losgelöst von dem ihn umgebenden Gewebe betrachtet werden kann, und dass es wichtig ist, den Patienten und seine Symptome zu sehen und ihn als Individuum zu behandeln, anstatt die Diagnose »Fazialisparese« zu therapieren (Lindsay et al. 2010). In der Behandlung des Gesichts bei Patienten nach Schädel-Hirn-Trauma oder Schlaganfall fehlen Studien und Daten. Die Gründe können sein, 4 einerseits, dass es mit dieser Patientengruppe so schwierig ist, Studien durchzuführen, 4 andererseits, dass sich die Therapeuten eher und ausschließlich auf die orale Nahrungsaufnahme oder kognitive oder sensomotorische Probleme konzentrieren. Literatur Allen D, Dunn L (2009) WITHDRAWN: Aciclovir or valaciclovir for Bell’s palsy (idiopathic facial paralysis). Cochrane Database of Systematic Reviews (Online), no. 2:CD001869 Baumel JJ (1977) Trigeminal-facial nerve communications. Their function in facial muscle innervation and reinnervation. Archives of Otolaryngology (Chicago, Ill: 1960) 99, no. 1 (Januar 1974): 3444 Bischoff EPE (1977) Microscopic analysis of the anastomosis between the cranial nerves. University Press of New England, Hannover New Hampshire Butler DS (1995) Mobilisation des Nervensystems, Bd. 29. Rehabilitation und Prävention. Spinger, Heidelberg Coulson SE et al. (2005) Reliability of the «Sydney. Sunnybrook and House Brackmann facial grading systems to assess voluntary movement and synkinesis after facial nerve paralysis. Otolaryngology–Head and Neck Surgery: Official Journal of American Academy of Otolaryngology-Head and Neck Surgery 132(4):543549 De Ru JA et al. (2006) Grading facial nerve function: why a new grading system, the MoReSS, should be proposed. Otology & Neurotology: Official Publication of the American Otological Society, American Neurotology Society [and] European Academy of Otology and Neurotology 27(7):1030-1036 Dubner R, Sessle BJ, Storey AT (1978) The neural basis of oral and facial function. Plenum Press, New York Elvey RL (1997) Physical evaluation of the peripheral nervous system in disorders of pain and dysfunction. Journal of Hand Therapy: Official Journal of the American Society of Hand Therapists 10(2):122-129 Fischer U, Hess CW, Rösler KM (2005) Uncrossed cortico-muscular projections in humans are abundant to facial muscles of the upper and lower face, but may differ between sexes. Journal of Neurology 252(1):21-26
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7
8
Atmung und Stimme: wieder sprechen … Silke Kalkhof, Margaret Walker
8.1
Atmung
– 168
8.1.1 Zentrale Steuerung der Atmung – 168 8.1.2 Aspekte aus Anatomie und Physiologie – 169
8.2
Atem-Schluck-Koordination
8.3
Stimme
– 171
– 171
8.3.1 Zentrale Steuerung der Stimmgebung – 172 8.3.2 Aspekte aus Anatomie und Physiologie – 172
8.4
Einfluss von Körperhaltung und Muskeltonus
8.5
Grundsätzliche Überlegungen und Behandlungsprinzipien in der F.O.T.T. – 174
8.6
Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigung und einige Lösungsansätze – 175
8.6.1 8.6.2 8.6.3 8.6.4
Zentrale Störungen der Atmung – 176 Probleme mit Haltung und Bewegung – 176 Weitere Probleme, die die Atmung beeinflussen – 178 Auswirkungen pathologischer Atmung auf Stimme und Sprechen
8.7
Ausgangsstellungen für die Behandlung
8.7.1 8.7.2 8.7.3 8.7.4 8.7.5 8.7.6 8.7.7
Seitenlage – 186 Sitzen – 186 Stehen – 186 Rückenlage – 187 Bauchlage – 187 Teamarbeit und Anleitung – 187 Zusammenfassung – 188
Literatur
– 188
– 173
– 185
– 181
168
8
Kapitel 8 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …
Die Fähigkeit zu sprechen ist allein Menschen gegeben. Durch Atmung und Stimmgebung (Phonation) können wir neben anderen Faktoren wie Artikulation und Kognition miteinander in sozialen Kontakt treten. So können Wünsche, Bedürfnisse, Ängste mitgeteilt oder differenzierte Gedanken über verschiedene Themen ausgetauscht werden. Dies ist für die Kommunikation besonders wichtig. Sprechen scheint so einfach zu sein. Erst das Fehlen bzw. die Einschränkung dieser kommunikativen Möglichkeit, die bis hin zur sozialen Isolation führen kann, macht uns dies bewusst. Deshalb hat die Rehabilitation von Atmung und Stimme – und in Folge von Sprechen – in der F.O.T.T. einen großen Stellenwert. Eine fazio-orale Therapie darf nicht nur auf den Gesichts- und Mundbereich und den Schluckvorgang beschränkt bleiben. Die Funktionen Atmung, Schlucken und Stimmgebung sind eng miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Eine ökonomische Arbeitsweise ist nur koordiniert möglich. In der therapeutischen Arbeit erfahren wir die Komplexität des Zusammenspiels, wieviele Muskeln zusammenarbeiten und wieviel Koordination notwendig ist, um Stimme zu produzieren und Worte verständlich zu artikulieren. So gehört zur ganzheitlichen Diagnostik und Therapie der F.O.T.T. die Arbeit an der Verbesserung der Haltung, der Tonusverhältnisse, der motorischen und sensiblen Gegebenheiten des Gesichts- und Mundbereiches auch die Arbeit an Atmung, Stimmgebung und Sprechen. In diesem Kapitel werden typische Probleme schwer betroffener Patienten und Behandlungsansätze fokusiert.
8.1
Atmung
Nach der Geburt eines Babys entfalten sich die Lungen. Der erste Atemzug, der erste Schrei setzt ein, wenn die Haut des Kindes mit der Luft in Kontakt kommt. Der Mechanismus der Atmung wird ausgelöst. In . Übersicht 8.1 werden die drei wichtigen Aufgaben der Atmung genannt. . Übersicht 8.1. Aufgaben der Atmung 4 Lebensnotwendiger Gasaustausch 4 Schutz der unteren Atemwege 4 Stimmgebung
Im Säuglingsalter ist die Atem-Stimm-Koordination noch nicht ausgereift. Säuglinge produzieren Stimme – schreien – z.T. inspiratorisch, d.h. bei Einatmung, und sind noch nicht in der Lage, willkürlich die Luft anzuhalten. Die typische Schreiatmung ist durch eine kurze und tiefe Einatmung durch den Mund und eine langanhaltende Ausatmungsphase gekennzeichnet (Wendler u. Seidner 1987).
Die Kontrolle über Atmung und Stimmgebung – und somit die Möglichkeit, Bedürfnisse auszudrücken und zu kommunizieren – entwickelt sich im Laufe der Zeit mit zunehmender Reifung und der selektiven Bewegungsentwicklung. Der individuelle Atemrhythmus und die für das Sprechen und Singen notwendige Atemstütze verändern und entwickeln sich mit der physiologischen Sprach- und Sprechentwicklung. Aufgrund des Wachstums werden das Lungenvolumen (Atemkapazität) und dadurch bedingt auch die Dauer der Ein- und Ausatmungsphase immer größer. Frauen haben i.d.R. ein kleineres Lungenvolumen als Männer.
8.1.1
Zentrale Steuerung der Atmung
Die Atmung wird vom Atemzentrum in der Pons und der Medulla oblongata gesteuert. Dehnungsrezeptoren geben Informationen von der Lunge ans Gehirn weiter, Mechanorezeptoren geben die Informationen von allen Atemmuskeln weiter und Chemorezeptoren registrieren den ph-Wert, den Kohlensäure- und Sauerstoffpartialdruck im Blut. Das Atemzentrum verarbeitet diese verschiedenen afferenten Reize aus dem Organismus und leitet dann efferente Impulse zur gesamten an der Atmung beteiligten Muskulatur zurück und koordiniert ihre Bewegungen (Siemon et al. 1996). Während der Einatmung leiten die inspiratorischen Neurone Impulse weiter und die exspiratorischen Neurone sind gehemmt (reziproke Innervation). Exspiratorische Neurone innervieren die Ausatemmuskulatur nur bei forcierter (aktiver) Ausatmung (Husten, Sprechen etc.). Es gibt einen autonomen Grundrhythmus, der durch verschiedene Komponenten wie Angst, Trauer, ungewohnte Sprechsituation (limbisches System) etc. verändert werden kann (dies geschieht unbewusst). Eine Veränderung der Atmung spüren wir, wenn wir emotional erregt sind oder wenn wir unseren Körper stärker belasten wie z.B. beim Treppen steigen. Die Atmung verändert sich dann aufgrund des erhöhten Sauerstoffbedarfes. Das Atemsystem reagiert also auf emotionale und physische Gegebenheiten eines Menschen. > Beachte Die Atmung ist ein automatischer Prozess, der unbewusst geschieht. Sie ist aber auch willkürlich beeinfluss- und veränderbar.
Die Atmung ist zum Teil willkürlich beeinflussbar, sie kann bewusst gemacht werden. Da auch Nervenbahnen von höheren Gehirnregionen einschließlich des Kortex zum Atemzentrum ziehen, kann die automatische Atmung zu jedem Zeitpunkt willkürlich unterbrochen werden (Schultz-Coulon 2000).
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
169 8.1 · Atmung
8.1.2
Aspekte aus Anatomie und Physiologie
Beim Einatmen gelangt die Luft über die Nase oder den Mund in den Rachen und über den Kehlkopf, die Luftröhre und die Bronchien in die Lunge und deren Lungenbläschen. Dort findet der Gasaustausch statt. Sauerstoff gelangt mit der eingeatmeten Luft ins Blut und Kohlendioxid vom Blut in die auszuatmende Luft. Die Ruheatmung (Ein- und Ausatmung durch die Nase ohne Stimmgebung) besteht aus drei Phasen: 4 Einatmung, 4 Ausatmung und 4 Atempause. Das Ein- und Ausatemverhältnis beträgt ca. 1:1. Nach der Ausatmung entsteht eine kurze Atempause, ein kurzes Verharren der Atembewegung, bis zum erneuten Impuls zur Einatmung (wird durch die Konzentration von CO2 im Blut gesteuert). > Beachte Die Atemfrequenz eines Neugeborenen beträgt ca. 50 Atemzüge pro Minute. In den darauffolgenden Jahren nimmt die Atemfrequenz langsam ab. Bei Jugendlichen und Erwachsenen beträgt die Atemfrequenz ca. 15 Atemzüge pro Minute. Jeder Mensch hat seine eigene charakteristische, individuelle Atmung.
Man kann verschiedene Atemtypen unterscheiden (. Über-
willkürlich angehalten und danach weiterströmen kann. Das Verhältnis von Ein- und Ausatmung beträgt ca. 1:10 oder mehr. > Beachte Bei einem gesunden Erwachsenen beträgt die Tonhaltedauer ca. 15–20 Sekunden.
Beim Sprechen, aber besonders beim Singen ist die Atemstütze von Bedeutung. Da beim Sprechen und Singen längere und langsamere Luftabgabe erforderlich ist, wird bei der Ausatmung kurzzeitig noch die 7 Inspirationsmuskulatur aktiviert, so dass der Brustraum bei der Ausatmung anfänglich noch erweitert bleibt und so die Luft noch langsamer wieder ausströmen kann (Fiukowski 1992).
Einatmung Wichtigster Einatemmuskel ist das Zwerchfell (. Abb. 8.1). In . Übersicht 8.3 sind die Funktionen des Zwerchfells zusammengefasst. . Übersicht 8.3. Funktionen des Zwerchfells 4 4 4 4
Trennung des Brustraums vom Bauchraum Atmung (auch Spezialformen der Ausatmung) Mobilisation des Thoraxbereichs Druckgradient: wichtigste venöse, lymphatische Pumpe 4 Einfluss auf N. vagus, N. phrenicus 4 Unterstützt den Vorgang des Erbrechens
sicht 8.2).
. Übersicht 8.2. Atemtypen 4 Brustatmung (Thorakal- oder Kostalatmung) Hier vergrößert sich der Brustraum überwiegend durch die Veränderung der Rippenstellung (die Flankenatmung ist ein Teil dieses Atemtyps). 4 Zwerchfellatmung (Bauch- oder Abdominalatmung) Hier vergrößert sich der Brustraum überwiegend durch die Senkung des Zwerchfells. 4 Mischatmung (Kosto-abdominale Atmung) Physiologisch gesehen ist diese Kombination (aus Brust- und Bauchatmung) der günstigste Atemtyp.
Bei der Sprechatmung geht der größere Anteil der Ausatemluft durch den Mund, ein kleinerer Teil bei der Bildung von Nasallauten durch die Nase. Die Einatmung vertieft sich und beim Ausatmen kommt es darauf an, mit der Luft hauszuhalten, d.h. die Luft muss dosiert und kontrolliert abgegeben werden. Kontrolle bedeutet, dass der Atem
Beim kosto-abdominalen Atemtyp vollziehen sich folgende physiologischen Bewegungen: Nach einem Ausatemvorgang ist das Zwerchfell, das an der Wirbelsäule, am Brustbein (Sternum) sowie an den letzten drei Rippen ansetzt, entspannt. Bei der erneuten Einatmung kontrahiert die Zwerchfellmuskulatur und das Zwerchfell senkt sich. Das Volumen des Brustraums vergrößert sich nach unten, wobei ein Unterdruck in der Lunge ensteht, so dass Luft in die Lungen einströmen kann. Mit der Senkung des Zwerchfells wölbt sich die Bauchwand etwas vor, da die Bauchorgane vom Zwerchfell verdrängt werden. > Beachte Für eine effiziente Arbeitsweise des Zwerchfells spielen die Stellung der Rippen und der Tonus der Rumpfmuskulatur eine wichtige Rolle (7 Kap. 8.4).
Weitere Atemmuskulatur für die Einatmung ist die externe interkostale Muskulatur (Ehrenberg 1997, SpieckerHencke 1997). Die Lunge folgt der Bewegung der Thoraxwand und der Querdurchmesser sowie das Brustraumvolumen vergrößern sich. Die Funktion der externen Interkostalmuskulatur ist jedoch in der Literatur umstritten.
8
170
8
Kapitel 8 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …
. Abb. 8.1. Zwerchfell
Andere Autoren sehen diese Muskeln nicht als reguläre Einatemmuskeln an (Bunch 1997). In bestimmten Situationen (Sauerstoffmangel, Höchstleistung) wird auf die Atemhilfsmuskulatur (. Abb. 8.2) zurückgegriffen. Dazu gehören u.a. die Muskeln Mm. pectoralis major und minor, Mm. sternocleidomastoideus, Mm. serrati und Mm. scaleni. Diese bewirken ein Heben des Brustkorbs (Schultz-Coulon 2000).
Ausatmung Bei der Ausatmung in Ruhe entspannt sich das Zwerchfell wieder und hebt sich. Die elastischen Rückstellkräfte
von Lunge und Rippen und das Eigengewicht des Brustkorbs bewirken, dass in der Lunge ein Überdruck entsteht und die verbrauchte Luft ausgeatmet wird. Das Volumen des Brustraums verkleinert sich (Ehrenberg 1997). Dies wird durch das Eigengewicht des Brustkorbs unterstützt. Die Phase der Ausatmung in Ruhe ist ein passiver Prozess, da keine Muskeln 7 konzentrisch aktiv sind, d.h., es findet keine aktive Verkürzung der Muskulatur gegen die Schwerkraft statt. Die Einatemmuskulatur muss jedoch 7 exzentrisch nachlassen, d.h., die Muskeln verlängern sich aktiv mit der Schwerkraft. Für die forcierte Ausatmung beim Sprechen – ein aktiver Prozess – und bei größerer Anstrengung sind die Mm. intercostalis interni mitverantwortlich (dies ist in der Literatur ebenso umstritten, s. Bunch 1997). Sie bewirken eine Senkung der Rippen und des Sternums, so dass der Brustraumdurchmesser verkleinert wird. Zu den weiteren Ausatemhilfsmuskeln zählen die äußeren und inneren schrägen Bauchmuskeln sowie die geraden Bauchmuskeln. Wenn sie kontrahieren, werden die Bauchorgane zurückgedrängt und damit wird das Zwerchfell nach oben verlagert (Schultz-Coulon 2000). Dies hat zur Folge, dass sich der Brustraum verkleinert. > Beachte Spezielle Formen der forcierten Ausatmung sind: Husten, Niesen, Räuspern, Lachen, Weinen und Seufzen.
. Abb. 8.2. Atemmuskulatur und Atemhilfsmuskulatur
Die Bauchmuskulatur wird besonders beim Husten (natürliche Reinigungsfunktion für den Kehlkopf) eingesetzt. Ein zeitgleiches Zusammenspiel der Muskulatur ist dafür notwendig (Bauchpresse).
171 8.3 · Stimme
8.2
Atem-Schluck-Koordination
Ein Vorgang, der den Atemrhythmus beeinflusst bzw. unterbricht, ist der Schluckvorgang. Zu Beginn der pharyngealen Phase des Schluckvorgangs werden die Kehlkopfstrukturen nach oben und vorne unter den Mundboden gezogen. Gleichzeitig nähern sich die Stimmlippen und Taschenfalten einander an bzw. verschließen die Glottis und der Kehldeckel kippt über den Larynxeingang. Damit sind die unteren Atemwege geschützt und der Atemvorgang wird gestoppt. Der Schub der Zungenbasis und die peristaltische Pharynxwelle können den Bolus in Richtung Ösophagus treiben. Unter der Lupe Koordinationsmuster Verschiedene Autoren beschreiben ein Koordinationsmuster zwischen Atem- und Schluckvorgang (Selley et al. 1989, Smith et al. 1989). In diesen Studien differieren die Aussagen über die Phase vor dem Atemstopp. Bei einigen der Versuchspersonen (Selley et al. 1989) war der physiologische Rhythmus Einatmung – Atemstopp/Schlucken – Ausatmung. In anderen Studien (Klahn et al. 1999, Martin et al. 1994) wurde beobachtet, dass bei den meisten Versuchspersonen die Exspirationsphase bereits eingesetzt hat, wenn die Atemunterbrechung für den Schluckvorgang erfolgt (Klahn et al. 1999). In der Studie von Martin et al. (1994) wurde gezeigt, dass der Atemstopp vor der laryngealen Elevation einsetzt. Die Atmung wird dabei nicht einfach nur unterbrochen. Durch verschiedene sensorische Inputs, die auch über das Schluckzentrum geleitet werden, wird in der Regel ein neues Atemmuster – Ausatmen nach dem Atemstopp – initiiert (Selley et al. 1989). So ist ein Schutz der Atemwege am besten möglich.
i Praxistipp Werden Speichel oder Nahrung penetriert oder aspiriert, erfolgt eine Reinigung der Atemwege durch anschließendes Husten (bei Ausatmung). Das darauffolgende physiologische Nachschlucken verhindert, dass das hochgehustete Material wieder in die Luftröhre gelangt.
Weiterhin wurde festgestellt, dass bei älteren Menschen der Atemstopp etwas länger dauert als bei jüngeren Menschen (Selley et al. 1989). Hiss et al. (2001) stellten fest, dass Frauen einen längeren Atemstopp als Männer haben und dass die Größe des Bolus Auswirkung auf die Dauer des Atemstopps hat – je größer das Bolusvolumen desto länger der Atemstopp.
8.3
Stimme
Mit dem ersten Schrei des Babys nach der Geburt beginnt die Stimmentwicklung. Dieser Schrei wird in der Literatur mit ca. 440 Hz (Kammerton a) angegeben.
Im Verlaufe der Entwicklung des Säuglings werden verschiedene Schreiperioden unterschieden. Die erste Schreiperiode (in der ersten Beugephase) ist von unspezifischen Reflexschreien mit weichen Stimmeinsätzen gekennzeichnet und der Stimmumfang nimmt zu. In der zweiten Schreiperiode werden schon Lustschreie (weicher Stimmeinsatz) von Unlustschreien (harter Stimmeinsatz) unterschieden (Wirth 1995). Diese Schreie drücken durch Klangveränderung der Stimme Wünsche oder Reaktionen auf Hunger, Durst, allein sein, Kälte u.Ä. aus. Analog dazu entwickelt sich auch die anfänglich spontane Mimik (Ausdrucksbewegungen im Gesicht ohne bekannten Anlass) hin zur reaktiven Mimik (Herzka 1979). Dies eröffnet erste Möglichkeiten, die nonverbale Kontaktaufnahme mit der Umwelt oder die stimmlich ausgedrückten Bedürfnisse zu unterstützen. Im Rahmen der ersten motorischen Streckphase mit zunehmender Nackenstreckung entwickeln sich auch die Sprechorgane weiter. Es folgt die Lallperiode, in der erstmalig die Sprechorgane (als Vorbereitung zum späteren Sprechen) gebraucht werden. Vokale und Konsonanten bis hin zu sog. Lallmonologen werden produziert. Alle Kinder lallen zunächst unspezifische Laute. Mit voranschreitender Entwicklung ahmen die Kinder nur noch Laute und klangliche Elemente aus ihrer Umgebung (Sprachregion) nach. Dabei wird die Stimmbildung melodischer und rhythmischer (Wendler u. Seidner 1987). > Beachte Im Laufe der Entwicklung wächst der Mensch, und somit auch der Kehlkopf und seine Strukturen. Der Kehlkopf senkt sich, die Stimmlippen werden länger und kräftiger. Die Sprechstimmlage senkt sich weiter ab und die Stimmumfänge werden größer.
Eine besondere Form der Wandlung von der kindlichen zur erwachsenen Stimme stellt die Mutation (Stimmbruch) während der beginnenden Geschlechtsreife dar. Die Mutation beginnt zwischen dem 11. und 12. Lebensjahr und ist bei Jungen wesentlich deutlicher vernehmbar als bei Mädchen. Ursache ist der veränderte Hormonhaushalt, durch den sich die Stimmlippen verändern (Verbreiterung, Verlängerung, Massenzunahme). Außerdem tritt der Kehlkopf tiefer. Die Sprechstimmlage sinkt um ca. eine Oktave. > Beachte Der Stimmumfang bei Erwachsenen beträgt etwas weniger als zwei Oktaven (Biesalski 1994).
Die Stimmen von Sängern haben den größten (antrainierten) Stimmumfang. Bei Menschen, die einen Sprech- oder Sängerberuf haben, ist die Stimmhygiene besonders wichtig. Dazu ist eine besondere Stimmausbildung zum physiologischen Gebrauch der Stimme (Achten auf Haltung, Einsetzen der Atemstütze usw.) wichtig.
8
172
Kapitel 8 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …
Jeder Mensch hat seinen eigenen individuellen Stimmklang (Timbre). Er ist Teil unserer Identität. Mit
8
Atmung und Phonation verändern wir den Klang der Worte; wir können den Äußerungen einen ruhigen oder aber eine drohenden Charakter geben. Hierbei spielen auch die durch Atmung und Stimmgebung erzeugten und kontrollierten 7 prosodischen Elemente wie Tonhöhe, Lautstärke, Akzentuierung u.a. eine wesentliche Rolle. Im Alter finden Abbauprozesse im Körper statt. Kehlkopf und Stimmklang sind davon betroffen. Ein wesentlicher Faktor sind hormonelle Veränderungen (Wendler u. Seidner 1987). Es kann zu einer zunehmenden Verknöcherung des Kehlkopfes mit dem daraus resultierenden Elastizitätsverlust der Gelenke kommen (beginnend allerdings schon ca. mit dem 15. Lebensjahr). Weiterhin können die Stimmlippen atrophieren und die Schleimhaut kann sich verändern. Durch Muskelerschlaffung senkt sich der Kehlkopf und die Artikulationsräume erweitern sich. Aus diesen Umbauprozessen ergibt sich eine Senkung der Sprechstimmlage bei Frauen sowie eine Veränderung des Stimmklangs (nicht obligatorisch). Der Stimmumfang wird wieder geringer. Beim Sprechen kann die Stimme schneller ermüden (Wendler u. Seidner 1987). > Beachte Die Abbauprozesse im Alter können auch die Schlucksequenz beeinflussen.
8.3.1
Zentrale Steuerung der Stimmgebung
Die gesamte Kehlkopfmuskulatur wird vom N. vagus, dem X. Hirnnerv, innerviert. Die innere Kehlkopfmuskulatur wird motorisch vom N. laryngeus inferior (abzweigend vom N. laryngeus recurrens) und die obere Kehlkopfschleimhaut bis zu den Stimmlippen sensibel vom N. laryngeus superior versorgt. Der N. laryngeus superior versorgt noch den M. cricothyreoideus und weitere Muskeln motorisch. Die Schleimhaut des subglottischen Bereiches wird vom N. laryngeus inferior sensibel versorgt (Wirth 1995).
8.3.2
Aspekte aus Anatomie und Physiologie
Der Kehlkopf sitzt am oberen Ende der Luftröhre (. Abb. 8.3). Das Grundgerüst wird aus dem Schild- und dem Ringknorpel sowie den Stellknorpeln gebildet, die alle durch Bänder, Muskeln und Membranen miteinander verbunden sind. Ring- und Schildknorpel können gegeneinander gekippt werden. Diese Kippung bewirkt der M. cricothyreoideus, der die beiden Knorpel miteinander verbindet. Auf der Ringknorpelplatte gegenüber dem Schild-
. Abb. 8.3. Kehlkopfansichten. Ansicht von dorsal, Ansicht von kranial
knorpel sitzen die beiden Stellknorpel (Aryknorpel), die die Form von kleinen Pyramiden haben (Wirth 1995). Am Processus vocalis der Aryknorpel und an der gegenüberliegenden Mitte des Schildknorpels setzen die Stimmlippen an. Diese sind das eigentliche stimmbildende Organ. Die Stimmlippen setzen sich aus dem inneren Teil des M. thyreoarytaenoideus (dem M. vocalis) und dem Stimmband (Ligamentum vocale) zusammen. Der Stimmlippenspalt zwischen den beiden Stimmlippen wird Glottis genannt. Die paarig angelegten Muskeln müssen alle koordiniert und in einem angepassten Tonus zusammenarbeiten, um ein effektives Atmen, Schlucken und eine effiziente Stimmgebung zu ermöglichen.
Stimmgebung Die Stimmgebung wird durch die Stimmlippenschwingung erzeugt. Diese entsteht durch aerodynamische und myoelastische Kräfte. Um die Stimmlippen zum Schwingen zu bringen, muss bei geschlossener Glottis ein subglottischer Anblasedruck, den die Atemmuskulatur produziert, aufgebaut werden. Die Stimmlippenspannung ist entscheidend dafür, wann die Phonationsluft die Stimmlippen nach oben und seitlich drückt, so dass sich die Glottis öffnet (Spiecker-
173 8.4 · Einfluss von Körperhaltung und Muskeltonus
Henke 1997) und die Luft entweichen kann. Damit sinkt der Druck und die Stimmlippen schließen wieder (eine Schwingung). Dann wird sofort erneuter subglottischer Druck aufgebaut usw.. So kann bei der Phonation die Ausatemluft dosiert und kontrolliert werden. Das Stimmband (Schleimhaut) ist mit dem Stimmlippenmuskel nur locker verbunden und führt während des Schwingungsvorganges eine eigene Bewegung aus. Diese wird als Randkantenverschiebung bezeichnet (Spiecker-Henke 1997).
Ausatemluft strömt bereits, wenn die Stimmlippen zu schwingen anfangen (Wörter mit initialem »h«). 4 Weicher Stimmeinsatz: Die Stimmlippen liegen leicht aneinander an, und dann beginnt die Stimmlippenschwingung. 4 Fester Stimmeinsatz: Leichte Spannung der Stimmlippen, die aneinander anliegen und bei Phonationsbeginn voneinander abgesprengt werden (bei initialen Vokalen).
> Beachte Die Tonhöhe wird durch die Spannung der Stimmlippen erzeugt.
Schwingen die Stimmlippen in voller Länge und sind entspannt, wird ein tiefer Ton produziert. Je mehr Spannung die Stimmlippen haben, desto höher wird der produzierte Ton. Dazu sind verschiedene Mechanismen notwendig: Unter anderem bewirkt die Kippung des Schildknorpels eine Verlängerung und damit passive Spannung der Stimmlippen. Weiterhin werden durch die Aktivität der Zopfmuskulatur des M. vocalis (isometrische Kontraktion) die Stimmlippen schmaler (Massenabnahme). Bei höher werdenden Tönen steigt die Zahl der Schwingungen (Wirth 1995). Bei sehr hohen Tönen schwingt nur noch die Schleimhaut (Ligamentum vocale). Jeder Mensch hat seine eigene physiologische Sprechstimmlage (Indifferenzlage). Das ist der Tonbereich des Stimmumfanges, der mit dem geringsten Kraftaufwand für die gesamte Kehlkopfmuskulatur und mit dem geringsten Atemdruck erzeugt wird. Dieser Bereich liegt in den unteren zwei Dritteln des gesamten Sprechbereichs des jeweiligen Menschen (Fiukowski 1992). Die Lautstärke der Töne ist von den Schwingungsamplituden der Stimmlippen abhängig. Je größer der subglottische Anblasedruck ist, desto höher ist die Schwingungsamplitude und damit die Lautstärke. > Beachte Die Lautstärke wird durch die Höhe des subglottischen Anblasedrucks bestimmt.
Es gibt verschiedene Formen physiologischer Stimmeinsätze. Diese werden in . Übersicht 8.4 näher erläutert. . Übersicht 8.4. Physiologische Stimmeinsätze Zu Beginn der Phonation kann die Glottis unterschiedliche Formen haben. Diese beeinflussen den Stimmeinsatz. Es werden drei physiologische Stimmeinsätze unterschieden: 4 Gehauchter Stimmeinsatz: Die Stimmlippen sind einander angenähert und berühren sich nicht. 6
Beim Sprechen ist eine atemrhythmisch angepasste Phonation physiologisch. Der Atemrhythmus wird beim Sprechen durch Sinneinheiten des Textes beeinflusst; die Phrasenlänge wird dem individuellen Atemrhythmus angepasst. > Beachte Der primär durch die Stimmlippen gebildete Ton wird durch Rachen-, Mund- und Nasenraum sowie durch artikulatorische Aktivitäten verändert. Dabei wird auch die Qualität der Stimme beeinflusst. 4 Bei einer engen Stellung dieser Resonanzräume klingen die Töne gepresst. 4 Bei einer weiten Einstellung dieser Räume klingt die Stimme klar. 4 Hängt das Gaumensegel schlaff herunter, entsteht ein nasaler Laut wie bei »m«, »n« »ng«. Ist das Gaumensegel gespannt, entsteht ein Laut ohne nasalen Anteil wie z.B. »a«. Verschiedene Sprachen haben einen unterschiedlichen Grad an Nasalität.
8.4
Einfluss von Körperhaltung und Muskeltonus
Neben Mimik und Gestik sind auch Stimmgebung und Haltung (Körpersprache) entscheidend für den ersten Eindruck, den wir von einem Menschen gewinnen. Ist unsere Körperhaltung »gebeugt« und unsere Stimme leise und wenig tragend, signalisieren wir vielleicht, dass wir müde oder krank sind. Eine aufrechte Haltung und eine feste Stimme können z.B. eine starke Persönlichkeit vermuten lassen.
» Sprich damit ich sehe, wer du bist! « (Sokrates) Besonders wichtige Faktoren für die physiologische, ökonomische Atmung und Stimmgebung sind Haltung und Muskeltonus. Für gut entfaltete Atemräume sind eine aufgerichtete Körperhaltung und ein angepasster Körpertonus notwendig. Alle Körperabschnitte müssen sich über dem aufgerichteten Becken physiologisch ausrichten, d.h.
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174
Kapitel 8 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …
der Kopf darf nicht in hyperextendierter Stellung (überstreckter, kurzer Nacken) sein. Der Kopf muss unter Beibehaltung des »langen Nackens« leicht nach vorne geneigt sein (Kinn zur Brust). Während des Atmens erfolgt durch eine fein abgestimmte reziproke Innervation eine fließende Umkehrbewegung von Einatmung zu Ausatmung. > Beachte Einatmung geht immer mit dem Bewegungsmuster der 7 Extension/Streckung und Ausatmung mit dem Bewegungsmuster der 7 Flexion/Beugung einher.
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Dabei darf der Haltetonus des Körpers weder zu hoch (hyperton) noch zu niedrig (hypoton) sein, sondern es muss eine 7 dynamische Stabilität vorhanden sein (7 Kap. 4). So stabilisiert die Bauchmuskulatur den Brustkorb, indem sie in reziproker Innervation mit der 7 autochthonen Rückenmuskulatur den Brustkorb im Schwerkraftsfeld verankert und ausrichtet. Damit ist die Basis für eine dynamische Stabilität gegeben. > Beachte Erst das koordinierte Zusammenwirken von physiologischer Haltung und Bewegung sowie angepasstem Tonus ermöglicht eine effiziente, ökonomische Ausführung der Schlucksequenz, der Ruhe- und Sprechatmung, der Stimmgebung und des Sprechens.
8.5
Grundsätzliche Überlegungen und Behandlungsprinzipien in der F.O.T.T.
In der Ausbildung von Berufssängern ist die Bedeutung der Körperhaltung und ihr Einfluss auf die Atmung und Stimme schon lange akzeptiert (Bunch 1997). In der Therapie funktioneller Stimmstörungen hat die Körperarbeit mittlerweile einen großen Stellenwert (Spiecker-Henke 1997, Saatweber 2002). Leider haben diese Erkenntnisse bisher noch keinen großen Einfluss auf die Behandlung von Patienten mit erworbenen Hirnschädigungen genommen. Eine mögliche Erklärung liegt darin, dass die verschiedenen Berufszweige zwar ihre speziellen Fachgebiete weiterentwickelt haben, der Blick für die Komplexität und Ganzheitlichkeit der Problematik bei neurogenen Störungen aber oft noch nicht gegeben ist. > Beachte In der therapeutischen Arbeit mit Atmung und Stimme ist es notwendig, die physiologische Funktionsweise aller beteiligten Körperabschnitte, ihr Zusammenspiel und ihre Wechselwirkungen zu kennen und zu wissen, wie sie sich gegenseitig beeinflussen und wie sie ein möglichst optimales Ganzes ergeben.
Wird nur die Stimme oder deren Nichtvorhandensein (Aphonie) behandelt, ohne die unphysiologische/abnormale Haltung, die fehlende Mobilität oder das eingeschränkte Gleichgewicht des Patienten zu berücksichtigen, wird dies lediglich, wenn überhaupt, eine kurzfristige Verbesserung ergeben. Langfristig können unbehandelte Symptome jedoch zu Sekundärproblemen führen, da sich die zugrunde liegende Problematik nicht ändert. Beispiel Wird Stimme mit zuviel Anstrengung produziert, werden dadurch u.U. eine Erhöhung des Muskeltonus und vielleicht auch 7 assoziierte Reaktionen verursacht. Der ökonomische Einsatz des Luftstroms, der notwendig ist, um zu phonieren, wird hierdurch vermindert oder unmöglich gemacht.
Auf den Einfluss des Haltungshintergrunds und der Ausgangsstellung auf Atmung und Schlucken wird in einer Studie von Smith et al. (1989) mit gesunden Probanden hingewiesen. Die F.O.T.T.-Therapeutin muss in der Lage sein, mit dem Wissen und dem Verständnis über normale Haltung, Bewegung und Funktion die vorliegenden Abwei-
chungen von der Norm zu analysieren, Behandlungsansätze zu entwickeln und diese dann therapeutisch effizient umzusetzen. Die Reaktionen des Patienten auf ihre therapeutische Intervention werden evaluiert und genutzt als Basis für das weitere Vorgehen. ! Vorsicht Die Probleme von Patienten mit erworbenen Hirnverletzungen können lebensbegleitend sein und zur Ausbildung von sekundären Komplikationen führen, wodurch sich der Zustand des Patienten im Laufe der Zeit verschlechtern kann. Es ist daher notwendig, diesen vorzubeugen. Sind bereits sekundäre Probleme entstanden, gilt es, diese zu erkennen und von den primären Problemen zu differenzieren.
Beispiel Bei gestörter Atem-Schluck-Koordination (primäres Problem nach Hirnschädigung) wird häufig Speichel und/oder Nahrung aspiriert und möglicherweise entwickelt sich daraus eine Pneumonie (Sekundärproblem).
Erst wenn man Erkenntnisse u.a. aus Medizin, Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie zu einem Ganzen zusammensetzt und therapeutisch anwendet, wird sich der Gesamtzustand des Patienten in der Folge verbessern. Der »hands-on«-Ansatz (Coombes 1991) ist ein entscheidender Aspekt im F.O.T.T.-Konzept. So werden neben der Beobachtung die Hände zur Untersuchung von Bewe-
175 8.6 · Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigung und einige Lösungsansätze
Bei der Behandlung ist das Arbeiten an funktionellen Aktivitäten von großem Nutzen. Geeignete funktionelle Aktivitäten sind Auspusten von Kerzen, Mundharmonika spielen oder Seifenblasen produzieren. Alltagsaktivitäten haben den Vorteil, dass die Patienten direkt das Ergebnis spüren, sehen oder hören, dadurch eine konkrete Rückmeldung erhalten und dass sie nicht unbedingt Sprachverständnis zur Ausführung benötigen. Die Wahl der geeigneten Ausgangsstellung und das Anbieten von Unterstützungsfläche (. Abb. 8.4) beeinflussen den Erfolg der Aktion. Auch die Zeit, in der keine Therapie stattfindet, wird berücksichtigt. Dabei kommt den Pflegenden und Angehörigen eine bedeutende Rolle zu, z.B. bei der Lagerung tagsüber bzw. in der Nacht (7 Kap. 8.6.3). Die konsequente Umsetzung der F.O.T.T.-Prinzipien über 24 Stunden kann sekundäre Komplikationen vermindern bzw. beugt diesen vor und hilft damit auch die Folgekosten für diese aufgetretenen Komplikationen zu reduzieren. In . Übersicht 8.5 sind die allgemeinen F.O.T.T. Prinzipien zusammengefasst. . Übersicht 8.5. Allgemeine F.O.T.T.-Prinzipien 4 Normale Haltung, Bewegung und Funktionen kennen und verstehen. 4 Primäre und sekundäre Probleme erkennen und differenzieren. 4 In der Therapie und beim Handling: »Hands-on« möglichst normaler Funktionen erarbeiten, d.h., taktile und propriozeptive Inputs geben – wenig Sprache benutzen. 4 Realistische und zielgerichtete funktionelle Aktivitäten als Mittel benutzen.
. Abb. 8.4. Mit Unterstützung von vorne durch ein (halbmondförmiges) Pack gelingt es, selektiv den Mund zu spitzen, um Seifenblasen zu machen
gungsfreiheit und Tonusverhältnissen sowie zur Behandlung miteingesetzt. Dabei erfährt der Patient durch gezielte taktile Fazilitation deutliche sensorische Stimulation und möglichst physiologische Bewegungen, die er ohne Hilfe, z.B. aufgrund von Wahrnehmungsstörungen oder Sensibilitätsausfällen nicht ausführen kann. Coombes (2001a) betont, welche Bedeutung der Einsatz des eigenen Körpers des Patienten zur Erhöhung der Sensibilität hat.
8.6
Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigung und einige Lösungsansätze
i Praxistipp 4 Die SelfStimulation (= Spüren der eigenen aktiven Bewegung) ist die aktivste Behandlungsform und formt das stärkste Feedback für sensomotorisches Lernen. Diese wird mittels taktiler Hilfen fazilitiert. 4 »Hands-on« ist ein wichtiges Prinzip im F.O.T.T.-Konzept. Eine dem Therapieziel angepasste Stellung ist anzustreben und wird unterstützt durch die Beeinflussung der Schlüsselregionen. 4 Alleinige verbale Instruktionen werden vermieden. 4 Verbale Hilfen werden 5 kurz, 5 prägnant und 5 situativ relevant gehalten.
In diesem Abschnitt wird exemplarisch auf eine Auswahl typischer Probleme von Patienten mit Hirnschädigungen und ihre Auswirkungen auf Atmung und Stimme und auf deren Koordination sowie die Atem-Schluck-Koordination eingegangen.
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Kapitel 8 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …
8.6.1
Zentrale Störungen der Atmung
Zu den pathologischen Atemtypen bei zentral bedingten Schädigungen des Atemzentrums zählen u.a. 4 die Cheyne-Stokes-Atmung, 4 die Biot-Atmung und 4 die Schnappatmung mit kurzen, schnappenden, unregelmäßig einsetzenden Atemzügen (Kasper u. Kraut 2000).
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Es finden sich u.a. Veränderungen des Rhythmus, der Ein- und Ausatemtiefe sowie prolongierte Atempausen. Dabei können sich die Atemgeräusche verändern. Zur paradoxen Atmung kommt es z.B. bei Thoraxinstabilität, bei Tetraplegien und -paresen infolge von Hirnschädigungen und Rückenmarkverletzungen. Die Atembewegungen sind dann entgegengesetzt zur physiologischen Atmung. Auch die Stimmgebung und das Sprechen verändern sich aufgrund des veränderten Atemmusters. Hadjikoutis et al. (2000) wiesen abnorme AtemSchluck-Muster nach, z.B. Einatmen nach Schlucken bei Patienten mit zentralen, spinalen oder peripheren Schädigungen in 91% der Fälle (20 von 22), bei Patienten mit Motoneuronerkrankungen in 44% der Fälle (14 von 32). In der Kontrollgruppe gesunder Probanden betrug die Abweichung von der Norm nur 9% (2 von 22). Lösungsansätze für die Veränderung des Atemmusters und taktile Atemführung, unterstützend für die Mehrbelüftung der Lunge oder als Anbahnung für physiologische Atemmuster, finden sich in 7 Kap. 8.6.4.
8.6.2
Probleme mit Haltung und Bewegung
Da Atemprobleme häufig mit Problemen des Rumpfes zusammenhängen, liegt ein Hauptaugenmerk auf dem Haltungshintergrund und der Bewegung (Breich 1992, Davies 1990, Paeth Rohlfs 1999). Die Rumpfmuskulatur, inklusive der abdominalen Muskulatur (M. rectus abdominis, M. external oblique, M. internal oblique und M. transversus abdominis) ist verantwortlich für die 7 dynamische Stabilisierung des Brustkorbs. Nach erworbenen Hirnschädigungen sind jedoch genau diese Muskeln oft nicht mehr fähig, diese Funktion adäquat auszuführen.
Bauchmuskulatur > Beachte Die Haltefunktion der Bauchmuskulatur ist abgeschwächt.
Die Patienten haben Schwierigkeiten ihren Körper stabil zu halten und gleichzeitig andere Funktionen wie Schlucken und/oder Sprechen physiologisch auszuführen. Auf-
grund insuffizienter Bauchmuskeln kommt es zu einem fehlenden aktiven und passiven Zug auf die Rippen und damit zu einer Bewegungseinschränkung in Richtung Ausatemstellung. Dadurch ist die Atmung flach und die Ausatemphase verkürzt. Dies beeinflusst den Stimmklang, der dann aphon, verhaucht oder kompensatorisch durch Tonuserhöhung fest oder gepresst sein kann. Auch die Anzahl der Silben oder Worte, die auf einen Ausatemzug gesprochen werden können (Tonhalte- und Sprechdauer), kann verkürzt sein. Körperliche Aktivitäten verursachen bei diesen Patienten schnell deutliche Kurzatmigkeit und Ermüdungserscheinungen (Davies 1990).
Rumpfmuskulatur > Beachte Insuffiziente Rumpfmuskeln begrenzen die Bewegungen und den funktionellen Einsatz der oberen Extremitäten.
Auch die 7 dynamische Stabilität des Schultergürtels, der mit dem Brustkorb vorwiegend über Muskeln verbunden ist, ist von der intakten Funktionsweise der Rumpfmuskulatur abhängig. Bei hypotoner Rumpfmuskulatur werden oft 7 distale Muskelgruppen (d.h. also Muskeln von Armen und Händen) kompensatorisch zur Stabilisierung und Aufrechthaltung des Körpers gegen die Schwerkraft genutzt. Dies führt zu einer 7 distalen Tonussteigerung (Davies 1990, Panturin 2001).
Hals- und Nackenmuskulatur > Beachte Das Kompensationsprinzip trifft u.a. auch auf Kopf und Nacken zu, die mit dem Brustkorb in Verbindung stehen.
4 Ohne die 7 antagonistische Wirkung der abdominalen Muskeln auf den Brustkorb erhöht sich der Tonus in der Hals- und Schultermuskulatur und zieht dadurch die Rippen nach oben. Dies führt zu flachen Atembewegungen und zu eingeschränkten Kopfbewegungen. 4 Das Zungenbein wird ebenfalls durch Muskelverbindungen mit der Skapula, den oberen Rippen und der Klavikula stabilisiert. Das kann bedeuten, dass Patienten mit einer mangelnden Rumpfkontrolle eine Störung im Bereich der Mund und der Zungenmotorik (Schlucken) aufweisen (Panturin 2001).
Rumpfrotation > Beachte Die rotatorische Bewegungsfreiheit des Rumpfes verringert sich vor allem in der thorakalen Region.
177 8.6 · Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigung und einige Lösungsansätze
. Abb. 8.5. Patient mit Rippenhochstand
Ohne die gegebene Stabilität der Rumpfmuskulatur auf einer Seite des Körpers ist es nicht möglich, die Muskeln auf der anderen Seite effektiv einzusetzen (Davies 1990). Wenn die Rippen in einer Position fixiert sind, ist es sehr schwierig sich zu bewegen, da sie dann die Bewegungen des Rumpfes blockieren. > Beachte Ist der Tonus des M. pectoralis major zu hoch, werden die Schultern in 7 Flexion fixiert bei einem Punktum stabile 7 proximal (also an den Rippen) und damit ist die Entfaltung der Atemräume nur erschwert möglich (Paeth-Rohlfs 1999). . Abb. 8.5 zeigt Rippenhochstand bei einem Patienten mit
hypotonem Rumpf.
Lösungsansatz: Einsatz von Bewegung Die Wirksamkeit von Bewegung bei der Behandlung von Störungen der Atmung wurde in einer Studie von Falkenbach (2001) bestätigt. In dieser zeigten Patienten mit einem rigiden Thorax eine effektivere Bauchatmung schon nach geringsten Bewegungen und Aktivitäten im lumbalen Bereich. Beobachtungen an Säuglingen (Wilson et al. 1981) zeigen auch einen Zusammenhang zwischen Aktivität und Schluckfrequenz. Die Häufigkeit des Schluckens erhöhte sich bei Aktivität und nahm in Ruhephasen ab. Erwachsene zeigen ein ähnliches Muster. Sie schlucken im Tagesdurchschnitt im Wachzustand ca. 600-mal und während der Nacht nur noch ca. 50-mal (Wilson et al. 1981). 4 Die Kombination von Stabilität und Bewegung kann die Bewegungsmöglichkeiten des Rumpfes für eine effektive Atmung verbessern. 4 Diese Kombination gibt dem Patienten die Möglichkeit, mehr selektive Bewegungen auszuführen und den Einsatz von Massenbewegung zu reduzieren (Davies 1990, Edwards 2002).
. Abb. 8.6. Ausatmung in Verbindung mit Rotationsbewegung des oberen Rumpfes. Um die Beckenaufrichtung zu unterstützen wurden die Sitzbeinhöcker jeweils mit einem Handtuch unterlagert
4 Physiologisch gehen Einatmung tendenziell mit dem Muster der 7 Extension und Ausatmung tendenziell mit dem Muster der 7 Flexion einher. Es ist daher naheliegend, diese Muster in die Behandlung zu integrieren. Diese Muster sind dabei jedoch mit Rotationskomponenten zu verbinden, da Flexion und Extension alleine keine vollständige Bewegungsfreiheit des Rumpfes und der Extremitäten gewährleisten können. Rotation ist das koordinierte Ergebnis von Flexion und Extension in allen Bewegungsebenen (Edwards 2002). Die Rotation ist ebenso eine sinnvolle Kombination von Flexion und Extension der Körperschlüsselpunkte in verschiedenen Ausgangsstellungen (7 Kap. 8.7). . Abb. 8.6 zeigt die Arbeit an der Ausatmung in Verbindung mit Rotationsbewegungen des oberen Rumpfes. > Beachte Der Tonus der Bauch- und Rumpfmuskulatur darf nicht zu niedrig sein, da ein hypotoner, durch die Schwerkraft flektierter Rumpf 7 distal eine hypertone Kopf-, Nacken- und Kehlkopfmuskulatur und eine hyperextendierte Haltung des Kopfes und Nackens verursachen kann. Bei einer zu hypotonen Bauchmuskulatur bleiben die Rippen in Einatemstellung, also nach oben fixiert und das erschwert die Ausatmung. Auch das Zwerchfell wird von einem nach oben gezogenen Brustkorb beeinflusst und kann seine Funktion nicht mehr effektiv erfüllen.
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178
Kapitel 8 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …
8.6.3
Weitere Probleme, die die Atmung beeinflussen
Ungünstige Lagerungen, die den Gesamttonus des Patienten erhöhen Gerade bei schwer betroffenen Patienten finden wir oft das Problem, dass sie schon nach kurzer Zeit die Lagerung, in die sie gebracht wurden, nicht mehr tolerieren. Sie schwitzen stark und zeigen erhöhte Atemfrequenz. i Praxistipp In dieser Phase ist das gesamte Rehabilitationsteam gefordert, denn hier gilt es Lagerungen für den Patienten zu finden, in denen er entspannen kann, und die helfen, seinen Gesamttonus zu regulieren. Ein häufiges Umlagern des Patienten ist erforderlich.
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Stridor Stridor bezeichnet ein pfeifendes Atemgeräusch bei Einund/oder Ausatmung. jInspiratorischer Stridor
Inspiratorischer Stridor tritt u.a. auf 4 bei Verlegung der oberen Atemwege durch Sekret oder muskuläre Züge der pharyngealen Muskulatur und Zungenmuskulatur oder kann durch ein Kippen der Epiglottis nach dorsal bedingt sein (z.B. in Rückenlage). Bei Kanülenträgern ist aber auch an Granulationen zu denken (7 Kap. 9); 4 bei Einengungen in Höhe des Kehlkopfes, z.B. bei beidseitigen Stimmbandparesen 4 bei subglottischen Einengungen, z.B. Trachealstenosen. i Praxistipp 4 Sekret aus den oberen Atemwegen entfernen durch Mobilisation und Lagerung (z.B. Bauchlage) des Patienten, Unterstützen des Hustens und ggf. medikamentöser Sekretolyse. 4 Des weiteren versucht man den Tonus im Bereich des Schultergürtels und Nackens sowie der ventralen Halsmuskulatur zu normalisieren. 4 Rückenlage sollte aufgrund des ungünstigen Einflusses auf den Gesamttonus des Patienten vermieden werden, wenn dabei erschwerte Atmung zu beobachten ist (vgl. 7 Kap. 8.7).
! Vorsicht Bei A- oder 7 Dyspnoe aufgrund von Einengungen im Kehlkopf und/oder der Trachea ist eine Tracheotomie und die Versorgung mit einer Trachealkanüle notwendig.
jExpiratorischer Stridor
Expiratorischer Stridor tritt auf bei obstruktiven Erkrankungen der Atemwege, z.B. Bronchitiden. i Praxistipp Behandlung der Grunderkrankung, Prophylaxe von Atemwegserkrankungen durch Mobilisation zum Sitzen und Stehen, den Patienten in geeigneten Positionen lagern.
Auswirkungen von Trachealkanülen auf die Atmung, das Schlucken und die Stimmgebung Viele der schwer betroffenen neurologischen Patienten werden in der Akutphase wegen der notwendigen Langzeitbeatmung und/oder einer Schluckstörung mit einem Tracheostoma und einer Trachealkanüle versorgt. > Beachte Bei Trachealkanülenträgern fällt der gesamte Atemwiderstand von Naso-, Oro- und Hypopharynx weg. Die Atmung wird flacher und schneller.
Auch die Art der Trachealkanüle hat Einfluss auf die physiologischen Atemverhältnisse und damit auf die Funktionen von Atmung, Stimmgebung und Schlucken. jGeblockte Trachealkanüle Bei geblockter Trachealkanüle wird der gesamte Nasen-,
Mund-, Rachen- und Kehlkopfraum inklusive des Tracheabereiches über dem Tracheostoma, von der Luftzufuhr abgeschnitten. Dies bringt folgende Veränderungen von Atmung/Stimme und Schlucken mit sich: 4 Die Atmung über die Nase/den Mund und auch ein Wechsel dieser beiden Atmungsvarianten sind nicht möglich. 4 Die Sensibilität und damit die Kontrolle über den Bereich sind vermindert. Das darin befindliche Sekret kann nicht mehr mit Hilfe des Ausatemstroms bewegt und nicht mehr ausreichend gespürt werden, Räuspern oder Husten werden weniger (auch weniger effektiv und effizient) bzw. nicht mehr initiiert. In der Folge wird das Sekret seltener bzw. nicht mehr abgeschluckt. 4 Es kann keine Stimme produziert werden. 4 Riechen und Schmecken sind nur noch eingeschränkt möglich. i Praxistipp Entblocken der Trachealkanüle – anfangs nur in Therapie und nach Absprache mit dem behandelnden Arzt. Zum genauen Vorgehen beim Entblocken (7 Kap. 9 und 10). Gelingt es dem Patienten, an der entblockten Kanüle vorbeizuatmen, wenn man diese zuhält oder ein 6
179 8.6 · Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigung und einige Lösungsansätze
Sprechventil aufsetzt, hat die über die oberen Atemwege auströmende Luft eine stimulierende Wirkung auf die Sensibilität im Oro-, Naso- und Hypopharynx.
jUngeblockte Trachealkanüle Bei ungeblockter Trachealkanüle mit einem Sprechauf-
satz wird die Luft über die Trachealkanüle eingeatmet und via Kehlkopf, Stimmlippen, über den Rachen, Nase oder Mund wieder ausgeatmet. Dies hat zur Folge, 4 dass sich die Sensibilität und dadurch die Kontrolle über diesen Bereich verbessert; 4 dass Patienten mit der Fähigkeit zu ausreichender Atem-Stimm-Koordination dadurch wieder in die Lage versetzt werden, zu phonieren oder verbal zu kommunizieren. Jede Trachealkanüle nimmt Raum in der Trachea ein. Ausatemluft kann nur seitlich an einer ungeblockten Trachealkanüle vorbeiströmen. ! Vorsicht Nimmt die Kanüle in der Trachea zu viel Platz ein, so dass nicht ausreichend Luft seitlich an der Kanüle ausgeatmet werden kann, oder versperren Granulationen den Luftweg, tritt ein Ausatemstau auf! Es besteht akute Erstickungsgefahr! Die sofortige Ausatmung über die Trachealkanüle ist zu gewährleisten. Ein Sprechaufsatz oder eine Verschlusskappe etc müssen sofort entfernt werden!
i Praxistipp Eine Trachealkanüle kleinerer Größe kann dann Abhilfe schaffen. Hat die Kanüle eine Fensterung, kann mehr Ausatemluft auch durch die Trachealkanüle hochsteigen. Dadurch verbessert sich i.d.R. die Stimmqualität. Ausführlichere Beschreibungen zum Thema Trachealkanülen und Funktionsweisen finden sich in 7 Kap. 9 und 10.
Eingeschränkte Kieferöffnung Bei Patienten, die Schwierigkeiten mit dem Öffnen des Kiefers haben, ist in der Folge häufig die sensorische Rückmeldung im oropharyngealen Trakt verändert. Oft ist der Kiefer in einer abnormen Haltefunktion fixiert und der Patient hat keine Möglichkeit, dieses Muster zu lösen, die Zunge zu bewegen und einen Schluckvorgang zu initiieren oder physiologisch durch den Mund zu atmen. Beispiel Im Anschluss an ein gelegentlich spontan auftretendes Gähnen bei diesen Patienten ist oft ein Schlucken oder ein 6
Versuch dazu zu beobachten. Hier ließe sich interpretieren, dass dabei durch den Luftstrom eine Reizeingabe in ein reizarmes Gebiet geschieht. Dies kann die Sensibilität erhöhen und als sensorische Rückmeldung ein Schlucken auslösen.
! Vorsicht Ohne Stimulus, ohne Reizeingabe in ein reizarmes Gebiet, sind keine Reaktionen zu erwarten.
i Praxistipp Am Haltungshintergrund arbeiten und dabei die präorale Phase beim Erarbeiten der Mundöffnung einbeziehen mit gezielten taktilen Inputs im Gesicht und Mundbereich.
Fehlender Mundschluss Einige Patienten können nur schwer den Mund schließen. Der Wechsel zwischen Ruheatmung durch die Nase zu forcierter Ausatmung durch den Mund ist erschwert oder nicht möglich. Ein fehlender Kieferschluss verändert die Position des Unterkiefers, der Zunge und des weichen Gaumens und beeinflusst dadurch auch die Atmung und das Schlucken. > Beachte Bei geöffnetem Mund ist die Nasenatmung weitgehend ausgeschaltet, olfaktorische und gustatorische Reize können nur reduziert wahrgenommmen werden. Die Mundschleimhaut trocknet aus und der Speichel wird zäh.
Auch hier ist der kausale Zusammenhang mit einer veränderten Körper- und Kopfhaltung gegeben. ! Vorsicht Durch den nicht vorhandenen Mundschluss fehlt die notwendige, stabile Basis des Unterkiefers für die Zunge, damit sie selektive orale Transportbewegung in Richtung Pharynx initiieren kann.
Dies führt zu einer erhöhten Anstrengung und oft zu pumpenden Kieferbewegungen bei Initiierung der Transportbewegung der Zunge. Der Speicheltransport ist verlangsamt und führt 4 entweder zu einer verlängerten Dauer der Schluckapnoe, des Atemstopps während des Schluckens oder 4 zu »Zwischenatmen«, d.h., der Patient muss während des Schluckens einatmen. Patienten mit diesen Problemen benötigen oft mehrere Ansätze, bevor sie wirklich schlucken können, und selbst dann wird der Schluckvorgang häufig nicht vollständig ausgeführt. Die pharyngealen Bewegungen sind dann nicht effizient und ausreichend, um den Speichel in den Ösophagus zu transportieren. Die Gefahr der Aspiration
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Kapitel 8 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …
von Speichel (Selley et al. 1989, Smith et al. 1989) und Nahrung ist erhöht. i Praxistipp 4 Zunächst wird eine geeignete Ausgangsposition (beachte Alignment von Becken, Rumpf und Nacken) erarbeitet. 4 Dann wird dem Patienten mittels Kieferkontrollgriff der Mundschluss fazilitiert und taktile Schluckhilfe am Mundboden gegeben. Je weniger Pumpbewegungen der Patient ausführen muss, um zu schlucken, desto kürzer ist die Schluckapnoe und damit verringert sich das Risiko einer Zwischenatmung, die möglicherweise mit Aspiration einhergeht.
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Koordination von Atmung, Schlucken und Essen Schlucken unterbricht den Atmungsvorgang. Wie schon in 7 Kap. 8.2 beschrieben, zeigen Studien mit gesunden Versuchspersonen, dass die meisten Probanden nach dem Schlucken kurz reflektorisch ausatmen, egal ob ein Bolus gereicht wurde oder nicht (Hiss et al. 2001, Preiksaitis et al. 1992, Smith et al. 1989). Selley et al. (1989) beschreiben, dass sich sowohl bei Gesunden als auch bei neurologischen Patienten das Atem-Schluckmuster beim Anreichen von Nahrung ändert. Die Gesunden wiesen eine Veränderung der Ruheatmung beim Anreichen von Nahrung auf. Sie atmeten jedoch nach dem Schlucken immer aus. Die neurologischen Patienten atmeten unmittelbar nach dem Schlucken ein statt aus. ! Vorsicht Wird sofort nach dem Schlucken eingeatmet, besteht die Gefahr der Aspiration von Residuen.
Das Ausatmen nach dem Schlucken ist eine Schutzfunktion, da es – eventuell nach dem Schlucken verbliebene – Residuen im Pharynx und in den Atemwegen aufspüren und ggf. mit Husten bewegen und aus den Atemwegen befördern kann, die anschließend erneut geschluckt oder ausgespuckt werden können. . Übersicht 8.6 fasst die Faktoren zusammen, die zu einer erhöhten Aspirationsgefahr führen. . Übersicht 8.6. Erhöhte Aspirationsgefahr Erhöhte Aspirationsgefahr ist gegeben, 4 wenn die Apnoephasen zu kurz sind und/oder 4 nach dem Schlucken nicht reflektorisch ausgeatmet wird. 6
4 Ist der Schluckvorgang aufgrund verlängerter Bolustransitzeit durch Mundhöhle und Pharynx zu lang, müssen die Patienten während des Bolustransports einatmen, und im Pharynx befindliches Material kann in die unteren Luftwege gelangen.
i Praxistipp In der F.O.T.T. wird während der Essensbegleitung ein besonderes Augenmerk auf die präorale Phase gelegt, d.h., der Patient wird soweit es möglich ist, in die Vorbereitung der Nahrungsaufnahme miteinbezogen. Hier setzt die Therapie an: Durch spezielle Gestaltung der Umwelt (Packs, Wand etc.) und Erarbeitung des Haltungshintergrunds wird es möglich, den Patienten dabei zu führen, die in Größe und Tempo angepasste Menge selbst zum Mund zu bringen. Dem Nachschlucken wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt, weil es hilft, Reste in den Vallecularräumen zu entfernen, die der Patient vielleicht noch nicht ausreichend spürt und bei der nächsten Einatmung penetrieren oder aspirieren würde (7 Kap. 5).
Koordination von Atmung, Schlucken beim Strohhalmtrinken Patienten wird oft empfohlen, mit dem Strohhalm zu trinken, um z.B. fehlenden Mundschluss oder eingeschränkte Zungenbewegungen zu kompensieren. In einer Studie von Martin et al. (1994) wurde das Trinken mit einem Strohhalm bei gesunden Versuchspersonen untersucht. Beschrieben werden mehrere aufeinanderfolgende Schlucke ohne Zwischenatmung, d.h., dass der Atemstopp verlängert war. ! Vorsicht Martin et al. (1994) gehen bei neurologischen Patienten mit einem verlangsamten Ablauf der Schlucksequenz und Störung der Atem-Schluck-Koordination von einer erhöhten Aspirationsgefahr besonders beim Trinken mit dem Strohhalm aus.
i Praxistipp 4 Ob es für den Patienten hilfreich ist, mit dem Strohhalm zu trinken oder nicht, muss im klinischen Verlauf genau abgewogen und evaluiert werden. 4 Das Ansaugen von Flüssigkeit aus einer Tasse oder einem Glas mit den Lippen ist wahrscheinlich sicherer, da die Flüssigkeit nicht sofort in den hinteren Teil der Mundhöhle fließt. 6
181 8.6 · Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigung und einige Lösungsansätze
4 Patienten mit den o.g. Problemen profitieren eher von einer Unterstützung ihres Haltungshintergrunds, des Kopfes und des Kiefers während des Trinkens.
8.6.4
Auswirkungen pathologischer Atmung auf Stimme und Sprechen
Atmen und Stimmgebung werden normalerweise unbewusst, ohne Anstrengung und zeitgleich während anderer Tätigkeiten ausgeführt. Da viele der Strukturen, die beim Sprechen genutzt werden auch am Schluckvorgang beteiligt sind, findet sich bei erworbenen neurologischen Schädigungen oft eine Vergesellschaftung von 7 Dysphagien und 7 Dysarthrophonien (Coombes 1991, Logemann 1983, Perkins u.
Kent 1986). Dysarthrophonien, also die zentral bedingten Störungen von Haltung und Tonus, der (Sprech-)Atmung, Stimmgebung und Artikulation, und die daraus resultierenden Probleme beeinträchtigen die Verständlichkeit und die Natürlichkeit des Sprechens. Die basalen Probleme, z.B. veränderte Körperhaltung, Tonus und Bewegung (7 Kap. 8.4, 8.6.2) und veränderte Atemmuster (7 Kap. 8.6.1), sind schon thematisiert worden. Sie beeinträchtigen zusätzlich die (ggf. auch primär gestörte) Stimmgebung, die Artikulation und die 7 prosodischen Elemente des Sprechens, auch in ihrem koordinativen Zusammenspiel.
. Abb. 8.7. In Rückenlage wird der Thorax unterlagert, um dem Rippenhochstand entgegenzuwirken. Ausreichend stabile Kissen im Nacken und Kopfbereich gewährleisten die Position des »langen Nackens«. Die Arme werden nah am Körper gelagert
von der Atemfrequenz des Patienten kann durch die Betonung jeder dritten Ausatmung ein Ausatemzug verlängert werden. Die Therapeutin registriert Veränderungen der Atembewegungen und Atemfrequenz taktil, visuell und auditiv (z.B. die physiologische Atempause, Flankenbewegungen, und Atemgeräusche) und bewertet diese. Die taktile Atemführung kann auch mit dem Phonieren von Lauten und/oder einer Vibration am Sternum kombiniert werden.
i Praxistipp »Hands-on« – taktile Atemführung: Ein erster Schritt in der Therapie ist es, 4 die Ausatemphasen zu verlängern und 4 die Einatmung zu vertiefen, wobei die tiefere Einatmung eine direkte Konsequenz der vorangegangenen verlängerten Ausatmung ist.
jTaktile Atemführung
In Rückenlage (. Abb. 8.7 oder in einer der in 7 Kap. 8.7 beschriebenen Ausgangsstellungen) lenkt die Therapeutin mit ihren Händen die Atembewegungen in Richtung der Flanken und beeinflusst das Atemmuster mit ihren Händen. Dazu werden die Hände links und rechts an den Brustkorb (ventral – lateral) ungefähr auf die Höhe von 5.– 10. Rippe gelegt. Die Therapeutin begleitet mit ihren Händen die Atembewegungen des Patienten und beginnt dann mit konstantem sanftem Druck die Ausatmung zu betonen und zu verlängern. Die Hände der Therapeutin bleiben während der Atempause und der Einatmung mit konstantem sanftem Druck nach unten am Thorax des Patienten, und bilden mit diesem eine Einheit. Abhängig
Beispiel In unserem Patientenbeispiel (. Abb. 8.7) wird mit einem Pezziball gearbeitet. Hierbei zieht der Patient bei Ausatmung seine Beine an, bei Einatmung schiebt er den Ball mit seinen Beinen weg. Diese Aktivitäten unterstützen die Arbeit der Bauchmuskulatur.
Weitere Ziele sind 4 die Verbesserung des Schutzes der Atemwege durch Steigerung der laryngealen und pharyngealen Sensibilität, 4 die Verbesserung der Atem-Schluck-Stimm-Koordination. ! Vorsicht Mündliche Anweisungen sollten bei der Atemarbeit nicht gegeben werden, da Patienten oftmals dazu tendieren, ihre Atmung dann ungünstig zu verändern, indem sie den Energieaufwand durch aktive, angestrengte Atmung erhöhen.
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Kapitel 8 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …
i Praxistipp Durch den verstärkten Ausatemstrom (mit oder ohne Phonation), werden Speichelreste im pharyngealen Raum (z.B. in den Valleculae) in Bewegung bzw. in Vibration versetzt. Dabei wird durch den Stimulus Luftstrom eine vorübergehende Erhöhung der Sensibilität erzeugt, die als Reaktion Schlucken auslösen kann, das ggf. durch eine Schluckhilfe (7 Kap. 5.3.3) unterstützt werden muss.
Stimmanbahnung Neben zentralen Innervationsstörungen des Stimmapparates sind viele Patienten zunächst nicht in der Lage, Stimme zu produzieren. Diese Patienten können oft nur flüstern oder sie produzieren Stimme mit dem Einatem. Dies kann am mangelnden subglottischen Anblasedruck liegen, der sich aus einer eingeschränkt arbeitenden Rumpf- und Bauchmuskulatur ergibt und ein Zeichen für eine gestörte
8
koordinative Abstimmung von Atem- und Stimmmuskulatur ist. Ein suffizienter subglottischer Anblasedruck des Ausatemstroms ist an dem Zustandekommen der Vibration
der Stimmlippen beteiligt, durch die die Stimme entsteht (Perkins und Kent 1986). Ohne ausreichenden Luftstrom und einer gut abgestimmten Dosierung kann nicht phoniert werden.
. Abb. 8.8. Das Stehen an der Bank als Position mit wenig Unterstützungsfläche (Tonuserhöhung) ermöglicht diesem Patienten mit einem sonst hypotonen Rumpf, die Ausatemluft so zu dosieren, dass große Seifenblasen entstehen
i Praxistipp 4 Die Arbeit an der Ausatemverlängerung steht am Anfang und kann in verschiedenen Ausgangsstellungen durchgeführt werden. Ein tragfähiger Atem ist die Basis für die Stimmgebung. 4 Ist es dem Patienten möglich, (unterstützt) zu stehen, bietet sich das Stehen als Ausgangsposition mit wenig Unterstützungsfläche an. Kann der Patient (mit hypotonem Rumpf ) den im Stehen zwangsläufig höheren Tonus aufbauen, ist es ihm oft besser möglich, den Ausatem dosiert abzugeben. Der in . Abb. 8.8 abgebildete Patient kann seine Ausatmung steuern und damit Seifenblasen produzieren. 4 Am Anfang der Therapie bietet sich das Phonieren von Seufzern, Ausrufen auf den ausatmungsgestützten Silben wie z.B. »ho« oder »he« und später kurzer Wörter wie z.B. »Hallo« an. 4 Zu Beginn der Phonation sollte der Patient nicht aufgefordert werden, bewusst und tief einzuatmen. Es besteht kein Bedarf an einer großen Menge Luft, um Stimme zu produzieren, sondern die Luft muss kontrolliert freigesetzt werden (Coombes 1991).
Beispiel Die in . Abb. 8.9 gezeigte Patientin zeigt im Alltag stark assoziierte Reaktionen beim Sprechen und eine kurze Tonhaltedauer. Daher wird für diesen Patienten die Seitenlage 6
. Abb. 8.9. In Seitenlage phoniert die Patientin ein »ho« und wird von der Therapeutin mit Vibration am Sternum und Druck an den Rippen unterstützt
gewählt, eine Position mit viel Unterstützungsfläche. Die Patientin phoniert ein »ho« und wird von der Therapeutin mit Vibration am Sternum und Druck an den Rippen unterstützt.
i Praxistipp Bei unerwünschten Bewegungen, wie z.B. zuviel Bewegung im Schulterbereich (Hochatmung) oder assoziierten Reaktionen und Tonuserhöhung, muss eine »niedrigere« Ausgangsstellung mit mehr Unterstützungsfläche gewählt werden.
183 8.6 · Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigung und einige Lösungsansätze
Stimmklang jNasaler Stimmklang
Durch Gaumensegelparesen, aber auch durch Mobilitätseinschränkung im fazio-oralen Bereich (Kopf- und Nackenstellung) und im Rumpf kann die Stimme in ihrem gewohnten Klang beeinträchtigt sein. Sie klingt nasal. ! Vorsicht Eine abnorme Kopfposition verändert die Position und die Mobilität des Kehlkopfes und hat Auswirkung auf den Stimmklang (Coombes 1991).
i Praxistipp Haltung und Tonus von Rumpf, Stellung von Becken, Kopfposition und den Tonus im fazio-oralen Trakt (u.a. mithilfe der Kieferkontrolle, taktiler Inputs, Bewegungsimpulse) normalisieren und ggf. die Indikation für die Anpassung einer Gaumenplatte prüfen!
. Abb. 8.10. Kontrollieren der Ausatemluft bei Phonation auf »ho«
jFeucht-gurgeliger Stimmklang
Finden sich Speichel oder Flüssigkeit auf den Stimmlippen, bewirkt der Sprechatem eine Vibration dieser Residuen. ! Vorsicht Klingt die Stimme feucht, gurgelig und/oder verschleimt, ist das immer ein Zeichen einer Penetration oder aber auch von Aspiration von Sekret oder Flüssigkeit!
i Praxistipp Sofortiges Räuspern oder Husten muss fazilitiert werden, um Aspiration zu vermeiden. Am Thorax und Sternum kann dabei durch Druck oder Vibration die Effizienz des Hochhustens unterstützt werden und anschließend Schluckhilfe gegeben werden.
jHeiserer Stimmklang
Durch Recurrensparesen, aber auch durch falschen Stimmgebrauch kann der Stimmklang heiser sein. i Praxistipp Auf der Basis einer möglichst 7 eutonen Ausgangsposition werden ein weicher Stimmeinsatz und das Ausnutzen der Resonanzräume im Kopf und Rumpf angestrebt. Diese gezielte Arbeit ist eher in späteren Therapiestadien angezeigt und sollte ggf. von Logopäden, die die neurophysiologischen Gegebenheiten berücksichtigen, weitergeführt werden.
Tragfähigkeit der Stimme und Tonhaltedauer Aufgrund der eingeschränkten Koordination ihrer interkostalen und abdominalen Muskeln sowie des Zwerchfells haben viele Patienten Probleme mit der kontrollierten, do-
sierten Abgabe der Atemluft. Die dafür notwendige Koordinationsfähigkeit ist jedoch unerlässlich für eine ökonomische Stimmproduktion. Sie pressen kompensatorisch und begünstigen so einen forcierten, festen Stimmeinsatz. Die Tonhaltedauer beträgt oft nur 1–2 Sekunden. Dieser Ablauf ist nicht ökonomisch, da sehr viel Luft verbraucht wird. Oft sind anfangs nur ein oder zwei Silben pro Ausatemzug möglich und diese klingen oft sehr monoton. i Praxistipp Um Stimme geben zu können, Töne halten zu können und um später den Stimmeinsatz und Stimmabsatz – das Starten und Stoppen der Stimme – bei der Ausatmung zu kontrollieren, bedarf es einer guten Muskelkoordination. Der Bewegungsansatz kommt dabei vom Zwerchfell. Die Auswirkung der Zwerchfellbewegung ist am Bauch zu spüren, da die abdominalen Strukturen dem Zwerchfell ausweichen müssen. Daher ist der Bauch eine gute Stelle, um zu spüren, ob das Zwerchfell ökonomisch arbeiten kann.
> Beachte Ein erstes Ziel bei Patienten mit einer Hirnschädigung kann das Erreichen einer Tonhaltedauer von 4 Sekunden sein.
Zum Erlernen des willkürlichen Startens und Stoppens der Stimme soll der Patient (. Abb. 8.10) auf einen Ausatemzug mehrmals z.B. die Silbe »ho« sprechen. Dabei bewegt die Therapeutin mit ihm zusammen seine Arme bei jeder Silbe weiter zu seinem Körper. Die Therapeutin unterstützt die Ausatmung an den Flanken. Später kann dann der Einsatz zweier Silben mit Bewegungskontrasten (»hu« – »hi«) folgen.
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Kapitel 8 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …
> Beachte Die Tonhaltedauer ist umso länger, je dosierter der Ausatem abgegeben werden kann.
i Praxistipp Mit stimmhaften Konsonanten, also Konsonanten bei denen Stimme produziert wird z.B. »m«, »n« und »l«, kann an der Verbesserung der Atem-Stimm-Koordination und an der Verlängerung der Phonationsdauer gearbeitet werden.
Bei der Arbeit an der Verlängerung der Tonhaltedauer und den Betonungsvariationen ist auf eine Balance zwischen Vokalen und Konsonanten zu achten (Coombes 2001b, Smith 2000). > Beachte
8
Eine Kombination von Lauten ist sinnvoll, da Sprechen nicht aus isolierten Bewegungen besteht.
Artikulation Wenn die Zunge keine präzisen Artikulationsbewegungen ausführen kann, verändert sich nicht nur der Sprechklang, sondern auch die Artikulation. Die Aussprache wird dann undeutlich, »verwaschen«. Eine durch hyperextendierten Nacken weit in den Mundraum und Rachen zurückgezogene Zunge, übernimmt meist kompensatorisch Haltearbeit zur Kopf- und Kieferstabilisierung. Diese feste, »fixierte« Zunge, kann sich kaum bewegen und daher keine akkuraten Sprechbewegungen ausführen. Unter anderem beeinträchtigen Lähmungen der Zunge das Bewegungsausmaß und die Ansteuerung des Artikulationsorts. i Praxistipp Für ein verständliches, unauffälliges Sprechen ist die Koordination und Feinabstimmung von atemrhythmisch angepasster Phonation und Artikulationsbewegungen Voraussetzung. Oft ist auch beim Phonieren die stabilisierende Funktion des Unterkiefers nicht mehr gewährleistet und es bedarf daher einer erhöhten Unterstützung durch den Kieferkontrollgriff, um der Zunge und den Lippen eine Basis für selektive, zielgerichtete Bewegung beim Schlucken und Sprechen zu geben und so die stabilisierende Rolle des Unterkiefers zu ermöglichen.
Bei der Anbahnung von Konsonanten werden neben auditiven besonders taktile und visuelle Hilfen (visuelles Vorbild der Therapeutin) eingesetzt. Eine einfache Frage bestimmt das Vorgehen, den Einsatz der Hilfen bei der Artikulationsanbahnung:
» Was muß wohin? « (Coombes 2001a,b) Beispiel Soll ein »l« angebahnt werden, bekommt das »Was« – hier die Zungenspitze – einen Input. Die Reaktion wird beobachtet: 4 Ist der Input ausreichend? 4 Bewegt sich die Zunge zum Artikulationsort, oder 4 reicht der Input noch nicht aus? Dann muss eine weitere Hilfe dazukommen. Das »Wohin«, der Artikulationsort, muss dann ebenfalls einen Input bekommen. Bei der Anbahnung des »l« wäre der Artikulationsort die Papilla incisiva, am Übergang Schneidezähne zum Gaumen.
i Praxistipp Taktile Reize zum Spüren des Artikulationsorgans (z.B. Zunge) und zum Finden des Artikulationsortes sind sehr effektiv. Die motorische Antwort zeigt, ob die eingesetzten therapeutischen Hilfen greifen. Später kann man ein- und mehrsilbige Wörter, kurze Sätze erarbeiten. Mit dem Sprechatem werden oft Speichelresiduen im Larynx und Pharynx produktiv bewegt, dadurch gespürt und es kommt zum Husten. Nach dem spontanen oder (an den Flanken) unterstützten Husten wird das Nachschlucken ggf. durch taktile Schluckhilfe fazilitiert.
Prosodie Prosodie spielt neben der Artikulation eine wesentliche Rolle in der Verständlichkeit des Sprechens. Ein beträchtlicher Teil unserer Patienten hat aufgrund der zentralen Sprechstörung auch eine veränderte Prosodie, d.h., sie haben nicht die Möglichkeit, das Sprechen durch eine Veränderung der Betonung, des Sprechrhythmus, ein Variieren der Tonhöhe und der Lautstärke sowie eine Vergrößerung der Silbenanzahl bzw. im späteren Stadium der Wörteranzahl abwechslungsreich und so für den Zuhörer interessant zu gestalten. Für eine natürliche Prosodie sind auch die Variationen des Atemwegwiderstandes (Airway Resistance) und kleine, differenzierte Veränderungen im intra-oralen Druck notwendig. i Praxistipp 4 Nach Möglichkeit sollten auch die 7 prosodischen Elemente in die Therapie miteinbezogen werden und nicht nur die Verbesserung der Artikulation fokusiert werden (Coombes 1991). 4 Es kann hilfreich sein, rhythmische Elemente bei der Verbesserung der Stimmqualität und der Erhöhung der Silben- oder Wortanzahl pro Ausatemzug einzusetzen. 6
185 8.7 · Ausgangsstellungen für die Behandlung
Innerhalb des Bobath-Konzepts ist der Begriff Schlüsselregionen entstanden (Gjelsvik 2002). Dies sind bestimmte Körperregionen über die man Bewegung, Haltung, Gleichgewicht, Funktion, Selektivität und Muskeltonus effektiv beeinflussen kann (Paeth Rohlfs 1999, Edwards 2002, Gjelsvik 2002). Einige Autoren benutzen den Begriff Körperschlüsselpunkte (Paeth Rohlfs 1999, Edwards 2002), wobei die inhaltliche Bedeutung für die Therapie bei beiden Termini im Prinzip übereinstimmt: Die Schwerkraft wirkt auf die Schlüsselregionen ein. Gesunde Menschen können sich adäquat anpassen. Im Gegensatz dazu können neurologische Patienten oft nicht auf Veränderungen reagieren. Wird z.B. in Rückenlage der Schultergürtel von der Schwerkraft passiv nach hinten – in Richtung Unterlage – gezogen (Retraktion), bleibt der Patient ohne Unterstützung oft in dieser Position fixiert und braucht Hilfe, um die nötigen Anpassungen und Korrekturen vorzunehmen. 4 Eine dem Therapieziel angepasste Stellung und Unterstützung durch die Beeinflussung der Schlüsselregionen ist anzustreben. 4 Die Positionierung und Unterstützung des Schultergürtels, des Beckens, des Kopfes und des Nackens benötigen spezielle Aufmerksamkeit.
. Abb. 8.11. Die Therapeutin unterstützt den Patienten am Rumpf, während er an der Bank entlang Schritte nach vorne macht. In Kombination zu einem Schritt phoniert er ein »o«
4 In fortgeschrittenen Therapiestadien kann eine Kombination von Phonation und Bewegung, z.B. dem Gehen entlang einer Therapiebank, angestrebt werden.
Beispiel In . Abb. 8.11 unterstützt die Therapeutin den Patienten am Rumpf, während er an der Bank entlang Schritte nach vorne macht. In Kombination zu einem Schritt phoniert er ein »o«.
8.7
Ausgangsstellungen für die Behandlung
Das Positionieren und die Lagerung der Patienten sind sowohl für die Behandlung als auch für deren Ruheperioden notwendig und wichtig. Die konsequente Anwendung der verschiedenen Positionen ist in einer Optimierung des Muskeltonus, in einer Verbesserung der sensorischen Rückmeldung, Vertiefung der Atmung sowie in einer Reduzierung von sekundären Komplikationen zu sehen (Lange et al. 1999, Schenker 2000).
Die Lagerung des Kopfes gestaltet sich oft schwierig, da die zu unterstützende Fläche des Kopfes größer ist als die des Nackens. Um den Abstand zwischen Schultergürtel und Kopf zu halten und gleichzeitig dem Verlauf der Nackenlordose zu folgen, muss bei der Lagerung darauf geachtet werden, die Halswirbelsäule gut zu unterstützen und das Material unter dem Kopf dünner zu formen als unter dem Nacken (Pickenbrock 2002). i Praxistipp Bei allen Ausgangsstellungen sollte der Patient nicht für die gesamte Zeitdauer der Behandlung statisch in einer Position bleiben. Die Möglichkeiten zur Bewegung und Aktivität sollten in alle Ausgangsstellungen gegeben sein.
Die Menge des benötigten Lagerungsmaterials ist von Patient zu Patient unterschiedlich. Die Beschaffenheit des Materials sollte ausreichend unterstützend, komfortabel und formstabil sein, d.h., es sollte im Lauf der Zeit nicht zu stark nachgeben und so die Unterstützung reduzieren. i Praxistipp Es ist wichtig, die jeweils individuell angepasste Ausgangsstellung für den Patienten in der Therapie zu finden und seine Reaktionen zu evaluieren. Bringt die 6
8
186
Kapitel 8 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …
gewählte Position nicht das gewünschte Ergebnis, müssen kleinere oder größere Veränderungen vorgenommen werden oder sogar eine andere Ausgangsstellung gewählt werden.
8.7.1
Seitenlage
Die Seitenlage bietet eine große Unterstützungsfläche, wodurch sich der Patient auf die selektive Aufgabe, z.B. Stimme geben, konzentrieren kann, ohne sich gleichzeitig mit dem Problem beschäftigen zu müssen, seine Haltung gegen die Schwerkraft zu finden. Diese Position kann sowohl für Patienten mit zu niedrigen als auch zu hohen Grundtonus in verschiedenen Variationen angewendet werden.
8
! Vorsicht In Seitenlage besteht das Risiko einer Kompression des Schultergürtels. Dies kann zu einer verringerten Effizienz der Atmung führen.
Besteht die Gefahr einer Kompression der Schulter, sollten Rumpf und Kopf durch Lagerungsmaterial so unterstützt werden, dass kein Gewicht auf der unten liegenden Schulter ist. Dadurch kann auch die Effizienz der Atmung verbessert werden. Zugleich muss das 7 Abdomen unterstützt werden, da sein Gewicht in dieser Position mit der Schwerkraft von der Körpermitte weg zieht und somit auch die Atmung negativ beeinflussen kann. Die beiden folgenden Ausgangspositionen sind besonders hilfreich für Patienten, die bei Aktivität im Sitzen oder Stehen (Schlucken, Sprechen …) deutliche 7 assoziierte Reaktionen zeigen. jAsymmetrische Lagerung
Die Therapeutin kann sich für eine asymmetrische Lagerung entscheiden (. Abb. 5.9). Dabei ist das Bein, auf dem der Patient liegt gestreckt und die unten liegende Rumpfseite verlängert. Die oben liegende Körperseite ist verkürzt und das oben liegende Bein ist in Flexionsstellung positioniert und gelagert. Durch die asymmetrische Lagerung werden 7 Extensions- und Flexionsmuster miteinander kombiniert. jSymmetrische Lagerung
Die Therapeutin kann sich auch für eine symmetrische Position entscheiden, bei der beide Beine angebeugt sind. Der Vorteil dieser Position kann u.a. eine Erleichterung beim Abhusten und eine verbesserte Stellung des Brustkorbs sein.
8.7.2
Sitzen
! Vorsicht Die sitzende Position erfordert vom Patienten mehr Arbeit gegen die Schwerkraft als eine liegende Ausgangsstellung. Unterstützung ist daher für hypo- als auch für hypertone Patienten sinnvoll und nützlich.
i Praxistipp Es gibt verschiedene Variationen, das Sitzen zu unterstützen: 4 Hypotone Patienten brauchen beim Sitzen i.d.R. mehr Unterstützung von hinten, da sie nicht genügend Extension (Streckaktivität) haben, um sich gegen die Schwerkraft aufzurichten. Werden sie nur von vorn unterstützt, bleibt das Becken nach hinten gekippt und sie sacken in Brusthöhe ein (Rundrücken). Daraus resultiert eine Hyperextension (Überstreckung) des Nackens. 4 Hypertone Patienten brauchen beim Sitzen i.d.R. mehr Unterstützung von vorne, da sie häufig zuviel Extension (Streckaktivität) haben. Sie haben Schwierigkeiten, eine flektierte Haltung einzunehmen. Eine Unterstützung von vorn gibt ihnen einen stabilen Bezugspunkt, der es ihnen ermöglicht, Gewicht nach vorne abzugeben und ihren Strecktonus zu reduzieren.
8.7.3
Stehen
! Vorsicht Das Stehen erfordert viel Arbeit gegen die Schwerkraft, da die Unterstützungsfläche (nur die Füße) relativ klein ist. Diese Position zu halten, erfordert von den Patienten einen höheren Muskeltonus und daher oft eine größere Anstrengung als dies in Seitenlage oder im Sitz der Fall ist.
In dieser Ausgangsstellung befinden sich der Brustkorb und somit auch das Zwerchfell in einer physiologisch günstigeren Position, in der die Atmung und Stimmgebung physiologisch arbeiten und/oder effizient unterstützt werden kann. Zugleich wird mehr Aktivität von einer – nicht effizient arbeitenden – Rumpfmuskulatur gefordert (Davies 1990, Edwards 2002). Das Stehen bietet viele Variationsmöglichkeiten.
187 8.7 · Ausgangsstellungen für die Behandlung
i Praxistipp Unterstützungsmöglichkeiten für das Stehen: 4 Ggf. dorsale Knieschiene (am günstigsten individuell aus Gips oder ähnlichem Material angefertigt), 4 Stehpult/Stehbarren/Standing, 4 stark erhöhter Sitz mit leichter Unterstützung am Gesäß z.B. durch hochgestellte Behandlungsbank, 4 angelehnter Stand an der Wand oder in einer Ecke, 4 ein Fuß erhöht in Schrittstellung, 4 Unterarmstütz auf einem stabilen Gegenstand.
8.7.4
Rückenlage
Auch diese Ausgangsstellung wird bei der Behandlung von Atmung und Stimme eingesetzt. Sie bedarf jedoch großer Aufmerksamkeit. ! Vorsicht Dies ist die Position, in der Patienten mit insuffizienter Rumpfmuskulatur oft mit Schultergürtel in Retraktion liegen! Sie kann die Anhebung des Brustkorbs (Rippenhochstand) verstärken und eine Überstreckung des Rückens und der unteren Extremitäten forcieren. Aber auch eine Protraktion des Schultergürtels hat Auswirkungen auf das Alignment. Eine nicht bzw. falsch unterstützte Rückenlagerung kann das ungünstige Alignment noch verstärken! Bei Patienten mit Aspirationsgefahr (auch bei Patienten mit geblockten Kanülen) ist diese Ausgangsstellung nur in Einzelfällen zu wählen, da es das unkontrollierte Abfließen von Speichel in den Pharynx begünstigen kann und die Aspirationsgefahr dadurch deutlich erhöht wird.
ersten 30 Minuten eine Verbesserung der Lungenbelüftung und Sauerstoffkonzentration sowie des Kreislaufs. ! Vorsicht Diese Position darf nur in Absprache mit dem behandelnden Arzt genutzt werden, da sie u.a. bei Herzinsuffizienz oder erhöhtem Hirndruck kontraindiziert sein kann.
Für Patienten mit schweren neurologischen Hirnschädigungen (mit oder ohne Trachealkanüle) ist die Überwachung oder das Monitoring (z.B. Pulsoxymeter) indiziert, während sie in dieser Position liegen. Eine Variation der Bauchlage ist eine Stellung, die in der Literatur 30°- oder 135°-Lagerung genannt wird (Lipp et al. 2000, Lange et al. 1999) und vergleichbar der »stabilen Seitenlage« bei Notfällen ist. Der Patient benötigt ventrale Unterstützung entlang des Rumpfes und Beckens, um zu verhindern, dass er nach vorn fällt und sich der Druck auf Schulter und Kopf erhöht oder sogar die Atmung behindert wird.
8.7.6
Teamarbeit und Anleitung
Alle Beteiligten müssen die Bedeutung der verschiedenen Positionierungsmöglichkeiten für den Alltag kennen und
i Praxistipp 4 Um die Nachteile der Rückenlage zu vermeiden, werden Rumpf und Kopf in eine leicht flektierte Position gebracht. 4 Zudem sollten die Arme am Körper entlang abgelegt und die Beine leicht angebeugt werden. 4 Für die Aktivierung der hypotonen abdominalen Muskeln ist es sinnvoll eine unterstützte Mittelstellung zu wählen, d.h., die Beine nicht endgradig flektiert oder überstreckt lagern, um eine Basis für Fazilitation zu gewährleisten.
8.7.5
Bauchlage
Die Bauchlage kann besonders nützlich sein, um Sekret in den Bronchien und der Lunge zu mobilisieren. Eine Untersuchung von Lange et al. (1999) zeigte innerhalb der
. Abb. 8.12. Angehörigenarbeit: Anleitung eines Angehörigen bei der Unterstützung der Ausatmung (aus Gratz 2002)
8
188
Kapitel 8 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …
in der Lage sein, den Patienten in den entsprechenden Positionen zu lagern. > Beachte Die für den Patienten geeigneten Lagerungsvarianten müssen mit dem interdisziplinären Team, das auch die Familien und Helfer mit einschließt, festgelegt und ggf. geübt werden.
8
Angehörige, die ihren Patienten bei Besuchen effektiv unterstützen wollen und/oder sich entschlossen haben, ihren Patienten zu Hause weiterzuversorgen, werden in vereinbarten Therapiestunden angeleitet. . Abb. 8.12 zeigt die Einbeziehung eines Angehörigen während einer Therapie. Der Sohn des Patienten wird von einer Therapeutin angeleitet, die Vertiefung der Ausatmung an den Flanken zu unterstützen, die für ein effektives Husten und die Stimmgebung notwendig ist. Die Trachealkanüle ist vorher entblockt worden, nach Aufsetzen eines Sprechventils auf die Trachealkanüle kann der Patient sprechen. Die Co-Therapeutin unterstützt den Patienten dabei zusätzlich am Sternum.
8.7.7
Zusammenfassung
. Übersicht 8.7 fasst die wichtigsten Therapieaspekte zu-
sammen. . Übersicht 8.7. Wichtige Therapieaspekte 4 Die Therapie ist ein interaktiver Prozess zwischen Therapeutin und Patient: Die gewählte Ausgangsstellung, die Therapeutenhände und die Aktivitäten beeinflussen aktiv die Probleme des Patienten. 4 Das Ziel der Behandlung in der F.O.T.T. ist die Wiedererlangung möglichst physiologischer Bewegungsmuster u.a. durch adäquate taktile und propriozeptive Inputs. 4 Daher sind Kenntnisse der physiologischen Bewegungsabläufe und ihrer Abweichungen bei Patienten mit Hirnschädigungen sowie therapeutische Fertigkeiten für die F.O.T.T.-Therapeutin notwendig, um den Patienten wieder zu möglichst normalen Funktionen zu verhelfen. 4 Die F.O.T.T. bedient sich dabei der taktilen Unterstützung und Fazilitation. Der Patient kann eine Bewegung nur wiedererlernen, wenn er die (fazilitierte) Bewegung spüren kann. Wichtig sind dabei die erarbeitete Ausgangsstellung und die Haltung des Patienten, denn sie geben dem Patienten die 6
Möglichkeit, sein eigentliches Potenzial wieder zu nutzen. 4 Im ungünstigsten Fall beginnt die Therapie mit einem lebensnotwendigen minimalen Standard (Schutz der Atemwege, z.B. durch eine geblockte Trachealkanüle und Lagerung, Einbeziehen der Hände, des Mundes, taktile Stimulation) und endet im Idealfall mit normalem Sprechen (Atem-, Stimm-, Schluck- und Sprech-Koordination).
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8
9
Die Trachealkanüle: Segen und Fluch Rainer O. Seidl, Ricki Nusser-Müller-Busch
9.1
Indikationen zur Tracheotomie
9.2
Arten der Tracheotomie
– 192
– 193
9.2.1 Temporäre Tracheotomie – 193 9.2.2 Plastische Tracheotomie – 195 9.2.3 Komplikationen der Tracheotomie
– 196
9.3
Arten der Trachealkanüle
– 196
9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4
Blockbare Kanülen – 196 Nichtblockbare Kanülen – 197 Sonstige Kanülen – 199 Kanülenzubehör – 199
9.4
Trachealkanülenwechsel und Tracheostomapflege
9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.4.5
Einsetzen und Befestigen der Trachealkanüle – 199 Wechsel der Trachealkanüle – 200 Pflege von Trachealkanülen und Tracheostoma – 201 Komplikationen am Tracheostoma – 202 Komplikationen an der Trachea – 203
9.5
Trachealkanülen und Schlucken
9.6
Entfernung der Trachealkanüle
– 199
– 204 – 206
9.6.1 Indikationen zur Entfernung einer Trachealkanüle – 206 9.6.2 Entfernung der Trachealkanüle via Trachealkanülen-Management
Literatur
– 208
– 207
192
9
Kapitel 9 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch
Trachealkanülen sind für den Patienten ein Segen, da sie ihn am Leben halten, (Be-)Atmung ermöglichen oder erleichtern. Sie sind aber auch ein Fluch, da sie die Kommunikation und das Schlucken behindern, Sinne wie Riechen und Schmecken einschränken. Neurologische Patienten mit einer 7 Trachealkanüle sind meist 7 multimorbide, ihrer Stimme – oft auch ihrer Kommunikationsfähigkeit – beraubt, und haben vielfach zusätzlich eine mechanische Behinderung oder Beeinträchtigung des Schluckvorganges. Folge ist, dass beständig Speichel aus dem Tracheostoma und der Kanüle übertritt und/oder aus dem Mund läuft. Das betreuende Personal und die Angehörigen werden durch einen solchermaßen gehandicapten Patienten vor eine Vielzahl von Aufgaben und Problemen gestellt. Dabei fehlt es an vielen Orten an Wissen und Routine im Umgang mit Trachealkanülen. Welche Kanüle ist die richtige? Wann kann die Kanüle wieder entfernt werden? Das 7 Dekanülement erfolgt oft willkürlich, ohne klare Kriterien. Oft sind die Beteiligten überfordert und haben Angst, muss doch beim 7 Absaugen in eine Körperhöhle eingedrungen werden. Es ist für eine suffiziente Versorgung solcher Patienten unbedingt notwendig, das Verständnis für die Vielzahl der Abläufe und der möglichen Probleme und deren Lösungen bei der Versorgung mit einer Trachealkanüle zu verbessern. Der Umgang mit Trachealkanülen muss in der neurologischen Rehabilitation zur Routine werden!
Die ältesten Erfahrungen mit Tracheotomien und der Kanülenversorgung gab es früher im Bereich der Laryngologie und Chirurgie, die meisten Erfahrungen und Routine liegen heute im Bereich der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. Alle in der HNO tätigen Ärzte und Pflegenden beherrschen den Trachealkanülenwechsel, und auch die HNOPatienten und ihre Angehörige werden bei Bedarf angelernt. Auf diese Erfahrungen sollte – unter sorgfältiger Berücksichtigung der Besonderheiten bei Patienten mit
neurogenen Schädigungen – in der neurologischen Rehabilitation zurückgegriffen werden (. Abb. 9.1). Ein strukturiertes und zügiges Trachealkanülenmanagement in der Dysphagietherapie neurologischer Patienten erfordert – phasenweise – häufige Wechsel der Trachealkanülen, z.B. die Umstellung auf eine Sprechkanüle in der Therapie. Unter dieser Prämisse wird in diesem Kapitel die in der HNO-Heilkunde selbstverständliche tägliche Entnahme und Reinigung der Trachealkanüle und das vollständige Säubern des Larynx und der Trachea propagiert. ! Vorsicht Nicht geschluckter Speichel und Sekret sammeln sich über dem Block und füllen oft den Rachen aus, verlegen die Eustachische Röhre. Es können Tubenbelüftungsstörungen daraus resultieren mit Schmerzen, die uns die schwer betroffenen Patienten nicht mitteilen können. Ist der Rachen voller Sekret, sind Schluckbewegungen auch bei bester Therapie nicht möglich!
Im Vergleich dazu: Niemand würde einen inkontinenten Patienten 10 Tage oder länger in seinen nassen Windeln liegen lassen! Gelegentlich hat es sogar den Anschein, dass die Reinigung eines eingekoteten Menschen weniger Überwindung kostet, weniger Ekel erregt als Speichel, der aus Mund, Tracheostoma und der Trachealkanüle läuft. Der regelmäßige Trachealkanülenwechsel muss Routine in der neurologischen Rehabilitation werden. Leider erschweren die in der Intensivversorgung vermehrt zum Einsatz kommenden Punktionstracheotomien den Trachealkanülenwechsel und die Therapie von Schluckstörungen erheblich. Bei Verdacht auf eine Schluckstörung sollte daher in der initialen Versorgung immer eine konventionelle Tracheotomie durchgeführt werden.
9.1
Indikationen zur Tracheotomie
> Beachte Unter einer Tracheotomie oder einem Luftröhrenschnitt versteht man die Eröffnung der Luftwege unterhalb des Kehlkopfes.
Tracheotomien werden elektiv durchgeführt, d.h. unter geordneten chirurgischen Bedingungen, z.B. zur Vorbereitung eines chirurgischen Eingriffs oder notfallmäßig, bei einer Luftnot, die nicht durch eine Intubation zu beherrschen ist. (Der Begriff der Tracheotomie wird in diesem Aufsatz identisch dem der Tracheostomie gesetzt.) . Übersicht 9.1 stellt die Indikationen für eine Tracheotomie dar.
. Abb. 9.1. Zeitpunkt der Tracheotomie auf den Intensivstationen in Deutschland im Jahre 1999
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
193 9.2 · Arten der Tracheotomie
9.2.1 . Übersicht 9.1. Indikationen für eine Tracheotomie 4 Langzeitbeatmung 4 Stenosierung des Larynx durch – Tumoren – Schwellungen (z.B. durch Bestrahlung, allergische Reaktion) 4 Beidseitige Stimmlippenparese 4 Subglottische Stenose 4 Pulmonale Erkrankungen (zur Erleichterung der Bronchialtoilette) 4 Schluckstörungen mit permanenter Aspirationsgefahr (neurogen und nach operativen Eingriffen)
Tracheotomien werden vorwiegend in der HNO-Heilkunde und der Intensivmedizin durchgeführt. HNO-Ärzte tracheotomieren Patienten vornehmlich wegen Stenosen der oberen Atemwege und postoperativer Schluckstörungen. Intensivmediziner tracheotomieren hingegen kritisch kranke Patienten, um vorübergehend eine Beatmung zu erleichtern und die Spätfolgen einer translaryngealen Intubation vermeiden. Die größte Zahl der Tracheotomien wird bei Patienten mit einer Langzeitbeatmung durchgeführt. Da alle Patienten mit einem kritischen Gesundheitszustand eine Erstbehandlung auf einer Intensivstation erhalten, liegt die Indikationsstellung für ein Tracheotomie heute in erster Linie in der Hand von Intensivmedizinern. In einer Konsensuskonferenz von Intensivmedizinern wurden die Indikationen für eine Tracheotomie festgelegt (Graumüller et al. 2002): 4 Ist die zu erwartende Intubationsdauer weniger als 10 Tage, ist eine translaryngeale Intubationsdauer ausreichend. 4 Ist die zu erwartende Intubationsdauer länger als 21 Tage, soll eine Tracheotomie nach 3–5 Tagen durchgeführt werden. 4 Bei einer unklaren Intubationsdauer soll täglich die Indikation für eine Tracheotomie geprüft werden. Dies spiegelt sich auch in einer Untersuchung über den Zeitpunkt für eine Tracheotomie wieder (. Abb. 9.1, Oeken et al. 2002).
9.2
Arten der Tracheotomie
Man kann unterscheiden zwischen 4 der temporären Tracheotomie und 4 der dauerhaften oder plastischen Tracheotomie.
Temporäre Tracheotomie
Die Anlage eines temporären Tracheostomas erfolgt bei Patienten, bei denen damit zu rechnen ist, dass das Tracheostoma im Verlauf der nächsten 4–6 Wochen wieder verschlossen werden kann. > Beachte Bei der temporären Tracheotomie wird eine vorübergehende Verbindung zwischen Haut und Trachea geschaffen.
Zur Anwendung kommen heute die konventionelle Tracheotomie sowie verschiedene endoskopische Techniken.
Konventionelle temporäre Tracheotomie Nach einem Hautschnitt in Längs- oder Querrichtung wird die prälaryngeale Muskulatur auseinandergedrängt (. Abb. 9.2 a): 4 Querschnitte sollen eine geringere Narbenbildung haben, da sie dem Verlauf der Hautlinien folgen; nach Dekanülierung verschließen sie sich jedoch in vielen Fällen nicht spontan. 4 Längsschnitte sind technisch einfacher durchzuführen, haben eine geringere Komplikationsrate und verschließen sich in den meisten Fällen spontan (Denecke 1979). Nach Darstellung des Schilddrüsenisthmus wird dieser gespalten, um einen breiteren Zugang zur Trachea zu gewähren (. Abb. 9.2 b). Früher übliche Techniken mit einer Tracheotomie oberhalb, durch die oder unterhalb der Schilddrüse sollten heute nicht mehr zur Anwendung kommen. Die nicht gespaltene Schilddrüse erschwert den Trachealkanülenwechsel und neigt zu Blutungen und Komplikationen. Nach Identifikation des Ringknorpels wird mindestens eine Trachealspange unterhalb des Ringknorpels eine 7 Inzision (Einschnitt) im Zwischenraum der Trachealspangen über ein Drittel der Trachealvorderwand ausgeführt. Anschließend erfolgt das Schneiden eines Lappens aus der Tracheavorderwand, der sich über 2 oder 3 Trachealspangen erstreckt (. Abb. 9.2 c). Der Lappen wird an die Haut angenäht. Er kann, wenn das Tracheostoma verschlossen wird, zurückgeklappt werden. Dieser Trachealappen kann als Leitschiene beim Trachealkanülenwechsel dienen (. Abb. 9.2 d). Eine Resektion der Tracheavorderwand sollte nicht erfolgen (Denecke 1979). Die Fäden werden am 10. Tag nach der Operation entfernt. Wird die Öffnung der Trachea über mehr als ein Drittel der Tracheavorderwand geführt, werden die Seitenwände der Trachea instabil und fallen in das Trachealumen.
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Kapitel 9 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch
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. Abb. 9.2 a-d. Konventionelle Tracheotomie. a Nach Spalten der Haut und der prälaryngealen Muskulatur sichtbares Schilddrüsengewebe. b Nach Durchtrennen der Schilddrüse sichtbare Trachea mit den Knorpelspangen. c Nach Eröffnen der Trachea und Zurückschlagen des Trachealappens Blick auf den durch den Mund eingeführten Beatmungstubus. d Einsetzen der Trachealkanüle mit einem Spekulum zum Ende der Operation
Folge ist, dass sich nach Verschluss des Tracheostomas eine Stenose bilden kann, die bei Röntgenaufnahmen eine typische sanduhrförmige Gestalt hat.
Punktionstracheotomie Prinzipiell handelt es sich bei allen Arten der Punktionstracheotomie um eine Seldinger-Technik, d.h., über einen Führungsdraht oder Katheter wird eine Trachealkanüle platziert. Es kommen heute 4 verschiedene Verfahren zur Anwendung. jPunktionstracheotomie nach Ciaglia
Nach initialer Punktion der Trachea und nach Einführen eines Führungsdrahts wird der Punktionskanal von außen
d
sukzessive mit Dilatatoren (stiftförmige Instrumente) verschiedener Größe soweit aufgedehnt, bis eine Trachealkanüle eingesetzt werden kann. Die Punktionsstelle wird durch Palpation und endotracheale Endoskopie mittels Bronchoskop festgelegt und zwischen der 2. und 3. Trachealspange durchgeführt. In letzter Zeit wird die Dilatation mit einem einzigen Dilatator (»blue rhino«) durchgeführt (. Abb. 9.3) (Ciaglia 1985). jDilatationstracheotomie nach Griggs
Die Vorgehensweise entspricht der Punktionstracheotomie nach Ciaglia. Die Dilatation des Gewebes erfolgt in diesem Fall jedoch mit einer Spreizpinzette, die bis in die Trachea eingeführt wird (Griggs et al. 1991).
195 9.2 · Arten der Tracheotomie
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. Abb. 9.3 a-d. Punktionstracheotomie. a Blick in die Trachea über ein Bronchoskop. b Punktion der Trachea mit sichtbarer Sonde, die durch die Vorderwand geführt wird. c Erweitern des Punktionskanals
mit einem Dilatator. d Positionierte Trachealkanüle in der Trachea. (Wir bedanken uns für die Überlassung von Bildmaterial zur Punktionstracheotomie bei Frau Dr. Laun, Unfallkrankenhaus Berlin)
jDilatationstracheotomie nach Frova
9.2.2
Auch bei dem jüngsten Verfahren entspricht die Vorgehensweise den oben genannten Verfahren. Die Dilatation erfolgt bei dieser Methode über eine konisch zulaufende Dilatationsschraube mit einem selbstschneidenden Gewinde. Auch in diesem Fall sollte der Dilatationsvorgang endotracheal beobachtet werden.
Gibt es Anlass für die Annahme, dass ein Tracheostoma länger als 6–8 Wochen oder dauerhaft notwendig ist, z.B. im Rahmen einer Langzeitbeatmung, sollte eine plastische Tracheotomie erfolgen.
jTranslaryngeale Tracheotomie nach Fantoni
Auch hier wird die Punktion der Trachea von außen zwischen der 2. und 3. Trachealspange durchgeführt. Der Führungsdraht wird dann allerdings von der Trachea aus durch den Mund geführt. An diesen Führungsdraht wird eine spezielle Trachealkanüle mit konischer Spitze durch den Larynx zurückgezogen. Die Dehnung des Tracheostomas erfolgt endolaryngeal durch die Trachealkanüle. Abschließend wird die konische Spitze auf der Trachealkanüle entfernt und die Kanüle in den zur Lunge führenden Schenkel der Trachea positioniert (Oeken et al. 2002).
Plastische Tracheotomie
> Beachte Bei der Anlage eines plastischen Tracheostomas wird eine dauerhafte Verbindung zwischen der Haut und Tracheawand geschaffen.
Nach Eröffnung der Haut wird die prälaryngeale Muskulatur auseinandergedrängt und der Schilddrüsenisthmus gespalten. Befinden sich in diesem Bereich zystische Veränderungen der Schilddrüse werden diese entfernt, um genügend Raum für die Fixierung der Haut an der Tracheawand zu schaffen. Anschließend wird die Tracheavorderwand über 3 Tracheaknorpel eröffnet und die Tracheavorderwand resiziert. Dabei muss darauf geachtet werden, dass nicht
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Kapitel 9 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch
mehr als ein Drittel der Vorderwand resiziert wird. Anschließend wird die mobilisierte Haut an der Tracheawand fixiert, wobei für eine problemlose Heilung darauf geachtet werden muss, dass die Haut Stoß an Stoß mit der Tracheaschleimhaut vernäht wird. Die Fäden werden lang gelassen, so dass sie nach 10 Tagen problemlos entfernt werden können und nicht im Tracheostoma zu liegen kommen. Plastisch angelegte Tracheostomen müssen operativ verschlossen werden. i Praxistipp Tracheostomen sollten ausreichend groß sein, damit der Kanülenwechsel problemlos gelingt und der Speichelüberstand abgesaugt werden kann, und gleichzeitig eng sein, damit nicht zuviel Ausatemluft am Tracheostoma verloren geht, die bei einer möglichen Stimmgebung fehlt!
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9.2.3
Komplikationen der Tracheotomie
Arten der Trachealkanüle
9.3
> Beachte Das grundsätzliche Funktionsprinzip einer Trachealkanüle besteht darin, die Atemluft unter Aussparung des Kehlkopfes direkt in die Trachea zu leiten.
Nach einer Tracheotomie sollen Kanülen das neu geschaffene Tracheostoma offen halten. Unterschieden werden kann zwischen 4 blockbaren und 4 nichtblockbaren Trachealkanülen.
9.3.1
Blockbare Kanülen
Blockbare Trachealkanülen haben einen einheitlichen Aufbau. Sie bestehen aus einem Schlauch, der in die Trachea reicht über den die Atmung ermöglicht wird, sowie einer Manschette, einem Block oder Cuff, der diesen Schlauch gegen die Tracheawände abschließt. Der Cuff ist
Intraoperativ kann es zu einer Verletzung des Ösophagus
kommen, die sofort durch eine Naht versorgt werden muss. Blutungen können bei einer konventionellen Tracheotomie durch eine Naht verschlossen werden, bei den Punktionsmethoden müssen diese in einem erweiterten Eingriff operativ versorgt werden. Verletzungen der Trachea oder Fehlpunktionen während einer Punktionstracheotomie müssen ebenfalls sofort in einem erweiterten Eingriff versorgt werden, sind aber insgesamt selten geworden. Postoperativ sind in den ersten Stunden nach einem operativen Eingriff Blutungen aus dem Tracheostoma nicht selten. Diese entstehen in den meisten Fällen aus der Haut oder dem Schilddrüsengewebe. In der Notfallsituation kann eine Tamponade (z.B. feuchte Kompresse), die zwischen die Kanüle und das Tracheostoma gepresst wird, die Blutung in den meisten Fällen stoppen. Stärkere Blutungen müssen im Operationssaal versorgt werden. Bei Verletzung der Tracheaknorpel, die insbesondere bei den Punktionsmethoden gefährdet sind, wird eine operative Revision, in den meisten Fällen die Anlage eines plastischen Tracheostomas notwendig. Ein 7 Emphysem der Haut oder des Mediastinums weist auf eine Fehlpositionierung der Kanüle hin. Sie liegt nicht vollständig in der Trachea. Die Beatmungsluft dringt in das umgebende Weichgewebe. In einem solchen Fall muss die Kanüle neu positioniert werden oder ein anderer Kanülentyp gewählt werden. Die Position der Kanüle muss auf jeden Fall endoskopisch kontrolliert werden.
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. Abb. 9.4 a-c. Blockbare Trachealkanüle. a Über ein Ventil (1) wird der Cuff (2) mit Luft gefüllt. Das Trachealkanülenschild (3) dient der Befestigung der Trachealkanüle. b Schematische Darstellung einer geblockten Trachealkanüle in der Trachea. c Schematische Darstellung der Funktion einer geblockten Trachealkanüle. Sie soll den Übertritt von Speichel (blau) in den Trachealbaum verhindern
197 9.3 · Arten der Trachealkanüle
durch einen dünnen Schlauch mit einem außen liegenden Ventil und/oder einem Ausgleichsballon verbunden. In den meisten Fällen wird für das Auffüllen des Cuffs Luft genutzt, in besonderen Fällen werden andere Gase (Lachgas etc.) eingesetzt (. Abb. 9.4). Blockbare Kanülen sind meistens aus Kunststoff. Dabei werden sowohl unflexible vorgeformte, als auch flexible Kanülen angeboten. Vorteil der flexiblen Kanülen ist, dass sie sich besser den anatomischen Gegebenheiten eines Patienten anpassen können. i Praxistipp Eingesetzt werden blockbare Kanülen, wenn ein vollständiger Abschluss der Trachea notwendig ist. In den meisten Fällen ist dies eine externe mechanische Beatmung, z.B. im Rahmen einer Langzeitbeatmung, in selteneren Fällen eine Schluckstörung mit Aspiration.
Der Abschluss der Trachea gegen die Kanüle erfolgt durch den Cuff. Der Cuff einer Trachealkanüle muss komprimierbar sein. Mit jedem Schluck kommt es zu einer Kompression der Trachea, diese Kompression muss ausgeglichen werden, damit keine Schäden an der Trachea entstehen. Moderne Trachealkanülen (»low pressure«) ermöglichen dem Cuff einen Druckausgleich durch einen außen liegenden Ausgleichsballon, der Druckschwankungen in der Trachea ausgleicht. Cuffs werden in zwei Formen angeboten: kugelförmig oder walzenförmig. Kugelförmige Cuffs liegen der Trachea nur zu einem sehr kleinen Querschnitt an, walzenförmige mit ihrer gesamten Außenfläche (. Abb. 9.4). Bei langzeitbeatmeten Patienten ist die kleine Auflagefläche eines kugelförmigen Cuffs in den meisten Fällen ausreichend, da nur der Luftdruck in der Trachea gehalten werden muss.
> Beachte Flüssigkeiten, die nicht komprimierbar sind, dürfen nicht in den Cuff gefüllt werden! Der Druck im Cuff sollte 25 mmHg nicht überschreiten (»grüner Bereich« des Cuff-Druckmessers).
25 mmHg ist der Druck in den Kapillarien der Tracheaschleimhaut. Wird dieser überschritten, ist eine Versorgung der Tracheaschleimhaut mit Blut nicht mehr gesichert, die Schleimhaut atrophiert und geht zugrunde. In einigen Fällen ist allerdings durch einen Cuffdruck von 25 mmHg ein Abschluss der Trachea vor abfließendem Speichel nicht vollständig möglich. In solchen Fällen sollten Trachealkanülen mit einem anderen Cuff (z.B. walzenförmig, der sich der Tracheawand besser anlegen kann) getestet werden. Eine medikamentöse Reduktion der Speichelproduktion mit z.B. Pflastern (Scopoderm®) kann versucht werden. Durch diese Medikamente kommt es zu einem eher zähen Schleim, der aber ebenfalls Probleme bereiten kann. Lässt sich stärkeres Aufblocken der Trachealkanüle als ultima ratio nicht umgehen, ist eine tägliche endoskopische Kontrolle der Tracheaschleimhäute notwendig. Verschiedene blockbare Kanülen werden mit einem zusätzlichen Kanal angeboten, der in Richtung Kehlkopf weist und ein 7 Absaugen des Patienten ermöglicht, ohne die Kanüle zu wechseln. Diese Lösung erscheint für verschiedene Pflegeeinrichtungen von Vorteil zu sein, weist aber gleichzeitig auf die fehlende Praxis des Pflegepersonals im Wechsel der Trachealkanüle hin. Eine komplette Reinigung der Trachea ist mit diesen Kanülen nicht möglich. Verschiedentlich wird eine Dauerabsaugung über diesen Kanal propagiert. ! Vorsicht Die dauerhafte Beschallung eines Patienten durch eine Dauerabsaugung ist, besonders bei schwer betroffenen Patienten, nicht zu akzeptieren!
i Praxistipp 4 Bei Patienten mit einer Schluckstörung, bei denen es zu einer permanenten Aspiration von Speichel kommt, ist die kugelförmige Fläche nicht ausreichend, um die tieferen Atemwege zu schützen. Die wesentlich größere Auflagefläche der walzenförmigen Cuffs bietet einen besseren Schutz gegen eine Aspiration. 4 Beim Füllen der walzenförmigen Cuffs ist darauf zu achten, dass sich die Cuffmembran vollständig entfalten muss, um der Tracheawand anzuliegen. Deshalb muss der Cuff nach Einsetzen der Kanüle erst mit mäßigem Überdruck gefüllt werden, um ihn dann zu entlasten.
9.3.2
Nichtblockbare Kanülen
> Beachte Nichtblockbare Kanülen stellen eine Verbindung zwischen der Trachea und der äußeren Haut her.
In seltenen Fällen handelt es sich nur um ein einfaches Rohr (»Hummerschwanz«). In den meisten Fällen handelt es sich um ein doppeltes Rohr; die Kanüle beinhaltet zusätzliche eine sog. Seele (. Abb. 9.5). Diese Seele kann z.B. für eine Reinigung entnommen werden, ohne die gesamte Kanüle entfernen zu müssen. Hergestellt werden diese Kanülen heute in den meisten Fällen aus thermoplastischen Kunststoffen, die früher üblichen Metallkanülen (»Silber-
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Kapitel 9 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch
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c d . Abb. 9.5 a-d. a Nichtblockbare Trachealkanülen (1), mit Sieb zum Sprechen (2). b Sprechkanüle; das Sieb ermöglicht die Passage von Luft durch den Kehlkopf. Das Ventil an der Vorderseite (kleines Bild) verschließt sich beim Ausatmen und öffnet sich beim Einatmen.
c Schematische Darstellung einer Sprechkanüle, die die Atemluft bei verschlossenem Ventil durch den Kehlkopf lenkt. d Sprechkanüle, mit einem Deckel verschlossen, somit ist ein Ein- und Ausatmen über den Kehlkopf möglich
kanülen«) sollten wegen der fehlenden Anpassung an die anatomischen Gegebenheiten nur noch in Ausnahmefällen zum Einsatz kommen. Sprechkanülen haben in ihrem Verlauf zusätzlich ein Öffnung oder ein Sieb (Fensterung), so dass beim Ausatmen die Luft durch die Trachealkanüle in den Larynx geleitet werden kann. Ventile mit einer Klappe, Sprechventile, die auf die Kanüle gesetzt werden und sich beim Einatmen öffnen, ermöglichen beim Einatmen die Trachealkanüle zu benutzen (»kurzer Weg«) und beim Ausatmen über den Kehlkopf zu atmen (»langer Weg«) (. Abb. 9.5 a [2], 9.5 b-d). Bei Sprechkanülen tritt die Luft über das Sieb, die Fensterung in den Kehlkopf. Bei allen anderen Kanülen
(Biesalski-Kanülen, . Abb. 9.5 a [1]) muss die Ausatemluft an der Kanüle vorbei in den Kehlkopf treten. Das kann für den Patienten eine erheblich erhöhte Atemarbeit bedeuten und das Sprechen unmöglich machen, z.B. wenn die Kanüle zusätzlich einen Cuff besitzt, der Platz einnimmt. Sprechventile auf entblockten Kanülen sollten in diesen Fällen nur eine kurzzeitige Lösung sein und möglichst bald durch Sprechkanülen ersetzt werden. Wird das Sprechventil bei einer Sprechkanüle entfernt und durch einen Verschluss (Stopfen/Deckel/Kappe) ersetzt, z.B. vor einer Dekanülierung, ermöglicht das eine vollständige Atmung über den Kehlkopf, bedeutet allerdings ebenfalls einen erhöhten Atemwiderstand (. Abb. 9.5 d).
199 9.4 · Trachealkanülenwechsel und Tracheostomapflege
9.3.3
Sonstige Kanülen
jKombinationskanülen
Zunehmend finden Kanülen Verbreitung, die die Funktionsprinzipien einer blockbaren Kanüle mit dem einer Sprechkanüle kombinieren. Sie sind mit einem Cuff und einer Fensterung versehen.
Austrocknen der Schleimhaut. Gleichzeitig verhindern Filter auf der Kanüle das Abhusten, sie verkleben durch den Schleim und erschweren dann die Atmung. ! Vorsicht Es kann zu massiven Komplikationen mit Erstickungen durch Filter bei Patienten mit trockenem, zähen Schleim kommen.
! Vorsicht Eine blockbare Kanüle mit einem Fenster ermöglicht nur die Aufgabe einer blockbaren Kanüle, wenn eine geschlossene Seele eingesetzt ist!
jSprechaufsätze
Sprechaufsätze sind Ventile, die das Einatmen über die Kanüle (das Ventil ist geöffnet) und das Ausatmen über den Kehlkopf (das Ventil ist geschlossen) ermöglichen. Im Gegensatz zu »feuchten Nasen« ist mit ihnen ein annähernd geschlossenes System vorhanden, das einen physiologi-
Nur wenn eine die Fensterung abdichtende, geschlossene Seele eingesetzt wird, gelingt der vollständige Abschluss der Trachea. Ohne Seele kann eine Aspiration über die Fensterung stattfinden. Wird diese Seele entfernt, um ein Sprechen zu ermöglichen, muss eine vorherige Reinigung des Kehlkopfes und der Trachea von Speichel erfolgen. Gelegentlich sind solche Kanülen mit einer supraglottischen Absaugvorrichtung versehen.
auch bei blockbaren Kanülen Verwendung. Sprechventile sollten aber nur eine kurzzeitige Lösung sein (7 Kap. 9.6).
> Beachte
! Vorsicht
schen Druckaufbau beim Schlucken und Husten und Pressen (Stuhlgang) ermöglicht! Diese Ventile finden
4 Die Kanülen müssen vor dem Aufsetzen des Sprechventils entblockt werden, sonst kann der Patient nicht ausatmen! 4 In vielen Fällen ist der Raum zwischen der Kanüle mit Cuff und der Tracheawand sehr gering, so dass eine erhöhte Atemarbeit notwendig ist oder es zu einem Ausatemstau kommt. Diese Situation ist lebensbedrohlich! Das Problem kann nicht dadurch behoben werden, dass der Patient »nur ausreichend lange das Atmen mit Sprechaufsatz üben muss«. Er muss mit einer kleineren Trachealkanüle versorgt werden, damit der Ausatem an der Kanüle vorbei aus dem Körper austreten kann!
Diese Kanülen sollten nur in Einzelfällen zum Einsatz kommen (7 Kap. 9.6.2)!
jStomaplatzhalter
Steht die Entfernung einer Trachealkanüle an, muss der Patient jedoch intermittierend abgesaugt werden, können Platzhalter zum Einsatz kommen. Die äußere Form erinnert an ein T, der lange Schenkel wird in der Trachea platziert, der kürzere über das Tracheostoma ausgeleitet. Die Befestigung dieser Platzhalter ist in vielen Fällen schwierig, häufig werden sie durch die Patienten mit einem kräftigen Hustenstoß ausgehustet. Kommt es zu einer Dislozierung, dann besteht die Gefahr, dass die Trachea hinter dem Platzhalter zugeht. Sprechkanülen mit einem Deckel sind in vielen Fällen eine bessere Lösung für den Patienten und das Pflegepersonal. 9.4 9.3.4
Trachealkanülenwechsel und Tracheostomapflege
Kanülenzubehör
jFilter (»feuchte Nase«) Da die Befeuchtung der Atemluft durch die Nase und
den Mundraum nach einer Tracheotomie nicht mehr gewährleistet ist, muss die Atemluft angefeuchtet werden, um ein Austrocknen der Trachealschleimhaut zu verhindern. Diese Filter werden in vielen Fällen mit einem Adapter geliefert, der den Anschluss einer Sauerstoffsonde ermöglicht. Bei Patienten mit einer Schluckstörung sind solche Aufsätze oft nicht sinnvoll, wenn der Patient häufig abgesaugt werden muss (außer zum Schutz gegen Fremdkörper). Der Speichel in der Trachea verhindert sicher ein
Die Reinigung der Trachealkanülen und die Pflege des Tracheostomas muss zur Vermeidung von Komplikationen täglich durchgeführt werden.
9.4.1
Einsetzen und Befestigen der Trachealkanüle
Die leicht eingefettete Trachealkanüle (Kanülen-Öl, das auf Oliven-Öl basiert, Xylocain-Gel) wird mit einer Drehung um 90° in das Tracheostoma eingeführt, die Drehung beim Einführen erfolgt im Uhrzeigersinn – von »Viertel nach Halb«. Jeder übermäßige Druck ist dabei zu vermei-
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200
Kapitel 9 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch
den, um Verletzungen zu verhindern. Abschließend sollte die Position einer neuen Kanüle immer mit einem Endoskop kontrolliert werden.
! Vorsicht Zwischen dem Trachealkanülenband und der Haut sollen immer zwei Finger passen!
i Praxistipp Vor Einsetzen der Kanüle sollten an einer Seite der Kanüle bereits das Band zur Befestigung der Trachealkanüle und die Schlitzkompresse angebracht werden. Dieses Vorgehen erleichtert die endgültige Befestigung der Kanüle, minimiert den Reiz in der Trachea und schont den Patienten.
Die Reaktion des Patienten auf das Einsetzten der Kanüle kann sehr unterschiedlich sein. Ist das Tracheostoma intakt und ausreichend groß, wird das ist das vorsichtige Einsetzen der Kanüle problemlos oder nur von einigen Hustenstößen begleitet sein. > Beachte
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Bei wahrnehmungsgestörten Patienten kann die Reaktion auf das Einsetzen der Kanüle heftig sein. Der Vorgang muss langsam vorbereitet und mit entsprechender taktil-propriozeptiver Unterstützung des Patienten durchgeführt werden.
Neben lang andauerndem Husten kommt es in seltenen Fällen zu einer massiven Reaktion, die bis zu einem Erbrechen führen kann. In solchen Fällen sollte die Trachea vor dem Einsetzen der Kanüle mit einem anästhesierenden Spray (z.B. Xylocain-Spray) betäubt werden und/oder die Kanüle zusätzlich mit einem anästhesierenden Gel (z.B. Xylocain-Gel) eingerieben werden. Die Befestigung der Trachealkanüle erfolgt mit einem Band am Trachealkanülenschild. Das Schild muss bei blockbaren Kanülen auf eine individuelle Position eingestellt werden (. Abb. 9.4 a). i Praxistipp Bei blockbaren Kanülen kann als Faustregel gelten, dass die Kanüle in der richtigen Position ist, wenn sich der aufsteigende, aus der Haut ragende Trachealkanülenschenkel in einem 90°-Winkel zur Tracheahinterwand befindet und der Haut um das Tracheostoma nicht oder nur mit geringem Druck anliegt.
Dabei ist auf eine ausreichende Beweglichkeit der Trachealkanüle zu achten. Ein translatierter Nacken und/ oder eine zu starr befestigte Kanüle ziehen die Kanüle nach 7 kranial und behindern das Schlucken. Bei längerer
Liegedauer kann es zusätzlich zu einer Schädigung der 7 kranialen Tracheaknorpel oder des Ringknorpels, Gra-
nulationen und infolge der Kompression zu einer Tracheastenose kommen. Gummibänder, die eine zu straffe Befestigung ermöglichen, sind zu vermeiden.
9.4.2
Wechsel der Trachealkanüle
Indikationen für einen Wechsel der Trachealkanüle sind: 4 Komplikationen (Luftnot etc.), 4 Aspiration. > Beachte Zur Reinigung der Trachealkanüle und des Larynx bei Aspiration, und um weitere Komplikation (Entzündungen s.u.) zu verhindern, muss die Trachealkanüle regelmäßig entnommen und gereinigt werden!
i Praxistipp 4 Im Intensivbereich werden neue Trachealkanülen unter sterilen Bedingungen eingesetzt und die alten entsorgt. 4 In fast allen anderen Bereichen sind Trachealkanülen aus hygienischer Sicht mit einer Zahnprothese zu vergleichen und können nach einer Reinigung bei erhaltener Funktion bei demselben Patienten erneut eingesetzt werden. 4 Ein Austausch der Trachealkanüle muss erfolgen, wenn die Kanüle nicht vollständig zu säubern ist bzw. nicht mehr ihre Funktion erfüllt. Das heißt bei Kanülen mit einem Cuff, dass dieser nicht mehr ausreichend Druck aufbauen kann oder den Druck nicht mehr über längere Zeit halten kann. 4 Kunststoffkanülen altern mit der Dauer ihres Einsatzes, der Kunststoff wird porös bzw. thermoplastische Kunststoffe verlieren ihre Plastizität und werden hart. Der Zeitraum ist unterschiedlich, es liegt also immer im Ermessen des Behandelnden, wann er sich zu einem Kanülenaustausch entschließt.
Jeder geplante Trachealkanülenwechsel muss vorbereitet sein! Die dafür notwendigen Instrumente müssen bereitliegen und einsatzfähig sein. Für einen Trachealkanülenwechsel benötigt man: 4 einen funktionsfähigen und einsatzbereiten Absauger mit einem ausreichend großen Absaugkatheter (Chariere 12, Grün; Chariere 14, Orange), 4 ein Spekulum, um das Tracheostoma aufhalten zu können (. Abb. 9.2 d; das Spekulum sollte mindestens 12 cm lange Schenkel haben!), 4 eine Lampe, um das Tracheostoma inspizieren zu können, 4 eine zusätzliche Trachealkanüle, die im Notfall sofort eingesetzt werden kann.
201 9.4 · Trachealkanülenwechsel und Tracheostomapflege
Vor der Entfernung der Trachealkanüle bei schluck-
gestörten Patienten muss der Mund von Sekret gesäubert werden und die Trachea oberhalb durch das Tracheostoma und unterhalb durch die Kanüle sorgfältig abgesaugt werden. Erst dann darf die Trachealkanüle unter Absaugbereitschaft entblockt und entfernt werden. Nach dem Entfernen ist sofort nochmals durch das Tracheostoma abzusaugen, um aufgestautes Sekret von oberhalb des Cuffs, das nun die Trachea hinabläuft, zu entfernen. Sollte das Tracheostoma sehr eng sein oder schnell schrumpfen, muss es mit einem Spekulum offen gehalten werden. Anschließend wird das Tracheostoma inspiziert. Dabei sind sowohl die Außenhaut als auch der Tracheostomakanal und die Trachea ggf. mit einem Endoskop zu inspizieren. i Praxistipp Bei flexiblen, blockbaren Kanülen sollte unbedingt zum Einführen der Kanüle die standardmäßig beiliegende Einführhilfe (Mandrain) benutzt werden. Sie stabilisiert und führt die Kanüle zusätzlich.
> Beachte Jede Person (Arzt, Pfleger, Therapeut und Angehöriger), die mit der Betreuung von Patienten mit einer Trachealkanüle betraut ist, muss den Wechsel einer Trachealkanüle beherrschen. Die klinische Erfahrung zeigt, dass es immer wieder zu Komplikationen durch die Trachealkanüle kommen kann. Tritt eine solche Situation auf – z.B. wenn der Patient luftnötig wird und blau anläuft – muss die erste eintreffende Person die Erstmaßnahme, das Entfernen oder den Wechsel der Trachealkanüle durchführen. Warten auf eine zweite Person, z.B. den Arzt, kann in einem solchen Fall katastrophale Folgen haben.
9.4.3
Pflege von Trachealkanülen und Tracheostoma
Eines der häufigsten Probleme bei Patienten mit zähem Sekret und Trachealkanülen ist die Verborkung der Kanüle. Da die befeuchtende Funktion der Nase wie bei der normalen Atmung entfällt, kommt es zu einer vorzeitigen Austrocknung der Trachea mit einer Verborkung. Neben Filtern, die auf die Trachealkanüle aufgesetzt werden können, verhindert die regelmäßige Befeuchtung der Luft durch Luftbefeuchter oder Inhalationen diese Komplikation. Besteht allerdings eine Schluckstörung mit einer Aspiration, sind diese Maßnahmen zu überdenken. Durch den beständigen Speichelfluss in die Trachea ist ein Austrocknen der Trachea nicht zu erwarten.
! Vorsicht Die aufsetzbaren Filter und Sprechaufsätze stellen eine zusätzliche Gefährdung des Patienten dar, da sie durch ausgehustetes Sekret soweit verlegt werden können, dass eine Atmung nicht mehr möglich ist. Die regelmäßige Kontrolle des Filters und die Reinigung der Trachealkanüle bleibt die wichtigste Maßnahme!
Trachealkanülen aus Kunststoff oder Silber werden unter laufendem Wasser mit einer Flaschenbürste gereinigt. Eine spezielle Desinfektion ist nicht notwendig. Grundsätzlich sind die gleichen hygienischen Regeln auf eine Trachealkanüle anzuwenden wie auf eine Zahnprothese. Trachealkanülen auf Intensivstationen müssen nach den dort geltenden Regeln unter sterilen Bedingungen gewechselt werden; die Kanülen werden ausgetauscht und durch neue ersetzt. Ebenso wird bei Patienten mit Keimbesiedelung im Trachealsekret, z.B. MRSA, verfahren. Das Tracheostoma eines Patienten mit einer Schluckstörung muss regelmäßig gepflegt und kontrolliert werden. Wichtig sind die Entfernung und der Austausch von feuchten Kompressen am Tracheostoma. Dennoch kann es immer wieder zu Komplikationen am Tracheostoma durch eine Trachealkanüle kommen. > Beachte Um die Zahl der Komplikationen an Trachea und Tracheostoma zu vermindern, ist eine regelmäßige Kontrolle und ggf. Entnahme und Reinigung der Trachealkanüle unumgänglich, besonders bei einer Schluckstörung.
Es ist selbstverständlich, das jeder Patient unverzüglich gereinigt und frisch versorgt wird, wenn seine Windel nass oder beschmutzt ist. Bei Patienten, bei denen beständig Speichel aus dem Tracheostoma tritt, werden in vielen Institutionen nur wöchentlich oder seltener Kontrollen mit einem Kanülenwechsel durchgeführt. > Beachte Jeder Patient mit einer Aspiration muss regelmäßig abgesaugt werden. Bei der Absaugung ist darauf zu achten, dass durch das Saugen keine zusätzlichen Verletzungen an den Trachealschleimhäuten gesetzt werden.
i Praxistipp Für ein schonendes Absaugen in der Trachea sollte sich zwischen dem Saugerschlauch und dem Absaugkatheter ein sog. Finger-tip befinden, so dass es möglich ist, beim Einführen des Katheters den Sog zu entfernen und beim Herausziehen durch Verschluss des Finger-tip Sog auf den Absaugkatheter zu bringen.
9
202
Kapitel 9 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch
Es werden von verschiedenen Firmen Katheter angeboten, die dies nicht mehr notwendig machen sollen. Die klinische Erfahrung zeigt allerdings, dass es trotzdem immer wieder zu Verletzungen der Tracheaschleimhäute kommt und der Reiz in der Trachea für diese Patienten mit diesen Kathetern deutlich stärker ist. ! Vorsicht Der Absaugkatheter sollte nicht zu tief eingeführt werden, da er sonst auf die Carina, die Teilungsstelle zwischen den Bronchien, stößt und dort zu Verletzungen führen kann. Wird blutig abgesaugt, dann sitzt die Kanüle u.U. nicht richtig, der Katheter stößt gegen die Tracheaschleimhaut. Die Kanüle muss unbedingt neu justiert werden!
a
i Praxistipp
9
Muss ein Patient mit einer Trachealkanüle häufiger als 3- bis 4-mal am Tag abgesaugt werden, ist von einer Aspiration auszugehen. Infektionen der Lunge gehen in den seltensten Fällen mit einer starken Produktion von Sekret einher. Hat der Patient bereits eine geblockte Kanüle, ist der Cuff nicht ausreichend in der Lage den Speichel zu stoppen, d.h., der Patient ist durch die Trachealkanüle nicht ausreichend geschützt! Die Kanüle muss kontrolliert werden, ggf. durch einen anderen Typ oder eine größere Kanüle ersetzt oder der Cuff vorübergehend aufgeblockt (und täglich kontrolliert ) werden!
9.4.4
b
Komplikationen am Tracheostoma
jEntzündungen
Die häufigste Komplikation im Bereich des Tracheostomas sind Entzündungen. Ursache für Entzündungen ist in den meisten Fällen der Übertritt von Speichel, der sich oberhalb des Kanülen-Cuffs staut, aus der Trachea über das Tracheostoma auf die Haut läuft. Da Speichel überaus aggressiv Gewebe angreift, (seine Hauptaufgabe ist das Spalten von »Gewebe«, meist Nahrung im Magen), wird das umliegende Gewebe des Tracheostomas »angedaut«. Es kommt zu einer Entzündung des Stomakanals sowie der umliegenden Haut (. Abb. 9.6 a). > Beachte Um Entzündungen im Bereich des Tracheostomas zu therapieren, ist es unbedingt notwendig, die Menge des austretenden Speichels bzw. seine Verweildauer am Gewebe zu minimieren.
c . Abb. 9.6 a-c. Entzündetes Tracheostoma. a Mit Granulationen. b Blick in Trachea. Das Trachealumen ist mit Granulationen vollständig verlegt. c Blick in die Trachea mit einem Einbruch der Tracheavorderwand und folgender Stenosierung der Trachea
203 9.4 · Trachealkanülenwechsel und Tracheostomapflege
i Praxistipp 4 Es sollte eine regelmäßige »Trachealtoilette« durchgeführt werden, bei der die Trachealkanüle entfernt und der Larynx sowie die Trachea durch Absaugen gereinigt wird. 4 Der Mundraum muss regelmäßig von Sekret gesäubert werden. Larynx und Trachea müssen regelmäßig abgesaugt werden, nicht nur über die Trachealkanüle, sondern ggf. auch vorsichtig mit einem kleinen Absaugkatheter am Tracheostoma neben der Kanüle. 4 Kompressen am Tracheostoma müssen regelmäßig gewechselt werden, wenn sie feucht sind. Es sollten möglicht saugfähige Mull-Kompressen benutzt werden. 4 Metalline Kompressen sollten bei Übertritt von Speichel nicht benutzt werden. Der Erfahrung nach kommt es durch die Kunststoffmaterialien zu einer Verstärkung der Entzündung um das Tracheostoma.
Die Hautoberfläche um das gerötete Tracheostoma kann mit Zinksalbe gepflegt werden, die großzügig aufgetragen wird. Zusätzlich kann zur Pflege des Tracheostomakanals die Trachealkanüle mit einer schmalen Tamponade umwickelt werden. Auf diesen Salbenstreifen kann ebenfalls Zinksalbe aufgetragen werden. Ein endgültiges Abheilen der Haut um das Tracheostoma ist erst bei einem aspirationsfreien Schluckvorgang zu erwarten. Unter der Lupe Untersuchungen zur Punktionstracheotomie In vielen Untersuchungen zur Punktionstracheotomie konnte festgestellt werden, dass es durch die Punktionstracheotomie zu einer Abnahme der entzündlichen Komplikationen im Bereich des Tracheostomas kam. Ursache ist, dass der sehr enge Punktionskanal keinen Übertritt von Speichel aus dem Tracheostoma ermöglicht. Folge ist, dass der aspirierte Speichel nicht mehr über das Tracheostoma ablaufen kann, Larynx und Pharynx stehen dann beständig in Speichel, der die Therapie und Rehabilitation einer Schluckstörung deutlich erschwert und auch Tubenbelüftungsstörungen hervorrufen kann. Aus diesen Gründen sind Punktionstracheotomien bei einer manifesten Schluckstörung kontraindiziert!
jGranulationen
Granulationen entstehen als Antwort eines Reizes auf eine offene Wunde (. Abb. 9.6 a). Ursachen für Granulationen am Tracheostoma sind 4 eine zu harte, unflexible Trachealkanüle (Metall, harte, nicht thermoplastische Kunststoffe), 4 mechanische Irritation des Tracheostomarandes durch das Sieb bei einer Sprechkanüle, 4 ein zu enges Tracheostoma, 4 eine zu straffe Befestigung der Trachealkanüle, 4 ein beständiger Speichelfluss.
Dabei muss davon ausgegangen werden, dass die Wahrscheinlichkeit für Granulationen mit der Liegedauer der Trachealkanüle zunimmt. Ab der 6. Woche ist ein deutlicher Anstieg solcher Reaktionen zu verzeichnen (Graumüller et al. 2002). Behandelt werden Granulationen durch 4 Änderung der Trachealkanülenposition oder 4 Wechsel der Trachealkanülenart, 4 Entfernen durch Ätzung mit Silbernitrat, Abtragung durch einen Laser oder ein Elektromesser in Lokalanästhesie, 4 Anlage eines plastischen Tracheostomas bei sehr engem Tracheostoma.
9.4.5
Komplikationen an der Trachea
Beim Trachealkanülenwechsel sollte die Trachea unbedingt auf Schäden inspiziert werden. Durch den Druck der Trachealkanüle oder des Cuffs kann es zu Schäden an den Tracheawänden kommen. Verletzungen der Schleimhaut sind nicht selten und heilen in den meisten Fällen ohne Komplikationen ab, wenn man nach einem Kanülenwechsel darauf achtet, den Cuff oder die Kanüle nicht wieder auf die vorhandene Verletzung zu platzieren. Verletzungen der Trachealknorpel sind wesentlich gefährlicher und schwieriger zu behandeln. ! Vorsicht 4 Die Trachealkanüle kann durch Reibung oder falsche Platzierung in die Tracheawand einspießen und dabei den Knorpel verletzen oder zerstören. In seltenen Fällen kann es dabei zu einer einspießenden Verletzung in das Mediastinum und einer Verletzung des Truncus brachiocephalicus kommen, der in Höhe des Cuffs liegt. 4 Durch den Druck der Trachealkanüle am Oberrand des Tracheostomas kann es zu einem Eindrücken der Trachealknorpel oder/und des Ringknorpels oberhalb der Öffnung in der Trachea kommen. Das Tracheallumen wird eingedrückt, es entsteht eine Trachealstenose (. Abb. 9.6 c). 4 Trachealstenosen treten nicht unbedingt direkt nach der Entfernung einer Trachealkanüle und dem Verschluss des Tracheostomas auf. Erst nach 3–4 Monaten werden viele klinisch relevant; solange braucht die verbleibende Entzündung in den Trachealspangen, um zu einer Stenose zu führen. Patienten, die nach einer Tracheotomie/einer Langzeitintubation im weiteren Verlauf über zunehmende Luftnot klagen, sind somit umgehend auf eine klinisch relevante Trachealstenose zu untersuchen!
9
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Kapitel 9 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch
Ist es zu einer geringfügigen Verletzung der Tracheawand gekommen, kann der vorübergehende Einsatz eines Montgomery-T-Röhrchens die entstandene Verletzung schienen. Bei ausgedehnten Verletzungen ist eine Tracheaplastik notwendig. Für die Versorgung von Tachealstenosen stehen heute eine Vielzahl von operative Verfahren zur Verfügung (. Abb. 9.7): 4 Stenosen bis ca. 5 cm werden durch eine Resektion der Stenose und Wiedervereinigung der Luftröhre versorgt. 4 Ausgedehntere Verletzungen machen weit aufwendigere Verfahren notwendig, die bis zu einer Transplantation von Tracheagewebe reichen können.
9.5
9
Trachealkanülen und Schlucken
In einer eigenen Studie wurde der Einfluss einer Trachealkanüle auf die Schluckfrequenz überprüft (Seidl et al. 2002b). Untersucht wurden 10 Patienten (64±7 Jahre, 8 männlich, 2 weiblich) mit einer Schluckstörung nach einem Hirninfarkt oder einem Schädelhirntrauma 3. Grades. Die Schluckfrequenz der Patienten pro 5 Minuten war kleiner gleich eins, bei allen Patienten war wegen der
a . Abb. 9.7 a, b. Veränderungen an der Trachea und ihre Behandlung. a Intraoperatives Bild typischer Veränderungen an der Trachea und dem Tracheostoma 5 Jahre nach einer Tracheotomie. 1 Granulationen am Oberrand der Trachea durch das Reiben der Trachealkanüle. Die darüberliegenden Trachealknorpel bzw. der Ringknorpel sind eingedrückt. 2 Massive Verdickung der unteren Tracheostomaund Tracheaanteile durch den Druck der Trachealkanüle. 3 Die Tracheotomie wurde nicht exakt in der Mittellinie durchgeführt bzw.
. Tab. 9.1. Daten der untersuchten Patienten Patienten
Werte
Geschlecht
8, 2
Alter
64±7 Jahre
Frühreha-Barthel-Index (-325–0)
-200±29
Early Functional Abilities (20–100)
22,25±2,6
Koma-Remissions-Skala (0–24)
8,25±4,9
(Seidl et al. 2002b)
Schluckstörung eine Tracheotomie 14 Tage (±7 Tage) vor der Untersuchung durchgeführt worden. Der 7 FrührehaBarthel-Index (FRB, Schönle 1995) lag bei allen Patienten unter -200 (± 29) Punkten, die Daten weiterer Indizes können . Tab. 9.1 entnommen werden. Als Kriterium für den Einfluss einer Trachealkanüle auf die Schlucksequenz wurde die Schluckfrequenz gewählt. Der Schweregrad der neurologischen Erkrankungen schloss weitere Untersuchungsverfahren aus. Die Erhebung der Schluckfrequenz erfolgte durch Zählung der Schluck- bzw. Kehlkopfbewegungen über einen Zeitraum von 5 Minuten.
b durch den Druck der Trachealkanüle ist es zu einem Verlust an Trachealknorpel an der seitlichen Trachea gekommen. Wird die Trachealkanüle entfernt, fällt die Seitenwand ein und blockiert die Trachea, es besteht eine Trachealstenose. b Nach Entfernung der Stenose wird die verbliebene Trachea an ihren Enden wieder zusammengenäht (End-zu-End-Anastomose); es ist wieder eine normale Trachea vorhanden
205 9.5 · Trachealkanülen und Schlucken
. Tab. 9.2. Änderung der Schluckfrequenz nach Entfernen der Trachealkanüle Schluckfrequenz
Geblockte Kanüle
Kanüle entfernt
Mittelwert
0,4
1,65
Standardabweichung
0,82
1,5
(n=20, t-Test, p=0,001)
Die erste Erhebung der Schluckfrequenz erfolgte vor jeder Manipulation an dem Patienten bei liegender und geblockter Trachealkanüle. Um den Einfluss von Speichelresten im Mundraum und Pharynx auszuschließen, erfolgte nach Seitenlagerung bzw. Aufrichten des Patienten die Reinigung des Mundraums nach den Regeln der F.O.T.T. (Gratz u. Woite 2004) und die Reinigung des Tracheobronchialbaums durch Absaugen nach Entblocken, Entfernen der Kanüle und digitalen Verschluss des Tracheostomas. Anschließend erfolgte die zweite Erhebung der Schluckfrequenz. Die Untersuchung wurde an 5 aufeinanderfolgenden Tagen wiederholt. Das Ergebnis von 20 Einzeluntersuchungen zeigt einen statistisch signifikanten Anstieg der Schluckfrequenz nach Entfernen der Trachealkanüle und Verschluss
des Tracheostomas (Student-t-Test, p=0,001) (. Tab. 9.2, . Abb. 9.8 a). Eine Korrelation zwischen der Zunahme der Schluckfrequenz und dem Status der Patienten, gemessen mit den Skalen 7 Frühreha-Bartel-Index (FRB, Schönle 1995), Early Functional Abilities (EFA, Heck et al. 2000) und Koma-Remissions-Skala (KRS, Schönle u. Schwall 1995) bestand nicht. Um ein akzidentelles, also zufälliges Ergebnis auszuschließen, wurden die Untersuchungen bei allen Patienten an 5 aufeinanderfolgenden Tagen einer Woche wiederholt. > Beachte Der Anstieg der Schluckfrequenz nach Entfernung der Trachealkanüle und Verschluss des Tracheostomas war reproduzierbar.
Der Einfluss einer Trachealkanüle auf das Schluckverhalten, den Schluckvorgang und das Schluckergebnis wird unterschiedlich beurteilt (7 »Unter der Lupe«, S. 206). jEinfluss der Sensibilität
Eine Zunahme der Reize in Larynx und Pharynx durch einen Luftstrom kann zu einer gesteigerten Sensibilität in diesen Regionen führen. Eine veränderte Sensibilität kann direkte und indirekte Folgen haben (. Übersicht 9.2).
a
b . Abb. 9.8 a, b. Schluckfrequenz. a Einfluss der Trachealkanüle auf die Schluckfrequenz, gemessen bei 20 Einzeluntersuchungen. Dargestellt sind Mittelwert und Standardabweichung. b Verlauf der Änderung der Schluckfrequenz nach Entfernen der Trachealkanüle. Dargestellt sind die Mittelwerte bei 10 Patienten an 5 aufeinanderfolgenden Tagen (Seidl et al. 2002b)
. Übersicht 9.2. Folgen veränderter Sensibilität Direkte Folgen: 4 Residuen wie Speichel und Nahrung werden gespürt. 4 Schlucken und Abwehrreaktionen wie Husten und Räuspern nehmen zu. 4 Kontrolle des Aspirats, mit dem Versuch dieses zu entfernen (Ausspucken, reinigendes Schlucken), verbessert sich. 4 Ein Bolus kann besser kontrolliert werden. Indirekte Folgen: 4 Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass eine Zunahme von sensiblen Reizen im Pharynx zu einer Änderung der Repräsentation der entsprechenden Areale im Motorkortex führt (Hamdy et al. 1997). 4 Reproduzierbare elektrische Reize im Pharynx führen zu einem Anstieg der Schluckfrequenz (Fraser et al. 2002). 4 Langfristig ist durch den Reiz in Larynx und Pharynx mit einer verbesserten Reorganisation und Rehabilitation des Schluckvorgangs nach Entfernung einer Trachealkanüle zu rechnen. Dies konnte in den eigenen Untersuchungen bestätigt werden (. Abb. 9.8).
9
206
Kapitel 9 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch
Unter der Lupe Einfluss der Trachealkanüle auf das Schlucken Eine Anzahl von Untersuchungen legt nahe, dass eine geblockte Trachealkanüle den Schluckvorgang negativ beeinflusst. Muz et al. (1989) berichtet über eine Abnahme der Aspiration in szintigraphischen Untersuchungen nach Verschluss der Trachealkanüle bei Patienten mit Operationen bei Kopf- Hals-Tumoren. Dettelbach et al. (1995) und Stachler et al. (1996) zeigten einen positiven Effekt eines Trachealkanülenverschlusses auf die Aspiration. Eibling und Gross (1996) und Stachler et al. (1996) vermuteten den positiven subglottischen Druck, der nach der Entfernung der Trachealkanüle auftreten kann, als Auslöser für das verbesserte Schluckvermögen nach dem Verschluss der Trachealkanüle. Weitere Autoren machten auf verschiedene Einschränkungen durch Trachealkanülen beim Schlucken aufmerksam. So soll die Beweglichkeit des Kehlkopfes durch die Fixierung der Trachealkanüle an der Halshaut mechanisch eingeschränkt werden. Dies führt zu einer verminderten Kehlkopfhebung und einer ungenügenden Öffnung des oberen Ösophagussphinkters (Bonanno 1971, Nash 1988). Durch den Druck der Tubusmanschette kommt es zu einer Einengung des Ösophagus, es folgt eine erschwerte Passage und ein Rückstau von Speichel in den Kehlkopf (Feldmann et al. 1966).
9
Weitere klinische Untersuchungen fanden keinen Einfluss einer Trachealkanüle und deren Status auf den Schluckvorgang und die Aspiration: 4 Leder et al. (1996) zeigte in einer Untersuchung bei Patienten mit Operationen im Kopf-Hals-Bereich, dass ein kurzzeitiger Verschluss einer entblockten Trachealkanüle keine Änderung der Aspirationsinzidenz zur Folge hatte. 4 Leder et al. (1998) untersuchte 16 Patienten nach Operationen im Kopf-Hals-Bereich und fand keinen Zusammenhang zwischen Verschlussstatus der Trachealkanüle und einer Aspiration. 4 Leder berichtete 1999, dass bei einer heterogenen Patientengruppe mit einer Tracheotomie nach Langzeitintubation ein Sprechventil auf der Trachealkanüle keinen Einfluss auf eine Aspiration hatte. 4 In einer weiteren Untersuchung (Leder et al. 2001) wurde gezeigt, dass der Status der Trachealkanüle keinen Einfluss auf eine Aspiration oder den Tonus des unteren Ösophagussphinkters hat. Dennoch wird von Leder empfohlen, die Trachealkanüle während einer fiberoptischen Untersuchung des Schluckens zu entblocken und zu verschließen (Leder u. Sasaki 2001).
9.6
Entfernung der Trachealkanüle
9.6.1
Indikationen zur Entfernung einer Trachealkanüle
> Beachte Trachealkanülen können entfernt werden, wenn die Indikation für eine Tracheotomie nicht mehr vorhanden ist. Sowohl Atmung und Schluckvermögen, als auch die Abwehrmaßnahmen müssen effizient sein (. Abb. 9.9)!
jLangzeitbeatmung
Bei Patienten nach Langzeitbeatmung ist dies der Fall, wenn der Patient über einen längeren Zeitraum stabil und ausreichend über den Mund atmen, seinen Speichel schlucken kann und eine Reinigung der Atemwege über einen produktiven Hustenstoß möglich ist. Um pulmo-
In eigener Untersuchung findet sich eine Änderung der Schluckfrequenz bei schwer betroffenen Patienten mit einer Tracheotomie nach Änderung des Trachealkanülenstatus. Direkte Folge einer Änderung des Trachealkanülenstatus ist die Lenkung des Ausatemstroms durch den Kehlkopf. Bereits frühere Untersuchungen weisen auf die Folgen von Änderungen der Sensibilität in Larynx und Trachea durch Trachealkanülen hin (Murray 1999, Shaker et al. 1995, Wyke 1973). Es kommt zu einer Reduktion der Schlucktriggerung und der Schutzmechanismen Husten und Räuspern (Tolep et al. 1996). Folgen sind 4 eine Verkürzung des laryngealen Verschlusses während des Schluckens, 4 eine Störung der Koordination zwischen Schluckreflextriggerung, Stimmlippenverschluss und Apnoephase während des Schluckens (Shaker et al. 1995). Bei den meisten der Studien, besonders denen von Leder (Leder et al. 2001, 1998, 1996, 1999), handelte es sich um Patienten mit einer Operation im Kopf-HalsBereich. In diesen Fällen sind strukturelle, mechanische Änderungen Ursache für eine Schluckstörung. Eine Änderung des Ausatemstroms und damit der Sensibilität und Wahrnehmung im Larynx können vermutlich zu keiner Besserung des Schluckvermögens führen.
nale Einbrüche nach Dekanülierung zu verhindern, sollten Patienten mit einem strukturierten TrachealkanülenManagement, via Sprechkanüle und ggf. verschlossene Sprechkanüle, langsam abtrainiert werden. Die Lunge muss Zeit haben, die physiologische Atemarbeit via Mund/ Nase, die mehr Kraft und eine andere Atemmechanik erfordert, wieder trainieren zu können. ! Vorsicht Zu beachten ist, Patienten mit hohen Querschnittläsionen, d.h. Lähmungen der Thoraxmuskulatur können nicht effizient abhusten und müssen je nach Lähmungshöhe und Funktionseinschränkung ein Tracheostoma behalten (Seidl et al. 2010a, 2010b)!
jSchluckstörungen
Vor der Entfernung bzw. Änderung der Trachealkanülenart bei einer Schluckstörung ist immer der Status des Schutzes der unteren Atemwege zu untersuchen. Nur
207 9.6 · Entfernung der Trachealkanüle
. Abb. 9.9. Schematische Darstellung des Schutzes der unteren Atemwege aus dem Berliner Dysphagie Index
wenn dieser ausreichend ist, kann eine Trachealkanüle entfernt bzw. eine geblockte Trachealkanüle durch eine ungeblockte Trachealkanüle ersetzt werden. Der Schutz der unteren Atemwege wird durch drei Teilbereiche bestimmt (. Abb. 9.9): 4 Allgemeinzustand: Atmung, Koordination, Tonus, Haltung, Vigilanz, Kraft. 4 Abwehrmaßnahmen: Husten, Räuspern, Sekrettransport. 4 Schluckfähigkeit: Auslösen des Schlucks, Erfolg des Schlucks. Geprüft werden kann der Schutz der unteren Atemwege durch eine 7 Videofluoroskopie oder eine 7 fiberoptischendoskopische Untersuchung. Es gibt eine Vielzahl von Empfehlungen zur Interpretation der Untersuchungsbefunde für die Entfernung einer Trachealkanüle (Lipp u. Schlaegel 1997, Schröter-Morasch 1996), und ein standardisiertes Untersuchungsprotokoll (Berliner 7 Dysphagie Index, BDI) für die fiberoptische Untersuchung erleichtert
heute die Entscheidungsfindung (Seidl et al. 2002a).
9.6.2
Entfernung der Trachealkanüle via Trachealkanülen-Management
In der Therapie von Schluckstörung kann sich ein strukturiertes Trachealkanülen-Management über Tage, aber auch Wochen oder Monate erstrecken. Dabei reicht es nicht aus, eine Kanüle regelmäßig zu entblocken und mit einem Sprechaufsatz zu versehen (Heidler 2007). In den Entblockungszeiten muss mit der physiologischen Luftstromlenkung, aber auch therapeutisch an der Verbesserung des Speichelschluckens zur Aspirationsbekämpfung gearbeitet werden (7 Kap. 10)! Beobachtungen in der
Schlucksprechstunde zeigen, dass Kombinationskanülen (blockbar mit Fensterung, 7 Kap. 9.3.3) im ambulanttherapeutischen Alltag sehr oft die »Endstation« im Trachealkanülen-Management darstellen! Während der Therapie wird die geschlossene Seele entfernt und nach der Therapie wieder eingesetzt. Damit wird der Status quo gehalten Das Ziel, von der geblockten Kanüle wegzukommen, wird dadurch nicht erreicht! Dies bringt den Patienten nicht weiter, davon profitieren nur die Kanülenhersteller. Nach Entfernung einer geblockten Trachealkanüle sollte erst für einige Tage oder Wochen eine – in der Trageeigenschaft viel angenehmere – Sprechkanüle, dann evt. eine geschlossene Sprechkanüle eingesetzt werden. Dies kann Rekanülierungen und Re-Tracheotomien verhindern, die die Patienten wieder zurückwerfen. Immer wieder wird unterschätzt, dass die Wiederherstellung der physiologischen Atmung via Mund und Nase anfänglich eine erhebliche, ungewohnte Atemarbeit erfordert. jVorteile der Sprechkanüle im TrachealkanülenManagement
Eine Sprechkanüle ermöglicht es dem Patienten und seiner Lunge, sich schrittweise an die vermehrte Atemarbeit zu gewöhnen und gibt dem Team die Sicherheit und Möglichkeit, den Patienten in dieser Erprobungsphase be Bedarf abzusaugen. Dies ist besonders bei Patienten mit Punktionstracheostomen eine Option, deren Tracheostoma beim Abkleben eine sofortige Schrumpfungstendenz zeigt und die dann nicht mehr problemlos rekanüliert werden können. Bei Umstellung auf eine Sprechkanüle ist oft festzustellen, dass die Schluckfrequenz weiter steigt und die Absaugfrequenz sinkt (7 Kap. 9.5). Dies steigert die Lebensqualität und führt oft zu einer qualitativ deutlichen Verbesserung der Bewegungsabläufe und deren Koordination! ! Vorsicht Bei Dekanülierung ist zu prüfen, ob der Patient in der Lage ist, 4 ausreichend über den Kehlkopf zu atmen, 4 seinen Speichel zu schlucken und 4 seine Schutz- und Abwehrreaktionen effektiv und effizient einzusetzen.
Nach der Dekanülierung sollte das Tracheostoma für einige Tage mit einem Zugverband verschlossen werden, so dass die Öffnung schrumpfen oder sich spontan verschließen kann. Nach Anlage eines plastischen Tracheostomas ist eine operativer Eingriff zum Verschluss des Tracheostomas notwendig.
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208
Kapitel 9 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch
! Vorsicht Der operative Eingriff eines Tracheostomaverschlusses sollte immer unter stationären Bedingungen durchgeführt werden, da es durch eine Nachblutung im Operationsgebiet mit folgender Kompression der Trachea zu lebensgefährdenden Komplikationen kommen kann.
Die Wundheilung nach Verschluss eines Tracheostomas ist
in vielen Fällen verzögert. Das Gewebe in der Umgebung des Tracheostomas kann durch den lang anhaltenden Entzündungsreiz durch den austretenden Speichel massiv verändert sein. Es kann zu eitrigen Sekretionen und der Ausbildung einer Fistel kommen. Sollte das Stoma nach 6–8 Wochen nicht abgeheilt und verschlossen sein, kann ein zweiter operativer Verschluss unternommen werden. i Praxistipp
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Die Komplikationen sollten erst konservativ mit lokal reinigenden Maßnahmen, Streifeneinlage und Druckverbänden behandelt werden. Sollte das Stoma nach 6–8 Wochen nicht abgeheilt und verschlossen sein, kann ein zweiter operativer Verschluss versucht werden.
> Beachte Schlucken ist eine Vitalfunktion! Trachealkanülen sind für das Überleben von schluckgestörten Patienten notwendig. Das Trachealkanülen-Management, die Pflege der Trachealkanüle und des Tracheostomas und der therapeutische Umgang mit diesen sind für die Rehabilitation von entscheidender Bedeutung. Jeder, der an der Pflege von Trachealkanülen-Trägern beteiligt ist, muss Grundkenntnisse der Versorgung von Patienten mit Trachealkanülen haben und den Umgang praktisch beherrschen!
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9
10
Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T.: der Weg zurück zur Physiologie Heike Sticher, Claudia Gratz
10.1
Grundlagen: Physiologie
10.1.1 10.1.2 10.1.3
Normale Atmung – 212 Schutz- und Reinigungsmechanismen Atem-Schluck-Koordination – 216
10.2
Grundlagen: Pathophysiologie
10.2.1 10.2.2 10.2.3
Veränderungen der Atmung – 216 Abnormale Haltung und Bewegung – 217 Trachealkanülen und ihre Auswirkungen – 217
10.3
Therapie
10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.3.5 10.3.6 10.3.7
Grundgedanken – 218 Behandlungspositionen – 219 Reinigung des Atem-Schluck-Trakts – 220 Therapeutisches Absaugen – 222 Therapeutisches Entblocken – 222 Therapeutisches Vorgehen nach der Entblockung Interdisziplinäre Zusammenarbeit – 225
Literatur
– 212 – 215
– 216
– 217
– 226
– 223
212
10
Kapitel 10 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T.: der Weg zurück zur Physiologie
Die therapeutische Behandlung neurologischer Patienten mit 7 Trachealkanüle hat sich in Deutschland seit Mitte der 80er Jahre zum breiteren Aufgabenbereich von Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Logopäden und Krankenpflege entwickelt. Sie stellt hohe Anforderungen an ein interdisziplinäres Team. Nach wie vor gibt es viele Kliniken, die Patienten mit Trachealkanülen versorgen, ohne den therapeutischen, pflegerischen aber auch ärztlichen Mitarbeitern Fortbildungsmöglichkeiten aufzuzeigen, die konzeptionell fundiertes Wissen und wertvolle Erfahrungshintergründe zur Behandlung dieser besonders komplexen Problematik anbieten. Einschränkend muss allerdings gesagt werden, dass das Angebot an Fortbildungen zum Thema »Umgang mit tracheotomierten Patienten« gering ist und sich zumeist mit Materialfragen befasst. Für die Therapie von Patienten mit erworbenen Hirnschäden, die eine Trachealkanüle haben, braucht es weitaus mehr als die richtige Kanüle. Unabdingbar sind – neben dem fundierten Wissen über die Physiologie – auch ein vertieftes Verständnis für die Veränderungen, die durch eine Hirnschädigung verursacht werden. Diese haben oft Auswirkungen auf das komplizierte System von Atmung und Schlucken. Wir stellen in diesem Kapitel einen Behandlungsansatz vor, der sich als konzeptionell begründetes, interdisziplinäres 7 Trachealkanülen-Management versteht. Dabei sollte den Mitarbeitern mit der meisten Erfahrung und dem fundiertesten F.O.T.T.-Hintergrund auch die Hauptverantwortung bzgl. Befunderhebung, Zielsetzung, Behandlungsplanung und Evaluation zukommen.
10.1
Grundlagen: Physiologie
Grundlage der Therapie ist ein detailliertes Wissen über Atmung, Schlucken und deren Koordination. Im Folgenden werden diese Funktionen erläutert (7 Kap. 5 und 8).
10.1.1
. Abb. 10.1. Übersichtsbild: Lunge und Trachea
Spangen werden dorsal durch elastisches Bindegewebe (Pars membranacea) und Muskulatur (M. trachealis) zu Ringen geschlossen (Dikeman u. Kazandjian 1997, Ehrenberg 1998, Mang 1992). Dadurch ergibt sich eine elastische Trennung zur Speiseröhre hin. Die gesamte Trachea ist mit Flimmerepithel tragender Schleimhaut ausgekleidet. An der Bifurkation (Höhe 5. Brustwirbel) trennt sich die Trachea in einen rechten und linken Hauptbronchus, weiter in Hauptlappen, Bronchien, dann in Bronchiolen und zuletzt in die Alveolen. Die gesamte Lunge besitzt etwa 300–400 Millionen Alveolen, deren Durchmesser von 0,06 bis 0,2 mm variiert und deren Gesamtoberfläche zwischen 80 m2 bei Einatmung und 40 m2 bei starker Ausatmung beträgt. > Beachte Trachea und Bronchien werden durch ihre Bauweise offen gehalten. Sie brauchen, um verschlossen zu werden, einen besonderen (Schutz-)Mechanismus. Die Bronchiolen hingegen sind dehn- und komprimierbar.
Normale Atmung Das Atemzentrum
jDie Anatomie der Atemwege
Der Abstand von der oberen Zahnreihe bis zur Glottis beträgt etwa 14 cm (. Abb. 10.1). Der Kehlkopf befindet sich auf der Höhe des 6./7. Halswirbelkörpers, daran schließt sich die 7 Trachea als ein elastisches Rohr an, welches bis zu den Bronchien reicht. Sie ist 10–12 cm lang mit einem Durchmesser von ca. 13–20 mm (entspricht etwa der Größe von einem 1-Cent- bis zu einem 5-Cent- Stück). Sie besteht aus 16–20 hufeisenförmigen Knorpelspangen mit Bändern dazwischen, so dass die Trachea ständig offen gehalten wird und Zug- und Druckbelastungen (bei Ein- und Ausatmung, sowie bei Bewegungen des Körpers) gewachsen ist. Die
Das Atemzentrum befindet sich im Hirnstamm (Medulla oblongata). Der Rhythmus der Atmung wird dort vorgeprägt, er kann jedoch individuell moduliert werden, z.B. durch die Erfordernisse des Stoffwechsels oder durch das Lenken der Aufmerksamkeit auf die Atmung. Vom Atemzentrum aus steuern die respiratorischen Neuronen die Ein- und Ausatembewegungen über die Innervation der Muskeln. Regelgrößen der Atmung sind: 4 ph-Wert, 4 Kohlendioxidpartialdruck (PCO2) und 4 Sauerstoffpartialdruck (PO2) im arteriellen Blut.
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
213 10.1 · Grundlagen: Physiologie
Der PCO2 ist der stärkste chemische Antrieb bei der Atmung. Die Frequenz der Atmung verändert sich abhängig von 4 Lebensalter, 4 Anstrengung (z.B. Hochleistungssport) bzw. Anspannung (z.B. Angst), 4 anatomischen Gegebenheiten (z.B. starke Kyphoskoliose) und 4 Veränderungen des Haltungshintergrunds, die im Zusammenhang mit verschiedenen neurologischen Krankheitsbildern zu sehen sind. . Übersicht 10.1 fasst die Faktoren, die die Atmung beeinflussen, zusammen.
. Übersicht 10.1. Auswirkungen auf die Atmung 4 4 4 4 4
Alter Konstitution Kondition Haltungshintergrund Psychische Faktoren
> Beachte Normale Ruheatmung ist gekennzeichnet durch: Einatmung – Ausatmung – Atempause. Die Frequenz liegt beim Erwachsenen bei ca. 15 Atemzügen pro Minute.
jAtemvorgang
Die eingeatmete Luft wird über den oberen (Nase/Mund/ Rachen) und den unteren (Kehlkopf/Trachea/Bronchien) Atemweg bis zu den Alveolen geleitet. Dort findet der lebensnotwendige Gasaustausch statt. Dabei haben die verschiedenen Abschnitte spezielle Funktionen zu erfüllen. Der Nase gelingt es auf einer Strecke von ca. 5–8 cm die eingeatmete Luft zu reinigen, zu befeuchten und zu erwärmen. Die Befeuchtung wird auf dem weiteren Weg bis zu den Bronchien fortgesetzt. Die gesamte Strecke von Nase bis Bronchien (ca. 40–50 cm) bezeichnet man als anatomischen Totraum, da nur Luft transportiert wird, also kein Gasaustausch stattfindet. Der funktionelle Totraum umfasst zusätzlich die Volumina der belüfteten, aber nicht durchbluteten Alveolen (dort kann kein Gasaustausch stattfinden). Beim Gesunden stimmen anatomischer und funktioneller Totraum praktisch überein (das Volumen umfasst ca. 150 ml).
Lungenvolumina Der Atemvorgang jAtemphasen
Die Atmung wird in 2 bzw. 3 Phasen unterteilt: 4 Einatmung, 4 Ausatmung und 4 Atempause. kEinatmung Das Zwerchfell (Diaphragma), als unser wichtigster Einatemmuskel, kontrahiert sich (senkt sich nach unten) und
schafft dadurch mehr Volumen im Brust-/Bauchraum, es entsteht ein Unterdruck in der Lunge, und die Luft wird eingesogen. kAusatmung Durch die Entspannung des Zwerchfells und durch die
Rückstellkraft des inspiratorisch gedehnten Lungen- und Brustkorbgewebes, wird die Lunge wieder in ihre Ausgangslage gebracht. Durch den entstehenden Überdruck wird die Luft aus der Lunge nach außen gepresst. Wird die Ausatmung forciert, werden u.a. die schrägen und geraden Bauchmuskeln aktiv. kAtempause
Nach der Ausatmung gibt es eine kurze Pause, bis der erneute Impuls zur Einatmung gegeben wird (Dikeman u. Kazandjian 1997, Ehrenberg 1998, Mang 1992).
Innerhalb der Atemphysiologie werden verschiedene Volumina mit speziellen Namen bezeichnet. Grundsätzlich gibt es mobilisierbare und nicht mobilisierbare Lungenvolumina: 4 Die nicht mobilisierbaren Volumina verbleiben immer in der Lunge, 4 die mobilisierbaren werden je nach Erfordernissen genutzt. In . Tab. 10.1 ist eine Übersicht der wichtigsten Atemvolumina dargestellt (Dikeman u. Kazandjian 1997, Ehrenberg 1998, Mang 1992). In . Abb. 10.2 ist das Spirogramm mit den mobilisierbaren Lungenvolumina und dem nicht mobilisierbaren Residualvolumen dargestellt. Der Fußpunkt für das normale Atemzugsvolumen wird als Atemmittellage bezeichnet.
Gasaustausch Beim Gasaustausch in den Alveolen diffundiert O2 aus der Luft in die Blutbahn und CO2 aus der Blutbahn in die Luftwege. Diese verbrauchte Luft wird dann ausgeatmet. Um eine ausreichende Versorgung mit Sauerstoff zu gewährleisten, muss das Atemzugvolumen (AZV) groß genug sein, d.h., das Totraumvolumen deutlich übersteigen. Dies ist direkt abhängig von der Atemfrequenz. Ein gesunder Mensch hat etwa ein AZV von 600 ml (bei einer Frequenz von 15 Atemzügen pro Minute).
10
214
Kapitel 10 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T.: der Weg zurück zur Physiologie
. Tab. 10.1. Atemvolumina
10
Totalkapazität (TLC)
Gesamtes Luftvolumen, das sich nach maximaler Einatmung in der Lunge befindet (= RV+VC)
Vitalkapazität (VC)
Maximal einzuatmendes Luftvolumen nach einer maximalen Ausatmung (= ERV+AZV+IRV) ca. 4,5 l
Exspiratorisches Reservevolumen (ERV)
Noch zusätzlich auszuatmendes Luftvolumen nach einer normalen Ausatmung, ca. 1,5 l
Inspiratorisches Reservevolumen (IRV)
Noch zusätzlich einzuatmendes Luftvolumen nach einer normalen Einatmung ca. 2,5 l
Atemzugvolumen (AZV)
Luftvolumen eines spontanen Atemzugs (= Alveolar- + Totraumvolumen, ca. 600 ml beim gesunden Erwachsenen); Tidalvolumen (TV)
Inspirationskapazität (IC)
Maximale Einatmung aus der Atemmittellage heraus (IC = AZV+IRV)
Totraumvolumen
Das in den oberen und unteren Atemwegen verbleibende Luftvolumen (des AZV), welches nicht am Gasaustausch teilnimmt, ca. 150 ml
Alveolarvolumen
Das Luftvolumen des AZV, welches am Gasaustausch teilnimmt, ca. 450 ml
Residualvolumen (RV)
In der Lunge verbleibendes Restluftvolumen nach einer maximalen Ausatmung, ca. 1,5 l
Funktionelles Residualvolumen (FRV)
Luftvolumen, welches sich nach einer normalen Ausatmung in der Lunge befindet (= ERV+RV), ca. 3 l
Atemminutenvolumen
Luftvolumen, das innerhalb einer Minute ein- und ausgeatmet wird, ca. 6–9 l/min
> Beachte Um das erforderliche Atemzugvolumen zu erreichen, sind wenige tiefe Atemzüge effizienter als viele flache. Durch viele flache Atemzüge wird das AZV kleiner werden (z.B. 350 ml), und dadurch sinkt der Anteil der sauerstoffreichen Luft.
. Abb. 10.2. Spirogramm
Bei der Ruheatmung geht in den meisten Fällen sowohl die Ein- als auch die Ausatmung durch die Nase. Bei der Sprechatmung wird die Ausatmung größtenteils über den Mund gelenkt. Bei der Ein- und Ausatmung muss ein gewisser Atemwegswiderstand überwunden werden (Ehrenberg 1998, Martin et al. 1994, Sasaki et al. 1977). Rechnet man mit 100% Widerstand für den ganzen Weg, entfallen auf 4 den Abschnitt Nase alleine ca. 50%, 4 den Bereich Pharynx/Larynx ca. 25% und 4 das letzte Teilstück, Trachea/Bronchien, ca. 25%. Die Lunge benötigt diesen Widerstand, um sich ausreichend entfalten zu können, damit eine möglichst große durchblutete Fläche (Alveolen) für den Gasaustausch zur Verfügung steht. Die Atmung hat ein hoch gesichertes System, mit dem Ziel, keine anderen Materialien außer Luft von oben nach unten zu den Lungen durchzulassen und jedes festere Bestandteilchen sofort von unten nach oben herauszutransportieren: 4 Die Stimmlippen und Taschenfalten können sich schließen, damit nichts von oben nach unten eindringen kann. 4 Die Flimmerhärchen der Lungen- und Tracheaschleimhaut können Staub- und Sekretteilchen von unten nach oben befördern. Das koordinierte Schlagen aller Flimmerhärchen (20-mal pro Sekunde) bewirkt den Transport des Schleims nach kranial mit einer Geschwindigkeit von 2 cm/min.
215 10.1 · Grundlagen: Physiologie
> Beachte Die Atemluft muss sowohl eine gewisse Distanz als auch einen gewissen Atemwegswiderstand überwinden, um von Nase/Mund zu den Alveolen zu gelangen und umgekehrt.
10.1.2
Schutz- und Reinigungsmechanismen
Schutz-/Reinigungsmechanismen für die Atemwege sind mit forcierter Ausatmung verknüpft: 4 Räuspern/Hüsteln, 4 Niesen und 4 Husten. jRäuspern
Räuspern (forcierte Ausatmungstechnik mit einem mittleren Lungenvolumen) kann Material aus dem Larynxeingang in den Rachen hochbefördern. Das fehlgegangene Sekret, die Flüssigkeit oder die Nahrung kann von dort weggeschluckt werden (Martin et al. 1994). jNiesen
Niesen dient der Reinigung der Nase und des Rachenraums, z.B. nach Eindringen von Staub oder fehlgegangener Nahrung. jHusten
Husten kann an verschiedenen Stellen ausgelöst werden und ist in der Stärke variabel. Normalerweise wird das unwillkürliche, reflektorische Husten auf Ebene der Glottis, in der Trachea – dort besonders stark an der Bifurcatio – oder in den Bronchien ausgelöst (Sasaki et al. 1977). > Beachte Effektive, physiologische Schutzmechanismen erfolgen unwillkürlich, ohne bewusste Steuerung.
! Vorsicht Schutzmechanismen sind teilweise auch willkürlich abrufbar und beeinflussbar. Besonders wenn ein gestörtes sensomotorisches System vorliegt, bieten willkürlich abgerufenes Räuspern und/oder Husten keinen ausreichenden Schutz für die tieferen Atemwege: Jemand, der nicht spürt, dass er sich verschluckt, wird auch nicht husten.
Reflektorisches Husten Das in der Lunge vorhandene Volumen wird durch Anspannung der Thorax-, Bauch- und Beckenmuskulatur bei gleichzeitigem Verschluss von Stimmlippen und v.a. der Taschenfalten komprimiert und dann – unter Beibehal-
tung der Spannung in Thorax-, Bauch- und Beckenmuskulatur – durch schlagartiges Öffnen der Stimmlippen und Taschenfalten nach kranial entladen (Ehrenberg 1998, Kapandaji 1985, Mang 1992, Sasaki 1985). Zum Schutz des Atemtrakts ist es zwingend, dass die komprimierte Luft aus der Lunge gerichtet entladen werden kann und freien Abgang nach oben hat. Beim Husten kommt es zu einer 42-fachen Zunahme der linearen Strömungsgeschwindigkeit – statt 667 cm/sec Erhöhung auf 28000 cm/sec – in der Trachea (De Vita 1990). Bei einer paradoxen Atmung ist dieser nach oben gerichtete Ausatemstrom nicht gewährleistet, da die Thorax-, Bauch- und Beckenmuskulatur keine Kompression aufbauen und beibehalten kann, und sich der aufgestaute Druck (sehr gering in der Stärke) in den nicht komprimierten Bauchraum entlädt und die Hustenwirkung verpufft (7 Kap. 8). Damit dieser Schutzmechanismus erfolgreich sein kann, muss verhindert werden, dass das hochgehustete Material sich wieder in Richtung untere Atemwege bewegt. > Beachte Dem Husten folgt entweder ein Schlucken, das für den Abtransport des hochgehusteten Materials in den Magen sorgt, oder ein Ausspucken. Voraussetzung dafür ist ein intaktes sensomotorisches System.
Sind die Schutzmechanismen unvollständig (Husten ohne Schlucken) oder nicht effektiv (zu schwaches Husten), sind sie nicht geeignet, fehlgegangenes Material so zu beseitigen, dass die Lunge geschützt wird. Therapeutische Hilfestellungen können das notwendige Schlucken nach dem Husten fazilitieren (Addington et al. 1999, Davies 1994, Edwards 1996, Gratz u. Woite 2000). In . Übersicht 10.2 sind die Eigenschaften des reflektorischen Hustens dargestellt. . Übersicht 10.2. Eigenschaften des (unwillkürlichen) reflektorischen Hustens 4 4 4 4
Ist ein Schutzmechanismus. Erfolgt mit forcierter Ausatmung. Ist mit Schlucken oder Ausspucken gekoppelt. Reinigt die unteren und mittleren (evt. sogar oberen) Atemwege von eingedrungenem Material. 4 Variiert in der Stärke je nach Bedarf.
10
216
Kapitel 10 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T.: der Weg zurück zur Physiologie
10.1.3
Atem-Schluck-Koordination
Der Schutz der Atemwege beim Schlucken setzt sich zusammen aus: 4 Anhebung des Gaumensegels gegen die Rachenhinterwand, 4 Hebung von Larynx/Hyoid nach kranial/7 ventral mit Kippung der Epiglottis nach kaudal/dorsal, 4 Annähern oder Schließen der Stimmlippen und Taschenfalten, 4 Anschließendes Ausatmen. Zum Schutz der Atemwege gehört auch ein unwillkürliches Atem-Schluck-Muster. Bei den meisten Menschen sieht es wie folgt aus: 4 entweder: Einatmung – Atemstopp/Schlucken – Ausatmung 4 oder: Einatmung – Beginn der Ausatmung – Atemstopp/Schlucken – die Ausatmung setzt sich fort (Morgan u. Mackay 1999, Selley et al. 1989, Leder et al. 1996, Smith et al. 1989).
10
Das heisst, dass sich die Atmung danach richtet, wann geschluckt wird. Dies ist jedoch nur möglich, wenn der Körper mit ausreichend Sauerstoff versorgt worden ist, um den Atemstopp für das sichere Schlucken zu gewährleisten. Nach dem Schlucken sind häufig noch Reste im Oropharynx. Bei Ein- und Ausatmung werden sie durch die Luft »verwirbelt« und können besser wahrgenommen werden: 4 Bei Einatmung werden diese Reste mit in Richtung Trachea/Lunge gezogen. 4 Bei Ausatmung kann ein mögliches Husten diese Reste direkt nach oben befördern. Das erforderliche nochmalige Nachschlucken kann dann ohne Lufthunger erfolgen (Dikeman u. Kazandjian 1997, Klahn u. Perlman 1999, Martin et al. 1994). > Beachte Es gibt ein koordiniertes, unwillkürliches Atem-SchluckMuster, das bereits vor oder direkt nach dem Atemstopp die Ausatmung initiiert.
10.2
Grundlagen: Pathophysiologie
Grundlage der Therapie ist ein detailliertes Wissen über Veränderungen der Atmung, des Schluckens und ihrer Koordination sowie die Auswirkungen dieser Veränderungen auf den Menschen. Im Folgenden werden diese Veränderungen erläutert.
10.2.1
Veränderungen der Atmung
Durch eine Verletzung des Gehirns können die Atem- bzw. Schluckzentren in ihrer Funktion beeinträchtigt werden, u.a. können abnorme Atem-Schluck-Muster mit Tendenz zur Einatmung nach dem Schlucken auftreten (Hadjikoutis et al. 2002). Ist das Atemzentrum direkt betroffen, kann daraus z.B. die Cheyne-Stokes-, die Kussmaul- oder die Biot-Atmung resultieren (Frost 1977). Durch eine vegetative Dysregulation kann es z.B. zu einem hochfrequenten Atemrhythmus oder zu einer veränderten Zusammensetzung des Speichels/Sekrets kommen. Bei Ausfällen von Atemmuskulatur, wie z.B. bei einer hohen Querschnittlähmung tritt die paradoxe Atmung auf (7 Kap. 8). Bei bestehender Spastizität (erhöhte Muskelaktivität) kann es zu einem erhöhten Sauerstoffbedarf kommen. Normalerweise steigen sowohl die Atemfrequenz als auch das Atemzugvolumen an, um diesen erhöhten Sauerstoffbedarf zu decken: 4 Die Ausatmung (mit Atempause) verkürzt sich, 4 die Einatmung bleibt fast gleich. Ist ein Patient darüber hinaus mit einer Kanüle versorgt, wird er große Schwierigkeiten haben, sein Atemzugvolumen zu erhöhen, da zusätzlich sowohl der physiologische Atemwegswiderstand (um ca. 70–75%) als auch der (genutzte) anatomische Totraum (um ca. 50%) reduziert sind (7 Kap. 10.1). > Beachte Der Patient hat nur die Möglichkeit, 4 die Atemfrequenz zu steigern, 4 die Ausatmung auf ein Minimum zu verkürzen, und 4 die Atempause nicht zu nutzen. Die Patienten atmen flacher und schneller.
Ökonomie, Effizienz und Sicherheit des Schluckens hän-
gen zum einen eng mit den normalen Haltungs- und Bewegungsmöglichkeiten unseres Körpers zusammen, zum anderen mit einer intakten Sensibilität. Dabei beeindruckt, wie groß die Anpassungsfähigkeit der oro-pharyngealen und laryngealen Strukturen an Haltungs- und Bewegungsveränderungen ist, solange das funktionelle Gleichgewicht nicht gestört wird.
Dies bewirkt, dass sich das Totraumvolumen erhöht und das Alveolarvolumen reduziert, das heißt, die Versorgung mit Sauerstoff nimmt ab (Dikeman u. Kazandjian 1997, Ehrenberg 1998, Mang 1992). > Beachte Bei den meisten Patienten mit einer Kanüle ist keine Atempause in ihrem Atemrhythmus zu beobachten. Sie atmen ständig ein und aus, ohne Pause!
217 10.3 · Therapie
Ab einer Frequenz von 24 Atemzügen/min ist die Belüftung der Lunge ungünstig. Da die Lunge aus sich heraus die Atemleistung nicht mehr bewältigt, versucht der Körper diese über Bewegungen von Rumpf und Kopf zu unterstützen (Davies 1991): 4 Bei Einatmung wird der Patient versuchen sich etwas zu strecken, 4 bei Ausatmung sich zu beugen. Dies ist für die Patienten schwere körperliche Arbeit. Normalerweise macht man nach schwerer körperlicher Anstrengung eine Bewegungspause, um sich auszuruhen. Stellen die Patienten die oben beschriebenen Bewegungen ein, sinkt die Sauerstoffsättigung, da die Lunge nicht ausreichend belüftet wird (Frost 1977). Durch die vermehrte Atemarbeit und die Bewegungen des Kopfes nach vorne kann die Kanüle an der Tracheawand reiben, auf den Ösophagus drücken und dadurch ein Erbrechen provozieren. Dies ist für einen schluckgestörten Patienten bei erhöhtem Aspirationsrisiko denkbar ungünstig. Weitere Folgekomplikationen sind Stenosen oder Knorpeleinbrüche in der Trachea (7 Kap. 9.4.5).
10.2.2
Abnormale Haltung und Bewegung
Sich normal halten und bewegen zu können ist abhängig von bestimmten Voraussetzungen: 4 einem Muskeltonus, der sich ständig an die Erfordernisse der (zielgerichteten) Aktivitäten anpasst, 4 intakte taktil-kinästhetische Wahrnehmung und 4 fortwährende Aufrechterhaltung des Gleichgewichts. Auf dieser Grundlage sind uns hoch koordinierte und selektive Bewegungen möglich; ebenso auch das Einnehmen eines für die jeweilige Aktivität angemessenen Haltungshintergrunds. Neurologisch betroffene Patienten haben in diesen Bereichen leichte bis schwere Beeinträchtigungen: Sie zeigen abnormale Haltungs- und Bewegungsmuster, die nicht nur zu großen Einschränkungen z.B. der Gehfähigkeit und/oder der Bewegungsmöglichkeiten von Armen und Händen führen. Sie haben u.a. auch Auswirkungen auf Atmung, Atem-Schluck- und Atem-Sprech-Koordination
sowie Zusammenspiel der gesamten oro-pharyngealen und laryngealen Strukturen. Therapeutisch nicht behandelte, veränderte Bewegungsmuster führen zu falschen/wenig hilfreichen sensorischen Rückmeldungen, beeinträchtigen das sensomotorische Lernen und ziehen oft Sekundärkomplikationen nach sich.
. Abb. 10.3. Schematische Darstellung einer geblockten Kanüle
10.2.3
Trachealkanülen und ihre Auswirkungen
Unbestritten ist die lebensrettende und lebenserhaltende Funktion einer Trachealkanüle. Die Trachealkanüle sichert die ausreichende Versorgung des Patienten mit Luft (bzw. dem darin enthaltenen Sauerstoff), und sie schützt in ihrer blockbaren Ausführung (. Abb. 10.3) die tiefen Atemwege vor aspiriertem Material. Trachealkanülen haben aber neben ihren eindeutigen Vorteilen auch erhebliche Nachteile (7 Kap. 9). Da bei vielen Patienten mit erworbenem Hirnschaden davon ausgegangen werden muss, dass das Tragen der Kanüle über einen längeren Zeitraum (Wochen, Monate) notwendig sein wird, müssen Angaben darüber vorliegen, wie das 7 Tracheostoma angelegt worden ist. Ein plastisch angelegtes Tracheostoma lässt ein anderes Vorgehen im rehabilitativen Prozess zu als eine 7 Dilatationstracheotomie (Graumüller et al. 2002). jAuswirkungen der Trachealkanüle . Übersicht 10.3 stellt die Auswirkungen der Trachealkanüle auf Haltung, Bewegung und Schlucken dar. Durch die in . Übersicht 10.3 beschriebenen Beeinträchtigungen der Hebung von Hyoid und Kehlkopf kann es zu Beeinträchtigungen der Funktionen des oberen Ösophagussphinkters kommen; u.U. öffnet er verspätet, häufig in nicht ausreichendem Maße und schließt verfrüht (Butcher 1982, Cameron et al. 1973, De Vita 1990).
10.3
Therapie
Das Behandlungskonzept entwickelt sich aus dem Verständnis von normalen Bewegungsabläufen und den Faktoren, welche diese beeinträchtigen. Besondere Aufmerksamkeit kommt der Physiologie der Atmung, des Schluckens, der dafür notwendigen Schutzmechanismen sowie
10
218
Kapitel 10 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T.: der Weg zurück zur Physiologie
. Übersicht 10.3. Auswirkungen der Trachealkanüle Auswirkung auf Haltung und Bewegung: 4 Die Patienten nehmen zumeist eine Schonhaltung ein. Der Nacken wird verkürzt und fixiert, um sich vor mechanischer Reizung zu schützen. Selektive Bewegungen des Kopfes werden erschwert (Gratz u. Woite 2004).
10
Stark verändert sind die Bedingungen im äußeren Atemsystem: 4 Befeuchtung, Erwärmung und Reinigung der Atemluft sind nicht mehr gewährleistet oder erschwert (Dikeman u. Kazandjian 1997, Gratz u. Woite 2004, Sasaki et al. 1977). 4 Riechen und Schmecken ist – wenn überhaupt – nur reduziert möglich (Dikeman u. Kazandjian 1997, Gratz u. Woite 2004). 4 Atemwiderstand und Distanz ändern sich für die Ein- und Ausatmung. Die Patienten atmen schneller und flacher (Dikeman u. Kazandjian 1997, Gratz u. Woite 2004, Sasaki 1985, Sasaki et al. 1977). 4 Es besteht kein geschlossenes System mehr für physiologisch effektives Schlucken und Husten (Buckwalter u. Sasaki 1984, Dikeman u. Kazandjian 1997, Gratz u. Woite 2004). Auswirkung auf das Schlucken: 4 Die Schluckbewegungen, das Heben von Hyoid und Kehlkopf werden mechanisch behindert (Bonanno 1971, Butcher 1982, Cameron et al. 1973, Lipp u. Schlaegel 1997). 4 Die Atem-Schluck-Koordination ist gestört. Ein Atemstopp ist nur eingeschränkt möglich, da trotz geschlossener Glottis die Luft im unteren Teil der Atemwege über die Trachealkanüle entweicht (Buckwalter und Sasaki 1984, De Vita 1990, Higgins et al. 1997). 4 Es kommt weniger bis keine Luft in den laryngealen und pharyngealen Raum, wodurch die normale Sensibilität als Voraussetzung für normale Schutzmechanismen zusätzlich herabgesetzt wird (Davies 1994, Leder et al. 1996, Nash, Selley et al. 1989). 4 Schlucken bzw. Nachschlucken sind oft in ihrer Frequenz reduziert (Gratz u. Woite 2004, Sasaki et al. 1977). 4 Es besteht erhöhte Infektgefahr für die unteren Atemwege und Lunge (Dikeman u. Kazandjian 1997, Higgins et al. 1997).
der Koordination dieser verschiedenen Funktionen zu. Grundlegend für die Basis der Arbeit mit kanülierten Patienten sind Kenntnis und Verständnis der F.O.T.T. Neben der ausführlichen Befundaufnahme, der Dokumentation und Bewertung des Ist-Zustandes bestimmt eine Reihe von Faktoren das Vorgehen, z.B.: 4 Allgemeinzustand des Patienten, 4 Sensorik, 4 motorische Fähigkeiten (Umphred 2000), 4 stattgehabte Aspirationspneumonien, 4 bestehende Refluxproblematik, aber auch 4 Anlageform des 7 Tracheostomas (Graumüller et al. 2002), 4 Kanülentyp und 4 ggf. weitere Erkrankungen.
10.3.1
Grundgedanken
Wie auch aus den vorangegangenen Kapiteln deutlich wird, sind Patienten mit einer schweren neurologischen Schädigung in Haltung, Bewegung und Koordination sowie ihren Schutzmechanismen zu Beginn oft massiv eingeschränkt. Die gestörte Schlucksequenz und die fehlenden Schutzmechanismen erfordern das Einlegen einer geblockten Trachealkanüle. Die in 7 Kap. 10.2.3 beschriebenen Auswirkungen einer Trachealkanüle auf Haltung, Bewegung und Schlucken verstärken sekundär die Problematik. Eine intakte Sensibilität im laryngo-pharyngealen Bereich ist grundvoraussetzend für den Schutz der Atemwege. Sensomotorisches Lernen setzt praktisches Tun voraus. > Beachte Nur wer spürt, dass sich Speichel oder Nahrungsteile im Pharynx befinden, wird schlucken. Nur wer spürt, dass sich Nahrungsteilchen in Richtung Kehlkopf bewegen, wird sich räuspern oder husten und anschließend erneut schlucken. Von entscheidender Bedeutung für die Aufrechterhaltung (Wiedererlangung) von normaler Sensibilität im physiologischen System ist ein Stimulus, für Larynx und Pharynx ist dieser Luft. Klinische Beobachtungen legen nahe, dass die Bewegungsmöglichkeitenvon Kopf und Schultergürtel für normales Spüren in diesen Bereichen von Bedeutung sind (Gratz u. Woite 2004).
Beispiel Bei Patienten mit belegt klingender Stimme oder bei Patienten mit fehlendem Nachschlucken kommt es deutlich öfter spontan zum Schlucken, wenn sie den Kopf bewegen. Ähnliche Beobachtungen kann man bei fazilitierten Armbewegungen machen.
219 10.3 · Therapie
Nun ist aber bei neurologischen Patienten beides, sowohl die Sensibilität als auch die Bewegungsmöglichkeit mit (geblockter) 7 Trachealkanüle beeinträchtigt (Butcher 1982, Cameron et al. 1973, De Vita 1990). Patienten mit einer Trachealkanüle befinden sich somit in einem Teufelskreis: 4 Einerseits haben sie eine geblockte Trachealkanüle, weil fehlende oder mangelhafte Sensibilität und Bewegungsmöglichkeit eine sichere Schlucksequenz gefährden. 4 Andererseits sind sie durch die geblockte Trachealkanüle von den Möglichkeiten, normal zu spüren und zu bewegen, abgeschnitten und der Schluckvorgang ist zusätzlich mechanisch behindert. 4 Einerseits ist ein zu frühzeitiges Entfernen oder dauerhaftes Entblocken der Kanüle fahrlässig, wenn die Patienten nicht die Möglichkeit haben, ihre Lunge ausreichend vor Aspiration zu schützen. 4 Andererseits kann der kanülierte Patient seine Schluckbewegungen nicht unter physiologischen Bedingungen durchführen und bekommt dadurch keinen Zugang zur Förderung seiner Schutzmechanismen. Diese Patienten brauchen während der Therapie die Möglichkeit in geschütztem/überwachtem Rahmen diese Funktionen wiederzuerlernen. Um dies zu ermöglichen, muss die Kanüle während der Therapie entblockt oder entfernt werden (7 Kap. 9) (Gratz u. Woite 2004, Leder et al. 1996, Sasaki 1985). Daraus ergeben sich auch die Prioritäten der Zielsetzung. > Beachte Solange der Patient auf eine (geblockte) Kanüle angewiesen ist, erfolgt keine ernährungsrelevante Nahrungsaufnahme, und es gelten bestenfalls die Grundprinzipien des therapeutischen Essens (7 Kap. 5.5.2). Das primäre Ziel ist in der Regel die dauerhafte Dekanülierung. Erst dann wird der Fokus auf die orale Nahrungsaufnahme gerichtet.
10.3.2
. Abb. 10.4. Schwer betroffene Patientin im Standing (Stehrahmen). Entblockte Trachealkanüle Gr. 7, versorgt mit einem Sprechventil. Ausatemunterstützung mit Bewegungsrichtung für die Rippen nach vorne/unten durch die dahinterstehende Therapeutin
Seitenlage Eine Seitenlage sollte immer so gestaltet sein, dass Sekret und Speichel aus dem Mund herauslaufen kann oder das in der untenliegenden Wange gesammelte Sekret nach Bedarf mit Gaze aus dem Mund entfernt werden kann. So kann zumindest die Gefahr einer Aspiration von im Mund befindlichem Speichel minimiert werden.
Sitz Im Sitz ist darauf zu achten, dass der Oberkörper nach vorne geneigt ist und der Kopf sich in einer leichten 7 Flexion (»langer Nacken«, Chin-tuck) befindet, das heißt, dass das Kinn der Brust etwas angenähert ist. Auch hier kann Sekret oder Speichel nach vorne aus dem Mund fließen oder vom Therapeuten regelmäßig entfernt werden.
Behandlungspositionen Stand
Die Erarbeitung einer adäquaten Behandlungsposition (. Abb. 10.4) kann zu Beginn einen Großteil der Therapie ausmachen. Dies ist aber notwendig, um den gesamten Entblockungsvorgang sowie die Therapiesituation für den Patienten sicher zu gestalten (Davies 1994, Gratz u. Woite 2004).
Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei auf die Unterstützung von oberem Rumpf und Halswirbelsäule – in leichter 7 Flexion – gerichtet werden, da so die Effizienz des Abhustens erhöht und das Risiko von erneuter Aspiration gemindert werden kann. Im Stand können Atmung und Husten gut unterstützt werden (. Abb. 10.4).
! Vorsicht
Rollstuhlversorgung: Beispiel des B.A.T.S.A.
Eine Trachealkanüle darf nicht ohne Berücksichtigung der Ausgangsposition und des sich möglicherweise bereits aufgestauten Speichelsees entblockt werden!
Ein weiterer wichtiger Aspekt im Gesamtmanagement liegt in der Versorgung des Patienten in den therapiefreien Zeiten des 24-Stunden-Konzepts. Dazu zählt auch die Roll-
10
220
Kapitel 10 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T.: der Weg zurück zur Physiologie
a
10
b
. Abb. 10.5 a, b. Patient ohne Rumpf- und Kopfkontrolle im Rollstuhl. a Mit vorderem Aufbau und entsprechend angepasster Kopfstütze (B.A.T.S.A.). b Seitliche Ansicht: Durch den Aufbau des Roll-
stuhls (B.A.T.S.A) wird das Einordnen der einzelnen Körperabschnitte übereinander auch für einen Patienten mit reduziertem Körpertonus (hypoton) möglich
stuhlversorgung von sehr schwer betroffenen Patienten mit ihrer 7 Trachealkanüle (De Vita 1990, Engström 2001, Mack 2002). . Abb. 10.5 zeigt eine Möglichkeit, wie die Grundgedanken zur Ausgangsstellung auch bei Patienten im Rollstuhl Berücksichtigung finden können. Der Patient ohne aktive Rumpf- und Kopfkontrolle sitzt in einem speziell angepassten Rollstuhl. Der fehlende Haltungshintergrund wird ihm »von außen« angeboten. Er hat jetzt Unterstützung, um komplexere Leistungen wie Schlucken besser zu bewältigen. Dieser Aufbau eines äußeren Haltungshintergrunds muss am Becken begonnen werden und darauf aufbauend für den gesamten Rumpf stabil sein (7 B.A.T.S.A., Basler Anterior Trunk Support Approach). So ist die Basis gelegt für die Positionierung des Kopfes. Diese Sitzhaltung wird je nach Patient für ca. 30 bis höchstens 90 Minuten eingenommen (Mack 2002).
Entblocken nicht entfernt, wird der Patient einer Gefährdung durch absteigende Keime ausgesetzt, die u.a. nosokomiale Pneumonien verursachen können (Dikeman u. Kazandjian 1997, Higgins et al. 1997). Der Reinigung des nasalen, oralen, (pharyngealen) und laryngo-trachealen Trakts kommt deshalb besondere Bedeutung zu.
Reinigung von Mundhöhle und Nase Das benötigte Material ist bereitgestellt (. Abb. 10.6).
! Vorsicht Rückenlage, die ein sofortiges passives Nachlaufen von Speichel aus der Mundhöhle in die Luftwege provoziert, ist beim Entblocken kontraindiziert.
10.3.3
Reinigung des Atem-Schluck-Trakts
Das über der Blockung stehende Sekret (Speichel, Nasenund Rachenraumsekret) stellt ein hervorragendes Milieu zur Keimvermehrung dar. Werden diese Sekrete vor dem
. Abb. 10.6. Vorbereitete Materialien und Geräte zum Entblocken der Kanüle eines Patienten. 1 Absauggerät, 2 Absaugkatheter, 3 sterile Handschuhe, 4 2×20-ml-Spritzen, 5 Kompressen, 6 Fingerlinge, 7 »feuchte Nase«, 8 Sprechventil, 9 Abklebefolie, 10 Manometer, 11 Mundschutz, 12 FOTT-Box, 13 Gazetupfer
221 10.3 · Therapie
a
b
. Abb. 10.7 a, b. Vorbereitende Mundreinigung vor dem Entblocken. a Geführtes Zähneputzen, b Entfernung von Speichel aus den Wangentaschen unter Kieferkontrolle
Zu Beginn wird der Mund zunächst mit angefeuchteter Gaze gesäubert (. Abb. 10.7 b) und die Zunge von Belägen befreit. Ggf. werden auch die Zähne geputzt (. Abb. 10.7 a, hier in einer geführten Sequenz zu sehen) (Affolter 1990) und die Nase gereinigt. So soll die während des Entblockens in die Trachea eindringende Sekretmenge minimiert werden. Die Reinigung von Mund und Nase ist unverzichtbarer Teil des vorbereitenden Managements vor dem Entblocken, sollte aber selbstverständlich auch unabhängig vom Entblocken mehrmals am Tage durchgeführt werden. > Beachte Vor dem Entblocken der Kanüle müssen (in einer geeigneten Ausgangsstellung) Mund und Nasenraum gereinigt werden.
a . Abb. 10.8 a, b. Geblockte Trachealkanüle mit subglottischer Absaugmöglichkeit. a Mit zwei dazu passenden Innenkanülen.
Reinigung der Trachealkanüle und des Bereichs oberhalb der Blockung Wie die Reinigung der Trachealkanüle durchgeführt wird, ist abhängig von der Kanülenart: 4 Eine Innenkanüle (»Seele«) kann herausgenommen und gesäubert werden. 4 Ist das 7 Tracheostoma im Verhältnis zur Kanüle groß, kann ein Teil des (über der geblockten Trachealkanüle) aufgestauten Sekrets neben bzw. am Rand des Tracheostomas vorsichtig abgesaugt werden. 4 Erlaubt die Trachealkanüle ein Absaugen des Sekrets oberhalb der Blockung, wird dieses zunächst mit einer Spritze abgezogen (. Abb. 10.8). Dies bietet auch einen gewissen Parameter in der Dokumentation für die Menge aspirierten Materials im Gesamtbehandlungsverlauf. Da mittels Spritze jedoch häufig nicht sämtliches Sekret
b b Oberhalb der Blockung stehendes Sekret wird mit einer Spritze abgezogen
10
222
Kapitel 10 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T.: der Weg zurück zur Physiologie
abgezogen werden kann, muss nochmals mit dem Absauger in Feinsogeinstellung (über den gleichen Zugang wie mit der Spritze) abgesaugt werden.
10.3.4
10
Therapeutisches Absaugen
Patienten mit einer Trachealkanüle werden mehr oder weniger oft am Tag in der Trachealkanüle und der Trachea passiv abgesaugt. Ziel des Absaugens ist die Entfernung von Sekret, das den Patienten bei der Atmung behindert und die ausreichende Versorgung mit Sauerstoff gefährdet. Dabei kann es sich um Sekrete von den Schleimhäuten oder um aspiriertes Material handeln. Bei dem in der F.O.T.T. angewandten und als therapeutisches Absaugen bezeichneten Vorgehen wird vor dem erforderlichen Absaugen zunächst versucht, das Sekret mithilfe einer unterstützten, forcierten Ausatmung so weit nach oben zu mobilisieren, dass es sich knapp unterhalb der Trachealkanüle oder in der Trachealkanüle befindet. Hier kann es dann schonend, in einer Ausatemphase, abgesaugt werden. Teilweise regt dieses Vorgehen den Patienten zum Husten an, denn Luft, die mit mehr Druck durch die Trachea strömt, lässt den Patienten vorhandenes Sekret besser spüren. Mit einer geblockten Kanüle kann der Patient jedoch keinen Druckaufbau erzeugen, dies übernimmt die Person, die mit ihren Händen – seitlich an den Rippen – die Ausatmung forciert, Bei diesem Vorgang arbeiten idealerweise zwei Mitarbeiter aus Therapie und Pflege zusam-
. Abb. 10.9. Therapeutisches Absaugen: Der Absaugkatheter wird ohne Sog bis knapp unterhalb der Trachealkanüle eingeführt. Sekret in der Trachea wird durch Ausatemunterstützung bis zur Trachealkanüle hochmobilisiert, wo es schonend – möglichst in einer Ausatemphase – abgesaugt wird
men. Ein Mitarbeiter unterstützt die Ausatmung, und der andere saugt ab (. Abb. 10.9). Beim therapeutischen Absaugen wird der Atemrhythmus des Patienten berücksichtigt, die Ausatmung wird unterstützt, und es wird lediglich in der Trachealkanüle abgesaugt. So kommt es seltener dazu, dass der Patient durch mechanische Reizung der Tracheaschleimhaut (verursacht durch den Absaugkatheter) oder gar der Bifurkation zu heftigem Husten gereizt wird, der 4 zum einen den Verlust einer oft mühsam aufgebauten Ausgangsstellung bedeutet und 4 zum anderen vermehrte Sekretproduktion provoziert. . Übersicht 10.4 fasst die wichtigsten Aspekte des therapeutischen Absaugens zusammen.
. Übersicht 10.4. Therapeutisches Absaugen 4 Atemrhythmus des Patienten beachten 4 Verstärkte Ausatmung unterstützen 4 Absaugen nur in der Kanüle (bzw. kurz darunter)
10.3.5
Therapeutisches Entblocken
Während des Entblockungsvorgangs bzw. kurz danach muss – in Abhängigkeit vom Kanülentyp – das aufgestaute Material oberhalb des Blocks abgesaugt werden, da dieses Aspirat sonst ungehindert in die Trachea fließen würde (. Abb. 10.10). Das therapeutische Entblocken schließt sich direkt an das therapeutische Absaugen an. Für den kurzen Vorgang des Entblockens sind zwei Personen notwendig, so dass der ganze Vorgang für den Patienten ohne Angst und Hektik ablaufen kann. Eine Person entblockt und unter-
a
b
. Abb. 10.10 a, b. Schematische Darstellung der Ansammlung von Sekret. a Oberhalb des Blocks in geblocktem Zustand der Trachealkanüle. b Während und nach der Entblockung bewegt sich das aufgestaute Sekret entsprechend mit der Schwerkraft nach unten
223 10.3 · Therapie
. Abb. 10.11. Schematische Darstellung des druck- und volumenreduzierten Blocks nach erfolgter Entblockung
stützt den Patienten weiter bei der Atmung, die andere ist bereit zum Absaugen. Eine gegenseitige Absprache ist unabdingbar für eine gute Koordination der Durchführung. Um während des Entblockens und der nachfolgenden Therapie die Sauerstoffsättigung kontrollieren zu können, wird der Patient an den Pulsoxymeter oder den Monitor angeschlossen. i Praxistipp Der Entblockungsvorgang selbst wird mit einer Spritze durchgeführt. Zunächst wird nur eine Druckreduzierung vorgenommen und die Reaktion des Patienten beobachtet: Hustet er spontan, oder räuspert er sich? Dies kann Hinweis auf die Sensibilität des Patienten geben. Erst danach wird vollständig entblockt (. Abb. 10.11).
> Beachte Während des Entblockens erhält man Informationen über 4 die Sensibilität, 4 die Schutzmechanismen und 4 die Möglichkeiten des Patienten, seinen Haltungshintergrund bei evt. auftretendem Husten zu bewahren.
10.3.6
Therapeutisches Vorgehen nach der Entblockung
Optional wird nach dem Entblocken weiter zu zweit mit dem Patienten gearbeitet. Nun geht es in erster Linie darum, Luft durch den Kehlkopf in die oberen Atemwege zu lenken. Eine Person begleitet und unterstützt mit den Händen seitlich am Brustkorb die Atmung des Patienten, die zweite Person hält die Trachealkanüle nach einer Einatmung für die Ausatemphase vorsichtig zu (. Abb. 10.12).
. Abb. 10.12. Therapie mit entblockter Kanüle: Lenkung des Atemstroms bei der Ausatmung über die oberen Atemwege
> Beachte Das Zuhalten der Kanüle ist so zu gestalten, dass es zu keiner Irritation der Trachea durch die Kanüle kommt. Um den Atemstrom zu lenken, bedarf es nur eines Widerstands am Kanülenende außen, ein Zudrücken ist nicht notwendig.
Diese Vorgehensweise 4 ermöglicht eine erneute Einatmung sicher und angstfrei über die Trachealkanüle und 4 lenkt den Ausatemstrom durch Kehlkopf und Rachen. Dadurch wird ermöglicht, dass Residuen gespürt, ggf. abgehustet und/oder anschließend geschluckt werden können. Bei den ersten Versuchen, die Trachealkanüle zu verschließen, kann es sein, dass der Patient hustet. Dies wird immer als positiv im Sinne einer normalen Reaktion bewertet, zeigt es doch, dass der Patient in der Lage ist, Sekret zu spüren und zu husten. Diese Reaktion lässt die Interpretation zu, dass der Hustenreiz durch Sekret aus dem oberen Atemtrakt verursacht wurde. Bei jeder Ausatmung wird nun die Trachealkanüle erneut mit einer angefeuchteten Kompresse verschlossen, so dass der Ausatemstrom physiologisch durch Rachen und Nase oder Mundraum entweichen kann. Der Patient kann dann aufgefordert werden, die Luft stimmhaft z.B. auf »haa« auszuatmen. Dies verstärkt auch seine Möglichkeiten, Residuen zu spüren und darauf zu reagieren. Als sehr hilfreich erweist es sich dabei immer wieder, die Ausatemunterstützung mit leichter Vibration zu verbinden (Gratz u. Woite 2000).
10
224
Kapitel 10 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T.: der Weg zurück zur Physiologie
Toleriert der Patient das Zuhalten der Kanüle in den Ausatmungsphasen, kann die angefeuchtete Kompresse durch einen Sprechaufsatz (Ventil) ersetzt werden. ! Vorsicht 4 Entblocken ohne gleichzeitige therapeutische Intervention (Heidler 2007) setzt den Patienten der Aspiration aus! In den Entblockungszeiten muss solange therapeutisch gearbeitet werden, bis die physiologische Luftstromlenkung und das spontane Speichelschlucken verläßlich, quantitativ und qualitativ effektiv und effizient (bei verschlossener Trachealkanüle) erfolgen kann. 4 Durch das Husten ausgelöst, kommt es häufig zu Veränderungen der Position des Patienten. Um zu verhindern, dass die jetzt frei bewegliche Kanüle in der Trachea einen Hustenreiz unterhält, ist die Beachtung des Haltungshintergrunds (»langer Nacken«!) sowie ggf. das Anbieten von Hustenund Schluckhilfe ein Muss!
10
Bei den ersten Versuchen zu schlucken können viele Patienten Unterkiefer und Zunge noch nicht selektiv bewegen. Sie haben Schwierigkeiten, den Unterkiefer stabil zu halten und gleichzeitig die Zunge zu bewegen. Deshalb wird neben dem Kieferkontrollgriff, der den Unterkiefer stabilisiert, eine Schluckhilfe angeboten (. Abb. 5.4a,b, 7 Kap. 5): Dazu werden z.B. 2 Finger seitlich im Bereich des hinteren Zungendrittels als »Stütze« angeboten, die aber die Bewegung des Hyoid auf keinen Fall behindern dürfen. Diese Schluckhilfe dient Zunge und Hyoid dazu, den Ort, an dem die Bewegung stattfinden soll, besser zu spüren. Bei Bedarf werden Kieferkontrollgriff und Schluckhilfe gemeinsam angewendet. Ist der Patient in der Lage, mühelos durch die Nase zu atmen, wird die Trachealkanüle dann auch bei Einatmung zugehalten. Erfolgen nun Ein- und Ausatmung ohne Anstrengung, kann die Trachealkanüle mit einer angefeuchteten Kompresse, einem Sprechventil oder Deckel verschlossen werden. Besteht der erste wichtige Schritt nach dem Entblocken in der Atemarbeit, wird der zweite Schritt sein, den Schluckvorgang anzuregen oder die Qualität der Schluckbewegungen zu verbessern. Unter entblockten Bedingungen ist der Häufigkeit und Qualität des Schluckens größte Aufmerksamkeit zu widmen. i Praxistipp 4 Bei der Behandlung in Seitenlage muss bei Patienten, die sehr wenig schlucken, der sich ansammelnde Speichel von Zeit zu Zeit aus der Wangentasche entfernt werden, um einen Überlauf nach hinten in den Rachen zu verhindern. 6
4 Kann ein Patient Töne bilden oder sprechen, dient die Kontrolle des Stimmklangs dazu, mögliche Penetrationen im Kehlkopf hörbar zu machen. Klingt die Stimme des Patienten feucht oder brodelig, wird vor jedem weiteren Vorgehen immer zunächst eine Reinigung der Glottis über Nachschlucken, Räuspern oder Husten erforderlich sein. . Übersicht 10.5 gibt einen Überblick über die therapeutischen Interventionen nach Entblockung der Kanüle.
. Übersicht 10.5. Therapeutische Interventionen nach Entblockung der Kanüle 4 Mit der angefeuchteten Kompresse die Kanüle bei der Ausatmung zuhalten. 4 Produktion von Stimme während der Ausatmung anregen, falls möglich. 4 Sprechaufsatz benutzen. 4 Mit dem Finger (mit angefeuchtetem Fingerling) die Kanüle bei Aus- und Einatmung zuhalten. 4 Trachealkanüle (mit angefeuchteter Kompresse/ Deckel) verschließen. 4 Mundstimulation durchführen. 4 Unterstützung beim Husten anbieten. 4 Kieferkontrollgriff und/oder Schluckhilfe anbieten, wenn der Patient versucht zu schlucken.
! Vorsicht Bei Verschluss der Trachealkanüle kann es vorkommen, dass die Luft nicht – oder nicht ausreichend – in die oberen Atemwege strömt. Es kann zu einem Atemstau kommen! Ist dies der Fall, muss die Ausatmung sofort wieder über das 7 Tracheostoma gewährleistet werden.
Danach muss nach der möglichen Ursache gesucht werden: 4 Größe der Trachealkanüle: Eine 10-er- oder auch 9-erKanüle kann zu groß sein, als dass ausreichend Luft an der Trachealkanüle vorbeiströmen könnte, 4 beidseitige Stimmlippenparese, 4 Granulationen in der Trachea, 4 Tracheal- oder Laryngealstenose. ! Vorsicht Bei Atemstau ist eine endoskopische Kontrolle dringend indiziert!
Die Dauer der Entblockungszeit wird am Anfang nur kurz sein (unter Umständen nicht länger als 3–5 Minuten) und kann in Abhängigkeit des Verlaufs ausgedehnt werden. Soll der Patient später auch in therapiefreien Zeiten entblockt sein, kann er mit einem Sprechaufsatz versorgt
225 10.3 · Therapie
chealkanüle« u.U. innerhalb von Minuten so weit verengt, dass das Wiedereinsetzen einer Kanule der gleichen Größe verhindert wird. Im Therapiezentrum Burgau wird derzeit die Verwendung eines speziellen Buttons geprüft, um die Trachealkanüle auch bei dilatiertem Tracheostoma gefahrlos für eine Therapiestunde entfernen zu können1. Der Button ist nicht für alle Patienten geeignet und derzeit nur in einer Größe erhältlich. Besonders bei unruhigen Patienten und Patienten mit ausgeprägten Halsstrukturen besteht die Gefahr der Dislozierung. ! Vorsicht . Abb. 10.13. Abkleben des Tracheostomas mit Kompresse und einer luftundurchlässigen Folie nach erfolgter Dekanülierung. Die Patientin liegt in Seitenlage, eine optimale Kopfposition wird von einer zweiten Person unterstützt
werden, oder er bekommt u.U. eine Sprechkanüle. Dies wirkt sich regulierend auf die Atmung aus (Leder et al. 1996). In einigen Kliniken wird danach eine vorübergehende Dekanülierung des Patienten und ein Abkleben des 7 Tracheostomas für die Zeitdauer einer Therapieeinheit durchgeführt. Das abgeklebte 7 Tracheostoma (. Abb. 10.13) stellt eine gute Voraussetzung für die therapeutische Arbeit an der Vertiefung der Atmung sowie der Verbesserung der Beweglichkeit von Kopf und Nacken dar. Die Gründe, die Sasaki (1985) für eine frühzeitige Dekanülierung anführt, unterstützen ebenfalls diese Herangehensweise. > Beachte Gründe für eine frühzeitige Dekanülierung sind: 4 Verhindern einer zentralen Dysorganisation des laryngealen Verschlussreflexes, 4 Wiederherstellung der physiologischen Funktionen des Larynx (Sasaki 1985).
Bei diesem Vorgehen ist allerdings die Anlageform des 7 Tracheostomas von entscheidender Bedeutung. Schwierigkeiten machen hier vor allem die dilatierten (punktierten) Tracheostomen, die zwar kosmetisch für den Patienten von Vorteil sind, das therapeutische Vorgehen jedoch erschweren. > Beachte Der »Einstichkanal« eines punktierten 7 Tracheostomas kann sich relativ schnell (innerhalb von Minuten) verengen und erschwert so die erneute Einlage einer Kanüle gleicher Größe.
Dieses Vorgehen ist bei dilatiertem Tracheostoma nicht immer möglich, da sich dieses ohne den Platzhalter »Tra-
Sollte der Button etwas nach vorne herausrutschen, kann sich die Trachea dahinter verschließen und das Problem mit dem Wiedereinsetzen der Kanüle besteht dann auch hier!
Alternativ ist der Einsatz einer Sprechkanüle für die Therapiestunde möglich (7 Kap. 9.3.3). In . Übersicht 10.6 wird die Vorgehensweise beim Entblocken einer Trachealkanüle unter F.O.T.T.-Gesichtspunkten dargestellt. . Übersicht 10.6. Entblockung einer Trachealkanüle unter F.O.T.T.-Gesichtspunkten 4 4 4 4 4 4
Behandlungsposition erarbeiten Therapeutische Reinigung von Mund und Nase Therapeutisches Absaugen Therapeutisches Entblocken Ausatemstrom über die oberen Atemwege lenken Schlucken fazilitieren
Nach Beendigung der Arbeit unter entblockten Bedingungen 4 Kanüle blocken 4 Gesamten Bereich (oral, nasal, pharyngeal, tracheal) reinigen 4 Dokumentation erstellen
10.3.7
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Das konzeptionelle Vorgehen basiert auf der Interdisziplinarität des Managements (Higgins et al. 1997). Die Arbeit mit Patienten mit einer Trachealkanüle erfordert ausreichend Hintergrundwissen und Teamfähigkeit aller Mitglieder, die mit dem Patienten arbeiten. Zu den Berufsdisziplinen, die je nach Klinik mit unterschiedlichem
1 Information: C.Gratz, E-Mail: supervision@therapiezentrum-
burgau.de
10
226
Kapitel 10 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T.: der Weg zurück zur Physiologie
Schwerpunkt mit tracheotomierten Patienten arbeiten, zählen 4 Ergotherapie, 4 Logopädie, 4 Physiotherapie, 4 Pflege, 4 Ernährungsberatung und 4 Arztdienst.
10
Es bedarf klarer Absprachen in einem interdisziplinären Team, deren Umsetzung sorgfältig dokumentiert werden muss. Nur so können fundierte Entscheidungen oder Änderungen im Vorgehen getroffen werden (Gratz u. Woite 2000, Higgins et al. 1997, Frank et al. 2007). Jedes festgelegte Trachealkanülen-Management ist nur so gut, wie es in der Praxis auch tatsächlich umgesetzt wird. Darüber hinaus muss es Spielraum für individuell patientenbezogene Abweichungen lassen. Von großem Vorteil sind F.O.T.T.-Supervisoren, denen eine besondere, beratende Aufgabe zukommt (7 Kap. 11.1). Kliniken, die keinen eigenen HNO-Arzt haben, und die auf die Zusammenarbeit mit HNO-Ärzten angewiesen sind, sind in besonderem Maße gefordert, ihre Sicht des kanülierten Patienten und ihr TrachealkanülenManagement den Konsiliarärzten nachvollziehbar zu machen. Denn eine rhinolaryngoskopische Untersuchung wird – eingebettet in die F.O.T.T. – anders ablaufen als bei nicht neurologischen Patienten (Lipp u. Schlaegel 1997). Die Vorgehensweise bei der Entwöhnung von der Trachealkanüle differiert je nach Klinik. Dies hängt zum einen mit den unterschiedlichen Strukturen einer Klinik zusammen, zum anderen mit den Erfahrungen der Mitarbeiter und dem jeweilig bevorzugten Kanülensystem, das in einer Klinik verwendet wird (7 Kap. 9 und 16). Erste Studien zum F.O.T.T.-Vorgehen bei Patienten mit Trachealkanülen liegen vor (Seidl et al. 2007, Frank et al. 2007). Immer wird sich das Vorgehen im individuellen Patientenfall an mehreren Faktoren entwickeln. . Übersicht 10.7 fasst diese Faktoren zusammen. Erst ein gut funktionierendes Trachealkanülen-Management mit geschultem Personal erlaubt die optimale Versorgung und Behandlung des tracheotomierten Patienten. Nicht immer ist das Ziel der dauerhaften Dekanülierung und des 7 Tracheostomaverschlusses tatsächlich zu erreichen. Aber auch das Erreichen von Teilschritten, wie z.B. regelmäßige Entblockungszeiten und/oder die Versorgung des Patienten mit einem Sprechaufsatz, bedeuten für den Patienten einen Zuwachs an normalem Input einerseits (der immer Voraussetzung ist für eine Weiterentwicklung des Patienten) und ggf. verbalen Ausdrucksmöglichkeiten andererseits.
. Übersicht 10.7. Faktoren, die das therapeutische Vorgehen bestimmen 4 4 4 4 4 4 4 4 4
4 4 4
Allgemeinzustand des Patienten Haltungshintergrund des Patienten Bewegungsmöglichkeiten des Patienten Effektivität des Schutzes seiner Atemwege Lagerungsmöglichkeiten im Sitzen, Liegen und Stehen (auch außerhalb der Therapien) Anlageart des 7 Tracheostomas Vorangegangene bronchopulmonale Infekte und (Aspirations-)Pneumonien Bestehende Refluxproblematik Befunde aus rhinolaryngoskopischer, bronchoskopischer und ggf. 7 videofluoroskopischer Untersuchung Personelle, zeitliche und professionelle Kapazität der Klinik Mitarbeit der Angehörigen Versorgung des Patienten nach Entlassung aus der Klinik nach Hause, in ein Pflegeheim, eine Tagesstätte, Förderstätte oder andere Klinik
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227 Literatur
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10
11
Das F.O.T.T.-Konzept in der neurologischen Rehabilitation: Beispiel TZB (Therapiezentrum Burgau) Wolfgang Schlaegel, Berthold Lipp
11.1
Strukturen
11.1.1 11.1.2 11.1.3
Personal – 230 24-Stunden-Konzept – 232 Standards (Organisationsanweisungen)
11.2
Dokumentation
11.2.1 11.2.2 11.2.3
Standardisierte Befunderhebung – 234 Management der oralen Nahrungsaufnahme Statistische Auswertung – 234
11.3
Diagnostik
11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4
Abklärung von Schluckstörungen – 235 Der Stellenwert der Laryngoskopie – 235 Apparative Schluckdiagnostik im Vergleich – 238 Poststationäre Nachuntersuchungen – 238
11.4
Fortbildung
11.5
Zusammenfassung Literatur
– 230
– 232
– 234 – 234
– 235
– 239
– 240
– 240
230
11
Kapitel 11 · Das F.O.T.T.-Konzept in der neurologischen Rehabilitation: Beispiel TZB (Therapiezentrum Burgau)
Das Therapiezentrum Burgau ist eine Klinik zur Rehabilitation von Patienten mit schweren erworbenen Hirnschädigungen mit insgesamt 108 Betten, davon 88 Betten der Frührehabilitation (Phase B). Integriert ist ein Schulungszentrum mit den Schwerpunkten der Behandlungskonzepte nach Affolter, Bobath und Coombes. Bei stationärer Aufnahme weisen nach eigenen Zahlen 95% aller Patienten relevante Probleme im fazio-oralenTrakt auf, zwischen 25–32% der Patienten sind bei Aufnahme mit einer geblockten Trachealkanüle versorgt. Die Schluckstörung stellt durch die Möglichkeit einer Aspiration in erster Linie eine gesundheitliche Gefährdung dar (Coombes 1996). Dazu kann der Verlust der Gesellschaftsfähigkeit kommen, beispielsweise bei unverständlicher Stimme, Speichelfluss, Husten oder Räuspern, beim Essen, oder wenn gänzlich auf orale Nahrungsaufnahme verzichtet werden muss. Dies wiederum bedeutet einen sozialen Rückzug und verringert die Lebensqualität entscheidend. So ist die Lösung der erwähnten Probleme ein wichtiges Rehabilitationsziel, wobei der F.O.T.T. vor allem in der Frühphase eine entscheidende Rolle zufällt, gerade bei den Patienten, bei denen aufgrund einer stark reduzierten Vigilanz keine Kooperation erwartet werden kann und somit funktionelle Dysphagietherapien wenig erfolgversprechend sind. Es ist jedoch nicht ausreichend, einige in der F.O.T.T. ausgebildete Therapeuten anzustellen, wenn das entsprechende Setting innerhalb der Klinik konzeptionell nicht auf dieses Problem abgestimmt ist. Eine erfolgorientierte Implementierung des F.O.T.T.-Konzepts in die stationäre Neurorehabilitation bedingt daher zahlreiche Voraussetzungen bezüglich Strukturen und Prozessen, die im Folgenden am Beispiel des Therapiezentrums Burgau beschrieben sind.
. Abb. 11.1. Organigramm TZB
werden von der Klinikleitung eingesetzt (eigene Geschäftsordnung) und sind nicht der Leitung einer Station unterstellt. Gleiches gilt für die F.O.T.T.-Supervision. Neben diesen notwendigen personellen Strukturen muss es ein durchgehendes stationsübergreifendes Konzept geben, in dem die Grundprinzipien der F.O.T.T. eingebettet sind. Darüber hinaus müssen Abläufe und Prozesse standardisiert sein, um individuelle und stationsabhängige Abweichungen zu minimieren und so maßgeblich zur Qualitätssicherung beizutragen.
11.1.1 11.1
Personal
Strukturen
Die Organisationsstruktur der Klinik (. Abb. 11.1) ist so konzipiert, dass es de facto nur noch zwei Leitungsebenen gibt: die Klinikleitung und die Stationsleitung, stellvertretend für die Leistungserbringer, also für die Pflege, Therapeuten und Ärzte. Durch diese flache Hierarchie ist ein hohes Maß an Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit gegeben. Außerdem werden durch den Wegfall von Zwischenebenen, wie bei traditionellen Organisationsstrukturen üblich (z.B. Abteilungsleiterebene), der Informationsfluss verbessert, bürokratische Wege verkürzt und eine raschere Umsetzung im praktischen Alltag erreicht. 4 Stationsübergreifende Teams wie Dysphagie-Team, 4 Phys-Med-Gruppe (7 Kontrakturbehandlung, spastische Bewegungsstörungen), 4 Affolter- oder 4 Bobath-Supervisionsteam
Neben den einzelnen FOT-Therapeuten muss das gesamte Behandlungsteam auf der Station bestimmte Prinzipien mit dem Umgang beim Patienten beachten und die wesentlichen Überlegungen der F.O.T.T. kennen. Bei Problemen kann sich der FOT-Therapeut auf Stationsebene an den F.O.T.T.Beauftragten wenden, der seinerseits die Möglichkeit hat, den F.O.T.T.-Supervisor einzuschalten. Bei grundsätzlichen strukturellen Problemen wird das Dysphagie-Team als stationsübergreifende Expertengruppe beauftragt. jDer Facio-Orale-Trakt-Therapeut (FOT-Therapeut) Die im TZB genutzte Bezeichnung FOT-Therapeut ist kein
geschützter Begriff mit einer definierten Ausbildung. Im TZB werden hausintern Ergo-, Sprach- und Physiotherapeuten zum FOT-Therapeuten weitergebildet. Dies geschieht durch eine Teilnahme am F.O.T.T.-Grundkurs. Im Weiteren erfolgt eine Einweisung in die endotracheale Ab-
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
231 11.1 · Strukturen
saugtechnik durch die Pflege mit entsprechender Zertifizierung, so dass jeder FOT-Therapeut neben den typischen fazio-oralen Behandlungsstrategien
4 4 4 4
Tonusregulierung der Gesichtsmuskulatur, Stimulation des Zahnfleisches, Triggerpunkte für das Schlucken und Mundhygiene (Davies 1994, Gratz u. Müller 2004)
in der Lage sein sollte, 4 einen Patienten mit Tracheostoma bzw. Trachealkanüle abzusaugen, 4 die Trachealkanüle zu entblocken, 4 den physiologischen Atemweg über Mund, Nase und Kehlkopf zu erarbeiten und 4 die Kanüle anschließend wieder fachgerecht zu blocken.
Da auch die Pflege Bereiche der F.O.T.T. wie Essensvorbereitung und -begleitung, Mundhygiene übernimmt, absolvieren auch zahlreiche Pflegekräfte den Grundkurs. Weitere Kurse (für interne und externe Teilnehmer) wie u.a. der F.O.T.T.-Trach-Kurs (7 Kap. 11.4) vertiefen das theoretische Wissen, während im Arbeitsalltag die fachliche Supervision durch einen erfahrenen Therapeuten die praktische Umsetzung des Gelernten verbessert und so die Qualität von Befunderhebung, Beurteilung und therapeutischen Maßnahmen steigert. Auf jeder Station steht ein F.O.T.T.-Beauftragter bei fachspezifischen Problemen mit seinem praktischen Rat zur Verfügung. jDysphagie-Team
Im Dysphagie-Team (Schlaegel 2000) sind Mitarbeiter aus verschiedenen Disziplinen, die über eine langjährige Erfahrung im Umgang mit F.O.T.T.-spezifischen Problemen der Patienten haben. Die Mitglieder der Gruppe kommen aus der Pflege, Ergotherapie, Sprachtherapie und Medizin. Entsprechend dem Fachbereich ist die Supervision zugeordnet (. Übersicht 11.1). Das Dysphagie-Team bzw. einzelne Mitglieder können von den betreffenden Stationen angefordert werden. Sie supervidieren die Behandlung und geben Empfehlungen zum weiteren Vorgehen. Dies kann – je nach Fragestellung – eine Berufsgruppe, aber auch das ganze therapeutische Team betreffen. Die Vorteile von Expertenteams sind: 4 Informations- und Erfahrungshäufung (Spezialisierung), 4 Reduzierung individueller Abweichung in der Beurteilung und praktischen Umsetzung, 4 Routine im Handling, 4 Einheitliches Vorgehen bei Befunderhebung, Diagnostik, Therapieplanung, Therapie, allgemeinem Handling, Evaluation, Dokumentation, Auswertung und Beurteilung der erhobenen Befunde.
. Übersicht 11.1. Aufgaben des DysphagieTeams und der Supervision Aufgaben des Dysphagie-Teams 4 (Weiter-)Entwicklung von Strukturstandards (Material, Personal) und Prozessstandards (Techniken, Ablauf ) 4 Beratung und Supervision des therapeutischen Teams auf der Station 4 Fort- und Weiterbildung Pflegerische Supervision 4 7 Trachealkanülen (verschiedene Materialien, Umgang mit Kanülen, Kanülenwechsel), Hautprobleme, Absaugung, Hygiene (Vogel 2000) Therapeutische Supervision 4 Befundung und Beurteilung, Atmung, Phonation, Stimme, Sprache, Mundpflege, Nahrungsaufbau, Kommunikation (Coombes 2001, Davies 1994) Ärztliche Supervision 4 Apparative Diagnostik, medizinische Interventionen (medikamentöse Behandlung, HNO-Intervention, PEG-Anlage etc.) (Schröter-Morasch 2006)
Zusammensetzung, Aufgaben und Kompetenzen des Dysphagie-Teams sind im TZB in einer Organisationsanweisung definiert. Das Dysphagie-Team trifft sich in regelmäßigen Abständen zur Bearbeitung bestimmter Projekte wie z.B. 4 Erstellen bzw. Überarbeitung neuer Standards (7 Kap. 11.1.3), 4 probeweises Einführen neuer Materialien, 4 Validierung von Assessments, 4 Organisation in- und externer Fortbildungen u.v.m. jStationsteam
Die Mitarbeiter der verschiedensten therapeutischen Abteilungen, die Pflege sowie die Stationsärzte bilden das Stationsteam, vertreten durch eine Teamleitung, bestehend aus Stationsarzt (Stationsleitung Medizin), Stationsleitung Pflege und einer Stationsleitung Therapie (. Abb. 11.1). Das Abteilungsdenken verliert an Bedeutung; der klassische Abteilungsleiter wird zum fachlichen Koordinator. Entscheidend ist das multiprofessionelle Team auf der Station, das über die meisten Belange wie Therapieplanung, Ressourcenverteilung, Belegung und Personaleinsatz entscheidet. Diesem Stationsteam obliegt somit die Verantwortung, ausgefallene Therapiestunden innerhalb des Stationsteams zu kompensieren und nicht durch Hinzuziehung eines Therapeuten der gleichen Fachabteilung
11
232
11
Kapitel 11 · Das F.O.T.T.-Konzept in der neurologischen Rehabilitation: Beispiel TZB (Therapiezentrum Burgau)
von einer anderen Station auszugleichen, der den Patienten nicht kennt. Durch diese Struktur sind die Bedingungen zur Umsetzung eines durchgängigen therapeutischen, pflegerischen und medizinischen Konzepts deutlich verbessert. Sie unterstreicht den hohen Stellenwert des interdisziplinären Arbeitens an einem übergeordneten Ziel; am Beispiel des multidisziplinären TrachealkanülenManagements konnte aufgezeigt werden, dass eine Entwöhnung von der Trachealkanüle leichter und rascher erreicht werden kann (Frank et al. 2008). Konventionelle Ansätze, wie die Zuordnung bestimmter Probleme zu bestimmten Abteilungen oder Disziplinen, finden in diesem Konzept keinen Platz mehr. Neben seinen typischen medizinischen Tätigkeiten hat der Arzt im Stationsteam vor allem eine koordinative Rolle. Dazu benötigt er ausreichende Kenntnis über Möglichkeiten und Indikationen therapeutischer Optionen, um einen individuellen Behandlungsplan mit hoher Versorgungsqualität und optimiertem Ressourceneinsatz zu erstellen, zu überprüfen und ggf. anzupassen. Da jeder Ergo- und jeder Sprachtherapeut am TZB zum FOT-Therapeuten ausgebildet wird, arbeiten auf jeder Station mit ca. 20 Patienten 5 FOT-Therapeuten (4 Ergo-, 1 Sprachtherapeut), unterstützt von ca. 3-4 Pflegekräften pro Station, die den F.O.T.T.-Grundkurs absolviert haben. Das Stationsteam wird durch einen konsiliarisch tätigen HNO-Arzt und einen Zahnarzt ergänzt.
11.1.2
24-Stunden-Konzept
Ein 24-Stunden-Konzept bedeutet natürlich nicht, dass rund um die Uhr therapiert wird. Es bedeutet aber, dass bestimmte Grundsätze im Umgang mit den Patienten durchgängig, d.h. von allen Teammitgliedern zu jeder Zeit zu beachten sind (Coombes 2001). Dazu gehören z.B. 4 die richtige (Um-)Lagerung (auch nachts!), 4 der Transfer, 4 die Mundpflege, 4 die Positionierung im Sitzen, 4 Aspekte der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung u.v.m. Für das Know-how sind Schulungen des Personals erforderlich, die entweder als reguläre Kurse im hauseigenen Schulungszentrum oder in Form von praktischer Anleitung auf Station angeboten werden. Im Alltag dienen patientenbezogene Workshops dazu, für alle Teammitglieder ein einheitliches Vorgehen bei spezifischen Problemen zu demonstrieren bzw. zu erarbeiten. Die Angehörigen werden ebenfalls in den Umgang mit Patienten einbezogen und so zum »Co-Thera-
peuten« geschult, was nicht nur Vorteile für den Patienten, sondern auch für den Angehörigen selbst bringt, der sich oft ohnmächtig mit dem Leiden seines betroffenen Angehörigen konfrontiert sieht. > Beachte Ein durchgängiges 24-Stunden-Konzept soll vermeiden, dass mit dem Patienten nach völlig unterschiedlichen Prinzipien umgegangen wird, sei es durch verschiedenes Personal, oder sei es durch Angehörige.
11.1.3
Standards (Organisationsanweisungen)
In einer Neurorehabilitationsklinik gibt es speziell beim schluckgestörten Patienten mit und ohne Trachealkanüle eine Reihe von Abläufen, deren Standardisierung sich bewährt hat. Im Folgenden sind einige Standards aufgelistet, die am TZB zur Anwendung kommen. jTrachealkanülen-Management Die Entwöhnung von der Trachealkanüle ist aus vielerlei
Hinsicht ein wichtiges Ziel in der Neurorehabilitation. Den Nachteilen wie Irritation und Affektionen von Trachea und 7 Tracheostoma, der Gefahr der Verlegung der Kanüle, bronchopulmonaler Infekte sowie der Beeinträchtigung des Schluckvorgangs und der Lebensqualität stehen Sicherheitsaspekte (relativer Schutz vor Aspiration) gegenüber (Schlaegel 2009). Ein standardisiertes Vorgehen (Schlaegel 2007a, . Abb. 11.2) unter Berücksichtigung diagnostischer Befunde und der allgemeinen rehabilitativen Entwicklung des Patienten (z.B. Vigilanz, Tonus) hat sich hierbei bewährt, muss aber gelegentlich bei individuellen Besonderheiten entsprechend modifiziert werden (7 Kap. 9). jSchluckrelevante Untersuchungen bzw. Eingriffe,
4 Untersuchungen wie z.B. Laryngoskopie, 4 Vorgehen bei rezidivierendem Erbrechen bzw. 7 Reflux, 4 Anlage einer PEG-Sonde, 4 7 Tracheostomaverschluss, 4 Trachealkanülenwechsel, 4 Wiederverwendung einer Trachealkanüle, sind bezüglich Indikationsstellung, Ablauf, Durchführung und Dokumentation standardisiert, um durch ein festgelegtes Zusammenwirken verschiedenster Disziplinen einen reibungslosen Ablauf der Untersuchung zu gewährleisten.
233 11.1 · Strukturen
. Abb. 11.2. Algorithmus der Entwöhnung einer geblockten Trachealkanüle
11
234
Kapitel 11 · Das F.O.T.T.-Konzept in der neurologischen Rehabilitation: Beispiel TZB (Therapiezentrum Burgau)
11.2
Dokumentation
11.2.1
Standardisierte Befunderhebung
Eine standardisierte Anamneseerhebung, ein standardisierter Befundbogen der Untersuchung des fazio-oralen Trakts, der ärztlichen Untersuchung und der Laryngoskopie haben sich bewährt. Die Befunderhebung des fazio-oralen Trakts mittels TZB-Befundbogen (in ausführlicher und kurzer Ausführung) dokumentiert den Status bezüglich 4 Ernährungssonde (PEG, naso-gastral, jejunal), 4 Trachealkanüle/Tracheostoma, 4 Kommunikation (stimmlich), 4 Atmung, 4 Stimme (ohne kommunikative Qualität), 4 Mimik, 4 Mundbereich, 4 prä-orale, orale und pharyngeale Phase, 4 Reflux, 4 Schutzreflexe, 4 Essen und Trinken.
11
Ziele einer einheitlichen und aussagekräftigen Dokumentation unter Anwendung geeigneter valider Assess-
ments (Blanco u. Mäder 1999) sind: 4 Therapieevaluation des einzelnen Patienten, 4 individuelle Konsequenzen für die Behandlung, 4 statistische Aussagen für ein Patientenkollektiv, 4 Überprüfung bzw. Korrektur von 5 Materialeinsatz, 5 qualitativem und quantitativem Personaleinsatz, 5 festgelegten Standards. Die Dokumentation im therapeutischen Bereich umfasst neben der gründlichen Aufnahmeuntersuchung auch eine Dokumentation des Verlaufs. Darüber hinausgehend sind natürlich auch der traditionelle Prosabefund und die Videodokumentation unentbehrlich. Ein weiterer Anspruch an die Dokumentation ist deren Praktikabilität, da der Untersucher mit einer zu komplizierten und umfangreichen Dokumentation überfordert ist und seine Ressourcen weniger in die praktische Patientenbehandlung einbringen kann. Entscheidend bei der Dokumentation beim noch unerfahrenen Therapeuten oder Arzt ist die entsprechende fachliche Supervision, da sonst zu befürchten ist, dass bei unsicherer Befundung auch falsche Konsequenzen eingeleitet werden. Trotz aller Vorteile der standardisierten Befunddokumentation und der kodierten Dateneingabe wird regelmäßig auf die Videodokumentation zurückgegriffen. Dies gilt vor allem dann, wenn es um Beobachtungen be-
stimmter Verhaltensmuster oder Reaktionen geht. Am TZB ist daher eine eigene Abteilung für Bild- und Videodokumentation etabliert, die mit der Erstellung von feststehenden und bewegten Bildern, deren Nacharbeitung und Archivierung beauftragt ist. Das erstellte Material wird dann für die individuelle Beurteilung, aber auch grundsätzlich für Schulungszwecke verwendet. Die endoskopischen und computertomographischen Befunde stehen primär in digitaler Form zur Verfügung. Sie lassen sich daher einfach nacharbeiten und sind bei entsprechender digitaler Archivierung rasch verfügbar. Ebenso lassen sich Bilder und bewegte Sequenzen auf dem elektronischen Datenweg verschicken, wenn es um Befundübermittlung bei Verlegung oder um das Einholen einer sog. »second opinion« geht.
11.2.2
Management der oralen Nahrungsaufnahme
Der Schweregrad des Patienten und die Vielzahl der Beeinträchtigung bzgl. der oralen Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme erfordern ein standardisiertes Vorgehen. Der Patient muss bereits am Aufnahmetag von einem erfahrenen Therapeuten, evt. unter Hinzuziehen des F.O.T.T.Beauftragten untersucht werden, um eine Aussage bzgl. der oralen Ernährung treffen zu können. Zur Weitergabe dieser Informationen gibt es eine Essensinformation, die für das Team, aber auch für die Angehörigen zur Verfügung steht, und einen Dysphagiekostplan, ausgerichtet auf verschiedene Phasen: 4 Stimulationsphase, 4 Püreephase, 4 Weichkostphase, 4 Übergangskostphase und 4 Flüssigkeitsklassifikation. Dieser Dysphagiekostplan wird für alle Mahlzeiten (Frühstück, Mittag-, Nachmittag- und Abendessen) ausgearbeitet und in Form einer Essenskarte an die Küche weitergegeben.
11.2.3
Statistische Auswertung
Gerade im Hinblick auf die im Bereich der Gesundheitspolitik immer knapper werdenden Mittel und den eindeutigen Trend zur evidenzbasierten Medizin wird eine sorgfältige Dokumentation mit einer sauberen statistischen Auswertbarkeit immer notwendiger. Nur der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit einer Behandlungsmethode, die mit einer notwendigen Behandlungs-
dauer und einem erforderlichen Maß an qualitativem und
235 11.3 · Diagnostik
quantitativem Personaleinsatz verbunden ist, kann die Existenz einer Rehabilitationsklinik auf Dauer sichern.
11.3
Diagnostik
11.3.1
Abklärung von Schluckstörungen
letztere Untersuchung speziellen Fragestellungen vorbehalten bleibt (Hannig u. Wuttke-Hannig 2006). Sollte eine Schweregradeinteilung der Aspiration erforderlich sein, ist dies bevorzugt durch radiologische Methoden mit Kontrastmittel festzustellen, da die Gradeinteilung u.a. nach Abschätzung des Bolusvolumens erfolgt (. Übersicht 11.3).
In . Übersicht 11.2 sind Standard- und ergänzende Verfahren zur Abklärung von Schluckstörungen zusammengefasst.
. Übersicht 11.3. Schweregradeinteilung der Aspiration 4 Grad I
Aspiration des im Kehlkopfeingang retinierten Materials bei erhaltenem Hustenreflex 4 Grad II Aspiration <10% des Bolusvolumens bei erhaltenem Hustenreflex 4 Grad III Aspiration >10% des Bolusvolumens bei erhaltenem Hustenreflex oder <10% bei fehlendem/unzureichendem Hustenreflex 4 Grad IV >10% bei fehlendem/unzureichendem Hustenreflex
. Übersicht 11.2. Diagnostik: Standardund ergänzende Verfahren Standardverfahren 4 Klinische Untersuchung 4 Laryngoskopie 4 Videofluoroskopie bzw. Röntgenkinematographie Ergänzende Verfahren 4 Bronchoskopie 4 Zervikale Auskultation 4 Sonographie 4 EMG
(nach Hannig u. Wuttge-Hannig 2006)
Bronchoskopie Anamnese/Klinische Untersuchung Die Anamneseerhebung und die sorgfältige klinische Untersuchung der Schlucksequenz (7 Kap. 12) haben in der Diagnostik auch im Zeitalter der Apparatemedizin einen hohen Stellenwert. So können klare Hinweise gegeben werden, ob eine 7 dysphagische Störung besteht, und welcher Phase sie schwerpunktmäßig zuzuordnen ist. Nur durch eine klinische Untersuchung kann eine Störung der prä-oralen Phase diagnostiziert werden, welche dadurch gekennzeichnet ist, dass der Patient keinerlei Bezug zu dem vor ihm stehenden Essen bzw. Getränk hat und/oder das Zuführen der Speise vom Teller zum Mund nicht alleine organisieren kann (Schütz 2000). Störungen der oralen Phase mit Auffälligkeiten der Bolusformung und des Bolustransports können ebenfalls klinisch diagnostiziert und bei Bedarf sonographisch bestätigt werden. > Beachte Die triggergesteuerten, reflektorischen Schluckabläufe lassen sich am besten laryngoskopisch und 7 videofluoroskopisch diagnostizieren.
Videofluoroskopie/Röntgenkinematographie In der 7 Videofluoroskopie werden ca. 25–30 Bilder pro Sekunde erzeugt. In der Röntgenkinematographie sind zwischen 50–200 Bilder pro Sekunde möglich, so dass
Die Bronchoskopie als ergänzende Diagnostik ist dann indiziert, wenn Auswirkungen chronischer oder akuter Aspirationen beurteilt und gleichzeitig (optional) bakteriologisches Material zur gezielten Antibiose gewonnen werden soll. Endoskopisch kontrollierte Absaugungen bzw. Broncholavagen sind ebenfalls eine Indikation für eine Bronchoskopie (Schlaegel 2007b). Eine direkte Beurteilung der Schluckfunktion ist dadurch natürlich nicht möglich.
11.3.2
Der Stellenwert der Laryngoskopie
Die Laryngoskopie bietet sich aufgrund 4 der hohen Praktikabilität, 4 dem niedrigen Risiko, 4 der geringen subjektiven Belastung sowie 4 der Möglichkeit, die Phonation beurteilen zu können, als Routinediagnostikum an. . Abb. 11.3 zeigt eine komplette Untersuchungseinheit mit 4 4 4 4 4 4 4
Laryngoskop, Prozessor, Lichtquelle, Monitor, Rechner, externer Kamera und passendem Untersuchungstisch;
11
236
Kapitel 11 · Das F.O.T.T.-Konzept in der neurologischen Rehabilitation: Beispiel TZB (Therapiezentrum Burgau)
. Tab. 11.1. Penetrations-Aspirations-Skala (PAS)
. Abb. 11.3. Laryngoskopie-Equipment
mit einer mobilen Einheit (transportable FEES) kann die Untersuchung problemlos auch als Bedside-Untersuchung (Prosiegel et al. 2008) durchgeführt werden. Patienten mit Problemkeimen (MRSA) und den erforderlichen Isolierungsmaßnahmen können so unkompliziert abgeklärt werden. Dabei hat sich der in . Übersicht 11.4 gelistete Untersuchungsablauf bewährt.
11
. Übersicht 11.4. Ablauf der Laryngoskopie 4 Inspektion von Nasenschleimhaut und Gaumensegel (mit Funktionsprüfung) 4 Inspektion von Pharynx und Larynx (Morphologie, Retentionen, Bewegungen) 4 Sensibilitätsprüfung 4 Funktionsprüfung der Glottis (Räuspern, Husten, forciertes Ausatmen, Atem anhalten, Pressen, »iii, aaa, he he he« schnüffeln) 4 Schlucken verschiedener Konsistenzen (Schluckund Reinigungsmanöver) 4 Bei Tracheostoma: Stomainspektion, Tracheoskopie und retrograde Laryngoskopie
Schweregrad
Beschreibung
1
Material penetriert nicht
2
Material penetriert, liegt oberhalb der Glottis, wird aus dem Aditus entfernt (Räuspern, Husten)
3
Material penetriert, liegt oberhalb der Glottis, wird nicht aus dem Aditus entfernt
4
Material penetriert, liegt auf den Stimmlippen, wird aus dem Aditus entfernt
5
Material penetriert, liegt auf den Stimmlippen, wird nicht aus dem Aditus entfernt
6
Material wird aspiriert, wird in den Aditus oder weiter nach oben befördert
7
Material wird aspiriert, kann trotz Anstrengung nicht aus der Trachea herausbefördert werden
8
Material wird aspiriert, kein Versuch, es aus der Trachea herauszubefördern
(nach Rosenbek et al. 1996)
Vorgehen Die laryngoskopische Schluckabklärung wird i.d.R. in sitzender Position (. Abb. 11.4) durchgeführt; eine noch liegende naso-gastrale Sonde wird nach Möglichkeit entfernt, und dazu wird dekanüliert (bei stabilem Stoma), um 4 einerseits das Tracheostoma besser inspizieren zu können und 4 andererseits den Schluckvorgang retrograd (transstomatal) ohne mechanische Behinderung der Trachealkanüle beurteilen zu können (. Abb. 11.5).
! Vorsicht Bei der Überprüfung der Schluckfunktion ist v.a. zu beachten, 4 ob es zu einer Penetration oder Aspiration kommt, 4 wann diese zu beobachten ist (prä-, intra- oder postdeglutitiv), 4 wie und wann der Patient darauf reagiert (stille Aspiration, Husten/Räuspern spontan, verspätet, nur auf Aufforderung).
Die Rosenbek-Skala wird diesen Forderungen gerecht (. Tab. 11.1).
. Abb. 11.4. Laryngoskopie: Untersuchungssituation (Schluckfunktionsprüfung)
237 11.3 · Diagnostik
a
b
. Abb. 11.5 a, b. a Anterograde und b retrograde Laryngoskopie
jAnterograde Laryngoskopie Wegen des bekannten 7 White-Out-Phänomens während
des Schluckens, bedingt durch die Kehlkopfelevation und dem direkten Kontakt der Optik mit der Schleimhaut ist bei der 7 anterograden Untersuchung die intradeglutitive Phase meist nicht oder nur eingeschränkt zu beurteilen, so dass man auf indirekte Zeichen angewiesen ist: 4 erniedrigte bzw. fehlende Sensibilität im Hypopharynx, 4 Speichelpooling, 4 entzündliche, ödematöse Veränderungen der Aryknorpel, 4 Leaking (Abgleiten des Bolus in den pharyngealen Raum vor der Reflexauslösung), 4 »verspätete Triggerung«, 4 postdeglutitive Retentionen. jRetrograde Laryngoskopie Bei Patienten mit Tracheostoma kann unter 7 retrograder Larynxansicht im Falle der Aspiration ein transglottischer Durchtritt von Speichel, angefärbter Flüssigkeit oder Nah-
4 den Schutzmechanismen (spontanes Husten, Räuspern). Bei entsprechenden Retentionen, v.a. wenn sie nicht gespürt werden, besteht die Gefahr einer postdeglutitiven Aspiration.
Unter der Lupe Studien bei Schluckgesunden Studien mit Schluckgesunden belegen, dass ein flüssiger Bolus in ca. 60% und ein fester sogar in 76% endoskopisch sichtbar war, bevor es zu einem Schlucken kam (Dua et al. 1997). In eigenen Nachuntersuchungen (Schlaegel u. Stöhr 2003) mit jüngeren Probanden ließ sich diese »späte Triggerung« in über 85% der Fälle bei einem völlig physiologischen Schluckvorgang beobachten. Ebenso waren in 71% postdeglutitive Retentionen (nach erfolgtem, spontanem Nachschlucken) bei den Schluckgesunden nachzuweisen. Das »späte Triggern« und postdeglutitive Retentionen sind daher für sich alleine keine Prädiktoren für eine dysphagische Störung.
rung beobachtet werden (. Abb. 11.5). i Praxistipp Die Schluckprüfung wird i.d.R. mit angefärbtem Speichel, Flüssigkeiten verschiedener Viskositäten, fein passiertem Obstmus und Brot durchgeführt; zur Anfärbung dient Lebensmittelfarbe.
> Beachte Das Aspirationsrisiko wird im Wesentlichen bestimmt von 4 der pharyngo-laryngealen Sensibilität, 4 der damit verbundenen Schlucktriggerung, 4 dem restfreien Abschlucken und 6
Begleitung Jeder Patient wird zu allen oben angegebenen apparativen Untersuchungen von seinem FOT-Therapeuten begleitet. Dies hat den Vorteil, dass 4 der Patient für die notwendige Untersuchung optimal positioniert ist, 4 geeignete Untersuchungsmaterialien zur Verfügung stehen, 4 notwendige therapeutische Interventionen während der Untersuchung stattfinden können, 4 der Befund anschließend besprochen und 4 ein entsprechendes Vorgehen gemeinsam festgelegt werden kann.
11
238
Kapitel 11 · Das F.O.T.T.-Konzept in der neurologischen Rehabilitation: Beispiel TZB (Therapiezentrum Burgau)
. Tab. 11.2. Laryngoskopie und Videofluoroskopie im Vergleich Untersuchung
Belastung
Praktikabilität
Aussagekraft: Schluckfunktion
Aussagekraft: Speichelmanagement
Kooperation erforderlich
Laryngoskopie
Keine
+++
++
+++
Nein
Videofluoroskopie
Ja
+
+++
Keine
Ja
+ gering, ++ gut, +++ hoch
Der FOT-Therapeut kennt daher den zu erwartenden Untersuchungsablauf und kann so die Zumutbarkeit und Aussagemöglichkeit besser abschätzen und spontan während des Untersuchungsablaufs auf bestimmte Gegebenheiten reagieren. Gemeinsam besprochene Befunde und ein gemeinsames Festlegen des weiteren Prozedere erhöht nicht nur die Akzeptanz, sondern auch die Motivation zur Umsetzung auf der Station.
Laryngoskopie beim TrachealkanülenManagement
11
Beim Trachealkanülen-Management (Schlaegel 2009) hat die Laryngoskopie einen besonders hohen Stellenwert und durch die Beurteilbarkeit von 4 Speichelmanagement, 4 Durchgängigkeit der oberen (anterograd) und unteren (transstomatal) Atemwege sowie 4 morphologischen Strukturen einen entscheidenden Vorteil gegenüber der Videofluoroskopie. Dieser kommt bei der Wahl der geeigneten TK, bei der Indikationsstellung zur Dekanülierung und während der Entwöhnungsphase zum Ausdruck. Wiederholte laryngoskopische Evaluationen beim tracheotomierten Patienten stellen einerseits eine individuelle und optimale TK-Versorgung sicher, erhöhen andererseits die Sicherheit bei der schrittweisen Entwöhnung von der TK und verhindern so mögliche Komplikationen, die eine Retracheotomie erforderlich machen können. Auch können stenosierende subglottische Granulationen, die gehäuft beim dilatativen Stoma auftreten können, rechtzeitig erkannt werden. > Beachte Eine absolute Indikation für eine Laryngoskopie im Rahmen der Entwöhnungsphase besteht immer dann, wenn die freie Durchlässigkeit des Atemstroms sichergestellt werden muss, also beispielsweise zur Abklärung einer Mund-Nasen-Atmung bei liegender entblockter TK oder vor entgültiger Dekanülierung.
11.3.3
Apparative Schluckdiagnostik im Vergleich
In . Tab. 11.2 sind Stärken und Schwächen der gängigen apparativen Untersuchungen gegenübergestellt und nach eigenen Erfahrungen beurteilt. Beide diagnostischen Methoden sind nicht als konkurrierende, sondern vielmehr als ergänzende Verfahren zu sehen (Prosiegel et al. 2008). Welche der apparativen Untersuchungen nun gewählt wird, sollte in erster Linie von der Fragestellung abhängen. Häufig ist eine Kombination der verschiedenen Untersuchungsverfahren angezeigt.
11.3.4
Poststationäre Nachuntersuchungen
Nach eigenen Zahlen werden ca. 20–25% aller Patienten mit einer klinisch relevanten Schluckstörung (gänzliche oder teilweise Einschränkung der oralen Nahrungszufuhr) aus der stationären Behandlung nach Hause oder in ein Pflegeheim entlassen. Für diese Patienten werden Empfehlungen zur Weiterversorgung abgegeben, welche die Ernährung, therapeutische und pflegerische Behandlungen/Verfahrensweisen und ggf. das Trachealkanülen-Management regeln. Bei verändertem Zustand des Betroffenen sollten diese Empfehlungen entsprechend angepasst werden, was oft wegen fehlender Information und mangelnder Kompetenz nicht geschieht. Dazu wäre eine Reevaluation mit entsprechender Aktualisierung der Empfehlungen erforderlich, die i.d.R. nicht oder nur auf Betreiben der Betroffenen bzw. deren Angehörigen initiiert wird, obwohl sich auch chronische neurogene Dysphagien durch gezielte Schlucktherapien noch bessern können (Prosiegel 2002). Ebenso ist es möglich, dass auch nach Jahren spontane Teilremissionen auftreten können, die eine teilweise Nahrungsaufnahme bis hin zur Entfernung der Sonde oder auch eine Entwöhnung der Kanüle bis hin zum Tracheostomaverschluss erlauben, was natürlich zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität und Reduktion der Pflegeintensität führt. Andererseits können sich Schluckstörungen verschlechtern und akute Krankenhauseinweisungen, z.B. wegen Bronchopneumonien erforderlich machen.
239 11.4 · Fortbildung
Diese Maßnahmen sollen dazu beitragen, 4 dysphagie-assoziierte Wiedereinweisungen zu vermeiden, 4 Mortalität zu reduzieren, 4 Empfehlungen durch Reevaluation zu aktualisieren, 4 pflegerische Versorgung zu Hause statt im Pflegeheim zu ermöglichen, 4 Lebensqualität für pflegeintensive Patienten zu erhöhen.
Unter der Lupe Poststationäre Verläufe In der Literatur existieren keine Daten über poststationäre Verläufe von Patienten mit Schluckstörung, bzw. nur kurzfristige Beobachtungszeiträume (<6 Monate) oder kleine Patientenzahlen. Eine systematische Nachuntersuchung dieser dysphagischen, meist pflegebedürftigen Patienten nach der Entlassung über einen Zeitraum von 5 Jahren (BMG-gefördertes Modellprojekt am TZB) zeigte, dass es sich bei diesen Patienten um ein besonders gefährdetes Kollektiv handelt. So liegt die 1-Jahres-Mortalität bei 24% im Vergleich zu allen Patienten (8%), das heißt, 24% versterben im 1. Jahr nach Entlassung, und von denen wiederum knapp ein Drittel innerhalb der ersten 28 Tage! Besonders hoch lag die Mortalität bei Patienten mit TK (62%). 53% aller Patienten mit TK wurden in ein Pflegeheim entlassen, von denen wiederum 77% dort verstarben! Dysphagie-assoziierte Wiedereinweisungen (Verdacht auf Aspirationspneumonie) sind v.a. in den ersten beiden Jahren sowie bei zu Hause gepflegten Patienten zu beobachten. 5 Jahre nach Entlassung leben gerade noch 45% der entlassenen Patienten. Bei den Überlebenden aber konnten deutliche Fortschritte bezüglich der TK-Entwöhnung und der oralen Kostaufnahme beobachtet werden, auch wenn die ambulante Therapie wenig einheitlich und oft nur sporadisch erfolgte. (Schlaegel 2010)
Allein in Deutschland wird bei Schlaganfallpatienten durch eine suffiziente Therapie der Schluckstörung nicht nur eine entscheidende Verbesserung der Lebensqualität der Patienten erwartet, sondern auch eine Kostenersparnis von ca. 15 Millionen € (Haaks u. Walkenbach 1999, vgl. 7 Kap. 1.6.1)!
11.4
Diese Studienergebnisse erfordern verschiedene Konsequenzen: 4 Auf- und Ausbau einer flächendeckenden Überleitungspflege, 4 Verbesserung der Versorgungsqualität in Pflegeheimen (Trachealkanüle), 4 Regelmäßige ambulante Nachsorge.
Fortbildung
Die Teilnahme an bestimmten Fortbildungen ist in einem klinikeigenen Standard festgelegt. Dieser regelt für jede Berufsgruppe den Umfang an Basis- und Aufbauqualifikation (für den FOT-Therapeut, 7 Kap. 11.1.1). Soweit möglich werden diese Qualifikationen in Form von Kursen oder Seminaren am hauseigenen Schulungszentrum vermittelt. Für neue Mitarbeiter wurde ein Einführungsprogramm entwickelt, in dem schwerpunktmäßig die Behandlungskonzepte nach Affolter, Bobath und Coombes in Therorie und supervidierter Praxis vermittelt werden. . Tab. 11.3 zeigt die Zahlen von Kursen und Teilnehmern, die in den vergangenen 10 Jahren (1999–2009) am
. Tab. 11.3. F.O.T.T.-Kurse am TZB (1999–2009) Kursangebote
Anzahl der Kurse
Teilnehmer Gesamt
Externe Teilnehmer
Interne Teilnehmer
E/F.O.T.T.
6
83
82
1
E/F.O.T.T.-Trach
6
152
147
5
G/F.O.T.T.
45
804
607
197
G/F.O.T.T.-Pflege
3
36
26
10
R-F.O.T.T.
6
97
73
24
A/F.O.T.T.-Trach
13
106
71
35
A/F.O.T.T.- Gesicht
1
14
14
0
E/F.O.T.T.- Kinder (ab 2010)
1
14
11
3
Gesamt
81
1.306
1.031
275
E Einführung, G Grundkurs, A Aufbaukurs, R Refresher
11
240
Kapitel 11 · Das F.O.T.T.-Konzept in der neurologischen Rehabilitation: Beispiel TZB (Therapiezentrum Burgau)
hauseigenen Schulungszentrum im F.O.T.T.-Konzept nach Coombes geschult wurden. Innerhalb der Teamstrukturen (7 Kap. 11.1.1) ist es vorgesehen, dass auch Mitarbeiter anderer Disziplinen über die Arbeit des FOT-Therapeuten und der F.O.T.T.Gruppe unterrichtet werden. Das Dysphagie-Team organisiert in regelmäßigen Abständen entsprechende Fortbildungen für das gesamte Personal. Darüber hinaus gibt es FOT-relevante Notfallfortbildungen, die sich orientierend an den gemachten Erfahrungen mit folgenden Themenkomplexen beschäftigen: 4 Erbrechen, 4 unbeabsichtigtes Dekanülieren (durch den Patienten selbst), 4 plötzliches Verlegen der Trachealkanüle, 4 Umgang mit Hustenanfällen, 4 Beißen. Diese Themen wurden aufgrund der Praxisrelevanz gewählt, nachdem immer wieder Mitarbeiter anderer Fachabteilungen die Frage stellten: Wie gehe ich in meiner Therapiestunde mit einer solchen Situation um? Hinzu kommen patientenbezogene Fortbildungen in Form von Workshops auf den jeweiligen Stationen.
11 11.5
Zusammenfassung
Bei der Rehabilitation von erworbenen schweren Hirnschädigungen spielen die Störungen im fazio-oralen Bereich, allen voran die neurogene Schluckstörung, wegen ihrer Häufigkeit und der Konsequenz für den Betroffenen eine große Rolle. Einzelne, isoliert in den Tagesablauf eingestreute Therapiestunden haben ohne ein entsprechen des Gesamtkonzept keine ausreichende Effizienz (Nutzen im Verhältnis zum Aufwand). In einer Neurorehabilitationsklinik müssen Strukturen geschaffen bzw. modifiziert, Personal geschult, Abläufe standardisiert, Kompetenzen gebildet und u.U. sogar Hierarchien verändert werden, um dem sehr komplexen Problem entsprechend umfassend, ganzheitlich und durchgängig zu begegnen. Bei den immer knapper werdenden finanziellen Ressourcen im Gesundheitswesen ist eine Stellenmehrung nicht zu erwarten. Eine Steigerung der Effektivität ist daher nur über eine bessere Nutzung bestehender Kapazitäten möglich. Die dazu erforderlichen, teilweise unkonventionellen Hierarchien und Denkweisen mögen anfangs auf gewisse Skepsis stoßen, ermöglichen aber langfristig einen ökonomischeren Weg (Lachhammer 2000), der dem Patienten letztendlich mehr hilft als ein gut gemeintes traditionelles Behandlungskonzept.
Literatur Bartolome G, Schröter-Morasch H (2006). Urban & Fischer, München Blanco J, Mäder M (1999) Dokumentation, Messung und Qualitätsmanagement. In: Frommelt P, Grötzbach H (Hrsg) Neurorehabilitation. Blackwell Coombes K (1996) Von der Ernährungssonde zum Essen am Tisch – Aspekte der Problematik. Richtlinien für die Behandlung. In: Lipp B, Schlaegel W (Hrsg) Wege von Anfang an. Neckar, Villingen-Schwenningen Coombes K (2001) Facial Oral Tract Therapy (F.O.T.T.™), S 51. Jubiläumsschrift: 10 Jahre Schulungszentrum am TZB 2001. Eigenverlag Davies P (1994) Starting again: Reanimating the Face and Mouth. Springer, Berlin Heidelberg Dua et al. (1997) Coordination of Deglutive Glottal Function and Pharyngeal Bolus Transit During Normal Eating. Gastroenterology 112:73-83 Frank U, Sticher H, Mäder M (2008) Trachealkanülen-Management in der Dysphagietherapie: Evaluation eines multidisziplinären Interventionsansatzes. Neuro Rehabil 14(2):79-88 Gratz C, Müller D (2004) Die Therapie des Facio-Oralen Traktes bei neurologischen Patienten. Schulz-Kirchner, Idstein Haaks T, Walkenbach K (1999) Klinisches Management neurogener Dysphagie unter Berücksichtigung einer Kosten-Nutzen-Analyse. Neurologie & Rehabilitation 5:269-274 Hannig C,Wuttke-Hannig A (2006) Radiologische Funktionsdiagnostik von Schluckstörungen. In: Bartolome et al. (Hrsg) Schluckstörungen – Diagnostik und Rehabilitation. Urban & Fischer, München Lachhammer H (2000) Kosten-Nutzen eines Qualitätmanagements im Dienstleistungsbereich. In: Lipp et al. (Hrsg) Gefangen im eigenen Körper. Neckar, Villingen-Schwenningen Prosiegel M et al. (2002) Schluckstörungen bei neurologischen Patienten. Nervenarzt 73:364-370. Springer, Berlin Heidelberg Prosiegel M (federführend) et al. (2008) Neurogene Dysphagien. Diener, Putzki (Hrsg) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Thieme, Stuttgart Rosenbek JC, Robbins JA, Roecker EB, Coyle JL,Wood JL (1996) A penetration-aspiration scale. Dysphagia 11(2):93-8 Schlaegel W (2000) Redressionsteam und F.O.T.T.-Gruppe – zwei Beispiele der interdisziplinären Teamarbeit zur Verbesserung der Prozessqualität. In: Lipp B et al. (Hrsg) Gefangen im eigenen Körper. Neckar, Villingen-Schwenningen Schlaegel W, Stöhr S (2003) Bewertung von »später Triggerung« und Retentionen bei der laryngoskopischen Abklärung von Schluckstörungen. Phys Med Rehab Kurort 13:226-244 Schlaegel W (2007a) Algorithmus der Trachealkanülenentwöhnung. Neuro Rehabil 6:354 Schlaegel W (2007b) Spezifische pulmonologische Probleme. Stalla: Therapieleitfaden Hirnschädigung, Uni Med Schlaegel W (2009) Das Trachealkanülenmanagement in der neurologischen Rehabilitation. Neuro Rehabil 15(5):301-307 Schlaegel W (2010) Poststationärer Verlauf schluckgestörter Patienten mit Hirnschädigungen – 5-Jahre Follow-up-Studie. Neuro Rehab 16(3):131-136 Schröter-Morasch H (2006) In: Bartolome G, Schröter-Morasch H (Hrsg) Schluckstörungen – Diagnostik und Rehabilitation. Elsevier, München Schütz M (2000) Die Bedeutung der prä-oralen Phase im Rahmen des oralen Kostaufbaus. In: Lipp et al.(Hrsg) Gefangen im eigenen Körper. Neckar, Villingen-Schwenningen Vogel W (2000) Know How beim Kanülenwechsel. In: Lipp et al. (Hrsg) Gefangen im eigenen Körper. Neckar, Villingen-Schwenningen
12
Befundung in der Facio-Oralen Trakt Therapie: ein fortlaufender Prozess Margaret Walker (Übersetzung aus dem Englischen: Petra Fuchs)
12.1
Ziele der F.O.T.T.-Befundaufnahme
12.2
Prinzipien der F.O.T.T.-Befundaufnahme
12.3
Die Befundaufnahme
12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.3.4
Datenerfassung – 244 Arbeitsmaterial – 244 »Handwerkszeug« – 244 Untersuchung – 244
12.4
Weitere Abklärungen
12.5
Was nicht abgeklärt wird
12.6
Abschließende Gedanken Literatur
– 251
– 244
– 250 – 250 – 251
– 242 – 243
242
Kapitel 12 · Befundung in der Facio-Oralen Trakt Therapie: ein fortlaufender Prozess
Die Facio-Orale Trakt Therapie ist ein Behandlungsansatz in der Dysphagietherapie, der für Patienten mit neurologischen Erkrankungen entwickelt wurde. Die Befundaufnahme umfasst die vier F.O.T.T.-Bereiche Ernährung, Mundpflege, Nonverbale Kommunikation, Atmung-StimmeSprechen und deren komplexe Zusammenhänge. Dieses Kapitel soll den Leser durch den Denkprozess führen, der der F.O.T.T.-Befundaufnahme zugrunde liegt, und die komplexen Zusammenhänge aufzeigen. Zum einen fließen die Erfahrungen der mehrjährigen Zusammenarbeit der Autorin mit Kay Coombes ein, zum anderen ihre Mitarbeit an einem Projekt zur Erstellung eines Leitfadens für die F.O.T.T.-Befundaufnahme am Therapiezentrum Burgau (TZB 2005)1. Nicht jede Eventualität kann in diesem Kapitel beschrieben werden. Die zu befundenden Inhalte finden sich in den einzelnen Kapiteln dieses Buches. »It is not enough to tick the box, you have got to open it and make use of the contents.” – Es genügt nicht, ein Kästchen anzukreuzen. Wir müssen das Kästchen aufmachen und von seinem Inhalt Gebrauch machen. (Coombes 2010)
12
Therapeuten, die mit Patienten mit komplexen Symptomen arbeiten, müssen Entscheidungen großer Tragweite treffen, z.B. ob und in welcher Form der Patient Nahrung zu sich nehmen darf. Diese Entscheidungen können potenziell lebensgefährdend für den Patienten sein, oder sie können sein Leben entscheidend prägen, z.B. wenn aufgrund einer falschen Einschätzung eine orale Nahrungskarenz für den Rest des Lebens »verhängt« wird. Die F.O.T.T. misst dem Haltungshintergrund und seinem Einfluss auf die Funktionen des fazio oralen Trakts besondere Bedeutung zu. Ohne jeweils angepassten
Haltungshintergrund wird der Patient nicht in der Lage sein, eine dynamische Körperhaltung gegen die Schwerkraft aufrechtzuhalten oder diese zu verändern. Eine gestörte Muskelspannung beeinflusst die Bewegungsfreiheit des Rumpfes, Halses und Kopfes, was sich wiederum negativ auf den Schutz der Atemwege, die Atmung, Schluckbewegungen (von Speichel, Nahrung und Flüssigkeit) und die Kommunikation auswirken kann. Folglich werden Haltungshintergrund und Muskelspannung während der gesamten Befunderhebung
(und Behandlung) immer beobachtet und analysiert. Beobachtungen, die z.B. während der Befundung des Gesichts gemacht werden, sind ebenfalls relevant für die Befundaufnahme des Mundraums. Viele der an der Mimik beteiligten Muskeln müssen auch zum Schlucken und Sprechen koordiniert zusammenarbeiten. 1 Die Autorin bedankt sich beim TZB für die Möglichkeit der Teilnahme an diesem Projekt.
Ist keine aktive Mitarbeit des Patienten möglich, wird die Befunderhebung im Rahmen der ersten Behandlung(en) erfolgen (müssen). Der Therapeut muss mit seinen Händen Strukturen und Funktionen des Körpers erspüren und ggf. verändern oder Handlungen des Patienten aktiv führen, so dass der Patient optional die Intention einer Aktivität (Bewegung) spüren, verstehen, evt. übernehmen kann bzw. in die Lage versetzt wird, diese mit Hilfe auszuführen. Symptome sind als eine Momentaufnahme der Fähigkeiten und Fertigkeiten zu einem gegebenen Zeitpunkt zu verstehen. Der Therapeut ist ein Detektiv auf
der Suche nach den kausalen Zusammenhängen, die die Symptome – u.a. in Haltung, Tonus und Bewegung – verursachen; z.B. erschwert oder behindert ein kompensatorisch hyperextendierter, verkürzter Nacken bei einem Patienten mit Rumpfinstabilität die Kehlkopfbewegungen (7 Kap. 4). Während der Befundaufnahme (und während des Behandelns) bildet der Therapeut Hypothesen bezüglich der kausalen Verursachung der Symptome. Diese Hypothesen werden laufend reevaluiert und dazu benutzt, Schwerpunkte für die Therapie und Behandlungsalgorithmen festzulegen (7 Kap. 13). Im F.O.T.T.-Konzept wird man zuerst differenzialdiagnostisch die zugrunde liegende Ursache für ein Problem des Patienten im perzeptiven, sensomotorischen, kognitiven und psychischen Bereich suchen und eine darauf abgestimmte Arbeitshypothese formulieren. Exemplarische Beispiele finden sich in 7 Kap. 6. Schon bei der ersten Begegnung ist es wichtig, einen vertrauensvollen, partnerschaftlichen Kontakt zum Patienten herzustellen, ohne zu vergessen, dass es sich sehr oft um eine ungleiche Partnerschaft handelt.
12.1
Ziele der F.O.T.T.-Befundaufnahme
»F.O.T.T.-Befundaufnahme ist mehr als Diagnosestellung.« (Fuchs 2010)
Die F.O.T.T.-Befundaufnahme zielt darauf ab bzw. ermöglicht, das Individuum mit seinen Probleme und Potenzialen möglichst ganzheitlich zu erfassen: 4 die Hauptprobleme, z.B. ineffiziente Schutzmechanismen, einen gestörten Haltungshintergrund, aber auch die komplexen Zusammenhänge zwischen Symptomen zu erfassen und zu beschreiben; 4 die zugrunde liegenden Ursachen im perzeptiven, sensomotorischen oder kognitiven und psychischen Bereich zu suchen; 4 Hypothesen zu bilden sowie Nah- und Fernziele zu formulieren:
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
243 12.2 · Prinzipien der F.O.T.T.-Befundaufnahme
5 Nahziele sollten nach 2–3 Wochen evaluiert und
wieder neu formuliert werden; 5 Fernziele zeigen auf, was z.B. während der Dauer des stationären Aufenthalts oder innerhalb der ersten Monate erreicht werden soll; 4 Therapiemaßnahmen auszuprobieren, z.B. Ausgangsstellungen zu verändern, Stimmfazilitation, Mundstimulation, Kauen in Gaze, wodurch in der Therapie Veränderungen erreicht werden sollen; 4 das Potenzial des Patienten, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten zu identifizieren, die in der Therapie genutzt werden können, z.B., ob der Patient sich melden kann, ob er sich drehen und so z.B. die Klingel erreichen kann. Regelmäßige Befundaufnahmen leiten den Therapeuten beim Erstellen, Verändern und Anpassen des Behandlungsplans.
12.2
Prinzipien der F.O.T.T.-Befundaufnahme
> Beachte F.O.T.T.-Prinzip: Je besser wir das Normale kennen, umso besser können Abweichungen erkannt werden.
jF.O.T.T. Befundaufnahme – Behandlung – Evaluation: ein Kreislauf (. Abb. 12.1, Coombes u. Davis 1987) Die Befundung ist ein fortlaufender Prozess von Befund-
aufnahme, Behandlung und Evaluation derselben. Jede Behandlung ist gleichzeitig immer auch eine neue Befundaufnahme. Nur so kann beurteilt werden, ob die Behandlung Wirkung zeigt, oder ob etwas im Vorgehen geändert werden muss. Der Therapeut evaluiert fortlaufend das Verhalten des Patienten und die Reaktionen auf den therapeutischen
Input. Er behandelt und testet somit bereits während der Befundung, ob auffällige Bewegungen, Bewegungskoordination und Veränderungen des Muskeltonus therapeutisch zu beeinflussen sind, und ob dadurch eine Veränderung herbeigeführt werden kann. Kann der Tonus durch das Handling soweit verändert werden, dass der Patient eine Funktion ausführen kann? Die angebotenen Hilfestellungen dürfen dabei die Gesamtfunktion nicht negativ beeinflussen; sie dürfen den Patienten nicht (noch weiter) in die Kompensation oder Pathologie treiben. »Why are you continuing to do something that clearly does not work?” – Wieso fahren Sie damit fort, etwas zu tun, das offensichtlich nichts bringt? (B. Bobath in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts zu ihrer jungen Schülerin Kay Coombes)
kFachwissen und Kenntnisse bzgl. des normalen menschlichen Systems sind wesentlich
Nicht nur Physiologie, Anatomie und Bewegungen des Schluckens sind wichtig, sondern auch die Kenntnisse der Stimm- und Sprechfunktion, der nonverbalen Kommunikation und der Atmung. Diese Systeme in ihrer Vielschichtigkeit und in ihrem koordinierten Wechsel zu befunden und zu behandeln, ist Alleinstellungsmerkmal der F.O.T.T.! kDie Funktionen Atmung und Schlucken, Atmung und Sprechen, Schlucken und Sprechen arbeiten koordiniert zusammen Der Therapeut beurteilt das Wechselspiel der fazio-oralen Funktionen und das Auftreten von Schutzreaktionen
(7 Kap. 1). Ein Patient mit einer schnellen, flachen Atmung wird wahrscheinlich keine normale Atempause im Atemrhythmus – und wahrscheinlich keine normale Schluckfrequenz zeigen, und auch nicht atemrhythmisch angepasst sprechen können. kStrukturierte Vorgehensweise für Hypothesenbildung, Ableitung von Therapiezielen und Evaluation komplexer Zusammenhänge Das Registrieren von Symptomen allein – durch Ankreu-
zen von Kästchen in Screeningbögen – hilft dem Therapeuten nicht weiter. Die zugrunde liegenden Ursachen der Symptome und des Patientenverhaltens können im perzeptiven, sensomotorischen, kognitiven und psychischen Bereich zu finden sein. Die Symptome können primär oder sekundär, z.B. durch Kompensation, verursacht sein. Es bedarf also der Reflexion und des Bildens und Evaluierens von Arbeitshypothesen (7 Kap. 6 und 1.3.3). Wie komplex dieses Vorgehen ist, zeigen die AlgorithmenAusführungen in 7 Kap. 13. . Abb. 12.1. Jeder Schritt erfordert ein Verständnis der Eigenschaften der normalen Entwicklung und normaler Bewegung
12
244
Kapitel 12 · Befundung in der Facio-Oralen Trakt Therapie: ein fortlaufender Prozess
kErfassen der Bewegungsqualität Das Beurteilen der Qualität der Bewegungsausführung ist von zentraler Bedeutung. Jegliche Veränderung, eine
Verminderung oder gar ein Zerfall der Bewegung, verminderte Selektivität oder ein Verharren in der Bewegung, wird vermerkt, z.B.: 4 Hebt der Patient die Zunge ohne Mithilfe des Unterkiefers um ein »n« zu sprechen, oder bewegt sich der Kiefer mit nach oben? Letzteres ist eine körpereigene Kompensation und wirkt sich sowohl auf das Sprechen als auch auf das Schlucken aus. 4 Wird ein vorhandenes Bewegungsmuster jedes Mal verstärkt, wenn der Patient dieselbe nicht selektive Bewegung ausführt? Das Testen und Re-Testen vor und nach einer Intervention gibt hier unerläßliche und notwendige Informa-
12.3.2
Arbeitsmaterial
Zur Grundausstattung in Einrichtungen und Praxen gehören: 4 ein höhenverstellbarer Tisch, 4 ein Stuhl, 4 eine Liege, 4 ein Stehgerät, 4 Lagerungsmaterial (Decken, Kissen, Handtücher), 4 Packs sowie 4 ein F.O.T.T.-Therapie-Set mit 5 Fingerlingen, 5 Handschuhen, 5 Gaze, (Plastik-)Spatel etc. (. Abb. 6.11–6.17), 4 Wasser und 4 eine Auswahl von Nahrungsmitteln (Saft, Obstmus, Apfel und evt. Brot).
tionen. kBefundung ist kein Sprachverständnistest Befundung von Bewegungsabläufen setzt ein therapeutisches Repertoire an taktilen und/oder visuellen sowie
12
prägnanten verbalen Hilfestellungen voraus, die den Patienten in seinem Tun unterstützen. Die verbalen Hilfen in der F.O.T.T. erklären nicht, wie etwas zu tun ist, sondern sie haben i.d.R. ziel- und handlungsorientierten Aufforderungscharakter. kJeder Patient kann befundet werden
Die F.O.T.T.-Befundung und Behandlung hängt nicht vom kognitiven Level des Patienten oder seiner Kapazität ab, verbalen Aufforderungen folgen zu können. Schwerst betroffene Individuen, z.B. im Koma, können ebenso untersucht und befundet werden wie »weniger betroffene«, z.B. Fußgänger.
12.3
Die Befundaufnahme
12.3.1
Datenerfassung
Beim Hausbesuch trifft der Therapeut auf die Realität. Für diesen Alltag muss der Patient vorbereitet werden. Phantasie ist gefragt: 4 Packs können durch Telefonbücher ersetzt werden. 4 Decken und Handtücher werden verstärkt zum Einsatz kommen (. Abb. 5.10a–g).
12.3.3
Der Therapeut bedient sich all seiner Sinne, Fertigkeiten und Kognition beim Beobachten, Wahrnehmen, Verändern und Reflektieren des Gesehenen, Gehörten und Gespürten. Er wird seinen eigenen Körper einsetzen zur Stabilisierung, zum Erspüren und zum Verändern. Diese motorischen Skills (Fertigkeiten) können nicht (nur theoretisch) erworben werden. Sie sind aktiv agierend unter Supervision zu erwerben.
12.3.4
Die Befundaufnahme beginnt mit dem Sammeln von Informationen zu Krankengeschichte und bisherigen Untersuchungen und Behandlungen. Diese Angaben werden zusammengetragen aus Krankenakten sowie im persönlichen Gespräch mit dem Patienten und/oder seinen Angehörigen und den betreuenden Teammitgliedern. Sie sollen einen Überblick verschaffen bzgl. des Allgemeinzustandes, der Fähigkeiten und Fertigkeiten des Patienten und möglicher Positionen, in denen der Patient befundet werden kann. Die Befundaufnahme wird schriftlich festgehalten.
»Handwerkszeug«
Untersuchung
Alle Hilfsmittel werden registriert und inspiziert, z.B.: Magensonden, PEGs, Shunts, Flexülen, evt. vorhandene Tracheostomen und deren Anlageform sowie liegende Trachealkanülen mit Typ und Größe. Während der gesamten Befundung werden beide Gesichts- und Körperhälften miteinander verglichen und Unterschiede in Symmetrie und Bewegungsmöglichkeiten notiert. Es wird diejenige Ausgangsstellung gewählt, in der der Patient die bestmögliche Leistung erbringen kann (7 Kap. 8). In einem frühen Stadium kann das die Seitenlage sein, in der der Patient viel Unterstützungsfläche angeboten bekommt, Sitzen oder unterstützes Stehen. Da-
245 12.3 · Die Befundaufnahme
durch soll ermöglicht werden, dem Patienten seine kompensatorische Haltearbeit abzunehmen, damit sich die Strukturen freier bewegen können. Die Ausgangsstellung sollte nicht statisch sein; der Patient sollte sich auch während der Abklärung bewegen oder bewegt werden! ! Vorsicht Bereits bei der ersten Kontaktaufnahme werden die spontane Schluckfrequenz und Symptome registriert, die auf Schluckprobleme hinweisen, wie z.B. 4 Speichelansammlungen und/oder Nahrungsreste im Mund, 4 vermehrter Speichelfluss aus dem Mund, 4 erhöhte und veränderte Atmungsfrequenz (z.B. eine schnelle, geräuschvolle Atmung), 4 gurgelige oder nass klingende Stimme und/oder 4 Husten. Werden eines oder mehrere dieser Symptome beobachtet, müssen sofort geeignete Maßnahmen ergriffen werden, z.B. 4 das Entfernen von Speichelansammlungen oder Nahrungsresten im Mund, 4 die Wahl einer anderen Position zur Verminderung des Aspirationsrisikos oder 4 die Fazilitation des Schluckens, Hustens oder Räusperns und eines folgenden Reinigungsschlucks.
Unter der Lupe Komplexer Zusammenhang: Haltungshintergrund als Grundvoraussetzung für Funktionen Der Haltungshintergrund beschreibt die Position des Körpers im Raum, die abhängig ist vom Körper-Alignment, d.h. der Ausrichtung der Körperteile zueinander im Spannungsfeld von Schwerkraft und Unterstützungsfläche. Ein veränderter Muskeltonus (zuviel oder zuwenig) erschwert die dynamische Aufrichtung gegen die Schwerkraft. Eine eingeschränkte Rumpfkontrolle, ein eingeschränktes Gleichgewicht oder verminderte Beweglichkeit des Kopfes und Halses beinträchtigen den Schutz der Atemwege, die Atmung, physiologische Schluckbewegungen (bei Transport von Speichel, Nahrung und Flüssigkeit) und die verbale und nonverbale Kommunikation (7 Kap. 5, 7, 8). Die Bewegungen von Zunge und Kiefer sind abhängig vom Haltungshintergrund. Die Zungenbewegungen werden z.B. durch einen nach hinten gekippten Kopf äußerst erschwert. Ein stabiler Kiefer bietet der Zunge die Unterstützungsfläche zur Bewegungsausführung. Ist der Kiefer schlecht ausgerichtet (»aligned«), bewegt er mit der Zunge mit, oder ist gar fest zusammengebissen, sind die Zungenbewegungen sehr erschwert oder unmöglich.
verbalen Aufforderung. Kann der Patient die Bewegung nicht ausführen, so wird zusätzlich taktil fazilitiert. Die Qualität der Bewegungsausführung und Abweichungen von der Norm, z.B. Asymmetrien, werden bewertet. Für die taktile Befunderhebung wird das Gesicht in ein oberes Drittel (Stirn/Augenbrauen), ein mittleres Drit-
Befundung des Haltunghintergrunds Befundet wird die Rumpf- und Kopfkontrolle während des Sitzens und/oder Stehens: 4 Ist es dem Patienten möglich, frei zu sitzen, den Kopf nach beiden Seiten zu drehen, um einen Gegenstand rechts und links von ihm zu sehen? 4 Kann er die Arme für Tätigkeiten benutzen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren? 4 Ist ein »Zuviel« an Tonus ein primäres Problem, oder ist es sekundär entstanden als Kompensation eines »Zuwenig« an dynamischer Stabilität? Als Methode wird das Testen und Re-Testen der Position und der Muskelspannung vor und nach Veränderungen u.a. im Nacken eingesetzt.
Befundung des Gesichts Das Gesicht wird zu Beginn visuell befundet: im Ruhezustand und bei spontanen Gesichtsbewegungen einschließlich Blickfixation und Blickfolgebewegungen. Bei der Befundung des Gesichts – aber auch des oralen Trakts – demonstriert der Therapeut am Anfang die Bewegung (visuelles Modell), evt. gefolgt von einer kurzen
Unter der Lupe Komplexer Zusammenhang Der Muskeltonus im Gesicht beeinflusst nicht nur die Mimik, das Sprechen und Schlucken, sondern auch die angepasste Kieferöffnung beim Zähneputzen, bei der Nahrungsaufnahme und die Fähigkeit, Nahrung und Flüssigkeit in angemessener Weise mit den Lippen von Besteck und Becher abzunehmen. Diese gestörte prä-orale Phase wirkt sich wiederum negativ auf die oralen Bewegungen, die Zungenbewegungen aus. Es sei daran erinnert, dass gewisse Gesichtsbewegungen – auch ohne neurologische Problematik – Massenbewegungen hervorrufen können, z.B. das Heben der Augenbrauen oder das Naserümpfen. Die taktile Befundung gibt zusätzlich Hinweise zur Reagibilität. Alle Reaktionen wie z.B. Schwitzen, Tonusanstieg, assoziierte Reaktionen des Patienten auf Berührungen des Therapeuten und bei Selbstberührung sowie der begleitende Muskeltonus im Gesicht werden registriert. Das Gesicht kann den im Körper vorherrschenden Muskeltonus widerspiegeln. So können beim Heben des Kopfes gegen die Schwerkraft die hochgezogenen Augenbrauen auf einen kompensatorisch benutzten Extensionstonus hinweisen. Diese Hypothese muss selbstverständlich während der taktilen Befundung überprüft werden.
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Kapitel 12 · Befundung in der Facio-Oralen Trakt Therapie: ein fortlaufender Prozess
tel (Augen/Nase) und ein unteres Drittel (Mund/Wangen/ Kinn) eingeteilt. Die Abklärung mimischer Bewegungen beginnt an der weniger empfindlichen Stirn, da diese bilateral innerviert wird und der Patient die Bewegungen sehr wahrscheinlich besser spüren und somit eher ausführen kann als Bewegungen im unteren Gesichtsbereich (7 Kap. 7).
Befundung des Mundraums In der Regel werden die Strukturen des Mundes und des Mundraums zuerst visuell beurteilt, z.B. auf 4 das Vorhandensein von Bisswunden, 4 Schleimhautveränderungen, 4 Zahnfleischzustand, 4 Zahnstatus, 4 Residuen von Speichel und/oder Nahrung.
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Bei schwer betroffenen Patienten wird der taktile Befund, d.h. die Mundstimulation jedoch häufig vor der visuellen Befundung vorgenommen, damit der Mund vielleicht dabei oder danach (manchmal Gähnen) geöffnet und überhaupt kurzzeitig einsehbar wird (7 Kap. 6.3.3). Bei der Mundstimulation werden beurteilt: 4 Tonusverhältnisse der Wangen, der Lippen und der Zunge, 4 Reaktionen des Patienten auf Berührungen, 4 Reagibilität und 4 Schluckreaktionen. i Praxistipp Die Mundstimulation kann auch bei einem Patienten mit geblockter Trachealkanüle durchgeführt werden (7 Kap. 6.3.3). Dabei werden die spontanen Schluckversuche unterstützt, das Schlucken wird jedoch nicht fazilitiert. Der Kieferkontrollgriff hilft, die pumpenden Bewegungen des Kiefers zu reduzieren.
Die Zungenbewegungen, einschließlich die des Mundbodens, und Kieferbewegungen werden qualitativ, quantitativ und in ihrem Bewegungsausmaß befundet. Das Führen der Patientenhand zum Mund kann hilfreich sein, um Zungenbewegungen oder ein Öffnen des Mundes anzuregen. ! Vorsicht 4 Ist eine Beißreaktion nicht auszuschließen, darf weder der Finger des Patienten noch der des Therapeuten ungeschützt in die Mundhöhle eingeführt werden! 4 Zum Offenhalten des Kiefers haben sich selbstgemachte Aufbisshilfen bewährt, die weicher sind als im Handel erhältliche Beißblocks (. Abb. 6.17).
Zu Abklärungszwecken ist es indiziert, dass sich die Zunge außerhalb des Mundes bewegt. Abweichungen von der Symmetrie werden notiert. Normalerweise liegt die Zunge in der Mundhöhle und tritt nur kurz, etwa zum Ablecken der Lippen, aus dem Mund. Intraorale Bewegungen (Zähne ablecken, Wangen säubern) und extraorale Bewegungen (Zunge aus dem Mund strecken, seitliche Bewegungen, etwas von den Lippen ablecken) werden vorgemacht. Zwischen den einzelnen Bewegungen werden die motorischen Antworten, Reaktionen wie spontane Zungen-, Kiefer- und Schluckbewegungen abgewartet und beurteilt. Wenn möglich, werden befundet: 4 das Nachsprechen eines »n-ga«, das ähnliche Bewegungen erfordert wie die orale Zungenrückwärtsbewegung beim Schlucken, 4 die (symmetrische?) Hebung des weichen Gaumens bei Phonation »ah«. Kieferkontrollgriffe oder Schluckhilfen kommen dabei bei Bedarf zum Einsatz (7 Kap. 5).
Befundung von Atmung, Schutzreaktionen und Stimme Die Qualität der Atmung, der Schutzreaktionen und der Stimme wird während der gesamten Abklärung und in verschiedenen Ausgangsstellungen, d.h. im Liegen, Sitzen, Stehen und falls möglich beim Gehen befundet. Veränderungen, Aktivitäten aufgrund des Positionswechsels werden ebenso wie (vorerst) zu vermeidende Positionen vermerkt, z.B. Liegen auf dem Rücken, weil Speichel in dieser Position schneller aspiriert werden kann und ein effektives Husten nicht möglich ist. ! Vorsicht 4 Atmung und Stimme werden von Emotionen beeinflusst wie z.B. dem Grad der Unsicherheit, Angst oder Anstrengung. Strengt sich der Patient an, um Stimme zu produzieren, nimmt die Muskelspannung zu, und es können assozierte Reaktionen auftreten. 4 Patienten mit Trachealkanüle zeigen immer eine veränderte Atmung (7 Kap. 8 und 10)!
Folgende Aspekte der Atmung werden visuell, auditiv und taktil (Kontakt der Hände) beurteilt: 4 Atemfrequenz, 4 Atemrhythmus, 4 Atemgeräusche (z.B. Stridor), 4 Atmungstyp (z.B. Atembewegungen überwiegend in Schultergürtel und Nackenmuskulatur zu sehen, paradoxe Atmung), 4 Symmetrie der Atembewegungen, 4 Atmen durch die Nase und/oder den Mund und
247 12.3 · Die Befundaufnahme
4 evt. Sauerstoffbedarf mit einer nasalen O2-Brille oder Kanüle. Ist der Patient an einen Monitor angeschlossen, können neben der Sauerstoffsättigung auch Atem- und Herzfrequenz, Temperatur und Blutdruck abgelesen werden. ! Vorsicht Es gilt zu beachten, dass sich ein Abfall der Sauerstoffsättigung nicht sofort am Monitor bemerkbar macht, sondern zeitverzögert angezeigt wird (1–2 Minuten später)!
Bei der taktilen Untersuchung werden Veränderungen während der Kontaktatmung sorgfältig registriert. Auch hier kann der Schlüssel zum Einstieg in die Therapie, zu positiven Veränderungen zu finden sein. Finden sich strukturelle Anomalien, die die Mundatmung verhindern, müssen mögliche Ursachen überlegt werden: Der Patient kann z.B. nicht durch den Mund atmen, weil der Kiefer nicht geöffnet werden kann, oder die oberen Atemwege sind aufgrund hypotoner oraler und/oder pharyngealer Strukturen blockiert. ! Vorsicht Ein Patient, der den Mund nicht öffnen kann, riskiert bei verstopfter Nase zu ersticken. Deswegen ist es vor dem Entfernen einer Trachealkanüle u.a. unentbehrlich abzuklären, ob Mund- und Nasenatmung möglich sind. In diesem Fall ist eine instrumentelle Abklärung durch eine fiberoptisch-endoskopische Untersuchung, FEES, dringend notwendig.
Die Atmung wird auch in Bezug auf den Schutz der Atemwege (. Abb. 9.9) befundet. Folgende Fragen geben wichtige Hinweise zum Schutz der Atemwege: 4 Zu welchem Zeitpunkt in der Atemphase schluckt der Patient? 4 Atmet der Patient nach dem Schlucken aus? 4 Verändern sich Atmung (und Stimme) nach dem Schlucken? Unter der Lupe Komplexer Zusammenhang: Atem-Schluck-Koordination Die Ausatemluft bewegt zurückgebliebene Speichel- und/ oder Nahrungsreste, welche die Schleimhaut berühren und reizen. Dies kann verschiedene Reaktionen auslösen: Schlucken, Husten, Räuspern, Ausspucken mit/ohne nachfolgendem Schlucken. Eine hypotone Bauchmuskulatur erschwert kräftiges Husten zum Reinigen der unteren Atemwege und des Pharynx. Ausatmen nach dem Schlucken leistet einen weiteren wichtigen Beitrag zum Schutz der Atemwege (7 Kap. 5, 8, 9 und 10).
Befundung von Stimme und Sprechen Während der gesamten Befunderhebung sammelt der Therapeut Hinweise, ob der Patient Stimme produzieren kann, z.B. beim Husten, Räuspern oder Stöhnen, oder ob er sprechen kann. Beurteilt werden u.a. Qualität der Stimmbildung und Stimmklang: 4 Wie lange kann Stimme gehalten werden (normale Tonhaltedauer 10–15 Sekunden)? 4 Kann Stimme fazilitiert werden, z.B. mittels seitlicher taktiler Unterstützung am Brustkorb, mit oder ohne Vibration am Sternum? 4 Sind Interjektionen spontan möglich? Oder folgt Stimme nach verbaler Aufforderung oder nach auditivem oder visuellem Modell durch Imitation, z.B. ein erstauntes »ah« sprechen? 4 Wie hört sich die Stimme an: verhaucht, heiser, gurgelnd, nass, nasal, gepresst, monoton, zu laut? Oder ruhig, klar, mit Veränderungen der Stimmhöhe und Melodie? 4 Setzt die Stimmbildung beim Einatmen ein, zu Beginn oder am Ende der Ausatmung? 4 Kann der Patient verbal kommunizieren, spricht er einzelne Wörter oder zusammenhängende, situationsadäquate Sätze? Für eine Prüfung der Stimme bei Patienten mit geblockter Trachealkanüle muss die Blockung gelöst werden und die Trachealkanüle digital oder mit einem Sprechaufsatz verschlossen werden (7 Kap. 9 und 10). jTaktile Befundung des Kehlkopfes
Die Bewegungen des Kehlkopfes werden sowohl bei der Stimmgebung und beim Sprechen als auch beim Schlucken beobachtet und beurteilt. Eine taktile Prüfung des seitlichen Bewegungsausmaßes, auch hinsichtlich Symmetrie, wird vorgenommen. Die Handkante der prüfenden Hand stabilisiert dabei das Sternum, während der Daumen das Bewegungsausmaß prüft.
Befundung des Schluckens jSpeichelschlucken Das spontane Speichelschlucken wird direkt nach Ein-
tritt in den Raum während aller Aktivitäten hinsichtlich Sequenz, Bewegungsqualität, Timing und Frequenz (Richtwert in Ruhe ca. 1-mal/Minute) beurteilt. Tritt spontanes Speichelschlucken selten oder gar nicht auf, werden die motorischen Antworten und Schluckreaktionen nach Fazilitation, z.B. nach der Mundstimulation, registriert.
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248
Kapitel 12 · Befundung in der Facio-Oralen Trakt Therapie: ein fortlaufender Prozess
Unter der Lupe Komplexer Zusammenhang: Atem-SchluckKoordination Da Schlucken im Spannungsfeld von Bewegung (Weg eines Bolus in den Magen) und Atmung (Heraushalten aus den Atemwegen durch Apnoe) erfolgt, gilt es nicht nur, die motorischen Bewegungen, sondern gleichzeitig auch die Atmung und deren Zusammenspiel zu befunden.
jSchlucken von Speichel, Nahrung und Flüssigkeit
Zu Beginn der Befundaufnahme wird ein Medium, z.B. Wasser oder Saft, gewählt und notiert. kPrä-orale Phase In der prä-oralen Phase werden Zeichen der sich aufbau-
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enden Erwartungs- und Vorbereitungshaltung anhand von Alltagshandlungen registriert. Mögliche Situationsgestaltung: Der Patient umfasst mit beiden Händen eine Orange, steckt einen Finger in das Fruchtfleisch, und der Finger wird dann zum Mund geführt, oder eine Flasche Orangensaft wird gemeinsam mit dem Patienten geöffnet, in ein Glas eingeschenkt, sein Finger in den Saft eingetunkt und der mit Saft benetzte Finger oder Löffel zum Mund geführt. 4 Wie verhält sich der Patient, bevor der Saft den Mund erreicht? 4 Verfügt der Patient über genügend Haltungshintergrund? 4 Richtet sich der Blick auf die Aktion? 4 Arbeiten die Hände koordiniert zusammen? 4 Ist eine Hand-Augen- und/oder Hand-Mund-Koordination zu beobachten? kOrale Phase In der oralen Phase werden Öffnung und Schluss des Kie-
fers, Kiefer- und Zungenbewegungen, Saugen und der Transport durch die Mundhöhle hinsichtlich Dauer, Ausführung, Vollständigkeit und Timing beobachtet: 4 Was ist zu sehen, zu spüren und zu hören? 4 Sind die sichtbaren Muskelbewegungen in Gesicht und Hals adäquat? 4 Wie verhält sich die Atmung? kPharyngeale Phase In der pharyngealen Phase werden von außen sicht-
oder hörbare Antworten hinsichtlich Qualität, Bewegungsausmaß, Timing und Geschwindigkeit befundet, u.a.: 4 Schluckt der Patient prompt? 4 Sind Kehlkopfhebung und -senkung komplett, zeitlich und in ihrer Dauer stimmig? 4 Folgt nach dem Schlucken ein Ausatmen?
4 Werden der Nasen-Rachen-Raum und die unteren Atemwege beim Schlucken abgeschlossen, d.h., erfolgt kein Austritt von Speichel aus der Nase, kein Husten? 4 Folgt eine ungestörte Atmung und eine klare Stimme nach dem Schlucken? 4 Sind Reinigungsschlucke zu beobachten? Auch taktil können die Schluckbewegungen an Mundboden und Kehlkopf erfasst werden. kÖsophageale Phase Die ösophageale Phase kann klinisch nur anhand indi-
rekter Symptome wie Rülpsen, Reflux, subjektiv geschildertes retrosternal brennendes Gefühl beurteilt werden. jVorgehen ! Vorsicht Die Befundung der Schlucksequenz mit Nahrung und Flüssigkeit wird nicht durchgeführt, wenn der Patient 4 nicht sitzen kann, 4 nicht über genügend Kopfkontrolle verfügt, 4 nicht oder zuwenig schluckt bzw. der Kehlkopf sich nicht ausreichend bewegt, 4 aphon ist (mit oder ohne Kanüle!), oder 4 bei ineffizienten Schutzmechanismen, d.h., der Patient hustet nicht spontan und/oder räuspert sich bei Bedarf nicht, und/oder das Nachschlucken fehlt, 4 bei schwankender Vigilanz.
Das Kauen in Gaze – eine Vorstufe zum Kauen – wird dann durchgeführt, wenn Unsicherheiten bzgl. der sicheren Bolusformation, des Bolustransports und des Schutzes der Atemwege bestehen. Das dazu benutzte Medium sollte wenig Saft produzieren (z.B. Apfel, Trockenfrüchte, Salami). Das in Gaze gewickelte Kaugut wird auf der einen Seite des Mundes zwischen die Mahlzähne gelegt, und nachdem der Patient ein- bis zweimal auf das Säckchen gebissen hat, entfernt. Dem Patienten wird anschließend Zeit zum Schlucken gelassen, oder ein Schlucken wird fazilitiert, bevor ein weiteres Kausäckchen auf der anderen Mundseite zwischen die Molare eingeführt wird (. Abb. 5.7 a-c). Während dieses asymmetrischen Beißens werden die Bewegungen von Wangen, Zunge und Kiefer beurteilt. Schluckhäufigkeit und Schluckwirksamkeit können gemessen werden, z.B. anhand der nach dem Schlucken verbliebenen Speichelmenge im Mund. Bei Kanülenträgern wird das Kauen in Gaze nur mit ungeblockter Kanüle durchgeführt, die mit einem Sprechaufsatz versehen ist. Die Befundung mit Nahrung und Flüssigkeit wird nur fortgesetzt, wenn der Patient die notwendigen Voraus-
249 12.3 · Die Befundaufnahme
setzungen zum sicheren Schlucken erfüllt. Der Therapeut wählt dann diejenige Konsistenz aus, die der Patient sicher schlucken kann, z.B. Püree oder weich gekochte Nahrung. Auch beim Abklären passierter, weicher und fester Konsistenzen werden alle Phasen der Schlucksequenz beurteilt. In der prä-oralen Phase wird – wie bereits oben erwähnt – neben dem Haltungshintergrund beobachtet, ob 4 der Patient Interesse an der Nahrung zeigt, 4 die Hände koordiniert zusammenarbeiten, 4 eine Hand-Augen- und/oder Hand-Mund-Koordination zu beobachten ist, 4 der Patient Besteck benutzen und die Nahrung evt. zerschneiden kann. In der oralen Phase wird beobachtet: 4 das Abnehmen der Nahrung mit den Lippen von Gabel oder Löffel, 4 das Abbeißen, 4 das Einziehen/Aufnehmen von Flüssigkeit, 4 die Bolusformation und 4 der Bolustransport. Jede Konsistenz sollte mindestens 3-mal gegeben werden, bevor die Menge gesteigert wird. Müssen die Schluckversuche abgebrochen werden, da sie unsicher sind oder Husten hervorrufen, gilt es, die Gründe herauszufinden. Dann können Änderungen der Position, der Konsistenz und/oder Menge oder auch eine erneute Vorbereitung der oralen Strukturen erprobt werden, bevor evt. ein neuer Schluckversuch begonnen wird. > Beachte Zum Schutz der Atemwege muss der Patient in eine nach vorne geneigte Stellung gebracht werden können. Zu identifizieren sind diejenigen Faktoren, welche dies erschweren oder verhindern, z.B. Hüftkontrakturen oder Frakturen.
Aspirationsrisiko und Aspiration Die Beurteilung einer Aspiration oder eines Aspirationsrisikos ist auch bei Patienten, die mit PEG versorgt sind und keine orale Ernährung erhalten, von zentraler Wichtigkeit. Die Annahme, dass in solchen Fällen kein Aspirationsrisiko besteht, ist falsch. Das Aspirieren von (bakteriell kontaminiertem) Speichel und/oder gastroenteralem Refluxmaterial kann ebenfalls zu Pneumonien führen. ! Vorsicht Stille Aspiration kann während der klinischen Befundung, ohne instrumentelle Abklärung, nie vollständig 6
ausgeschlossen werden. Eine umfassende und systematisch durchgeführte Befundaufnahme sollte den Therapeuten jedoch auf Anzeichen stiller Aspiration aufmerksam machen, z.B.: 4 verzögertes Schlucken, 4 hörbar veränderte oder erhöhte Atemfrequenz, 4 nass klingende Stimme, 4 fehlende Stimme, 4 manchmal feucht werdende Augen, 4 verspäteter oder fehlender Hustenstoß und 4 subfebrile Temperaturen unbekannter Ursache.
Die Entscheidung, ob und in welcher Form der Patient Nahrung aufnehmen kann, ist abhängig vom kompletten Untersuchungsbefund, z.B. ob – abhängig von Wachheit und Ausdauer – kleine Mengen an Nahrung und Flüssigkeit während der Therapie oder der oralen Ernährung 3-mal täglich gegeben werden können. Eventuell benötigt der Patient eine kombinierte orale und enterale Nahrungsaufnahme. Für die Bewertung der Befundung hat besonders das Einschätzen des Schutzes der unteren Atemwege und des Aspirationsrisikos Priorität. Das Auftreten und die
Wirksamkeit (Effektivität) oder das Fehlen situativ notwendiger spontaner Schutzmechanismen müssen eingeschätzt werden. Weitere wichtige Faktoren für die Beurteilung sind Wachheit, Haltungshintergrund und pathologische Würgreaktion. Ein effektiver Schutz der Atemwege zeichnet sich durch einen spontanen, rechtzeitig ausgelösten und kräftigen Hustenstoß aus, dem ein Schlucken folgt. Ohne diesen Reinigungsschluck bleiben Reste zurück, die wieder in die Atemwege eintreten können. Das von Lehmann und Müller beschriebene Modell (. Abb. 5.5) ist hilfreich, um das Aspirationsrisiko zu beurteilen. Werden die Kernfaktoren »Schlucken und Schutzmechanismen« als ungenügend beurteilt, ist das Aspirationsrisiko groß. In diesem Fall müssen die Zusatzfaktoren »Wachheit, Haltungshintergrund und Gesamtkonstitution« die Situation absichern. Auch das Modell aus dem Berliner Dysphagie Index kann zur Beurteilung herangezogen werden (. Abb. 9.9).
Befundaufnahme Kommunikation Die Fähigkeit zu kommunizieren ist ein essenzieller Teil des Menschseins, der es uns ermöglicht, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, Informationen auszutauschen und anderen unsere Sicht der Dinge und Meinungen mitzuteilen. Probleme in der verbalen und nonverbalen Kommunikation werden in der Rehabilitation – mangels ausreichender Therapeutenressourcen – oft stiefmütterlich behandelt, da das Team, die Familienangehörigen oder die Patienten die Prioritäten auf Gehen/Mobilität, Essen und
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250
Kapitel 12 · Befundung in der Facio-Oralen Trakt Therapie: ein fortlaufender Prozess
Trinken setzen. Die Zeit, die für den Aufbau von Kommunikation aufgewendet wird, ist oft wesentlich geringer. Die Patienten haben häufig nicht die Möglichkeit, sich in Kommunikation zu üben, z.B. sich mittels Bildern nonverbal mitzuteilen. Kommunikationsbücher oder -geräte werden oft nicht benutzt, oder nicht alle Teammitglieder wissen, wie diese Hilfen zu benutzen sind. Während der Befundaufnahme ist festzuhalten, wie der Patient sich mitteilt: 4 Teilt der Patient sich verbal und/oder schriftsprachlich, nonverbal mittels Gestik und Mimik oder mittels einer alternativen Methode (Zeigetafel, Bilder, Computer) mit? 4 Ist der Patient in der Lage, Blickkontakt mit dem Therapeuten aufzunehmen, Bewegungen im Raum mit den Augen zu verfolgen, oder kann er sich an einem Dialog (Turn-taking) mit Lauten beteiligen?
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Ziel soll es sein, Hypothesen zum Kommunikationspotenzial eines Patienten zu formulieren: 4 Kann der Patient seine Augen alleine oder mit Hilfe schließen, und kann er die Bewegung, wenn notwendig oder nach Aufforderung, übernehmen bzw. selbständig ausführen? 4 Welche anderen Bewegungen, die zu Kommunikationszwecken genutzt werden könnten, sind möglich, z.B. Bewegungen des Fußes, der Finger oder des Kopfes? ! Vorsicht Allzu oft werden Patienten ohne kommunikativen Grund dazu aufgefordert, den Daumen wiederholt nach oben zu halten für »ja« und nach unten für »nein«. Der Patient soll dann diese Bewegungen üben und wiederholt auf verbale Aufforderung ausführen. Von einer richtigen Gesprächssituation ist dies weit entfernt. Es scheint ratsamer, Kommunikationsangebote zu nutzen und auszubauen, die der Patient von sich aus macht.
Auch sollten Bewegungsmöglichkeiten zur Kommunikation benutzt werden, die längerfristig keine nachteiligen Auswirkungen auf den Muskeltonus und ihre Funktion haben. Die Befundung der kommunikativen Möglichkeiten darf kein Test sein und soll daher in einer möglichst natürlichen Gesprächssituation stattfinden. > Beachte Patienten mit verminderter Kopf- und Halsmobilität zeigen nicht nur Schluckprobleme, sondern können nonverbale Gesten wie Kopfnicken oder Kopfschütteln nicht einsetzen.
12.4
Weitere Abklärungen
Die vom Patienten benötigten Hilfsmittel müssen auf ihre Eignung hin überprüft werden, z.B. Strohhalme, Pat Saunders-Strohhalm, Schnabelbecher, Coombes-Becher (. Abb. 5.13). Zahnärztliche Untersuchungen sind angezeigt bei Patienten mit Zahnfleischinfekten, beschädigten oder losen Zähnen, Zahnschmerzen, schlecht sitzenden Zahnprothesen oder für Patienten, die einen Beißschutz benötigen. Orthodontische Konsultationen sind angezeigt in Fällen von Kieferfehlbildungen und bei Patienten ohne Kieferschluss infolge von Langzeitveränderungen des Muskeltonus. Die Indikation für weiterführende instrumentelle Abklärungen, z.B. FEES, Videofluoroskopie, zur Ergänzung der klinischen Befundaufnahme ist zu klären. Nicht jeder Patient kann die Prozedur einer Videofluoroskopie durchlaufen, sei es, weil er nicht sitzen oder stehen kann oder das Kontrastmittel nicht aufnehmen, in der Mundhöhle halten und erst auf Kommando schlucken kann. Bei schwer betroffenen Patienten ist die Durchführung einer FEES praktikabel. Es sollte aber immer eine Fragestellung formuliert werden, z.B.: Weshalb ist die Mundund Nasenatmung erschwert bzw. nicht möglich? 4 Eine FEES-Befundung ist erforderlich bei Patienten mit Trachealkanülen, um Speichelresiduen, Druckstellen und Granulationen beurteilen zu können. 4 Eine FEES-Befundung ist unentbehrlich, bevor die Trachealkanüle entfernt wird (7 Kap. 9). Der Patient muss evt. an einen HNO-Spezialisten, der Schluckuntersuchungen durchführen kann, überwiesen werden. Berichtet der Patient über Übelkeit beim Essen, erbricht er, oder wird dies in der Anamnese als Problem formuliert, muss eine gastroenterologische Abklärung (z.B. mit einer 24-Stunden-pH-Metrie) erfolgen. Gibt der Patient ein »Steckenbleiben der Nahrung« an, z.B. in Höhe Brustbein, kann eine Manometrie zum Messen der Drücke im Ösophagus notwendig werden. Wird Nahrung – auch Stunden nach der Einnahme – (unverdaut) regurgiert, kann ein Zenker-Divertikel nicht ausgeschlossen werden.
12.5
Was nicht abgeklärt wird
jWürgen Eine vorhandene Würgreaktion ist keine Garantie für ein
effektives Schlucken oder genügenden Schutz der Atemwege. Im Gegenzug sagt eine fehlende Würgreaktion in der Untersuchungssituation noch nichts darüber aus, ob sie im Notfall nicht doch vorhanden sein kann.
251 Literatur
jWasserschlucktests
Mittlerweile existiert eine unüberschaubare Zahl von Wasserschlucktests. Diese eignen sich bei den meisten neurologischen Patienten selten zur Befundung. Aufgrund ihrer »Evidenzbasierung« werden Wasserschlucktests auch in Leitlinien propagiert – entgegen jedweder therapeutischen Erfahrung. Unter der Lupe Komplexer Zusammenhang Neurologische Patienten haben oft große Probleme beim Schlucken von Flüssigkeiten. Sie zeigen eine verzögerte Initiierung, verlangsamte Bewegungsabläufe und/oder verspätet einsetzende Schutzreaktionen. Wasser trinken löst bei vielen neurologischen Patienten ein – oft vorhersehbares – Verschluckszenario aus. Eine Aspiration wird in Kauf genommen, gibt aber gleichzeitig keine relevanten Infos über die zugrunde liegende Störung. Passiertes kann in vielen Fällen als erste Konsistenz geschluckt werden. Die F.O.T.T.-Vorgehensweise richtet sich in diesem Fall nicht an den Leitlinien aus, sondern an den Fähigkeiten des einzelnen Patienten.
jWiederholte Befundungen ohne Therapie Das F.O.T.T.-Konzept misst der Befundaufnahme große
Bedeutung bei. Ist sie fehlerhaft, so wird die Behandlung wirkungslos oder nicht so effektiv wie sie sein sollte. Die Befunderhebung alleine fördert den Patienten nicht. Zu oft werden Patienten wiederholt – und ausschließlich – getestet, um zu sehen, ob sich an ihrem Zustand etwas geändert hat, ohne dass sie jedoch anschließend behandelt werden. Solch ein Vorgehen ist weder hilfreich noch dienlich. Es ist nur zu rechtfertigen, falls Spontanremission erwartet wird oder eine Verschlechterung festgestellt wurde. Ohne Therapie, während der beobachtet wird, ob Symptome beeinflusst werden können, ist eine wiederholte Abklärung nicht von Nutzen.
12.6
Abschließende Gedanken
Mit der Internationalen Klassifikation ICF können die Probleme den verschiedenen Ebenen Körperstrukturen/ -funktionen, Aktivität und Partizipation zugeordnet werden. Mit dem Patienten und/oder seinen Angehörigen (und dem Team) werden Ziele vereinbart, an deren Umsetzung jede Disziplin arbeiten kann. Sind die Erwartungen und Zielformulierungen unrealistisch, wird es auch Aufgabe des Therapeuten sein, den Patienten und seine Angehörigen an realisierbare Therapieziele heranzuführen. Der Prozess der Befundaufnahme leitet Therapeuten und/oder Pflegekräfte in der Behandlung. Bei schwer betroffenen Patienten haben wir oft nur die Möglichkeit, zu
beginnen, mit ihnen zu arbeiten, Aktionen oder Reaktionen auf unser Tun hervorzulocken und daraus Wege des therapeutischen Vorgehens zu entwickeln. Dies ist für viele die einzige Chance!
Literatur Coombes K (2010) Personal Correspondence Coombes K , Davis J (1987) Model: The process of evaluation and treatment. Published International Clinical Educators, USA Fuchs P (2010) Personal Correspondence Therapiezentrum Burgau (2005) F.O.T.T. Befundbogen und Legende (nicht veröffentlicht)
12
13
Der F.O.T.T.- Algorithmus: sich im und mit dem Konzept bewegen Trine Schow, Daniela Jakobsen (Übersetzung aus dem Englischen: Karin Müller-Römheld)
13.1
Struktur des Algorithmus – 254
13.2
Entscheidung für einen F.O.T.T.-Bereich
13.2.1 13.2.2 13.2.3 13.2.4 13.2.5 13.2.6
Schlucken des Speichels und Nahrungsaufnahme Mundhygiene – 257 Atmung-Stimme-Sprechen – 258 Gesichtsausdruck – 258 Gibt es Probleme? – 259 Wahl des Behandlungsdiagramms – 259
13.3
Behandlungsdiagramme
13.3.1 13.3.2
Diagrammaufbau – 259 Die vier Behandlungsdiagramme im Überblick
13.4
Diskussion
13.5
Klinischer Nutzen und Perspektiven Literatur
– 254
– 259 – 262
– 262
– 264
– 256
– 264
254
Kapitel 13 · Der F.O.T.T.- Algorithmus: sich im und mit dem Konzept bewegen
Durch den Mangel an evidenzbasierter Praxis (EbP) erscheint die Neurorehabilitation als eine »black box«, die kaum Einblicke in ihre wirksamen Bestandteile ermöglicht. Um die Effektivität und Effizienz eines therapeutischen Ansatzes erforschen zu können, müssen jedoch dessen Inhalte und Prozesse bestimmt werden. Im F.O.T.T.-Konzept gilt es, viele Komponenten und Entscheidungsregeln zu berücksichtigen. Der vorliegende Algorithmus soll als Untersuchungs- und Behandlungmanual dienen. Ziel des Algorithmus ist es, Therapeuten durch den klinischen Entscheidungsprozess zu leiten.
13
Am Anfang der Entwicklung des F.O.T.T.-Algorithmus stand die Beobachtung, dass Konzept erfahrene und unerfahrene Therapeuten unterschiedlich vorgehen. Sie trafen unterschiedliche Entscheidungen bei der Beurteilung, ob der Patient die Nahrung oral aufnehmen kann, und sie wendeten unterschiedliche Behandlungsmethoden oder -techniken an, z.B. boten sie beim therapeutischen Essen oder bei der therapeutischen Mundhygiene ein unterschiedliches Maß an Unterstützung für den Patienten an. Besonders unerfahrenen Therapeuten fiel es häufig schwer, ihre Behandlung zielgerichtet und alltagsnah auszurichten. Sie wählten oft Übungen für die Patienten, die willkürlich zusammengestellt waren und nicht auf ein funktionelles, messbares Ziel ausgerichtet schienen. Oft fehlte das Beobachten oder »Lesen« des Patienten: 4 Wie reagiert er auf meine therapeutischen Interventionen? 4 Was muss ich ändern, damit er so reagiert, wie ich es beabsichtige? Ziel des Algorithmus ist es, Therapeuten zu helfen,
4 funktionelle, messbare Ziele aufzustellen, 4 Behandlungsmethoden und -techniken auf dem individuell passenden Niveau auszuführen, um ein Lernen zu ermöglichen, 4 verstärkt alltags- und aktivitätsorientiert im komplexen Ansatz der F.O.T.T. zu arbeiten.
13.1
Struktur des Algorithmus
Der F.O.T.T.-Algorithmus soll sowohl einen Überblick als auch eine Handlungsanweisung für das Vorgehen in Untersuchung oder Behandlung geben. Der F.O.T.T.-Algorithmus besteht aus 5 Diagrammen, dem Untersuchungsdiagramm und vier Behandlungsdiagrammen sowie einer umfangreichen Anleitung, in der u. a. die Kriterien für die Anwendung der therapeutischen Interventionsebenen näher beschrieben werden. Der Struktur des Algorithmus liegen ein Therapiemodell (. Abb. 12.1) und die spezifischen Prozesse der F.O.T.T.
zugrunde, die bei klinischen Entscheidungen verwendet werden sollen. Dem Modell folgend beginnt eine Therapie mit der Entwicklung einer Arbeitshypothese der zugrunde liegenden Ursachen für die sichtbaren Störungen, die sich aus der Untersuchung der Fähigkeiten und Einschränkungen des Patienten ableiten und der Formulierung eines Behandlungsziels (Hansen u. Jakobsen 2010). Mit der Formulierung eines Behandlungsziels können dann Entscheidungen getroffen werden, bezüglich: 4 durchzuführende Aktivitäten, 4 Ort und dessen Gestaltung sowie Einsatz von Objekten oder Hilfsmitteln, 4 Vorgehen, d.h., wie der Therapeut mit dem Patienten arbeiten will, ihn be-handeln will. Mögliche Komponenten für jede Entscheidung werden im Algorithmus getrennt nach den vier F.O.T.T.-Bereichen (Schlucken von Speichel und Nahrungsaufnahme, Mundhygiene, Atmung-Stimme-Sprechen, Gesichtsausdruck) aufgeführt. Während der Arbeit mit dem Patienten im Rahmen der gewählten Strategie, wird fortlaufend beobachtet, wie der Patient auf das Vorgehen reagiert, und es wird analysiert, ob und auf welche Weise die Strategie geändert werden muss. Um die Diagramme des Algorithmus übersichtlich zu halten, wurde darauf verzichtet, die Entscheidungsregeln einzufügen. Sie werden vielmehr in einer ergänzenden Anleitung näher ausgeführt. Zu jedem Diagramm gibt es Kriterien für die Wahl des Orts, der Hilfsmittel, der Behandlungspositionen und dafür, welche Methoden und Techniken angepasst an das Potenzial des Patienten gewählt werden können. i Praxistipp Das vollständige Algorithmusmanual mit Anleitung findet sich auf der Internetseite www.formatt.org (Archiv).
Von entscheidender Bedeutung für die Behandlung ist es, dass ein Therapeut die Reaktionen des Patienten fortlaufend analysiert und seine Behandlungen an diese anpasst. Dabei muss er immer prüfen, ob seine Entscheidungen noch durch die eingangs entwickelte Arbeitshypothese und die Behandlungsziele gedeckt werden.
13.2
Entscheidung für einen F.O.T.T.-Bereich
Vor der Untersuchung und Behandlung des Patienten sollten alle zur Verfügung stehenden Informationen über seinen Zustand und die medizinische Vorgeschichte zusammengetragen werden. Von elementarer Bedeutung ist die
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
255 13.2 · Entscheidung für einen F.O.T.T.-Bereich
Beobachtung der Körperhaltung und der Bewegungsmöglichkeiten des Patienten, und wie diese sich auf die vier F.O.T.T.-Bereiche auswirken. Der aktuelle Zustand des Patienten entscheidet darüber, welcher Bereich zuerst untersucht wird. Die Reihenfolge der Bereiche in der Untersuchung ist nicht festgelegt, sondern hängt von den individuellen Problemen des Patienten ab.
4 Atmung-Stimme-Sprechen: Gestörte Koordination
zwischen Atmung und Schlucken oder zwischen Atmung und Stimme/Sprechen (Rozet u. Domino 2007). 4 Mimischer Ausdruck: Reduzierte spontane Gesichtsbewegungen, Mangel an der für die nonverbale Kommunikation nötigen Beweglichkeit von Kopf, Unterkiefer, Armen, Händen und Schultern.
jUntersuchungsdiagramm (. Abb. 13.1)
Untersucht werden: 4 Schlucken des Speichels und Nahrungsaufnahme:
Probleme beim Schlucken des Speichels, Essen und/ oder Trinken (Hansen et al. 2008), unzureichender Schutz der Atemwege. 4 Mundhygiene: Hyperreagibilität bei Berührung im Mund, z.B. mit der Zahnbürste, oder Beißreaktionen während der Mundpflege (Talbot et al. 2005).
i Praxistipp Bei der Befunderhebung ist es wichtig, darauf zu achten, wie abnorme/r Tonus, Sensibilität und Wahrnehmung die »performance« bzw. die Handlungsfähigkeit des Patienten beeinflussen, und wie der Therapeut das sensomotorische Lernen normaler Bewegungen und Bewegungsmuster fördert und den Übertrag in den Alltag sichert.
. Abb. 13.1. Diagramm Untersuchung: Was untersucht man? (Schow u. Jakobsen 2009)
13
256
Kapitel 13 · Der F.O.T.T.- Algorithmus: sich im und mit dem Konzept bewegen
13 . Abb. 13.2. Diagramm Behandlung: Schlucken des Speichels und Nahrungsaufnahme (Schow u. Jakobsen 2009)
13.2.1
Schlucken des Speichels und Nahrungsaufnahme
Bei der Schluckuntersuchung sollten folgende Fragen beantwortet werden: 4 Ist das Speichelschlucken sicher und effektiv? Folgt z. B. ein spontanes, effizientes Husten zum Schutz der Atemwege im Falle von Penetration und/oder Aspiration? Folgt dem Husten ein Schlucken? Die Untersuchung der Fähigkeit des Patienten, seinen Speichel zu schlucken, erfolgt klinisch durch visuelle und taktile Untersuchung des Mundes. Beobachtet wird, ob und wann der Patient z.B. spontan schluckt, und ob es Speichelansammlungen im Mund gibt. Die Aufmerksamkeit richtet sich auch auf die Stimme des Patienten. Eine belegte Stimme ist ein klinisches Zeichen für eine Aspiration.
4 Ist die Schlucksequenz beim Essen und Trinken sicher und effektiv? (Der Begriff »Schlucksequenz beim Essen und Trinken« wurde von Kay Coombes ab den 70er Jahren verwendet, um die Bedeutung der Bereitschaft und der Vorbereitung oder Erwartung in der prä-oralen Phase hervorzuheben [7 Kap. 1, 5 und 12]). Um Ursachen für eine Schluckproblematik zu finden, sollte u.a. auf das spontane Bewegungsverhalten, Reaktionen auf visuelle, auditive und taktile Reize, das Hantieren mit Nahrung, den Kauvorgang, den oralen Transport, das spontane Speichelschlucken und den Schutz der Atemwege geachtet werden (. Abb. 13.2). Gegebenenfalls wird die klinische Untersuchung ergänzt durch eine apparative Untersuchung, z.B. durch eine fiberoptisch-endoskopische Schluckuntersuchung (FEES; Langmore et al. 1988).
257 13.2 · Entscheidung für einen F.O.T.T.-Bereich
. Abb. 13.3. Diagramm Behandlung: Mundhygiene (Schow u. Jakobsen 2009)
13.2.2
Mundhygiene
Bei der Untersuchung der Mundhygiene (. Abb. 13.3) sollten zwei Fragen beantwortet werden: 4 Wie meistert der Patient seine Mundhygiene? Mit »meistern« ist gemeint, ob der Patient über spontane Reinigungsbewegungen, z.B. mit der Zunge, verfügt, ob er sensomotorisch, perzeptiv und kognitiv in der Lage ist, seinen Mund rein und damit gesund zu halten. 4 Wie ist der hygienische und gesundheitliche Zustand des Mundes? Beobachtet werden:
4 die Fähigkeit des Patienten zu spontanen Reinigungsmanövern, z. B. mit der Zunge und die Fähigkeit, während der Mundpflege zu schlucken; 4 die Sensibilität, die Reagibilität und die Zungenbewegungen, die für das Aufspüren und Entfernen von Speiseresten in der Mundhöhle nötig sind;
4 die sensomotorischen, perzeptiven und kognitiven Fähigkeiten des Patienten zur Ausführung der Mundhygiene, z.B. Zähne putzen, Mund spülen, Gebrauch von Hilfsmitteln wie Zahnseide, Erinnern der Mundpflege; 4 die Fähigkeit des Patienten, die für die Mundhygiene nötigen Bewegungen wieder zu erwerben, z.B. inwieweit er das visuelle Modell des Therapeuten imitieren und übernehmen kann. Die Untersuchung der Mundhygiene kann mittels visueller und taktiler Untersuchung oder beim Zähneputzen (ICF-Aktivitätsebene) erfolgen. Hier sollte der Patient soweit wie möglich einbezogen und seine spontanen Fähigkeiten beurteilt werden (7 Kap. 6).
13
258
13
Kapitel 13 · Der F.O.T.T.- Algorithmus: sich im und mit dem Konzept bewegen
. Abb. 13.4. Diagramm Behandlung: Atmung-Stimme-Sprechen (Schow u. Jakobsen 2009)
13.2.3
Atmung-Stimme-Sprechen
Bei der Untersuchung von Atmung-Stimme-Sprechen werden beurteilt: 4 das Ausmaß und die Lokalisation von Atembewegungen, z.B. Hochatmung oder kostoabdominale Atmung; 4 die Atemfrequenz, z.B. verändert sie sich angemessen, wenn der Patient bewegt wird oder sich bewegt; 4 die Koordination von Atmung und Schlucken, die für den Schutz der Atemwege wichtig ist (Ward et al. 2007, Martin et al. 1994); 4 thorakale und laryngeale Koordination zur Stimmerzeugung (Stimmgebung und Atmung); laryngeale und orale Bewegungen für artikuliertes Sprechen (Sataloff et al. 2007); 4 Koordination von Atmung und Sprechen mit aktiven Bewegungen, z.B. gleichzeitiges Gehen und Sprechen. Bei der Untersuchung werden die Hände auf den Brustkorb des Patienten gelegt, um die Atmung zu spüren, die
spontane Stimmgebung beobachtet oder versucht, die Phonation anzubahnen (. Abb. 13.4, 7 Kap. 8).
13.2.4
Gesichtsausdruck
Die Untersuchung mimischer Bewegungen dient der Klärung der Fragen nach 4 spontanen Gesichtsbewegungen (im sozialen Kontext), 4 der Fähigkeit des Patienten zu spontanen, selektiven Bewegungen für verbale und nonverbale Kommunikation in verschiedenen Haltungen. Die Untersuchung findet durch visuelle und taktile Untersuchung des Gesichts und/oder der Beobachtung des Gesichts im sozialen Kontext statt (. Abb. 13.5, 7 Kap. 7).
259 13.3 · Behandlungsdiagramme
. Abb. 13.5. Diagramm Behandlung: Gesichtsausdruck (Schow u. Jakobsen 2009)
13.2.5
Gibt es Probleme?
Während der Befunderhebung beobachtet der Therapeut, ob der Patient Schwierigkeiten mit der Durchführung der Aufgabe hat, und er formuliert daraus Hypothesen zu den zugrunde liegenden Ursachen: 4 Bei unauffälliger Durchführung ist die Antwort auf dieser Stufe im Algorithmus »NEIN«. Der Therapeut entscheidet sich dann für die Analyse eines anderen Bereichs. Ist die Durchführung in allen Bereichen ohne Befund, wird geschlussfolgert, dass beim Patienten vermutlich keine F.O.T.T.-relevanten Probleme vorliegen. 4 Lautet die Antwort »JA«, entscheidet der Therapeut, in welchem Bereich gearbeitet werden soll.
Beispiel Ein Patient hat Probleme in den Bereichen Schlucken/Nahrungsaufnahme und Mundhygiene. Er kann den Mund auf Aufforderung nicht öffnen und schluckt Speichel nicht regelmäßig. Um eine Verbesserung im Bereich Schlucken (und später) Nahrungsaufnahme zu erreichen, kann die Therapie im Bereich Mundhygiene begonnen werden.
13.3
Alle vier Behandlungsdiagramme haben den gleichen Aufbau und Entscheidungsfluss.
13.3.1 13.2.6
Behandlungsdiagramme
Diagrammaufbau
Wahl des Behandlungsdiagramms
Mit welchem der vier Bereiche begonnen wird, ist abhängig von den Problemen des Patienten.
Für jeden Bereich gibt es ein Diagramm, das den Therapeuten durch den Entscheidungsprozess und durch alle verschiedenen Komponenten leitet. Auf der linken Seite
13
260
Kapitel 13 · Der F.O.T.T.- Algorithmus: sich im und mit dem Konzept bewegen
heben Pfeile die verschiedenen Schritte hervor. Je nach Zielsetzung und Problem des Patienten wird eine spezifische Ebene und ein Vorgehen ausgewählt und kombiniert. Jede Stufe im Diagramm wird im Folgenden kurz beschrieben. (In den Klammern ist die Nummerierung in den Diagrammen von . Abb. 13.2–13.5 angegeben.)
Ziele (1) Die Auswahl eines alltagsorientierten Ziels richtet sich nach den Bedürfnissen des Patienten (sofern er in der Lage ist, sie mitzuteilen). In diesem Algorithmus sollte das klar definierte und messbare (Nah-)Ziel binnen kurzer Zeit erreichbar sein (ungefähr in Tagen bis zu 2 Wochen). Es muss deutlich werden, was und wieviel der Patient macht, und worin die Unterstützung durch den Therapeuten besteht. Beispiel Ziel: Den Patienten befähigen, mithilfe einer Pflegekraft oder des Therapeuten 2-mal täglich eine Portion Weichkost auf einem normalen Stuhl sitzend am Tisch sicher zu essen (assistierte Nahrungsaufnahme). Assistierte Nahrungsaufnahme bedeutet, dass der Patient ernährungsrelevante Mengen sicher isst, allerdings noch individuelle Unterstützung benötigt, z.B. beim Vorbereiten der Nahrung, ggf. taktile Hilfe beim Nachschlucken oder Husten, Hilfe bei der sich anschließenden Mundpflege.
Strategie (2)
13
eine erleichterte Wiedererkennung der Situation erfahren, und damit auch angemessene Bewegungen bei der Durchführung der Aktivität. Darüber hinaus sollte man berücksichtigen, ob die Anwesenheit anderer Personen im Raum günstig ist. i Praxistipp Leidet der Patient an Aufmerksamkeits-, Konzentrations- oder Wahrnehmungsstörungen, müssen auditive und visuelle Ablenkungen möglichst vermieden werden.
kMöbel Die gewählten Möbel sollten soweit wie möglich Wieder-
erkennung und Verständnis der Situation beim Patienten fördern und außerdem seine Körperhaltung und aktiven Bewegungen unterstützen. Gelegentlich muss der Therapeut einen Kompromiss zwischen diesen beiden Anforderungen finden. kGegenstände und Hilfsmittel
Die in der Therapie verwendeten Gegenstände sollten typisch für die Aktivität sein. Spezielle Hilfsmittel werden eingesetzt, wenn sie den Patienten unterstützen, 4 sich mit Hilfsmittel normaler zu bewegen als ohne, 4 die weniger betroffene Körperseite bei Aktivitäten einzusetzen, 4 unabhängiger zu sein, ohne dass es zu vermehrten assoziierten Reaktionen, Tonuserhöhung und unhilfreichen Bewegungsmustern kommt.
jAktivität (2.a)
Die Therapeutin wählt – möglichst in Zusammenarbeit mit dem Patienten – eine Aktivität aus, die sich auf das Therapieziel bezieht und für den Patienten bedeutungsvoll ist. Beispiel Mögliches Ziel: Eine geringe Menge Apfelmus sicher essen (3–5 Teelöffel).
jUmweltfaktoren (2.b) Die gewählte Umgebung sollte dem Patienten zu einer
möglichst normalen Durchführung der Aktivität verhelfen. Zur Verfügung stehen die nachfolgenden Produkte und Technologien. kOrt
Verschiedene Faktoren bestimmen die Wahl des Therapieorts: Ideal ist es, wenn die gewählte Aktivität immer im selben Raum stattfindet. Essen schließt auch soziale Interaktion mit ein, und unter sozialen und therapeutischen Aspekten kann es für Patienten durchaus hilfreich und zweckmäßig sein z.B. in einer Frühstücksgruppe zu essen. Der Patient kann dadurch ein besseres Verständnis und
Hilfsmittel sind z.B.:
4 Packs zur Lagerung des Patienten, 4 Gaze, um die Nahrung einzuwickeln, damit der Patient darauf kauen kann, 4 Spezialbecher, Speziallöffel, die die Beißreaktion herabsetzen (Cheyne-Löffel (. Abb. 5.13), 4 Zahnbürste mit verdicktem Griff, 4 Kinderzahnbürste usw. Beispiel Der Patient soll eine kleine Menge Apfelmus essen. Der Therapeut hilft ihm, auf einer Behandlungsliege zu sitzen und platziert einen höhenverstellbaren Tisch davor. Der Patient kann den Rumpf vorbeugen, indem er die Arme aufstützt. Diese Position erlaubt es dem Therapeuten, ihn von hinten mit den Händen zu unterstützen. Die Sitzhaltung am Tisch ist üblich für die Aktivität »Essen«.
jTherapeutische Intervention (2.c)
Therapeutische Intervention bezieht sich darauf, welche spezifische Methode und Technik ein Therapeut zur Behandlung nutzt, mit der er den Patienten bei der Aktivität unterstützt bzw. ihn darauf vorbereitet.
261 13.3 · Behandlungsdiagramme
Der Therapeut kann zwischen verschiedenen Vorgehen und Arbeitsebenen in den vier Bereichen wählen. Die Methoden sind in der Anleitung für jedes Handlungsdiagramm beschrieben, zusammen mit den Kriterien zur Auswahl der geeigneten Stufe und des Behandlungsansatzes sowie des Zeitpunkts, wann diese eingesetzt werden sollen. Im Folgenden werden die allgemeine Herangehensweise skizziert und Unterschiede hervorgehoben. > Beachte Box: Der Arbeitsansatz schließt eine Reihe therapeutischer Methoden ein, die für alle F.O.T.T.-Bereiche relevant sind. Die Box ist in allen vier Handlungsdiagrammen identisch (. Abb. 13.2–13.5) und zeigt, wie der Patient unterstützt werden kann.
kLagerung
Lagerung bedeutet, dass der Patient mit Unterstützung des Therapeuten und/oder ggf. mit Kissen oder Decken in eine bestimmte Körperhaltung (z.B. Seitenlage oder sitzende Position) gebracht wird. Ziel ist es, die Wahrnehmung des eigenen Körpers (Körperschema) und den Tonus zu regulieren und die bestmögliche Ausgangsstellung sowie das bestmögliche Alignment für die gewählte Aktivität/Behandlung herauszufinden. Ein Patient wird gelagert, wenn sich seine neuromuskulären, muskulo-skeletalen und/oder perzeptiven Probleme auf die Atmung, die Kontrolle der Körperhaltung und seine Möglichkeiten auswirken, selektive Bewegungen auszuführen. Der Patient wird vor Beginn der Aktivität positioniert. Während der Intervention muss die Ausgangsstellung ggf. angepasst oder verändert werden. kMobilisierung Körperteile und -strukturen werden mobilisiert, wenn sie
nicht frei beweglich sind. Mobilisiert werden beim Patienten z.B. der obere Rumpf oder spezifische Strukturen wie Gelenke, Muskeln, Faszien, neurale Strukturen, um ein größeres Bewegungsausmaß, ein normaleres Alignment oder einen angepassten Tonus zu erreichen. kGeführte Bewegungen (Prinzipien des AffolterKonzepts) Patienten mit Wahrnehmungsstörungen werden bei prob-
lemlösenden Aktivitäten geführt (Affolter et al. 2000, Affolter 1991). Dies verhilft ihnen zu taktil-kinästhetischen Erfahrungen, die die Entwicklung und Wiederherstellung der gestörten Funktion stimulieren. kElizitieren
Elizitieren bedeutet, eine Antwort oder eine Reaktion beim Patienten hervorzurufen, z.B. handelt ein Therapeut
als visuelles Modell, wenn er die Stirn runzelt, um die gleiche Bewegung an Stirn und Augenbrauen beim Patienten auszulösen, oder er bringt den Patienten in eine andere Ausgangsstellung, in der dieser leichter schlucken oder phonieren kann. kFazilitieren
Fazilitieren einer Aktivität bedeutet, den Patienten beim Prozess der Problemlösung zu unterstützen, so dass Bewegungen möglich werden. Es »erfordert manuellen Kontakt, um sensorische und propriozeptive Afferenzen und Muskeln zu aktivieren oder Bewegungen zu führen ...« (IBITA 2007), und dieser sollte zu einer Änderung des motorischen Verhaltens führen. Die Fazilitation kann in Abhängigkeit der Patientenantwort variiert werden. Die Hände des Therapeuten sind am Körper des Patienten (»hands-on«) bis eine Antwort erfolgt und dieser die Bewegung selbständig fortsetzt, dann erst werden die Hände weggenommen (»hands-off«). Fazilitieren wird eingesetzt, um verschiedene Sequenzen in einer Aktivität zu erleichtern und zu unterstützen, aber auch bei einfachen Bewegungen, z.B. wird Unterstützung an Kiefer und Mundboden gegeben, um eine Zungenbewegung zu fazilitieren. jEvaluierung der Patientenreaktionen (3) Nachdem man sich für eine Strategie entschieden hat,
wird diese angewandt, kontrolliert und angepasst, die Antworten des Patienten auf die Interventionen analysiert und bewertet. jWahl einer neuen Strategie (4)
Hat der Patient die Aktivität auf normalere Weise ausgeführt, ist die Antwort »Ja«, kann der Therapeut das Ausmaß der Unterstützung reduzieren oder zu einer schwierigeren Aktivität übergehen. Hat der Patient die Aktivität nicht besser ausführen können, ist die Antwort »Nein«, muss der Therapeut etwas verändern, z.B. das Ausmaß der Unterstützung erhöhen und/oder die Aktivität wechseln, um die Anforderung zu reduzieren. Dieser Prozess der ReEvaluierung findet fortlaufend statt. jZiel evaluieren (5)
Am Ende jeder Intervention wird evaluiert, ob das Ziel erreicht wurde oder nicht. Die während der Untersuchung aufgestellten Hypothesen und die verschiedenen Entscheidungen und Hypothesen während der Behandlung werden aufeinander bezogen. Wurde das Ziel erreicht, wird ein neues Ziel auf einem höheren Funktionsniveau des Patienten formuliert. Wurde es nicht erreicht und ist auch in nächster Zukunft nicht realistisch, wird ein neues Ziel auf einem niedrigeren Funktionsniveau angestrebt (vgl. F.O.T.T.-Modell, . Abb.12.1).
13
262
Kapitel 13 · Der F.O.T.T.- Algorithmus: sich im und mit dem Konzept bewegen
13.3.2
Die vier Behandlungsdiagramme im Überblick
Die Box mit den Arbeitsebenen unterscheidet sich in jedem Bereich und schließt spezifischere Techniken ein, die im F.O.T.T.-Grundkurs gelehrt werden und in der Anleitung definiert sind. Darüber hinaus ist die Box »Schutz der Atemwege« in allen Diagrammen vertreten. Nachfolgend wird ein kurzer Überblick gegeben. jDiagramm: Schlucken des Speichels und Nahrungsaufnahme (. Abb. 13.2) 4 Die Arbeit an den Phasen der Schlucksequenz soll
den Patienten unterstützen, seinen Speichel und/oder Nahrung und/oder Flüssigkeit sicher zu schlucken. Die Arbeitsstufen reichen von Mundstimulation (ohne Arbeit mit Nahrung) bis zum Anbieten oder Einnehmen verschiedener Nahrungsmengen und -konsistenzen bei der therapeutisch unterstützten Nahrungsaufnahme. Therapeuten können auf die zuvor beschriebenen Arbeitsansätze zurückgreifen, entweder einzeln oder kombiniert, damit der Patient lernt, Speichel/ Nahrung/Flüssigkeit so sicher und normal wie möglich zu schlucken. 4 Dieses Diagramm hat eine besondere Box »Zungenbewegungen«, da die Zunge für Bolusformung und -transport sowie Schlucken eine wichtige Rolle spielt, und eine Box »Schutz der Atemwege«, weil dieser bei der Arbeit am Schlucken und Essen wesentlich ist.
13
jDiagramm: Mundhygiene (. Abb. 13.3) 4 Die wichtigsten Ziele bei der Mundhygiene sind das
Wiederherstellen und/oder Erhalten einer gesunden Mundhöhle, die Vermittlung der für die Mundreinigung erforderlichen Bewegungen und spontanes Schlucken danach. Der Patient ist an der gesamten Sequenz beteiligt, die damit beginnt, dass die für die Mundhygiene benötigten Gegenstände bereitgelegt werden. 4 Die Box zu den Arbeitsebenen verdeutlicht die verschiedenen Ebenen beim Gebrauch von Zahnbürste, Zahnseide usw. Auch hier ist es wieder wichtig, den Patienten beim Schutz der Atemwege zu unterstützen, so dass diese Box auch hier eingefügt ist. jDiagramm: Atmung-Stimme-Sprechen (. Abb. 13.4)
4 Hier kann man die Arbeit an Atmung, Stimme und Sprechen mit verschiedenen Haltungen oder aktiven Bewegungen verbinden, um dem Patienten die Möglichkeit zur Kommunikation und zum Schutz der Atemwege zu geben. 4 Die einzelnen Stufen werden in der Box »Unterstützung der Atmung« und in der Box »Lagerung« auf verschiedenen Ebenen beschrieben. Auch hier ist es
wieder relevant, den Patienten ggf. beim Schutz der Atemwege zu unterstützen, weshalb die Box »Schutz der Atemwege« erneut eingefügt ist. jDiagramm: Gesichtsausdruck (. Abb. 13.5)
Mimische Bewegungen drücken Gefühle aus. Ein unangepasster Muskeltonus kann sich störend auf den Gesichtsausdruck (und die Nahrungsaufnahme) auswirken. In Abhängigkeit von den Fähigkeiten des Patienten entscheidet man, ob in verschiedenen Ausgangsstellungen mit passiven oder aktiven Gesichtsbewegungen gearbeitet wird.
13.4
Diskussion
Evidenzbasierte Praxis verlangt kontrollierte Therapiestudien, die die Wirksamkeit und Effizienz des jeweiligen Verfahrens nachweisen. Die der F.O.T.T. zugrunde liegende Evidenz ist schwach. Bisher sind Therapieinhalte in einem Konsensusdokument festgehalten, und es liegen Studien und Veröffentlichungen der EbM-Klassifkation III und IV vor (7 Kap. 2, 15, 16). Studien in der Neurorehabilitation werden durch eine Vielzahl von Faktoren erschwert, angefangen von der mangelnden wissenschaftlichen Qualifizierung der in der Klinik und Praxis Arbeitenden, über die unzureichende Finanzierung der Forschung, bis hin zu ethischen Beschränkungen (Whyte u. Hart 2003). Darüber hinaus trägt die Vielzahl und Vielfalt an Störungsbildern, klinischen Settings und der anzustrebenden Therapieziele (von der Wiederherstellung von Muskel- und Nervenfunktionen bis hin zur Teilnahme des Patienten am gesellschaftlichen Leben/Partizipation) zum Fehlen einheitlicher Vorgaben und einheitlicher Endpunkte in den Studiendesigns bei. Therapieverfahren auf neurophysiologischer Grundlage, wie u.a. das Bobath-, F.O.T.T.- und PNF-Konzept,
sind komplexer Natur. Sie entstanden in der praktischen Arbeit mit Patienten, basierend auf dem Wissenschaftsstand ihrer Zeit. Sie wurden und werden bis heute von den folgenden Therapeutengenerationen, die die Notwendigkeit des Updates mit neuen Wissenschaftsmodellen erkannt haben, interpretiert und weiterentwickelt (IBITA 2007). Im Zeitalter des systemisch-ökologischen Modelldenkens geht man im F.O.T.T.-Konzept davon aus, dass Rehabilitation Veränderungsprozesse in Gang setzt, die auf Lernen, Adaptation, Rückkoppelungsschleifen und weiteren Konstrukten beruhen, d.h., die Ausdruck der neuronalen oder verhaltensbedingten Plastizität sind. Der F.O.T.T.-Algorithmus gibt einen Rahmen oder ein Netzwerk, mit der Beschreibung vieler Komponenten, und er sollte die wirksamen Bestandteile, der Therapie enthalten und ihre wesentlichen Komponenten und Prozesse
263 13.4 · Diskussion
beschreiben. Die Ingredienzien zu bestimmen ist sowohl für den Kliniker wie für den Forscher in mehrfacher Hinsicht von Vorteil: 4 Therapeuten werden beim Formulieren der zugrunde liegenden spezifischen Arbeitshypothesen unterstützt (Whyte u. Hart 2003), und sie bekommen bei komplexen Behandlungsverfahren einen Leitfaden an die Hand. Ohne Handlungsanleitung kann es besonders für weniger erfahrene Therapeuten schwierig bis unmöglich sein, solch ein Verfahren richtig anzuwenden. 4 Die klare Beschreibung eines Behandlungsansatzes fördert die Kommunikation sowohl mit dem an der Rehabilitation beteiligten therapeutischen Team wie auch mit den Patienten und ihren Angehörigen. 4 Ohne Rahmenwerk kann es schwierig sein, Kriterien wie Güte, Reinheit oder Echtheit der angewandten Therapieansätze zu gewährleisten, und es besteht das Risiko, dass ein Ansatz/Konzept in anderen Settings über die Zeit abgewandelt wird oder verwässert (Hart 2009). 4 Behandlungsmanuals ermöglichen die Standardisierung von Methoden, die Unterscheidung verschiedener Ansätze und die Evaluierung der Therapiedisziplin (»treamtent adherence«, d.h., ob der Therapeut den Leitlinien oder dem Behandlungsmanual folgt) und der Kompetenz, mit der Behandlungen in kontrollierten klinischen Studien durchgeführt werden (Luborsky u. DeRubeis 1984, DeRubeis et al. 1982). 4 Dem Forscher wird ein Instrument zur Verfügung gestellt, das die Komponenten und Prozesse der untersuchten Behandlung definiert und ihm hilft, zu beurteilen, ob die Therapie in Übereinstimmung mit dem Behandlungsmanual durchgeführt wurde. Beim Messen und Vergleichen von Behandlungsergebnissen innerhalb einer Einrichtung oder zwischen verschiedenen Einrichtungen kann eine nicht standardgemäße Durchführung der Behandlung ein bedeutendes Problem für die interne und externe Validität einer Studie darstellen. 4 Wird ein Behandlungsverfahren definiert und standardisiert durchgeführt, wäre es möglich, verschiedene Konzepte zu vergleichen und die gewählte Behandlung in Bezug zu den Zielen und Therapieerfolgen zu setzen. »Standardisiert« bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass alle Therapeuten immer das Gleiche tun! Es bedeutet, dem Behandlungsmanual zu folgen, d.h. Hypothesen aufzustellen, Ziele festzulegen, einen Behandlungsplan zu erstellen und die Reaktionen des Patienten zu evaluieren, aber auch Techniken und Methoden in der Behandlung anzuwenden, von denen man annimmt, dass sie wirksame Bestandteile der F.O.T.T. sind.
Klinische wie auch wissenschaftliche Argumente sprechen also dafür, auch komplexe Rehabilitationsansätze in Behandlungsmanuals zu fassen, selbst dann, wenn dies mit größeren Schwierigkeiten verbunden ist. Dabei ist es erforderlich, eine Theorie für die Komponenten zu entwickeln, von denen anzunehmen ist, dass und wie sie ein funktionelles Defizit (Ausführungsschwierigkeit) beeinflussen. Nach Whyte und Hart (2003) kann eine genauere Beschreibung der Therapie dazu verhelfen, die wirksamen Bestandteile einzugrenzen und damit sowohl die Forschung als auch die klinische Praxis weiterzuentwickeln. Der F.O.T.T.-Algorithmus fokussiert derzeit auf die Beschreibung der Kernentscheidungen und »wirksamer Bestandteile« der Therapie (Nezu u. Nezu 2008). Er bietet ein hohes Maß an Flexibilität in der Auswahl des Vorgehens. Es muss noch untersucht werden, inwiefern der F.O.T.T.-Algorithmus zum Ausgleich zwischen interner Validität (Ist er spezifisch genug, um in einer klinischen Studie das Therapeutenverhalten zu steuern?) und externer Validität (Kann er in die reale klinische Umgebung implementiert werden?) beitragen kann. Das hohe Maß an Flexibilität kann sich auf die interne Validität auswirken. Je klarer und spezifischer das Behandlungsmanual ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die abgeleitete Therapie die Absichten und aktuellen Wirkungsweisen der Behandlung und des Therapieerfolgs widerspiegelt. Wenn der Algorithmus jedoch zu spezifisch ist, wird er sich möglicherweise nicht in den Behandlungen widerspiegeln, die derzeit in den klinischen Einrichtungen stattfinden und deshalb an der externen Validität scheitern. Genauer zu untersuchen wird auch die Frage sein, welche wirksamen Bestandteile für die Behandlung entscheidend sind. Vermutet wird, dass die individuelle An-
passung des therapeutischen Vorgehens möglicherweise den eigentlich wirksamen Bestandteil der Behandlung darstellt (Carney et al.1999). Ein hohes Maß an Flexibilität kann sich aber auch erschwerend darauf auswirken, die Behandlungsaktivitäten zu replizieren (Hart 2009, Möncher u. Prinz 1991). Eine andere Forschungsperspektive könnte darauf gerichtet sein, die Entscheidungsregeln als die wirksamen Bestandteile zu untersuchen (Whyte u. Hart 2003). Weitere Studien sind erforderlich, um einzelne Aspekte des Algorithmus‘ genauer zu spezifizieren. Dabei ist es notwendig, die Komponenten herauszufiltern, von denen anzunehmen ist, dass sie ein funktionelles Defizit (Ausführungsschwierigkeit) beeinflussen.
13
264
Kapitel 13 · Der F.O.T.T.- Algorithmus: sich im und mit dem Konzept bewegen
13.5
Klinischer Nutzen und Perspektiven
Dieser Algorithmus spiegelt die Komplexität der F.O.T.T. wider und soll Therapeuten zur konstanten Reflexion ihrer Arbeit und Analyse der Probleme veranlassen, auch damit sie das Potenzial der Patienten einschätzen können. Er ist so konzipiert, dass er dem Therapeuten eine große Flexibilität bei der Auswahl der therapeutischen Intervention und der Umgebungsfaktoren lässt. > Beachte In der klinischen Praxis wird das Setting in jeder Therapie ständig durch verschiedene Faktoren beeinflusst und verändert. Wir halten diese Flexibilität für notwendig, um ein individuell angepasstes Vorgehen zu gewährleisten.
13
Diese Flexibilität und auch die unterschiedlichen klinischen Erfahrungen von Therapeuten sind Kritikpunkte, die auch gegenüber anderen Behandlungsmanuals geäußert wurden (Addis et al. 1999, Carroll u. Nuro 2002). Zur Beherrschung eines Verfahrens reicht es nach Calhoun et al. (1998) nicht aus, das Manual zu befolgen. Zusätzlicher Kompetenzerwerb (Schulungen, Supervision) ist nötig, damit Therapeuten algorithmen- und hypothesengesteuertes Vorgehen und weitere Clinical Reasoning-Prozesse kompetent anwenden können. In Zukunft muss auch der Frage nachgegangen werden, wie der Algorithmus, die Standards und Konsensusempfehlungen der F.O.T.T. in Kliniken, die mit dem Konzept arbeiten, implementiert werden können. Am Anfang der Erstellung des Algorithmus’ stand die Idee, mit der Definition von F.O.T.T.- Komponenten eine der »black boxes« der Neurorehabilitation zu öffnen und so zu einer Beschreibung und Evaluierung der vermuteten wirksamen Bestandteile zu gelangen. Der derzeitige Algorithmus bildet den Rahmen für die Beschreibung der Komponenten der F.OT.T., von denen noch viele untersucht werden müssen. Dieser Algorithmus soll ein Anfang sein und deutlich machen, wie das geschehen könnte. Er soll Quelle für Forschung und Stütze im klinischen Alltag werden. Literatur Addis ME, Wade WA, Hatgis C (1999) Barriers to Dissemination of Evidence-Based Practices: Addressing Practitioners’ Concerns About Manual-Based Psychotherapies. Clinical Psychology: Science and Practice 6(4): 430-441 Affolter F (1991) Perception, Interaction and Language. Springer Berlin Heidelberg Affolter F, Bischofberger W (2000) Nonverbal perceptual and cognitive processes in children with language disorder. Toward a new framework for clinical intervention. Clinical Implications Mahwah, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates
Calhoun KS et al. (1998) Empirically supported treatments: implications for training. J Consult Clin Psychol 66(1):151-62 Carney N et al. (1999) Effect of cognitive rehabilitation on outcomes for persons with traumatic brain injury: A systematic review. J Head Trauma Rehabil 14(3):277-307 Carroll KM, Nuro C, Nuro KF (2002) One Size Cannot Fit All: A Stage Model for Psychotherapy Manual Development. Clinical Psychology: Science and Practice 9(4):396-406 DeRubeis RJ et al. (1982) Can psychotherapies for depression be discriminated? A systematic investigation of cognitive therapy and interpersonal therapy. J Consult Clin Psychol 50(5):744-56 Hansen T, Engberg AW, Larsen K (2008) Functional oral intake and time to reach unrestricted dieting in patients with severe traumatic brain injury. Archives of Physical Medicine and Rehabilitation, Vol 89, 1556-62 Hansen TS, Jakobsen D (2010) A decision-algorithm defining the rehabilitation approach: Facial oral tract therapy: Disability and Rehabilitation 2010; 32(17):1447-60 Hart T (2009) Treatment definition in complex rehabilitation interventions. Neuropsychol Rehabil 1-17 IBITA (2007) Theoretical Assumptions and Clinical Practice. [http:// www.ibita.org/] 2007 20 april 2008 [cited 2007 December] Langmore SE, Schatz K, Olsen N (1988) Fiberoptic endoscopic examination of swallowing safety: a new procedure. Dysphagia 2(4): 216-9 Luborsky L, DeRubeis RJ (1984) The use of psychotherapy treatment manuals: A small revolution in psychotherapy research style. Clinical Psychology Review 4(1): 5-14 Martin BJ et al. (1994) Coordination between respiration and swallowing: respiratory phase relationships and temporal integration. J Appl Physiol 76(2):714-23 Moncher FJ, Prinz RJ (1991) Treatment fidelity in outcome studies. Clinical Psychology Review 11(3):247-266 Nezu AM, Nezu CM (2008) Evidence-based outcome research. O.U. Press, New York Rothstein JM, Echternach JL, Riddle DL (2003) The HypothesisOriented Algorithm for Clinicians II (HOAC II): A Guide for Patient Management. PHYS THER 83(5):455-470 Rozet I, Domino KB (2007) Respiratory care. Best Practice & Research Clinical Anaesthesiology 21(4):465-482 Sataloff RT, Heman-Ackah YD, Hawkshaw MJ (2007) Clinical anatomy and physiology of the voice. The Otolaryngologic clinics of North America 40(5):909-29 Talbot A et al. (2005) Oral care and stroke units. Gerodontology 22(2):77-83 Ward EC, Green K, Morton AL (2007) Patterns and predictors of swallowing resolution following adult traumatic brain injury. Journal of head trauma rehabilitation 22(3):184-91 Whyte J, Hart T (2003) It’s more than a black box; it’s a Russian doll: defining rehabilitation treatments. American journal of physical medicine & rehabilitation 82(8):639-52
14
F.O.T.T. – Mythos oder messbar? Petra Fuchs
14.1
Studiendesigns
14.1.1 14.1.2 14.1.3
Nachweis der Therapiewirksamkeit Gruppendesigns – 267 Einzelfalldesigns – 268
– 266
14.2
Das F.O.T.T. Assessment Profile
– 272
14.2.1 14.2.2 14.2.3
Entstehungsgeschichte – 272 Beschreibung des F.O.T.T. Assessment Profile – 273 Inhaltliche Validität und Inter-Rater-Reliabilität – 275
14.3
Studiendesign für eine experimentelle F.O.T.T.-Einzelfallstudie – 276
14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.3.4 14.3.5 14.3.6
Ausarbeiten der Fragestellung Design – 277 Studienteilnehmer – 277 Instrumente – 277 Datenerhebung – 277 Datenanalyse – 278
Literatur
– 279
– 266
– 277
266
Kapitel 14 · F.O.T.T. – Mythos oder messbar?
Die Therapie des Facio-Oralen Trakts nach Coombes ist als Gesamtkonzept wissenschaftlich nicht bewiesen – und doch findet sie zunehmend Verbreitung. Damit befindet sie sich in guter Gesellschaft mit anderen bewährten und weit verbreiteten Therapiekonzepten wie z.B. dem BobathKonzept oder der Reaktionslokomotion nach Vojta. In den letzten Jahren, u.a. als Folge des Drucks, Kosten im Gesundheitswesen zu reduzieren, wird der Ruf nach »evidencebased medicine«, einer auf wissenschaftlichen Beweisen basierenden Medizin laut. Bisher gibt es im deutschsprachigen Raum kaum Studien über physio-, ergotherapeutische oder logopädische Behandlungsansätze, die wissenschaftlichen Kriterien standhalten. Diese Therapieansätze waren zum einen bisher kaum Thema wissenschaftlichen Interesses, zum anderen stellen sich in der vergleichsweise jungen Disziplin Neurorehabilitation – z.B. im Vergleich zu einer Medikamentenwirksamkeitsprüfung – eine Vielzahl ethischer und methodischer Fragen. Der folgende Beitrag soll Therapeuten dazu ermutigen, im kleinen Rahmen zur Therapieforschung der F.O.T.T. beizutragen, solange 7 randomisierte Studien und Effizienznachweise fehlen. Um den Einstieg zu erleichtern, werden zwei Gruppen- und zwei Einzelfall-Designs beschrieben. Danach werden das F.O.T.T. Assessment Profile und ein mögliches Design vorgestellt, das F.O.T.T.-Therapeuten in der Praxis anwenden können.
14.1
14
Studiendesigns
Mythos wird definiert »A thing or a person that is imaginary or not true« (Oxford Dictionary 1995), als eine unwahre Sache oder als imaginäre Person. Die Therapie des Facio-Oralen Trakts (F.O.T.T.) hat sich etabliert. Das zeigen das vorliegende Buch, andere Beschreibungen dieses Konzepts (Davies 1994, Gratz u. Müller 2004), erste Studien (Seidl et al. 2007, Frank et al. 2008) und die weit verbreitete Anwendung in der Rehabilitation und Langzeitpflege von Patienten mit erworbenen Hirnschädigungen. Vom Team und den Angehörigen wahrgenommene Fortschritte des Patienten werden auf die Anwendung im Rahmen des 24-Stunden-Konzepts zurückgeführt, z.B., wenn nach 4 Monaten F.O.T.T.-Therapie und Anleitung der Pflegekräfte seine Zahninnenflächen nun wieder geputzt werden können, ohne dabei eine Beißreaktion auszulösen. Trotzdem müssen wir uns fragen: Sind die in der Rehabilitation beobachteten Veränderungen wirklich eine Konsequenz der Facio-Oralen Trakt Therapie?
14.1.1
Nachweis der Therapiewirksamkeit
jWissenschaftliche Messungen
Rein wissenschaftlich werden Messungen mit einer Intervallskala vorgenommen, deren Messpunkte die gleichen Abstände zueinander haben (Wade 1992, Blanco u. Mäder 1999). Beispiel Ein alltägliches Beispiel für eine Intervallskala ist ein Messband, bei dem alle Abstände einen Zentimeter betragen.
In der Neurorehabilitation sind derzeit jedoch nur wenige Aspekte einfach quantifizierbar, und definierte Standardeinheiten fehlen (Wade 1992, Blanco u. Mäder 1999). Dies macht es schwierig, Neurorehabilitation und – als Teilaspekt davon – F.O.T.T. zu messen. Zunehmend wächst der Druck, ausschließlich Therapieansätze anzuwenden, die einerseits auf einer theoretischen Grundlage beruhen und deren Wirksamkeit andererseits in wissenschaftlichen Studien nachgewiesen wurde (»evidence-based practice«). Es wird dabei zwischen Effizienz (»efficacy«) und Effektivität (»effectiveness«) einer Therapie unterschieden (Robey u. Schultz 1998). > Beachte Effizienz-Forschung untersucht den Effekt der klinischen Arbeit unter optimalen Bedingungen, d.h. in einer Kontrollstudie. Im Gegensatz dazu wird die Effektivität unter »normalen« klinischen Bedingungen erforscht.
Die Effizienz einer Therapie sollte vor ihrer Effektivität etabliert werden. Die Autoren skizzieren diesen Prozess als ein Fünf-Phasen-Modell, bei dem die randomisierte Kontrollstudie (7 S. 267) als der stärkste Beweis für die Wirksamkeit einer Therapie gilt. De facto gibt es im Bereich der 7 Dysphagie-Therapie nur wenige Studien, die den derzeit gängigen wissenschaftlichen Kriterien standhalten (u.a. Carnaby et al. 2006, Logemann et al. 2008). Als ein methodisches Hauptproblem wird das Fehlen der Randomisierung gesehen, d.h. die Zufallsverteilung der zu untersuchenden Subjekte in Versuchs- und (z.B. nicht behandelten) Kontrollgruppen. jAussagekraft statistischer Untersuchungen
F.O.T.T.-Therapeuten und Reha-Teams stehen in der Verantwortung, sich wissenschaftlich mit diesem Konzept auseinanderzusetzen. Die Wahl des Studiendesigns will jedoch gut überlegt sein, da statistisch nicht signifikante Resultate dazu führen könnten, dieses Konzept allgemein als »nicht effektiv« abzustempeln. Allzugerne wird übersehen, dass
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
267 14.1 · Studiendesigns
4 statistische Signifikanz nur ausdrückt, wie wahrscheinlich es ist, dass die Resultate durch Zufall erreicht wurden; 4 statistisch signifikante Resultate nicht gleichzeitig bedeuten, dass sie auch klinisch relevant sind; 4 umgekehrt kann ein statistisch nicht signifikantes Resultat für einen Patienten in der realen Welt von Bedeutung sein. Beispiel Stiefel et al. (1993) verglichen den Mundstatus (z.B. Anzahl kariöser Zähne, Paradontose) rückenmarkverletzter Menschen mit dem anderer behinderter Menschen (z.B. nach Schädel-Hirn-Trauma). Sie fanden eine Tendenz zu mehr 7 Gingivitis und periodontalen Problemen bei Tetraplegikern, die auf tägliche Hilfe bei der Mundpflege angewiesen waren als bei Rückenmarkverletzten, die die Mundpflege selbständig ausführen konnten. Obwohl dieses Resultat statistisch nicht signifikant war, kann man sich die Konsequenzen für das Individuum gut vorstellen.
Forschung und Studien verfolgen das Ziel, Wissen zu erweitern, sowohl im Labor wie auch im klinischen Setting. Das Design ist das Vehikel, welches die Fragen der Forscher in Projekte umsetzt, d.h., systematisch und organisiert nach Antworten sucht. Ein Design beschäftigt sich inhaltlich mit 4 Zielen, 4 Methoden, 4 Datensammlung und -analyse und 4 Kommunizieren der Resultate (Crombie 1997). Berücksichtigt werden »weltliche« Einschränkungen wie Ort der Untersuchung, Zeitaufwand sowie finanzielle und personelle Ressourcen. Traditionell unterscheidet man drei Strategien: 4 experimentelle Designs, 4 Befragungen (Surveys) und 4 Fallstudien. Experimentelle Designs testen Hypothesen (z.B. Medikament X senkt den Blutdruck), vergleichen Behandlungen (z.B. Medikament X senkt den Blutdruck schneller als Medikament Y) und erklären die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung. Sie verlangen einen hohen Grad an Kontrolle aller beeinflussender Faktoren. Befragungen werden in vielfältiger Weise angewendet, um im Gesundheitswesen Informationen zu sammeln. Sie fragen z.B. nach der Häufigkeit von Asthma in der Bevölkerung, ob alle Gruppen der Gesellschaft die gleiche Gesundheitsversorgung erhalten, oder wie Ärzte zum Thema Euthanasie denken (Crombie 1997).
Fallstudien beschreiben und untersuchen Geschehnisse in einem spezifischen Kontext und lassen keine
Schlüsse der Kausalität zu. Sie sind jedoch oft ein erster Schritt zu mehr experimentellen Untersuchungen und eine wertvolle Ergänzung für die Praxis. > Beachte Grundsätzlich sollte die Fragestellung die Wahl des Designs leiten, doch leider wird oft das vom Untersucher bevorzugte Forschungsdesign gewählt (Robson 1998).
Aus den Gruppendesigns werden nachfolgend die 7 randomisierte Kontrollstudie, das quasi-experimentelle Design, und aus den Einzelfalldesigns die experimentelle Einzelfallstudie und die beschreibende Fallstudie beschrieben. > Beachte Die randomisierte Kontrollstudie gilt als das »wahre« experimentelle Forschungsdesign und wird häufig als der stärkste Beweis für die Effektivität einer Therapie genannt. Sie kann jedoch kaum in ihrer reinen Form außerhalb des Labors umgesetzt werden. Das quasiexperimentelle Design soll dies ermöglichen. Die experimentelle Einzelfallstudie und die beschreibende Fallstudie scheinen Stiefkinder der Forschung zu sein, haben im Klinikalltag aber durchwegs ihren Platz und ihre Berechtigung. . Übersicht 14.1 fasst die Forschungsmethoden zusam-
men. . Übersicht 14.1. Forschungsmethoden für Gruppendesigns Gruppendesigns: 4 7 Randomisierte Kontrollstudie 4 Quasi-experimentelles Design Einzelfalldesigns: 4 Experimentelle Fallstudie 4 Beschreibende Fallstudie
14.1.2
Gruppendesigns
jDas »wahre« Experiment: randomisierte Kontrollstudie
Jeder Arzt und jede Therapeutin möchte verständlicherweise glauben, dass ihre gewählte Form der Therapie wirksam ist. Die traditionelle Medizin (z.B. beim Testen neuer Medikamente) und auch Studien der Psychologie bedienen sich, um Zusammenhänge von Ursache und Wirkung zu beweisen, oft eines sog. experimentellen Designs.
14
268
Kapitel 14 · F.O.T.T. – Mythos oder messbar?
Unter der Lupe Methodik für Experimente Die Methodik für Experimente stammt ursprünglich aus der landwirtschaftlichen Forschung, wo Experimente unter Laborbedingungen durchgeführt wurden. Pflanzen derselben Gruppe (Population) wurden in zufälliger Weise – randomisiert – verschiedenen Untergruppen (Testgruppe und Kontrollgruppe) zugeteilt. In der Testgruppe wurde z.B. die Menge Wasser oder Licht manipuliert, die Veränderungen gemessen und mit denselben Variablen in den Kontrollgruppen verglichen. Der hohe Grad an Kontrolle aller beeinflussender Faktoren erlaubt es mathematisch auszudrücken, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass der beobachtete Effekt durch Zufall entstanden ist (p-Wert, statistische Signifikanz). Ist der p-Wert sehr klein (p<0.05), wird der Schluss gezogen, dass die manipulierte Variable den Effekt ausgelöst hat. Da die Test- und Kontrollgruppe von derselben Population stammen, können Schlussfolgerungen bezüglich Ursache und Wirkung auf die Gesamtpopulation (alle Pflanzen derselben Art) übertragen – generalisiert – werden.
14
Auch außerhalb des Labors, im klinischen Setting, muss eine Studie gewisse Voraussetzungen erfüllen, um als wahres Experiment zu gelten, welches Schlussfolgerungen bezüglich der Wirksamkeit einer Therapie zulässt. Die randomisierte Zuteilung aller an der Studie teilnehmenden Patienten (Subjekte) zur Testgruppe (die das Medikament erhält) oder zur Kontrollgruppe (die ein Placebo erhält) ist von größter Bedeutung. Dies verlangt eine homogene Gruppe vieler Patienten mit einer klaren Diagnosestellung (wie z.B. Bluthochdruck). Die randomisierte Zuteilung einer großen Anzahl Patienten zur Test- oder Kontrollgruppe erleichtert das Erzielen signifikanter Resultate trotz einer gewissen Variabilität zwischen den Subjekten. Verabreicht wird eine klar beschriebene, uniforme Therapie, z.B. das neue Medikament, welches in derselben Dosis an alle Patienten abgegeben wird. > Beachte Oft werden die Tests als Doppelblindstudien durchgeführt, d.h. weder die Person, die das Medikament aushändigt, noch die Person, die das Medikament einnimmt, wissen, wer den Wirkstoff, und wer das Placebo erhält.
Ist die Hürde der Randomisierung genommen, kann die Studie mehr oder weniger komplex gestaltet werden. Es können z.B. Vor- und Nachtests vorgenommen werden oder verschiedene Medikamente (oder Therapien) miteinander verglichen werden. Robson (1998) beschreibt einfache experimentelle Designs und gibt weitere Quellen an. jDas quasi-experimentelle Design kVoraussetzungen
In der Therapieforschung ist es oft unmöglich, die Prinzipien der randomisierten Kontrollstudie vollständig zu erfüllen. Eine häufig auftretende Schwierigkeit ist die, eine
ausreichend große Anzahl von Personen mit derselben Schädigung zu finden. Dies erschwert eine randomisierte
Zuteilung in zwei Gruppen oder macht sie manchmal unmöglich. Somit ist die wichtigste Voraussetzung der experimentellen Kontrollstudie bereits nicht erfüllt. Da auch beeinflussende Faktoren in der realen Welt nicht vollständig kontrolliert werden können, wird das quasi-experimentelle Design als Alternative zur randomisierten Kontrollstudie vorgeschlagen (Robson 1998). Wie der
Name sagt, ist auch dieses Design experimentell, die Zuteilung zur Test-oder Kontrollgruppe ist jedoch nicht randomisiert, sondern geschieht auf der Basis anderer Kriterien (z.B. Patienten zweier verschiedener Pflegeheime werden miteinander verglichen). Oft wird versucht, die Subjekte der einzelnen Gruppen aufeinander abzustimmen – Matching – z.B. Alter, Geschlecht, absolvierte Schuljahre. kDurchführung
Beide Gruppen werden nach denselben Kriterien befundet (Vortests); die Testgruppe wird anschließend behandelt, während die Kontrollgruppe keine spezielle Intervention erhält. Nach der Behandlungsphase werden beide Gruppen nochmals getestet (Nachtests). Eine starke Indikation dafür, dass die Behandlung die Veränderungen bewirkt hat (Ursache-Wirkung), wäre folgendes Resultat: Die Testgruppe erlangte in den Vortests schlechtere Ergebnisse als die Kontrollgruppe und in den Nachtests bessere Ergebnisse, die zudem über den Vortest-Ergebnissen der Kontrollgruppe liegen. Solche Resultate könnten, wenn auch mit Vorsicht, auf die Gesamtpopulation generalisiert werden.
14.1.3
Einzelfalldesigns
Die oben erwähnten Kontrollstudien testen Hypothesen und ziehen Schlüsse bezüglich Ursache und Wirkung, die auf eine Gesamtpopulation übertragen werden können. Dieses Vorgehen ist vor allem beim Testen von neuen Medikamenten wünschenswert, da deren Wirkung (bzw. Nebenwirkungen) noch nicht bekannt ist. Im klinischen Alltag (z.B. in der Rehabilitation) konnte die Wirksamkeit von »hands-on«-Therapien bereits beobachtet werden, wenn auch nicht immer eindeutig klar ist, warum sich das Verhalten des Patienten verändert hat (z.B. durch Effekte wie Spontanremission, Kombination der Therapien). Die Frage ist also nicht, ob der therapeutische Ansatz einen Effekt hat. Es wird gefragt, 4 warum die Therapie bei einem bestimmten Patienten (nicht) gewirkt hat, 4 wie sie wirkt, oder 4 wie lange es dauert, bis ein Patient Veränderungen zeigt.
269 14.1 · Studiendesigns
Dies sind Fragen die in den ersten zwei Phasen von Robey und Schultz (1998) untersucht werden. Gruppenstudien eignen sich nicht, um diese Fragen zu beantworten, da sie überdecken, wie individuelle Patienten auf eine Therapie reagieren.
> Beachte Die Ergebnisse einer einzelnen experimentellen Einzelfallstudie können nicht auf die Gesamtpopulation generalisiert werden. Mehrere, sorgfältig geplante experimentelle Einzelfallstudien können jedoch Tendenzen aufzeigen.
jDie experimentelle Einzelfallstudie
Bei der experimentellen Einzelfallstudie (»single-subject experimental design«) handelt es sich um einen von B.F. Skinner geprägten Ansatz (Robson 1998). Es werden wiederholt Messungen an demselben Subjekt vorgenommen, wobei die Messungen über eine gewisse Zeitspanne erhoben werden, meistens bevor, während und nach einer Intervention. Der Patient agiert somit als seine eigene Kontrolleinheit. Im Weiteren ist die Kontrolle beeinflussender Faktoren von größter Wichtigkeit: 4 Es muss zwischen den Einflüssen der Therapie und anderen, zu Verbesserungen führenden Faktoren unterschieden werden (z.B. Spontanheilung). 4 Es müssen spezifische Einflüsse der Therapie von mehr generellen, wie z.B. erhöhter persönlicher Aufmerksamkeit, separiert werden. kDurchführung
Ein mögliches Design ist ein sog. A-B-A-Design. Die Buchstaben stehen für drei verschiedene Phasen, die sich über einen gewissen Zeitraum erstrecken: 4 Die erste Phase A entspricht der ersten Nicht-Behandlungsphase. In dieser werden Tests und Untersuchungen an dem zu beobachtenden Verhalten (Variablen) vorgenommen und somit die Baseline etabliert. 4 Phase B entspricht der Behandlungsphase und A einer zweiten Nicht-Behandlungsphase, an deren Ende wiederum getestet und untersucht wird. > Beachte Von einem Behandlungseffekt geht man aus, wenn das beobachtete Verhalten in der ersten Phase A stabil ist, sich in Phase B verbessert und in der zweiten Phase A wieder auf die Baseline zurückfällt.
Das Zurückfallen des beobachteten Verhaltens auf die Baseline ist notwendig, um zu validieren, dass die Veränderung aufgrund der Behandlung entstanden ist (Fukkink 1996). Die Rückkehr zur Baseline ist in der Therapie weder wünschenswert noch ethisch vertretbar. In diesem Fall kann auf ein A-B-Design ausgewichen werden, wobei in beiden Phasen genügend Daten aus verschiedenen Quellen gesammelt werden müssen. Zudem müssen wichtige Veränderungen (z.B. Infekte, Medikamentengabe, Abschluss anderer Therapien) festgehalten werden (Pring 2000).
i Praxistipp Experimentellen Designs gemeinsam ist, dass alle wichtigen Aspekte der Studie vor der Datensammlung festgelegt werden müssen, d.h.: 4 zu testende Hypothese, 4 Auswahlkriterien für Patienten, 4 zu sammelnde Daten, Art der Datenanalyse und 4 statistische Tests, Kontrollvariable. Hat das Sammeln der Daten begonnen, dürfen keine Veränderungen am Design mehr vorgenommen werden.
jDie beschreibende Fallstudie > Beachte Beschreibende Fallstudien verfolgen das Ziel, Patienten, den Rehabilitationsprozess, die angewandte Therapie selbst oder zum Outcome beitragende Faktoren zu explorieren.
Sie können auch Hinweise darauf geben, wie sich die Therapie (z.B. F.O.T.T.) auf eine beeinträchtigte Funktion auswirkt, oder bei welchen Patienten die besten Resultate erzielt werden. Beschreibende Fallstudien lassen jedoch keine Generalisierung bezüglich der Kausalität oder der Gesamtpopulation zu. Fallstudien können mit mehr oder weniger Struktur angegangen werden; es gilt jedoch zu beachten, dass nicht alles untersucht werden kann. Die Hauptaspekte der Fallstudie, d.h. 4 Fragestellungen, 4 Design, 4 Studienteilnehmer, 4 Instrumente, 4 Datenerhebungstechniken und 4 falls angebracht Datenanalyse, sollten deshalb vor dem Beginn der Datensammlung zumindest überlegt werden. Robson (1998) vertritt die Ansicht, dass die Fragestellung allgemein oder sehr spezifisch sein kann und mehrere Haupt- wie auch Nebenfragen beinhalten kann. Diese Fragestellungen werden im Verlauf des Prozesses aufgrund der gesammelten Daten überdacht und ggf. verändert.
14
270
Kapitel 14 · F.O.T.T. – Mythos oder messbar?
i Praxistipp Bei einer strukturierteren Strategie ist es hilfreich, sich eine Art Trichter vorzustellen, in den anfangs alle Projektideen eingefüttert werden, an dessen Ende jedoch nur eine spezifische Fragestellung untersucht wird (Clifford 1990). Im Raum zwischen Trichtermündung und Ausfluss werden die Ideen verfeinert, bis sich eine Fragestellung herauskristallisiert.
Beispiel Mögliche Fragestellungen sind: 4 Wie lange dauert es im Rehabilitationsprozess, bis die Zahninnenflächen bei einem Patienten mit Beißreaktion geputzt werden können? Welche therapeutischen Maßnahmen wurden eingesetzt, um zu diesem Resultat zu gelangen? 4 Wie lange dauert es, bis der Patient nicht mehr mit hypersensiblen Reaktionen auf Berührungen im Gesicht/ Mund reagiert, z.B. beim Gesicht waschen? 4 Wie wirkt sich regelmäßige F.O.T.T. auf die beeinträchtigte Schluckfunktion aus, z.B. weniger häufiges Absaugen, Schlucken von einer oder mehrerer Konsistenzen? 4 Welche Langzeitveränderungen können bei einem Patienten nach Abschluss der Therapie beobachtet werden? Ist z.B. eine Verbesserung, Verschlechterung oder Erhaltung der Funktion beobachtbar, z.B. des Speichelschluckens?
14
Die Daten zur Beantwortung dieser Fragen werden aus möglichst vielen Quellen zusammengetragen. Das Herausarbeiten eines spezifischen Problems oder eines Aspekts der Therapie ist für im wissenschaftlichen Arbeiten ungeübte F.O.T.T.-Therapeuten ein zeitaufwändiger Prozess, der jedoch für das Gelingen eines Projekts, und mag es noch so klein sein, wichtig erscheint. Die Wahl der Patientenklientel für eine Einzelfallstudie ergibt sich entweder aus dem klinischen Arbeitsfeld (z.B. Neurologie, HNO) oder wird aufgrund des Ziels gewählt werden (z.B. Beschreibung des Rehabilitationsverlaufs). Dieses Design wurde von Gratz und Müller (2004) gewählt, die die Rehabilitation des fazio-oralen Trakts zweier Patienten beschrieben. . Tab. 14.1 fasst die wichtigsten Merkmale der oben beschriebenen Studiendesigns zusammen. jObjektivität von Tests
Die Möglichkeit, Beobachtungen mittels Zahlen auszudrücken, ist wohl ein Grund dafür, dass die Ergebnisse experimenteller Studien – speziell von Kontrollstudien – heute als der stärkste Beweis für die Effektivität einer Therapie gelten. Dass der die Tests durchführende Akademiker als unabhängiger Beobachter gewertet wird, verstärkt
die Ansicht, dass solche Studien und deren Resultate objektiv sind. Robson (1998) hingegen argumentiert, dass alle Beobachtungen auf Theorien basieren, welche die Wahrnehmung des Forschers beeinflussen und somit eine vollkommene Objektivität verunmöglichen. > Beachte Das Ausarbeiten eines Projekts, die Datensammlung und -analyse wird von diesen Theorien beeinflusst, ob sich der Forscher dessen bewusst ist oder nicht.
Dies weist auf zwei Kulturen der Medizin (Wulff 1999) hin: 4 die Kultur der objektiven Fakten (d.h. der Naturwissenschaften) und 4 die Kultur der Subjektivität und Werte (d.h. der Human-/Geisteswissenschaften). Die Vertreter der ersten Kultur sind der Ansicht, dass alles gemessen werden muss. Kann etwas nicht gemessen werden, muss es messbar gemacht werden. Vertreter der zweiten Kultur setzen sich mit der subjektiven, individuellen Welt der Patienten auseinander. Dieser Zwiespalt ist laut Wulff unglücklich, da die Medizin sowohl eine wissenschaftliche als auch eine humanistische Disziplin ist. Dieses Problem tritt auch im therapeutischen Kontext auf. Kesselring (2000) fordert, dass für »hands-on«-Therapien (wie z.B. F.O.T.T., Physiotherapie, Ergotherapie), die unbestritten von größter Wichtigkeit in der Neurorehabilitation sind, andere Kriterien zur Bewertung ihrer Effektivität gelten müssen als bei Studien der Wirksamkeit von Medikamenten. Er begründet dies damit, dass sich die Neurorehabilitation die Mechanismen der Plastizität (Robertson u. Murre 1999) zunutze macht. Die Theorien der Plastizität des ZNS und Forschungsstudien gehen davon aus, dass Lernen ein Leben lang stattfindet – auch nach Hirnschädigungen (Hamdy et al. 1998). Kesselring kommt zu dem Schluss, dass »hands-on«-Therapien konsequenterweise wie Lernerfolge oder Trainingseffekte beurteilt werden müssten. Er fordert heraus mit der Frage, wem es denn einfallen würde, die Effektivität von Erziehung – Schule – oder eines Training-Camps in einer Doppelblindstudie zu evaluieren. > Beachte Lernen im Kontext der Neurorehabilitation muss also als Veränderung allgemein verstanden werden, als Verhaltensänderung, die sich auch physisch zeigen kann.
271 14.1 · Studiendesigns
. Tab. 14.1. Zusammenfassung der wichtigsten Merkmale der Studiendesigns Inhalte
Gruppendesigns
Einzelfalldesigns
Randomisierte Kontrollstudie: Das »wahre« Experiment
Quasi-experimentelles Design
Experimentelle Einzelfallstudie
Beschreibende Fallstudie
Untersuchungsort
Labor
Reale Welt
Reale Welt
Reale Welt
Ziel
Testen von Hypothesen. Vergleichen von Therapien (v.a. Medikamente) und Therapieansätzen. Frage nach Ursache und Wirkung
Testen von Hypothese bzgl. eines individuellen Patienten. Untersuchen des Therapieprozesses und spezifischer Fragestellungen
Exakte Beschreibung des Therapieprozesses. Explorieren spezifischer Fragestellungen
Kontrollen
Randomisierte Einteilung in Test-und Kontrollgruppe. Rigorose Kontrolle aller beeinflussenden Faktoren
Patient agiert als eigene Kontrolle. Möglichst umfassende Kontrolle der beeinflussenden Faktoren
Keine Kontrollen notwendig
Planung
Detaillierte Planung vor der Datensammlung notwendig: 4 Formulierung der Hypothese und/oder Fragestellungen 4 Festlegung der Datensammlung und -analyse 4 Festlegung der statistischen Tests 4 Bestimmen der statistischen Signifikanz-Levels 4 Hat das Sammeln der Daten begonnen, dürfen keine Veränderungen mehr angebracht werden
Ausarbeiten der Fragen: Welche Daten sollen erfasst werden? Wer sammelt die Daten? Wann? Mit welchem Instrument?
Generalisieren der Resultate
Resultate können auf Gesamtpopulation generalisiert werden
Beschreibungen können nicht auf die Gesamtpopulation generalisiert werden
Einteilung in Test- und Kontrollgruppe aufgrund spezifischer Kriterien. Matching der Studienteilnehmer. Möglichst umfassende Kontrolle der beeinflussenden Faktoren in beiden Gruppen
Resultate können mit Vorsicht generalisiert werden
Beispiel Das durch die neurologische Schädigung vorherrschende Muster (z.B. Extensionsmuster) kann durch das Lagern im Bett verstärkt (bei Rückenlagerung) oder (zumindest teilweise) vermindert werden (bei Seitenlagerung mit Beinen und Oberkörper in Flexion [Davies 1994]).
Coombes (1996a,b) betont die Wichtigkeit eines konsequenten 24-Stunden-Konzepts in der Rehabilitation von schädel-hirn-verletzten Menschen, u.a. um Sekundärproblemen (z.B. Muskelverkürzungen) vorzubeugen. Akzeptieren wir, dass Lernen mehr ist als Wissenserweiterung, und dass es lebenslang stattfindet, (zumindest solange der Patient stimuliert wird), dann kommt der Rolle von Pflegekräften besondere Bedeutung zu, vor allem in der Langzeitpflege von schwerst behinderten Patienten, einem Sektor in dem kaum mehr Therapien stattfinden. Auch hier gibt es noch keine Untersuchungen darüber, wie sich Pflege auswirkt, welche die Aspekte von
Resultate mehrerer Studien geben Tendenzen an
F.O.T.T. im Langzeitmanagement neurologisch beeinträchtigter Menschen integriert. Nachfolgend zeigt . Übersicht 14.2 die Schwierigkeiten auf, die randomisierte Kontrollstudie auf F.O.T.T. anzuwenden. . Übersicht 14.2. Probleme der Randomisierung 4 Die randomisierte Zuteilung in Test- und Kontrollgruppe wird erschwert oder ist beinahe unmöglich, da die Gruppe der Patienten, die F.O.T.T. benötigen, relativ klein ist und heterogen bzgl. Krankheitsverursachung und Läsionsort. 4 Die randomisierte Zuteilung wird zur ethischen Problematik. Wie kann z.B. begründet werden, dass eine Patientengruppe nicht oder erst später 6
14
272
Kapitel 14 · F.O.T.T. – Mythos oder messbar?
> Beachte
4
4
4
14 4
behandelt wird? Vor allem in der Frührehabilitation widerspricht dies der Überzeugung, dass frühstmögliche Intervention z.B. zur Prävention notwendig ist (Robertson u. Murre 1999). Die Messbarkeit wird dadurch erschwert, dass für F.O.T.T. kein Rezeptbuch besteht, dem die Therapeutin folgen könnte (7 Kap. 14.1.1). Das wichtigste Gut der Therapeutin, ihre »Handlingskills«, wird in Kursen erworben und im Alltag und interdisziplinärem Austausch verfeinert. Persönliche Beobachtungen bestätigen, dass die Therapie von Therapeut zu Therapeut variiert, abhängig von beruflichem Hintergrund und Berufserfahrung. Multizentrische Studien (Studien, an denen verschiedene Institutionen gleichzeitig teilnehmen) sind deswegen schwierig zu vergleichen, da einerseits die Patienten und andererseits die »Handlingskills« der Therapeuten aufeinander abgestimmt werden müssten (Matching). Die Interdisziplinarität von F.O.T.T., Voraussetzung für eine optimale Rehabilitation, stellt eine weitere Schwierigkeit dar, da sie die Abgrenzung zwischen den Einflüssen verschiedener Therapien (z.B. Physiotherapie) nahezu unmöglich macht. Gerade in der Frührehabilitation bleibt zudem die Frage nach Spontanheilung oder Spontanremission bestehen. Das Handling des Patienten in der therapiefreien Zeit ist von zentraler Bedeutung. Wird der Patient z.B. ständig in einer nicht adäquaten Stellung gelagert, so kann dies die Resultate einer F.O.T.T.Studie negativ beeinflussen. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Messergebnisse stellt die Untersucherin selbst dar (Reed u. Procter 1995). Bei der 7 randomisierten Kontrollstudie (d.h. beim Testen von Medikamenten) spielen Persönlichkeit, Erfahrung oder Motivation des Studienleiters eine minimale Rolle. Hingegen ist die Person, die sich mit Fragen zu F.O.T.T. auseinandersetzt wahrscheinlich ein Insider, ein Therapeut, der sich vermehrt wissenschaftlich mit dem Thema oder einem praktischen Problem auseinandersetzen möchte. Therapeut und Patient werden im Verlauf der Therapie miteinander vertraut, sie interagieren, und i.d.R. versucht der Therapeut den Patienten positiv zu verstärken.
Experimentelle Einzelfallstudien, beschreibende Fallstudien oder eine Kombination beider Designs scheinen am besten geeignet für F.O.T.T.
14.2
Das F.O.T.T. Assessment Profile
14.2.1
Entstehungsgeschichte
Um die Effektivität der F.O.T.T. – oder Aspekte daraus – nachzuweisen, ist ein Instrument notwendig, das F.O.T.T.Therapeuten erlaubt, ihre klinischen Beobachtungen festzuhalten, zu vergleichen und zu quantifizieren. Dieses Instrument sollte sensitiv genug sein, um diskrete Veränderungen, die noch nicht zu funktionellen Verbesserungen führen, zu erfassen. Die Idee, solch ein Instrument zu entwickeln, entstand während meiner Arbeit mit schädel-hirn-verletzten Patienten in einer großen Akutklinik in London. Die Umsetzung erfolgte im Rahmen eines Pilotprojekts (Fuchs Ziegler u. O’Donoghue 1998) und meiner Masterthese (Fuchs 2001), für den Studiengang Masters of Science in Human Communication an der City University London. Letztere testete die Inhaltsvalidität und Inter-Rater-Reliabilität (7 Kap. 14.2.3) des weiterentwickelten F.O.T.T. Assessment Profile. Die Realisierung dieses Vorhabens war nur mithilfe der Unterstützung vieler F.O.T.T-Therapeuten möglich, die die Skalen in verschiedenen Phasen erprobten. An dieser Stelle möchte ich mich für die Mitarbeit und konstruktive Kritik herzlich bedanken! jBisher angewandte Instrumente
Im Rahmen der ersten Phase der Masterthese (Fuchs 2001) ergab eine Umfrage bei 26 F.O.T.T.- Therapeuten aus sieben Kliniken in Dänemark, Deutschland und der Schweiz, dass Veränderungen im fazio-oralen Trakt erfasst wurden anhand von: 4 schriftlichen Therapieaufzeichnungen, 4 Videos, 4 hausinternen F.O.T.T.-Erfassungsbögen, 4 dem 7 Functional Independent Measure (FIM) und 4 dem 7 Early Functional Abilities (EFA) (Heck et al. 2000). Alle diese Methoden haben ihre Berechtigung im klinischen Alltag, sind jedoch nur zum Teil für F.O.T.T.-Studien geeignet. kTherapieaufzeichnungen und Videos
Diese Aufzeichnungen sind z.B. wertvoll für die Verlaufsdokumentation. Das Vergleichen von Therapieaufzeichnungen wird jedoch dadurch erschwert, dass sie selten
273 14.2 · Das F.O.T.T. Assessment Profile
einem einheitlichen System folgen, und je nach Therapeut variieren. Videoanalysen in Bezug auf die Therapieplanung sind zudem enorm zeitaufwändig. kFunctional Independent Measure (FIM) Der in der Rehabilitation oft benutzte 7 Functional Independent Measure (FIM) ist nicht darauf ausgerichtet, die
vier Bereiche von F.O.T.T. (Nahrungsaufnahme, Mundhygiene, nonverbale Kommunikation, Atmung-StimmeSprechen) zu erfassen. Auch sind sog. Bodeneffekte bei schwerst beeinträchtigten Patienten bekannt (Hall u. Johnston 1994), d.h., im Klinikalltag beobachtete Veränderungen, die zu keinem Funktionsgewinn führen, können nicht aufgezeigt werden. kHausinterne Erfassungsbögen Das Benutzen hausinterner Erfassungsbögen ist ein
Schritt in die richtige Richtung. Sie zielen darauf ab, nach einheitlichen Kriterien zu befunden und Resultate zu sammeln. Schwierigkeiten ergeben sich vor allem daraus, dass wissenschaftliche Kriterien wie Validität und Reliabilität der Instrumente nicht evaluiert worden sind und dies die Aussagekraft der Resultate limitiert. Resultate verschiedener Bogen können zudem nicht miteinander verglichen werden. kEarly Functional Abilities (EFA) Die 7 Early Functional Abilities-Skalierung (Heck et al.
2000) scheint bisher am besten geeignet, Aspekte des faziooralen Trakts widerzuspiegeln. EFA wurde zudem validiert und hatte gute Resultate für Reliabilität gezeigt. Ein Vergleich von EFA und F.O.T.T. Assessment Profile ergab im Weiteren sowohl Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede. Die Unterschiede zwischen den beiden Instrumenten wie auch Diskussionen mit Kolleginnen, denen beide Messverfahren bekannt waren, schienen eine Weiterentwicklung des F.O.T.T. Assessment Profile zu rechtfertigen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden im Anschluss an die Beschreibung des F.O.T.T. Assessment Profile zusammengefasst.
14.2.2
Beschreibung des F.O.T.T. Assessment Profile
Das F.O.T.T. Assessment Profile ist wie alle funktionalen Messverfahren (z.B. FIM) eine Ordinalskala, die die Rangposition verschiedener Messwerte zueinander angibt. In Ordinalskalen sind die Abstände zwischen den Rangpositionen nicht gleich groß. Der Abstand von Rang 2 zu Rang 3 entspricht somit nicht demjenigen von Rang 3 zu Rang 4. In der Praxis bedeutet dies, dass ein Patient mit Rang 4 nicht doppelt so gut ist wie ein Patient mit Rang 2.
jSkalen des F.O.T.T. Assessment Profile Das F.O.T.T. Assessment Profile besteht aus sieben Skalen,
die, außer für die Mundhygiene, jeweils zwischen spontanen Bewegungen und elizitierten/fazilitierten Bewegungen separat unterscheiden. . Übersicht 14.3 stellt die Skalen dar. . Übersicht 14.3. Skalen des F.O.T.T. Assessment Profile 4 4 4 4 4 4 4
Mundhygiene Spontanes Schlucken Elizitiertes/fazilitiertes Schlucken Spontane Zungenbewegungen Elizitierte/fazilitierte Zungenbewegungen Spontane Gesichtsbewegungen Elizitierte/fazilitierte Gesichtsbewegungen
Allen sieben Skalen des F.O.T.T. Assessment Profile liegt eine Basisstruktur zugrunde, die aus fünf Levels (Stufen) besteht. jLevels des F.O.T.T. Assessment Profile
Die Levels 1, 3 und 5 beschreiben klar zu unterscheidende Patientenzustände: 4 Auf Level 1 ist der Patient komatös, reagiert nicht oder kann nicht aktiv mitarbeiten. 4 Auf Level 3 arbeitet der Patient mit, soweit es seine eingeschränkte Funktion erlaubt. 4 Level 5 beschreibt Patienten mit noch leicht eingeschränkten Funktionen. 4 Die Levels 2 und 4 agieren als Übergänge, wobei Überschneidungen möglich sind. In den einzelnen Levels des F.O.T.T. Assessment Profile werden erfasst: 4 veränderte Sensibilität und 7 Tonus, 4 Bewegungsmöglichkeiten und -einschränkungen des Patienten und 4 Bedarf an Unterstützung des Patienten, z.B. durch Lagerung (. Tab. 14.2 zur Illustration der Skala für 7 fazilitiertes/7 elizitiertes Schlucken). . Übersicht 14.4 fasst die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von F.O.T.T. Assessment Profile und EFA zusammen.
14
274
Kapitel 14 · F.O.T.T. – Mythos oder messbar?
. Tab. 14.2. Skala für Schlucken: elizitiert/fazilitiert (Version 9)
14
Level 1
Level 2
Level 3
Level 4
Level 5
In gut unterstützter Lagerung
In gut unterstützter Lagerung
In unterstützter Lagerung
In unterstützter Lagerung
In normaler Haltung oder therapeutischer Lagerung
Schlucken Kein Schlucken pro Therapieeinheit; in der Folge ständiger Speichelfluss aus dem Mund und/oder Speichelansammlung im Mund/Pharynx. Entblocken der Kanüle löst kein Schlucken aus. Silent Aspiration vermutet oder sichtbar via Kanüle
Schlucken Bis zu 5 Schlucke pro Therapieeinheit können fazilitiert werden. Verändern der Lagerung elizitiert Schlucken. Entblocken der Kanüle elizitiert Schlucken. Zungenpumpen vor dem Schlucken notwendig. Husten und Schlucken sind unkoordiniert. Unsichere Qualität des Schluckens
Schlucken 6–10 Schlucke pro Therapieeinheit fazilitiert. Entblocken der Kanüle elizitiert Schlucken, und/oder Schlucken kann leichter fazilitiert werden. Pumpen der Zunge kann inhibiert werden und resultiert in Schlucken. Unsichere Qualität des Schluckens. Schlucken kann nicht fazilitiert werden nach Husten/ Räuspern
Schlucken Mehr als 10 Schlucke pro Therapieeinheit fazilitiert. Schlucke können durch Stimmgebung ausgelöst werden. Inhibieren des Zungenpumpens resultiert in promptem Schlucken. Bis zur Hälfte aller Schlucke sind gefolgt von klarer Stimme (kein Husten). Schlucken kann nicht fazilitiert werden nach Husten/ Räuspern
Schlucken Mehr als 50% der Schlucke pro Therapieeinheit sind vollständig. Therapeutisches Essen (Kauen in Gaze) Therapiebestandteil. Schlucken kann zuverlässig fazilitiert werden nach Husten/Räuspern
Husten/Atmung Husten kann von TherapeutIn nicht fazilitiert werden. Unwillkürliches/nicht effektives Husten wird ausgelöst durch Absaugen. Flaches und hastiges Atmen
Husten Verzögertes und/ oder schwaches, nicht effektives Husten
Husten Verzögertes Husten, kein Husten und/oder tönt ähnlich wie Räuspern. Bewusstes Husten kann stimuliert werden durch taktile Unterstützung am Brustkorb
Husten Gelegentlich verzögertes Husten
Husten Verzögertes Husten nach therapeutischem Essen möglich
Stimme Gurgelnde, nasse Stimme
Stimme Verändern der Stimmhöhe ›a‹–›i‹ nicht möglich
Stimme Veränderung der Stimmhöhe ›a‹–›i‹ gelegentlich möglich
. Übersicht 14.4. Gemeinsamkeiten und Unterschiede von F.O.T.T. Assessment Profile und EFA Gemeinsamkeiten: 4 Zielgruppe. 4 Alle vier Bereiche der Facio-Oralen Trakt Therapie werden in fünf Levels unterteilt (Stufe 1–5). Unterschiede: 4 EFA unterscheidet nicht in separaten Skalen zwischen spontanen Bewegungen und 7 fazilitierten Bewegungen. 4 EFA beschreibt die Abstände zwischen den einzelnen Messwerten sehr eindeutig, und diskrete Ver-
änderungen können weniger gut erfasst werden als mit dem F.O.T.T. Assessment Profile. Das Schlucken wird bei EFA wie folgt beschrieben: Level 1: Schlucken fehlt/nicht sicher erkennbar; Level 2: Schlucken angedeutet, spontanes Schlucken; Level 3: Schlucken deutlich erkennbar, Esstraining beginnt. Im Vergleich dazu wird das therapeutische Kauen beim F.O.T.T. Assessment Profile erst auf Stufe 5 erwähnt (. Tab. 14.2). 4 Bei EFA wird der Einfluss von Lagerung und Position des Patienten auf den fazio-oralen Trakt nicht bewertet, hingegen besteht eine Skala für Lagerung.
275 14.2 · Das F.O.T.T. Assessment Profile
14.2.3
Inhaltliche Validität und Inter-RaterReliabilität
Die Wahl des Messinstruments hängt sowohl von der Fragestellung als auch vom zugrunde liegenden Störungsbild ab. Ein Instrument sollte zudem gewisse wissenschaftliche Kriterien erfüllen, um Resultate vergleichbar zu machen. Zu diesen Kriterien gehören Validität und Reliabilität, die der Verständlichkeit halber erst definiert werden sollen (Blanco u. Mäder 1999). 4 Validität bezieht sich darauf, wie genau ein Instrument die Merkmale misst, die es vorgibt zu messen (Johnston et al. 1992). Ein Instrument zu validieren ist ein enorm arbeitsreicher und komplexer Prozess. Eine der einfachsten zu evaluierenden Formen von Validität ist die inhaltliche Validität (»content validity«). Fachexperten beurteilen, ob das Instrument die wichtigen und relevanten Merkmale für die zu messende Therapie vereint (Streiner u. Norman 1991). 4 Unter Reliabilität versteht man die Zuverlässigkeit oder den Grad der Genauigkeit, mit dem ein Instrument oder Test ein Merkmal misst, unabhängig davon, ob es dieses auch zu messen beansprucht (Blanco u. Mäder 1999). 4 Die Inter-Rater Reliabilität gibt darüber Auskunft, wie stabil ein Instrument ist, wenn es von verschiedenen Benutzern angewendet wird.
auf Level 3; Patient schluckt nach Husten oder Räuspern. 4 Spontane Gesichtsbewegungen: Mitbewegungen von Kopf und Oberkörper; Augenkontakt nicht erwähnt auf Level 3. 4 Elizitierte/7 fazilitierte Gesichtsbewegungen: markanter Unterschied in den drei Teilen des Gesichts (d.h. Stirn, Augen und Nase, Wangen und Lippen).
jPhase 2: Testen der Inter-Rater Reliabilität
Für die Inter-Rater-Reliabilität wurden 16 verschiedene Patienten (w=3, m=13) von 9 Therapeuten-Paaren beurteilt. Die Daten (Total 112 Befundungen) wurden mit dem weighted Kappa (Cohen 1968) ausgewertet. Der weighted Kappa (Kw) berücksichtigt 4 das zufällige Zustandekommen einer Übereinstimmung und 4 eine teilweise Übereinstimmung. Die teilweise Übereinstimmung, bei Nominal- und Ordinalskalen ein wichtiger Aspekt, wird verschieden gewichtet. So wird z.B. beim F.O.T.T. Assessment Profile ein Unterschied von Level 1 zu Level 2 weniger schwer gewichtet als ein Unterschied von Level 1 zu Level 3 (Fuchs 2001). Die Resultate für individuelle Skalen sind unten aufgeführt. jErgebnisse
jPhase 1: Etablieren der Inhaltsvalidität
Die inhaltliche Validität des F.O.T.T. Assessment Profile (Version 8) wurde von 60 F.O.T.T.-Therapeuten beurteilt, die die Skalen in einer Testphase anwendeten und mittels eines strukturierten Fragebogens beurteilten. Im Anschluss an die Analyse der Fragebogen konnten der Version 8 weitere wichtige Merkmale zugefügt werden. Einige Beispiele sind aufgeführt. Diese adaptierte Version 9 wurde in einer weiteren Phase auf ihre Inter-Rater-Reliabilität getestet.
Resultate der weighted Kappa-Statistik (Kw): Kw=0.60 (fair). 4 Mundhygiene: Kw=0.49 (fair). 4 Spontanes Schlucken: 4 Elizitiertes/7 fazilitiertes Schlucken: Kw=0.61 (good). 4 Spontane Zungenbewegungen: Kw=0.70 (good). 4 Elizitierte/7 fazilitierte Zungenbewegungen: Kw=0.66 (good). 4 Spontane Gesichtsbewegungen: Kw=0.50 (fair). 4 Elizitierte/fazilitierte Gesichtsbewegungen: Kw=0.75 (good).
Beispiel 4 Mundhygiene: Patient kann den Mund nicht öffnen; Aspiration; Zahnprothesen. 4 Spontane Zungenbewegungen: ständiges Bewegen der Zunge; Neglect der Hemiseite. 4 Elizitierte/7 fazilitierte Zungenbewegungen: Zungenpumpen vor dem Schlucken; Silent Aspiration; /n/- und /g/-Bewegungen. 4 Spontanes Schlucken: eingeschränkte Sicherung der Atemwege; Koordination von Husten und Schlucken; Patient schluckt nur während einer Lageveränderung. 4 Elizitiertes/7 fazilitiertes Schlucken: Speichelfluss führt zu häufigerem Schlucken; Stimme nicht erwähnt 6
Übereinstimmung aller Skalen:
Kw=0.63 (good).
Drei Skalen resultierten in einer Übereinstimmung, die als »fair« bezeichnet wird (Robson 1998), wobei die Skala für Mundhygiene an »gut« grenzt. Vier Skalen erreichten eine gute Übereinstimmung, wobei die Skala für elizitierte/ fazilitierte Gesichtsbewegungen an »exzellent« grenzt.
14
276
Kapitel 14 · F.O.T.T. – Mythos oder messbar?
> Beachte Eine visuelle Analyse aller Ratings (n=112) ergab eine totale Übereinstimmung in 65 Fällen, was rund 58% entspricht. 42-mal (38%) beurteilten die Therapeuten die Patienten mit einem Unterschied von einer Stufe. Nur 2-mal ergab sich ein Unterschied von mehr als 2 Levels, wobei dies auf die unterschiedliche Technik der beiden Therapeuten beim Erfassen zurückzuführen war.
jDiskussion
Kritische Leser werden zu bedenken geben, dass dies relativ viele Ratings mit einem Unterschied von einem Level sind. Demgegenüber betont Wade (1992), dass sehr sensitive Instrumente oft weniger reliabel sind. Gerade in den vier Bereichen der F.O.T.T. und speziell bei schwerstbetroffenen Patienten aber ist es wichtig, diskrete Veränderungen zu erfassen, weil Veränderungen nicht in riesigen Sprüngen geschehen. Benutzer des F.O.T.T. Assessment Profile müssen sich also im Klaren sein, dass ein 7 Trade-off besteht zwischen Sensitivität und Reliabilität, d.h. dass die erhöhte Sensitivität evt. eine reduzierte Reliabilität zur Folge hat. i Praxistipp
14
Um auf eine wirkliche Veränderung schließen zu können, wird in Anbetracht dieser Einschränkung vorgeschlagen, dass mindestens ein Unterschied von 2 Levels bestehen sollte, wenn der Patient im Verlauf der Rehabilitation von verschiedenen Therapeuten mit dem F.O.T.T. Assessment Profile beurteilt wurde. Wird die Beurteilung hingegen von demselben Therapeuten vorgenommen, reicht eine Veränderung von einem Level aus, um als klinisch signifikant zu gelten. Fisher (1992) weist darauf hin, dass derselbe Therapeut einen konstanten Schweregrad bei der Beurteilung von Funktionsbeeinträchtigungen anwendet.
Zum jetzigen Zeitpunkt und im Wissen um die vorhandenen Grenzen eignet sich die Version 9 des F.O.T.T. Assessment Profile für die in . Übersicht 14.5 beschriebenen Zwecke. . Übersicht 14.5. Einsatzmöglichkeiten des F.O.T.T. Assessment Profile 4 Quantifizieren der klinischen Beobachtungen, z.B. bei der Erstbefundung. Das Instrument fördert ein strukturiertes Vorgehen und das Beobachten von Schlüsselparametern der Facio-Oralen Trakt Therapie. Dies wiederum erleichtert eine gezielte Dokumentation und das Planen der Therapie. 6
4 Vergleichen der weiteren Befundungen im Rehabilitationsverlauf mit der Erstbefundung zu Evaluationszwecken. 4 Instrument bei Einzelfallstudien. 4 Basisinstrument für eine Weiterentwicklung des F.O.T.T. Assessment Profile.
14.3
Studiendesign für eine experimentelle F.O.T.T.-Einzelfallstudie
Die Therapieforschung im Bereich F.O.T.T. steht am Anfang (Seidl et al. 2007, Frank et al 2008). Statistisch signifikante Resultate können in einer Kontrollstudie nur erreicht werden, wenn eine klare, relativ enge Fragestellung mittels einer homogenen Gruppe (Test- und Kontrollgruppe) untersucht wird. Ein solches Studiendesign scheint beim derzeitigen Stand der Forschung verfrüht (Pring 2000). Die Autorin ist der Ansicht, dass sorgfältig geplante und durchgeführte Einzelfallstudien und Patientenbeschreibungen einen wertvollen Beitrag zur Therapieforschung1 leisten. So ließen sich z.B. Tendenzen herauskristallisieren, welche Patienten am meisten (oder am wenigsten) von F.O.T.T. profitieren, und welche Auswirkungen in der Langzeitpflege zu beobachten sind. Die detaillierte Beschreibung von Patienten, ähnlich der Fallstudien von Gratz und Müller (2004), die als eine gute Vorlage dienen könnten, ist ein Einstieg für Therapeuten, die sich mit der wissenschaftlichen Arbeit auseinandersetzen möchten. Beschrieben werden sollten die Probleme im fazio-oralen Trakt und der Behandlungsverlauf verschiedenster Patienten (z.B. mit Schädel-HirnTrauma, nach Schlaganfall, Tumorpatienten und verschiedene Wachheitsgrade), speziell 4 Befundaufnahme, davon 4 abgeleitete Therapieziele und therapeutische Interventionen, 4 Zwischen- und Abschlussbefunde. Interessant wäre auch, Patienten mit ähnlichen Diagnosen zu beurteilen (Matching), die sich in Pflegeheimen mit wenig Therapie-Input aufhalten. Für beschreibende Fallstudien können das F.O.T.T. Assessment Profile und bildgebende Verfahren (z.B. Endoskopie) hinzugezogen werden. Im Folgenden soll ein mögliches Design für eine experimentelle F.O.T.T.-Einzelfall1 Im Rahmen der F.O.T.T.-Instruktorenausbildung erstellen die Kandidaten Einzelfallstudien, die bei den Treffen der S.I.G. F.O.T.T. International vorgestellt werden und deren Veröffentlichung geplant ist.
277 14.3 · Studiendesign für eine experimentelle F.O.T.T.-Einzelfallstudie
studie skizziert werden (Fuchs Ziegler 2000), das auf das
jeweilige klinische Umfeld abgestimmt werden muss.
14.3.1
Design
Es wird ein A-B-Design vorgeschlagen, in dem die Phasen von unterschiedlicher Länge sind (z.B. 3 Wochen2 in Phase A und 12 Wochen in Phase B). Eine erste Phase A ist wichtig, um eine Baseline zu etablieren, sollte jedoch nicht zu lange sein, um Sekundärproblemen (z.B. Zahnfleischentzündung) vorzubeugen (v.a. in der Frührehabilitation). In Phase A wird der Patient wie üblich behandelt (z.B. Physiotherapie, Mundpflege durch die Pflegekräfte), erhält jedoch keine spezifische Facio-Orale Trakt Therapie. Eine zweite Phase A (Nicht-Behandlungsphase) ist nicht sinnvoll, da der einmal gewonnene Effekt nicht rückgängig gemacht werden möchte. Es können aber weitere 7 Follow-up-Tests geplant werden (z.B. 3-mal im Abstand von 6 Wochen), falls die Behandlung nach Phase B abgeschlossen wird. Diese würden aufzeigen, ob sich die Funktion ohne Therapie verschlechtert hat oder erhalten geblieben ist, z.B. die Mundöffnung beim Zähneputzen.
14.3.3
rer Berufsgruppen), die sich bereit erklärt haben, zu Anfang und Ende des Projekts einen Fragebogen auszufüllen.
Ausarbeiten der Fragestellung
F.O.T.T.-Einzelfallstudien entwickeln sich aus den Erfahrungen in der Praxis heraus. Jeder F.O.T.T.-Therapeut erarbeitet sich die Fragestellung im jeweiligen therapeutischen Umfeld. Es sollten spezifische Fragestellungen untersucht werden, die im therapeutischen und pflegerischen Alltag wichtig sind (Fragestellungen, 7 Kap. 14.1.3). Das Projekt muss selbstverständlich von der Klinik und ggf. von einer Ethikkommission genehmigt werden, und die Finanzierung muss geklärt sein.
14.3.2
4 Ausgewählte Pflegekräfte (oder Therapeuten ande-
Studienteilnehmer
Studienteilnehmer sollten folgende Bedingungen erfüllen: 4 Patienten mit schweren Problemen im fazio-oralen Trakt aufgrund neurologischer Schädigungen. Sie sollten bisher nicht mit dem F.O.T.T.-Ansatz behandelt worden sein. 4 Zwei Therapeuten (A und B), die für die Zeitdauer des Projekts nicht ausgewechselt werden. 2 Der heutige Kostendruck erschwert das Etablieren der Baseline über mehrere Wochen. Die Dauer und Gestaltung von Phase A, ohne spezifische F.O.T.T., muss von Studie zu Studie neu überlegt werden.
14.3.4
Instrumente
Die Instrumente werden generell aufgrund der zu beantwortenden Fragen ausgewählt. Aufgeführt sind einige Beispiele, wobei die Liste keinesfalls vollständig ist: 4 F.O.T.T. Assessment Profile zur Befundung von Mundpflege, Schlucken von Speichel, Gesichtsbewegungen und Zungenbewegungen (spontan und elizitiert/7 fazilitiert). 4 Berliner Dysphagie Index (Seidl et al. 2002) zur Befundung der FEES (Fiberoptic Endoscopic Examination of Swallowing); Beurteilung des Schluckens von Speichel und Nahrung sowie der Schutzmechanismen. 4 Glasgow Coma Scale (GCS) (falls notwendig) zur Befundung der Wachheit und zur Kontrolle von funktionellen Verbesserungen aufgrund erhöhter Wachheit. 4 Patientenspezifische Messung, z.B. Absaughäufigkeit bei Kanülenpatienten oder abgesaugte Speichelmenge pro Therapieeinheit. Die patientenspezifische Messung wird aufgrund der Beobachtungen in Phase A festgelegt. 4 Fragebogen für die Pflegekräfte bzgl. ihrer Wahrnehmung der Schwierigkeiten (z.B. bei Mundpflege, Schlucken). Dieser Fragebogen kann sehr wenige Fragen umfassen und kann von einzelnen Teammitgliedern vervollständigt werden.
14.3.5
Datenerhebung
jPhase A: Etablieren der Baseline
4 Dreiwöchige Periode, in der der Patient keine spezifische Therapie des fazio-oralen Trakts erhält. 4 Zwei Therapeuten (A und B) befunden den Patienten sowohl in der 1. als auch in der 3. Woche, unabhängig voneinander. Die Befundungen sollten an aufeinanderfolgenden Tagen unter denselben Bedingungen stattfinden (z.B. Tageszeit, keine Therapie vorher). Die Befundungen werden während oder unmittelbar im Anschluss mit dem F.O.T.T. Assessment Profile beurteilt. Die Beurteilungen beider Therapeuten werden anschließend verglichen und Unterschiede von zwei und mehr Levels diskutiert, die Gründe dafür schriftlich festgehalten. Eine dieser Befundungen wird zudem auf Video dokumentiert. 4 GCS-Scores werden parallel zur Befundung erhoben. 4 Eine FEES-Untersuchung wird innerhalb der ersten 3 Wochen vorgenommen. Relevante Beobachtungen
14
278
4 4
4
4
Kapitel 14 · F.O.T.T. – Mythos oder messbar?
werden sofort schriftlich festgehalten (z.B. Schlucken von 20 ml angedicktem Saft mit anschließender Penetration ohne effektives Räuspern, ohne anschließendes Nachschlucken), damit sie in Nachuntersuchungen verglichen werden können. Mit dem Berliner Dysphagie Index können die Beobachtungen quantifiziert werden (Seidl et al. 2002). Eine patientenspezifische Messung wird aufgrund der Beobachtungen ausgewählt. Subjektive Informationen im Pflegeteam werden mittels eines Fragebogens erhoben. Schwierigkeiten bei der Mundpflege könnten z.B. mit einer Zahl ausgedrückt werden (z.B. Skala von 1 bis 10). Hilfreich sind auch beschreibende Angaben (z.B. Mundöffnung, Beißreaktion, Schlucken). Andere therapeutische Interventionen werden beschrieben und deren Häufigkeit festgehalten (z.B. Mobilisation von HWS und Kiefergelenk in der Physiotherapie; therapeutisches Zähneputzen). Medikamente, Veränderungen der Medikamente und andere wichtige Ereignisse (z.B. Epilepsie, Infektionen, Shunt-Anlage) müssen sorgfältig festgehalten werden.
jPhase B: Behandlungsphase
14
4 Der Patient wird für einen festgelegten Zeitraum (z.B. 12 Wochen) von Therapeut B behandelt. 4 Therapeut A und B beurteilen den Patienten monatlich mit dem F.O.T.T. Assessment Profile (insgesamt 3 Befundungen in 12 Wochen). Diese Beurteilungen sollten an den folgenden Tagen unter denselben Bedingungen vorgenommen werden (z.B. Uhrzeit, keine Therapie vorher, Ausgangsposition). 4 Die Anfangs- und Schlussbefundungen werden auf Video aufgezeichnet. 4 GCS-Scores werden parallel zu den Befundungen erhoben, solange notwendig. 4 Die patientenspezifische Messung wird in jeder Therapieeinheit erfasst (z.B. Häufigkeit des Absaugens). 4 Verlaufskontrolle von FEES/Berliner Dysphagie Index wird am Schluss der Behandlungphase (Woche 12) nochmals durchgeführt. 4 Subjektive Informationen des Pflegeteams werden mittels desselben Fragenbogens (dieselben Pflegenden) am Ende der Behandlungsphase nochmals erhoben. 4 Veränderungen (z.B. Medikamente) werden über den gesamten Zeitraum der Fallstudie sorgfältig festgehalten. > Beachte Bei klinisch signifikanten Veränderungen müssen Befundungen auch außerhalb des Zeitrahmens vorgenommen werden.
14.3.6
Datenanalyse
jF.O.T.T. Assessment Profile
Die mit dem F.O.T.T. Assessment Profile erhobenen Daten werden analysiert und mittels einer Graphik dargestellt. Skalen sollten individuell repräsentiert werden (d.h. 7 Graphiken) und die Datenpunkte beider Therapeuten enthalten. Somit sind unterschiedliche Bewertungen zwischen den Therapeuten ersichtlich. Treten Unterschiede von zwei und mehr Levels auf, sollten die Gründe dafür separat aufgeführt werden. Um herausfinden zu können, ob die Veränderungen im F.O.T.T. Assessment Profile mit einer Veränderung der Wachheit eines Patienten einhergehen, sollten die Durchschnittswerte jedes Monats mit dem monatlichen GCSScore verglichen werden. Dieser Vergleich wird wiederum in einer Graphik dargestelt. > Beachte Alle Graphiken sollten zuerst objektiv beschrieben und anschließend interpretiert werden.
jFiberoptische Endoskopische Examination of Swallowing (FEES) Die Untersuchungsergebnisse der FEES werden qualitativ analysiert. Die wichtigsten Beobachtungen jeder Untersu-
chung werden nach einheitlichen Kriterien beschrieben (z.B. Schlucken, Sensibilität) und die Erstbefundung (in der Baseline) mit der letzten Untersuchung verglichen. Falls möglich wird eine reliable Ordinalskala herangezogen (z.B. Seidl et al. 2002, Rosenbek et al. 1996). jPatientenspezifische Messung
Die Ergebnisse dieser Messungen werden entweder qualitativ beschrieben oder graphisch dargestellt. Wichtig ist, dass die Analyse dieser Daten bereits in der Planungsphase überdacht wird. jFragebögen
Die Fragebögen können ausgewertet werden 4 für jede Pflegekraft individuell: Die Angaben des Fragebogens von Phase A werden mit denen von Phase B verglichen. Widersprüchliche Angaben innerhalb desselben Fragebogens werden aufgezeigt (s. Beispiel unten), 4 für die Gruppe der Pflegekräfte: Die Angaben der Fragebogen von Phase A werden mit denen von Phase B verglichen.
279 Literatur
Beispiel In zwei unveröffentlichten Einzelfallstudien zum Thema Mundpflege beurteilten die Pflegekräfte mittels eines Fragebogens, wie schwierig sich die Mundpflege für den jeweiligen Patienten gestaltete. Es wurde zum einen danach gefragt, wie schwierig der Zugang zum Mund des Patienten sei, zum anderen, ob die Zahnaußenflächen, Zahninnenflächen und die Beißflächen geputzt werden konnten. Die Antwortmöglichkeiten zur ersten Frage waren: »Unmöglich«, »Sehr schwierig«, »Schwierig«, »Leicht«; bei der zweiten Frage: »Ja«, »Nein«, »Manchmal«. Bei der Auswertung der Fragebögen fiel auf, dass viele Pflegekräfte die erste Frage mit »Einfach« beantwortet hatten, die zweite Frage hingegen zeigte, dass nur vereinzelte Pflegekräfte alle Zahnflächen putzen konnten und auch dies nicht immer.
Daten, die in der Follow-up-Phase erhoben werden, werden zum entsprechenden Zeitpunkt der Datenanalyse beigefügt. . Übersicht 14.6 fasst die wichtigsten Informationen zur Gestaltung eines Forschungsdesigns zusammen.
. Übersicht 14.6. Zusammenfassung 4 Therapieforschung findet nicht im Labor statt und ist deshalb eine ganz spezielle Herausforderung an die Fachkräfte, die sich wissenschaftlich mit der Rehabilitation des fazio-oralen Trakts beschäftigen wollen. 4 Selbst einfach geplante Fallstudien sind ein wichtiger Beitrag im Prozess, um die Effizienz und Effektivität von F.O.T.T. darzustellen. 4 Therapeuten sollen ermutigt werden, ihre Therapie in systematischer Weise niederzuschreiben und ihre Erfahrungen mit dem F.O.T.T.-Konzept anderen Fachkräften zugänglich zu machen (z.B. in Form eines Artikels oder einer Fallvorstellung). 4 Mit dem F.O.T.T. Assessment Profile3 liegt ein Arbeitsinstrument vor, das sich dafür anbietet, kleine Veränderungen bei schwerstbeeinträchtigten Patienten zu quantifizieren.
3 Das F.O.T.T. Assessment Profile kann bei der Autorin gegen eine Schutzgebühr und Versandspesen bezogen werden.
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14
280
Kapitel 14 · F.O.T.T. – Mythos oder messbar?
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14
15
Pilotstudie zu F.O.T.T. bei neurologischen Patienten Rainer O. Seidl, Wibke Hollweg, Ricki Nusser-Müller-Busch
15.1
Methode
15.1.1 15.1.2 15.1.3
Beobachtungszeiträume – 282 Therapie- und Untersuchungsablauf am Behandlungstag Untersuchungsverfahren – 283
15.2
Ergebnisse
15.2.1 15.2.2
Verlauf über den Behandlungszeitraum Verlauf am Behandlungstag – 285
15.3
Diskussion
15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4
Patienten – 287 Zielparameter – 287 Verlauf über den Behandlungszeitraum Verlauf am Behandlungstag – 288
Literatur
– 282
– 284 – 284
– 286
– 289
– 288
– 282
282
Kapitel 15 · Pilotstudie zu F.O.T.T. bei neurologischen Patienten
Ziel der Pilotstudie war es, in einer prospektiven, randomisierten Untersuchung den Stellenwert der Therapie des Facio-Oralen Trakts im klinischen Alltag zu prüfen. Das Therapieergebnis sollte während der Therapie anhand einer Vergleichsgruppe geprüft werden. Die Autoren danken dem SAGE Verlag für die Genehmigung, die Originalarbeit von Seidl R.O., Nusser-Müller-Busch R., Hollweg W., Westhofen M: Pilot study on a neurophysiological dysphagia therapy for neurological patients. Clinical Rehabilitation 2007; Vol 21, Nr 8; 686-697 Sage Publication, hier veröffentlichen zu dürfen.
15.1
Methode
Untersucht wurden 10 Patienten mit einer neurogenen Schluckstörung nach Hirnblutungen oder Schädel-HirnTraumen. Einschlusskriterien für die Studie waren: 4 Frühreha-Barthel-Index (FBI)<-150, 4 Schluckfrequenz pro 5 Minuten kleiner als eins, 4 Tracheotomie und geblockte Trachealkanüle zur Verhinderung einer Aspiration bei einer neurogenen Schluckstörung. Ausschlusskriterium für die Studie war ein hypoxischer Hirnschaden. Da die Aufnahme in die Studie möglichst früh nach Krankheitsbeginn stattfinden sollte, befanden sich zum Ausgangspunkt der Therapie alle Patienten im intensivmedizinischen Überwachungszustand. Die Therapie begann nach vollständigem Absetzen der Sedierung und Beatmung.
15.1.1
15
Beobachtungszeiträume
Es wurden drei Beobachtungszeiträume untersucht: 4 Verlauf über den gesamten Behandlungszeitraum, 4 Verlauf am Behandlungstag: 5 während der Therapie, 5 nach Abschluss der Therapie. jVerlauf über den Behandlungszeitraum
Um den Therapieverlauf der Patienten über den gesamten Behandlungszeitraum (3 Wochen = 15 Behandlungstage) zu evaluieren, erfolgte nach Aufnahme des Patienten als Eingangsuntersuchung
4 eine fiberoptisch-endoskopische Schluckuntersuchung, 4 die Registrierung des Allgemeinzustandes durch den Frühreha-Barthel-Index (FBI) und 4 die Koma-Remissions-Skala (KRS) durch zwei unabhängige Neurologen.
jVerlauf am Behandlungstag Während der Therapie. Um den direkten Einfluss der
Therapiemaßnahmen auf den Patienten zu untersuchen, erfolgte die Erhebung der Parameter 4 Schluckfrequenz, 4 Wachheit, 4 Kanülenstatus und 4 Lagerung an den einzelnen Behandlungstagen vor, während und nach Ende der Therapie. Nach Abschluss der Therapie. Um den posttherapeutischen Verlauf der Patienten nach Ende der Therapie zu überwachen, wurden die während der Therapie erhobenen Parameter Schluckfrequenz, Wachheit, Kanülenstatus und Lagerung im Abstand von 30 Minuten für einen Zeitraum von 120 Minuten nach Beendigung der Therapie erfasst.
15.1.2
Therapie- und Untersuchungsablauf am Behandlungstag
Die Therapie wurde für weitere Auswertungen mit einer Kamera aufgezeichnet und erfolgte durch zwei Therapeuten. jVor Beginn der Therapie
Vor Beginn jeder Manipulation am Patienten fand eine erste Registrierung der Schluckfrequenz über 5 Minuten statt. Der Kanülenstatus, die Lagerung und die Wachheit der Patienten wurden dokumentiert. jIm Rahmen der Therapie
4 Anschließend wurde der Patient in eine möglichst physiologische Ausgangstellung gebracht. 4 Die Trachealkanüle wurde kontrolliert und bei Bedarf fand eine Reinigung der Trachea durch Absaugen statt. 4 Das Trachealkanülen-Management umfasste täglich, je nach Patient und vorliegendem Kanülenstatus, 5 das Entblocken der Kanüle, 5 den danach folgenden intermittierenden Verschluss der Kanüle, 5 die entsprechende Versorgung mit einem Sprechventil bis zur Entfernung der Kanüle und/oder 5 Ersetzen der geblockten Kanüle durch eine geschlossene Sprechkanüle.
Die Untersuchungen wurden wöchentlich und nach Abschluss der Therapie wiederholt. R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
283 15.1 · Methode
jZu Ende der Therapie
4 Zu Ende der Therapie wurden dokumentiert: 5 die Schluckfrequenz, 5 der in der Therapie hergestellte Kanülenstatus, 5 die Lagerung und 5 die Wachheit des Patienten. 4 Anschließend wurde die Trachealkanüle je nach Kanülenstatus wieder in ihren früheren Status zurückgeführt und der Patient in die Abschlusslagerung gebracht, in der erneut die Daten erhoben wurden. 4 Die Parameter Schluckfrequenz, Wachheit, Lagerung und Trachealkanülenstatus wurden für weitere 2 Stunden alle 30 Minuten kontrolliert (30, 60, 90, 120 Minuten nach Ende der Therapie).
15.1.3
erfolgte durch zwei von der Therapie unabhängige Untersucher. jKanülenstatus
Zur Dokumentation des Kanülenstatus durch den Therapeuten wurde eine Skala entwickelt, die der Abfolge des nach dem Konzept der F.O.T.T. durchgeführten Kanülenmanagements entspricht. Der Kanülenstatus wurde zu Beginn der Behandlung geändert und nach der Behandlung wieder in den ursprünglichen Zustand zurückgeführt oder beibehalten. jLagerung
Die Lagerung der Patienten erfolgte nach dem Konzept der F.O.T.T. und wurde mit einer eigenen Skala durch den Therapeuten registriert (. Tab. 15.1).
Untersuchungsverfahren jAspirationsgrad
jSchluckfrequenz
Als nicht-invasives Untersuchungsverfahren zur Quantifizierung des Schluckens während der Therapie wurde die Schluckfrequenz gewählt. Da keine sicheren technischen Verfahren zur Registrierung der Schluckfrequenz vorliegen, wurde die Frequenz visuell anhand der Kehlkopfhebung erfasst. Die Auszählung erfolgte durch zwei von der Therapie unabhängige Therapeutinnen. jWachheit
Zur Dokumentation der Wachheit wurde eine verändert Form der Wachheitsskala der Koma-RemissionsSkala mit 5 Abstufungen genutzt. Da der wiederholte Einsatz von Schmerzreizen tonuserhöhend wirken kann, wurde auf diese Untersuchung verzichtet. Die Bewertung
Die Dokumentation des Aspirationsgrads und des Schluckerfolgs erfolgte durch die transnasale fiberoptisch-endoskopische Untersuchung (Olympus Winter-Ibe, ENFP4 ∅ 3,4 mm, rp-Szene, Rehder Medizintechnik, Hamburg). Die Dokumentation der endoskopischen Untersuchung erfolgte mit einem eigenen Untersuchungsbogen für die endoskopische Untersuchung, der für die Studie evaluiert wurde (Seidl et al. 2002). Die endoskopische Untersuchung wurde zu Beginn und Ende der Studie durch einen nicht an der Therapie beteiligten Hals-Nasen-Ohrenarzt durchgeführt. jAllgemeinstatus
Die Dokumentation des Allgemeinstatus der Patienten erfolgte durch den Frühreha-Barthel-Index (FBI, -175–0) und die Koma-Remissions-Skala (KRS, 0–20). Die Bewer-
. Tab. 15.1. Skalen für Lagerung, Kanülenstatus und Wachheit Lagerung
Kanülenstatus
Wachheit
1 Seitenlage rechts
1 Geblockte Kanüle
1 Keine
2 Seitenlage links
2 Ungeblockte Kanüle
2 Augenöffnen spontan
3 Langsitz im Bett
3 Ungeblockte Kanüle mit Sprechaufsatz
3 Hinwendung zum Reiz
4 Sitz an der Bettkante mit Unterstützung
4 Sprechkanüle
4 Verweilen am Reiz >5 Sekunden
5 Angelehnter Sitz auf Therapiebank
5 Sprechkanüle mit Verschluss
5 Aufmerksamkeit für 1 Minute oder länger
6 Sitz im Rollstuhl
6 Ohne Kanüle
7 Rückenlage 8 Angelehnter Langsitz 9 Sitz im Rollstuhl mit Unterstützung 10 Bauchlage
15
284
Kapitel 15 · Pilotstudie zu F.O.T.T. bei neurologischen Patienten
. Tab. 15.2. Daten der Patienten der Therapiestudie Kriterien
Daten
Geschlecht
6, 4
Alter
39,7±20,5 Jahre
Zeitpunkt Tracheotomie nach Ereignis
10,22±4,41 Tage
Behandlungsbeginn nach Ereignis
42,78 (12–177) Tage
Verschluss Tracheotomie
32,22±14,96 Tage
tung erfolgte durch zwei von der Therapie unabhängige Neurologen.
15.2
. Abb. 15.1. Verlauf Schluckfrequenz vor Therapie
Ergebnisse
Untersucht wurden 10 Patienten ( 6, 4) mit einem Durchschnittsalter von 39,17 (±20,5) Jahren zum Zeitpunkt der Erkrankung. Ursachen der Erkrankungen waren Hirnblutungen (5), Hirninfarkte (3) und SchädelHirn-Traumata (2). Die Tracheotomie erfolgte 10,22 (±4,41) Tage, der Behandlungsbeginn 42,78 (12–177) Tage nach dem Krankheitsbeginn. Bei allen Patienten konnte das Tracheostoma nach Abschluss der Therapie verschlossen werden, im Durchschnitt 32,22 (±14,96, 17–58) Tage nach Behandlungsbeginn (. Tab. 15.1). . Abb. 15.2. Verlauf Wachheit vor Therapie
15.2.1
15
Verlauf über den Behandlungszeitraum
samten Behandlungsverlauf war statistisch relevant (Wilcoxon [p<0,05] p=0,043) (. Abb. 15.1).
Untersucht wurde über einen Zeitraum von 3 Wochen, dies entsprach 15 Behandlungstagen. An den Wochenenden (Samstag und Sonntag) wurde die Therapie ausgesetzt. jSchluckfrequenz
Die Schluckfrequenz vor Beginn der Therapie betrug am 1. Tag im Mittel 0,44 (±1,0) und am letzten Tag 2,33 (±1,73). Ab dem 11. Therapietag war die Schluckfrequenz im Mittel auf mehr als 2 Schlucke pro 5 Minuten angestiegen. Die Steigerung der Schluckfrequenz über den ge-
jWachheit
Die Wachheit, gemessen in einer 5-stufigen Skala (. Tab. 15.1) vor Beginn der Therapie betrug am ersten Tag 1,67 (±1,32) und am letzten Tag der Therapie 2,56 (±1,32). Die Steigerung der Wachheit über den gesamten Behandlungsverlauf war statistisch relevant (Wilcoxon [p<0,05] p=0,067) (. Abb. 15.2). Der Frühreha-Barthel-Index ist eine Modifizierung des Barthel-Index, um ihn im Bereich der Rehabilitation
. Tab. 15.3. Verlauf Frühreha-Barthel-Index und Koma-Remissions-Skala Beginn
1. Woche
2. Woche
Ende
FBI
-175,00±0,00
-175,00±0,00
-154,17±33,23
-124,44±73,33
KRS
9,44±6,64
11,17±7,63
16,83±7,36
18,89±6,47
285 15.2 · Ergebnisse
. Tab. 15.4. Verlauf endoskopische Schluckuntersuchung Beginn
Kontrolle
Ende
Anatomie
5,29±1,50
2,67±2,31
2,86±1,95
Schluckvermögen
33,57±5,50
22,67±6,11
8,57±9,16
Schutz der Atemwege
11,86±3,08
6,00±2,00
2,57±2,44
für schwer hirngeschädigte Patienten einsetzen zu können. Eine statistisch relevante Änderung des FrührehaBarthel-Index konnte über den gesamten Zeitraum der Therapie beobachtet werden (Wilcoxon [p<0,05] p=0,02) (. Tab. 15.1). Die Koma-Remissions-Skala erlaubt eine Einschätzung der Bewusstseinslage von Patienten mit protrahierter Komaremission durch differenzierte Stimulationen und Verhaltenbeobachtung. Während der Therapie kam es über den Studienzeitraum zu einem statistisch signifikanten Anstieg der Skalenwerte (n=10, Wilcoxon p<0,05, p=0,004, farblich hervorgehoben)) (. Tab. 15.1). Dargestellt sind die Mittelwerte der Skalen vor Beginn der Therapie, nach Ende der 1. und 2. Woche sowie nach Abschluss der Therapie. jSchluckvermögen
Zur Prüfung des Schluckvermögens wurden endoskopische Schluckuntersuchungen durchgeführt. Die über dem Verlauf der Therapie registrierten Änderungen des Schluckvermögens und des Schutzes der unteren Atemwege waren statistisch signifikant (. Tab. 15.1). Dargestellt sind die Ergebnisse der endoskopischen Untersuchung mit dem Berliner Dysphagie Index, BDI (Seidl et al. 2002). Es zeigt sich eine statistisch relevante Änderung der Untersuchungswerte (n=10, Wilcoxon [p<0,05], farblich hervorgehoben).
15.2.2
rapie kam es zu einer Änderung der Schluckfrequenz, die statistisch nicht signifikant war (Wilcoxon [p<0,05] p=0,198) (. Abb. 15.3). Nach Abschluss der Therapie. Zwischen dem Ende der Therapie und der Lagerung des Patienten kam es zu einem signifikanten Abfall der Schluckfrequenz (Wilcoxon [p<0,05] p=0,008). Die Schluckfrequenz stieg im weiteren Verlauf langsam wieder an und erreichte 90 Minuten nach der Umlagerung wieder die Ausgangswerte von vor Beginn der Therapie (. Abb. 15.3). jWachheit Während der Therapie. Untersucht wurde die Änderung
der Wachheit während der Therapie. Die Wachheit stieg zwischen Beginn und Ende der Therapie statistisch relevant an (Wilcoxon [p<0,05] p=06,35×10–8) (. Abb. 15.4). Nach Abschluss der Therapie. Nach Abschluss der Therapie und Umlagerung des Patienten kam es vorerst zu einer statistisch relevanten Minderung der Wachheit (Wilcoxon [p<0,05] p=6,48×10–7). Die Wachheit stieg jedoch in den nächsten 90 Minuten wieder auf das Ausgangsniveau von vor der Therapie an (. Abb. 15.4). jTest
Um zu prüfen, ob die Änderungen der Schluckfrequenz auf eine Änderung der Wachheit zurückzuführen war,
Verlauf am Behandlungstag
Es wurden die Parameter Schluckfrequenz, Wachheit, Trachealkanülenstatus und Lagerung erfasst. Eine Aussage über die Wirkung der Therapie sollten die Schluckfrequenz und die Wachheit geben. Durch diese Untersuchungen sollte die direkte Wirkung der Behandlung am Patienten während der Therapie geprüft und evaluiert werden. jSchluckfrequenz Während der Therapie. Die Schluckfrequenz wurde als
Parameter für die direkte Folge der Schlucktherapie beim Patienten gewählt. Ausgewertet wurde die Frequenz zwischen Beginn und Ende der Therapie. Während der The-
. Abb. 15.3. Verlauf Schluckfrequenz am Behandlungstag
15
286
Kapitel 15 · Pilotstudie zu F.O.T.T. bei neurologischen Patienten
. Abb. 15.4. Verlauf Wachheit am Behandlungstag
wurde die Korrelation zwischen den erhobenen Parametern Lagerung, Kanülenstatus, Wachheit und Schluckfrequenz an den einzelnen Messpunkten geprüft: 4 Eine schwache Korrelation fand sich zwischen Trachealkanülenstatus und Schluckfrequenz vor Beginn der Therapie (Spearmann-Rangkorrelationskoeffizient [<=0,5, p<=0,05] 0,55) und 120 Minuten nach Ende der Therapie (Spearmann-Rangkorrelationskoeffizient [<=0,5, p<=0,05] 0,53). 4 Eine statistisch relevante Korrelation zwischen Wachheit und Schluckfrequenz fand sich bei keinem der untersuchten Messpunkte.
15.3
15
Diskussion
Als Goldstandard bei der Überprüfung von therapeutischen Verfahren gelten randomisierte, verblindete Vergleichsstudien, die multizentrisch durchgeführt werden. Dabei werden die Ergebnisse einer Therapie an gleichen Gruppen mit bekannten Therapieverfahren oder im Vergleich zu einem Spontanverlauf der Erkrankung geprüft. Diesen Anforderungen entsprach in der Dysphagietherapie zum Zeitpunkt der Untersuchung nur eine Studie über den Stellenwert einer chirurgischen Therapie bei Schluckstörungen nach Operationen im Kopf-Hals-Bereich (Jacobs et al. 1999). Während zur Therapie von Schluckstörungen nach Operationen im Kopf-Hals-Bereich bereits Studien durchgeführt wurden (Logemann 2006), liegen zur Therapie von neurologischen Schluckstörungen nur wenige, unvollständige Untersuchungen vor (Bath et al. 2002). Die Prüfung von komplexen neurophysiologischen Therapiekonzepten im Rahmen von wissenschaftlichen Studien bereitet Probleme: 4 Zum einen handelt es sich bei den Therapieverfahren (Bobath, F.O.T.T.) um Therapiekonzepte, die keine klaren Handlungsanweisungen, z.B. Übungen, an die
Therapeuten geben. Sie geben lediglich Prinzipien zur Befunderhebung und Behandlung von Störungen vor. Innerhalb dieses Rahmens werden individuelle Therapiemaßnahmen eingeleitet. Damit ist das therapeutische Prinzip in Teilen an die Kompetenz und Entscheidung der Therapeuten gebunden, was eine Reproduzierbarkeit der Therapiemaßnahmen erschwert. 4 Zum anderen ist die Bestimmung von einzelnen Therapiezielen im Rahmen einer Studie bei komplexen Krankheitsursachen und Therapiestrategien diffizil. Komplexe Therapiestrategien lassen sich nur mit erheblichen Einschränkungen auf einzelne Therapieziele reduzieren. In der hier vorgestellten Studie bereitet es Schwierigkeiten, das Ergebnis der Dysphagietherapie von den weiteren Therapieeffekten, die mit den allgemeinen Skalen gemessen wurden, zu differenzieren. Ursache für die Überschneidung in den gemessenen Therapieeffekten ist auch die Auswahl der Messparameter und Messverfahren. Diese Auswahl musste den Grunderkrankungen der Patienten und den Anforderungen der Ethikkommission angepasst werden, so dass keine anderen Verfahren für diese Studie zur Verfügung standen. Durch die geschilderten Schwierigkeiten besteht die Gefahr, dass die komplexen Therapieansätze in ein wissenschaftliches Abseits geraten, da diese Therapie den Anforderungen an eine Prüfung in einer evidenzbasierten Medizin nicht standhält. Es wurden bereits verschiedene Untersuchungen zu neurophysiologischen Therapieverfahren (z.B. Bobath-Therapie) vorgelegt, die aus den beschriebenen Gründen sehr kontrovers diskutiert wurden (Langhammer u. Stanghelle 2003, Panturin 2001). jStudiendesign
Die zuständige Ethikkommission lehnte bei der Planung der vorgestellten Studie den Antrag auf eine randomisierte, prospektive Studie mit einer Gruppe ohne Therapie mit der Begründung ab, dass Patienten, die nicht einwilligungsfähig sind, nicht an einer Studie teilnehmen dürfen, in der sie nicht einen deutlichen Vorteil durch die Teilnahme an der Studie haben. Diese Aussage erstreckt sich nicht nur auf eine Gruppe, die keine Therapie erhält, sondern auch auf eine weitere Patientengruppe, die aufgrund von z.B. personellen oder finanziellen Engpässen in einer anderen Klinik keine Therapie erhält. Die Einschränkung der Ethikkommission macht die Überprüfung einer Therapie mit einer Kontrollgruppe bei Patienten mit ausgeprägten neurologischen Erkrankungen nach evidenzbasierten Grundlagen unmöglich. Der Vergleich mit einer bereits etablierten Therapie ist nicht möglich, da für Patienten mit diesem Schweregrad der neurologischen Erkrankung mit einer Schluckstörung
287 15.3 · Diskussion
kein standardisiertes Therapieverfahren eingeführt ist. Die bekannten Therapieverfahren setzen eine kognitive Mitarbeit und eine Kopf- und Rumpfkontrolle der Patienten voraus. Eine Änderung der zu untersuchenden Patientenpopulation für die Studie ist nicht möglich, da das zu untersuchende Therapieverfahren auf die geplante Patientengruppe zugeschnitten ist. In der Literatur wurde ein A-B-A-Studiendesign für eine Therapieüberprüfung bei Schluckstörungen vorgeschlagen. Bei diesem Design wird eine Patientengruppe eine Zeit behandelt (A) und in direkter Folge eine Zeit lang nicht behandelt (B). Verglichen werden die Parameter am Ende der Perioden A und B. Dieses Studiendesign setzt voraus, dass die Therapie (z.B. eine Übungstherapie) direkt für die Änderung eines Messparameters (z.B. das Schlucken) verantwortlich ist. Dieses Design wurde bereits für die Überprüfung von Schluckmanövern in der Dysphagietherapie von Kopf-Hals-Tumoren genutzt (Logemann 2006). Das zugrunde liegende Schädigungsmuster bei neurogenen Schluckstörungen macht einen anderen Therapieansatz notwendig. Rehabilitation bei neurogenen Erkrankungen ist nicht nur mit einer Übungsbehandlung zu erreichen, sondern macht ein Therapiekonzept notwendig, das zu zentralen Änderungen führt. Eine Unterbrechung der Therapie würde in einem solchen Fall zu keiner schnellen Änderung der Messergebnisses führen, sondern nur die Qualität des Endergebnisses ändern (Muellbacher et al. 2001). In dieser Studie zeigte sich, dass es durch die Unterbrechung der Therapie an 2 Tagen am Wochenende zu keiner signifikanten Änderung der Parameter Wachheit und der Schluckfrequenz kam. Dies kann zum Einen als Indiz für die oben formulierte These angesehen werden und bedeutet für den klinischen Alltag, dass eine Unterbrechung der Therapie am Wochenende ohne Folgen für den Patienten bleibt. Für eine endgültige Beurteilung fehlt aber eine Kontrollgruppe, so dass eine fehlende Änderung der Messparameter durch ein Aussetzen der Therapie am Wochenende auch bedeuten kann, dass mit und ohne Therapie das Ergebnis unverändert bleibt.
15.3.1
Patienten
In den bisher vorliegenden Studien zu neurologischen Schluckstörungen (Neumann 1993, Neumann 1995, Bartolome u. Neumann 1993, Prosiegel 2002) wurden sehr uneinheitliche Patientenpopulationen untersucht. So wurden akute und chronische Erkrankungen mit unterschiedlichen Krankheitsursachen und Schweregraden gemischt. In der vorgestellten Studie wurde erstmals eine Patientengruppe mit einem sehr schweren neurologischen
Krankheitsbild untersucht. Als Einschlusskriterium in die Studie wurde eine Skala (Frühreha-Barthel-Index) gewählt, die in Deutschland in den Rehabilitationskliniken für die Dokumentation des Behandlungsverlaufs vorgeschrieben wird. Um zu prüfen, ob das Therapiekonzept überhaupt eine Wirkung zeigt, wurden für die erste Studie Patienten mit einem hypoxischen Hirnschaden aus der Studie ausgeschlossen, da bei diesen Patienten die Prognose für eine Rehabilitation deutlich schlechter ist (Neumann et al. 1995). Der Therapiebeginn nach dem Schadensereignis war in dieser Studie nicht einheitlich. Komplikationen auf der Intensivstation durch Begleiterkrankungen infolge der Hirnerkrankungen verhinderten einen früheren Beginn der Therapie. In der Studie wurde als Startpunkt der Therapie das Ende der intensivmedizinischen Interventionen und damit das Ende der therapeutischen Sofortmaßnahmen im Rahmen der Grunderkrankung gewählt. Die Sedierung der Patienten musste beendet sein, so dass eine medikamentöse Beeinflussung der Wahrnehmung und Motorik nicht mehr vorlag.
15.3.2
Zielparameter
jAspiration
Die Aspiration stellt ein häufiges Outcome-Kriterium bei Therapiestudien dar (Bartolome, Neumann 1993, Freed 2001). Bartolome und Neumann (1993) konnten bei 65% von 28 untersuchten Patienten mit verzögerter Öffnung des krikopharyngealen Sphinkters nach Therapie mit kausalen und kompensatorischen Therapieverfahren eine Abnahme der Aspiration beschreiben. Neumann (1993) konnte bei 58 Patienten mit unterschiedlicher neurologischer Grunderkrankung keine Korrelationen zwischen dem Ausmaß der Aspiration und dem Ernährungsstatus finden, wohingegen Prosiegel (2002) den Aspirationsgrad als einen von vier aussagekräftigen Outcome-Prädiktoren für den Ernährungsstatus angibt. jSchluckablauf
In den genannten Studien wurde keine differenzierten Angaben über die genaue Änderung des Schluckablaufs gemacht. Die Untersuchungsmethode zur Erfassung des Aspirationsgrads war in den Untersuchungen die Videofluoroskopie. Dieses Untersuchungsverfahren stand hier nicht zur Verfügung, da es die aktive Teilnahme der Patienten erfordert. In der vorliegenden Studie konnten im Rahmen der endoskopischen Schluckuntersuchung anhand eines standardisierten Untersuchungsprotokolls statistisch signifikante Änderungen beobachtet werden.
15
288
Kapitel 15 · Pilotstudie zu F.O.T.T. bei neurologischen Patienten
jKanülenstatus
Der Kanülenstatus als Parameter zur Überprüfung des Behandlungserfolgs bei neurogenen Dysphagien wurde bisher selten beschrieben. Prosiegel (2002) führt als Outcome-Kriterium neben dem Ernährungsstatus auch die Dekanülierung auf. In einer Studie mit 208 Patienten, von denen 55 zu Beginn der Studie auf eine Trachealkanüle angewiesen waren, konnte bei 24 Patienten eine Dekanülierung erfolgen. In dieser Studie hat sich der Kanülenstatus bei allen Patienten über den Studienverlauf verändert. Bei anfangs geblockten Kanülen konnten alle Patienten im Behandlungsverlauf auf eine Sprechkanüle umgestellt werden. Bei allen Patienten konnte das Tracheostoma nach Ende der Studie, im Durchschnitt 32,22 Tage nach Therapiebeginn verschlossen werden. jErnährungsstatus
In vielen Studien zur Dysphagietherapie wird der Ernährungsstatus als Erfolgsparameter für die Änderung einer Schluckstörung herangezogen (Neumann et al. 1995). Als Kriterien werden Unterscheidungen wie »Ernährung über Sonde« und »orale Ernährung« herangezogen. Prosiegel (2002) verwendet zur Beurteilung des Ernährungsstatus vor und nach der Schlucktherapie eine ordinale Variable «Schluckbeeinträchtigung«, die von den Patienten angegeben wird. In der vorliegenden Studie wurden alle Patienten über den Studienverlauf über eine PEG ernährt. Der Parameter Ernährungsstatus ist wegen der Schwere der Grunderkrankungen der Patienten nicht aussagekräftig.
15.3.3
Verlauf über den Behandlungszeitraum
Über den gesamten Behandlungsverlauf kam es zu einer signifikanten Steigerung der Wachheit der Patienten, was sich in der Koma-Remissions-Skala und dem FrührehaBarthel-Index zeigte. Bereits 3 Tage nach Beginn der Therapie hatte sich die Wachheit deutlich gesteigert und blieb über den Behandlungszeitraum auf einem hohen Niveau. Zusätzlich kam es über den gesamten Zeitraum zu einer nicht signifikanten Steigerung der Schluckfrequenz. Um auszuschließen, dass die Änderung der Wachheit Ursache für die Änderung der Schluckfrequenz ist, wurde die Korrelation zwischen den gemessen Parametern ermittelt. Dabei zeigte sich, dass die Änderung der Schluckfrequenz unabhängig von der Wachheit war. Diese Aussage muss allerdings eingeschränkt werden, da die eigenen Untersuchungen gezeigt haben, dass die Schluckfrequenz ein zu ungenaues Messinstrument ist und Änderungen nur sehr grob erfasst. Es erscheint naheliegend, dass eine Änderung der Wachheit eine Änderung der Wahrnehmung und damit des Schluckens zur Folge haben kann. Hier sind weitere Untersuchungen mit differenzierteren Untersuchungs- und Messmethoden notwendig, um die Zusammenhänge weiter zu klären.
15.3.4
Verlauf am Behandlungstag
jWährend der Therapie jAllgemeinzustand
15
Eine Skala zur Erhebung des Allgemeinzustandes der Patienten wurde in der Studie von Prosiegel (2002) erhoben. Der Barthel-Index war in dieser Untersuchung einer der aussagekräftigsten Outcome-Prädiktoren für die genannte Zielvariable »Schluckbeeinträchtigung«. Neumann (1993) untersuchte u.a. einen möglichen Zusammenhang von kognitivem Status (Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Problemlöseverhalten) und Behandlungserfolg und konnte keinen Zusammenhang finden. Barer (1989) fand einen engen Zusammenhang zwischen Bewusstseinszustand und Schluckbeeinträchtigung bei 105 Patienten mit Dysphagie nach Schlaganfall. Patienten mit schweren Bewusstseinsstörungen, die über eine Sonde ernährt werden mussten, waren allerdings von der Studie ausgeschlossen. In dieser Studie besserte sich der Allgemeinzustand, gemessen mit dem Frühreha-Barthel-Index und der Koma-RemissionsSkala, signifikant zwischen dem ersten und letzten Behandlungstag.
An den einzelnen Behandlungstagen kam es während der Therapie zu einer statistisch relevanten Steigerung der Wachheit. Dabei korrelierte diese Änderungen nicht mit einer Änderung der Schluckfrequenz, der Lagerung oder dem Trachealkanülenstatus. Eine signifikante Änderung der Schluckfrequenz an den einzelnen Behandlungstagen durch die Therapie konnte nicht gesehen werden. Über den gesamten Untersuchungszeitraum kam es in den endoskopischen Untersuchungen zu einer statistisch signifikanten Besserung des Schluckvermögens und des Schutzes der Atemwege. Es kann anhand der Änderung der Schluckfrequenz
vermutet werden, dass die Therapie Einfluss auf das Schlucken hat. Diese Änderung erfolgt wahrscheinlich unterschwelliger und war nicht mit einer Änderung der Schluckfrequenz am Therapietag zu messen. Für die weitere Klärung der Prozesse, die entscheidend ist für das Verständnis der Rehabilitationsprozesse, sind weitere Untersuchungen mit anderen Messverfahren und Parametern notwendig. Zusammenfassend fanden sich positive Änderungen der Messparameter durch die Therapie bei den Patienten. Diese Änderungen konnten über den gesamten Untersuchungsverlauf signifikant nachgewiesen werden. Ob das
289 Literatur
Ergebnis der Therapiebemühungen nach 3 Wochen allerdings über dem Ergebnis eines Spontanverlaufs liegt, kann nicht bewiesen werden. Geht man von der Hypothese aus, dass ein neurologischer Rehabilitationsprozess eine kontinuierliche Lernleistung ist, kann aus den täglichen Änderungen während der Therapie ein positiver Einfluss der Therapie auf den gesamten Krankheitsverlauf vermutet werden. jNach Abschluss der Therapie
Durch die Aufzeichnungen der Parameter nach Ende der Therapie in Intervallen von 30 Minuten für weitere 120 Minuten sollte der posttherapeutische Verlauf der Messparameter bei den Patienten geprüft werden. Unter der Lupe Hypothese: Abnahme der Messparameter nach erfolgreicher Therapie Verschiedene Untersuchungen mit einer elektrischen Stimulation des Pharynx hatten bei gesunden Probanden und Patienten mit einem Schlaganfall in der repetitiven transkraniellen Magnetstimulation eine Ausdehnung des motorischen Schluckkortex gezeigt. Nach Ende der elektrischen Stimulationen fand sich in den nächsten 90 Minuten eine Abnahme der Ausdehnung der durch die elektrische Stimulation vergrößerten motorischen Areale (Hamdy et al. 1998a, 1998b; Fraser et al. 2002). Ausgehend von diesen Untersuchungsergebnissen wurde die Hypothese formuliert, dass es nach Ende einer erfolgreichen Therapie zu einer Abnahme der Messparameter kommt.
In der vorliegenden Untersuchung konnte die Hypothese nicht bestätigt werden. Es kam unmittelbar nach dem Ende der Therapie zu einem signifikanten Abfall von Wachheit und Schluckfrequenz unter das Niveau der Ausgangswerte von vor Beginn der Therapie (. Abb. 15.2, 15.4). Die Schwere der Grunderkrankung legt nahe, dass die Patienten durch eine intensive körperliche Therapie maximal belastet wurden. Dies zeigte sich in der sofortigen Erschöpfung nach Ende der Therapie. Diesem bisher nicht beschriebenen Ergebnis muss man in Zukunft vermehrt Aufmerksamkeit schenken. Geht man davon aus, dass Neurorehabilitation ein Lernprozess ist, so sind Lernpausen für den Rehabilitationserfolg von entscheidender Bedeutung (Muellbacher et al. 2001). Wann diese Pausen erfolgen müssen, und welche Dauer sie haben müssen, ist bisher nicht bekannt. Ruhepausen sind demnach in die Planung von Therapien in Rehabilitationseinrichtungen in Zukunft einzubeziehen. Ob dies in einer Zeit der knapper werdenden Ressourcen möglich sein wird, ist fraglich.
Literatur Barer DH (1989) The natural history and functional consequences of dysphagia after hemispheric stroke. J Neurol Neurosurg Psychiatry 51:236-241 Bartolome G, Neumann S (1993) Swallowing Therapy in Patients with neurological disorders causing cricopharyngeal dysfunction Dysphagia 8:146-149 Bath PMW, Bath FJ, Smithard DG (2002) Interventions for dysphagia in acute stroke (Cochrane Review) The Cochrane Libary, Issue 4: Update Software, Oxford Fraser C, Power M, Hamdy S, Rothwell J, Hobday D, Hollander I, Tyrell P, Hobson A, Williams S, Thompson D (2002) Driving Plasticity in Human Adult Motor Cortex is Associated with Improved Motor Function after Brain Injury. Neuron 34:831-840 Freed ML, Freed L, Chatburn RL, Christian M (2001) Electrical Stimulation for Swallowing Disorders Caused by Stroke. Respiratory Care 46:466-474 Hamdy S, Aziz Q, Rothwell JC, Power M, Singh KD, Nicholson DA, Tallis RC, Thompson DG (1998a) Recovery of Swallowing after stroke relates to functional reorganisation in the intact motor cortex Gastroenterology 115:1104-1112 Hamdy S, Rothwell JC, Aziz Q, Singh K, Thompson DG (1998b) Longterm reorganization of human motor cortex driven by short-term sensory stimulation. Nature Neuroscience 1:64-68 Jacobs JR, Logemann J, Pajak TF, Pauloski BR, Collins S, Casiano RR, Schuller DE (1999) Failure of cricopharyngeal myotomy to improve dysphagia following head and neck cancer surgery. Arch Otolaryngol Head Neck Surg 125:942-946 Langhammer B, Stanghelle JK (2003) Bobath or motor relearning programme? A follow-up one and four years post stroke. Clin Rehabil 17:731-734 Logemann JA (2006) Update on clinical trials in Dysphagia Dysphagia 21:116-120 Muellbacher W, Ziemann U, Boroojerdi B, Cohen L, Hallett M (2001) Role of the human motor cortex in rapid motor learning. Exp Brain Res 136:431-438 Neumann S (1993) Swallowing Therapy with Neurologic Patients: Results of Direct and Indirect Therapy Methods in 66 Patients Suffering from Neurological Disorders. Dysphagia 8:150-153 Neumann S, Bartolome G, Buchholz D, Prosiegel M (1995) Swallowing Therapy of neurologic patients: Correlation of outcome with pretreatment variables and therapeutic methods. Dysphagia 10:1-5 Panturin E (2001) The Bobath concept. Clin Rehabil 15:111-113 Prosiegel M, Heintze M, Wagner-Sonntag E, Hannig C, Wuttge-Hannig A, Yassouridis A (2002) Schluckstörungen bei neurologischen Patienten. Nervenarzt 73:364-370 Seidl RO, Nusser-Müller-Busch R, Ernst A (2002) Evaluation eines Untersuchungsbogens zur endoskopischen Schluckuntersuchung. Sprache-Stimme-Gehör 26:28-36
15
16
Evaluation eines interdisziplinären Therapieansatzes nach dem F.O.T.T.-Konzept: wirksam oder nicht? Ulrike Frank
16.1
Therapie und Evaluation: Problemstellung
16.1.1
Mögliche Outcomevariablen in der Dysphagietherapie bei tracheotomierten Patienten – 292 Kriterien der Wirksamkeitsprüfung – 293 Bildung einer Kontrollgruppe – 294
16.1.2 16.1.3
– 292
16.2
Interdisziplinäres Trachealkanülen-Management: Basler Ansatz – 294
16.2.1
Therapeutisches Vorgehen
16.3
Evaluation des Basler Ansatzes
16.3.1 16.3.2 16.3.3 16.3.4
Fragestellungen – 296 Probanden – 296 Messinstrumente – 297 Ergebnisse – 297
16.4
Schlussfolgerungen Literatur
– 300
– 294
– 300
– 296
292
Kapitel 16 · Evaluation eines interdisziplinären Therapieansatzes nach dem F.O.T.T.-Konzept: wirksam oder nicht?
Die empirischen Forschungsaktivitäten und klinischen Erfahrungen in der Behandlung von Patienten mit Dysphagie haben in den letzten Jahrzehnten unser Verständnis der funktionellen sensomotorischen Zusammenhänge der Schluckfunktion immer weiter vertieft. So wissen wir heute, dass der obere aerodigestive Trakt, der die für uns überlebenswichtigen Funktionen der Atmung und der Nahrungsaufnahme koordiniert, die komplexeste neuromuskuläre Einheit des menschlichen Körpers ist (Brodsky u. Arvedson 2002, Miller 1999). Dysphagien werden daher als differenzierte Störungsbilder definiert, deren Behandlung die Integration unterschiedlicher interdisziplinärer Expertisen erfordert. Die Entwicklung effektiverer Methoden zur Diagnostik und Therapie von Dysphagien wurde von führenden Dysphagieforschern als prioritäres Ziel der Rehabilitationsforschung identifiziert, um Outcome und Effizienz der Behandlung zu gewährleisten (Robbins et al. 2002). In diesem Kapitel werden einige zentrale Aspekte und Möglichkeiten zur objektiven Evaluation solcher Therapiekonzepte vorgestellt und anhand einer Studie zum interdisziplinären Trachealkanülen-Management bei Dysphagiepatienten veranschaulicht.
16.1
Nahrungsaufnahme und Kommunikation. Die Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen und ihr Effekt auf den Wiedererwerb alltagsrelevanter Fähigkeiten sind aufgrund dessen nur eingeschränkt objektivierbar. Eine solche objektive Beurteilung des Therapieerfolgs beruht auf der Messung von 7 Outcomevariablen, d.h. bestimmter funktionsrelevanter Parameter, die sich unter dem Einfluss der Therapie (positiv) verändern. 4 Welche Variablen könnten also bei der Beurteilung der Wirksamkeit einer Therapie für tracheotomierte Dysphagiepatienten eine Rolle spielen? 4 Wie lässt sich eine (therapiebedingte) Verbesserung dieser Variablen messen? 4 Und wie kann schließlich Evidenz für die Wirksamkeit einer Therapie erbracht werden, ohne einer Kontrollgruppe von behandlungsbedürftigen Patienten eine angemessene Therapie vorzuenthalten? Im Folgenden werden einige Überlegungen zu diesen zentralen Fragen der Wirksamkeitsprüfung dargestellt und ihre Umsetzung am Beispiel einer empirischen Studie skizziert, die zur Evaluation eines interdisziplinäres Behandlungsansatzes für tracheotomierte Dysphagiepatienten durchgeführt wurde.
Therapie und Evaluation: Problemstellung 16.1.1
16
Eine objektive Untersuchung der Frage, ob ein Therapieverfahren tatsächlich wirksam ist, wird zunehmend zum Maßstab für die Qualität von Therapiekonzepten. So wird die Eigenschaft evidenzbasiert als »Gütesiegel« für eine Interventionsmethode interpretiert, und diese Qualität wird auch von den Leistungserbringern verlangt (Prosiegel 2003). Die Anforderungen, die an experimentelle Studien mit hohem Evidenzgrad gestellt werden (7 Kap. 14), sind bei der Überprüfung rehabilitativer Interventionsansätze jedoch schwer zu erfüllen. So ist beispielsweise die Bildung von randomisierten Kontrollgruppen, die zwar eine vergleichbare Störung wie eine Therapiegruppe aufweisen, jedoch keine Behandlung erhalten, u.a. aus ethischen Gründen häufig nicht vertretbar. Folglich »leiden« nahezu alle derzeit bekannten Therapieansätze für die Behandlung von Dysphagien unter einer noch mangelhaften Evidenzbasiertheit, obwohl sie sich in der klinischen Praxis bereits seit Jahren bewähren und zu subjektiv guten Rehabilitationsergebnissen führen. Erkenntnisse aus Evaluationsstudien beziehen sich häufig auf Therapieergebnisse, die für eine definierte Patientengruppe erzielt werden konnten. Für die Gruppe der tracheotomierten Dysphagiepatienten fehlen jedoch bisher evidenzbasierte Behandlungsansätze, und es existieren nur wenige systematische Studien über den Rehabilitationsverlauf funktioneller Fähigkeiten wie z.B.
Mögliche Outcomevariablen in der Dysphagietherapie bei tracheotomierten Patienten
Voraussetzung für eine erfolgreiche Dekanülierung tracheotomierter Patienten ist 4 ein ausreichendes Speichel- und Sekretmanagement und 4 eine ausreichende Atmung über die oberen Atemwege (Harkin u. Russell 2001). Daher ist ein primäres Ziel schlucktherapeutischer Interventionen zunächst die Anbahnung eines möglichst physiologischen, aspirationsfreien Speichelschluckens, einer verbesserten Atem-Schluck-Koordination und effektiver Schutzmechanismen (z.B. Abhusten), um eine schnellstmögliche Dekanülierung zu erreichen. Warum ist dies wichtig? jExkurs 1
Die Versorgung mit einer geblockten Trachealkanüle hat erhebliche Auswirkungen auf die sensomotorischen Funktionsmechanismen des Schluckvorgangs (7 Kap. 9 und 10): 4 Durch eine Langzeittracheotomie können Folgekomplikationen entstehen, wie z.B. die Bildung von Trachealstenosen und Tracheomalazien (Heffner et al. 1986). Diese führen zu einer Schädigung der Trachea
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
293 16.1 · Therapie und Evaluation: Problemstellung
und können eine Dekanülierung auch nach ausreichend verbesserter Schluckfunktion verzögern (7 Kap. 9). 4 Darüber hinaus hat die geblockte Trachealkanüle negative Effekte auf das biomechanische und sensorische Zusammenspiel der einzelnen am Schluckvorgang be-
4
4
4
4
teiligten Funktionskomponenten. Die geblockte Kanüle kann zu einer Einschränkung der Larynxbewegung nach anterior-superior führen, so dass während der pharyngealen Boluspassage kein ausreichender Atemwegsverschluss mehr erreicht wird. Dies wurde von Bonanno (1971) als Ankereffekt bezeichnet. Außerdem entsteht eine funktionelle Trennung von oberem und unterem Atemweg. Der Patient atmet ausschließlich über die geblockte Trachealkanüle, so dass der Respirationsstrom den laryngopharyngealen Raum nicht mehr erreicht. In Studien konnte gezeigt werden, dass dadurch ein sensorischer Deprivationseffekt entsteht, der u.a. zu einer Verminderung der Glottisadduktion (Sasaki et al. 1977) und zur Desensibilisierung von sensorischen Rezeptorfeldern führt, die mit den in der Medulla oblongata lokalisierten Schluckzentren in Verbindung stehen (Feldman et al. 1966, Logemann 1985, Miller 1999). Diese medullären Schluckzentren spielen vermutlich eine zentrale Rolle für die reziproke Koordination von Atem- und Schluckfunktion (Miller 1999). Sowohl die Störung dieser komplexen Koordination als auch der durch den Ankereffekt entstehende unzureichende Atemwegsverschluss führen zu einer erheblichen Steigerung der Aspirationsgefahr und somit zu einer sekundär weiteren Verschlechterung der Schluckfunktion. Dazu kommt, dass reflektorische Schutzfunktionen, wie z.B. die Hustenreaktion, mit geblockter Trachealkanüle nur ineffektiv genutzt werden können. Selbst wenn die Hustenreaktion an sich auslösbar ist, kann der für die Sekretexpektoration notwendige subglottische Druck nicht aufgebaut werden (Eibling u. Gross 1996). Außerdem bietet auch eine korrekt geblockte Trachealkanüle keinen zuverlässigen Schutz der unteren Atemwege vor dem Aspirat (vgl. Elpern et al. 1987, Winklmaier et al. 2006), so dass von einer erhöhten Infektionsgefahr für die unteren Atemwege ausgegangen werden muss (Dikeman u. Kazandjian 1995).
> Beachte Eine geblockte Trachealkanüle kann also zu einer sekundären Verschlechterung der Schluckfunktion führen, die Aspirationsproblematik verstärken und zu erheblichen Folgekomplikationen führen.
Eine Therapie kann daher dann als wirksam gelten, wenn sie zu einer möglichst schnellen Dekanülierung der Patienten führt. Die Schluckfunktion muss jedoch zum Zeitpunkt der Dekanülierung soweit verbessert sein, dass die
Indikation für die Versorgung mit einer geblockten Trachealkanüle nicht mehr besteht. Daher muss im Behandlungsverlauf der richtige Zeitpunkt für eine Dekanülierung identifiziert werden: früh genug, um sekundäre Schädigungen zu vermeiden, aber erst dann, wenn eine suffiziente Atemfunktion sowie ausreichende Fähigkeiten zum Sekretmanagement bestehen. Mögliche Outcomevariablen zur Evaluation eines Therapieansatzes für diese Patientengruppe sind daher: 4 die Therapiedauer bis zur Dekanülierung, 4 die Dekanülierungsraten und 4 die mit der Dekanülierung verbundenen Komplikationsraten. Hier ist z.B. das Auftreten von bronchopulmonalen Infekten nach der Dekanülierung von Interesse, da sie reflektieren, inwieweit durch die Therapie die Schluckfunktion bis zur Dekanülierung verbessert werden konnte.
16.1.2
Kriterien der Wirksamkeitsprüfung
Bei der Evaluation therapeutischer Interventionen können unterschiedliche Faktoren beurteilt werden. Nach Blanco und Mäder (2001) sind unter anderem die Aspekte der 7 Effizienz und der 7 Effektivität zu differenzieren: 4 Der Terminus Effizienz bezeichnet die Wirtschaftlichkeit des Mitteleinsatzes in Beziehung zur erzielten Leistung. Als effizient kann z.B. eine Therapiemethode bewertet werden, die einen hohen Nutzen bei geringen Kosten (Mittelaufwand) erzielt, also in kurzer Zeit zum erwünschten Behandlungsziel führt. Bezogen auf die hier im Vordergrund stehende Patientengruppe kann somit die Therapiedauer bis zur Dekanülierung als Effizienzkriterium festgelegt werden. 4 Die Effektivität einer Interventionsmethode bemisst sich dagegen an der Wirksamkeit der Maßnahme, d.h., der erreichte Nutzen wird in Relation zum angestrebten Nutzen gesetzt. Als effektiv kann eine Behandlung beurteilt werden, die bei möglichst vielen Patienten zum gewünschten Behandlungsziel führt. Fazit Für die Gruppe der tracheotomierten Patienten ist in diesem Sinne nicht nur ein schneller Erfolg unter Einsatz weniger Ressourcen (d.h. die Effizienz) von Bedeutung, sondern auch eine erfolgreiche und sichere Dekanülierung, da auftretende Komplikationen den Rehabilitationserfolg nachhaltig gefährden können. Bezogen auf die im vorherigen Abschnitt definierten Outcomevariablen können für die hier relevante Patientengruppe demnach die Dekanülierungsraten und die Komplikationsraten (nach Dekanülierung) als Effektivitätsvariablen definiert werden.
16
294
Kapitel 16 · Evaluation eines interdisziplinären Therapieansatzes nach dem F.O.T.T.-Konzept: wirksam oder nicht?
16.1.3
Bildung einer Kontrollgruppe
Grundsätzlich wird bei der Wahl des Studientyps zwischen einer prospektiven und einer retrospektiven Datenerhebung unterschieden. 4 Während bei einem retrospektiven Vorgehen eine nachträgliche Auswertung bereits vorhandener Daten (z.B. medizinische und therapeutische Dokumentationen) erfolgt, 4 werden in einer prospektiv angelegten Studie die relevanten Daten fortlaufend erhoben, also innerhalb eines vorher festgelegten Zeitraums oder bei einer zuvor definierten Anzahl von Patienten (vgl. Bortz u. Lienert 2003). Vorteil einer retrospektiven Datenanalyse ist, dass unter bestimmten Umständen die Bildung einer historischen 7 Kontrollgruppe (auch: Quasi-Kontrollgruppe) möglich ist, etwa wenn eine neue Behandlungsmethode zu einem definierten Zeitpunkt im klinischen Setting eingeführt wurde und danach alle Patienten mit einer bestimmten Erkrankung mit dieser Methode behandelt wurden, während zuvor eine andere ältere Standardtherapie zur Anwendung kam. In diesem Fall wurden alle Patienten nach dem aktuellen Wissensstand behandelt, jedoch mit unterschiedlichen Interventionsansätzen. Dies ermöglicht einen retrospektiven direkten Vergleich der Outcomevariablen beider Patientengruppen. Nachteile der retrospektiven Datenerhebung sind allerdings u.a. 4 die häufig unterschiedlichen Stichprobengrößen, 4 der eingeschränkte Einfluss auf die Datenerhebung und die Menge der verwertbaren Daten.
16
Bei einer nachträglichen Analyse vordefinierter Patientengruppen kann auf diese empirisch wichtigen Faktoren in der Regel kein Einfluss mehr genommen werden.
16.2
Interdisziplinäres TrachealkanülenManagement: Basler Ansatz
In der Rehabilitationsklinik REHAB Basel, Schweiz, wurde ein interdisziplinärer Ansatz für die Trachealkanülenentwöhnung und Dekanülierung bei Dysphagiepatienten entwickelt, der auf Prinzipien des F.O.T.T.-Konzepts basiert und empirische Befunde der Forschungsliteratur sowie klinische Beobachtungen in der Behandlung tracheotomierter Dysphagiepatienten integriert. Der Basler Ansatz wurde im Jahr 2000 im REHAB Basel eingeführt und einige Jahre danach anhand von retrospektiv erhobenen Daten evaluiert. Die Evaluation erfolgte in Form eines Vergleichs von Outcomevariablen einer Therapiegruppe
aus dem Jahr 2003 mit einer historischen Kontrollgruppe aus dem Jahr 1997.
16.2.1
Therapeutisches Vorgehen
Der interdisziplinäre Basler Ansatz beinhaltet ein Behandlungsprotokoll für das 7 therapeutische Entblocken zur Kanülenentwöhnung und einen interdisziplinären Kriterienkatalog, der die Grundlage für eine 7 Dekanülierungsentscheidung bildet. Diese Kriterien definieren die fachspezifischen Anforderungen der Logopädie, des Pflegeteams und des Arztdienstes an die Schluckfunktion eines Patienten, wodurch eine Identifikation des optimalen Zeitpunkts für einen Dekanülierungsversuch ermöglicht werden soll. Aufgrund der negativen Auswirkungen geblockter Trachealkanülen auf die Schluckfunktion ist es naheliegend, dass therapeutische Interventionen zur Verbesserung des Sekretmanagements nur dann effektiv sein können, wenn diese negativen funktionellen Auswirkungen (Ankereffekt und fehlender laryngo-pharyngealer Luftstrom) für den Therapiezeitraum so weit wie möglich aufgehoben werden. Hierzu kann die Trachealkanüle entblockt und temporär entfernt werden. Vor allem bei Patienten mit Dilatationstracheostoma besteht jedoch häufig nicht die Möglichkeit, die Trachealkanüle für die Dauer der schlucktherapeutischen Intervention zu entfernen, da diese Tracheostomata sich rasch verkleinern und eine Rekanülierung erschweren oder verhindern. Alternativ kann daher die Kanüle nach dem Entblocken auch durch digitalen Verschluss (Fingerverschluss) oder mit einem speziellen Ventil verschlossen werden, Passy-Muir-Ventil (Passy 1986), um so die Atmung über die oberen Atemwege zu ermöglichen und den Ankereffekt zu minimieren. jExkurs 2 Die Methodik des Entblockens und Verschließens blockbarer Trachealkanülen geht auf Tippett und Siebens
(1991) zurück, die zeigen konnten, dass bei beatmeten Patienten hierdurch eine Adaptation der Glottisschlussfunktion an den erhöhten subglottischen Druck erzielt werden kann. Die Autoren vermuteten, dass sich dieser Effekt auch positiv auf die Schluckfunktion auswirken kann und propagierten temporäre Entblockungs- und Verschlussintervalle auch bei tracheotomierten Patienten mit Dysphagie. Obwohl nachfolgende experimentelle Studien zu den physiologischen Effekten dieses Vorgehens zu teils widersprüchlichen Ergebnissen führten (z.B. Leder et al. 1996, Suiter et al. 2003, Terk et al. 2007), weist die Evidenzlage insgesamt darauf hin, dass vor allem Patienten mit schwerer Dysphagie funktionell deutlich profitieren (vgl. Heidler
295 16.2 · Interdisziplinäres Trachealkanülen-Management: Basler Ansatz
2007). Im Zusammenhang mit diesem Vorgehen zeigten sich folgende Effekte: 4 eine signifikante Reduktion der Aspirationsraten (Dettelbach et al. 1995, Elpern et al. 2000, Logemann et al. 1998), 4 signifikante Verbesserungen der laryngealen Elevation (Logemann et al. 1998) und 4 ein verbessertes Sekretmanagement (Lichtman et al. 1995). Olfaktorische und gustatorische Stimulationen zur Fazilitierung der Schluckfunktion sind ebenfalls nur bei entblockter und verschlossener Trachealkanüle für den Patienten wahrnehmbar. Die Methode des Entblockens und Verschließens der Kanüle in sukzessiv längeren Intervallen wurde im interdisziplinären Basler Ansatz systematisch mit schlucktherapeutischen Interventionen kombiniert, um die positiven Effekte der entblockten Trachealkanüle für die Dysphagiebehandlung nutzbar zu machen. Der Ablauf des therapeutischen Entblockens ist in . Übersicht 16.1 dargestellt (7 Kap. 10).
. Übersicht 16.1. Basler Ansatz zum interdisziplinären 7 Trachealkanülen-Management: Ablauf des therapeutischen Entblockens, sukzessive Erhöhung der Entblockungszeiten und Schluckstimulation Durchführung durch zwei Personen (z.B. Pflege und Logopädie): 4 Information des Patienten 4 Schaffen einer geeigneten Ausgangsstellung: aufrecht sitzend/unterstützend gelagert, evt. Seitenlage 4 Intraorale Reinigung/Mundpflege 4 Durchgehende pulsoxymetrische Kontrolle 4 Ggf. nasopharyngeales und orales Absaugen 4 Einführen eines Absaugkatheders (ohne Sog) in die Kanüle, Absaugbereich ca. 1 cm unterhalb des distalen Kanülenendes 4 Cuffentlastung während einer Exspirationsphase des Patienten 4 Absaugen des auf dem Cuff akkumulierten Sekrets, das nach der Cuffentlastung in die tiefen Atemwege gelangt; Vermeiden von Reizsetzung 4 Ggf. thorakale Unterstützung des Sekretabhustens beim reflektorischen bzw. willkürlichen Abhusten 6
4 Kanülenverschluss (digitaler Verschluss bzw. Passy-Muir-Ventil oder Entwöhnungskappe), zunächst in Exspirations- später auch in Ex- und Inspirationsphasen: – Sukzessive Verlängerung der Verschlussphasen im Verlauf mehrerer Entblockungsintervalle gemäß der individuellen Möglichkeiten des Patienten (z.B. respiratorische Toleranz, Sekretmanagement etc.) – Ggf. Abklärung von Verschlussintoleranz, z.B. Strömungshindernisse, Atmungsinsuffizienz, inadäquate Kanülenversorgung 4 Während der Entblockungs-/Verschlussphasen: – Stimulation des physiologischen Schluckablaufs sowie der Schutzreaktionen (Räuspern, Husten – Stimulation der Stimmfunktion und Kommunikation – Stimulation durch Geschmacks- und Geruchsreiz 4 Dokumentation des Entblockungsintervalls
kWahl des richtigen Zeitpunkts für eine Dekanülierung
Bei der Wahl des Zeitpunkts für eine Dekanülierung ist abzuwägen zwischen 4 den negativen Folgen einer längerfristigen Kanülenversorgung und 4 dem Risiko einer zu frühen Dekanülierung, die zu bronchopulmonalen Komplikationen führen kann. Die Identifizierung des richtigen Zeitpunkts für eine Dekanülierung stellt im Therapieverlauf jedoch häufig eine große Herausforderung dar, die nur im Rahmen einer interdisziplinären Diskussion zu bewältigen ist. Der fachspezifische Kriterienkatalog (. Tab. 16.1) dient daher im Basler Ansatz als Diskussionsgrundlage für eine Dekanülierungsentscheidung bei Patienten mit Dilatationstracheostoma, wobei die Gewichtung der Einzelkriterien dem individuellen Störungsprofil des Patienten entsprechend erfolgt. So können spezifische Risikofaktoren bezüglich des Aspirationsrisikos nach der Dekanülierung Berücksichtigung finden. Nach einer positiven Dekanülierungsentscheidung erfolgt am Morgen des nächsten Tages die Dekanülierung. Es folgt eine mindestens 12-stündige Überwachungsphase mit engmaschiger pulsoxymetrischer Kontrolle und wiederholter Beurteilung des Speichelmanagements. Bei Bedarf werden mehrmals täglich sekretmobilisierende Lagerungen sowie Schluck- und Atemstimulationen durchgeführt.
16
296
Kapitel 16 · Evaluation eines interdisziplinären Therapieansatzes nach dem F.O.T.T.-Konzept: wirksam oder nicht?
. Tab. 16.1. Basler Ansatz zum interdisziplinären Trachealkanülen-Management: Fachspezifische Kriterien zur Evaluation der Dekanülierungsfähigkeit tracheotomierter Patienten mit Dysphagie Kriterien
Ja/Nein
Logopädie Speichel kann geschluckt werden oder bei entsprechender Lagerung aus dem Mund herauslaufen Mundreinigung/Zahnpflege möglich Menge des abzusaugenden Sekrets beim Entblocken gering bzw. rückläufig Bei entblockter, verschlossener Kanüle: spontanes und ausreichendes Atmen über die oberen Atemwege (bei stabiler O2-Sättigung von mind. 95%), Beurteilungszeitraum: individuell für Patienten festzulegen Spontanes oder stimuliertes Speichelschlucken möglich Suffizienter, produktiver Hustenstoß mit Nachschlucken Verbesserung der Vigilanz beobachtbar Ausschluss von Reflux/Erbrechen
Effizienz dieses Vorgehens im Vergleich mit dem zuvor angewandten Vorgehen. Gleichzeitig wurden explorative Daten zum 7 Rehabilitationsverlauf der interdisziplinär behandelten Patienten erhoben, um hieraus prognostische Erkenntnisse und Ansätze für weitere Therapiemodifikationen zu gewinnen. Ausgangspunkt war die klinische Beobachtung, dass tracheotomierte Patienten häufig erst nach der Dekanülierung deutliche Fortschritte in der Verbesserung funktioneller Alltagsfähigkeiten zeigen. Es wurden u.a. folgende Fragestellungen überprüft: 4 Hat die Einführung des interdisziplinären Behandlungsprotokolls zu einer verbesserten Behandlungseffektivität in Bezug auf die Dekanülierungs- und Komplikationsraten geführt? 4 Hat die Einführung des interdisziplinären Behandlungsprotokolls zu einer verbesserten Behandlungseffizienz in Bezug auf die Therapiedauer bis zur Dekanülierung geführt? 4 Kommt es im Rehabilitationsverlauf der interdisziplinär behandelten Patienten bereits vor oder erst nach der Dekanülierung zu einer Verbesserung (früh-)funktioneller Alltagsfähigkeiten? 4 Wie verläuft der orale Kostaufbau der interdisziplinär behandelten Patienten nach der Dekanülierung?
Ggf. Anforderung Laryngoskopie Pflege Absaugfrequenz (tracheal) rückläufig Sekretqualität: flüssig und weißlich Patient toleriert bei Bedarf Beatmungsmaske Atemerleichternde Lagerung/Lagerung zur Sekretdrainage möglich Keine planmäßige OP/Narkose in der folgenden Woche
16
Arztdienst Keine akuten pulmonalen Infekte, keine Atelektasen Ggf. HNO-Konsil zur Beurteilung der oberen und unteren Atemwege Weitere fachspezifische Kontraindikationen
16.3
Evaluation des Basler Ansatzes
16.3.1
Fragestellungen
Auf der Grundlage der oben angeführten methodischen Überlegungen wurde die Wirksamkeit des interdisziplinären Basler Ansatzes evaluiert, d.h. die Effektivität und
16.3.2
Probanden
Gruppe 1. Die Therapiegruppe (Gruppe 1, Jahr 2003) umfasste 35 tracheotomierte Dysphagiepatienten, darunter waren 8 Wachkomapatienten (GCS≤8). Für die Rehaverlaufsanalyse (Fragestellungen 3 und 4) standen Daten von 19 Probanden der Gruppe 1 zur Verfügung (Gruppe 1a); in dieser Gruppe befanden sich 2 Wachkomapatienten. Alle Probanden der Gruppe 1 wurden nach dem oben beschriebenen interdisziplinären Basler Ansatz behandelt. Gruppe 2. In der Kontrollgruppe (Gruppe 2, Jahr 1997)
befanden sich 12 tracheotomierte Dysphagiepatienten, 4 von ihnen waren Wachkomapatienten (GCS≤8). Diese Patienten erhielten eine schlucktherapeutische Behandlung ohne systematische Integration von Entblockungsintervallen und Schlucktherapie, und die Dekanülierungsentscheidung wurde intradisziplinär vom Arztdienst getroffen. Alle Probanden wurden entsprechend der Empfehlungen in der einschlägigen Literatur (Dikeman u. Kazandjian 1995, Groher 1997) während der Therapiephase ausschließlich enteral über eine Ernährungssonde (PEG oder PEJ) ernährt, und bis zum Zeitpunkt der Dekanülierung erhielt kein Patient Nahrung per Os, abgesehen von geringsten Mengen zur gustatorischen Schluckstimulation.
297 16.3 · Evaluation des Basler Ansatzes
16.3.3
Messinstrumente
Für die Analyse des Rehabilitationsverlaufs in Gruppe 1 (Fragestellungen 3 und 4) wurden Daten der ADL-Skala FIM (7 Functional Independence Measure, Granger et al. 1986) verwendet, die in wöchentlichen Messintervallen vorlagen. Wachkomapatienten zeigen bei der Beurteilung mit der FIM-Skala jedoch häufig einen Bodeneffekt (DeLangen et al. 1995), d.h. die anfangs sehr kleinschrittigen Verbesserungen werden zwar im klinischen Alltag beobachtet, sie werden jedoch von der FIM-Skala nicht erfasst. Daher wurden für diese Patienten zusätzlich Verlaufsdaten ausgewertet, die mit dem Messinstrument EFA (7 Early Functional Abilities, Heck et al. 2000) erhoben worden waren. > Beachte Die EFA-Skala ist ein spezifisches Messinstrument zur Beurteilung frühfunktioneller Fähigkeiten.
Messzeitpunkte für die Evaluation der (früh-)funktionellen Fähigkeiten (Fragestellung 3) und für die Analyse der oralen Nahrungsaufnahme (Fragestellung 4) sind in . Tab. 16.2 beschrieben.
16.3.4
Hinsichtlich der Altersstruktur bestand ein marginal signifikanter Unterschied (p=.043, t-Test); die Probanden der Gruppe 2 waren im Mittel etwas jünger als die Probanden der Gruppe 1.
Effektivitätsbeurteilung: Dekanülierungsund Komplikationsraten Gruppe 1. Von den 35 Probanden, die mit dem interdis-
ziplinären Basler Ansatz behandelt wurden, konnten insgesamt 33 (94,3%) dekanüliert werden. Nach der Dekanülierung traten keine aspirationsbedingten bronchopulmonalen Infekte auf. Zwei Patienten mussten innerhalb von 2 Wochen nach Dekanülierung rekanüliert werden. In beiden Fällen bestand eine respiratorische Indikation für die Rekanülierung (. Tab. 16.3). Gruppe 2. Von den 12 intradisziplinär behandelten Patienten der Kontrollgruppe konnten 10 (83,3%) erfolgreich dekanüliert werden. Es traten keine bronchopulmonalen Komplikationen und keine Indikationen zur Rekanülierung auf. Bei den Dekanülierungs- und Komplikationsraten in den beiden Patientengruppen konnte kein überzufälliger Unterschied gefunden werden (p>.05).
Ergebnisse Fazit
Vergleichbarkeit der Probandengruppen Die beiden Probandengruppen 1 und 2 waren hinsichtlich relevanter Parameter vergleichbar. Sie zeigten keinen signifikanten Unterschied in Bezug auf die Grunderkrankung (vaskulär vs. traumatisch; p>.05, exakter Fisher Test) und den funktionellen Rehabilitationsstatus (FIM-Summenscore) bei 4 Aufnahme (U=146,0; p>.05), 4 Dekanülierung (U=116,5; p>.05) und 4 Entlassung (U=153,5; p>.05).
Der interdisziplinäre Ansatz ist demnach ebenso effektiv wie ein konventionelles intradisziplinäres Vorgehen.
Effizienzbeurteilung: Therapiedauer bis zur Dekanülierung Gruppe 1. Die durchschnittliche Therapiedauer vom
Aufnahmetag bis zur Dekanülierung betrug in der interdisziplinär behandelten Probandengruppe 28,3 Tage. Dabei traten bei zwei Patienten sehr hohe Werte von 217 respektive 127 Behandlungstagen auf; diese beiden Patienten
. Tab. 16.2. Messinstrumente und Messzeitpunkte zur Analyse des Rehabilitationsverlaufs vor und nach der Dekanülierung. Nur dekanülierte Probanden der Gruppe 1 (2003) Fähigkeiten
Patientenanzahl (n)
Messinstrumente
Messzeitpunkte
Allgemeine funktionelle Fähigkeiten
33
FIM-Skala
1. Aufnahme 2. Dekanülierung 3. Entlassung
Frühfunktionelle Fähigkeiten (Wachkomapatienten)
8
EFA-Skala
1. Aufnahme 2. Dekanülierung 3. Entlassung
Orale Nahrungsaufnahme
19
FIM-Skala
1. Aufnahme 2. Dekanülierung 3. Bis 30 Wochen nach Dekanülierung (14-tägig)
16
298
Kapitel 16 · Evaluation eines interdisziplinären Therapieansatzes nach dem F.O.T.T.-Konzept: wirksam oder nicht?
. Tab. 16.3. Vergleich von Dekanülierungsraten, Komplikationsraten und Therapiedauer in zwei Gruppen tracheotomierter Dysphagiepatienten des REHAB Basel Parameter
Gruppe 1 (2003) n=35 InterdisziplinärerAnsatz
Messwerte
Dekanülierungen
33
0
Pneumonien nach Dekanülierungen
0
0
Rekanülierungen wegen respiratorischer Indikation
2
0
p>.05 Exakter Fisher Test
Therapiedauer: Tage (Mittel, Range, SD, MD)
28,30 (2–217; 43,7; 11)
75,4 (18–100; 59,87; 75,5)
U=65,0 p=.004*
waren von der oben erwähnten respirationsbedingten Rekanülierung betroffen. Gruppe 2. In der Kontrollgruppe lag die mittlere Behandlungsdauer von der Aufnahme bis zur Dekanülierung bei 75,4 Tagen. Im Vergleich dieser beiden Werte zeigt sich eine signifikante Reduktion der Therapiedauer (U=65,0, p=0.004*) bei Anwendung des interdisziplinären Ansatzes. Fazit Der interdisziplinäre Ansatz ist somit als effizienter zu bewerten als der zuvor angewandte intradisziplinäre Behandlungsansatz, da er zu einer signifikanten Reduktion der Therapiedauer führte.
Verlauf der (früh-)funktionellen Fähigkeiten vor vs. nach der Dekanülierung
16
Gruppe 2 (1997) n=12 IntradisziplinärerAnsatz
Die mit dem interdisziplinären Ansatz behandelten Patienten verbesserten sich in ihren funktionellen Alltagsfähigkeiten (ADL) im Gesamtzeitraum zwischen Aufnahme und Entlassung im Mittel um 40,93 FIM-Punkte. Dabei betrug die Verbesserung der mittleren FIM-Summenscores im Zeitraum zwischen Aufnahme und Dekanülierung nur 0,93 Punkte. Die beobachtete Verbesserung im Gesamtzeitraum entfällt also nahezu ausschließlich auf die Zeit nach der Dekanülierung. Die Einzelfallanalyse der FIM-Scores der Patienten stützt diesen Befund (. Abb. 16.1): 4 Vor der Dekanülierung traten bei keinem Probanden überzufällige Verbesserungen der FIM-Werte auf (p>.05, exakter Fisher Test). 4 Nach der Dekanülierung konnte dagegen bei 19 der 33 Patienten ein signifikanter Anstieg der FIM-Werte beobachtet werden (p<.05).
p>.05 Exakter Fisher Test
Weitere 3 Probanden zeigten einen Anstieg der FIM-Werte nach der Dekanülierung, sie erreichten jedoch keine signifikante Verbesserung. Bei 8 der 33 dekanülierten Patienten in Gruppe 1 konnten keine FIM-Veränderungen zwischen Aufnahme, Dekanülierung und Entlassung beobachtet werden. Es handelte sich hierbei um die 8 Wachkomapatienten, die aufgrund des zu erwartenden Bodeneffekts bei der FIMBewertung zusätzlich mit dem Evaluationsinstrument EFA (Early Functional Abilities) beurteilt wurden. Diese Probandengruppe erreichte im Mittel über den gesamten Behandlungszeitraum eine Verbesserung um 20,63 EFA-Punkte, jedoch entfielen davon wiederum nur 4,63 Punkte auf den Zeitraum bis zur Dekanülierung. Auch hier zeigte sich ein deutlicher Anstieg (durchschnittlich 16 Punkte) erst nach der Dekanülierung. Die Einzelfallanalyse ergab: 4 6 der 8 Probanden zeigten einen signifikanten Zuwachs der EFA-Scores nach der Dekanülierung (p<.05, exakter Fisher Test). 4 Ein Proband verbesserte sich bereits vor der Dekanülierung signifikant (p<.05); es handelte sich um einen Patienten mit inkomplettem Locked-in-Status. Fazit Insgesamt zeigen die Daten, dass ein Zuwachs der Selbständigkeit in (früh-)funktionellen Alltagsaktivitäten erst nach der Dekanülierung evident wird, wobei 25 der 33 dekanülierten Probanden dann eine signifikante Verbesserung erreichen konnten.
Verlauf des oralen Kostaufbaus nach der Dekanülierung Die Verlaufsanalyse spezifischer funktioneller Fähigkeiten in der FIM-Kategorie orale Ernährung zeigte die stärkste
299 16.3 · Evaluation des Basler Ansatzes
. Abb. 16.1. Verlauf der FIM-Gesamtsummenscores (Functional Independence Measure) in der interdisziplinär behandelten Gruppe 1
(2003) zu den Zeitpunkten Aufnahme, Dekanülierung und Entlassung. Datensortierung absteigend nach FIM-Wert bei Entlassung
. Abb. 16.2. Verlauf der FIM-Werte in Kategorie A (Orale Nahrungsaufnahme) bei 19 Probanden der Untergruppe 1a (2003). Angege-
ben sind die Gruppenmittelwerte bei Aufnahme, in 30 Wochen nach der Dekanülierung (2-Wochen-Intervall) und bei Entlassung
16
300
Kapitel 16 · Evaluation eines interdisziplinären Therapieansatzes nach dem F.O.T.T.-Konzept: wirksam oder nicht?
Dynamik in den ersten 16 Wochen nach Dekanülierung (. Abb. 16.2). Ein Einzelfallvergleich ergab: 4 Durch die interdisziplinäre Intervention konnte bei 15 der 19 untersuchten Probanden der orale Kostaufbau nach der Dekanülierung abgeschlossen wer-
den, wobei 6 dieser Probanden noch auf geringe externe Hilfestellung (d.h. Supervision bei der Nahrungsaufnahme, geringe Kostmodifikationen) angewiesen waren. 4 Weitere 4 Probanden konnten sich oral mit modifizierter Kost ernähren, erhielten jedoch eine supplementäre Ernährung über die PEG-Sonde. 4 Für die beiden Wachkomapatienten dieser Gruppe war weiterhin eine vollständige Ernährung über die PEG-Sonde erforderlich.
16.4
16
Schlussfolgerungen
Angesichts der in den letzten Jahren deutlich gestiegenen Anzahl tracheotomierter Dysphagiepatienten, die in neurologischen Rehabilitationseinrichtungen behandelt werden, besteht die Notwendigkeit, sich über klinisch erprobte Therapiemöglichkeiten auszutauschen und den bisher entwickelten Interventionsansätzen eine evidenzbasierte Grundlage zu geben. Die hier in Auszügen vorgestellte Evaluationsstudie ergab, dass die Anwendung des auf dem F.O.T.T.-Konzept basierenden interdisziplinären Basler Ansatzes zu einer Verkürzung der Therapiedauer bis zur Dekanülierung führte. Die Dekanülierung verlief in schluckphysiologischer Hinsicht für alle Patienten komplikationslos. Die Dekanülierungskriterien waren demnach geeignet, in Bezug auf die Schluckfunktion einen adäquaten Dekanülierungszeitpunkt zu identifizieren. Da zwei Patienten aufgrund respiratorischer Beeinträchtigungen rekanüliert werden mussten, bleibt die Identifizierbarkeit eines ausreichenden respiratorischen Status anhand der Dekanülierungskriterien dagegen offen. Derzeit wird am REHAB Basel ein modifizierter Ansatz für die Dekanülierung von Patienten mit begleitenden schweren respiratorischen Beeinträchtigungen evaluiert. Kriterien zur Beurteilung der Atmung bei tracheotomierten Patienten finden sich auch im Berliner Dysphagie Index (BDI), einem validierten Messinstrument für die laryngoskopische Untersuchung der Schluckfunktion (7 Kap. 9, Seidl et al. 2002). Die Ergebnisse zeigen darüber hinaus, dass die Dekanülierung offenbar ein wirksamer Stimulus für weitere funktionelle Verbesserungen im Rehabilitationsverlauf ist. Daher sollten eine neurophysiologisch orientierte Dysphagietherapie und eine möglichst schnelle und sichere Dekanülierung im Behandlungsfokus des interdiszipli-
nären Teams stehen. Die ersten explorativen Daten zeigen, dass fast alle Patienten einen nahezu vollständigen oralen Kostaufbau erreichten, obwohl bei Aufnahme eine so schwere Dysphagie bestand, dass die Patienten kanülenpflichtig waren. Die hier vorgestellte Studie zeigt ein mögliches Vorgehen bei der objektiven Evaluation der Wirksamkeit des klinischen Vorgehens bei der Trachealkanülenentwöhnung. Sie stellt einen ersten Schritt dar, einem solchen Ansatz eine evidenzbasierte Grundlage zu geben. Die Ergebnisse zeigen, dass durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit die Synergien der einzelnen Interventionsmaßnahmen sinnvoll genutzt werden können. Dadurch entstehen Behandlungssituationen, die sowohl für den Patienten als auch unter zeitökonomischen Gesichtspunkten als effizient beurteilt werden können. Weitere Studien sollten in Zukunft durchgeführt werden, um sowohl das hier vorgestellte interdisziplinäre Vorgehen als auch alternative Interventionsprotokolle mit größeren Probandengruppen zu evaluieren und weitere Erkenntnisse zum Rehabilitationsverlauf bei tracheotomierten Patienten mit Dysphagie zu gewinnen. Die Arbeit im interdisziplinären Team ist ein dynamischer Prozess, der nicht auf der Grundlage einmal entwickelter Methoden stagnieren sollte. Neue klinische Erfahrungen und empirische Forschungsergebnisse können zur Modifikation und Neuentwicklung von Interventionsansätzen beitragen und einen größeren fachlichen Austausch über diese Erfahrungen anregen, um eine Konsensbildung für eine wirksame Behandlung tracheotomierter Patienten zu erreichen. Literatur Blanco J, Mäder M (2001) Dokumentation, Messung und Qualitätsmanagement. In Frommelt P, Grötzbach H (Hrsg) Neurorehabilitation: Grundlagen, Praxis, Dokumentation. Thieme, Stuttgart. S 629-644 Bonanno PC (1971) Swallowing dysfunction after tracheostomy. Ann Surg 174:29-33 Bortz J, Lienert GA (2003) Kurzgefasste Statistik für die klinische Forschung. Leitfaden für die verteilungsfreie Analyse kleiner Stichproben, 2. Aufl. Springer, Berlin Brodsky L, Arvedson J (2002) Anatomy, embryology, physiology, and normal development. In: Arvedson JC, Brodsky L (Hrsg) Pediatric swallowing and feeding. Assessment and management, 2. Aufl. Singular Publishing Group, Albany, NY. S 13-79 De Langen E, Frommelt P, Wiedmann, KD (1995) Messung der funktionalen Selbständigkeit in der Rehabilitation mit dem Funktionalen Selbständigkeitsindex (FIM). Rehabilitation 34:4-11 Dettelbach MA, Gross, RD, Mahlmann J, Eibling DE (1995) The effect of the Passy-Muir Valve on aspiration in patients with tracheostomy. Head Neck 17:297-302 Dikeman KJ, Kazandjian MS (1995) Communication and swallowing management of tracheostomized and ventilator-dependent adults. Singular Publishing Group, San Diego
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16
17
Glossar
304
Kapitel 17 · Glossar
A Abdomen Bauch.
Verlängerung begleitet. Der Antagonist hat stets ein niedrigeres Tonusniveau als der Agonist (Paeth Rohlfs 1999).
Abduktion Seitwärts wegführen eines Körperteils von
Anterior Vorne, vorderer.
der Körper- bzw. Gliedmaßenlängsachse. Anterograd Nach vorne kommend, nach vorne gerichAbrasion Langsam fortschreitender Verlust von Zahn-
hartsubstanzen, d.h. von Zahnschmelz, später auch am Dentin, an Kauflächen und Schneidkanten.
tet. Aphten Entzündliche Schleimhautveränderungen; hier: von Zahnfleisch, Mundhöhle, Tonsillen oder Zunge.
Absaugen Maschinelles Entfernen von Sekret aus der Trachea mittels Absaugkatheter.
Approximalraum Zahnzwischenraum.
Adaptation Anpassungsfähigkeit auch Flexibilität eines
Aspiration Eindringen von Speichel, Nahrung, Flüssig-
Lebewesens oder einer Gesellschaft zur Veränderung oder Selbstorganisation, um sich einer Situation oder der Umgebung anpassen zu können.
keit oder Fremdkörpern in die unteren Atemwege (unterhalb der Stimmlippen); meist begleitet von physiologischem Husten.
Adduktion Heranführen eines Körperteils an die Körperbzw. Gliedmaßenlängsachse.
Ataxie Störungen der Bewegungsabläufe und der Bewe-
Agonist Der Muskel, der die Schwerkrafteinwirkungen
kontrolliert, d.h., 7 konzentrisch gegen die Schwerkraft wirkt oder 7 exzentrisch die Schwerkrafteinwirkung bremst. Ein Agonist hat wegen dieser Aufgabe stets ein höheres Tonusniveau als der 7 Antagonist (s.u., Paeth Rohlfs 1999). Aktivitätsebene In der 7 ICF wird mit Aktivitätsebene
gungskoordination sowie der Haltungsinnervation mit Auftreten unzweckmäßiger Bewegungen infolge gestörter funktioneller Abstimmung der entsprechenden Muskelgruppen. Autochthone Muskulatur Rückenmuskeln, die aus den
dorsalen Hälften der Myotome (embryonale Körpersegmente) entstanden sind und sich in einer Rinne zwischen Dorn- und Querfortsätzen befinden.
(Activity) die Durchführung einer Aufgabe oder Tätigkeit (Aktion) durch eine Person bezeichnet. B Algorithmus Fachterminus für geregelte Prozeduren zur
B.A.T.S.A. Basler Anterior Trunc Support Approach: Bas-
Lösung definierter Fragestellungen oder Probleme; hier: lösungsorientiertes Verfahren, mit dem Ziel, den Therapeuten durch den klinischen Entscheidungsprozess in Befunderhebung und Behandlung zu leiten.
ler Behandlungsansatz zur Unterstützung des Rumpfes von vorne (im Rollstuhl).
Alignment Einstellung/Ausrichtung
17
aller Körperabschnitte zueinander und in Beziehung zu Unterstützungsfläche und Schwerkraft. Alignment bedeutet, dass alle Anteile eines Gelenks (Knochen, Sehnen, Bänder, Muskeln, Kapseln) während jeden Moments einer Haltung oder Bewegung in einer bestimmten, exakten Ausrichtung zueinander stehen müssen, um einen geschmeidigen, effizienten Bewegungsablauf gewährleisten zu können. Alleinstellungsmerkmal Das herausragende Leistungs-
merkmal, mit dem sich ein Angebot deutlich von anderen Produkten abhebt.
Bewegungsmuster Koordiniertes Zusammenspiel von 7 Agonisten und 7 Antagonisten bezogen auf eine Aktivität. Bewegungsmuster setzen sich aus einer Reihe selektiver Bewegungen zusammen, die je nach Person, Ziel und Zusammenhang der Bewegung variieren (Gjelsvik 2002).
Botulinumtoxin Zellgift, das zur vorübergehenden Hem-
mung von Muskelaktivitäten genutzt werden kann. Bruxismus Bezeichnet im Allgemeinen das nichtfunktio-
nale Zähneknirschen und Aufeinanderpressen der Zähne. Bruxistische Tätigkeiten können sowohl während des Tages als auch nachts auftreten.
Antagonist Der Muskel (es können auch mehrere sein),
C
der sich in seiner Arbeit dem 7 Agonisten (s.o.) reaktiv anpasst, d.h., mit seiner 7 exzentrischen Kontraktion dessen
Candida Sprosspilze mit zahlreichen fakultativ pathogenen Arten.
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
305 17 · Glossar
Clinical Reasoning Klinische Argumentation, Schluss-
Dyspnoe Störung der Atmung hinsichtlich Frequenz,
folgerung, Beweisführung. Denk-, Handlungs- und Entscheidungsprozesse, welche klinisch tätige Personen (Ärzte, Pflegepersonal, Therapeuten u.a.) entweder allein oder in der Auseinandersetzung mit Berufskollegen und/ oder dem betroffenen Patienten treffen.
Tiefe, und/oder Volumen, verbunden mit vermehrter Atemarbeit und Lufthungergefühl (»Atemnot«).
E Early Functional Abilities (EFA) Skala zur Beurteilung
Dentin Zahnbein, knochenähnliche Zahnhartsubstanz.
von Fähigkeiten schwer betroffener Patienten und zur Evaluierung von Behandlungsverläufen in der neurologischen Frührehabilitation (Heck et al. 2000).
Dekanülierung, Dekanülement Entfernung einer Tra-
Elizitieren Entlocken, Hervorlocken von Bewegungen.
chealkanüle.
Den Patienten zu einer Bewegungen zu verhelfen, z.B. durch das Anpassen der Aufgabe, der Umwelt oder durch spezifische Hilfen, die taktil, verbal oder visuell sein können.
D
Delphiverfahren Systematisches, mehrstufiges Befragungsverfahren mit Rückkoppelung bzw. eine Schätzmethode, die dazu dient, zukünftige Ereignisse, Trends, technische Entwicklungen und dergleichen möglichst gut einschätzen zu können. Die Methode ist benannt nach dem Orakel von Delphi. Deprivation Zustand von Mangel, Entbehrung, Entzug oder Isolation von etwas Vertrautem, Verlust oder dem Gefühl einer (sozialen) Benachteiligung; hier: der Mangel an physiologischen Reizen. Dilatationstracheotomie Nicht chirurgische 7 Tracheotomie. Nach einer Punktion wird mit stiftartigen Kathetern aufsteigender Größe das 7 Tracheostoma erweitert. Distal Körperfern, entfernt von der Körpermitte. Dorsal Rückwärts, zum Rücken hin gelegen bzw. gerichtet
Emphysem Übermäßiges, ungewöhnliches Vorkommen von Luft (Gas) in Körpergeweben und -organen; hier: nach Verletzungen, Perforationen oder Operationen. Endoskopie Siehe fiberoptische endoskopische Untersu-
chung. Equilibriumreaktion Kleinste automatisch ablaufende Spannungsveränderungen der Muskulatur, um kleinste Gewichtsverlagerungen, welche zu geringem Ungleichgewicht führen, durch eine Gegenkraft auszugleichen; automatische Adaptionen des Haltungstonus als Reaktion auf Einwirkungen der Schwerkraft und Gewichtsverlagerung; sind funktionell und dienen dem Erhalt des 7 Alignments in einer Haltung; können nicht willkürlich ausgeführt werden (Paeth Rohlfs 1999).
bzw. erfolgend bzw. gehörend. Erosion Materialabtragung Dynamische Stabilität Stabilität eines Körperteils, die ge-
durch chemisch-physikalische Vorgänge, z.B. Verlust von Zahnhartsubstanz durch Fruchtsäure.
gen die Schwerkraft oder eine erwartete/unerwartete Aktion gehalten wird, und die gleichzeitig Aktivität/Bewegungen (eines anderen Körperteils) zulässt.
Euton, Eutonus Physiologischer Normotonus.
Dysarthr(ophon)ie Zentral
bedingte Störungen der Sprechmotorik. Die Bereiche (Sprech)Atmung, Stimmgebung, Artikulation und die Prosodie können isoliert oder in ihrem Zusammenspiel gestört sein. Sehr oft liegen abnorme Haltungs- und Tonusbedingungen zugrunde.
Explizit(es Wissen) Etwas kognitiv verstehen, kodieren
Dysphagie Schluckstörung.
Extension Streckung, Bewegung einer Gliedmaße oder der Wirbelsäule aus der Beuge- in die Streckstellung.
und mittels Zeichen (Sprache, Schrift) ausdrücken können. Exspiration Ausatmung.
Dysphagie Index, Berliner (BDI) Messinstrument zur
Klassifizierung des Schweregrades einer Dysphagie im Rahmen einer endoskopischen Untersuchung. Die erhobenen Befunde werden in einem standardisierten Untersuchungsbogen indexiert.
Exzentrische Kontraktion Koordinierte Aktivierung von
Aktin-Myosin-Molekülen, die sich auseinanderschieben, um einer einwirkenden Kraft (konzentrische Kontraktion des Antagonisten oder Schwerkraft) kontrolliert nachzu-
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Kapitel 17 · Glossar
geben. Dadurch kommt es zu einer Verlängerung des Muskels, die trotz Spannungsentwicklung im Endeffekt zu einer Entspannung führt (Paeth Rohlfs 1999).
F
Hyperextension Überstreckung. Hypersalivation Übermäßige Speichelabsonderung. Hy-
persalivation ist selten; bei Dysphagien aber ein oft verkanntes Phänomen: Zu viel Speichel im Schlucktrakt ist meist ein Hinweis auf eine reduzierte Schluckfrequenz.
Fazilitieren Geben eines Stimulus (Inputs), um eine Aktivi-
tät oder einen Prozess zu erleichtern (Paeth Rohlfs 1999). Fiberoptische endoskopische Untersuchung Untersu-
chung mit einem flexiblen Endoskop; hier: transnasal zur Inspektion der Strukturen und Funktionen im Rachen.
Hypertonus Überhöhte Haltungsspannung, oft mit ver-
mehrt auftretenden Massenmuster und assoziierten Reaktionen in der Auseinandersetzung mit der Schwerkraft. Der Widerstand gegen eine passive Bewegung ist stärker bis sehr stark; der Bewegung wird nur mit Verzögerung nachgegeben.
Flexion Beugung, Bewegung einer Gliedmaße oder der Wirbelsäule aus der Streck- in die Beugestellung.
Hypothese Nicht bewiesene, noch zu verifizierende Aus-
Follow-up-Test Nachfolgetest zur Überprüfung eines Er-
sage, für die Bedingungen angegeben werden, unter denen sie gültig sein soll.
gebnisses. Hypotonus Schlaffe, reduzierte Haltungsspannung. Es ist Frühreha-Barthel-Index (FRB) Beurteilung des funktio-
nellen Status von schwer betroffenen Patienten mit neuromuskulären und muskuloskeletalen Erkrankungen. Führen, geführt »Führen nach Affolter«. Vermitteln von Information über (Alltags)Geschehnisse, z.B. Führen der Hände, Arme, des Körpers mittels taktiler Inputs, gespürter Information (Affolter 1996, 2001). Functional Independence Measure (FIM) Psychometrisches Instrument zur Einschätzung der funktionalen Selbständigkeit bei Patienten mit Funktionseinschränkungen.
zu wenig oder gar kein Widerstand gegen eine Bewegung spürbar; die Extremität fühlt sich schlaff an.
I ICF International Classification of Function, Disability and Health, sozialmedizinisches Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Das Klassifikationskonzept umfasst 3 Dimensionen und Kontextfaktoren: 1. Körperfunktion und -struktur, 2. Aktivität, 3. Partizipation und Kontextfaktoren (Umweltfaktoren und persönliche Faktoren). Implizit(es Wissen) Ausführungskönnen oder -wissen, ohne es verbal beschreiben zu können (oder zu müssen).
G Gingiva Zahnfleisch.
Infrahyoidal Sich unterhalb des Zungenbeins, Os hyoideum, befindend.
Gingivitis Zahnfleischentzündung. Inspiration Einatmung.
17 H Haltungshintergrund Die jeder Bewegung (Aktivität,
Tätigkeit) zugrunde liegende Körperhaltung. Der Haltungshintergrund wird automatisch eingenommen und passt sich an die Anforderungen der jeweiligen Aktivität an. Er ist abhängig von Faktoren wie 7 Tonus, Gleichgewicht, 7 Unterstützungsfläche und gewährleistet ökonomische, effiziente Bewegung. Hemianopsie Halbseitiger Ausfall des Gesichtsfelds eines oder beider Augen infolge Schädigung der Sehbahn vor, hinter oder im Chiasma opticum.
Interdentalraum Zahnzwischenraum, s. auch 7 Approximalraum. Intrazerebral Innerhalb des Großhirns.
K Karies Demineralisation der Zahnhartsubstanzen. Die Symptome der Kariesbildung reichen von Initialläsionen bis zur Bildung von Kavitäten (Höhlen). Kaudal Schwanz- bzw. steißwärts.
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Körper- und Handlungswissen Das aus der unmittel-
M
baren Erfahrung des gelebten Lebens stammende, gleichsam reflexiv verfügbare Wissen von Individuen über ihren eigenen Körper, seine Zustände und Prozesse, das in Bewegungen, Handlungen und Sozialisationsprozessen zum Tragen kommt.
Manual Handbuch.
Koma-Remissions-Skala (KRS) Skala zur Dokumentation des Verlaufs eines Komazustandes (Schönle, Schwall 1995).
Manuell Mit der Hand. Manuelle Therapie Behandlung von Funktionsstörungen des Bewegungsapparats (Gelenke, Muskeln und Nerven) mit den Händen. Molare Backenzähne.
Kompensation Ausgleichung einer verminderten Fähig-
keit oder funktionellen Leistung durch eine verstärkte, übertriebene oder alternative Aktivität.
Multimodal Interaktionsformen bei denen mehrere Modalitäten verwendet werden; hier: Sinnesmodalitäten wie Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen.
Konsensusempfehlungen Empfehlungen, die von Menschen − meist innerhalb einer Gruppe − hinsichtlich einer gewissen Thematik ausgearbeitet wurden.
Multimorbid Gleichzeitig an mehreren Krankheiten er-
Kontaminierter Speichel Mit Mikroorganismen verun-
Muster Sequenz selektiver Bewegungen in entspre-
reinigter Speichel.
chendem Alignment (Paeth Rohlfs 1999).
Kontraktur Unwillkürliche Dauerverkürzung bestimmter Muskeln oder Muskelgruppen als rückbildungs- und nicht rückbildungsfähiges Geschehen, mit dem Effekt einer anhaltenden Gelenkzwangsstellung mit Einschränkung bis Aufhebung der Beweglichkeit. Es gibt auch Gelenkkontrakturen, bei denen ossäre (knöcherne) Strukturen die Bewegung verhindern. Konzentrische Kontraktion Koordinierte Aktivierung von Aktin-Myosin-Molekülen, die sich ineinanderschieben. Es kommt zu einer Spannungsentwicklung mit Verkürzung des Muskels (Paeth Rohlfs 1999).
krankt sein.
N Nach hinten gekipptes Becken In der Physiotherapie spricht man hier vom – im Hüftgelenk – extendierten Becken. Beim gekippten Becken ist der Winkel vom Oberschenkel zum Becken im Sitzen auf einem normalen Stuhl größer als 90°. Nach vorne gekipptes Becken In der Physiotherapie spricht man hier vom – im Hüftgelenk – flektierten Becken. Beim gekippten Becken ist der Winkel vom Oberschenkel zum Becken auf einem normalen Stuhl kleiner als 90°.
Kranial Kopfwärts. Kyphose Nach dorsal (rückwärts) gerichtete Krümmung
der Wirbelsäule. Im Bereich der BWS in leichter Ausprägung natürlich.
Neglect Differenzierte sensorische Reize aus der kontralateralen Körperhälfte (somatosensorisch, visuell) werden nicht erkannt und motorisch nicht beantwortet. Neural Einen Nerv bzw. das Nervensystem oder dessen Funktion betreffend.
L Lateral Seitlich, von der Mitte(llinie) abgewandt. Laryngoskopie Siehe Fiberoptische endoskopische Un-
tersuchung. Leitsymptom Das bedeutsamste Zeichen einer bestimmten Erkrankung oder Störung, das als Orientierungshilfe bei der Diagnosefindung bzw. Therapieschwerpunktsetzung dienen kann.
Neurodynamik Das Nervensystem durchzieht mit einem
Netzwerk von Nerven den gesamten Körper. Erhöhte Spannungen durch Traumata oder Engstellen können dessen Beweglichkeit einschränken. Das Behandlungskonzept zur Verbesserung und Wiederherstellung der Beweglichkeit wurde von David S. Butler entwickelt und von Gisela Rolf und Nora Kern für Patienten mit schweren Schädigungen des Zentralnervensystems modifiziert. Neuroplastizität Eigenschaft von Synapsen, Nervenzel-
Level Stufe.
len oder auch ganzen Hirnarealen, sich in Abhängigkeit
17
308
Kapitel 17 · Glossar
von der Verwendung in ihren Eigenschaften zu verändern. Abhängig vom betrachteten System spricht man von synaptischer oder kortikaler Plastizität. Normale Bewegung Koordinierte und angepasste Antwort des ZNS, um ein Ziel zu erreichen. Grundlage für normale Bewegung ist ein normaler Haltungs-KontrollMechanismus. Dieser beinhaltet normalen 7 Tonus, normale reziproke Innervation, normales Gleichgewicht und normale Sensorik.
Physiologisches Bewegungsmuster Sequenz selektiver
Bewegungen in entsprechendem Alignment, die bei Menschen trotz individueller Variationen und Möglichkeiten prinzipiell ähnlich verlaufen. Plaque Bakterielle Zahnbeläge mit einer polysaccharidreichen Grundsubstanz. Postural Haltungs-, lagerungs-, stellungsbedingt. Posturale Kontrolle Fähigkeit des menschlichen Körpers, unter dem Einfluss der Schwerkraft eine aufrechte Körperposition beizubehalten.
O Okklusion Zahnreihenschluss, Stellung der unteren zur
oberen Zahnreihe beim Schlussbiss.
Pronation des Fußes Hochheben des äußeren Fußrands
und Absenken des inneren Fußrands. Okklusale
Interferenzen Überlagerungen,
versetzter
Zahnreihenschluss.
Prosodie, prosodische Elemente Sprechausdrucksmerkmale, z.B. Rhythmus, Akzent/Betonung, Intonation, Tonhöhe, Tempo/Geschwindigkeit/Schnelligkeit.
P Parodont(ium) Zahnhalteapparat
(Alveolarknochen,
Zunge.
Penetration Eindringen von Speichel, Nahrung, Flüssigkeit oder Fremdkörpern in den Larynx bis oberhalb der Stimmlippen.
Proximal Körpernah, näher zur Körpermitte hin.
Partizipationsebene Art und Ausmaß des Einbezogenseins einer Person in Lebensbereiche in Bezug auf Körperfunktionen, Aktivitäten, gesundheitliche Situation und Kontextfaktoren (7 ICF). Die Partizipation kann in Art, Dauer und Qualität eingeschränkt sein. Das Betrachtungsfeld ist die soziale Ebene. Pathologisches Bewegungsmuster Abnormale Bewe-
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Protrusion Vorschieben; hier: Vordrücken, Pressen der
Zahnfleischsaum, Wurzelhaut).
Punktionstracheotomie Siehe 7 Dilatationstracheotomie.
R Randomisierte Studien Die teilnehmenden Personen einer Studie werden nach dem Zufallsprinzip der Versuchs- oder Kontrollgruppe zugeordnet. Reagibilität Art der Ansprechbarkeit, Reaktionsfähigkeit auf einen von außen kommenden Reiz (Physiologie).
gungsmuster, die bei einem Patienten stereotyp, d.h., stets aus denselben Komponenten zusammengesetzt sind, aber von Patient zu Patient variieren (nach Paeth Rohlfs 1999).
Reaktion Verhalten eines Menschen (Tieres) infolge eines
Perkutane endoskopische Gastrostomie PEG/PEJejunostomie Anlegen einer Magensonde durch die Bauch-
Reflex Auslösen einer Reaktion durch einen äußeren Reiz ohne vorherige Reizverarbeitung im Gehirn.
decke in den Magen/Jejunum (Dünndarm) unter endoskopischer Kontrolle.
Reflux, gastroösophagealer Retrograde Bewegung von
eingegangenen und verarbeiteten Reizes im Gehirn.
Mageninhalt in die Speiseröhre (und Rachen). Phasisches Beißen (Länger) anhaltendes, wiederkehren-
des Öffnen und Schließen des Kiefers. Zeigt sich durch dauerhafte, starke Tonuserhöhung, besonders im M. masseter. Häufig bei Patienten mit deutlich herabgesetztem Bewusstsein (z.B. Wachkoma).
Retentionen Reste, Rückstände; hier: nicht abgeschluckte, im Rachenraum verbliebene Nahrung, Speichel oder Sekret. Retrahiert Zurückgezogen.
Physiologisch Normaler, natürlicher, gesunder Vorgang
im Körper.
309 17 · Glossar
Retrograd Von hinten her bzw. entgegen der natürlichen
Stillmann-Methode Zahnputzmethode in der professio-
Fluss- oder Eingriffsrichtung.
nellen Mundhygiene.
Retrograde Larynxansicht Ansicht des Larynx, der Stimmbänder durch das 7 Tracheostoma.
Stomatognathes System Gesamtheit der Funktionselemente Zähne, Kieferknochen, Gelenke, Muskeln und deren Steuerung.
Retrohyoidal Sich hinter dem Zungenbein, Os hyoideum,
befindend.
Stomatitis, Stomatitiden Entzündung der Mundschleim-
haut. Rhagade Hautschrunde, mikrotraumatischer Riss, Fissur
in entzündlich veränderter Haut.
Stridor Pfeifendes Atemgeräusch bei Ein- und/oder Aus-
atmung. S Salivation Speichelabsonderung. Schilddrüsenisthmus Das die paarigen Seitenlappen ver-
bindende schmale Gewebsmittelstück der Schilddrüse vor der Trachea.
Subkortikale Automatismen Primitive Reflexsynergismen wie Saugen, Beißen, Rooting. Suprahyoidal Sich oberhalb des Zungenbeins, Os hyoideum, befindend. Symptom Hinweiszeichen auf eine Krankheit.
Schlifffacetten Mechanischer Abrieb mit Substanzver-
lust, Reiben einzelner Zahnflächen gegeneinander, z.B. durch Knirschen.
Symptom, primäres Durch die Grunderkrankung be-
Schluckhilfen Manuelle Hilfen zur Schluckeinleitung, die in der F.O.T.T. entwickelt und systematisiert wurden (7 Kap. 5).
Symptom, sekundäres Durch die aus der Krankheit ent-
dingt.
standene Behinderung bedingt (z.B. Kontrakturen durch veränderte Haltung oder erhöhten Tonus).
Schwerkraftlinie Ein gedachtes Lot durch die Längsachse
des Körpers bei aufrechter Haltung.
T Tapping Fazilitationstechnik zur Tonisierung der querge-
Sensomotorisches System Zusammenspiel der Sensorik
und Motorik. Dieses System verknüpft die aktiven Bewegungsvorgänge des willkürlichen Systems mit den gesamten nervalen Vorgängen für Aufnahme, Weiterleitung und Verarbeitung von Informationen über die Umwelt und den eigenen Körper. Spiegelneurone Nervenzellen, die im Gehirn während der Betrachtung eines Vorgangs die gleichen Reize auslösen, wie sie entstünden, wenn dieser Vorgang nicht bloß (passiv) betrachtet, sondern selbst (aktiv) durchgeführt würde. Seit ihrer Entdeckung (bei Primaten) durch Rizzolatti et al. (2008) im Jahr 1995 wird diskutiert, inwieweit sie zu den Fähigkeiten der Empathie und Imitation beitragen.
streiften Muskulatur. Temporomandibuläres Gelenk Kiefergelenk. Tonus Physiologischer Spannungs- und Erregungszu-
stand eines Gewebes; hier: der Muskeln. Trachea Luftröhre. Trachealkanüle Kunststoff- oder Metallröhre für die Atemzuleitung über ein Tracheostoma. Trachealstenose Meist durch eine Trachealkanüle erworbene dauerhafte Einengung der Trachea. Tracheostoma Durch Tracheotomie herbeigeführte Öff-
Stenose Angeborene oder erworbene dauerhafte Ein-
nung der Luftröhre nach außen.
engung eines Kanals. Stille Aspiration Aspiration ohne Hustenreaktion (durch
Schädigung oder Ausfall der »Schutz«-Rezeptoren).
Tracheo(s)tomie Eröffnung der Luftröhrenvorderwand (Spaltung) im oberen Drittel zwecks Einführung einer Kanüle.
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310
Kapitel 17 · Glossar
Trade-Off Kompromiss, Abwägung. Translatiert Verschoben.
U Ulkus Geschwür, Substanzverlust der Haut oder der
Schleimhaut. Unterstützungsfläche Angebotene Fläche, auf/über der Körpergewichte abgegeben werden können (Paeth Rohlfs 1999).
V Valleculae, Vallecularräume Paarige Grube zwischen
Zungenbasis und Kehldeckel. Venter Bauch. Ventral Bauchwärts gelegen oder gerichtet bzw. die Vorderseite eines Körperteils betreffend. Videofluoroskopie Videogestützte Röntgenuntersuchung
des Schluckvorgangs. Viskosität Dickflüssigkeit, Maß für Zähflüssigkeit (von
Flüssigkeiten).
W Weaning Phase der Entwöhnung eines beatmeten Patienten vom Beatmungsgerät. Wird zunehmend auch für das Entwöhnen von der Trachealkanüle verwendet.
17
White-Out-Phänomen Bezeichnet den Zeitpunkt einer Endoskopie, wenn sich die Schleimhaut vollständig auf das Endoskop legt (meist zeitgleich mit Epiglottiskippung, pharyngealem Schlucken).
X Xerostomie Trockenheit der Mundschleimhaut.
Z Zungenprotrusion Vorschieben, Vordrücken, Vorpres-
sen der Zunge.
18
Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten 18.1
E/F.O.T.T.: Einführungsseminar
– 312
18.2
G/F.O.T.T.: Grundkurs
18.3
A/F.O.T.T.: Themenspezifische Aufbaukurse
18.3.1 18.3.2
A/F.O.T.T.: Trach-Kurs (Behandlung tracheotomierter, nicht beatmeter neurologischer Patienten) – 312 A/F.O.T.T.: Gesicht-Kurs – 312
18.4
FOrmaTT
18.5
F.O.T.T. International S.I.G.
– 313
18.6
TOP – F.O.T.T. International
– 313
18.7
Hilfsmittel
– 312
– 313
– 313
– 312
312
Kapitel 18 · Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten
18.1
E/F.O.T.T.: Einführungsseminar
Teilnehmer: Ärzte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten,
Sprachtherapeuten, Pflegende, Klinikmitarbeiter und (je nach Inhalt und Ausschreibung) Angehörige Dauer: 2 Tage Kursleitung: F.O.T.T.-Instruktor/in
18.2
Kursinhalte in Theorie und Praxis (Workshops):
4 Behandlung von Patienten mit Trachealkanülen nach dem F.O.T.T.-Konzept im interdisziplinären Team. 4 Fazio-oraler Trakt und Trachealkanülen-Management. 4 Umsetzen von theoretischen Prinzipien in die Behandlung. 4 Supervidierte Patientenbehandlungen zu dritt. 4 Fallbesprechungen, Reflexion der Patientenvideos.
G/F.O.T.T.: Grundkurs
Teilnehmer: Ärzte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten,
Sprachtherapeuten, Pflegende (und nach Absprache: weitere Klinikmitarbeiter) Dauer: 5 Tage Kursleitung: 1–2 F.O.T.T.-Instruktor/innen Voraussetzungen:
4 Die Teilnehmer sollten mit dem Transfer der Patienten vom Rollstuhl auf die Behandlungsbank vertraut sein. 4 Ein Bobath-Kurs ist erwünscht, aber nicht Voraussetzung. Kursinhalte in Theorie und Praxis (Workshops):
4 Normale, physiologische Muster bei der Nahrungsaufnahme, der Atmung, Stimmgebung, des Sprechens und nonverbale Kommunikation und ihr Zusammenwirken. 4 Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigungen. 4 Prinzipien der Befunderhebung und Therapie. 4 Therapeutisches Essen und therapeutische Mundpflege. 4 Supervidierte Arbeit mit Patienten in Kleingruppen und Auswertung.
18.3
A/F.O.T.T.: Themenspezifische Aufbaukurse
18.3.1
A/F.O.T.T.: Trach-Kurs (Behandlung tracheotomierter, nicht beatmeter neurologischer Patienten)
18.3.2
A/F.O.T.T.: Gesicht-Kurs
Teilnehmer: Ärzte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Sprachtherapeuten, Pflegende Dauer: 3 Tage Kursleitung: 2 F.O.T.T.-Senior-Instruktorinnen Voraussetzungen:
4 Absolvierung eines G/F.O.T.T. Kursinhalte in Theorie und Praxis (Workshops):
4 Typische Probleme von Patienten mit Gesichtslähmungen. 4 Anatomie und Physiologie des N. facialis und N. trigeminus – Arztvortrag. 4 Auswirkung von Haltungshintergrund, Wahrnehmung und Tonus auf das Gesicht. 4 Vorstellung und Erarbeitung verschiedener Behandlungsansätze, z.B. neurodynamische Aspekte der Gesichtsbehandlung. 4 Hilfsmittel. 4 Supervidierte Patientenbehandlung zu dritt. Weitere A/F.O.T.T.-Kurse sind in Planung, u.a. die Themenbereiche: 4 Nahrungsaufnahme (therapeutisch und assistiert), 4 F.O.T.T. und Kinder.
Aktualisierte Infos unter www.formatt.org.
18
Teilnehmer: Ärzte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten,
Sprachtherapeuten, Pflegende
i Praxistipp Teilnahmeplätze für Einführungsseminare, Grund-, Aufbau- und Refresherkurse werden ausschließlich von den veranstaltenden Kliniken vergeben. Die aktuelle Kursliste ist unter www.formatt.org abzurufen.
Dauer: 5 Tage Kursleitung: 2 F.O.T.T.-Senior-Instruktorinnen Voraussetzungen:
4 Absolvierung eines G/F.O.T.T. und Einführungskurses in das Bobath-Konzept. 4 Praktische Arbeit mit Patienten mit Trachealkanülen. 4 Vor Kursbeginn: Einreichen eines Videos einer Patientenbehandlung (Patient mit Trachealkanüle). R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
313 18.9 · Hilfsmittel
18.4
FOrmaTT
FOrmaTT ist eine von F.O.T.T.-Instruktor/innen gegründete Gesellschaft mit Sitz in Deutschland. Sie bietet Kliniken und Einrichtungen F.O.T.T.-Grund- und Aufbaukurse an und vermittelt Referenten für Vorträge, Seminare und Supervision. Die kursleitenden Instruktorinnen sind von Kay Coombes ausgebildet und lizensiert. FOrmaTT Sekretariat Claudia Thölke Am Lohmühlebach 52 D-72275 Alpirsbach Fon 0049(0)7444 4456 E-Mail:
[email protected] Internet: www.formatt.org
18.5
F.O.T.T. International S.I.G.
(S.I.G., Special Interest Group)
Dieser Zusammenschluss besteht aus Personen, die sich mit dem Konzept auseinandersetzen, es weiterentwickeln und weiterverbreiten wollen. Die Gruppe ist multidisziplinär und international zusammengesetzt. Voraussetzung zur Mitgliedschaft ist die Absolvierung eines F.O.T.T.Grundkurses. Pro Jahr gibt es zwei Treffen der Mitglieder an unterschiedlichen Orten, eines davon ist das AGM (Annual General Meeting), die Jahresversammlung. Beim AGM gibt es in der Regel ein »open meeting«, bei dem Gäste willkommen sind. Auskünfte erteilt das Sekretariat der F.O.T.T. International S.I.G. E-Mail:
[email protected]
18.6
TOP – F.O.T.T. International
Organisation in England, die von Kay Coombes (MRCSLT, Speech and Language Therapist, Supervising F.O.T.T.-Instruktorin, Bobath-Tutor) gegründet wurde. Sie bietet folgende Dienstleistungen an: 4 Kursangebot für Kliniken: in begrenztem Umfang Grund- und Refresherkurse, Supervision an Kliniken 4 Ausbildung zum/r F.O.T.T.-Instruktor/in gemeinsam mit FOrmaTT Kontakt:
Kay Coombes c/o ARCOS, Whitbourne Lodge 137 Church Street Malvern Worcs WR14 2AN, G.B. E-Mail:
[email protected]
18.7
Hilfsmittel
Untersuchungslampen mit Spatelhalter, Trinkbecher mit Aufsatz, Cheyne Spoon und Pat Saunders Straw (Strohhalm) sind erhältlich bei: FOrmaTT Abbildungen und Bestellformular: www.formatt.org
18
Stichwortverzeichnis
316
Stichwortverzeichnis
Symbole 24-Stunden-Konzept 22, 232 24-Stunden-Management 158
A Abklärung von Schluckstörungen 235 Abnormale Haltung und Bewegung 217 abnorme Atem-Schluck-Muster 176 Aktivitätsebene 121 Allgemeinzustand 288 Alltagskontext in der F.O.T.T.-Therapie 47 Analyse des Rehabilitationsverlaufs vor und nach der Dekanülierung 297 Anamnese/Klinische Untersuchung 235 Anatomie der Atemwege 212 Angehörigenanleitung: Beispiel Mundhygiene 144 Angehörigenarbeit 139 Apparative Schluckdiagnostik im Vergleich 238 Arten der Trachealkanüle 196 Arten der Tracheotomie 193 Artikulation 184 Aspekte, die Lernen fördern 46 Aspiration 287 Assistierte Mahlzeit 99, 105 Asymmetrische Lagerung 186 Atem-Schluck-Koordination 88, 171, 216 Atemhilfsmuskulatur 170 Atemmuskulatur 170 Atemtypen 169 Atemvorgang 213 Atemzentrum 212 Atmung 168 – Anatomie/Physiologie 169 Aufbisshilfe 135 Ausatmung 170 Ausgangsstellung 155, 185 Aussagekraft statistischer Untersuchungen 266 Auswirkung – der Trachealkanüle 217 – pathologischer Atmung auf Stimme und Sprechen 181
B Basler Ansatz, B.A.T.S.A 295 Bauchlage 187 Beeinflussung – des Central Set 46 – der motorischen Kontrolle 40 Befragung 267 Befundung und Behandlung nach Coombes 120 Behandlungsplan 125 Behandlungsposition 219 Bereich der F.O.T.T. 15 Berliner Dysphagie-Index, BDI 300
Beschreibende Fallstudie 269 Beschreibung des F.O.T.T. Assessment Profile 273 Bewegungslernen 4 Bewegungsverhalten 4 Bewertung sicherheitsrelevanter Faktoren 87 Bildung einer Kontrollgruppe 294 Bisswunde 118 Blockbare Kanülen 196 Bobath-Konzept 4, 7 Bronchoskopie 235 Brustwirbelsäule Halswirbelsäule Schulterblatt Os hyoideum 56
Erhalten/Wiederherstellen von Symmetrie 156 Ernährungsstatus 288 Evaluation 292 – des Basler Ansatzes 296 – eines interdisziplinären Therapieansatzes nach dem F.O.T.T.-Konzept 291 evidence-based medicine 266 evidence-based practice 266 Experimentelle Designs 267 Experimentelle Einzelfallstudie 269 Expiratorischer Stridor 178
F C Central Set 41 Charakteristika von Nahrungskonsistenzen 93 Clinical Reasoning 13
D Dekanülierung 295 Diffuse, zentral bedingte Störungen der Gesichtsbewegungen 153 Dilatationstracheotomie – nach Frova 195 – nach Griggs 194 Direkte Schluckhilfen 81 Dynamische Stabilität 55 Dysarthrophonie 181 Dysphagie 181 Dysphagie-Team 231 Dyspnoe 178
E Early Functional Abilities (EFA) 205, 273, 297 Effektivitätsbeurteilung: Dekanülierungsund Komplikationsraten 297 Effizienzbeurteilung: Therapiedauer bis zur Dekanülierung 297 Eigenprogramme 97, 160 Einatmung 169 Einfluss von Körperhaltung und Muskeltonus 173 Eingeschränkte Kieferöffnung 179 Einsatzmöglichkeiten des F.O.T.T. Assessment Profile 276 Einsetzen und Befestigen der Trachealkanüle 199 Einzelfalldesigns 268 enterale Ernährung 105 Entfernung der Trachealkanüle 206, 207 Entzündungen 202 Erarbeiten normaler Sensibilität und Bewegung in funktionellem Kontext 155
R. Nusser-Müller-Busch, Die Therapie des Facio-Oralen Trakts, DOI 978-3-642-12942-1/ 978-3-642-12943-8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
F.O.T.T.-Bereich – Atmung-Stimme-Sprechen 18 – Mundhygiene 17 – Nahrungsaufnahme 15 – Nonverbale Kommunikation 17 F.O.T.T.-Konzept 1 – in der neurologischen Rehabilitation 229 F.O.T.T. Assessment Profile 272 F.O.T.T. International S.I.G. 313 Facio-Orale-Trakt-Therapeut (FOT-Therapeut) 230 Fallstudien 267 Faszien 62 Faszienverbindungen in der F.O.T.T.-Arbeit 63 Fazilitieren/Elizitieren normaler Bewegung in funktionellem Kontext 157 Fazilitieren von Zungenbewegungen 82 fazio-orale Funktionen 2 Feedback-Mechanismen 39 Feedback durch therapeutische Hilfen 48 Feedforward-Leistungen 47 Feedforward-Mechanismen 40 Fehlender Mundschluss 179 Folgen veränderter Sensibilität 205 Förderung der lateralen Zungenbeweglichkeit 103 Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten 311 Fortbildung 239 Freiheit für das Hyoid 96 Frühreha-Bartel-Index 205 Functional Independence Measure (FIM) 273, 297 Funktionen der Gesichtsmuskulatur 153
G Gasaustausch 213 Geschichte der Mundhygiene 110 Gesichtsmuskeln 151 Granulationen 203 Grundlagen – Anatomie/Physiologie des Schluckens 55
317 Stichwortverzeichnis
– Physiologie/Haltung 52 Gruppendesigns 267
H Hals- und Nackenmuskulatur 176 Halswirbelsäule Os hyoideum 58 Haltungshintergrund 52 – Handling 89 Hands-on-/Hands-off-Arbeit 31 Hands-on-Ansatz 174 Hausinterne Erfassungsbögen 273 Heilkräutertees 129 Heimprogamme 160 Hilfen für den Alltag 158 Hilfsmittel 104, 313 – für die Mundhygiene 134 Hyperreagibilität 119
I ICF-Modell 27 Indikationen zur Entfernung einer Trachealkanüle 206 Indikationen zur Tracheotomie 192 Indirekte Schluckhilfen 84 Innervation der Gesichtsmuskeln 152 Intensiv- und Akutphase 19 International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) 121 Inter-Rater-Reliabilität 275 Interdisziplinäres Team 23 Interdisziplinäres Trachealkanülen-Management: Basler Ansatz 294 Interdisziplinäre Teamarbeit 32 Interdisziplinäre Zusammenarbeit 225
K Kälte 158 Kanülenstatus 283, 288 Kanülenzubehör 199 Kernfaktoren 87 Kieferkontrollgriff (KKG) 10, 81 Kognitive Probleme 111 Koma-Remissions-Skala 205 Kombinationskanülen 199 Komplikationen – am Tracheostoma 202 – an der Trachea 203 – der Tracheotomie 196 Konsensusempfehlungen zur Facio-OralenTrakt -Therapie 29 Kontextfaktoren 124 Kontraindizierte Hilfsmittel 136 Kontroll- und Schutzmechanismen 16 Konventionelle temporäre Tracheotomie 193 Koordination von Atmung, Schlucken beim Strohhalmtrinken 180
Koordination von Atmung, Schlucken und Essen 180 Koordination von Atmung und Schlucken 84 Körperfunktions- und Körperstrukturebene 121 Kortikale Repräsentation 42 Kosten 25 Kranioneurodynamik 157 Kriterien der Wirksamkeitsprüfung 293
L Lagerung 178, 283 Langzeitbeatmung 206 Laryngoskopie 235 – beim Trachealkanülen-Management 238 Larynx Os hyoideum 61 Lernen – im F.O.T.T.-Konzept 6 – im Kontext der Neurorehabilitation 270 Levels des F.O.T.T. Assessment Profile 273 Lungenvolumina 213
M M. cricopharyngeus Os hyoideum 61 Management der oralen Nahrungsaufnahme 234 Mandibula Os hyoideum 59 Medizinische Mundwasser 129 Mitwirkende am Konsensusprozess 34 Mobilisation – neuraler Strukturen und Muskeln 156 – der Zunge 84 Motivation 46 Motorische Kontrolle 39 Motorische Koordination 43 Motorisches Lernen 39 Mundgeruch 129 Mundhygiene 109 – in der F.O.T.T. 120 – eine multidisziplinäre Aufgabe 138 Mundstimulation 21, 31, 126
N Nachbereitung der Mahlzeit 105 Nachweis der Therapiewirksamkeit 266 Nahrungsaufnahme 5, 73, 76, 97 – bei neurologischen Patienten 75 Neurodynamik 157 neurogene Dysphagie 2 Neurologische Rehabilitation 27 Nichtblockbare Kanülen 197 Normale Atmung 212 Normale Gesichtsbewegungen 150 Normale Nahrungsaufnahme 74 Nutzen und Kosten 25
A–R
O Objektivität von Tests 270 Optimierung motorischen Lernens 41 orale Nahrungsaufnahme 91 Os hyoideum 55 Os temporale Os hyoideum 59 Outcomevariablen in der Dysphagietherapie bei tracheotomierten Patienten 292
P paradoxe Atmung 215 Partizipationsebene 124 pathologische Atemtypen 176 Patientenbeispiel 66, 99, 123, 181 Pausen 7, 23 PEG-Sonde 106 Penetrations-Aspirations-Skala (PAS) 236 periphere Fazialisparese 161 Pflege von Trachealkanülen und Tracheostoma 201 pharyngeale Phase 76 Pharyngeale Schluckstörungen 95 Physiologische Bewegungen und Ausgangsstellungen 64 Physiologische Sitzhaltung 53 Physiologische Stimmeinsätze 173 Pilotstudie zu F.O.T.T. bei neurologischen Patienten 281 Pilzinfektion 129 Plastische Tracheotomie 195 Pneumonierisiko 86 Poststationäre Nachuntersuchungen 238 posturale Kontrolle 155 Präambel 31 Primärprobleme nach Hirnschädigung 111 Prinzipien der Neuroplastizität 11, 42 Probleme – im Bezug auf Haltung, Atmung und Schlucken 85 – beim Essen und Trinken 75 – mit Haltung und Bewegung 176 Prophylaxe von Komplikationen 158 Prosodie 184 Prozessbegleitung 139 Punctum stabile/Punctum mobile 55 Punktionstracheotomie 194 Punktionstracheotomie nach Ciaglia 194
Q Quasi-experimentelles Design 268
R randomisierte Kontrollstudie 267 Randomisierung 271 Reflektorisches Husten 215 Rehabilitationsphase 21
318
Stichwortverzeichnis
Rehabilitationsprozess 32 Reinigung – des Atem-Schluck-Trakts 220 – von Mundhöhle und Nase 220 – der Trachealkanüle und des Bereichs oberhalb der Blockung 221 Reliabilität 275 Röntgenkinematographie 235 Rückenlage 187 Ruhepausen 23 Rumpfmuskulatur 176
Störungen – im Bewegungslernen 5 – im Bewegungsverhalten 5 Stridor 178 Strukturen 230 Studiendesign für eine experimentelle F.O.T.T.-Einzelfallstudie 276 Studiendesigns 266 Symmetrische Lagerung 186
T S Schematische Darstellung der motorischen Kontrolle 39 Schluckablauf 287 Schluckfrequenz 283, 285 Schluckhilfe 80, 104 Schlucksequenz 40, 78 – nach Coombes 15 Schluckstörungen 206 Schutz- und Reinigungsmechanismen 215 Schutz der Atemwege 96 Schutzmechanismen 88 Schweregradeinteilung der Aspiration 235 Seitenlage 186, 219 Sekundärprobleme nach Hirnschädigung 115 Sensomotorische Probleme 111 sensorische Deprivation 120 Sensorische Organisation 42 sensorische Stimulation 175 Sichere Nahrungsaufnahme 73, 74, 75, 76, 86, 87 Sicherheitsrelevante Aspekte 86 Sitzen 186, 219 Skalen des F.O.T.T. Assessment Profile 273 Skalen für Lagerung, Kanülenstatus und Wachheit 283 Sondenernährung 106 Spätphase 22 Special Interest Group S.I.G. F.O.T.T. International 27 Speichelmanagement 96 Speichelschlucken 2, 12 Sprechaufsatz 199 Stabilisierung des Unterkiefers 82 Standardisierte Befunderhebung 234 Standards (Organisationsanweisungen) 232 Stationsteam 231 Statistische Auswertung 234 Stehen 186, 219 Steuerung der Gesichtsbewegungen 150 Stillmann-Methode 133 Stimmanbahnung 182 Stimme 171 – Anatomie/Physiologie 172 Stimmgebung 172 Stimmklang 183 Stomaplatzhalter 199
Taktile Hilfen 9, 48 Taktile Mundstimulation 103 Taktile Unterstützung der Ausatmung ggf. mit Stimmgebung 84 Team-Managment 91 Teamarbeit 90, 187 Temporäre Tracheotomie 193 Therapeutische Hilfen bei der Mahlzeit 103 Therapeutische Hilfsmittel 135 Therapeutisches Absaugen 222 Therapeutisches Entblocken 222 Therapeutisches Essen 92 Therapeutisches Vorgehen nach der Entblockung 223 Therapieaufzeichnungen 272 Therapieintensität 23 Therapiemaßnahmen-Katalog zur F.O.T.T. 32 Therapiepausen 23 Therapiezentrum Burgau 230 Thorako-abdominale Verbindungen 62 TOP F.O.T.T. International 313 Trachealkanülen 217 Trachealkanülen-Management 19, 31, 207, 211, 232 Trachealkanülen und Schlucken 204 Trachealkanülenwechsel 199 Tracheostomapflege 199 Tragfähigkeit der Stimme und Tonhaltedauer 183 Translaryngeale Tracheotomie nach Fantoni 195
U Überreaktion mit Beißen 117 Untersuchung des Gesichts 155 Unwillkürliches Schlucken 77
V Validität 275 Veränderte Sitzhaltung 53 Veränderungen der Atmung 216 Veränderungen der Speichelfunktion 128 Verbale Hilfen 10, 48 Verlauf der (früh-)funktionellen Fähigkeiten vor vs. nach der Dekanülierung 298
Verlauf des oralen Kostaufbaus nach der Dekanülierung 298 Verwendung von Kältereizen 95 Vibration 158 Videofluoroskopie 235 Visuelle Hilfen 9, 48 Vom Spucken zum Schlucken 96 Vorbereitung der assistierten Mahlzeit 103 Vorbereitung des Haltungshintergrunds 103 Vorbereitung des Mundes und der oropharyngealen Bewegungsabläufe 103 Vorgehen bei der therapeutischen Mundhygiene 125 Vorgehen bei pharyngealen Schluckstörungen 99 Vorgehen in der F.O.T.T. 13, 46 Vorgehen in der Intensivphase 31
W Wachheit 283, 285 Wechsel der Trachealkanüle 200 Wissenschaftliche Messungen 266
Z Zähneknirschen/Bruxismus 114 Zahnprothesen 133 Zahnreinigung 130 Zentral bedingte Einschränkungen der Gesichtsbewegungen 153 zentrale Fazialisparese 153 Zentrale Steuerung der Atmung 168 Zentrale Steuerung der Stimmgebung 172 Zentrale Störungen der Atmung 176 Zungenbelag 129 Zungenbewegungen 91 Zunge Os hyoideum 60 Zusatzfaktoren 89 Zwerchfell 169