William Corlett
Die Tür im Baum Das Haus des Magiers II Aus dem Englischen von Christa Holtei Deutscher Taschenbuch Ver...
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William Corlett
Die Tür im Baum Das Haus des Magiers II Aus dem Englischen von Christa Holtei Deutscher Taschenbuch Verlag
William Corlett, geboren 1938, machte eine Ausbildung an der Royal Academy of Dramatic Art in London und war zunächst Schauspieler, bevor er selbst erfolgreich Theaterstücke und Drehbuchtexte zu schreiben begann. Seit den 70er-Jahren veröffentlicht er Jugendromane, die vielfach ausgezeichnet wurden, und ist inzwischen auch als Autor belletristischer Romane bekannt. Seine Serie ›Das Haus des Magiers‹ hat er selbst fürs Fernsehen adaptiert.
dtv junior 70.665 Deutsche Erstausgabe In neuer Rechtschreibung Januar 2002 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH 8c Co. KG, München www.dtvjunior.de © 1991 William Corlett Titel der englischen Originalausgabe: ›The Door in the Tree‹ erschienen 1991 bei Red Fox, a division of Random House UK Ltd. erstmals erschienen 1991 bei The Bodley Head Children’s Books © für die deutschsprachige Ausgabe: 2002 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH 8c Co. KG, München Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagbild: Ludvik Glazer-Naude Gesetzt aus der Baskerville 11/13 1/2 Gesamtherstellung: Ebner Ulm Printed in Germany • ISBN 3-423-70.677-5
Für Alice
Osterferien im Golden Valley. Endlich kommen die Geschwister William, Mary und Alice wieder zurück nach Golden House, jenem wilden und idyllischen Ort an der walisischen Grenze, an dem Tante Phoebe und Onkel Jack leben. Dorthin, wo sie während ihrer letzten Ferien dem Magier begegnet sind, Stephen Tyler. Durch ihn konnten die Geschwister erfahren, was Magie bedeutet. Hier, in einer Umgebung voller Wälder, Moore und Geheimnisse, scheint alles denkbar und nichts unmöglich. Denn mit Vernunft lässt sich nicht erklären, wie es sein kann, plötzlich in einem Tierkörper zu stecken, so wahrzunehmen, zu fühlen, und zu schmecken wie Spot, der Hund, Cinnabar, der Fuchs, und Jasper, die Eule. Und während William, Mary und Alice noch darüber grübeln, wie so etwas möglich sein kann, hat Stephen Tyler längst anderes im Sinn. Er betraut die drei mit einer großen Aufgabe, die ihnen alles abverlangt…
1 Versteckspiel Alice rannte, so schnell sie konnte, den Hügel hinauf. Fort von dem Baumstamm, wo Mary sich die Augen zuhielt und laut zählte. William krabbelte ins Unterholz neben dem Waldweg und in einiger Entfernung blitzte Spots weißes Fell auf. Der Hund kam mit großen Sprüngen angelaufen und wedelte heftig mit dem Schwanz, damit er nicht vor lauter Aufregung laut bellte. Es war ein strahlender Frühlingstag. Ein leichter Wind streifte die Zweige der Bäume und ließ sie knarrend und raschelnd über Alices Kopf hin und her schaukeln. Die ersten grünen Blättchen zeigten sich an den Hecken und Schlüsselblumen, wilde Narzissen und Veilchen durchbrachen das Moos und die Herbstblätter auf der Böschung, wo Alice kauerte. Durch die Bäume konnte sie jenseits des Tals die Spitze des Taubenschlags im Küchengarten sehen und dahinter das Dach und den Kamin von Golden House. Der Blick war ihr so vertraut, dass sie sich wie zu Hause fühlte. Obwohl sie erst zum zweiten Mal hier war, kannte sie die Umgebung. Irgendwie ist es beruhigend, dachte sie, wenn man sich auskennt. Dann konnte man sich auch nicht verlaufen. William gab ja ziemlich mit seinem Kompass an, aber eigentlich brauchte man nur seine Augen. Unter ihr wurde Marys Stimme lauter, weil sie sich der ›Hundert‹ näherte. Alice duckte sich tiefer hinter den Ginsterbusch und wartete mit klopfendem Herzen. Sie hatte eigentlich gar nicht Versteck spielen wollen, weil sie es für eine ungeheure Zeitverschwendung hielt, aber nachdem sie einmal angefangen hatte, ließ sie sich doch vom Spiel mitreißen. Es war der erste Tag ihrer Osterferien – oder besser: ihr erster Tag in Golden House. Alle drei Kinder hatten das Osterwochenende bei Freunden in London verbracht und waren am Tag zuvor mit dem Zug angekommen. Phoebe hatte schon am Bahnhof auf sie gewartet. Sie waren durch die dunstige Abenddämmerung gefahren und hatten das Haus erst
erreicht, als die Dunkelheit sich über das Tal legte. Jack wusch gerade seine Hände über der Spüle in der Küche, als sie hereinkamen. Von irgendwoher sprang Spot plötzlich laut bellend herbei und begrüßte Alice so ungestüm, dass er sie umwarf. Er leckte mit seiner nassen Zunge über ihr Gesicht und sie wehrte ihn glücklich ab. Stephanie hatte in ihrem Bettchen geschlafen, aber jetzt war sie wach und beteiligte sich mit lautem Brüllen an dem wilden Durcheinander. Das ganze Haus zitterte und bebte vor Krach. »O Gott«, rief Jack lachend und hielt sich die Ohren zu. »Ihr seid wieder da! Ich hatte ja völlig vergessen, was ihr Bande für einen Lärm veranstalten könnt!« Er schubste Spot von Alice weg, zog sie auf die Füße und drückte sie an sich. Später ging er mit ihnen zu ihren Zimmern oben an der Wendeltreppe über der großen Halle, setzte sich auf Marys Bett und unterhielt sich mit ihnen, während sie auspackten. Er berichtete von seinen Reparaturarbeiten am Haus und den Überraschungen, auf die er dabei gestoßen war. »Die Keller und die Dachböden und jede Menge altes Zeug und wer weiß, was sonst noch alles!«, erzählte er aufgeregt. Aber sie hatten ihm nicht richtig zugehört. Sie wollten allein sein, damit sie wirklich genießen konnten wieder hier zu sein. Nicht mal unter sich, sondern jeder wollte ganz allein sein, zum Fenster laufen und herausschauen oder auf dem Bett liegen und zu der steil aufsteigenden Zimmerdecke mit den dunklen Holzbalken und den Spinnweben und dem weißen, bröckelnden Putz hinaufsehen. Dann hatte Phoebe nach ihnen gerufen und sie saßen um den Küchentisch und alle fingen gleichzeitig an zu erzählen, was seit dem letzten Zusammensein geschehen war. Sie aßen dicke Bohnensuppe und danach Gemüseauflauf und Pellkartoffeln mit Käsefüllung. Als Nachtisch gab es Siruptorte und Alice nahm sich eine zweite Portion und dachte einen Augenblick, gleich würde sie platzen. Aber die anderen achteten gar nicht auf sie und deshalb aß sie auch noch einen Apfel. Schließlich hatten sie genug Aufregungen für einen Tag gehabt und sich die Treppe in ihre Zimmer hinaufgeschleppt. Bevor die Uhr in der Halle neun schlug, lagen sie schon in ihren Betten und schliefen fest. Alice duckte sich tiefer in ihr Versteck und dachte, dass es eigentlich enttäuschend gewesen war. In der Schule hatte sie die ganze Zeit über von Golden House geträumt und von der geheimnisvollen Magie und besonders von Spot. Mit niemandem hatte sie über ihre Er-
lebnisse reden können. Mary war jetzt in einer anderen Schule, so dass sie sich nicht mehr ständig sahen, und William war in Yorkshire. Und am letzten Tag der Weihnachtsferien hatten sie natürlich den feierlichen Eid geschworen, mit niemandem sonst über die Ereignisse in Golden House zu sprechen. Nicht mal bei ihren Freunden in London hatten sie in Ruhe reden können. Eigentlich hatte sie gestern im Zug erwartet, dass einer von ihnen das Thema anschneiden würde, aber Mary und William hatten die Nase in ihre Bücher gesteckt und wollten nicht über den letzten Besuch in Onkel Jacks Haus sprechen. Als Alice den Magier erwähnte, hatte Mary ihr unter dem Tisch gegen das Schienbein getreten und William hatte gezischt, sie solle die Klappe halten, jemand könnte sie vielleicht hören. Also hatte Alice sich auf ihre Hände gesetzt, mit den Beinen gebaumelt, eine kleine Melodie gesummt und düster aus dem Fenster gestarrt, bis sie in Bristol ankamen. Während sie auf den Anschlusszug warteten, konnte sie auch nicht reden, denn sie war zu sehr mit Würstchenessen beschäftigt. Einen Würstchenvorrat anzulegen schien eine vernünftige Maßnahme gegen das vegetarische Essen bei Phoebe. Das hatte sie lange im Voraus geplant. Wahrscheinlich würde ein Kamel sich auch so vorbereiten, dachte sie, wenn es eine lange Reise durch die Wüste machen müsste. Nur hatte sie keinen Höcker und nach der Hälfte ihrer dritten Riesenwurst wurde ihr ein bisschen schlecht, so dass sie den Rest auf dem Pappteller liegen lassen musste. Der Zug war voller Menschen gewesen und sie hatten noch nicht einmal zusammensitzen können. Alice ergatterte einen Fensterplatz und starrte auf die vorbeifliegende Landschaft. Die Würstchen lagen ihr wie ein Stein im Magen und die Heizung im Waggon bullerte mit voller Kraft. Sie fühlte sich erhitzt und missmutig. Sie hatte sich so darauf gefreut, aber William und Mary schienen alles vergessen zu haben. Das war mal wieder typisch für sie und ausgesprochen langweilig. Phoebe hatte sie an der Haltestelle Druce Coven abgeholt, und als sie einmal im Landrover saßen, gab es auch keine Gelegenheit mehr zum Reden. Als sie endlich am Haus ankamen, waren sie die ganze Zeit mit Onkel Jack zusammen, bis sie auf ihre Zimmer gingen. Da hatte Mary gesagt – fast widerwillig, war es Alice vorgekommen –, dass sie nach dem Abendessen eine Besprechung abhalten wollten. Aber als es so weit war, konnten sie die Augen kaum noch offen
halten und schliefen fast schon, noch bevor sie in ihren Betten lagen. So hatten sie erst am nächsten Morgen Zeit für sich selbst. Gleich nach dem Frühstück hatte Mary vorgeschlagen den Wald zu erkunden. »Geht nicht zu weit«, hatte Jack sie gewarnt. »Die Wege sind zwar gut zu erkennen, aber nach einer Weile wird alles ein bisschen verwirrend.« »Wir verlaufen uns schon nicht«, hatte William versichert. »Wir haben Orientierungsläufe in der Schule gemacht. Hast du eine Karte mit großem Maßstab, Onkel Jack?« Aber Jack hatte den Kopf geschüttelt und gemeint, dass er es noch nicht geschafft hätte, eine zu besorgen. Er hatte eine normale Karte, aber die Waldwege waren nicht darauf eingezeichnet. »Ihr braucht eine, auf der Wege und Pfade zu erkennen sind«, sagte er. Phoebe versprach eine mitzubringen, wenn sie später am Vormittag in die Stadt fuhr. »Eine Karte ist wirklich wichtig«, meinte William, »wenn wir alles genau auskundschaften wollen. Mit einer Karte und einem Kompass kann man sich gar nicht verlaufen.« Alice hatte geseufzt und sich eine patzige Bemerkung verkniffen. William war so aufgeblasen und in solchen Momenten hasste sie ihn. Aber sie hielt es für besser, sich nicht sofort mit ihm zu streiten. Nicht gleich nach ihrer Ankunft. Phoebe schlug vor, dass sie vielleicht mit ihr in die Stadt fahren sollten. »Die Stadt ist wirklich recht nett. Es gibt sogar eine Burg. Na ja, eigentlich mehr einen Turm. Die Engländer haben ihn gebaut, um die Waliser zu unterdrücken. Oder vielleicht waren es auch die Waliser, um die Engländer abzuschrecken? Ich bin hoffnungslos schlecht in Geschichte!« Mary war hellhörig geworden, denn Geschichte war ihr Lieblingsfach, aber da hatte Alice die Nase voll. Sie konnte ihren Ärger kaum noch zurückhalten. »Wenn Mary jetzt Geschichte mit uns pauken will«, hatte sie verkündet, »dann gehe ich!« Damit war sie zur Hintertür gelaufen, um sich ihre Schuhe anzuziehen. William war der gleichen Meinung wie Alice, denn wenn Mary erst einmal anfing über Geschichte zu reden, konnte es Stunden dauern. Aber er schwieg und folgte Alice zur Tür. »Wenn du uns eine Karte mitbringen könntest«, sagte er, »wäre
das wirklich gut. Man kann sich dann besser orientieren.« Aber er nahm seinen Kompass mit, und als sie alle ihre Schuhe angezogen hatten, spielte er sich ganz selbstverständlich als ihr Führer auf. Das machte Alice nur noch wütender und Mary blieb absichtlich zurück und machte deutlich klar, dass sie »nicht dazugehörte«. Sie waren durch den Küchengarten gegangen und weiter durch ein Tor in der Mauer, wo nach Onkel Jacks Beschreibung ein Waldweg hinter dem Grundstück entlanglief. William blieb auf dem Waldweg stehen und überlegte, in welche Richtung sie weitergehen sollten. Alice hatte ihn eingeholt, kurz danach auch Mary. »Ich glaube euch beiden einfach nicht!«, sagte Alice. Sie bemühte sich, nicht enttäuscht zu klingen, stattdessen hörte es sich ärgerlich an. »Was ist denn los?«, fragte William und konzentrierte sich weiter auf seinen Kompass. »William!« Alice zitterte vor Wut. »Du kannst es doch nicht vergessen haben?« Aber William starrte seinen Kompass nur noch angestrengter an und Mary hatte sich ein Stück weiter weg mit dem Rücken zu ihnen an einen Zaun gelehnt. »Ich habe seit Weihnachten auf das hier gewartet…«, fing Alice wieder an, aber da wurde sie von Spots Bellen unterbrochen, der einen Moment später schwanzwedelnd aus dem Küchengarten auf sie zulief. »O Spot!«, rief Alice und schlang ihre Arme um den Hals des Hundes. »Du weißt es noch, oder? Du weißt noch, wie der Magier es geschafft hat, dass ich in dir war und mit deinen Augen gesehen und mit deiner Nase gerochen habe? Du weißt bestimmt noch, wie wir über den Schnee gejagt sind… Sag es mir bitte, Spot. Ich weiß, dass du es kannst. Du kannst doch in meinem Kopf sprechen, oder? Es ist wirklich passiert. Das haben wir doch gemacht, oder nicht? Bitte sag es mir endlich…« Aber Spot hatte sie nur mit schief gelegtem Kopf bittend angesehen, als ob er verzweifelt versuchen würde ihre Worte zu verstehen. Das war zu viel für Alice gewesen. Wenn Spot sich nicht erinnerte, dann niemand. Es bedeutete, dass sich niemand auf der Welt erinnerte… außer ihr. »Was ist hier los?«, fragte sie sich stirnrunzelnd. Sie hatte sich auf die Fersen gesetzt und sich dabei an der Wange gekratzt, was immer
ein Zeichen dafür war, dass sie über etwas nachgrübelte. Aber William drehte sich langsam um und sah sie an. »Natürlich erinnere ich mich«, sagte er mit leiser, zweifelnder Stimme. Dann guckte er schnell weg und widmete sich wieder seinem Kompass. »Wirklich?«, rief Alice erleichtert. »Ich dachte schon, ich würde verrückt. O Will, warum willst du dann nicht darüber reden?« »Ich habe viel darüber nachgedacht. Aber… es kann nicht passiert sein«, sagte William ruhig. »Ich meine… es ist nicht möglich.« »Es ist aber passiert«, warf Mary ein. »Irgendwie ist es passiert.« »Natürlich!«, rief Alice. »Was ist los mit euch? Warum seid ihr so komisch?« Sie kniete auf dem Boden und sah sie verzweifelt an. »Bin ich nicht«, antwortete William. »Ich weiß nicht. Es ist nur… na ja, es ist nicht möglich – Magie, meine ich. Also… wenn es nicht möglich ist… dann ist es auch nicht passiert.« »Aber wir wissen doch, dass es wirklich passiert ist!« Alice hätte ihn ohrfeigen können, weil er sich so dumm anstellte. »Was würdest du sagen, wenn es jetzt passiert? Dass du nur träumst? Dann möchte ich wissen, wie wir alle drei denselben Traum haben konnten. Das ist doch wirklich sehr merkwürdig!« »Wenn es noch mal passiert…«, antwortete William sehr langsam, »dann muss ich es wahrscheinlich glauben – wenigstens, solange ich hier bin. Aber als ich in der Schule war, schien alles so… unwirklich. Ist es euch nicht auch so gegangen? Ich konnte nicht darüber nachdenken, weil ich nicht mehr daran geglaubt habe.« »Vielleicht weil du Angst hattest?«, fragte Mary ihn. »Nein!«, antwortete er gereizt. »Ich aber«, sagte Mary. »Ich musste aufhören daran zu denken, weil es mir Angst gemacht hat. Zum Beispiel…«, sie holte tief Luft, und als sie wieder sprach, war ihre Stimme nur noch ein Wispern, »… als ich in der Eule geflogen bin.« »Aber war das nicht wunderbar, Mary? Daran musst du dich doch erinnern?«, bohrte Alice weiter. »Es war das Schrecklichste, was mir jemals passiert ist«, flüsterte Mary und schüttelte fröstelnd den Kopf. »Lasst uns Verstecken spielen«, sagte sie und wechselte das Thema. Egal wie sehr Alice sich bemühte, die beiden wollten nicht mehr über dieses Thema sprechen. »Ich glaube, ihr seid verzaubert«, meinte sie mürrisch. »Jemand hat euch verzaubert, damit ihr so komisch seid.« »O Alice!«, stöhnte William und steckte seinen Kompass in die
Tasche. »Es gibt keine Zauberei.« Bevor Alice protestieren konnte, hatte er abwehrend eine Hand gehoben. »Ich finde Marys Vorschlag gut. Lasst uns Verstecken spielen!«
2 »Ki-ki-ki!« »Achtundneunzig, neunundneunzig, HUNDERT!« Marys Stimme wurde noch lauter. »Ich komme!« Alice konnte ihre Schwester sehen, die am Fuß des Hügels auf dem schmalen Waldweg stand und sich langsam in der Umgebung umblickte. Sie sah, wie Mary die Augen dabei mit den Händen gegen die grelle Sonne schützte, die in der Frühlingsluft hinter den Wolken auftauchte und wieder verschwand. Ziel des Spieles war, dass man aus seinem Versteck zum Baumstamm rannte und ihn berührte. Dabei musste man »Eins, zwei, drei, frei!« rufen. Mary als die Sucherin musste die anderen daran hindern. Aber zuerst musste sie ihre Verstecke finden, sie dann fangen und abschlagen, bevor sie den Baumstamm erreichten. Eigentlich war es ganz einfach. Mary musste nur beim Baumstamm stehen bleiben, warten, bis einer sich näherte, und ihn dann jagen. Aber sobald sie den einen Mitspieler jagte, konnte der andere sich heimlich zu dem unbewachten Baumstamm schleichen. Es war das Beste, so nah wie möglich an den Baumstamm heranzukommen ohne entdeckt zu werden und dann blitzschnell hinzulaufen, wenn Mary gerade nicht hinsah. Alice merkte sofort, dass sie sich viel zu weit weg vom Baumstamm versteckt hielt. Aber auf den unteren Waldweg konnte sie nicht wieder zurück, weil Mary mit dem Zählen fertig war. Auf der Böschung, die sie hinaufgeklettert war, wuchsen Gräser, Farnkräuter, junger Adlerfarn, Brombeergestrüpp und dornige Wildrosen, aber nur ein paar verkümmerte Büsche, hinter denen sie sich nicht verstecken konnte. Wenn sie auf diesem Weg zurückginge, würde Mary sie mit Sicherheit bemerken. Sie sah sich nach einer anderen Möglichkeit um. Sie brauchte unbedingt irgendeine Deckung. Ein schmaler Pfad, nicht mehr als eine Vertiefung im Gras, schlängelte sich an ihr vorbei zu den Ginsterbüschen, dann über ein Stück unbewachsenes Land bis in den dichteren Wald, an dessen Lichtung sie sich kauerte. Wenn sie den Schutz der Bäume erreichen könnte, überlegte sie, dann käme sie leicht zum Fuß der Böschung
ohne gesehen zu werden. Das einzige Problem war das unbewachsene Stück Land. Unten auf dem Waldweg ging Mary langsam den Pfad in die Richtung, wo William sich versteckt hielt. Von ihrem Aussichtspunkt sah Alice, wie er hinter einem Baum direkt neben dem Pfad stand. Er konnte Mary wohl nicht sehen, denn einmal lugte er langsam um den Baum herum, zog sich aber schnell wieder zurück, als er überrascht merkte, wie nahe sie seinem Versteck schon war. Doch plötzlich drehte sie sich schnell nach einer Bewegung auf der anderen Seite des Pfades um. »Spot!«, schrie sie. »Ich sehe dich!« Und der Hund kam in großen Sätzen bellend aus dem Unterholz und sprang um sie herum. William nutzte die Gelegenheit, um aus seinem Versteck in Richtung Baumstamm zu rennen. »William!«, schrie Mary. »Ich sehe dich!« »Du musst mich erst abschlagen, Mary!«, rief ihr Bruder und lief ohne sich umzusehen weiter zum Baumstamm. Spot sah, dass William fortlief, und hielt das für ein viel besseres Spiel. Er rannte hinterher, sprang um seine Füße und zwang ihn dadurch den Weg zu verlassen und zwischen den Bäumen weiterzulaufen. »Spot!«, schrie William lachend. »Hör auf damit. Du bist doch nicht auf Marys Seite…« Mary lief jetzt mit ausgebreiteten Armen auf William zu und versuchte ihn zu erwischen. Die ganze Zeit sprang Spot bellend und schwanzwedelnd zwischen ihnen herum und berührte sie fast gleichzeitig mit seinen Pfoten. Mary war abgelenkt, also rannte Alice den Wiesenpfad hinunter, duckte sich tief hinter die Ginsterbüsche und kroch fast über den unbewachsenen Teil des Hügels, wo sie leicht vom unteren Waldweg gesehen werden konnte. Aber Mary, William und Spot purzelten alle in einem lachenden und bellenden Knäuel über- und untereinander und achteten überhaupt nicht auf sie. Vor ihr ragte eine Reihe Tannen auf. Sie waren so dicht nebeneinander gepflanzt, dass sie zuerst dachte, sie könnte sich nicht hindurchzwängen. Aber der Pfad wand sich um einen der ersten Bäume, dessen schlanke Äste voller dunkelgrüner Nadeln fast bis auf den Boden reichten. Danach führte er durch eine Öffnung zwischen zwei weiteren Bäumen hindurch, die bis dahin nicht zu sehen gewesen waren.
Sie stand mitten in einem düsteren Tannenwald. Nach dem strahlenden, windigen Tag war es hier plötzlich wie in einer anderen Welt. Das Licht wurde braun und schwach, es durchdrang kaum das dicke Geflecht von Zweigen ohne Nadeln. Nur an den grünen Spitzen, die irgendwo da oben bis zum Himmel reichten, konnte Alice erkennen, dass die Bäume überhaupt lebten. Der Waldboden war mit einer viele Jahre alten dicken Schicht Nadeln und Tannenzapfen bedeckt. Auf der sauren Erde wuchsen nur wenige, dünn in die Höhe geschossene Pflanzen. Ein paar Farnkräuter, wucherndes Efeu, lange, dornige Brombeerranken und an einer Stelle fast schwarze, übel aussehende Giftpilze. Aber am auffälligsten war die Stille. Der Wind draußen war frisch und belebend gewesen. Hier presste er sich dumpf und fern heulend durch das Netz der ineinander verflochtenen Äste und Zweige. Kein Vogel sang. Sogar von Spots Bellen und Williams und Marys lachenden Stimmen war nichts mehr zu hören, als ob sie nicht mehr existierten. Die Luft hier roch nicht sauber und prickelnd, sondern schwer nach feuchtem Moder. Der Pfad war kaum noch zu sehen. Auf dem Boden lagen überall faulende Äste und umgefallene Tannen, unsicher eingeklemmt zwischen den Baumstämmen. Hier und da lagen mit Moos und dunklen Flechten bewachsene Steine und plötzlich ragten raue, dunkle Felsbrocken aus der Erde. Als Alice um eine dieser Felsnasen herumging, stellte sie überrascht fest, dass der Boden vor ihr fast senkrecht abfiel, in eine dunkle Mulde, wo die Bäume so dicht standen, dass sie wie eine Mauer aus Stämmen aussahen, durch die sie niemals hindurchpassen würde. Alice drehte sich um und verfolgte ihre Spur zurück zu der Stelle, wo sie in den Wald hineingegangen war. Sie mochte diese tote Halbwelt überhaupt nicht, in die sie da geraten war, und freute sich darauf, wieder herauszukommen. Aber sie konnte den Weg nicht erkennen. Alles sah hier so gleich aus, dass sie unsicher wurde, in welche Richtung sie gehen sollte. Sie folgte der schmalen Trittspur, die vermutlich von einem Tier stammte, bis zur Spitze des Hügels. Plötzlich konnte sie durch die Düsterkeit ein paar grüne Büsche und einen plötzlichen Sonnenstrahl sehen. Sie lief weiter und hoffte, dass sie vielleicht am Waldrand mit der Lichtung dahinter angekommen war, aber als sie das Licht erreichte, waren da nur ein paar Stechpalmenbüsche und ein Teppich aus langen, dünnen Gräsern, wo vor vielen Jahren ein paar Bäume gefällt worden waren. Die modernden Stämme lagen noch am Rand der kleinen Lichtung. Von allen Seiten
bedrängte sie der dunkle, stille Wald und erstickte sie fast. Sie drehte sich langsam einmal im Kreis und suchte nach irgendeinem Anhaltspunkt, der ihr die richtige Richtung zeigen würde. Aber es gab keinen. Wohin sie auch schaute, überall ragten Baumstämme in die Düsterkeit hinein. Jetzt wusste sie überhaupt nicht mehr, woher sie gekommen war und wohin sie gehen sollte. Alice hatte sich verirrt. »William!«, rief sie und kämpfte gegen die Panik an, die sie aus ihrem Magen aufsteigen fühlte. Ihr Herz schlug schneller und sie hatte einen Kloß im Hals. »William? Mary?«, rief sie noch lauter. Dann wartete sie ohne viel Hoffnung auf eine Antwort. Die Stille um sie herum war fast greifbar. Sie schien so undurchdringlich zu sein wie der große Kreis aus Baumstämmen um sie herum. Sie rief wieder, aber ihre Stimme hörte sich fremd an und so gedämpft und leblos, als ob sie in ein Kissen riefe. »William!«, schrie sie. Und: »Mary!« Sie zog die Wörter so lang und rief so laut, wie sie konnte. Aber niemand antwortete ihr. Nur die schreckliche Stille und ein furchtbares, brausendes Nichts. Schließlich setzte sich Alice auf den Stapel gefällter Baumstämme und steckte ihre Hände in die Anoraktaschen. Sie versuchte sich zu beruhigen und die Richtung wiederzuerkennen, aus der sie gekommen war. Sie dachte an Williams Prahlerei mit seinem Kompass, aber sie wusste, dass sie auch mit einem Kompass nicht den richtigen Weg finden würde. Sie überlegte, wenn sie ihre Spur zu der Felsnase zurückverfolgen könnte, dann würde sie schon ihren Pfad wiederfinden, aber mit einem ängstlichen Keuchen stellte sie fest, dass sie noch nicht einmal genau wusste, wie sie auf diese Lichtung gekommen war. »Hilfe!«, flüsterte sie und blickte hinauf, wo ein Fleckchen blauer Himmel über ihrem Kopf leuchtete. Die Tannenspitzen schwankten und schaukelten im Wind und Wolken jagten über den Himmel. Es war so, als ob sie in einem dunklen Schrank säße und durch ein Schlüsselloch die helle Welt draußen sehen könnte. Alice holte tief Luft und verzog den Mund. Fliegen wäre der leichteste und sicherste Weg aus diesem Labyrinth. Aber das war natürlich nicht möglich. Es sei denn… »Wenn doch der Magier hier wäre«, dachte sie. »Er könnte mir helfen.«
Ein winziger Punkt am blauen Himmel drehte seine Kreise über ihrem Kopf und wurde immer mehr zu einem Vogel, je näher er den Baumkronen kam. Alice fühlte auf seltsame Art, dass er sie ansah. Oder zumindest hoffte sie, dass er sie sehen konnte, weil er das einzige Lebewesen weit und breit war. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus und wünschte, dass der Vogel nicht wegfliegen würde. Sie sah, wie er mit ausgestreckten Flügeln durch die Luft segelte. Sie hörte seinen Schrei, ein langes, klagendes »Ki-ki-ki«. Dann streckte er seine Krallen nach unten und ließ sich wie ein Stein fallen, um mit viel Flügelschlagen auf einem der höchsten Äste einer Tanne zu landen. Dort blieb er sitzen, beugte langsam seinen Kopf und spähte zu ihr herunter. Einen Augenblick lang bewegte sich keiner von ihnen. Die Augen des Vogels sahen wie kleine Lichtpunkte aus. Sie schienen Alice mit ihrem stechenden Blick festzuhalten, so dass sie wie angewurzelt dasaß. Aber sie hatte keine Angst. Der Blick war nicht unfreundlich, eher kühl und interessiert und fragend, wie bei einem Wissenschaftler, der durch ein Mikroskop schaut, oder einem Künstler, der einen Gegenstand betrachtet. »Bitte«, wisperte Alice, »ich habe mich ein bisschen verirrt.« »Ki-ki!«, rief der Vogel. Der Schrei klang sehnsüchtig und erinnerte Alice an Hochmoore und einsame Landschaften. Ein kalter Schrei. Sie fröstelte. Sie steckte ihre Hände tiefer in die Taschen und biss sich auf die Unterlippe. »Ich war mit meinem Bruder und meiner Schwester zusammen«, fuhr sie fort, weil sie dachte, dass einer von ihnen etwas sagen sollte. »Wir haben Verstecken gespielt…« »Ki-ki!«, rief der Vogel. »Du gehörst nicht zufällig irgendwie zu dem Magier, oder?«, fragte Alice. Der Vogel ruckte seinen Kopf nach vorne und dann scharf zur Seite, als ob er zuhörte. Alice war von seinem Blick befreit und schaute schnell in dieselbe Richtung. Da hörte sie Spot bellen. »Spot!«, rief sie, sprang von den Stämmen und lief in die Richtung, aus der das Bellen kam. »Spot! Hier bin ich. Spot!« Als das aufgeregte Bellen näher kam, sah Alice noch einmal zum Baum hoch. Der Vogel streckte die Flügel aus und hob sich in die Luft. »Jetzt ist alles in Ordnung«, rief Alice. »Was du da hörst, ist mein
Freund Spot. Er zeigt mir den Weg.« »Ki-ki!«, rief der Vogel, kreiste langsam über der Lichtung und war einen Moment später verschwunden.
3 Zwei Wege Spot merkte zuerst, dass Alice nicht da war. William und Mary saßen am Wegrand, noch ganz außer Atem nach ihrer anstrengenden Balgerei, als er plötzlich den Kopf hob und die Gegend hinter ihnen mit den Augen absuchte. »Was ist los, Spot?«, fragte Mary. »Hast du Alice gesehen?« Und sie sprang auf die Füße, drehte sich um und rief: »Komm raus, Alice! Wir sehen dich!« »Du lügst, Mary!«, sagte William und stand ebenfalls auf. »Du kannst sie überhaupt nicht sehen.« Dann runzelte er die Stirn. »Ich möchte wissen, wo sie ist.« »Immer noch versteckt«, antwortete Mary und suchte den Waldrand mit den Augen ab. »Du kennst Alice. Sie gibt niemals auf.« »Aber sie hatte jede Menge Gelegenheiten, zum Baumstamm zu kommen, während wir uns gebalgt haben«, sagte William und begann hinter Spot herzurennen, der schon fast oben auf der Böschung war und mit der Nase am Boden Alices Spur folgte. Spot fand die Stelle hinter dem Ginsterbusch, wo Alice gekauert hatte. Hier konnte er sie besonders stark riechen. Er wedelte kläffend mit dem Schwanz und suchte den Boden weiter mit seiner Nase ab. Dann hob er den Kopf und eine Vorderpfote und blickte auf die Bäume in einiger Entfernung. Dabei klemmte er den Schwanz zwischen die Beine und fing jämmerlich zu winseln an. »Was ist, Spot? Was ist los?«, fragte William, der ihn eingeholt hatte und ihm beruhigend die Hand auf den Nacken legte. Dann sah auch er auf die dichten Tannen, die wie eine Wand vor ihnen aufragten. »Was gibt’s?«, fragte Mary. Sie kam ganz außer Atem den Hügel hinaufgelaufen. »Ich weiß nicht«, sagte William. »Es ist Spot. Irgendwas beunruhigt ihn.« Spot winselte und drehte sich immer wieder um sich selbst, als ob er nicht weiterlaufen wollte. »Da stimmt was nicht, Mary«, flüsterte William und kniete sich
vor den Hund auf den Boden. »Was ist los, Junge?«, fragte er mit sanfter Stimme. »Ist was mit Alice? Ist sie in Gefahr?« Spots Winseln wurde zu einem Jaulen. Er sprang auf und ab, drehte sich um und begann sehr zögernd zu den Bäumen zu gehen. »Er will nicht da reingehen«, sagte Mary verwirrt. Dann fügte sie hinzu: »O Will, ich wünschte, die Magie würde wieder beginnen.« »Ich dachte, du hättest Angst davor«, murmelte William, als ob er sich die Magie noch immer nicht eingestehen wollte. »Wenn die Magie beginnen würde, dann könnte Spot mit uns reden. Das habe ich gemeint«, antwortete Mary. »Du glaubst also, es ist wirklich passiert?«, fragte William. »Ich weiß es«, antwortete Mary. »Und du auch. Tust du doch, oder?« William seufzte. »Ja«, antwortete er, »aber nicht wie Alice. Ich bin nicht so sicher wie sie. Jetzt, wo wir wieder hier sind, fällt es mir leicht. Aber in der Schule schien alles so… unwahrscheinlich.« Er sah den Hund an. Spot hatte sich wieder mit ausgestreckten Vorderpfoten auf den Boden gelegt und starrte die Bäume an. »Du willst da nicht reingehen, oder?«, sagte William sanft zu ihm und kraulte ihn hinter dem Ohr. Der Hund schaute ihn winselnd von der Seite an. »Ist Alice da drin?«, fragte Mary und hockte sich auf die andere Seite neben Spot. Sie legte ihren Arm um ihn. Er winselte lauter und ängstlicher. William und Mary sahen sich an. »Wir müssen da hineingehen, nicht?«, sagte Mary schließlich. William zuckte mit den Schultern. »Mir ist es egal«, sagte er. »Es sind nur ein paar Bäume und davor habe ich keine Angst. Du etwa?« Mary schüttelte nachdenklich den Kopf. »Aber Spot«, antwortete sie. »Komm«, sagte sie sanft zu dem Hund. »Wenn Alice in Gefahr ist, müssen wir es tun, Spot. Und ich möchte, dass du bei uns bist. Bitte.« Der Hund stand langsam auf und leckte ihre Hand. Dann drehte er sich um, schnüffelte auf dem Boden herum und folgte mit gesenktem Kopf und langsam wedelndem Schwanz Alices Spur zu den Bäumen. Der düstere Wald umhüllte sie wie eine Nebelschwade. Sie mussten hintereinander hergehen und folgten Spot, der den Boden, die Baumstämme und sogar die Luft um sich abschnupperte, um Alices
Spur zu finden. »Er hat Schwierigkeiten, weil die Nadeln den Geruch überdecken«, rief Mary über ihre Schulter William zu, der ihr folgte. »Es ist schwer, ihre Spur zu finden.« William fasste sie an der Schulter. »Woher weißt du das?«, fragte er sie flüsternd. Mary blieb stehen und sah sich verwirrt und stirnrunzelnd nach ihm um. »Keine Ahnung«, antwortete sie. »Es ging mir gerade so durch den Kopf.« Sie drehte sich ruckartig zu Spot um, der immer noch vor ihr herlief. »Spot?«, rief sie. Er blieb sofort stehen. »Was?«, fragte Spot. »Du sprichst mit uns«, rief Mary aus. »Hast du das gehört, Will?« William nickte und ließ Spot dabei nicht aus den Augen. »Du sprichst mit uns, Spot«, sagte Mary wieder und streichelte seinen Kopf. »Nicht wirklich«, antwortete Spot. »Ich denke nur.« »Aber… wir wissen, was du denkst. Das ist die Magie, nicht? Der Magier lässt es geschehen.« Sie sah sich ungeduldig um und suchte unter den dichten Bäumen nach ihm. »Wo ist er nur?«, seufzte sie. »Ich wünschte, er wäre hier.« »Er muss nicht immer kommen, wenn wir ihn brauchen«, sagte Spot zu ihr. »Manchmal müssen wir die Dinge allein in die Hand nehmen.« Dabei sah Spot sich um, als ob auch er sich wünschte, dass Stephen Tyler, der Magier, auftauchen würde. »Also – wenn Stephen Tyler dies nicht geschehen lässt…«, meinte William gedankenvoll. Dann brach er ab. »Was, Will?« »Dann müssen wir es selbst tun.« »Was denn?«, fragte Mary ungeduldig. »Spot hören… es ist nicht nur Magie. Es ist etwas… das wir tun… weil wir daran glauben, dass wir es können.« »Das ist das Geheimnis der Magie«, sagte Spot. »Der Glaube daran.« Er grollte die Worte sehr leise. »Ja«, sagte William nachdenklich. »Aber um zu glauben, muss man irgendwie… das Fragen aufgeben. Es ist mehr wie… aufzuhören nicht zu glauben. Als ich in der Schule war, konnte ich nicht glauben, was hier passiert ist… weil nichts einen Sinn ergab. Ich stellte mir Fragen und… konnte den Antworten nicht trauen. Ich hab
es einfach nicht geglaubt.« »Also, dann lass uns damit anfangen, zu glauben, dass wir Alice finden«, schlug Mary vor. »Ich mag diesen Wald genauso wenig wie Spot.« Und sie rief: »Alice? Alice, wo bist du? Alice?« Der Klang ihrer Stimme verlor sich zwischen den Bäumen. »Welche Richtung, Spot?«, fragte William. Der Hund sah sich um, schnupperte und horchte mit schief gelegtem Kopf und aufgestellten Ohren. Seine Nackenhaare standen hoch. »Das ist das Üble an diesem Ort«, grollte er. »Er ist tot.« »Tot?«, fragte Mary und betrachtete die hohen, braunen Stämme. »Nein, die Bäume leben«, antwortete Spot. »Aber sie sind nicht natürlich. Dieser Wald war einmal hell und licht. Man konnte nirgendwo so viele Grüntöne sehen wie hier. Der Boden war im Frühling mit Glockenblumen und süß schmeckendem Gras bedeckt. Es gab Beeren und Schmetterlinge… Die Sonne strahlte durch die Äste und im Sommer war es schön kühl. Im Herbst fielen die Blätter und bedeckten den Boden wie ein braunroter Teppich – so eine Farbe habt ihr noch nie gesehen. Und wenn es Winter wurde, dann lag der Schnee an manchen Stellen so hoch, dass man kaum hindurchkam.« »Aber das muss eine Ewigkeit her sein, Spot«, sagte William und folgte dem Hund, der vor ihnen herschnüffelte. »Lange bevor du geboren wurdest. Ich glaube, diese Bäume stehen schon ewig hier.« Spot sah sich um und grollte. »Du tust es schon wieder«, sagte er. »Nachdenken.« William runzelte die Stirn und schwieg. Das ist ja alles gut und schön, dachte er. Aber das war es doch, was Menschen konnten – ihren Kopf zum Denken benutzen. Das machte sie doch den Tieren überlegen. »Wenn Menschen uns wirklich überlegen sind«, antwortete Spot ohne sich umzublicken, »wie kommt es dann, dass sie diesen Wald so zugrunde richten konnten? Die meisten Tiere, die hier gelebt haben… sind nicht mehr da.« Die letzten Worte seufzte er so traurig, dass Mary fröstelte. »Ich verstehe nicht, wieso du die Menschen dafür verantwortlich machst«, sagte William. »Sie mussten den Wald nutzbar machen, so wie Bauern die Felder.« »Aber sie haben die richtigen Bäume gefällt und stattdessen diese hier gepflanzt«, grollte Spot. »Solche Bäume wachsen normalerweise nicht hier. Sie haben sie gepflanzt, weil sie schneller wachsen, das war alles. Die Vögel nisten nicht auf ihnen und die Pflanzen können
nicht unter ihnen wachsen. Nichts lebt hier mehr…« Sie kamen zu einer Stelle, wo eine Felsnase vor ihnen aus dem Boden ragte. Zu beiden Seiten fiel der Boden steil ab. Spot führte sie auf die Spitze des Felsens, wo er durch die Bäume brach, als ob er in den Himmel steigen wollte. Unter ihnen und um sie herum erstreckte sich der Wald bis zum Horizont. Die Tannenspitzen standen in geraden Linien, so wie sie gepflanzt worden waren. »Es sieht aus wie ein Gitter«, überlegte Mary laut. Und das stimmte. Von ihrem Aussichtspunkt aus sah der Wald sauber und ordentlich aus. Alle Bäume hatten die gleiche Höhe und standen in geraden, gleichen Reihen auf den Hügeln und in den Mulden der Landschaft. William zeigte auf etwas. »Seht mal da drüben«, sagte er. Der Hügel weiter weg, auf den er deutete, stach aus der Landschaft wie eine grün und weiß blühende Oase. »Blüten«, sagte Mary und freute sich an dem Anblick. »Echte Bäume«, sagte William. »So sah es hier früher auch aus«, sagte Spot. »Können wir mal dahin gehen?«, fragte Mary. »Ihr könnt überall hingehen«, antwortete der Hund. »Nur geht ihr besser nicht allein und entfernt euch nicht zu weit von den bekannten Wegen.« Da erinnerten sich die Kinder wieder an Alice. »Hilfe«, murmelte Mary. »Sie könnte überall sein.« Dann hielt sie den Atem an. »He!«, sagte sie. »Ist da unten nicht so was wie ein Weg?« Sie zeigte auf eine braune Linie, die schnurgerade zwischen die Bäume geschnitten zu sein schien. Dieser Spalt reichte bis zu der steilen Böschung weiter weg und verschwand zwischen den Bäumen hinter ihnen. »Dahinten ist noch einer«, sagte William und zeigte in die Ferne, wo ein hellgrüner Streifen die düstere Regelmäßigkeit des Waldes unterbrach. Auch dieser schmale Weg führte die Böschung hinauf und verlor sich in den Bäumen hinter ihnen. »Der Helle und der Dunkle Weg«, grollte Spot. »Ihr dürft nie den Dunklen Weg gehen. Niemals.« »Wohin führt der?«, fragte Mary und schaute die braune Linie an. »Immer tiefer in den Wald. Das ist kein guter Ort. Wir gehen nie dorthin.«
»Und der andere?«, fragte William und betrachtete den grünen Weg. »Er geht auch tief in den Wald.« »Ist er sicher?« »Das müsst ihr den Magier fragen«, antwortete Spot. »Der Magier«, sagte Mary wehmütig. »Wenn er nur hier wäre! Wir werden Alice zwischen diesen Bäumen niemals finden. Sie kann überall sein.« »Können wir ihn nicht irgendwie herbeirufen, Spot?«, fragte William. »Aha, jetzt glaubst du also wieder an ihn, wie?«, sagte der Hund und starrte ihn unverwandt an. »Ich habe nie nicht an ihn geglaubt«, protestierte William ein bisschen verärgert. »Es war nur… ach, das kann ich einem Hund doch nicht erklären. Wieso rede ich überhaupt mit einem Hund? Die Jungs in der Schule würden meinen, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank.« »Das denkst du also?«, fragte Spot. »Dass du nicht mehr alle Tassen im Schrank hast?« »Nein, das denkt er nicht«, sagte Mary fest, bevor William antworten konnte. »Und jetzt bitte, Spot, beantworte Williams Frage. Können wir irgendwie den Magier rufen? Ich meine, dass er zu uns kommt?« »Ich denke schon, dass er kommen würde, wenn ihr ihn genug braucht«, antwortete der Hund. Er sah in den Himmel hinauf und wedelte langsam mit dem Schwanz. »Aber wie können wir ihn rufen?«, fragte Mary weiter. »Das braucht ihr nicht«, antwortete Spot. »Er kommt einfach… Hört mal!« Er bellte das letzte Wort mit vorgestrecktem Kopf und erhobener Vorderpfote und horchte auf ein fernes Geräusch. »Ki-ki!« »Was ist das?«, fragte Mary und suchte den Himmel nach der Quelle des seltsamen, traurigen Rufes ab. »Ein Turmfalke«, sagte William und da sah er den Vogel. Hoch über ihnen zog er seine Kreise. »Ki-ki-ki!«, rief er wieder. William und Mary sahen ihn plötzlich wie einen Stein fallen und irgendwo in den Bäumen verschwinden. »Kommt mit«, sagte Spot. Er trabte zurück in den Wald. »Wohin gehen wir?«, fragte William und folgte ihm.
»Du verstehst wirklich nichts, was?«, sagte Spot. Dann fing er an zu bellen und einen Augenblick später hörten sie weit weg, aber trotzdem deutlich eine Stimme, die nach ihnen rief. »Das ist Alice!«, sagte Mary aufgeregt. »Natürlich ist sie das«, sagte Spot. »Kommt mit.« »Aber in welche Richtung?«, wollte William wissen. »Ki-ki-ki!«, rief der Turmfalke und erschien wieder über den Bäumen. Sie beobachteten, wie er sich immer höher schraubte und seine Rufe schwächer wurden. Schließlich verschwanden seine Umrisse im blauen Himmel. »Mr. Tyler!«, rief William unwillkürlich und rannte dabei mit ausgestreckten Händen vorwärts, als ob er den Vogel aufhalten wollte. »Wo?«, fragte Mary und sah sich mit neuer Hoffnung um. »Der Turmfalke«, antwortete William. »Aber – er ist weg«, sagte Mary. »William! Mary! Spot!«, hörten sie Alice ganz aus der Nähe rufen. »Er hat uns gezeigt, wo sie ist«, sagte William ruhig. »Oh«, sagte Mary. »Dann ist er also wirklich gekommen, um uns zu helfen.« Vor ihnen bellte Spot aufgeregt. Er wich beim Laufen Baumstämmen aus und rannte über den weichen, braunen Untergrund zu einem fernen, grünen Schimmer. Ein dünner Sonnenstrahl zeigte ihnen die Lichtung, wo Alice auf sie wartete.
4 Brock Alice saß auf einem Stapel Baumstämme am Rand der Lichtung, hatte die Hände in die Anoraktaschen gesteckt und sah so aus, als ob sie jetzt wirklich genug hätte. »Wieso habt ihr so lange gebraucht?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Wirklich, Alice!«, fuhr Mary sie an. »Du könntest zumindest ein bisschen dankbar sein.« »Ich bin jetzt schon ewig in diesem blöden Wald«, sagte ihre Schwester und trampelte heftig mit den Füßen auf den Boden. Mary und William tauschten einen Blick und schwiegen. Es gab Zeiten, da ging man besser nicht auf Alices Launen ein. »Wir sind noch nicht wieder aus dem Wald heraus«, grollte Spot. Er klang nicht sehr zuversichtlich, als ob er wüsste, dass sie sich immer noch verirrt hatten. Aber beim Klang seiner Stimme sprang Alice erfreut auf. Ihre Laune besserte sich sofort. »Spot!«, rief sie und Kummer und Angst waren vergessen. »O Spot! Du hast gerade gesprochen!« »Wirklich?«, sagte der Hund müde. »Das hast du vorhin noch nicht getan. Du hast überhaupt nichts zu mir gesagt, obwohl ich dich so sehr darum gebeten habe.« »Ich habe die ganze Zeit mit dir gesprochen«, grollte der Hund. »Du hast bloß nicht zugehört.« »Nicht zugehört!«, protestierte Alice. »Ich wollte mehr als alles auf der Welt, dass du mit mir sprichst.« »Na gut, dann hast du nicht richtig zugehört«, antwortete der Hund schroff. »Ich konnte dich hören. Aber du warst so damit beschäftigt, mich antworten zu hören, dass du nicht bemerkt hast, als ich es tat.« Aber als er sah, wie niedergeschlagen Alice nach diesem Tadel aussah, tat sie ihm sofort Leid und er leckte ihre Hand. Alice streichelte den Kopf des Hundes, der vor ihr saß und seine Schnauze auf ihre Knie gelegt hatte. William und Mary setzten sich auf die Baumstämme. Alle schwiegen gedankenverloren. »Es ist wirklich sehr seltsam«, sagte Alice schließlich und sah ih-
ren Bruder und ihre Schwester an. »Überhaupt nicht so, wie ich gedacht hatte. Ich meine… Ich dachte, wir kommen zurück nach Golden House… und die Magie würde sofort wieder einsetzen… und der Magier wäre da…« »Er war da«, sagte William traurig zu ihr. Dabei blickte er zu dem Fleck blauen Himmels über ihren Köpfen. »Wo?«, rief Alice. »William glaubt, dass der Vogel Stephen Tyler war«, erklärte Mary ihr. »Welcher Vogel?«, wollte Alice wissen. »Der hier über die Lichtung geflogen ist«, antwortete Mary. »Der Turmfalke«, sagte William ruhig. »Ihr habt ihn gesehen?«, fragte Alice. Mary nickte mit dem Kopf. »Es war so, als ob er uns zeigen würde, wo du warst«, erzählte sie Alice. »Wenigstens haben wir dich rufen hören, kurz nachdem wir den Vogel gesehen hatten.« »Ich glaube nicht, dass der Vogel Stephen Tyler war!«, sagte Alice. »Er hat mir wirklich Angst gemacht. Wie diese Dinger in der Wüste… wie heißen die Vögel nochmal, die darauf warten, dass die Leute sterben?« »Geier«, antwortete Mary. »Also für mich sah er so aus«, sagte Alice. »Er hatte wirklich komische Augen. Sie haben richtig in mich hineingestarrt. Er hat bestimmt bloß darauf gewartet, dass er mich fressen kann.« »Aber das ist es doch«, sagte William. »Erinnerst du dich nicht mehr? Genauso hat der Fuchs geschaut… wirklich tief in einen hinein.« »Die Eule auch«, stimmte Mary zu. Dann drehten sich alle um und sahen Spot an, der sie genauso anstarrte. »Und Spot«, sagte Alice ruhig. »Du guckst genauso. Heißt das, dass der Magier gerade in dir ist? Jetzt im Moment, Spot?« Aber der Hund legte nur seinen Kopf auf die Seite und wedelte ein bisschen mit dem Schwanz. »Manchmal«, sagte Mary nachdenklich, »ist es so, als wäre er einfach nur ein ganz normaler Hund.« »Vielleicht weil ich genau das bin«, grollte Spot. »Ganz normal. Ihr seid seltsam, nicht ich!« Dann gähnte der Hund, streckte seine Beine nach vorne und leckte eine seiner Pfoten.
Sie schwiegen wieder. Der Wald um sie herum beobachtete sie und wartete. »Wirklich!«, sagte Alice schließlich fröstelnd. »Ich hasse diesen Ort.« »Ja«, stimmte William zu. »Wir sollten besser gehen. Es muss schon fast Mittag sein.« Er sah sich langsam auf der Lichtung um. »Aber… in welche Richtung, Spot?«, fragte er. Spot blickte sich ebenfalls um und schnupperte in die Luft. »O Mist!«, sagte Alice und kratzte sich an der Wange. »Jetzt habe ich wirklich Hunger!« »Es ist auch schon ziemlich spät«, sagte Mary und sah auf ihre Uhr. Alice hatte keine Uhr. Doch, eigentlich besaß sie eine. Sie hatte sie vor einem Jahr von ihren Eltern zu Weihnachten bekommen. Aber sie war nie richtig gegangen, und nachdem sie ein paar Mal repariert worden war, wurde beschlossen, dass Alice zu den Leuten gehörte, die keine Uhr tragen konnten, weil sie selbst zu sehr unter Strom standen. Nach dieser Enthüllung hatte Alice versucht eine Glühbirne zum Leuchten zu bringen, indem sie sich damit durch ihre Haare strich, aber ohne Erfolg. Das Äußerste, was sie erreichen konnte, war ein schwacher Stromschlag beim Öffnen der Autotür oder ein knisterndes Geräusch, wenn sie ihren Pullover auszog. Aber keine dieser Erscheinungen, das musste sie sogar selbst zugeben, war wirklich ein welterschütternder, wissenschaftlicher Durchbruch. Sobald es um Tageszeiten ging, behauptete sie jedoch, dass ihr Magen besser als jede Uhr funktionierte und sie deshalb immer genau wüsste, wie spät es sei. »Es ist Zeit zum Mittagessen«, verkündete sie, »und ich habe wirklich Hunger. Ich könnte mindestens sieben Würstchen essen.« Würstchen waren ihr Lieblingsessen. »Spot!«, jammerte sie, »führ uns bitte hier raus!« Sie ging zu dem Hund, der sehr interessiert auf dem Boden herumschnüffelte, und legte ihren Arm um seinen Hals. »Ein Dachs!«, sagte Spot und sah grinsend zu ihr auf. Sie drehten sich beide um und schnupperten wieder am Boden entlang. Auch Alice konnte den scharfen, stechenden Geruch riechen. Er war so stark, dass sie einen Augenblick lang glaubte, ihr würde schlecht. Sie zog sich aus dem Hund zurück und sah sich nach William und Mary um. »Igitt!«, schüttelte sie sich. Dann merkte sie, was gerade geschehen war, und setzte sich auf ihre Fersen.
»William!«, wisperte sie. »Gerade ist es wieder passiert.« »Was?« Er hörte sich ein bisschen gereizt an. William war nicht gerne verirrt. Er fühlte sich in seiner männlichen Ehre gekränkt, weil er dadurch wie ein Waschlappen aussah. Diese Gefühle hatten ihn erst kürzlich befallen, eigentlich hatte es ihn bis zu diesem Augenblick kein bisschen interessiert, ob er männlich oder ein Waschlappen war. Aber jetzt fühlte er sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund persönlich durch die missliche Lage beleidigt, in der sie sich befanden. Er hatte deshalb überhaupt keine Lust, Alice zuzuhören, die von den Stämmen gesprungen war und ihn und Mary mit leuchtendem Gesicht ansah. »Ich war in Spot«, sagte sie. »Ich habe durch seine Nase gerochen.« »O Alice!«, stöhnte William unwirsch. »Aber es ist wahr!«, protestierte Alice. »Ist es nicht«, sagte Mary. »Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet. Du hast nur einfach neben ihm gekniet.« »Ich habe durch seine Nase gerochen, Mary«, beharrte Alice. »Wirklich. So wie damals, weißt du noch? So wie du mit der Eule geflogen bist…« »Ich habe dich beobachtet, Alice«, sagte Mary. »Und du hast einfach nur neben ihm gekniet.« Bevor Alice antworten konnte, sprang Spot schwanzwedelnd vorwärts, die Nase dicht am Boden. »Kommt mit«, bellte er. »Hier lang!« Die Kinder mussten laufen, um mit ihm Schritt halten zu können. Sie wichen Bäumen aus und zwängten sich durch Zweige. Sie überquerten düstere Lichtungen ähnlich der, auf der sie Alice gefunden hatten. Manchmal mussten sie um Tümpel mit dunklem, stehendem Wasser gehen oder über schlammige, nasse Pfade springen. Sie rutschten in Mulden und kletterten außer Atem steile Böschungen hinauf. Die ganze Zeit umgab sie das braune Halblicht und die reglosen Bäume umzingelten sie von allen Seiten. Die einzigen Geräusche waren das Getrappel ihrer Füße auf der dunklen Erde und das Knacken von trockenen Zweigen. Schließlich kamen sie zu einer Stelle, wo ein breiter Weg ihren Pfad kreuzte. Die Bäume lehnten sich über der Schneise aneinander und waren mit Kletterpflanzen bewachsen. Auf dem Boden darunter wucherten Unkräuter und Holz verfaulte. Scheußliche Giftpilze wuchsen aus morschen Baumstümpfen und tote Äste ragten wie
schwarze Tierknochen aus dem Unterholz. Spot blieb am Wegrand stehen. Er lief zwischen zwei Bäumen hin und her ohne einen Fuß auf den Weg vor sich zu setzen. Seine Nackenhaare sträubten sich. Ein leises Grollen kam aus seiner Kehle. Sein Schwanz peitschte zornig über den Boden. »Was ist los?«, wisperte William, der die Unruhe des Hundes spürte. »Spürst du es nicht?«, grollte Spot, während er den Weg nicht aus den Augen ließ. William sah sich um. Er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. »Was denn?«, fragte er und trat aus dem Schutz der Bäume auf die Mitte des Weges. Spot bellte kurz und sprang vom Weg zurück. Dabei stieß er Mary an, die direkt hinter ihm stand. »Was ist?«, fragte sie und legte ihm eine Hand auf den Rücken, um ihn zu beruhigen. Der Hund neben ihr zitterte. »Kommt weiter«, rief William. »Wir können auf dem Weg viel leichter gehen. Er muss ja irgendwohin führen.« »Nein!«, bellte Spot. »Das ist kein guter Ort.« »Ist das der Weg, den wir vom Felsen aus gesehen haben?«, fragte Mary und fröstelte plötzlich. »Den du den Dunklen Weg genannt hast?« »Ihr müsst es spüren«, bat Spot inständig. »Ich fühle mich ein bisschen… kalt«, sagte Mary schließlich. »Aber es ist nicht schlimmer als anderswo in diesem scheußlichen Wald«, rief William. Nur Alice blieb still. Sie stand unschlüssig am Wegrand und steckte zur Beruhigung ihre Hände in die Taschen. »Du spürst etwas, oder?«, sagte Spot zu ihr und stieß sie mit seiner Nase an. »Stimmt, ich mag es hier nicht besonders«, sagte sie zaghaft. »Was ist das für ein Ort, Spot?« »Der Dunkle und Schreckliche Weg«, sagte der Hund ruhig. »Kein Tier kommt hierher. Nicht freiwillig. « Dann schnupperte er wieder erstaunt auf dem Boden. »Aber der Dachs ist hier hergegangen«, sagte er schließlich, hob seinen Kopf und blickte über den Weg auf die gegenüberliegenden Bäume. Dann fing er plötzlich unheimlich lang und hoch zu jaulen an.
Es klang fast wie das Heulen eines Wolfes in der Nacht, schauerlich und traurig. »Spot«, rief Alice und schlang tröstend die Arme um seinen Hals. »Was ist mit dir?« Und sie war so voller Mitleid, dass sie fast geweint hätte. Einen Augenblick später fand William den Grund für den Kummer des Hundes. Auf der anderen Seite des Weges entdeckte er, halb unter einem Hügel aus Zweigen im Unterholz versteckt, den leblosen Körper eines Dachses. Es sah aus, als ob das Tier versucht hatte unter den Zweigen Schutz und Wärme zu finden. Es blutete am Nacken, als ob es von einem wilden Tier angegriffen worden wäre. »Nein!«, rief William entsetzt aus. Dann drehte er sich um, damit er das traurige Bild nicht länger ansehen musste. »Was ist?«, fragte Alice und rannte zu ihm. »Sieh nicht hin«, sagte William und hielt sie auf. »Ich glaube, es ist ein Dachs. Er ist tot.« Spot lief schnell über den Weg zu dem toten Dachs. Er beschnüffelte ihn traurig und winselte dabei. »Brock!«, rief er jämmerlich. Dann bellte er laut und zornig und knurrte den Wald an, als ob er auf eine seltsame Art die Bäume oder den Ort selbst für das Schicksal des Dachses verantwortlich machen wollte. »Es geschieht wieder«, grollte er. »Es geschieht wieder.« Immer noch murrend und bellend ging er auf der anderen Seite des Weges in den Wald hinein. »Kommt jetzt mit«, jaulte er auf, »wenn ihr zur Fütterung wollt.« Damit verschwand er unter den Bäumen. Mary lief über den Weg zu William und Alice. »Ich habe noch nie einen Dachs gesehen«, sagte sie und starrte den leblosen Körper an. »Wie ist er gestorben?«, fragte Alice traurig. »Ich glaube, er ist angegriffen worden«, sagte William. »Das arme Tier«, schluchzte Alice und kämpfte mit den Tränen. »Ich mag diesen Wald überhaupt nicht, William.« Sie nahm seine Hand. »Ich auch nicht«, stimmte ihr Bruder zu. »Kommt schon«, bellte Spot weiter weg ungeduldig. »Hier unten ist ein Weg.« »Wir sollten besser gehen«, sagte Mary. »Wir kommen sonst gleich am ersten Tag zu spät.« Und sie folgte dem Klang von Spots Bellen.
Als William sie wegzog, sah Alice den toten Dachs ein letztes Mal lange an, dann rannten sie Hand in Hand fort von dem Dunklen und Schrecklichen Weg.
5 Die Schrift auf dem Boden Phoebe stand am Herd und rührte in einem Kochtopf, als sie hereinkamen. »Da seid ihr ja«, sagte sie und blickte auf. »War euer Spaziergang schön? Das Mittagessen ist fast fertig.« William lief nach oben und Alice ging Onkel Jack suchen, der ›irgendwo im Haus‹ war, wie Phoebe ihnen sagte. »Ich weiß nie genau, wo. Manchmal bin ich ganz heiser von der vielen Ruferei. Sagt ihm, das Essen steht auf dem Tisch, ja?« Stephanie lag in ihrem Bettchen und wachte beim Geräusch ihrer Stimmen plötzlich auf. Mary ging zu ihr, nahm sie ohne um Erlaubnis zu fragen auf den Arm und drückte sie. »Das ist deine Patentante, Stephanie«, sagte Phoebe. Dabei schüttete sie den Inhalt des Kochtopfs in eine große Schüssel. »Erinnerst du dich an Mary?« »Ich glaube, das kann sie nicht«, sagte Mary schüchtern. »Das sollte sie aber!«, rief Phoebe aus. Sie legte Besteck auf den Tisch und stellte ein großes Brot auf einem Brett in die Mitte. »Ohne deine Hilfe hätte sie es schwer gehabt, auf diese Welt zu kommen.« »O Stephanie!«, sagte Mary und wiegte sie hin und her. Sie war plötzlich überwältigt von einem Gefühl der Traurigkeit und Tränen schossen ihr in die Augen. »Was ist los?«, fragte Phoebe sofort besorgt. »Nichts«, sagte Mary und kämpfte mit den Tränen. »Wir haben einen toten Dachs gesehen, das ist alles.« Phoebe wischte sich stirnrunzelnd ein paar Haare aus der Stirn. »Du liebe Güte!«, rief sie aus. »Wie schlimm für euch alle! Aber das ist die Natur, nicht? Ein Wald ist nun mal voll von Leben und Tod.« Sie fröstelte. »Ich fühle es manchmal überall um mich herum. So viel Leben, so viel Überlebenskampf, so viel Jagd und Töten.« Dann zuckte sie die Schultern, als ob sie einen unerfreulichen Gedanken abschütteln wollte. »Die Natur ist grausam – wenn man den Tod für grausam hält. Aber auf seine Art ist er Teil eines Kreises, nicht wahr? Ich denke, wenn wir nur wüssten, wo, dann fänden wir jetzt einen kleinen Dachs, der gerade sein Leben beginnt, so wie
Stephanie, und alles noch vor sich hat. Manchmal sehe ich sie an und bin… überwältigt davon, wie bereit und erwartungsvoll sie ist. Wie absolut zäh sie ist. Wirklich.« Sie nahm Mary in den Arm. »Sei nicht traurig. Bitte.« »Bin ich nicht«, sagte Mary verlegen durch diese unerwartete Zuneigung. »Soll ich sie wieder in ihr Bettchen legen?« »Ja«, sagte Phoebe. »Ich füttere sie später.« Alice und Jack kamen beide kichernd herein. »Onkel Jack, Onkel Jack! Was ist ölig und glotzt?«, schrie Alice. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht«, rief Jack und gab sich geschlagen. »Fettaugen!«, sagte Alice und fing wieder an zu kichern. »Der Witz ist albern, Alice«, sagte Mary. »Und ziemlich alt.« Alice zuckte die Schultern. »Onkel Jack kannte ihn noch nicht.« »Wo ist William?«, fragte Phoebe. »Auf der Toilette, glaube ich. Ich hole ihn«, sagte Alice und ging wieder in die Halle. Einen Augenblick später hörten sie, wie Alice, so laut sie konnte, seinen Namen brüllte. Als William wieder herunterkam, setzten sie sich zum Essen. Phoebe hatte einen Gemüseeintopf gemacht, den sie Ratatouille nannte. »Aber ich dachte, du wärst ein Gemüseesser, Phoebe«, protestierte Alice. »Aber es ist Gemüse!«, sagte Phoebe zu ihr. »Ist es nicht. Es ist Ratte!«, sagte Alice kichernd und ließ sich ihr Essen schmecken. William und Mary tauschten einen verzweifelten Blick aus. »Manchmal ist sie so«, erklärte William. »Habt ihr einen schönen Spaziergang gemacht?«, fragte Jack. »Ja, war gut. Wir haben uns ein bisschen verlaufen. Hast du an die Karte gedacht, Phoebe?«, fragte William. »Ich bin doch nicht in die Stadt gefahren. Ich gehe morgen. Tut mir Leid.« »Macht nichts«, sagte William. »Spot hat uns den Weg gezeigt«, sagte Alice. »Was habt ihr gesehen? Was habt ihr gemacht?«, fragte Jack beim Brotschneiden. »Einen toten Dachs«, sagte Mary ruhig. »Ich glaube, wir hätten ihn begraben sollen«, fügte sie zu William und Alice gewandt hinzu.
»Das konnten wir nicht. Wir hatten keinen Spaten oder so was.« »Ich mag gar nicht daran denken, wie er einfach so daliegt«, beharrte Mary. »Ach hör auf, Mary. Ich will gar nicht mehr daran denken«, sagte Alice bedrückt. »Vielleicht könnten wir das morgen tun«, sagte William nachdenklich. »Was?«, fragte Alice. »Den Dachs begraben«, antwortete er. »Ich will nicht wieder dahin zurück«, sagte Alice. Sie blickte auf ihren Teller, damit sie die anderen nicht ansehen musste. »Ich glaube, Will hat Recht«, sagte Mary. »Ich bin dafür, dass wir das arme Tier begraben.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, unterbrach Phoebe und sah Jack nervös an. »Er könnte jetzt schon voller Krankheiten stecken und überhaupt ist es der natürliche Weg ihn einfach liegen zu lassen. Er ist wahrscheinlich Futter für andere Tiere.« »Wie ekelhaft!«, rief Alice aus. »Daran will ich erst recht nicht denken.« »Vielleicht solltest du ›Gemüseesser‹ werden, Alice«, sagte Phoebe augenzwinkernd. Alice schmollte und sah wieder auf ihren Teller hinunter. Sie hatte das Gefühl, dass Phoebe sie auslachte, und das gefiel ihr überhaupt nicht. »Würstchen liegen nicht einfach so im Wald rum«, sagte sie ärgerlich. »Und wenn doch, dann würde ich sie als Erste essen.« »Aber doch nicht roh, Alice!«, rief William aus. »Ach halt die Klappe, William«, rief seine Schwester aus. »Ich sag euch was«, unterbrach Jack sie. »Ich komme morgen früh mit euch und wir beerdigen den Dachs alle zusammen. Was haltet ihr davon?« Die Kinder waren begeistert, aber Phoebe schüttelte den Kopf. »Haltet Stephanie und mich da raus. Ich habe noch nie einen lebendigen Dachs im Wald gesehen und ich will jetzt keinen toten sehen. Vielen Dank.« »Wir dürfen uns nur nicht so lange damit aufhalten«, fuhr Jack fort. »Ich habe furchtbar viel zu tun und muss auch noch in die Stadt fahren.« »Musst du das?«, fragte Phoebe. »Kann ich das nicht für dich erledigen?«
»Gerne, wenn du Lust hast, mit einem Bankdirektor zu reden«, sagte Jack zu ihr. »Nein danke!«, sagte Phoebe fest. »Wenn wir bankrott sind, hätte ich es lieber, wenn du die schlechte Nachricht zuerst hörst.« »Was ist bankrott?«, fragte Alice. »Kein Geld«, sagte Phoebe nachdrücklich. »Wir haben immer noch etwas übrig«, sagte Jack grinsend. »›Etwas‹ ist genau das richtige Wort«, sagte Phoebe. »Onkel Jack, ihr seid nicht wirklich bankrott, oder?«, fragte Mary ängstlich. »Nein!«, sagte Jack. »Wir haben immer noch genug Geld, um über die Umbauzeit zu kommen. Dann…« – er tat so, als würde er in eine Trompete blasen, und machte eine Fanfare nach – »nächstes Frühjahr, wenn alles nach Plan läuft, wird Hotel Golden House sich einer gespannten und beeindruckten Öffentlichkeit vorstellen und wir werden ein bescheidenes, aber ausreichendes Einkommen haben. Nur… alles würde glatter gehen, wenn ich die Bauarbeiter zurückholen könnte.« »Geht das wieder los«, stöhnte Phoebe. »Welche Bauarbeiter?«, fragte William. »Wir hatten vor ein paar Wochen Bauarbeiter hier, die am Dach gearbeitet haben«, erklärte Phoebe. »Phoebe konnte sie nicht leiden«, unterbrach Jack sie. »Also musste ich sie wegschicken.« »Jack, das stimmt doch gar nicht«, protestierte Phoebe. »Es gab nichts mehr für sie zu tun – wir können sie uns nicht die ganze Zeit über leisten.« »Jetzt gibt es wieder Arbeit für sie…«, sagte Jack. »Dann hol sie zurück«, sagte Phoebe scharf. »Ich halte dich nicht auf.« Für einen Augenblick herrschte bedrückende Stille am Tisch. Die Kinder spürten die Spannung zwischen Jack und Phoebe und waren ganz verlegen. »Ich habe nur gesagt«, fuhr Phoebe nach einer Weile fort, »dass sie mehr Zeit damit zugebracht haben, Tee in der Küche zu kochen, als tatsächlich zu arbeiten…« »Sie haben das Dach glänzend repariert«, erwiderte Jack. »Ja, das stimmt. Ich gebe auf. Hol sie zurück!« »Musstest du das ganze Dach erneuern lassen, Onkel Jack?«, fragte William und versuchte das Thema zu wechseln.
»Nein, wir hatten Glück. Alle Balken waren in Ordnung. Wir mussten nur die Ziegel befestigen. Wer auch immer dieses Haus gebaut hat, wollte, dass es sich hält. Wenn ihr mit dem Essen fertig seid, nehme ich euch auf einen großen Rundgang mit und zeige euch, was wir getan haben.« »O jaaa!«, sagte Alice begeistert. »Wir haben alles Mögliche entdeckt«, sagte Jack. »Was denn?«, fragte William nervös. »Ich warne euch«, sagte Phoebe, »ihr lasst euch auf stundenlange Vorlesungen über die Baugeschichte des Hauses ein und wofür jeder kleine versteckte Winkel gut war.« »Versteckter Winkel?«, fragte Mary. »Heißt das… du hast das Geheimzimmer entdeckt, Onkel Jack?« William streckte seinen Fuß unter dem Tisch aus und trat Mary, so dass sie vor Schmerz aufheulte. »Au! William!«, rief sie aus. »Tut mir Leid«, sagte ihr Bruder, aber es klang nicht wirklich so. »Nein, wir haben kein Geheimzimmer und keinen Geheimgang entdeckt«, sagte Jack, der die Unruhe der Kinder gar nicht bemerkte. »Jedenfalls noch nicht. Es sollte natürlich eines geben. So was gehört schließlich in jedes Haus, das etwas auf sich hält. Der Hauptteil des Hauses war ursprünglich eine Art religiöser Zufluchtsort. Ein Platz, wo Mönche sich zum Gebet und zur Meditation trafen. Es soll einen geheimen Tunnel geben, der von hier zur Abtei Llangmarren führt. Aber irgendwie halte ich das nicht für sehr wahrscheinlich. Llangmarren ist fünf Meilen gerade Strecke entfernt auf der anderen Seite des Tales und der Tunnel müsste direkt durch einen massiven Klotz von Berg führen! Und wofür sollten Mönche überhaupt einen Geheimgang brauchen? Sie haben nichts Unrechtes getan, als sie hierher kamen. Man braucht nur einen Geheimgang oder, wenn ihr wollt, ein Geheimzimmer, wenn man etwas zu verstecken hat, oder etwa nicht?« »Woher weißt du das überhaupt alles?«, fragte William ihn. »Von meiner Freundin Miss Prewett im städtischen Museum. Sie kramt immer neue Geschichten über das Haus hervor.« Nach dem Mittagessen nahm Jack sie zum versprochenen Rundgang durch das Haus mit. Auf der rechten Seite der Halle befanden sich zwei große, quadratische Räume mit hohen Fenstern nach vorne und zur Seite des Hauses. Die Türen zu diesen Räumen lagen zu beiden Seiten des Kamins in der Halle. Im ersten Stock gab es die
gleichen Räume noch einmal und die Türen führten auf die Galerie gegenüber von Jacks und Phoebes Schlafzimmer. Diese Räume, erklärte Jack, waren im 18. Jahrhundert verändert worden. »Gegen Ende des Jahrhunderts. Offensichtlich gehörte das Haus zu dieser Zeit einem Gutsbesitzer, der sich selbst sehr wichtig nahm – er war tatsächlich ein bisschen hochnäsig –, und der wollte mit der modernen Architektur eben zeigen, wie reich und wichtig er war! Lustig, dass diese Architektur einmal ›modern‹ war, nicht? Wie auch immer, er kam nur dazu, vorne und an der Seite neue Wände ziehen und die Löcher mit den neuesten Schiebefenstern stopfen zu lassen. Alle Originalbalken aus dem 16. Jahrhundert sind noch hinter dem Putz. Dieser Vorderraum soll einmal die Bar werden. Die Räume oben werden Gästezimmer mit jeweils einem Badezimmer… hoffe ich! Ich muss immer noch die große Kunst der Installation lernen!« Auf der linken Seite der Halle war ein schmaler und dunkler Gang, den man durch eine Tür in derselben Wand erreichte, in der auch die Küchentüre war. Der Gang führte zu einem Labyrinth von Räumen in allen Formen und Größen mit Eichenbalken und niedrigen Decken und viel kleineren Fenstern, von denen manche Butzenscheiben hatten. »So hat auch die andere Seite der Halle mal ausgesehen«, fuhr Jack fort und führte sie weiter. »Wir werden einige dieser Räume zum Speisesaal des Hotels umbauen.« Er zeigte ihnen eine zweite Treppe, die zu weiteren Schlafzimmern führte. »Und irgendwann werden wir selbst hier oben einziehen«, erzählte er ihnen, »also entscheidet euch schon mal, welches der Zimmer ihr haben wollt.« »Können wir jeder eins haben?«, fragte Alice schnell. Sie hatte sich ihr ganzes Leben schon nach einem eigenen Zimmer gesehnt. »Du kannst sogar ein eigenes Bad haben, wenn du möchtest – aber das kostet mehr!«, witzelte Jack und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Aber wir müssen doch nicht bezahlen«, protestierte sie. »Wir gehören zur Familie!« »Na gut. Du kannst dafür ja das Geschirr spülen!«, sagte Jack. Dann blieb er vor einer weiteren Türe stehen. »Und hier«, sagte er und öffnete schwungvoll die Tür, hinter der eine steile Treppe zu sehen war, »sind die Kellerräume. Wollt ihr sie sehen?« Er schaltete eine Wandlampe ein und führte sie hinunter in einen schmalen Gang. Dicke Balken stützten die niedrige Decke. Von dem Gang gingen eine Anzahl Vorratsräume voll Gerümpel und Schutt
ab. »Gott weiß, was das alles ist«, sagte Jack. »Ich habe ein oder zwei Stapel untersucht, und soweit ich sehen kann, handelt es sich um jahrhundertealten Müll. Wie das hier zum Beispiel« – er hielt einen verbeulten, rostigen Eimer hoch – »oder das«, fügte er hinzu, ließ den Eimer zu Boden poltern und hob einen vermoderten Koffer hoch. Dabei ging der Deckel auf, ein Haufen verrotteter Kleider fiel heraus und landete in einer Staubwolke auf dem Boden. »Seht ihr, was ich meine?«, sagte er und ließ den Koffer fallen. »In diesen Keller ist der ganze Abfall geworfen worden, den die Leute nicht mehr haben wollten und nicht haben wegschaffen lassen. Das heißt bis jetzt. Ich werde einen Container bestellen und ihn so lange füllen, bis alles sauber ist. Irgendwie ist es ein bisschen bedrückend, wenn man weiß, dass man auf einer Müllkippe wohnt! Eins ist sicher – hier gibt es keinen Schatz! Zumindest nicht auf den ersten Blick. Das ist noch eine von Miss Prewetts Geschichten. Offensichtlich hat Golden House seinen Namen daher, dass hier Gold versteckt ist. Ich möchte zu gerne wissen, wo! Ich könnte mit Sicherheit etwas davon brauchen. Wie auch immer, eines Tages ist das hier der Weinkeller und hier unten wird auch der Heißwasserspeicher sein und ich habe vielleicht sogar einen Raum für Spirituosen, wo ich mich auf ein kleinen Schluck Brandy hinschleichen kann, wenn mich niemand sieht!« Er führte sie noch weiter durch den schlecht beleuchteten Gang. Am Ende war eine dunkle Holztür. »Aber das hier«, sagte er und drehte den eisernen Türknauf, »ist der absolute Hauptgewinn.« Er öffnete schwungvoll die Tür und winkte sie herein. Sie traten in völlige Dunkelheit und die Temperatur fiel um mehrere Grad. Die Kellerräume waren stickig und warm gewesen, aber hier war die Luft plötzlich kühl und feucht. »Wartet, bis ich den Lichtschalter gefunden habe«, sagte Jack und sie sahen ihn im trüben Licht, das aus dem Gang hinter ihnen kam, die Wand abtasten. »Ah!«, sagte er schließlich und mit einem Klick! gingen ein paar Deckenleuchten an. Sie standen in einem niedrigen Gewölbe mit Steinboden und quadratischen Steinsäulen, die die behauenen Rundbögen der Decke stützten. »Wir sind genau unter dem Mittelturm«, erklärte Jack mit ge-
dämpfter Stimme. »Dies ist das ursprüngliche mittelalterliche Gebäude. Vielleicht war es einmal eine Krypta. Es muss eine Treppe hier hinunter gegeben haben, aber ich habe sie noch nicht gefunden. Eine seltsame Sache gibt es hier jedoch – seht mal, da drüben«, sagte er und führte sie zur gegenüberliegenden Wand. »Seht ihr?« Er zeigte auf einen niedrigen Steinbogen in der Wand, der mit Steinen ausgefüllt war. Die Spitze des Bogens reichte nicht höher als bis zu Alices Knien. »Es sieht so aus, als ob hier einmal eine Tür gewesen ist, niedriger als der Rest des Bodens – oder Stufen, die zu einem weiteren Stockwerk unter diesem geführt haben. Vielleicht ist hier der vermutete Geheimgang, was meint ihr? Aber dann wäre er eigentlich nicht unbedingt geheim, oder?« Aber die Kinder hörten Jack kaum zu, denn sie hatten gleichzeitig gesehen, dass genau vor dem Bogen Buchstaben auf den Steinboden gekratzt waren. »He!«, sagte Jack und beugte sich hinunter, um besser sehen zu können. »Jemand hat auf meinen Boden geschrieben! Glaubt ihr, es sind mittelalterliche Graffiti? Was steht da?« Alice bückte sich und schaute auf die grob gekratzten Buchstaben. »Hier steht ›Fang war hier‹!«, antwortete sie und sah zu den anderen auf. »Fang?«, wiederholte Jack. »Ich bin sicher, das war noch nicht da, als ich das letzte Mal hier unten war. Wer um Himmels willen ist ›Fang‹? Das ist doch ein Eckzahn, oder?« Mary zitterte und blickte über ihre Schulter zurück. Einen Augenblick dachte sie, sie würden aus einer der dunklen Ecken des Kellers beobachtet. »Was ist mit der Ratte passiert, Onkel Jack?«, fragte sie zaghaft. »Mit der Ratte?«, fragte Jack verwirrt. »Weißt du nicht mehr, als wir an Weihnachten hier waren, als Stephanie geboren wurde… da war hier eine Ratte.« »Um die Wahrheit zu sagen, ich habe diese Ratte nie gesehen. Ich dachte, ihr und Phoebe hättet sie erfunden. Aber soviel ich weiß, ist sie nicht mehr aufgetaucht. Wieso hast du an sie gedacht?«, fragte Jack. »Naja, Ratten haben doch Fänge, oder nicht?«, sagte Mary. Jack grinste. »Du glaubst, sie kam hier runter und schrieb uns eine Nach-
richt?«, sagte er. »Muss eine sehr schlaue Ratte sein!« Aber Mary fand das gar nicht komisch. Sie drehte sich stirnrunzelnd um. »Mir ist kalt«, sagte sie. »Können wir bitte wieder raufgehen?« Sie lief zur Tür. »Uhhhh«, sagte Alice und schüttelte sich. »Ich erfriere auch gleich. Du nicht, Will?« Aber William lief bereits hinter Mary aus der Krypta heraus. »Ja, es ist ein bisschen frisch«, sagte Jack, ging mit Alice zur Tür und schaltete das Licht aus. »Ich glaube, es hat gerade die richtige Temperatur für Weinvorräte!« Damit schloss er die Eichentür.
6 Die Eibe Am nächsten Morgen stiegen die Kinder denselben Weg auf der steilen Seite des Hügels hinauf wie am Tag zuvor. Spot führte sie und Jack hatte einen Spaten und Gartenhandschuhe dabei. »Ich mag einen toten Dachs nicht einfach so anfassen«, erklärte er. Sie mussten eine Weile suchen, aber dann fanden sie die breite Schneise im Tannenwald, die Spot den Dunklen und Schrecklichen Weg genannt hatte. Obwohl es ein strahlender und sonniger Tag war, war der Ort vom gleichen trüben Licht erfüllt, an das sie sich noch gut erinnerten, und die gleiche bedrückende Atmosphäre durchdrang alles mit Traurigkeit und Verfall. »Was für ein trübseliger Wald«, sagte Jack, als er auf den Weg trat. William führte sie zu dem toten Dachs, der immer noch halb versteckt unter den Zweigen lag. Spot blieb mit gesenktem Kopf zurück, den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt. »Armer alter Junge!«, rief Jack aus, während er den Dachs untersuchte. »Es sieht so aus, als hätte er gekämpft. Seht mal hier am Hals, wo das Fell zerfetzt ist. Irgendetwas ziemlich Großes muss ihn angegriffen haben.« Während er sprach, blickte er auf und suchte die dichten Bäume um sich herum mit den Augen ab. »Beeil dich bitte, Onkel Jack«, sagte Alice beklommen. »Ich mag diesen Wald wirklich nicht.« Sie blieb zurück und stellte sich neben Spot, weil sie nicht auf den Weg wollte. Jack schaufelte unter einem Adlerfarn am Wegrand eine flache Grube. Dann legte er mit Williams Hilfe den Dachs hinein und schaufelte die Erde wieder über ihn, bis sie ihn bedeckte. »Glaubst du, wir sollten ein Gebet sagen oder so?«, wisperte Mary. »Einfach ›Ruhe in Frieden‹, was meint ihr?«, antwortete Jack ruhig. Mary nickte und flüsterte leise die Worte. »Bitte, lasst uns von hier weggehen«, bat Alice inständig, »und
nie wieder herkommen. Ich hasse diesen Ort. Und Spot genauso.« »Jetzt ist alles vorbei«, sagte Jack und vertrieb die traurige Stimmung. »Wie Phoebe schon gesagt hat, passiert so etwas dauernd hier draußen. Wir dürfen nicht traurig sein. Es ist alles Teil der Natur. Okay? Und jetzt – kommt ihr alle mit mir zurück?« »Ich würde lieber versuchen bis ganz oben auf den Hügel zu steigen«, sagte William. »Wir haben da gestern richtige Wälder entdeckt, als wir weit sehen konnten. Weißt du noch, Mary? Sie sahen wirklich schön aus. Ich würde gerne dahin gehen, wenn wir es schaffen.« »Ich will mich nicht wieder verirren«, protestierte Alice. »Ich denke, ihr solltet mit zurückkommen«, sagte Jack. »Wenigstens bis wir eine richtige Karte für euch haben.« »O bitte, Onkel Jack. Wir verlaufen uns nicht. Ich kann mich jetzt orientieren. Es war nur gestern so verwirrend.« »Nun…«, zögerte Jack. »Phoebe wird mir niemals verzeihen, wenn ihr euch wieder verlauft.« »Bitte«, drängte William. »Was ist mit euch, Mädchen? Wollt ihr auch auf Entdeckungsreise gehen?«, fragte Jack. Mary zuckte mit den Schultern. »Können wir machen, wenn du willst«, sagte sie. »Na gut«, sagte Alice nachgiebig und versuchte nicht zu zeigen, dass sie eigentlich darauf brannte, ›auf Entdeckungsreise zu gehen‹, wie Onkel Jack es nannte. »Wir sind da oben an einem anderen Weg vorbeigekommen«, sagte Jack. »Den könntet ihr nehmen.« Sie gingen die Böschung hinunter, bis sie den Weg fanden, von dem Jack gesprochen hatte. Er führte wieder aufwärts durch das düstere, braune Licht des Tannenwaldes. »Seid zum Mittagessen zurück«, rief Jack hinter ihnen her, als sie sich trennten. »Und es ist schon weit nach elf, also habt ihr nicht viel Zeit.« »Wir gehen nicht weit«, rief William. Dann begannen die Kinder, von Spot angeführt, den steilen Hügel hinaufzuklettern und ließen den Dunklen und Schrecklichen Weg und das Grab des Dachses hinter sich. Ganz allmählich und zuerst kaum wahrnehmbar änderte sich das Licht. Das Dunkel unter den Bäumen verschwand, denn obwohl man die Sonne nicht sehen konnte, durchbrachen ihre dünnen Strahlen
das dichte Dach aus Zweigen und ließen überall um sie herum Muster aus Licht und Schatten tanzen und blinken. Irgendwo in einiger Entfernung begann ein Vogel zu singen. Der Klang war so hell und fröhlich, dass er sie aufmunterte. Spot sah auf und drängte vorwärts, dabei wedelte er zum ersten Mal, seitdem sie den toten Dachs verlassen hatten, wieder mit dem Schwanz. Die Luft wurde jetzt frischer und sie konnten den Wind auf ihrer Haut spüren und den schwachen Duft der Blumen riechen. Die dunklen, immergrünen Tannen machten Laub abwerfenden Bäumen Platz. Silbrige Birkenrinde mischte sich mit grünlichen Stämmen von Esskastanien und neben stattlichen Buchen standen Trauerweiden. Dünne Baumschösslinge wuchsen in Gruppen und mächtige Eichen ragten bis in den Himmel. Die Zweige waren von blassen Frühlingsknospen bedeckt und späte Kätzchen verstreuten ihren goldenen Pollen auf die glänzenden Blätter der Efeuranken. Dann kamen sie zu einer Stelle, wo ein schneeweiß blühender Kirschzweig tief über dem Weg hing. Der Boden unter ihren Füßen federte durch das Gras und die spitzen Blätter von Glockenblumen, die erst noch blühen würden. Waldanemonen wuchsen überall und Schlüsselblumen lugten unter den Baumwurzeln hervor. Ein Eichhörnchen, überrascht von ihrem plötzlichen Auftauchen, huschte davon und kletterte in die Krone einer Buche. Sie sahen es einen Augenblick später von Ast zu Ast und von Baum zu Baum springen, bis es mit einem Schlag seines Schwanzes verschwand. Der Weg stieg jetzt an. Bald keuchten sie atemlos vor Anstrengung die steile Böschung hinauf. Immer mehr Vögel sangen. Hier und da blitzte es gelb und blau auf, wo Meisen und Finken in den Zweigen turnten, Mücken jagten und unter der Rinde und den Blättern nach Futter suchten. Plötzlich blitzte das Grün eines Spechtes auf und kurz danach hörten sie sein Trommeln und den Schrei einer erschreckten Amsel, die laut schimpfend über die Störung davonflog. Schließlich erreichten sie die Spitze des Hügels und holten erschöpft Luft. Sie standen am Rand eines Steilhanges. In der Ferne fiel der Wald sanft in ein flaches Tal ab, um zum Horizont hin wieder anzusteigen. Sie befanden sich jetzt hoch genug über den Bäumen, um die Landschaft hinter sich, wo sie hergekommen waren, überblicken zu können. Sie sahen auf Golden Valley herunter. Sie konnten das Haus erkennen und den Taubenschlag im Küchengarten direkt davor. Etwas
weiter stieg das Tal fast wie eine Klippe an. Die dichten, grünen Tannen klammerten sich an den steilen Abhang. Auf dem Kamm des Hügels konnten sie zum ersten Mal eine breite Schneise im Wald sehen. Diese Lücke zwischen den Bäumen war auffällig. Sie sah aus, als ob sie für eine Straße frei geschlagen worden wäre. »Ich wusste gar nicht, dass da oben eine Straße ist«, sagte William verwirrt. »Wir waren noch nie so hoch«, sagte Mary. »Seht mal die Berge«, flüsterte Alice. Über den Baumkronen konnten sie durch die Lücke im Wald, fern und dunkel gegen den helleren Himmel, eine Reihe höherer Berge erkennen. Und während sie sie betrachteten, glänzte ein Lichtstrahl auf einem der fernen Gipfel. »Ist das nicht komisch…?«, rief William aus. »Was, Will?«, fragte Mary. »Es liegt alles in einer geraden Linie. Wahrscheinlich Zufall.« »Was?«, sagte Alice. »Seht ihr den Gipfel des höchsten Berges da?« Die Mädchen nickten. »Er liegt in einer direkten Linie mit der Schneise in den Bäumen. Dann die Schornsteine von Golden House. Dann das Dach des Taubenschlags…« Er hörte auf zu sprechen und sah sich gespannt um. Hinter ihnen drückte sich eine riesige Eibe – sie sah eher wie ein Eibenwäldchen aus, so viele Äste hatte sie – an den Rand des Hügels und versperrte die direkte Sicht. Aber als William um sie herumging, stockte ihm der Atem. »Seht mal!«, hörten die Mädchen ihn rufen und sie liefen zu ihm, um selbst zu sehen, was ihn so überrascht hatte. Nicht weit von der Stelle, an der sie standen, ragte ein einzelner, grob behauener Stein aus dem Unterholz. Er war so hoch wie ein Mensch und stand ein wenig schräg, als ob sich der Boden unter ihm vor langer Zeit schon abgesenkt hätte. Ein Stechpalmenstrauch daneben verdeckte ihn halb, trotzdem war er deutlich zu sehen. »Wie ein Wegweiser«, sagte William ruhig. »Und sieh mal da hinten«, rief Mary aus und lief mit ausgestrecktem Zeigefinger ein paar Schritte vorwärts. Tief im Wald spiegelte sich die Sonne in einem Gewässer. »Ein See«, rief Alice aus. »Und hinter dem See – da! Seht ihr, wo es wieder bergauf geht? Da ist noch eine komische Schneise in den
Bäumen…« »Und dahinter wirklich hohe Berge«, zeigte Mary. Durch die Lücke konnten sie gegen den Horizont gerade noch die gezackten Gipfel eines Gebirges erkennen. »Das muss Wales sein«, sagte William und drehte sich langsam in die Richtung von Golden Valley um, wo die andere Schneise in den Bäumen war. »Seht ihr…?«, sagte er wie zu sich selbst. »Alles verläuft in einer geraden Linie«, stimmte Mary nachdenklich zu. »Ich möchte wissen, wie lange der Baum hier schon steht«, fuhr William fort und ging langsam um die Eibe herum. »Eiben können sehr alt werden«, sagte Mary sachkundig. »Wir hatten in der Schule ein Projekt über Eiben, aber es hat mich nicht sehr interessiert. Ich glaube, sie haben uns erzählt, dass Eiben die ältesten Bäume bei uns sind. Wir mussten die Stämme ausmessen und aufschreiben, wo sie wuchsen. Sie stehen normalerweise auf Friedhöfen und an anderen geweihten Orten.« »Ist das hier dann ein geweihter Ort?«, fragte Alice. »Ich finde es sehr seltsam, dass alles in einer geraden Linie steht«, sagte William, der immer noch den Baum ansah. »Glaubt ihr, wir könnten diesen Baum aus dem runden Fenster im Geheimzimmer von Golden House sehen?« Mary rannte zum Rand des Hügels zurück und sah ins Tal hinunter. »Du könntest auf jeden Fall die Krone sehen«, rief sie. »Wo ist Spot?«, fragte Alice. Sie merkte jetzt erst, dass der Hund verschwunden war. Aber die anderen beiden hörten ihr nicht zu. William ging zu dem aufrecht stehenden Stein und Mary hockte sich auf den Boden, um ins Golden Valley hinunterzuschauen. »Spot!«, rief Alice. »Wo bist du? Spot?« Ein leises Jaulen kam aus den Tiefen der riesigen Eibe. Ihre ausladenden und dichten Zweige reichten bis zum Boden. Als sie den Baum jetzt näher betrachtete, merkte sie, dass es fast sicher mehrere Bäume waren. Aber egal wie viele das Wäldchen bildeten, sie wuchsen so dicht beisammen, dass sie wie ein großes Ganzes erschienen. Wieder hörte Alice Spot jaulen. Es war ein leiser, ungeduldiger Laut, als ob er sie riefe. Sie ging auf den Baum zu, teilte die Zweige und betrat das dunkle Innere. Es war genau so, als ob sie in ein Zimmer ginge. Der Boden war ziemlich trocken, weil die dicht verflochtenen Zweige Dach und Wände um sie herum bildeten. In der
Mitte dieses Raumes formten die knorrig ineinander verdrehten Stämme mehrerer Bäume eine meterdicke Säule. Über Jahrzehnte waren viele der unteren Zweige abgebrochen oder sogar abgesägt worden, und wo die Reste aus den Stämmen ragten, bildeten sie eine Leiter mit einladenden Sprossen. Spot war nirgends zu sehen, obwohl Alice ihn in einiger Entfernung immer noch gelegentlich jaulen hörte. Sie wusste, dass sie weiter nach ihm suchen sollte, aber die Versuchung, den Baum hinaufzuklettern, war übergroß und siegte schließlich. Sie musste einfach zur Spitze hinaufsteigen. Und überhaupt, rechtfertigte sie sich vor sich selbst, habe ich von da oben einen viel besseren Überblick und sehe Spot wahrscheinlich eher und spare eine Menge Zeit, als wenn ich hier unten nach ihm suchen würde. Nach den ersten leichten und einladenden Sprossen erreichte sie die großen Äste des Baumes. An einer Stelle musste sie sich zur anderen Seite des Stammes vorarbeiten, um einen Halt für ihren Fuß zu finden, und dann kam sie zu einer Stelle ohne jegliche Zweige. Aber dort fand sie zu ihrer Überraschung einen alten eisernen Ring an einer Eisenkette, die um einen Ast geschlungen war. Und darüber drängten sich die dicht verflochtenen Zweige so nahe an den Stamm, dass sie meinte auf der Spitze des Baumes angekommen zu sein. Sie war enttäuscht. Sie hatte gehofft, bis ganz nach oben zu kommen, sich wie ein Vogel auf die Zweige zu setzen und sich vom Wind wiegen zu lassen, bis ihr schwindelig wurde. Stattdessen schien es ein unüberwindbares Hindernis zwischen ihr und der Baumkrone zu geben. Sie griff nach oben und versuchte die dichte Masse von Zweigen und Ästen zu teilen. Aber das war schwierig, weil sie sich gleichzeitig mit ihrer anderen Hand an dem eisernen Ring festhalten musste. Gerade als sie aufgeben wollte, konnte sie ihren Fuß ausstrecken und fand auf einem anderen Zweig einen sicheren Halt. Sie zog sich hinauf und gleichzeitig um den Hauptstamm herum. Vor ihr sah sie ein paar zurechtgeschnittene Holzstücke in einer Gabelung des Stammes liegen. Sie bildeten eine schmale Plattform zum Stehen. Alice stellte sich darauf und hielt sich dabei an einem Zweig fest. Sie war verschwitzt und musste nach Luft schnappen, aber sie war begeistert. Ihre Hände waren schmutzig und ihre Jeans waren zerrissen, als sich beim Hochklettern ein Zweig in einer der hinteren Taschen verfangen hatte. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Dann drehte sie sich um und versuchte um den Hauptstamm he-
rumzugehen. Dabei hielt sie sich ohne in die Tiefe zu sehen an den Zweigen fest. Als sie fast ganz um den Baum herum war, musste sie sich an einer Stelle unter einem tiefer hängenden Zweig bücken. Auf der anderen Seite richtete sie sich auf und wieder war ihr Weg versperrt. Aber diesmal war sie von dem Hindernis völlig überrascht. Da war eine Tür im Baum.
7 Der Unterschlupf des Magiers Mary hörte, wie Alice ihren Namen rief. Der Laut kam von irgendwo ganz in ihrer Nähe, aber sie konnte nicht einordnen, woher. Sie sprang auf und rannte zurück zur Eibe. »William!«, rief sie. »Was?«, fragte ihr Bruder, der immer noch den aufrecht stehenden Stein betrachtete. Als er sich umblickte, sah er Mary um die große Eibe kommen. »Hast du Alice gesehen?« »Vor einer Minute war sie noch da«, antwortete William nicht sehr aufmerksam. »Jetzt ist sie jedenfalls nicht mehr da«, sagte Mary zu ihm. »Mist! Sie ist schon wieder verschwunden.« Da hörte sie, wie Alice wieder eindringlich und aufgeregt ihren Namen rief. Die Stimme schien jetzt direkt über ihr zu sein. »Alice?«, rief sie verwirrt und sah nach oben. »Komm schnell«, bat ihre Schwester. »Ich habe was ganz Aufregendes entdeckt.« »Wo bist du?«, rief William und rannte zu Mary. »Oben im Baum«, rief Alice. »O, Alice«, beklagte er sich. »Wir spielen nicht mehr Versteck.« »William Constant, komm sofort hierher«, sagte Alice scharf. Aber dann hörten ihr Bruder und ihre Schwester, wie sie nach Luft schnappte und danach einen leisen, überraschten Schrei. »Ist alles in Ordnung?«, rief Mary und stürmte durch die Zweige in das Innere des Baumes. William folgte dicht hinter ihr. »Natürlich ist alles in Ordnung«, hörten sie eine männliche Stimme rufen. »Jetzt beeilt euch und kommt hoch.« »Wer ist das?«, fragte William, dessen Herz vor Aufregung schneller schlug. »Wo bist du?«, rief Mary und suchte mit den Augen verzweifelt die über ihr liegende Dunkelheit ab. »Alice? Alice, geht es dir gut?« Aber niemand antwortete. »Hier oben, Mary!«, rief William und begann die Holzsprossen am Baum zu den oberen Ästen hinaufzuklettern.
Mary folgte ihm und zerkratzte sich dabei ein Knie an einem vorstehenden Zweig, aber sie merkte es in der Eile gar nicht. William war größer als Alice und deshalb fiel ihm der Aufstieg leichter. Er erreichte bald den eisernen Ring und stand auf der Plattform. Dann streckte er eine Hand aus und zog Mary zu sich herüber. »Wohin jetzt?«, flüsterte Mary. »O William, was ist das hier?« Aber William ging schon um den Stamm herum, bis er zu dem niedrigeren Ast kam. »Hier drunter, nehme ich an«, flüsterte er, duckte sich unter den Zweig und war verschwunden. »He!«, hörte sie ihn einen Augenblick später von der anderen Seite des Zweiges rufen. Die Tür im Baum war weit offen und Alice stand mit dem Rücken zu ihnen in einem Raum. Er war klein und hatte Wände aus dunklem Holz. Die Decke stieg bis zu einem Punkt in der Mitte an, wo eine alte Eisenlaterne hing. Alle Wände des Raumes – außer der mit der Tür – waren von kleinen Spitzbogenfenstern durchbrochen. Sie waren nicht verglast, aber jedes hatte einen spitzbogigen Fensterladen, der nach innen geöffnet und mit einem Riegel fest verschlossen werden konnte. Im Augenblick waren alle Läden jedoch offen und das Tageslicht fiel durch die grünen Zweige von allen Seiten in den Raum. Es gab keine Möbel im Zimmer außer einem Holztisch und einem Lehnstuhl. Dieser Stuhl stand im Moment am Fenster direkt gegenüber der Tür und jemand saß darin. Ein Mann in einem langen, schwarzen Mantel sah aus dem Fenster und drehte ihnen deshalb den Rücken zu. Er trug keinen Hut und seine dünnen Haare umgaben seinen Kopf wie ein roter Dunst. »Es ist Mr. Tyler!«, schnaufte Mary. »Schhhh!«, sagte der Mann ohne sich umzudrehen. Dann hob er ein Fernglas, das auf seinem Schoß gelegen hatte, an die Augen und blickte hindurch. »Interessant!«, murmelte er. »Aber wozu ist das gut?« »Sie halten es falsch herum«, sagte William hilfsbereit, aber er klang mehr als nervös wegen seiner Anmaßung. »Falsch herum?«, sagte der Mann streng. »Gehört dir dieses Ding?« Damit drehte er sich in seinem Stuhl herum und zum ersten Mal konnten die Kinder sein Gesicht sehen. »Mr. Tyler!«, rief Alice. »Ich bin so froh, dass sie gekommen sind. Ich habe mir so sehr gewünscht, dass…« »Ruhe!«, donnerte Mr. Tyler.
Alice schluckte. »… dass ich Ihnen alle möglichen Fragen stellen könnte«, beendete sie ihren Satz entschlossen, aber mit immer leiser werdender Stimme, bis sie schließlich nur noch flüsterte. »Wem gehört dieses Ding?«, wollte Stephen Tyler wissen und wedelte mit dem Fernglas herum. Die drei Kinder zuckten die Schultern, aber waren zu nervös, um zu antworten. Der Mann schien schlechte Laune zu haben, was sie aus dem Konzept brachte, aber mehr als das fühlten sie sich trotz ihrer Wiedersehensfreude beklommen und ängstlich, jetzt, wo sie wieder vor ihm standen. Stephen Tyler seufzte gereizt. »Jetzt kommt schon! Ich habe nicht viel Zeit«, sagte er und fügte dann in einem Ton hinzu, der verriet, wie widerwillig er nur sein Unwissen zugeben konnte: »Falsch herum, sagst du?« Dann drehte er sich wieder zum Fenster und hob diesmal das Fernglas richtig herum an seine Augen. Er schnappte erfreut nach Luft. »Das ist ja großartig!«, rief er aus. »Ich konnte mir keinen Reim auf ein Instrument machen, mit dem man die Ferne nur noch weiter weg sieht… Aber sie näher heranzuholen ist natürlich etwas ganz Anderes! Wirklich – sehr clever!« »Aber haben Sie noch nie ein Teleskop gesehen?«, fragte William. »Teleskop?«, murmelte der Mann. »Das Teleskop wurde von Galileo Galilei erfunden«, mischte sich Mary ein und benutzte ihre selbstgefällige ›Ich weiß es, weil ich gut in Geschichte bin‹-Stimme. »Galileo?« sagte Stephen Tyler, schwang wieder herum und fixierte sie mit seinen stechenden blauen Augen. »Du kennst diesen Mann?« »Nein!«, schnaubte Mary, als ob sie sich gerade noch rechtzeitig ein Lachen verkneifen könnte. »Ich meine, ich habe in Geschichte über ihn gehört.« »Geschichte?«, sagte Stephen Tyler nachdenklich und schüttelte dann seinen Kopf. »O ja, natürlich. Ich vergesse es immerzu. Ich bin Geschichte für euch und ihr seid Zukunft für mich. Es ist alles sehr… Wer ist Galileo?« »Nun«, antwortete Mary, steckte die Hände in die Taschen ihrer Jeans und starrte auf ihre Füße. Sie versuchte sich an alles zu erinnern, was sie über Galileo gehört hatte. »Er hat das Teleskop erfun-
den.« Dann zögerte sie. Der Mann sah sie so grimmig an, dass sie immer unsicherer wurde. »Das glaube ich zumindest«, murmelte sie. »Teleskop? Was ist dieses Teleskop, von dem ihr dauernd sprecht?« »Es ist noch ein Instrument, mit dem man in die Ferne sehen kann«, warf William ein. »Es ist aber noch viel stärker und hat nur ein Loch, durch das man sieht… Oh, es ist so schwer, diese Dinge zu erklären.« »Das ist wohl richtig«, stimmte Stephen Tyler zu und durchbohrte jetzt William mit seinem Blick. »Ein Teleskop wird dazu benutzt, die Sterne zu erforschen«, begann William wieder und versuchte seine Stimme zuversichtlich klingen zu lassen, obwohl er so nervös war. »Die Sterne zu erforschen?«, seufzte Stephen Tyler. Es klang fast traurig. »Wie sehr ich mir doch wünsche später geboren worden zu sein. Es gibt so viel, was ich nicht weiß.« »Aber ich glaube nicht, dass es irgendwann irgendwo jemanden außer Ihnen gegeben hat, der Zeitreisen machen kann«, sagte Alice voller Bewunderung. Sie wollte nicht, dass er traurig war. »Nein, nein. Du missverstehst mich, kleines Mädchen«, sagte der Magier. »Ich weiß, wie brillant ich bin, nur fehlt mir die Kenntnis späterer Entdeckungen und späteren Wissens. Die Sterne sind ein großes Geheimnis. Ich hätte sie gerne untersucht, bevor ich sterbe…« Dann wechselte er unversehens das Thema, drehte sich wieder um und starrte sie an. »Wer hat dieses Baumzimmer benutzt?«, wollte er wissen. »Das wissen wir nicht«, antwortete Alice achselzuckend. »Wir haben es selbst gerade erst entdeckt.« »Aber ihr habt es doch sicherlich nicht ganz allein gefunden?«, fragte Stephen Tyler. »Nein, eigentlich nicht. Spot hat es mir irgendwie gezeigt«, gab Alice zu. »Spot?« »Der Hund«, erinnerte Mary ihn. »Ah ja, der Hund. Nun ja, gut, gut. Ich möchte nicht, dass dieser Ort zu bekannt wird«, sagte der Magier. »Und jetzt an die Arbeit. Wie ist es euch ergangen, seit ich euch das letzte Mal gesehen habe? Wann war das überhaupt? Gestern?« »Vor drei Monaten«, sagte Mary. »Wir mussten nach den Weihnachtsferien wieder in die Schule.«
»Ah ja, die Schule!«, sagte der Magier mit verächtlicher Stimme. »Absolut nutzlose Einrichtung, meiner Meinung nach. Sie unterrichten nicht ein einziges vernünftiges Fach.« »Also wir lernen jetzt Chemie und Naturwissenschaften«, sagte William zu ihm. »Chimie?«, donnerte Stephen Tyler. »Sie lehren Kinder die Kunst der Chimie? Völlig unpassend!« »Was sollen sie uns denn sonst beibringen?«, wollte Alice wissen. »Sie sollten kleine Mädchen lehren nicht immerzu Fragen zu stellen und sie sollten kleine Jungen lehren nicht immer alle Antworten zu wissen«, fauchte er sie an. Und dann lachte er unvermittelt laut auf und klatschte in die Hände. »Wunderbar, wunderbar. Wie gut, das wir wieder zusammen sind. Ich kann diesmal nicht lange bleiben. Ich bin nur hergekommen, um nach dem…«Er runzelte kopfschüttelnd die Stirn. »Nach was wollte ich sehen? Es ist wirklich wesentlich, dass ihr alles lernt, was es zu lernen gibt, bevor ihr alt seid. Weil ihr dann merken werdet, dass euer Gedächtnis euch im Stich lässt. Für einen Magier ist das eine sehr lästige Erfahrung. Wo war ich…? O ja. Wie lange bleibt ihr in Golden House?« »Etwas über eine Woche«, sagte Mary. »So kurz nur?«, fragte der Mann. »Aber es ist so viel zu tun. Macht nichts. Zumindest habt ihr angefangen. Wie hat euch die erste Lektion gefallen?« »Welche Lektion?«, fragte Alice. »Also wozu seid ihr denn hier?« Stephen Tyler hörte sich wieder verärgert an, aber er schien sofort einzulenken und sprach in freundlicherem Ton weiter. »Ich sag es euch, ja? Wäre das gut?« Alice nickte nachdrücklich. Sie hatte überhaupt keine Lust auf Belehrungen, aber sie mochte noch viel weniger angefahren werden und – was weit schlimmer war – sie war kurz davor, ob Magier oder nicht, es auch zu sagen. »Bevor ihr an eure Orte der Gelehrsamkeit zurückkehrt, möchte ich, dass ihr die… Welt des Natürlichen versteht.« »Des Natürlichen?«, wollte William wissen. »Was ist das?« »Die Natur«, fauchte Stephen Tyler ihn an. »Du hast doch bestimmt schon von der Natur gehört?« »Ja, sicher«, murmelte William. »Ich habe nur nicht verstanden…« »Nein, das hast du sicher nicht«, sagte der alte Mann freundlicher. »Das Letzte, was sie euch in einer Schule lehren, ist all dies hier«,
und er zeigte durch das Fenster auf die strahlende Welt draußen. »Aber es ist wesentlich für unsere Arbeit, dass ihr drei die Welt der Säugetiere und der Vögel verstehen lernt.« »Für unsere Arbeit?«, fragte Mary eifrig. »Was bedeutet das, Mr. Tyler?« Der Magier sah sie genau an. »Eine gute Frage«, sagte er. »Unsere Arbeit tun wir an uns selbst. Jeder von uns muss sich selbst entdecken – oder besser: sein Ich. Sein wahres Ich. Und dann müssen wir unseren Platz in der Ordnung der Dinge finden. Und schließlich wird jeder von uns seine Pflicht tun müssen.« »Oh«, stöhnte William, »aber wir müssen keine Pfadfinder werden, oder?« »Pfadfinder?«, fragte Stephen Tyler. »Egal«, sagte William. »William hasst Pfadfinder«, wisperte Alice vertraulich. »Er denkt, sie sind dumm.« »Ich verspreche euch, dass unsere Arbeit nicht dumm ist«, versicherte der Magier. »Also, was Sie meinen, ist…«, sagte Mary stirnrunzelnd und versuchte wirklich zu verstehen, was der Magier meinte, »… wir müssen uns gut in Pflanzenkunde und Tierkunde und so auskennen?« »Nein, nein, hört mir doch zu«, sagte der Magier und hob seine Hand. »Es ist wirklich viel einfacher, als wir zugeben wollen. Der Mensch – ihr und ich, wir alle – der Mensch ist ein Teil der natürlichen Welt, aber der Mensch hat sich von seinen Ursprüngen entfernt…« »Meinen Sie, wir sind eigentlich Tiere?«, fragte William, der allmählich begriff. »Genau!«, rief Stephen Tyler. »Aber sehr schlaue Tiere. Der Mensch hat die Fähigkeit zum Engel und die Begabung zum Raubtier. Es ist von größter Wichtigkeit, die Spreu vom Weizen zu trennen, die Schlacke vom Gold, das Unreine vom Reinen. Aber ihr müsst diese Begabung für euch selbst entdecken. Das ist ein wichtiger Teil der Arbeit. Lasst mich wissen, wie ihr dabei vorankommt.« »Hat das alles etwas mit Alchimie zu tun?«, fragte William. »Selbstverständlich«, antwortete der Magier. »Alles hat damit zu tun. Aber versucht nicht zu laufen, bevor ihr kriechen könnt. Genau das tut Morten, mein Assistent – mit sehr bedauerlichen Ergebnissen.« Dann senkte er die Stimme und lehnte sich vor. »Es ist nicht
mehr sicher, wenn wir uns im Zimmer unter dem Dach treffen. Morten belauscht uns. Und darüber hinaus scheint jemand aus eurer Zeit das Zimmer entdeckt zu haben.« William schnappte nach Luft. »Sie meinen, jemand kennt das Geheimzimmer so gut wie wir?« »Genau das, ja.« »Sind Sie sicher? Aber wer denn?« »Ich bin sicher. Aber ich weiß nicht, wer es ist«, antwortete der Magier. »Ich kann immer sagen, wenn jemand da war. Ich erwarte von euch, dass ihr herausfindet, wer es ist…« Dann richtete er sich plötzlich mitten im Satz kerzengerade in seinem Stuhl auf, drehte seinen Kopf zur Seite und streckte ihn dabei wie ein Vogel nach vorne. Er lauschte angestrengt. »Jemand kommt den Baum herauf«, wisperte er. Die Kinder hatten kein Geräusch gehört. Aber der Magier hob einen Finger an die Lippen und zeigte dann auf die offene Tür. Als sie sich umdrehten und aus dem Zimmer blickten, konnten sie die schmale Plattform draußen sehen und den Ast, der den Weg blockierte. Das Licht draußen war schwach. Sie sahen, wie ein Fuß unter dem Ast auftauchte. Er steckte in einem sehr schmutzigen Gummistiefel. Dann erschien eine Hand unter dem Ast und tastete nach dem Weg, ein Arm folgte der Hand und eine Schulter dem Arm und schließlich ein Kopf. Es war, als ob eine menschliche Figur vor ihren Augen langsam Gestalt annahm. Der Kopf war mit einem zerbeulten alten Filzhut bedeckt. Nachdem die Gestalt den Ast überwunden hatte und sich aufrichtete, konnte man sehen, dass sie einen braunen Regenmantel trug, der in der Taille mit einer Kordel zusammengehalten wurde. Die Gestalt war klein und stämmig. Die Gummistiefel reichten bis zum Saum des Regenmantels. Das Licht war zu schwach, um das Gesicht genau erkennen zu können. »Na so was!«, rief eine weibliche Stimme. »Wer seid ihr denn wohl alle? Und was tut ihr in meinem Versteck?« Mary trat vor, nicht weil sie die Tapferste war, sondern weil sie der Tür am nächsten stand und nicht viel Platz für die anderen war, an ihr vorbeizukommen. »Wir tun nichts Böses«, sagte sie. »Ehrlich.« »Meine Güte, das habe ich auch gar nicht angenommen«, sagte die Frau und trat in das Zimmer. Als sie jetzt im Licht stand, das durch alle Fenster fiel, konnten
sie sie besser sehen. Sie hatte ein rundes, rotwangiges Gesicht und eine wilde weiße Mähne ragte unter ihrem Männerhut hervor. Ihr Regenmantel war um ihre Taille zusammengeschnürt und an den Gummistiefeln hingen Erdklumpen. Sie sah fast aus wie eine fröhliche Vogelscheuche. Ihre Augen zwinkerten und ihr Lächeln zeigte unregelmäßige, aber sehr weiße Zähne. »Kinder?«, sagte sie. »Was tun Kinder in meinem Versteck. Und, Gott steh uns bei, ein Turmfalke am Fenster!« Sie streckte eine schwielige Hand in die Richtung, wo noch einen Augenblick zuvor Stephen Tyler im Stuhl gesessen hatte. Die Kinder drehten sich schnell um. Ein schlanker, graubrauner Vogel saß auf der Fensterbank und drehte sich nach ihnen um. »Ja, Falke!«, sagte die Frau leise. »Dich kenne ich ja gar nicht. Ich hätte dir eine Maus mitgebracht, wenn ich das gewusst hätte. Komm, Falke«, flüsterte sie und streckte ihre Hand aus. Aber der Vogel wollte sich nicht locken lassen und blieb zurückhaltend. »Ihr müsst ein wenig vorsichtig mit ihm sein. Ein Turmfalke kann hart zuhacken und die Krallen könnten euch sogar eine Hand abreißen. Wie nennt ihr ihn?«, fragte die Frau und sah die Kinder an. »Kiki«, antwortete Alice spontan. »Ja komm nur, Kiki«, sagte die Frau und streckte wieder ihre Hand nach dem Vogel aus. »Können wir Freunde sein?« Aber der Vogel legte nur den Kopf schief und blinzelte sie an. Dann drehte er sich um und flog vom Fensterbrett hinaus durch die Zweige in das blendende Licht dahinter. »Ki-ki-ki!«, hörten sie ihn schreien, als er verschwand. »Also, das ist schon seltsam«, sagte die Frau und beobachtete den Vogel mit dem Rücken zu den Kindern durch das Fenster. Dann drehte sie sich wieder um und lächelte sie an. »Hier sind wir nun«, sagte sie, »und kennen uns gar nicht und der Einzige, dessen Namen ich weiß, ist gerade weggeflogen.« Sie lachte leicht und glucksend. »Ich bin Meg Lewis«, sagte sie. »Und wer seid ihr alle?« Als die Kinder sich vorstellten, konnten sie wieder den fernen, traurigen Schrei des Turmfalken hören, der irgendwo über ihnen, über dem spitzen Dach und den dichten Zweigen des Baumes am klaren, blauen Himmel seine Kreise zog. »Ki-ki-ki!«, rief er, als ob er sich verabschieden wollte.
8 Meg Lewis erzählt ihre Geschichte Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille in dem kleinen Baumhaus. Die Frau, die sich Meg Lewis nannte, sah die Kinder an und sie sahen die Frau an. »Und es herrschte Schweigen und das machte alle verrückt«, sagte sie schließlich. »Habt ihr eure Zunge verschluckt?« »Wir wollten hier nicht unbefugt eindringen«, sagte William. »Nein«, nickte Meg ihm zu. »Und das habt ihr auch nicht getan. Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß gar nicht, ob dies hier eigentlich mir gehört. Sagen wir einfach, ich benutze es. Also wer sagt euch, dass ich nicht selbst unbefugt hier bin? Aber ich bezweifle, dass es dem wahren Besitzer etwas ausmacht oder er es überhaupt weiß, denn ich glaube, dass er oder sie vor vielen Jahren schon weggegangen sein muss. Ich habe dieses Baumhaus vor einigen Jahren zufällig entdeckt, als ich Wache hielt. Es begann zu regnen, wisst ihr, und ich suchte unter den breiten Zweigen des Baumes Schutz. Dann kam eins zum anderen, vermutlich genau wie bei euch, und ich fand dieses Baumhaus. Ich habe es reparieren müssen, wahrscheinlich steht es schon eine ganze Weile hier. Die Laterne ist ziemlich alt – und die Wände sind aus echter Eiche. Eiche! Man benutzt heutzutage nicht mehr viele Eichenbalken zum Bauen, nicht wahr? Aber ich hatte gedacht, ich wäre die Einzige, die von diesem Raum wüsste, und plötzlich seid ihr alle da. Ihr seid nicht von hier, oder?« »Nein«, sagte Mary. »Wir besuchen unseren Onkel.« »Und wer ist das?«, fragte Meg. »Er heißt Jack Green und wohnt in Golden House. Es ist das große Haus da unten im Tal…«, erklärte Mary und zeigte dabei aus dem Fenster zu der Stelle unterhalb der steilen Felsen, wo man gerade noch die Schornsteine des Hauses über den Bäumen sehen konnte. »Ja, ich kenne Golden House«, sagte Meg. »Meine Familie hat da mal gelebt. Aber das ist jetzt schon eine Weile her, bevor es uns schlechter ging. Und jetzt lebt nicht mehr die Familie Lewis da, sondern die Familie Green, ja? Ah, da ist ja, was ich suche!«, rief sie aus und hob das Fernglas vom Stuhlsitz auf. »Mein teuerster Besitz. Hat mir ein Polizist geschenkt, was sagt ihr dazu!«
»Beobachten Sie hier Vögel?«, fragte William, der jetzt weniger nervös war. Er mochte Meg, obwohl sie ein bisschen wild aussah und sich komisch kleidete. »Schön war’s! Aber dazu habe ich keine Zeit!«, rief Meg aus. »Ich habe zwei Kühe und sechs Schafe. Vier Felder muss ich versorgen. Wasser aus dem Brunnen holen. Öl in Lampen füllen. Feuer machen. Und die Hunde und die Katzen. Die Kaninchen, die mir ganz schön auf die Nerven gehen, obwohl ich das nicht sagen sollte. Und ein Schlingel von einem Eichhörnchen, das mich an der Nase herumführt. Und das alles nur am Tag. Nachts tue ich die meiste Arbeit.« »Was für eine Arbeit?«, fragte Mary. Meg drehte sich um und blickte aus dem Fenster. »Eigentlich darf ich es wohl nicht Arbeit nennen. Es ist keine richtige Arbeit, wie sie die meisten Menschen tun. Aber für mich ist es welche. Ich meine, es ist keine Mühe. Niemals. Es ist eine Ehre.« Sie blickte schweigend in die Ferne. »Aber was tun Sie?«, fragte Alice. »Ich gehe durch den Wald und passe auf.« »Worauf?« »Auf die Männer mit ihren Taschenlampen«, antwortete Meg. »Was machen sie mit den Taschenlampen?«, fragte William verwirrt. »Ihr seid noch zu jung für diese Dinge«, sagte Meg und sah sie an. Dann runzelte sie die Stirn und drehte sich wieder um. Sie sprach fast zu sich selbst. »Wir haben es hier in Golden Valley jetzt eine ganze Weile nicht mehr gehabt. Aber es geschieht wieder.« »Das hat Spot auch gesagt«, wisperte Alice zu Mary und William. »Erinnert ihr euch? Als wir den toten Dachs gefunden haben.« Meg wirbelte mit einem entsetzten Ausdruck auf dem Gesicht herum. »Was hast du da gesagt?«, fragte sie. »Es war gestern… Wissen Sie, ich habe mich im Wald verirrt und Spot hat nach mir gesucht…« »Ein toter Dachs, sagst du?«, stieß Meg hervor. »Wie tot?« »Ziemlich tot«, antwortete Alice. »Onkel Jack hat uns vorhin geholfen ihn zu begraben.« »Armes Tier«, seufzte Meg. »Es war nett von euch, dass ihr ihn begraben habt. Ich möchte wissen, welcher es war.« »Spot nannte ihn Brock«, berichtete William.
»Brock? Nein, nicht Brock!« Megs Stimme klang sehr traurig. »Woher wisst ihr das? Wer ist dieser… Spot, wie ihr ihn nennt?« »Er ist unser Hund«, erklärte Alice ihr. »Jedenfalls lebt er in Golden House. Aber auch erst jetzt. Er kam vom… ich weiß nicht genau, woher er kam. Aber er ist jetzt unser Hund. Er führte uns zu einer Stelle, die heißt der Dunkle und irgendwie Weg…« »Der Dunkle und Schreckliche Weg«, sagte Meg ruhig. »Ihr wart da?« »Ja«, flüsterte Alice. »Warum heißt er so?« »Wenn ihr da wart, dann braucht ihr das sicher nicht zu fragen, oder?« Alice schüttelte den Kopf und scharrte mit den Füßen. Sie begriff die Antwort eigentlich nicht, aber sie fühlte, dass sie das sollte, und war lieber still. »Euer Hund«, fuhr Meg fort. »Er ist ein ungewöhnliches Tier. Es sieht so aus, als ob er mit euch redet und ihr ihn versteht.« »O ja«, sagte Alice begeistert. »Er gehört eigentlich dem Magier…« Die Worte waren heraus, bevor sie es verhindern konnte. Sie wusste sofort, wie dumm sie gewesen war. Sie konnte fühlen, wie ihr das Blut in die Wangen stieg und wie erschrocken William und Mary sie ansahen. Aber das Seltsamste war die Reaktion von Meg Lewis. Sie warf das Fernglas wieder auf den Stuhl und bedeckte ihre Ohren mit den Händen, als ob sie ein schreckliches Geräusch nicht hören wollte. »Magier?«, flüsterte sie. Dann sah sie schnell durch den Raum, als ob sie vermutete, dass Stephen Tyler jeden Moment auftauchen könnte. William hatte sie die ganze Zeit über beobachtet und runzelte die Stirn. »Sie kennen den Magier?«, fragte er sie flüsternd. »Ich weiß nichts«, antwortete Meg, »und ich wundere mich, woher ihr etwas wissen solltet. Aber ihr kommt aus diesem Haus. Das erklärt vieles.« Sie drehte sich schnell um und schlug die Fensterläden einen nach dem anderen zu, so dass das Licht immer weniger wurde, bis sie in völliger Dunkelheit standen. Dann ging sie zur Tür. »Ich möchte euren Hund kennen lernen«, sagte sie, als sie auf die Plattform hinaustrat. »Der Letzte, der geht, schließt die Tür.« Damit duckte sie sich unter dem Ast und war fort. »Alice«, stöhnte William.
»Tut mir Leid«, flüsterte Alice. »Es ist mir einfach herausgerutscht.« »Wir wollten niemandem etwas über den Magier erzählen.« »Es tut mir Leid, Will. Ganz ehrlich.« »Sie hat es nicht absichtlich getan, Will«, sagte Mary. »Und überhaupt, ich glaube, Meg Lewis hat schon vom Magier gehört. Du hast doch gesehen, wie sie reagiert hat, als Alice ihn erwähnte. Es war so, als ob sie vor etwas Angst hätte.« »Heiliges Krötenei!«, rief Alice aus. »Glaubt ihr, sie ist ein Feind? Jemand, der zu diesem Assistenten von Mr. Tyler gehört?« »Wie die Ratte, meinst du?«, sagte Mary. »Was denkst du, Will?« »Ich weiß nicht«, antwortete William. »Ich kann nicht glauben, dass es so ist. Ich finde sie nett. Die Ratte war überhaupt nicht nett.« »Nein, war sie nicht«, stimmte Alice zu. Sie schauderte bei dem Gedanken an die Ratte, die sie an Weihnachten so erschreckt hatte. »Kommt jetzt«, sagte William. »Wir gehen besser wieder hinunter. Sie wartet bestimmt auf uns.« Als sie aus den Zweigen des Baumes traten, stand Meg in der strahlenden Sonne auf dem Gras und Spot saß zu ihren Füßen. Er wedelte mit dem Schwanz und sah zu ihr auf, als ob er etwas Leckeres von ihr erwartete. »Spot!«, rief Alice völlig überrascht. »Das ist also euer Spot«, sagte Meg und streichelte seinen Kopf. »Nun, Spot«, sagte sie sanft zu dem Hund, »du hattest auch schon andere Namen, nicht wahr? Ich habe ihn Gypsy genannt, denn er war immer ein Streuner. Und mein Vater hatte genauso einen Hund. Er hieß Blackbane.« Beim Klang dieses letzten Namens winselte Spot und rückte mit eingeklemmtem Schwanz fort von Meg. Alice lief zu ihm und legte schützend die Arme um seinen Hals. »Ist ja gut, Kind«, sagte Meg sanft. »Ich würde ihm nie etwas tun. Er mag nur meine Worte nicht. Blackbane und mein Vater haben sich gestritten.« Sie schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Ich weiß noch nicht einmal die Hälfte von dem, was wirklich passiert ist. Aber ich schwöre euch, dass ich Tiere liebe. Fragt nur euren Spot. Ich muss jetzt nach Hause gehen.« Sie blickte wieder zum Himmel hinauf. »Meine Nächte werden in nächster Zeit wieder länger sein.« Damit drehte sie sich um und ging fort in Richtung des aufrecht stehenden Steines. »Miss Lewis«, rief William und rannte hinter ihr her.
»Du meine Güte, Junge! Nenn mich doch Meg wie alle anderen auch«, sagte Meg und drehte sich um. »Bitte erzählen Sie uns, was das alles bedeutet«, sagte er. »Der tote Dachs und der Dunkle und Schreckliche Weg. Vielleicht können wir etwas tun. Wir sind nur eine Weile hier, aber… Wir möchten gerne helfen.« »Helfen?«, fragte Meg stirnrunzelnd. »Warum?« »Ich weiß es eigentlich nicht«, murmelte William. »Es ist nur… wir möchten alles über das Land und so weiter wissen…« »Hetzjagd auf Dachse«, unterbrach Meg ihn. »Wie bitte?«, fragte William, der sie nicht richtig verstanden hatte. »Diese Gegend hat einen der besten Dachsbauten in unserem Land. Die Dachse sind meine Freunde. Im Grunde sind alle Tiere meine Freunde. Ich ziehe sie den Menschen vor. Aber Dachse sind etwas Besonderes. Und Füchse auch. Die armen Füchse. Jeden Winter wird hier eine Hetzjagd veranstaltet. Aber ich lasse sie nicht über mein Land. Dafür werde ich verachtet.« »Wissen Sie, wo die Füchse leben?«, fragte William, der sich an Cinnabar erinnerte. »Du magst Füchse?«, fragte Meg ihn. »Ja, ich könnte dich hinbringen. Aber jetzt wird meine Arbeit erschwert. Männer kommen, meistens aus den Städten. Sie haben bissige, kleine Terrier, manche sogar Spürhunde und Pitbulls… grausame Hunde, nicht friedlich, sondern brutal wie ihre Besitzer. Sie kommen nachts mit Taschenlampen. Sie schicken die Hunde in den Bau hinunter, um die Dachse herauszujagen. Über die Ausgänge haben sie Netze gespannt, und wenn ein Dachs herauskommt, fangen sie ihn. Manchmal erschlagen sie ihn auch einfach nur mit einer Schaufel und nehmen ihn dann mit.« »Aber warum?«, fragte Alice. »Wozu ist das gut?« »Sport«, erwiderte Meg. »Sport?«, rief William aus. »Wie kann das ein Sport sein?« »Sie hetzen die Hunde auf die Dachse. Manchmal werden die Hunde übel zugerichtet. Sie wetten auf ihre Hunde, setzen Geld darauf, welcher den Dachs schlagen wird.« »Schlagen?«, fragte Mary entsetzt. »Besiegen, schlagen, vernichten, töten.« Meg sagte die Worte langsam, fast traurig. »Aber das ist ja schrecklich«, sagte Mary mit zitternder Stimme.
»Das ist doch kein Sport. Glauben Sie, dass das mit dem Dachs passiert ist, den wir gefunden haben?« »Ich bin mir sicher«, erwiderte Meg. »Aber was kann man dagegen tun, Meg?«, fragte William. »Es ist gegen das Gesetz. Wenn ich sie also erwische, melde ich sie der Polizei. Ich fotografiere sie mit Blitzlicht. Ich schreibe mir ihre Autonummern auf. Ich folge ihnen.« Sie ging nachdenklich weiter bis zu dem aufrecht stehenden Stein, dann drehte sie sich zu den Kindern um. »Worüber ich mir allerdings den Kopf zerbreche, ist, dass es hier eine Weile ruhig war. Ich dachte schon, die Männer hätten aufgegeben. Die Polizei hat letztes Jahr eine Razzia veranstaltet und hohe Geldstrafen verhängt. Ich dachte, wir würden sie nie wieder sehen. Wo kommt diese neue Bande her? Das muss ich einfach herausfinden.« Sie betrachtete die tief über den Baumkronen stehende Sonne. »Ich muss zurück, bald ist Abend.« Sie winkte ihnen kurz zu und ging weiter. »Besucht mich in Four Fields«, rief sie ohne sich umzusehen.
9 Phoebe veranstaltet ein Donnerwetter Es war schon später Nachmittag und sie hatten gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war. Schnell rannten sie die steile Böschung hinunter, rechts und links an Bäumen vorbei, und folgten Spot, der mit flatternden Ohren und wedelndem Schwanz vor ihnen herlief. Alice blieb bald zurück und rief ihnen hinterher, dass sie auf sie warten sollten. »Ich habe schließlich die kürzesten Beine von uns allen! Ich bin nicht so schnell wie ihr!«, protestierte sie. Dabei rutschte und stolperte sie zu ihnen herunter. Der Weg, den sie nahmen, lag fast in gerader Linie zur großen Eibe. Das Baumhaus war hinter den grünen Zweigen völlig verborgen. »Und Eiben sind natürlich immergrün«, sagte William, der die Steigung hinaufblickte, während sie auf Alice warteten. »Das heißt also, dass der Raum im Sommer und im Winter unsichtbar ist.« Kaum hatte Alice sie eingeholt, bellte Spot ungeduldig und trieb sie weiter. »Das ist nicht fair«, schrie sie, als die anderen beiden sofort wieder losrannten. »Ich habe mich noch gar nicht ausgeruht. Verdammter Mäusedreck!«, fluchte sie. Danach fühlte sie sich besser und machte sich wieder auf, hinter den anderen herzurennen. Der Abhang wurde noch steiler. Sie mussten sich an Baumstämmen festhalten, um nicht hinzufallen. Sie liefen um eine Felsnase herum und erkämpften sich einen Weg durch dichtes Unterholz mit hinterhältigen Brombeerranken und langen, dornigen Rosenzweigen. Sie rutschten und schlitterten über Kastanienwurzeln und durch Ginsterbüsche. Keuchend schnappten sie nach Luft und manchmal stolperten und purzelten sie nur noch hinter Spot her, der in atemberaubendem Tempo ins Tal hinunterlief. Alice dachte, ihre Lungen würden gleich platzen, und Mary, die vorweg rannte, grub sich die Faust in die Seite, weil sie schon Seitenstiche hatte. Schließlich erreichten sie denselben Waldweg, von dem sie gekommen waren. Hier ließ sich William einfach ins Gras
fallen und legte sich schwitzend und nach Luft schnappend auf den Rücken. »Uff!«, jammerte er. »Ich kann nicht mehr.« Aber Spot jagte den Weg schon weiter hinunter. Sie waren nicht weit vom Tor zum Küchengarten entfernt, gegenüber dem Weg, den sie am Morgen genommen hatten. »Man kann überhaupt keinen Weg erkennen«, sagte Mary, die auf den bewaldeten Hügel zurückblickte und über den Baumkronen das Baumhaus in der Eibe suchte. »Die Dornen haben mich völlig verunstaltet«, klagte Alice und rieb über einen langen, dünnen Kratzer an ihrem Arm. Dann hörten sie vor sich auf dem Weg Spot wieder ungeduldig bellen. Also beeilten sich Alice und Mary William auf die Füße zu ziehen, obwohl er weiter behauptete, er könne keinen Zentimeter mehr laufen. »Wirklich, Will!«, stichelte Alice. »Du bist ein hoffnungsloser Fall! Habt ihr keinen Sport in eurer Schule?« Dann wich sie ihm aus und rannte schreiend und lachend vor William weg, der ihr nachjagte. Sie fanden Spot vor dem Holztor in der Ziegelmauer, die den Küchengarten umgab. Das Tor war geschlossen, deshalb konnte er nicht hinein. Aber als Alice es aufstieß, schoss er ungeduldig an ihr vorbei und warf sie dabei fast um. »Was ist bloß los mit ihm?«, beschwerte sich Alice gereizt. Der Hund lief ohne auf sie zu warten wie der Blitz durch den Garten und das Tor in den Hof. »Vielleicht bekommt er um diese Zeit immer sein Futter«, mutmaßte Mary. »Also ich sterbe auch gleich vor Hunger«, stimmte Alice zu. Aber als sie sich dem Hoftor näherten, wurden sie immer langsamer. »Wir sind so spät dran. Was sollen wir nur sagen?«, fragte William und sprach damit ihre Gedanken aus. »Wir müssen einfach die Wahrheit sagen«, meinte Alice. »Dass wir nicht gemerkt haben, wie spät es war, und dann erklären wir, was passiert ist.« »Aber wir können doch nicht erzählen, was wir gemacht haben«, protestierte William, »ohne vom Magier zu reden.« »Vielleicht sollten wir sagen, dass wir uns wieder verlaufen haben«, schlug Mary vor.
»Haben wir aber nicht«, sagte William. »Und ich habe mich noch nicht einmal gestern richtig verlaufen. Nicht wirklich!« »Also ich schon«, sagte Alice. »Ich bin in dem widerlichen Wald dauernd im Kreis gelaufen. Wenn Spot nicht gewesen wäre, dann wäre ich immer schwächer geworden und jetzt tot.« »Und der Turmfalke«, fügte Mary hinzu. »Der Turmfalke hat uns gezeigt, wo du warst.« Dann schauderte sie. »Es war ein scheußlicher Ort, nicht wahr? Ich glaube nicht, dass ich noch einmal dahin gehe.« »Vielleicht müssen wir das aber«, sagte William. »Vielleicht meinte Mr. Tyler das, als er sagte, wir sollten mehr über die natürliche Welt lernen.« »Also ich gehe nicht mehr in diesen Tannenwald, niemals. Für niemanden«, erklärte Alice. »Ich gehe nicht mehr zu diesem Dunklen und Schrecklichen Pfad – nicht mal für den Magier.« Als sie aufhörte zu reden, kreiste hoch über ihnen im blassblauen Himmel ein Turmfalke und rief »Ki-ki-ki!«. »Huch«, sagte Alice und sah nach oben. »Glaubt ihr, er hat mich gehört?« Sie rannte schnell zum Hoftor. Phoebe stand an der Küchentür und neben ihr saß Spot. Sie trocknete sich die Hände an einem Handtuch, und als sie die Kinder sah, warf sie das Handtuch auf die Türstufe und lief schnell auf sie zu. »Wo um Himmels willen habt ihr gesteckt?«, rief sie. »Jack hat euch schon überall gesucht.« »Entschuldige, Phoebe«, sagte Mary. »Wir haben nicht gemerkt, wie spät es war.« »Ihr wart stundenlang weg!«, schimpfte Phoebe. Sie war mehr als aufgebracht und einen Augenblick lang sah es fast so aus, als ob sie einen von ihnen ohrfeigen wollte. Sie ballte die Fäuste und schlug sie gegen ihre Hüften. Sie war so zornig, dass ihre Bewegungen angespannt wirkten und ihre Stimme sich schrill anhörte. »Es tut uns wirklich Leid«, sagte William. »Wir sind irgendwie weiter gegangen, als wir wollten, und wir… also… wir…« »… haben nicht gemerkt, wie spät es war«, unterbrach Alice, die es schon ein bisschen satt hatte, alles erklären zu müssen. »Tut uns Leid.« »Leid?«, rief Phoebe aus. »Es tut euch Leid? Habt ihr irgendeine Vorstellung davon, was für Sorgen ich mir gemacht habe? Wir sind hier für euch verantwortlich und ihr seid fast den ganzen Tag verschwunden. Ich konnte es gar nicht glauben, als Jack mir erzählte, er
hätte euch wieder alleine losziehen lassen. Kommt sofort rein. Ich hatte Mittagessen für euch, aber ich musste das meiste davon wegwerfen.« Sie drehte ihnen den Rücken zu und ging in die Küche. Im Vorbeigehen hob sie das Handtuch auf. Alice zog achselzuckend ein Gesicht. »Verdammtes Krötenei!«, flüsterte sie. »Die hat ja einen echten Tobsuchtsanfall.« »Kommt jetzt«, sagte William niedergeschlagen. »Ich wette, sie hat das Essen nicht weggeworfen. Das hat sie nur gesagt, damit wir uns noch schlechter fühlen.« »Sie hat aber Recht«, sagte William. »Wir waren Stunden weg und es ist kein Wunder, dass sie sich Sorgen macht.« »Wir müssen ihr einfach die Wahrheit sagen«, sagte Mary und ging hinter ihm in den Hof. »Welche Wahrheit?«, fragte William sichtlich überrascht. »Alles, was passiert ist«, erwiderte Mary. »Was? Auch alles über den Magier?«, fragte Alice. »Warum nicht?«, fragte Mary. »Er hat auch Schuld daran, dass wir zu spät sind. Wenn wir ihn nicht getroffen hätten, wären wir viel eher aus dem Baumhaus weggegangen und wir hätten Meg nicht getroffen und wir wären viel früher zu Hause gewesen. Wenigstens ein bisschen früher.« »Wir können Phoebe nichts über den Magier erzählen, Mary«, sagte William zu ihr. »Sie würde uns nicht glauben.« »Vielleicht doch. Es könnte sich lohnen, das herauszufinden. Und überhaupt: Es ist nicht unser Fehler, wenn wir die Wahrheit sagen und niemand glaubt uns, oder?« Phoebe erschien wieder in der Tür und rief zornig: »Ich sagte, ihr sollt hereinkommen. Jetzt sofort. Tut gefälligst, was man euch sagt.« Spot saß neben dem Küchenherd. Er sah winselnd auf, als die Kinder hereinkamen. »Und von dir bin ich auch enttäuscht, Spot«, schimpfte Phoebe und ging zur Spüle. »Du solltest auf sie aufpassen.« »Aber das hat er doch getan!«, rief Alice bestürzt. »Wir hätten nie zurückgefunden, wenn Spot nicht gewesen wäre.« »Sei still, Alice!«, sagte Phoebe. Sie wirbelte herum und funkelte Alice an. »Nein, Phoebe«, beharrte Alice tapfer, rannte zu dem Hund und legte schützend einen Arm um ihn. Er zitterte und winselte jämmer-
lich. »Gib uns die Schuld, wenn du willst, aber lass Spot in Ruhe. Er hat nichts Falsches getan. Bestraf mich, wenn du willst, aber nicht Spot.« Sie hörte mit leiser, zitternder Stimme auf zu reden, schluckte und zwinkerte mit den Augen, damit die Tränen verschwanden, die plötzlich aufgetaucht waren. Spot lehnte sich an sie und leckte ihr heimlich über die Wange. Das war zu viel für Alice. Sie vergrub ihr Gesicht im Hundefell und heulte laut los. Alices Weinen weckte Stephanie, die auf der anderen Seite des Küchenherdes in ihrem Bettchen schlief. Sie begann aus vollem Hals zu brüllen. Spot, der das Weinen des Babys hörte und Alices Gewicht um seinen Hals trug, hob den Kopf und begann seinerseits traurig zu jaulen. Die Tür der Halle öffnete sich und Jack kam in die Küche. »Was zur Hölle geht hier vor?«, schrie er. »Seid sofort alle still! Spot!… Sei ruhig!« Aber durch sein Geschrei wurde der Tumult nur noch größer, weil der Hund, das Baby und Alice jetzt mit neuer Kraft weitermachten. »Aufhören!«, schrie Jack und hielt sich die Ohren zu. Phoebe nahm das Baby hoch, wiegte es beruhigend in ihren Armen und ging aus dem Raum. Währenddessen zog Jack Alice von Spot weg und nahm sie in die Arme. »Was ist los mit dir, Kind?«, rief er, als sie nicht aufhören konnte zu schluchzen. Spot schlich zu seinem Korb an der Hintertür, rollte sich zusammen und beobachtete jede Bewegung im Raum. Während Alice herumbrüllte, hatten Mary und William reglos zwischen der Tür und dem Herd verharrt. »Kannst du nichts tun, damit sie aufhört, Mary?«, rief Jack, weil Alice immer weiter laut weinte. Mary schüttelte einfach ihren Kopf und blieb still. Sie hatte das alles schon erlebt. »Sie hört sofort auf, wenn du sie nicht beachtest«, sagte William. »Wie kannst du dieses Gejammer ignorieren?«, wollte Jack wissen. »Das ist ja schlimmer als Katzengeschrei!« Und er miaute mit tragischer Miene, wobei er dicht an Alices Gesicht seinen Kopf hin und her drehte. Alice hatte gerade einen neuen Heulanfall, aber als sie sah, wie Jack eine Katze nachahmte, schluckte sie und lächelte dann.
»Das ist besser«, sagte er sanft. Dann wischte er ihr die Tränen von den Wangen und legte ihr einen Arm um die Schulter. »Okay, Bande. Und jetzt erklärt mal, was das sollte.« Er hob einen Finger. »Aber nicht mir«, fügte er hinzu, »sondern Phoebe.« Er zeigte auf die Tür zur Halle, durch die Phoebe verschwunden war. »Sie hat sich wegen euch die größten Sorgen gemacht. Ihr habt besser eine gute Erklärung dafür, warum ihr nicht zum Mittagessen zurück wart. Sie wird ein Riesendonnerwetter veranstalten und ich möchte nicht an eurer Stelle sein, wenn sie das tut. Es gibt nichts Schrecklicheres als eine wütende Phoebe.« Spot grunzte und schloss die Augen, wahrscheinlich weil er dem Zornesausbruch durch Schlafen entgehen wollte. »Es war wirklich ein Fehler, Onkel Jack«, sagte Mary. »Erzähl das nicht mir«, warf Jack dazwischen, »erzähl es ihr.« Während er noch sprach, kam Phoebe zurück in die Küche. »Sie ist jetzt ruhig«, sagte sie, was sich wohl auf Stephanie bezog, die sie in einen anderen Teil des Hauses gebracht hatte. »Lauf zu ihr, Spot«, fuhr sie fort und ging zum Herd, »lauf zu Stephanie und pass auf sie auf.« Spot stand schnell auf und huschte in die Halle, erleichtert darüber, dass er den Raum verlassen konnte. Phoebe legte Holz auf das Herdfeuer und kratzte die heiße Asche mit einem Feuerhaken heraus. Im Raum herrschte bedrücktes Schweigen. Alice glitt hinüber zu William und Mary und stellte sich zwischen sie. Ganz allein fühlte sie sich verwundbar, denn Onkel Jack war zu Phoebe gegangen, als sie hereingekommen war. Er legte seine Hände um Phoebes Taille und drehte sie herum, damit sie ihn ansah. »Alles in Ordnung?«, fragte er sie sanft. Die Kinder sahen, wie Phoebe leicht die Stirn runzelte und sich dann mit der Hand ein paar Haare aus den Augen wischte. »Nicht, Jack, bitte«, sagte sie und schob ihn sanft, aber bestimmt zur Seite. »Also, wo seid ihr gewesen?«, fragte sie die Kinder und drehte sich zu ihnen um. »Wir haben eine Frau getroffen, die Meg Lewis heißt«, sagte Mary. Als Phoebe darauf nicht reagierte, zuckte sie mit den Schultern und fuhr fort: »Ich glaube, sie lebt hier irgendwo in der Nähe. Auf jeden Fall kannte sie dieses Haus. Sie sagte, ihre Familie hätte früher hier gelebt…« »Jonas Lewis«, sagte Phoebe ruhig. »Erinnerst du dich, Jack?
Dieses Buch, das du von der Frau im Museum bekommen hast, als die Kinder an Weihnachten hier waren.« »Natürlich!«, rief William aus. »Das Buch über Alchimie. Hast du es noch, Onkel Jack?« »Nein, ich habe es Miss Prewett zurückgegeben. Anscheinend hat der Besitzer es dem Museum geschenkt…« »Soweit ich mich erinnere«, fuhr William fort, als ob er laut dachte, »verließ Jonas Lewis Golden House ganz zu Ende des 19. Jahrhunderts. Glaubst du, er war vielleicht Megs Vater?« »Wie alt ist sie denn?«, fragte Jack, der neugierig geworden war. Mary zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich älter, als sie aussieht. Sie hat so ein faltenloses Gesicht, weißt du? Eins von diesen blassen, glänzenden Gesichtern, die immer so aussehen, als ob sie gerade gewaschen worden wären. Aber ihre Haare sind ganz weiß. Es ist schwer, zu sagen, wie alt sie ist. Immerhin war sie nicht zu alt einen Baum hinaufzuklettern…« »Einen Baum hinaufzuklettern?«, fragte Jack lachend. »Ich glaube, ihr erzählt die Geschichte besser mal von Anfang an.« Also begannen die Kinder über die Ereignisse des Tages zu berichten. Alle sprachen auf einmal und fügten Kleinigkeiten hinzu, die die anderen vergessen hatten. Aber keines von ihnen erwähnte, dass sie Stephen Tyler gesehen hatten. Mary sagte später, dass sie es eigentlich vorgehabt hätte, aber dann hatte sie gemerkt, dass Jack es weder verstanden noch geglaubt hätte, und sie hatte das schöne Gespräch nicht beenden wollen. Jack befragte sie genau über das Baumhaus und war offensichtlich hocherfreut darüber. »Ihr müsst mich mitnehmen und es mir zeigen«, sagte er. Dann hatten sie von Megs Ankunft erzählt und von den Dachsjägern. »Hier? In unserem Tal?«, fragte Jack. »Ich bin sicher, das stimmt nicht. Ich würde es wissen, wenn hier Leute herumlaufen würden…« »Aber doch nicht mitten in der Nacht, Onkel Jack«, hatte William gemeint. Während sie sprachen, stand Phoebe am Herd und drehte ihnen halb den Rücken zu, als ob sie kaum zuhören würde. Aber als Jack sagte, er würde nächstes Mal, wenn er in der Stadt sei, Miss Prewett besuchen und sie fragen, ob er das Buch von Jonas Lewis noch einmal haben könne, drehte sie sich plötzlich zu ihnen um. »Nein!«, sagte sie heftig. »Nein, Jack. Hör dir doch mal zu! Du
hast mir versprochen, dass wir diese Dinge ruhen lassen. Ich will nichts mehr damit zu tun haben.« Die Kinder beobachteten schweigend, wie sie ein Stück von ihnen wegging und sich dann wieder zu ihnen umdrehte. Sie hatte einen wilden, verzweifelten Ausdruck auf dem Gesicht. »Es gibt zu viele ungeklärte Dinge, zu viele seltsame Ereignisse, zu viele Geräusche. Ich wünschte, wir wären nie hierher gekommen. Welcher Teufel hat uns geritten, als wir in dieses große, zerfallene Haus eingezogen sind…? Wir brauchen ein Vermögen für die Erhaltung und beinah unser ganzes gespartes Geld ist schon allein durch die Reparaturarbeiten verbraucht.« »Also es war hauptsächlich deine Idee, Liebling«, sagte Jack leichthin. Dann warf er den Kindern einen Blick zu, denn er wollte offensichtlich dieses Gespräch nicht vor ihnen führen. »Stimmt«, erwiderte Phoebe. »Ich weiß das. Ich gebe es zu. Also habe ich mich geirrt. Als wir hierher kamen und das Haus gesehen haben, fühlte ich mich, als wäre ich nach Hause gekommen. Nach Hause!«, lachte sie, ein trauriges, trockenes, brüchiges Lachen. »Jetzt hasse ich es«, schluchzte sie. »Es hat dich im Griff. Ich sehe dich kaum noch, Jack. Immerzu arbeitest du nur am Haus…« »Ich hole die Bauarbeiter zurück«, unterbrach Jack sie. »Die Bauarbeiter?«, rief Phoebe. »Dieses Haus kostet uns ein Vermögen. Ach, wozu rede ich denn überhaupt…«, seufzte sie und ging schnell zur Tür. »Solange ihr hier seid, Kinder, möchte ich nicht, dass ihr in den Wald verschwindet ohne mir zu sagen, wohin ihr geht. Ich kann nicht noch mehr Sorgen ertragen, hört ihr? Ich habe genug…« Und sie floh aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Die Kinder sahen auf den Boden. Es war schrecklich peinlich und sie wussten nicht genau, was sie jetzt sagen sollten. »Du liebe Zeit!«, seufzte Jack. »Es tut mir Leid.« »Es ist unser Fehler«, sagte Mary zu ihm. »Es war nicht richtig von uns, so lange wegzubleiben.« »Es ist nicht nur das«, sagte Jack kopfschüttelnd. »Alles hat sie in letzter Zeit ein bisschen niedergedrückt. Sie macht sich wirklich Geldsorgen. Vielleicht sollte ich das Buch von Miss Prewett wiederholen und sehen, ob ich nicht selbst ein bisschen Alchimie betreibe! Ich könnte ein paar Goldbarren gebrauchen.« »Nein!«, rief William ernst. »War nur ein Witz, William!«, sagte Jack. »Erzähl mir nicht, du
glaubst diesen ganzen Unsinn? Dann musst du zu Phoebe gehen. Sie ist überzeugt, dass dieses Haus voller Magie ist und ich weiß nicht was sonst noch für Unfug.« Er ging zur Tür. »Ich gehe mal und… versuche sie aufzumuntern. Bin gleich wieder da.« Und er eilte aus dem Raum. »Du lieber Schokoladenkuchen!«, rief Alice. »War das das Donnerwetter?« William pfiff durch die Zähne und schüttelte seine Hand, als habe er sie sich gerade verbrannt. »O William«, sagte Mary. »Glaubst du, Onkel Jack hat das mit der Alchimie und dem Goldmachen ernst gemeint?« »Nein! Das hat er sicher nicht. Er hat doch selbst gesagt, er hielte das alles für einen großen Haufen Unsinn.« »Trotzdem«, fuhr Mary nachdenklich fort, »sie sind offenbar über irgendetwas gestolpert.« »Mr. Tyler hat gesagt, dass irgendwelche Leute das Geheimzimmer entdeckt haben«, flüsterte Alice. »Glaubt ihr, es waren Phoebe und Jack und sie wollen nicht, dass wir es wissen? Oh, diese Lügner!« »Wir gehen besser hinauf, sobald es möglich ist«, erklärte William. »Wir müssen eine Menge Dinge herausfinden.«
10 Die Schrift auf dem Spiegel Während des Abendessens waren alle sehr bedrückt. Jack versuchte ein fröhliches Gespräch in Gang zu bringen, aber das schien alles nur noch schlimmer zu machen. Niemand war in der Stimmung und über die wenigen Witze, die er erzählte, konnte keiner lachen. Phoebe bedauerte spürbar ihr Verhalten, war aber gleichzeitig noch böse mit den Kindern, wahrscheinlich zuallererst, weil sie sie dazu gebracht hatten, die Nerven zu verlieren. Sie sprach kaum, und wenn sie es tat, dann nur, um noch etwas zu essen anzubieten oder Jack zu bitten etwas auf den Tisch zu stellen. Spot lag zusammengerollt in seinem Korb und hatte offenbar entschieden, dass es am sichersten war, nicht aufzufallen, und sogar Stephanie schlief die meiste Zeit friedlich in ihrem Bettchen. Die Kinder waren müde nach den Anstrengungen des Tages. Obwohl sie hungrig waren, hatten sie kaum die Kraft oder den Wunsch zu essen. Ihre Beine schmerzten und ihre jeweiligen Schnittwunden und Kratzer taten weh. Sie fühlten sich verlegen und unbehaglich in der gereizten und bedrückten Atmosphäre, die immer auf einen Streit folgt. Gegen Ende des Essens wachte Stephanie auf und begann ärgerlich zu weinen. Also nahm Phoebe sie aus ihrem Bettchen, sobald sie mit dem Essen fertig war, setzte sich auf einen Stuhl neben den Herd und wollte sie füttern. Als das Kind sich nicht beruhigte, lockerte sie das Oberteil ihres Kleides ein wenig und gab ihr die Brust. Bald darauf begann das Baby zu saugen. Alice beobachtete die Szene mit so ungläubig offenem Mund, dass Mary sie unter dem Tisch treten musste. William konnte fühlen, dass seine Wangen vor Verlegenheit knallrot wurden, und sogar Mary war nicht ganz sicher, wohin sie blicken sollte, also studierte sie angestrengt ihre Hände. Der Einzige, der sich überhaupt nicht verunsichern ließ, war Jack. Er aß weiter, als ob nichts Ungewöhnliches geschehen würde. Sobald das Abendessen vorbei war, räumten Jack und Alice den Tisch ab und Mary und William machten den Abwasch. Die Kinder
konnten sich gar nicht genug beeilen, und sobald der letzte Teller trocken im Schrank stand, schlug Mary vor, dass sie zu Bett gingen. Sie wünschten Phoebe und Jack rasch gute Nacht und vermieden, so gut es ging, auf die nackte Brust und das zufrieden saugende Baby in Phoebes Armen zu schauen. Dann flohen sie aus der Küche und liefen in das Zimmer der Mädchen. »Du liebe Zeit!«, stöhnte Alice und sank vor dem elektrischen Ofen auf den Boden. »War das nicht schrecklich? Ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst, als sie ihre Brust herausnahm! Was hat sie sich dabei nur gedacht?« »Sie wollte Stephanie füttern, Alice!«, sagte Mary in herablassendem Ton zu ihr. »Das weiß ich auch, Mary«, gab Alice zurück. »Ich bin nicht völlig verblödet, weißt du. Aber sich einfach hinzusetzen… und es zu tun! Igitt! Ich meine… Ich glaube, es war das Unanständigste, was ich je gesehen habe.« »Das stimmt nicht«, sagte Mary. »Es ist ganz natürlich.« »Aber – doch nicht, während wir essen, Mary!«, protestierte William. »Okay, das war’s dann«, sagte Alice. »Ich werde nie Kinder bekommen. Niemals. Wenn ich nur daran denke, fühle ich mich… igitt!«, schauderte sie und schüttelte den Kopf. »Außerdem will ich keine Brüste. Ich finde das abscheulich.« »Halt die Klappe, Alice!« »Du wirst ja rot, Will«, kicherte Mary. »Wirklich, William!«, rief Alice aus. Dann kicherte auch sie los. »Magst du nicht über weibliche Brüste reden, William?«, stichelte Mary. »Hältst du sie vielleicht für ein bisschen… sexy?« Und sie fing wieder an zu kichern. Da sprang Alice auf und warf sich auf William. »Busen! Busen! William ist scharf auf Busen!« »Hau ab!«, brüllte William. Er stieß sie weg und lief zur Tür. »Ich gehe ins Bett.« »Aber – wann gehen wir zum Geheimzimmer?«, fragte Alice. »Morgen früh, bevor die anderen aufgestanden sind. Ich stelle den Wecker auf sechs«, erwiderte er und ging über den Flur zu seinem Zimmer. »William!«, rief Mary und folgte ihm zur Tür. »Du darfst nicht alleine gehen. Der feierliche Eid gilt immer noch für uns alle.« »Ich gehe nicht allein. Versprochen«, sagte ihr Bruder.
»Das hat er schon mal versprochen«, bemerkte Alice und hockte sich wieder vor den elektrischen Ofen. »Er hat den feierlichen Eid letztes Mal gebrochen, warum sollte er es nicht noch mal tun?« »Ist schon gut. Ich habe auch einen Wecker dabei«, sagte Mary zu ihr. »Also ich brauche keinen«, sagte Alice hochnäsig. »Ich sage mir nur, wann ich aufwachen will, und das tue ich dann auch.« »Ich wette, das kannst du nicht.« »Kann ich doch. Um was willst du wetten?« »Wenn du morgen früh um Viertel vor sechs wach wirst und mich zum Beweis weckst, gebe ich dir… zehn Pence.« »Zehn Pence?«, spottete Alice. »Das ist viel mehr wert!« Aber schließlich musste William am nächsten Morgen beide Mädchen wecken. Die Sonne strahlte durch das Fenster hinein und er sagte, sie sollten sich beeilen, weil es viel später war, als er beabsichtigt hatte. »Ich dachte, du hättest deinen Wecker gestellt«, sagte Mary und zog sich an. »Hab ich auch. Aber als er geklingelt hat, habe ich ihn ausgestellt und bin wieder eingeschlafen. Es ist schon Viertel vor sieben. Kommt jetzt!« Und er lief aus dem Zimmer. »Du wolltest deinen Wecker doch auch stellen, Mary«, erinnerte Alice sie. »Wollte ich nicht. Du wolltest mich wecken, schon vergessen?« »Für zehn Pence?«, rief Alice aus. »Verdammt unwahrscheinlich!« »Hör auf zu fluchen, Alice.« »Ich fluche nicht. Es passiert einfach nur so, wenn…« Aber Mary war schon aus dem Zimmer gelaufen und hörte ihr nicht mehr zu. Als Alice in der Halle ankam, warteten die anderen beiden schon im Kamin auf sie. Während sie die Treppe hinunterging, schaute William zur Galerie hoch, wo er gerade die geschlossene Tür von Jacks und Phoebes Schlafzimmer sehen konnte. »Wann werden die beiden wohl aufstehen?«, flüsterte er. »Früh, würde ich sagen«, antwortete Mary. »Babys müssen dauernd gefüttert werden.« »Erinnere mich bloß nicht daran, Mary«, flüsterte Alice und verzog angeekelt das Gesicht. Dann hatte sie eine Idee. »Ich hole nur noch Spot«, sagte sie, lief durch die Halle zurück und öffnete die
Küchentür. Spot kam sofort herausgesprungen, um sie zu begrüßen. Er hatte auf der anderen Seite der Tür gestanden, ihre Bewegungen gehört und wäre liebend gern bei ihnen gewesen, aber er hatte nicht bellen wollen, um die anderen nicht zu wecken. »Okay, los geht’s«, flüsterte William. Er schaltete die Taschenlampe ein und begann die vorstehenden Steine an der Seite des Kamins hinaufzusteigen. Sobald er den Vorsprung erreichte, ging er in die dunkle Ecke und verschwand hinter dem Stück Wand, das die Treppe verbarg. Die anderen folgten ihm, zuerst Mary, dann Alice und zuletzt Spot. Die Stufen im Kamin lagen in völliger Dunkelheit und Williams Taschenlampe nützte niemandem außer ihm selbst, weil die Wendeltreppe so steil und eng war, dass sie ihn nie sehen konnten. Sogar Mary, die dicht hinter ihm war, sah nicht mehr als einen schwachen Schein vor sich und Alice versuchte den Weg nach oben so gut wie möglich zu ertasten, während sie dauernd stolperte. Als sie ein Stück geklettert waren, schob sich Spot an ihr vorbei. »Lass mich nach vorne«, grollte er leise. »Ich kann im Dunkeln sehen.« »Du Glücklicher«, murmelte Alice und dann sah sie plötzlich Marys Beine vor sich die Stufen hochsteigen und roch die strenge, kalte, rußige Luft im Kamin und hörte das Klappern von Williams und Marys Füßen auf den Steinstufen und die weicheren Ballen ihrer eigenen Pfoten. »Oh!«, stieß sie flüsternd hervor. »Es ist passiert, Spot. Ich bin in dir.« »Schhhh!«, zischte der Hund und sie stiegen zusammen weiter die Stufen hinauf und sahen eine seltsam undurchsichtige, schattenhafte Welt mit sich verschwommen bewegenden Bildern. Es war die einzige Art Dunkelheit, die Spot kannte. Nachdem sie die Wendeltreppe ein weiteres Mal umrundet hatten, kamen sie zu der Holztür. Mary hielt sie für sie auf, und als sie zu ihr kamen, blickte sie sich um. »Komm schon, Alice«, rief sie, und weil sie Spots Kopf in der Dunkelheit fühlen konnte, beugte sie sich hinunter und streichelte ihn. »Ich bin hier«, flüsterte Alice und konnte wieder nur die Dunkelheit sehen und Spots Körper direkt vor sich fühlen. »Merkwürdig«, dachte sie. »Als ich mit Mary gesprochen habe, war ich nicht mehr in dir, Spot.«
»Versuch gar nicht erst, es zu verstehen«, flüsterte Spot in ihrem Kopf. »Lass es einfach nur geschehen.« »Aber – wie denn«, dachte sie, »wenn ich noch nicht einmal weiß, was genau passiert?« »Wehr dich einfach nicht dagegen«, flüsterte Spot. »Das ist es, was ihr Menschen immer tut. Ihr lasst Dinge nicht geschehen, weil ihr euch dauernd fragt, wann oder wie sie passieren werden. Pass auf…«, zischte er und im nächsten Augenblick war sie wieder in ihm, sah durch seine Augen, hörte mit seinen Ohren, fühlte mit seinen Pfoten und roch mit seiner Nase. »Hoppla!«, stieß sie hervor, weil sie so überrascht war. »Siehst du?«, grollte der Hund leise. Das tat sie nicht wirklich, aber sie wollte ihn nicht verstimmen und schwieg lieber. »Na also«, sagte Spot in ihrem Kopf, »du lernst dazu. Sag einfach nichts und lass die Erfahrung wirken.« Alice dachte eine Weile darüber nach. »Als ob ich ein Buch lese?«, fragte sie. »Wie soll ich das wissen?«, grollte der Hund. »Wenn du ein Buch liest und es wirklich spannend wird, dann vergisst du, wer du bist, und irgendwie bist du Teil der Geschichte. Ist es so ähnlich?« »Das weiß ich nicht«, antwortete der Hund gereizt. »Ich habe noch nie ein Buch gelesen. Und außerdem versuchst du immer noch herauszubekommen, was passiert.« »Ja natürlich tue ich das«, gab Alice zurück. »Es ist ziemlich ungewöhnlich für ein Mädchen, durch Hundeaugen sehen zu können und all so was. Warte nur, bis es dir passiert, dann weißt du, was ich meine. Ich kann es kaum erwarten, dass du in mir bist, wenn ich mal zum Zahnarzt muss oder so – dann wirst du schon sehen, wie merkwürdig das alles ist.« Aber Spot gähnte nur bei dem Gedanken und Alice fühlte, wie ihr Kinn sich streckte, und sie senkte die Nase und schnupperte an der Steinstufe, die stark nach Mary roch. Schließlich gelangten sie ans Ende der Wendeltreppe und betraten das Geheimzimmer. »Es ist dunkel hier drin«, flüsterte William. »Komisch . Da sollte doch Licht durch die Fenster fallen.« Er ging hinüber zum Kamin, wo eine der Wandleuchten mit den reflektierenden Spiegeln hinter den Kerzen befestigt war.
»Ach so«, murmelte er zu sich selbst, »die Fenster sind mit Holzläden verschlossen.« Er schob den Eisenriegel zurück und öffnete die beiden Läden aus dunklem Holz, die das runde Fenster verdeckten, so dass die Sonne hereinkonnte. »Ich erinnere mich nicht, dass da vorher Fensterläden waren, ihr vielleicht?«, fragte er und schwenkte das runde Fenster um die Achse, damit die Morgenluft ins Zimmer dringen konnte. Alice beobachtete Mary, die zum Fenster ging. Sie schien riesengroß zu sein. Sie stützte sich mit den Händen auf den unteren Rand des runden Fensters und stellte sich auf die Zehenspitzen, damit sie hinaussehen konnte. William ging im selben Moment einen Schritt zurück, damit Mary Platz hatte, und trat dabei unabsichtlich Alice auf die Füße, so dass sie mit einem schmerzvollen Jaulen von ihm wegsprang. »Tut mir Leid, Spot«, sagte er, »ich habe nicht aufgepasst, wo ich hintrete. Tut mir Leid, Junge«, und er kraulte Alice hinter dem Ohr, was sich ziemlich kitzelig anfühlte, so dass sie den Kopf auf die Seite legte. »Wo ist eigentlich Alice?«, sagte Mary verärgert und drehte sich vom Fenster weg. »Siehst du?«, flüsterte Spot in Alices Kopf. »Es liegt nur daran, ob man die Dinge geschehen lässt.« »Aber«, dachte Alice in Spots Kopf, »was passiert, wenn ich wieder erscheine? Ich meine – werden sie nicht sehen, wenn ich – irgendwie – aus dir herauskomme?« »Weiß ich nicht«, grollte der Hund. »Versuch es einfach.« Alice hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als sie Spot schon direkt vor sich auf dem Boden sitzen sah. »Ah, da bist du ja«, sagte Mary. »Wo warst du denn so lange?« Alice runzelte die Stirn. »Woher ich gekommen bin?« William und Mary blickten sie beide mit verdutzten Gesichtern an. »Ja, du hast gefragt, wo ich war, Mary«, beharrte Alice. »Dann hast du gesagt… ah, da bist du ja. Und ich will nur wissen, ob ihr raten könnt, wo ich so plötzlich hergekommen bin.« Mary zuckte mit den Schultern. »Die Treppe herauf«, antwortete sie gelangweilt. »Warum tust du so geheimnisvoll?« »Du hast also wirklich gesehen, wie ich durch die Tür gekommen
bin? Und durch das Zimmer gegangen bin?«, wollte Alice von ihr wissen. »Natürlich«, sagte Mary und zuckte noch einmal mit den Schultern. Sie klang jetzt schon fast ärgerlich. »Also wirklich!«, sagte Alice. »Du hast das alles überhaupt gar nicht gesehen. Ich war in Spot, als ich hereinkam. Ich bin gerade… aus ihm herausgekommen.« Die anderen beiden blinzelten sie an und sahen sehr verwirrt aus. »Es stimmt doch, oder, Spot?«, beharrte Alice. Der Hund blieb einfach auf dem Boden sitzen und beobachtete sie. »Dann mach es noch mal«, sagte William zu ihr. »Du musst es glauben, wenn du es sehen willst«, sagte Alice. »Aber wenn ich es nun nicht glaube, was passiert dann?«, fragte ihr Bruder. »Das weiß ich doch nicht!«, sagte Alice unwillig. »Ich kenne die Antworten nicht oder wie es geht oder so. Ich weiß nur, dass es… irgendwie passiert.« »Dann los«, forderte Mary sie auf, »mach es noch mal.« Alice stampfte mürrisch und enttäuscht durch den Raum. »Ich hab’s euch doch gesagt. Ich weiß nicht, wie«, sagte sie. »Es…« »Passiert einfach?«, sagte eine Stimme und Stephen Tyler trat aus einer dunklen Ecke gegenüber der Tür zu ihnen. »Der Unterschied zwischen Magie und Wissenschaft ist, dass Magie nicht auf die Probe gestellt werden kann. Das Problem mit der Wissenschaft ist, dass es die Wahrnehmung der immer gegenwärtigen Magie vernebelt, wenn man sich auf Beweise verlässt.« Dann ging er an ihnen allen vorbei, als wären sie gar nicht da, und sah mit dem Rücken zu ihnen aus dem Fenster, das William gerade geöffnet hatte. »Die geheime Methode beruht ausschließlich auf Bewegungslosigkeit«, überlegte er. »Ja, das ist es! Bevor man Quecksilber erwärmen kann, muss man es vor allem in einem Stück zusammenhalten. Es darf nicht zerlaufen oder sich teilen. Quecksilber ist schwer und aktiv. Nur wenn es in den Schmelztiegel kommt, kann man anfangen damit zu arbeiten. Aber jenseits solcher Arbeit… liegt Magie. Die Arbeit ist wesentlich, aber sie führt zu nichts, wenn keine Magie zugelassen wird. Und woher kommt die Magie? Das ist die große Frage. Die Frage ohne Antwort. Woher kommt die Magie?« Er dreh-
te sich langsam um und starrte sie nachdenklich an, als ob er erwartete, dass einer von ihnen die Antwort wüsste. »Vielleicht aus der Gnade Gottes? Die Wissenschaftler halten Gott für ein unbequemes Denkmodell, denn Gott entzieht sich den Beweisen. Der Alchimist dagegen heißt Gott in seinen Studien willkommen, denn der Alchimist weiß, dass das nicht zu Beantwortende wesentlich für seine Kunst ist.« Er nickte und schien tief in Gedanken über das, was er gerade gesagt hatte. Dann schüttelte er den Kopf und seufzte. »Aber nicht zu beantwortende Fragen sind dennoch nur schwer zu ertragen. Also«, sagte er und sah die Kinder wieder an, »ihr seid hier. Gut. Gut. Ich hatte gedacht, wir sollten uns nicht hier treffen. Aber ein Mann braucht nun mal sein Arbeitszimmer. Ich kann anderswo nur schlecht nachdenken und schon gar nicht materialisieren. Außerdem ist Morten in London. Also gibt es niemanden, der unser Gespräch belauschen könnte. Stellt jetzt eure Fragen. Ihr habt wenigstens Glück. Die Fragen, die ihr habt, werden zum größten Teil zu den beantwortbaren gehören.« Die Kinder fingen alle auf einmal an zu reden und machten so viel Krach, dass der alte Mann sich die Ohren zuhielt. »Ruhe!«, brüllte er, was die Kinder mitten im Satz einhalten ließ. »Was für ein schrecklicher Lärm! Jeder stellt jetzt der Reihe nach seine Frage.« Er drehte sich um und starrte William an. »Du, Junge, du fängst an. Du bist so voller Theorie und Logik, du hast wahrscheinlich Fragen von hier bis nach London. Aber denk daran, du darfst nur eine Frage stellen – lass es also eine gute Frage sein.« William dachte einen Moment lang nach. Es war ein bisschen so, als hätte man nur einen einzigen Wunsch frei und müsste sicher sein, dass es der wichtigste ist. »Wenn, wie Sie sagen«, begann er, »die Alchimie nicht dazu da ist, wertloseres Metall in Gold zu verwandeln – wozu ist sie dann gut? Ich meine – wozu ist unsere Aufgabe wirklich gut? Wenn wir unser… wahres Ich kennen, wie Sie es nennen, was dann?« Stephen Tyler nickte mit dem Kopf und hatte ein fast unmerkliches Lächeln auf seinem strengen Gesicht. »Da haben wir es, William! Genau, wie ich gesagt habe. Ich gestatte dir eine Frage und du stellst drei.« »Aber es ist doch in Wirklichkeit immer nur die gleiche Frage«, protestierte William. »Nein, ist es nicht«, gab der alte Mann zurück. »Es sind sehr verschiedene Fragen, die am Ende vielleicht – ich sage vielleicht – zur
selben Antwort führen. Was ist also deine Frage?« William kämpfte mit dem Durcheinander in seinem Kopf. Es war schwer, eine einfache Frage zu stellen, wenn es so viel gab, das er nicht verstand. »Wenn das, was wir alle tun müssen, nur ist uns selbst zu kennen«, sagte er schließlich, »wozu ist das dann gut?« Der Magier antwortete ihm ruhig. »Ein Mensch, der sich wirklich selbst kennt«, sagte er, »ein Mensch, der die wahren Möglichkeiten der Menschheit versteht, solch ein Mensch wird seine Spuren in der Welt hinterlassen. Denn die Welt wird ein besserer Ort sein, nur weil er in ihr gelebt hat. Ein Mensch, der für Frieden und Gerechtigkeit eintritt, für Mitgefühl und Verständnis, spricht für die ganze Menschheit. Ein Mensch, der sich aufrichtig verhält und weise handelt, entschädigt für das Niederträchtige und das Bösartige im Menschen. Hör mir zu, William.« Er ging auf den Jungen zu und sprach ihn direkt an. »Eine tapfere Tat aus wahrem Mitgefühl kann Hunderte von Taten des Bösen aufheben. Eine Geste der Liebe wischt die Tränen der Menschheit fort. Denn tief im Herzen haben wir alle – jeder Einzelne von uns – ein Korn reinen Goldes. Das ist das Gold des Ich. Dieses Gold heißt Liebe. Es ist das Geburtsrecht jedes einzelnen Menschen.« »Was, sogar von Ihrem schrecklichen Assistenten?«, rief Alice aus. Stephen Tyler wirbelte herum und sah sie an. »Deine Frage betrifft also Morten, ja?« »Nein, eigentlich nicht«, antwortete Alice und ließ den Kopf hängen. »Aber – deine Frage gerade betraf doch ganz sicher ihn?« »Also gut«, sagte Alice schon mutiger. »Warum war die Ratte so scheußlich an Weihnachten – und warum jagen die Männer jetzt die Dachse nur so aus Sport?« »Dachse?«, fragte der alte Mann verblüfft. Er ging ein Stück von ihnen weg, und als er sich zu ihnen umdrehte, hatten seine Augen einen fernen Blick. »Dachse!«, wiederholte er, als ob er gerade einen wunderbaren Einfall gehabt hätte. »Gut. Gut, Alice. Interessiere dich nur für die Dachse. Das ist gut.« »Aber warum wollen die Männer sie töten? Warum bringt Morten eine Ratte dazu, so viel Schreckliches zu tun?« »Warum, fragst du, gibt es das Böse? Das ist eine gewaltige Frage für ein so kleines Mädchen.« Der Magier dachte einen Augenblick
nach. »Es gibt das Böse, damit es das Gute geben kann. Das Böse ist notwendig, wenn das Gute notwendig ist. Vielleicht werden wir eines Tages in einer Welt leben, in der das Böse nicht länger existiert. Aber dann wird es auch das Gute nicht mehr geben. Manche Menschen nennen diesen Zustand das ›Goldene Zeitalter‹, vielleicht meinen sie in Wirklichkeit das Paradies. Aber wisst ihr, wenn Adam und Eva in der Geschichte nicht aus dem Garten Eden vertrieben worden wären, hätten sie dann jemals gewusst, wie besonders der Garten Eden – das Paradies – ist? Du musst erst eine Sache verlieren, damit du weißt, wie sehr du sie dir wünschst. Das Böse schafft das Gute. Das eine kann ohne das andere nicht bestehen. Also hab niemals Angst vor dem Bösen, Alice. Es ist ein lohnender Besitz. Du und ich müssen noch einmal darüber reden. Es ist eine wirklich gewaltige Frage, aber eine gute Frage. Sie kommt direkt aus dem Herzen.« Alice verzog den Mund und schaute verlegen auf ihre Füße. »Ich verstehe immer noch nicht, warum die Leute Dachse töten müssen«, murmelte sie. »Nein. Nun…«, sagte der Magier und nickte mit dem Kopf. »Wie ich schon sagte, es ist sehr schwierig. Vielleicht entdeckst du die Antwort. Und noch eine Warnung«, fuhr er fort und spähte auf sie hinunter, als ob er sie aus großer Entfernung ansehen würde. »Wenn ihr eure Arbeit fortsetzen wollt, ist es mehr als wahrscheinlich, dass ihr deswegen angegriffen werdet. Die Leute mögen nicht, wenn man ihre Wahrnehmung der Welt ändern will.« »Erzählen die Geschichten über dieses Tal deshalb davon, dass einmal ein böser Magier hier lebte?«, fragte Mary, die sich plötzlich an Meg Lewis’ Worte erinnerte. »Das erzählen sie also über mich nach meinem Tod?«, fragte der alte Mann. »Das überrascht mich gar nicht. Vielleicht könnt ihr die Geschichten… richtigstellen? Ich wäre euch sehr dankbar. Der eigene gute Ruf ist so wichtig, meint ihr nicht auch? Oder ist das nur die Eitelkeit eines alten Mannes? So, und jetzt bist du an der Reihe, Mary. Was möchtest du mich fragen?« Mary zögerte keinen Augenblick. Sie wusste ganz genau, wie ihre Frage lauten würde. »Warum ist Phoebes Baby Stephanie für Sie so wichtig?« Der Magier blieb eine ganze Weile still, und als er ihr antwortete, klang seine Stimme älter und müder. »Vielleicht werdet ihr hier mehr als anderswo Zeugen der Eitel-
keit eines alten Mannes. Einmal sollte auch ich ein Kind haben. Ich sollte Vater werden. Meine Frau starb bei der Geburt. Ich verlor sie beide in einem einzigen erschütternden Augenblick.« Er schüttelte den Kopf. »Mein Kind war ein Junge, ich hätte ihm alles beigebracht, was ich wusste. Er wäre meine Zukunft gewesen. Er hätte große Fortschritte in den geheimen Künsten gemacht. Er hätte erreicht, was sein Vater nicht erreichen konnte, und hätte meine Fähigkeiten noch übertroffen.« Er schwieg wieder gedankenverloren. »Es tut mir Leid«, flüsterte Mary. »Ich wusste nicht…« Stephen Tyler legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Es muss dir nicht Leid tun. Es ist gut, dass ich es euch erzähle. Es ist alles sehr lange her. Aber stellt euch meine Überraschung vor, als ich entdeckte, dass eine Tyler in Golden House eingezogen war Phoebe, die in eurer Zeit lebt.« »Dann hatten wir ja Recht!«, rief William aus. »Aber Phoebes Nachname ist Taylor.« »Ja«, erklärte der Magier. »Namen ändern sich mit der Zeit. Ich wollte, dass sie einen Jungen bekommt… damit ich ihn beeinflussen kann, bevor ich von dieser Welt abberufen werde. Aber stattdessen bekam sie ein Mädchen, diese Stephanie, wie ihr sie nennt. So viel zur Eitelkeit eines alten Mannes! Und wenn ihr beiden Mädchen das Ergebnis eures Zeitalters seid, dann wird sie ihre Sache gut machen. Aber ihr müsst sie alles lehren, nicht ich, denn ich bin schon über meine Zeit hinaus.« Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Und ich fürchte, Babys sind nicht sehr empfänglich für Ideen – sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, einfach zu SEIN, glaube ich!« Er unterbrach seine Rede und hob eine Hand, als ob ihm plötzlich etwas eingefallen wäre. »Was heißt eigentlich ›O.K.‹?« Die Kinder waren verblüfft über diese Frage. »Die Bedeutung der nebeneinander gestellten Buchstaben ›o‹ und ›k‹«, wiederholte er seine Frage gereizt. »Also O.K. heißt so was wie… O.K. wissen Sie«, sagte Alice achselzuckend. »Kleines Mädchen, ich weiß es nicht. Darum frage ich. Kommt…«, und er winkte ihnen ihm zu folgen. Er führte sie in eine dunkle Ecke des Zimmers. Ein runder Spiegel hing an der Wand mit einem gebogenen Glas, in dem sich fast das ganze Zimmer spiegelte. »Dies ist mein Spiegelglas«, erklärte er. »Wenn ihr je in meine Zeit kommt, werdet ihr entdecken, dass ein Spiegel, der hier nach außen gewölbt ist und einen breiten Gesichtskreis reflektiert, in mei-
ner Zeit nach innen gewölbt ist wie das Innere einer Schüssel und sich selbst hin und her reflektiert bis zur inneren Unendlichkeit des absoluten Nichts.« Er nickte. »Es ist ein bisschen kompliziert, ich weiß. Aber seht selbst. Jemand hat etwas darauf geschrieben.« Als die Kinder das dunkle Glas betrachteten, sahen sie auf der staubigen Oberfläche ein paar Worte geschrieben. »Was steht da, Will?«, fragte Alice und reckte sich, um selbst zu lesen. »Fang regiert – O.K.«, las William entsetzt vor. »Fang?«, keuchte Alice. »Das ist die gleiche Nachricht wie die auf dem Kellerboden, nicht wahr?« »Kellerboden?«, fragte Stephen Tyler. Aber bevor noch jemand die Frage beantworten konnte, hatte Mary den Spiegel schon mit ihrer Hand sauber gewischt und sagte: »Ich mag das nicht. Es ist irgendwie gemein.« »Aber – wer hat das geschrieben?«, fragte Stephen Tyler ruhig. »Und warum? Wer oder was ist ›Fang‹? Werdet ihr das für mich herausfinden? Diese Nachricht gehört in eure Zeit – es war nicht zufällig einer von euch, der das geschrieben hat?« »Nein!«, rief Mary aus. »Aber du verstehst, was es heißen soll?«, fragte Stephen Tyler sie. »Nein, nicht richtig. Aber es sieht einfach so… grausam aus.« Stephen Tyler sah sie nachdenklich an. Dann nickte er lächelnd. »Das dachte ich auch«, sagte er. »Vergib mir – wie heißt du noch?« »Mary.« »Ja, richtig. Jasper die Eule spricht oft von dir. Gut, gut. Ich bin jetzt müde. Alt zu sein geht einem manchmal verdammt auf die Nerven. Hätte ich euch doch nur schon Vorjahren getroffen. Aber das macht nichts. Alte Leute sagen gerne ›hätte ich doch…‹. Das führt zu nichts. ›Fang regiert – O.K.‹. Ein Fang ist ein Eckzahn, nicht? Dummes Zeug«, sagte er, drehte sich um und sah noch einmal den Spiegel an. »Welches Datum ist heute in Ihrer Zeit, Mr. Tyler?«, fragte Mary. »Welches Datum?«, wiederholte er mit dem Rücken zu ihnen. »Du meine Güte – solche Einzelheiten strengen mich immer an. Welches Datum…?« Und auf einmal war er nicht mehr da. Er war so plötzlich verschwunden, wie eine Lampe ausgeht, wenn man den Strom ausschaltet. Gerade noch war er da und dann… nicht mehr. Sie waren so
überrascht, dass keiner von ihnen sprach. Sie standen einfach da und starrten die leere Stelle an, wo er noch einen Augenblick zuvor gestanden hatte. An der Wand gegenüber hing der Spiegel, jetzt ohne die Nachricht. Und als sie ihn betrachteten, schien es so, als ob auf der anderen Seite des Spiegels für einen Augenblick Stephen Tylers Kopf zu erkennen war. »Sieht er uns an, was meint ihr?«, flüsterte Alice. Aber natürlich wusste keiner von ihnen die Antwort und sie schien auch nicht wichtig zu sein. »Wahrscheinlich kommt er wieder, wenn er sich ausgeruht hat«, fügte sie hinzu. »Eigentlich finde ich ihn ziemlich anstrengend. Ich verstehe die meiste Zeit nicht, wovon er spricht. Und es sieht auch oft so aus, als redete er nicht mit uns, sondern mehr zu sich selbst.« »Wer ist wohl hier oben gewesen?«, fragte William und sah sich in dem staubigen, leeren Raum um. »Es müssen doch entweder Jack oder Phoebe gewesen sein.« »Sie würden so was nicht schreiben, Will«, protestierte Mary. »Warum war es so schrecklich?«, fragte Alice. »Ich verstehe nicht, warum es so schrecklich war.« »Es könnte auch… natürlich!«, fuhr William nachdenklich fort. »Es könnte einer der Bauarbeiter gewesen sein, von denen Jack erzählt hat. Sie könnten das Zimmer entdeckt haben, als sie auf dem Dach gearbeitet haben.« »Wer immer das war, es war eine gemeine Nachricht«, sagte Mary. »Ich kann nicht erklären, warum. Ich hatte nur dasselbe Gefühl dabei wie bei dem toten Dachs. Traurig und sinnlos und… ich weiß nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Es war einfach scheußlich.« Spot, der die ganze Zeit zugeschaut hatte, kam zu ihr und leckte ihr über die Hand. Dieses plötzliche Mitgefühl war zu viel für Mary und ihr stiegen Tränen in die Augen. »O Spot!«, flüsterte sie und gab ihm einen Kuss auf den Kopf. Dann lief sie zur Tür und sagte: »Kommt mit, ich gehe jetzt wieder runter.« William verschloss schnell die Fensterläden. »Ja, wir gehen besser wieder hinunter«, sagte er. »Wir sollten Phoebe nicht noch einmal aufregen und es ist sicher fast Zeit für das Frühstück.« »Oh«, seufzte Alice. »Was gäbe ich für ein paar Würstchen! Ich wette, Phoebe ist so mürrisch, weil sie immer nur Gemüse isst.«
11 Die Karte »Armer Mr. Tyler«, sagte Mary. »Ich wünschte, ich hätte ihn nicht nach dem Baby gefragt.« Sie saßen auf einer Bank in dem von Mauern umgebenen Garten. Die Sonne schien warm auf sie herunter und um sie herum standen Reihen von Obstbäumen in voller Blüte. Die Luft war erfüllt vom Gesang der Vögel und dem geschäftigen Summen der Bienen. »Du konntest mit deiner Antwort wenigstens etwas anfangen«, sagte Alice. »Ich hatte keinen blassen Schimmer, was er zu mir gesagt hat.« Dann seufzte sie. »Hier ist es wie im Gefängnis. Was sollen wir denn den ganzen Tag machen, wenn wir nicht losgehen und die Gegend auskundschaften dürfen? O Phoebe! Ich habe sie schon immer gehasst. Immerhin war ich es, die gedacht hat, sie wäre vielleicht eine Hexe…« »Ach, hör doch auf, Alice«, sagte Mary genervt. »Ich wünschte, ich wäre mit Onkel Jack in die Stadt gefahren«, fuhr Alice fort. »Das wäre sicher aufregender als hier.« »Wir dürfen keine Zeit verlieren«, verkündete William überraschend und stand auf. »Wohin gehst du?«, fragte Alice und sprang erfreut auf, weil endlich etwas passierte. »Bin gleich wieder da«, rief er und rannte zum Haus. »Mist!«, schimpfte Alice unglücklich und versetzte einem Kieselstein einen ärgerlichen Tritt. »Alice«, sagte Mary nach einer Weile, »glaubst du, Mr. Tyler ist die ganze Zeit über unglücklich?« »Woher soll ich das wissen?«, fragte Alice ohne richtig zuzuhören und setzte sich wieder auf die Bank. »Ich hätte ihn nicht nach dem Baby fragen sollen…«, sagte Mary wieder. Aber Alice war dabei, einen Plan auszuhecken, und hörte ihr nicht zu. »Nächstes Mal, wenn Jack in die Stadt fährt«, sagte sie, »fahre ich mit – und dann gebe ich mein ganzes Geld für blutiges Fleisch aus…
und dann packe ich es in ein Päckchen und schicke es an Phoebe. ›Wie nett!‹, sagt sie dann mit der blöden Stimme, die sie jedes Mal bekommt. ›Jemand schickt mir ein Geschenk!‹ Und sie macht das Päckchen auf… und das ganze Blut und all das Zeug fließt über sie und dann fällt sie in Ohnmacht oder so…« »Alice!«, stöhnte Mary. »Dann wird sie verrückt und muss sofort ins Irrenhaus. Und dann kann Onkel Jack sich eine andere Frau nehmen. Perfekt! Wie gut, dass er sie nie geheiratet hat…« »Wo ist William eigentlich hingegangen?«, fragte Mary und die Mädchen waren wieder still. William war auf der Suche nach Phoebe. Er fand sie im Bad im ersten Stock. Sie stand auf einer Leiter und strich die Decke an. »Tut mir Leid, dass ich dich störe, Phoebe«, sagte er und fiel fast über einen Farbeimer. »Vorsicht!«, rief sie. »Tut mir Leid«, sagte er noch einmal und wartete dann unbeholfen, bis sie eine gerade Linie zwischen der Wand und der Decke gezogen hatte. »Was kann ich für dich tun?«, sagte sie und konzentrierte sich weiter auf ihre Arbeit. »Für eine Pause ist es noch zu früh. Oder habt ihr Hunger?« »Nein«, versicherte William. Phoebe dachte wohl, dass sie immer nur Essen wollten. »Ich habe mich nur gefragt… Du hast gesagt, du würdest uns eine Karte besorgen. Hast du daran gedacht?« Phoebe warf ihm einen Blick zu. »Das habe ich, aber ihr braucht sie jetzt nicht mehr, denn ihr geht ja nirgendwo hin, nicht wahr?«, sagte sie. »Wo sind die Mädchen?« »Sie sitzen im Garten«, sagte William achselzuckend. Phoebe runzelte die Stirn. »Wollt ihr nicht lieber ein bisschen spielen? Das hört sich ziemlich langweilig an – einfach nur herumsitzen.« »Wir spielen eigentlich nicht sehr viel«, sagte William und versuchte seine Stimme bei dieser Vorstellung nicht zu entrüstet klingen zu lassen. »O William!«, sagte sie und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Haarsträhnen aus der Stirn. Sie kletterte die Leiter herunter. »Wir haben uns schon wieder auf dem falschen Fuß erwischt. So ist es doch gar nicht gemeint. Ihr sollt hierher kommen und schöne Ferien haben und am liebsten wollen,
dass sie nie aufhören… Es tut mir Leid.« »Es ist auch unsere Schuld. Es war nicht richtig von uns, den ganzen Tag wegzubleiben.« Phoebe schüttelte den Kopf. »Ich habe die Beherrschung verloren, William. Ich gebe es zu. Ich sollte es besser wissen.« Dann lächelte sie ihn an, als ob sie besonders freundlich sein wollte. »Das Mindeste, was ich tun kann, ist mich zu entschuldigen!« Sie seufzte. »Die Karte ist in der mittleren Schublade im Küchenschrank«, sagte sie. »Darf ich sie haben?«, fragte er eifrig. »Es ist nur… Ich will nur nachsehen, wo wir uns gestern im Wald verlaufen haben.« »Ja, natürlich. Ich habe sie doch für euch gekauft.« Sie hob den Farbeimer hoch. »Jack denkt sowieso, es wäre übertrieben von mir, euch nicht wegzulassen. Aber er hält vieles für übertrieben, was ich tue. Die Bauarbeiter eingeschlossen. Auch deshalb ist er in die Stadt gefahren. Um sie zurückzuholen.« Sie zuckte mit den Schultern und wischte wieder eine Haarlocke aus der Stirn. »Ich weiß, dass er Recht hat. Natürlich brauchen wir Hilfe. Nun gut…«, sagte sie und sah ihn an, »vielleicht könnt ihr… nach dem Essen… einen Spaziergang machen, wenn ihr versprecht nicht so weit zu gehen.« »Wahnsinn!«, rief William. »Wir verlaufen uns bestimmt nicht wieder, ehrlich. Nicht mit der Karte.« »Ich habe euch nur zu eurem Besten nicht weggehen lassen«, sagte sie. »Ich weiß«, antwortete er, »aber wir sind schon ziemlich groß. Man muss nicht die ganze Zeit auf uns aufpassen. Mama und Papa lassen uns meilenweit alleine laufen, wenn wir bei ihnen sind.« »Ja sicher«, sagte Phoebe und kletterte die Leiter wieder hoch. »Ich bin nicht an Kinder gewöhnt, das ist alles.« »Danke auf jeden Fall, Phoebe«, rief William und rannte hinaus. Die Mädchen saßen immer noch auf der Bank, als er zurückkam. Sie sahen völlig niedergeschlagen aus. »Mir war nicht mehr so langweilig, seitdem Mama und Papa uns nach Stratford ins Theater mitgenommen haben, damit wir Hamlet sehen«, verkündete Alice, als er ankam. »Ich mochte das Stück«, sagte Mary gleichgültig. »Alle wissen, dass du spinnst, Mary«, sagte Alice mitleidig. »Es war das längste, rührseligste, unglaublich langweiligste Stück, das ich jemals in meinem ganzen Leben gesehen habe.« »Also, wie ich schon sagte«, unterbrach William sie, »müssen wir
alles wie bei einem Orientierungslauf machen.« »Worüber redest du, William?«, wollte Alice fast verzweifelt wissen. »Beim Orientierungslauf«, fuhr er unbeirrt fort, »steigt man in einer Gegend aus einem Auto aus, die man nicht kennt. Man weiß überhaupt nicht, wo man ist, aber mit Hilfe einer Karte…«, und er hielt die Karte in die Höhe, die Phoebe besorgt hatte, »und eines Kompasses…«, er holte seinen Kompass aus der Tasche, »und den Merkmalen in der Landschaft um euch herum könnt ihr den Weg nach Hause wiederfinden.« »Ich weiß gar nicht, wozu das alles gut sein soll«, fuhr Mary ihn an. Sie konnte William nicht leiden, wenn er Vorlesungen hielt. »Überleg doch mal, Mary. Als wir letztes Mal an Weihnachten hier waren, passierten unglaubliche Dinge und wir wussten nicht, warum…« Alice seufzte mit düsterer Miene. Sie wollte keine von Williams langen Diskussionen. »Wo ist denn Spot?«, fragte sie und sah sich um. »Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit wir im Geheimzimmer waren.« »Genau das meine ich«, sagte William schnell. »Was?« »Dinge geschehen andauernd – oder auch nicht – und wir wissen nicht, warum. Ich weiß genau, dass sie… Hinweise sind und wir von ihnen lernen könnten, wenn wir nur wussten, wie.« »Spot sagt«, erinnerte sich Alice plötzlich, »dass wir Menschen immer versuchen Dinge zu begreifen, obwohl wir sie eigentlich nur geschehen lassen sollten.« »Aber – wir sind Menschen!«, protestierte William. »Und wir können unseren Kopf zum Verstehen benutzen – also ist es nur natürlich, dass wir das auch versuchen.« Alice zuckte mit den Schultern und schmollte. »Ich erzähle ja nur, was Spot gesagt hat.« »Egal, ich weiß, was er meint«, unterbrach Mary. »Während wir die ganze Zeit versuchen die Dinge mit unserem Kopf zu erfassen, merken wir gar nicht, was um uns herum passiert.« »Bei einem Orientierungslauf«, fuhr William fort, »muss man alles wahrnehmen – und gleichzeitig begreifen, was es bedeuten soll.« »Was hat das denn hiermit zu tun?«, fragte Mary ungehalten. »Wir müssen herausfinden, was vor sich geht.« »Wenn du so viel nachdenkst«, sagte Mary, »vergisst du deine
anderen Sinne zu benutzen. Riechen und Fühlen und Sehen… Vielleicht können sie dir auch beim Verstehen helfen.« Alice nickte begeistert. »Genau so war es mit Spot… als ich auf den Stufen im Kamin in ihm war. Als ich nur einfach ich war, konnte ich nur die Dunkelheit sehen und ich habe sehr versucht etwas zu erkennen… Aber als ich in ihm war, konnte ich im Dunkeln andere Dinge sehen und die Stufen fühlen und den rauchigen Kamin riechen und… alles.« »So war es auch auf dem Dunklen und Schrecklichen Weg«, fuhr Mary fort, die sich für das Thema erwärmte. »Ich glaube, die meisten Leute hätten den Weg gefunden, wären drübergelaufen und hätten sich gar keine Gedanken gemacht. Aber Spot hat mich die… Atmosphäre spüren lassen, die…« Sie schauderte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie das richtige Wort dafür heißt… aber es war schrecklich. Man konnte etwas… riechen… und fühlen. Und als wir unten in der Krypta waren, war es dasselbe Gefühl – als ob alles in mir die Kälte spüren könnte –, nur dass es mehr als Kälte war.« Einen Augenblick lang waren sie still. Um sie herum summte und brummte und schwirrte der Frühling. Die ganze Natur schien auf die Wärme der Sonne und die sanfte Brise zu reagieren. Vögel flogen von Baum zu Baum und zwischen den jungen Blättern der Beerensträucher hin und her, während andere sich auf den Zweigen wiegten und fröhlich sangen. Zwei Schmetterlinge flatterten wie glänzende Edelsteine an ihnen vorbei. Irgendwo im Wald trommelte ein Specht und in der Ferne bellte ein Hund. »Er hat gesagt, wir sollten die natürliche Welt kennen lernen«, sagte Mary und blickte auf das friedliche Bild um sich herum. »Ich habe nicht gewusst, dass Leute aus Sport Dachse töten«, sagte William, als hätte er es gerade erst erfahren. »Wie schrecklich. Ich möchte wissen, wo sie wohnt.« »Wer?« »Die Frau, die wir getroffen haben. Meg Lewis.« Er öffnete die Karte und hockte sich auf den Boden, um sie besser ausbreiten zu können. Die Mädchen standen auf und kamen zu ihm. »Sie hat ›Four Fields‹ gesagt«, erinnerte sich Mary. »Glaubst du, das ist der Name von ihrem Haus?« Die Karte hatte einen großen Maßstab. William sagte, dass sie nur einen Umkreis von zehn Meilen zeigte. Golden Valley war klar erkennbar, weil es mehr oder weniger von Norden nach Süden eine
schmale, gewundene Kluft in das Land grub. »Da ist das Haus«, sagte William und zeigte auf ein kleines Quadrat, neben dem die Worte Golden House standen. »Seht mal!«, rief Alice. »Hier steht Taubenschlag! Wie lustig! Daneben sollten noch drei kleine Punkte mit ›William, Mary und Alice‹ stehen. Immerhin sehen wir auf der Karte genau, wo wir jetzt sind, als ob wir plötzlich Vögel wären und auf uns selbst hinuntersehen könnten.« »Also sind wir gestern durch das Tor und dann… hier hinaufgegangen!«, sagte Mary aufgeregt. »Und hier! Da steht Stehender Stein… und da ist der See, den wir gesehen haben.« »Und guck mal da!« William zeigte auf einen Punkt links vom See. »Seht ihr diese freie Fläche…?« »Vier kleine Quadrate. Was ist das?«, fragte Alice. »Vielleicht sind es Felder«, überlegte William. »Dann lebt sie vielleicht da. Four Fields – vier Felder, hat sie gesagt.« »Ihr ist bestimmt schrecklich kalt im Winter«, sagte Mary. »Stellt euch vor, ihr müsstet Wasser aus einem Brunnen holen.« »Und sie hat keinen Strom«, nickte Alice. »Sie muss furchtbar arm sein.« »Ich glaube, der Punkt da«, sagte William und zeigte auf die Karte, »heißt wahrscheinlich, dass da eine Art Gebäude ist. Vielleicht ist es ihr Haus.« »Was sind das für komische Linien hier?«, fragte Alice und zeigte auf eine Stelle auf der anderen Seite des Sees neben den vier Feldern. William blickte auf die Zeichenerklärungen. »Es ist ein Steinbruch«, sagte er. »Hier steht es«, sagte Mary und versuchte die winzige Schrift zu entziffern. »Blackscar-Steinbruch, und in Klammern steht stillgelegt. Und seht mal, hier ist ein langer gerader Weg, der vom Steinbruch wegführt… Er heißt Im Zaum…« »Was, so wie im Zaum halten?«, fragte Alice. William schüttelte den Kopf. »Pferde. Wahrscheinlich darf man da reiten.« Er schaute die Karte näher an. »Ich glaube, wir haben ihn gestern irgendwo gekreuzt…« Dann blickte er sie an. »Ihr wisst, was für ein Weg das ist, oder?« Mary nickte. »Der Dunkle und Schreckliche Weg«, sagte sie ruhig.
»Er führt nur zum Steinbruch«, sagte Alice sachlich. »Wahrscheinlich war er früher einfach die Straße dahin, oder?« »Vielleicht«, stimmte William zu. »Und«, sagte Mary und zeigte wieder auf die Karte. »Da führt noch ein Reitweg von diesen vier Feldern zum Waldweg.« »Weißt du noch, wie wir nach Alice gesucht haben, Mary?«, sagte William. »Wir sind zu diesem ersten Felsen gekommen, wo wir über den Wald blicken konnten… und wir sahen zwei Wege durch die Bäume. Wie hat Spot sie noch genannt?« »Der Helle Weg und der Dunkle Weg«, antwortete Mary. »Das müssen sie sein«, sagte William. »Sie laufen parallel zu der geraden Linie, die wir gesehen haben… aber die ist gar nicht eingezeichnet, oder?«, fragte Mary. »Muss sie ja auch nicht«, sagte William nachdenklich. »Man braucht keine Karte, um sie zu finden. Du musst nur nach den Zeichen suchen.« »Sind diese Lücken in den Bäumen auf der Karte eingezeichnet?«, fragte Alice und kroch näher. »Wo sind sie denn, William?« William hockte sich neben sie und sie untersuchten beide das Blatt. »Ich kann sie nicht finden«, sagte er. »Aber sie sind vielleicht auch gar nicht auf einer Karte«, sagte Mary. »Genauso wenig wie unsere Eibe. Sie wären da nur für die Leute, die wissen, wonach sie suchen.« »Welche Leute?«, fragte Alice. »Vielleicht Leute, die nach Golden House suchen«, sagte Mary. »Du meinst also, die gerade Linie wurde erst gemacht, nachdem das Haus fertig gebaut war?«, fragte William sie. Mary schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »So kann es nicht gewesen sein, oder? Der See war schon da – und der Stein kann auch schon Ewigkeiten alt sein…« »Was wäre, wenn…«, sagte Alice, aber dann zögerte sie. »Was?«, fragte William. »Was wäre, wenn das Haus – oder wenigstens der Turm vom Kloster – so gebaut worden wäre, dass alles in einer geraden Linie steht?« »Ja, das ist es!«, schrie William aufgeregt. »Brillant, Alice! Gut gemacht!« »Was denn?«, rief Alice hocherfreut, dass sie so klug war. Aber sie wusste eigentlich gar nicht, was sie denn entdeckt hatte.
»Die Linie war zuerst da«, sagte William und stand auf. »Aus irgendeinem Grund baute irgendwer hier den Turm und da den Taubenschlag und irgendwer stellte den stehenden Stein dahin und irgendwer schlug da und da die Schneise in die Bäume… weil diese Punkte alle irgendwie besonders waren… und dann haben sie gemerkt, dass alle diese besonderen Punkte in einer geraden Linie zueinander lagen.« Er setzte sich auf die Bank hinter ihnen und steckte nachdenklich blinzelnd die Hände in die Taschen. »Und wohin führt uns das jetzt alles?«, fragte er. »Vielleicht würden wir es wissen, wenn wir alles aus einem Hubschrauber sehen könnten«, schlug Alice vor. »Oder…«, sagte Mary ruhig und blickte in den Himmel, »wenn wir ein bisschen Magie bekommen könnten…« Und in dem endlosen Blau des Himmels erschien plötzlich ein Turmfalke, kreiste über ihnen, beobachtete sie und wartete. »Ki-ki-ki!«, rief er und der Ruf kam von allen Seiten des Tales als Echo zurück.
12 »Ein bisschen Magie« »Mr. Tyler!«, rief Mary, lief vorwärts und streckte die Hände aus. Der Turmfalke stieß mit ausgestreckten Flügeln ein Stück herab und verharrte dann bewegungslos bis auf die zitternden Flügelspitzen, die ihn in der Luft hielten wie einen Schwimmer im Wasser. William machte einen Schritt auf Mary zu und starrte in den Himmel. Alice, die immer noch neben der Karte auf dem Boden kniete, reckte ihren Kopf in die Höhe, um den Vogel zu betrachten. Der Turmfalke blickte hinunter. Die drei Kinder blickten hinauf. Es war so, als wären sie alle auf geheimnisvolle Weise schweigend und unbeweglich miteinander verbunden. Sie beobachteten sich eindringlich. »Als hätte uns ein Band zusammengehalten…«, beschrieb Mary es später. »Als hätte man das Objektiv eines Mikroskops eingestellt«, so erklärte William es, »bis das Bild völlig scharf war…« Plötzlich stieß Alice einen Überraschungsschrei aus. »Oh!«, keuchte sie. Einen Augenblick lang hatte sie statt des Vogels drei Kinder auf dem Boden unter sich stehen sehen: William und Mary mit nach oben gewandten Gesichtern und sich selbst, wie sie auf dem Boden hockte und nach oben starrte. »Lass es geschehen«, wisperte eine Stimme. »Aber… ich verstehe nicht«, seufzte William. »Sind wir in dir?«, hörten sie Marys Stimme in ihren Gedanken flüstern. »Stellt keine Fragen«, rief die Stimme und es war so, als würden sie gemeinsam die Töne hervorbringen. Sie fühlten die Schwingungen in ihren Kehlen und die hohe, klagende Stimme kam durch ihre Münder. »Ki-ki-ki!« Sie schwangen mit ihren Flügeln und wurden langsam auf einer leichten Brise hochgehoben. Die Pfade und Beete des Gartens lagen unter ihnen ausgebreitet wie eine Zeichnung. In der Mitte des Bildes stand der Taubenschlag. Von ihm aus führten vier Wege wie die
Arme eines Kreuzes fort, einer zum Hoftor, sein Gegenüber zum Wald, zwei Seitenarme zu dem äußeren Weg, der um die Mauer herumlief. Dieser äußere Weg traf jeweils auf die vier inneren Wege und teilte den Garten in vier gleiche Quadrate. Diese vier Quadrate waren ihrerseits durch schmalere Pfade in vier kleinere Quadrate unterteilt. An der Kreuzung dieser Pfade waren Bäume in kreisrunden Beeten gepflanzt worden. Die ganze Anlage sah in ihrer Symmetrie schön aus und stellte doch gleichzeitig die vernünftige Einteilung einer großen Fläche in überschaubare Beete für Pflanzen dar, die einmal im Garten gewachsen sein mussten. Einen Moment lang sahen sie sich noch auf dem Pfad in der Nähe der Bänke stehen und nach oben schauen, als wären sie Teil eines Bildes oder einer Fotografie. Dann stiegen sie mit einem einzigen Flügelschlag in den Himmel hinauf und der Garten wurde immer winziger, bis er wie eine schön gemusterte Fliese aussah, die zu einem Steinboden gehörte. Der Wind wurde stärker. Er strich durch ihre Brustfedern und fuhr über ihren schlanken grauen Kopf. Aber er war nicht kalt, es fühlte sich eher so an, als ob der Wind ein Teil von ihnen war und nichts Eigenständiges, als ob der Vogel die Luft trüge wie ein Mensch einen Mantel. Dann streckten sie den Hals wieder nach vorne und suchten mit den Augen das Land unter sich ab. Sie konnten das steile Dach von Golden House sehen. Die Schornsteine – mit dem runden Fenster des Geheimzimmers – lagen in einer geraden Linie zum Hoftor in der Gartenmauer. Der Hof schien von ihrem hohen Aussichtspunkt aus mehr eine Erweiterung des ursprünglichen Turmes zu sein und sie konnten Reste einer zerfallenen Mauer und leichte Furchen und Erderhebungen erkennen, die verrieten, dass hinter dem Turm einmal weitere Gebäude gewesen waren. »Das könnte erklären, warum Onkel Jack die Stufen zur Krypta hinunter nicht gefunden hat«, dachte William. »Die Treppe muss irgendwo im Hof gewesen sein.« »Aber heißt das nicht, dass die Krypta unter dem Hof noch weitergeht?«, dachte Mary. »Wahrscheinlich«, antwortete William ohne zu merken, dass er es gar nicht gedacht hatte. »Es ist komisch«, überlegte Alice. »Es ist so, als wären wir nur eine Person. Wir denken zusammen und so…« »Richtig«, sagte eine Stimme. Der Vogel segelte höher, kreiste in
einer wärmeren Luftschicht und rief sein »Ki-ki-ki!«, glücklich über die Weite und die Freiheit. Die steilen Hänge von Golden Valley verschwanden im Schatten und bildeten eine dunkle Kluft in den Bäumen des Waldes. Als sie hoch über der Eibe mit dem geheimen Baumhaus schwebten, drehten sie sich ein Stück weiter und glitten mit ausgestreckten Flügeln durch die Luft, bis sie in der Ferne einen kleinen See erkannten. Die Sonne spiegelte sich glitzernd und funkelnd im See, so dass man meinen konnte, eine Glasschüssel wäre in tausend Lichtsplitter zerbrochen. Sie drehten sich wieder mit leichtem Flügelschlag weiter, stiegen noch höher in den blassblauen Himmel und teilten dabei die Luft, die von ihnen abtropfte wie Wasser von einem Schwimmer. Die Einzelheiten auf dem Boden waren nicht mehr gut zu erkennen. Die Baumkronen verschmolzen zu einem Teppich von unterschiedlichem Grün. Der See war direkt unter ihnen. Vor ihnen ragten die Schornsteine von Golden House aus den dunklen Schatten des Tales auf. Sie sahen die Spitze des Taubenschlags zwischen sich und dem Haus und dahinter, hoch auf dem Hügelkamm neben dem Tal, war zwischen den Bäumen deutlich eine Schneise zu erkennen, aber nicht größer als ein Kratzer auf einem Teppich. Das Land dahinter fiel allmählich ab und wurde zu hügeligen Feldern mit Hecken, Wäldern, glitzernden Flüssen und einer weit entfernten Bergkette. Als der Vogel sich langsam drehte, sahen sie den welligen Wald sich bis zum Horizont erstrecken. An einer Stelle waren auf einer Lichtung vier quadratische Felder angelegt. »Wie ein Stück des Gartens«, dachte Alice. Von den vier Feldern wand sich ein schmaler, blassgrüner Pfad wie eine Schlange durch den Wald, führte fast gerade am Rand des Steilhanges über Golden Valley vorbei und verschwand dann in den Tiefen des Tales. Sie drehten sich weiter und sahen das Land hinter dem See. Hier wurde der Wald spärlicher und verlor sich im rauen Moorland, das wiederum zu zerklüfteten Gipfeln dahinter anstieg. »Berge«, flüsterte William. Und immer noch drehten sie sich und sahen jetzt die gegenüberliegende Seite des Sees. Hier erstreckte sich der Wald wieder ununterbrochen bis zum dunstigen Horizont. An einer dunklen und geheimnisvollen Stelle stand ein zerklüfteter Felsen als einziger Rest eines alten Steinbruchs und ein schmaler, dunkler Weg führte in gerader Linie von ihm zum Waldweg.
Schließlich hatten sie einen vollen Kreis beschrieben. Der Vogel schwebte in der Luft und sie sahen wieder Golden House. »Es erinnert mich an etwas«, wisperte William. »Hör auf zu denken«, rief der Turmfalke. »Aber wir müssen die Dinge herausfinden«, protestierte William. »Später«, pfiff der Vogel. »Später, später«, dachten Mary und Alice gemeinsam. Und William seufzte und schwieg. Die ausgestreckten Flügel des Vogels hielten das Gleichgewicht wie die Arme eines Seiltänzers. »Das ist es!«, rief William. Seine Worte klangen wie ein aufgeregter Schrei und der Vogel drehte sofort seinen Kopf zur Erde, legte die Flügel an und fiel wie ein Stein aus dem Himmel. »Ohhhhh!«, schrie Alice und schloss ihre Augen, als die Erde immer näher auf sie zusauste. Sie konnte den eiskalten Windstoß auf ihrem Gesicht spüren. Er zerrte mit solcher Kraft an ihrem Körper, dass er sie wohl hätte in Stücke reißen können. Irgendwann auf dem Weg hinunter dachte sie, sie hätte ihren Magen irgendwo weit hinter sich verloren, und holte Luft, als hätte man ihr einen Schlag versetzt. Dann wurde ihr schlecht und sie streckte verzweifelt die Hände aus, um irgendeinen Halt zu finden. Die Kieselsteine auf dem Weg waren rau und warm. Sie merkte, dass sie auf allen vieren mit dem Gesicht zum Boden auf der Erde kniete und nach Luft schnappte. »Was ist passiert?«, schluchzte sie und sah hoch. Mary stand immer noch neben ihr, aber sie blickte nicht mehr in den Himmel, sondern hatte sich zusammengekrümmt und hielt die Arme über dem Kopf verschränkt, als ob sie sich vor einem bevorstehenden schrecklichen Sturz schützen wollte. William stolperte im selben Moment rückwärts und starrte immer noch in den Himmel hinauf. Seine Beine stießen an die Ecke der Gartenbank. Er fiel auf sie und saß da mit offenem Mund, als wollte er schreien, aber könnte keinen Ton hervorbringen. »Was ist passiert?«, sagte Alice noch einmal. Vor ihnen stürzte der Turmfalke leise und tödlich mit vorgestreckten Klauen aus der Luft. Aus einem hohen Grasbüschel holte er den winzigen, zappelnden Körper einer Maus. Er hielt das piepsende Tier fest und flog über die Gartenmauer davon. »Mann!«, rief William aus. Dann schüttelte er den Kopf, als fände er keine Worte, die ausdrücken konnten, was er sagen wollte.
»Ist er weg?«, fragte Mary und schloss wieder die Augen. »Ja«, sagte William. »Hast du es nicht gesehen? Er hat eine Maus gefangen.« »Was ist passiert?«, fragte Alice zum dritten Mal. Ihre Stimme war schrill vor ungläubigem Staunen. »Wir waren doch da oben. Waren wir doch, oder? Ihr habt es doch auch gefühlt, oder nicht?« »Aber ich habe uns hier stehen sehen«, protestierte William. »Wer hat uns gesehen?«, wollte Alice wissen. »Ich und du und Mary. Aber wie? Wie konnten wir alle zur selben Zeit da oben und hier unten sein? Könnte mir vielleicht bitte mal jemand erklären, was passiert ist?« Im Hof hinter der Mauer begann Spot plötzlich zu bellen und einen Augenblick später kündigte Motorengeräusch Onkel Jacks Rückkehr an. »Es muss schon fast Mittag sein«, sagte William. Er war froh das Thema wechseln zu können, stand auf und rannte zum Tor. »Mary«, sagte Alice bedrückt. »Warum will William nicht darüber sprechen?« »Ich glaube, er hat Angst.« »Wovor?« »Davor, nicht erklären zu können, was passiert ist«, antwortete ihre Schwester. »Aber das ist doch dumm! Keiner von uns kann das.« »Ich weiß«, sagte Mary und folgte William aus dem Garten. »Aber für ihn ist es schlimm. Du weißt, wie er ist. Er muss einfach die Dinge begreifen können. Wenn er das nicht kann… ist er schlecht gelaunt.« »Trotzdem«, sagte Alice und ging mit ihr. »Ich möchte wissen, was hier los ist. Ich meine – wie ist es passiert, Mary?« »Ich weiß nicht, wie«, sagte Mary achselzuckend. »Aber…« »Was?«, fragte Alice. »Naja… Vielleicht war es nur ein bisschen Magie«, erwiderte sie ruhig. »Wie wir es uns gewünscht haben.« »Natürlich war es das«, jammerte Alice. »Das weiß ich auch!« »Aber du kannst Magie nicht erklären, oder? Sie… geschieht einfach«, sagte Mary, legte einen Arm um Alice und ging mit ihr durch das Tor.
13 Alice geht alleine los Alice zog ihre Jeans an und suchte im Dunkeln nach ihrem Pullover. Sie wusste nicht, wie spät es war, aber sie hörte Mary in ihrem Bett regelmäßig atmen, also schlief sie fest. Draußen war es noch dunkel. Sie hob ihre Turnschuhe auf und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Als sie sie öffnete, bewegte Mary sich im Schlaf. »Was ist?«, murmelte sie. »Alles in Ordnung«, flüsterte Alice. »Ich bin es nur.« Dann schlüpfte sie aus dem Zimmer auf den Flur und schloss die Tür hinter sich. Williams Tür stand einen Spaltbreit offen und sie konnte ihn leise schnarchen hören. Sie ging ins Badezimmer und schaltete das Licht ein. Es fiel durch die offene Tür in Williams Zimmer. Seine Taschenlampe lag auf dem Nachtschrank. Sie schlich unbemerkt ins Zimmer und nahm die Taschenlampe mit hinaus auf den Flur. Nachdem sie Williams Tür geschlossen und das Licht im Bad ausgeschaltet hatte, lief sie leise die Wendeltreppe hinunter auf die Galerie und weiter über die breite Treppe in die Halle darunter. Spot schlief in seinem Korb, aber als sie in die Küche kam, setzte er sich auf, um sie zu begrüßen. Den Kopf auf die Seite gelegt tapste er schwanzwedelnd auf sie zu, als wollte er sie fragen, was sie vorhatte. Alice legte einen Finger an die Lippen und gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie gingen schnell durch die Halle und in den Kamin. Die Küchenuhr schlug vier, als sie die vorstehenden Steine nach oben kletterten. Alice ging als Erste den Kamin hoch. Die Taschenlampe beleuchtete die Stufen vor ihr. Als sie die Holztür erreichte, hielt sie sie für Spot auf. Sie fühlte seine Wärme, als er sich an ihr vorbeizwängte. Sie ließ ihre Hand leicht über seinen Rücken gleiten, weil sie froh war, dass er da war, und es ihm sagen wollte. Der Hund blickte zurück und leckte aufmunternd ihre Hand. Dann stiegen sie gemeinsam die Treppe weiter hoch. Das Geheimzimmer war dunkel. Alice ging zum vorderen Fenster und reckte sich, um an den Riegel der Holzläden zu kommen. Aber
sie konnte ihn nicht erreichen. Sie sah sich um und hoffte etwas zu finden, auf das sie sich stellen konnte. Aber im Raum waren keine Möbel, nur der runde Spiegel an der Wand in der Ecke. »Weißt du«, flüsterte sie Spot zu, »als wir an Weihnachten das erste Mal hier heraufkamen, war das Zimmer noch voller Möbel… Sie waren alle durcheinander geworfen und voller Spinnweben. Ich bin ganz sicher.« »Das war damals«, grollte Spot. »Aber – wo sind die Möbel jetzt?«, flüsterte sie. »Jetzt ist heute«, grollte der Hund. Alice seufzte und hielt die Taschenlampe einen Moment auf ihn gerichtet. Sie runzelte die Stirn. Spot konnte einen manchmal ganz schön verrückt machen. Er hatte so eine Art, Dinge zu wissen, die sie nicht wusste, ihr aber nicht zu sagen, was es war. Sie sah seine Augen im Lichtstrahl glänzen und tief in sie hineinblicken. Dann blinzelte er und drehte sich weg vom Licht, als ob es ihn blendete. »Tut mir Leid«, flüsterte sie, streichelte liebevoll seinen Kopf und setzte sich fröstelnd neben ihn auf den Boden. Es war kalt im Zimmer. Einen Moment lang wünschte sie, sie läge wieder in ihrem Bett und wäre nicht alleine hierher gekommen. »Aber ich musste es tun«, erklärte sie Spot. »William ist so schlecht gelaunt. Ich glaube, er kommt irgendwie mit der Magie nicht zurecht. Und Mary, naja, sie ist in Ordnung, aber sie denkt, wir müssten warten, bis uns die Dinge geschehen. Ich glaube nicht, dass das richtig ist. Wir müssen unsere eigenen Abenteuer erleben, da bin ich mir sicher.« Dann wechselte sie lächelnd das Thema und sagte aufgeregt: »Als wir geflogen sind, das war richtiger Wahnsinn. Bist du schon mal geflogen?« »Geflogen?«, sagte Spot und sah sie schockiert an. »Mit Sicherheit nicht. Ich bin ein Hund!« Alice stand auf, ging zum Spiegel in der Ecke und betrachtete ihn nachdenklich. »Ich habe so etwas noch nie erlebt«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Spot. »Es war wie alle Fahrten auf der Achterbahn zusammen und trotzdem ganz anders. Weil es… ruhig war. Du weißt, dass es auf der Kirmes immer so laut ist? Wahrscheinlich weißt du es nicht, aber es ist so. Als wir geflogen sind, war das ganz anders. Es war ruhig bis auf das Geräusch des Windes und…«, sie runzelte wieder die Stirn und versuchte sich zu erinnern, wie es genau gewesen war. »Ich glaube, wir konnten manchmal Vögel hören und was der Turm-
falke gesagt hat – oh, und als einer von uns nachgedacht hat… konnten wir das alle hören…« »Schhh!«, zischte der Hund streng. »Was ist?«, fragte Alice, unterbrach sich mitten im Satz und lauschte angestrengt. »Das ist besser«, grollte Spot. »Was, Spot?«, fragte sie ihn verwirrt. »Was ist los? Ich kann überhaupt nichts hören.« »Genau«, sagte der Hund. »Ich habe noch niemanden so viel reden hören. Kein Wunder, dass es dem Magier schwer fällt, durchzudringen.« »Durchzudringen?«, fragte Alice. »Weil du die ganze Zeit redest, bekommst du die wichtigen Dinge nicht mit«, erklärte Spot. Dann streckte er sich und legte sich mit einem zufriedenen Seufzer hin. Alice zog ein Gesicht und drehte ihm den Rücken zu. Sogar Spot reagierte gereizter als sonst auf sie. Er sollte doch eigentlich ihr Freund sein, aber er nörgelte an ihr herum wie William. Sie seufzte und legte die Hände auf den Rücken. Dabei knipste sie die Taschenlampe aus. Aber als der Lichtstrahl nicht mehr da war, verschwand die Helligkeit trotzdem nicht ganz. Für einen Moment dachte Alice, dass die Sonne aufgegangen wäre und dass das Tageslicht einen Weg durch die Fensterläden gefunden hätte, aber als sie sich umdrehte, sah sie, dass das restliche Zimmer in völligem Dunkel lag. Das spärliche Licht, das sie wahrgenommen hatte, kam aus der Ecke des Raumes. Sie drehte sich langsam um und schaute mit klopfendem Herzen auf den Spiegel. Das Glas leuchtete schwach in der Dunkelheit. Sie machte einen Schritt darauf zu, überrascht von dem, was sie sah. In dem kreisförmigen Holzrahmen war ein Licht, das immer stärker wurde, je länger sie hinsah. Sie ging näher heran, bis sie genau vor dem Spiegel stand. Er hing über ihrem Kopf an der Wand, aber nur so hoch, dass sie leicht in ihn hineinsehen konnte. Zuerst sah sie nichts anderes als das seltsame Leuchten, das allmählich das ganze Zimmer durchdrang. Es war fast so, als ob sie vor einem Haus stünde, durch dessen geschlossene Vorhänge sie nicht in die Räume sehen konnte, obwohl das Licht an war. Alice stand wie angewurzelt und starrte in den Spiegel, dessen Leuchten immer stärker wurde – wie eine unmerklich über dem Horizont aufgehende Sonne –, bis es schließlich hell genug war, dass
sie den Raum auf der anderen Seite sehen konnte. Er hatte ein steil geneigtes Dach und an einer Wand eine Tür, die in die Dunkelheit führte. Rechts und links von der Tür, hoch oben im Dach, sah sie zwei runde Fenster. Kerzen brannten in Leuchtern vor beiden Fenstern und hinter den Kerzen waren runde Scheiben aus poliertem Metall, die das Licht noch heller machten. Eine Lampe brannte auf einem niedrigen Tisch und ein Holzfeuer in dem kleinen Kamin flackerte manchmal hoch auf. Alice erkannte sofort den Raum, in dem sie selbst stand. Aber sie betrachtete nur eine Spiegelung, denn sie konnte sich selbst nicht sehen und der Raum war auch völlig anders. Er war möbliert und wurde benutzt, wogegen das Zimmer auf ihrer Seite des Spiegels völlig leer und verlassen war. Gerade als sie die verschiedenen Gegenstände bewundern wollte – die gefüllten Bücherregale, den seltsamen, kugelartigen Zierrat auf einem kleinen Tisch, die Flaschen, die Stapel von Manuskripten auf dem Schreibtisch des Magiers und Karten an der Wand –, erschien Stephen Tyler in der Tür, die sie im Hintergrund des Zimmers erkennen konnte. Er atmete schwer und lehnte sich auf seinen Silberstab, als ob er vom Hochklettern der Stufen im Kamin erschöpft sei.
14 Die Schwalben sind zurück »Ah, da bist du ja«, sagte der Magier, als er in den Raum trat. Alice drehte sich schnell um und sah, wie er von der Tür zum Fenster ging. »Aber…«, keuchte sie. »Aber?«, wollte er wissen und öffnete die Läden. »Aber? Was ist denn ›aber‹ für eine Art Begrüßung?« Spot stand vom Boden auf und ging mit gemächlichem Schwanzwedeln zu ihm. »Sie waren… Ich habe Sie im Spiegel gesehen…« »Meine Reflexion. Du hast meine Reflexion gesehen«, sagte er zu ihr und streichelte den Kopf des Hundes mit seinem Handrücken. »Nein«, beharrte Alice. »So war es nicht. Ich habe durch den Spiegel gesehen, wie Sie in dieses Zimmer gegangen sind. Sie waren da und…« »Und jetzt bin ich hier.« »Nein. Sie verstehen nicht. Hier und da waren ziemlich anders. Ich habe dieses Zimmer im Spiegel gesehen… aber mit Möbeln und… und das Feuer brannte und… Kerzen. Ich habe gesehen, wie Sie ins Zimmer kamen… aber nicht in diesen leeren Raum…« Stephen Tyler ging zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ich weiß. Ich weiß«, sagte er sanft. »Es ist sehr verwirrend. Ich finde das ja auch. Es hat alles mit Zeit zu tun. Schichten von… Zeit. Ich bin sicher, ich habe das schon einmal erklärt.« »Ja, Sie haben es erklärt«, sagte Alice ziemlich ärgerlich. »Oder besser, Sie haben darüber geredet. Aber«, sagte sie achselzuckend und zog ein Gesicht, »ich weiß nicht, ob ich jemals begriffen habe, was Sie sagen. Nicht richtig. Ich glaube, William versteht es. Aber ich nicht.« Sie zuckte wieder mit den Schultern und ging von ihm weg. Sie wünschte sich, dass Spot zu ihr kommen würde statt so hingerissen zu Füßen des Magiers zu sitzen. »Dann versuche ich es noch einmal«, sagte der Magier mit geduldiger Stimme, die Alice noch ärgerlicher machte. »Dieser Raum ist möbliert und nicht möbliert, verfallen und noch nicht gebaut… Seine Wahrnehmung hängt davon ab, von wo aus du ihn siehst.«
»Wahrnehmung?«, fragte Alice müde. »Lange Wörter sind vielleicht klug, aber sie helfen nicht, wissen Sie?« »Tut mir Leid«, sagte der Magier ganz zerknirscht. »Wahrnehmung heißt… also, ich möchte selbst wissen, was es heißt. Das Sehen eines Gegenstandes oder eines Ereignisses. Oder das Wiedererkennen. Oder das Wissen darum auf die eine oder andere Art. So ist es mit den meisten Dingen, weißt du. Die Wahrnehmung der Magie ist dem sehr ähnlich. Wenn du merkst, dass du wie ein Turmfalke fliegst… dann fliegst du einfach! Wenn dein Kopf sagt: ›Das kann nicht sein, das ist unmöglich‹,… dann kann dieser Gedanke dich davon überzeugen, dass nicht möglich ist, was gerade geschieht. Und was passiert dann?« »Wir kommen aus dem Himmel gezischt und sind wieder da, wo wir waren – im Küchengarten.« »Ja«, nickte Stephen Tyler, »so kann es für euch ausgesehen haben. Eigentlich ist nichts weiter passiert, als dass die Magie aufhörte.« »Also – was müssen wir tun?« »Nichts! Tut… nichts. Erlaubt den Dingen zu sein. Mischt euch nicht ein. Steht ihnen nicht… im Weg. Eigentlich ist es ganz einfach. Weißt du, wie du atmest? Weißt du, wie dein Körper funktioniert? Weißt du, wo Träume und Gedanken und Erleuchtungen und Lachen und Weinen und Gefühle herkommen? Natürlich weißt du das nicht. Fängst du aber an nach dem Wie, Wo und Warum zu fragen… könntest du das alles beenden. Und wo wärst du dann?« Alice machte ein ernstes Gesicht. »Tot, glaube ich, wenn ich aufhöre zu atmen«, sagte sie. »Richtig«, sagte der Magier mit einem nachdrücklichen Kopfnicken, dann runzelte er die Stirn und schien über die Aussage nachzudenken. »Aber gleichzeitig vielleicht auch wieder nicht. Das Konzept des Todes ist sehr vielschichtig.« »Konzept?« Alice stieß das Wort wie eine verwirrte Frage heraus. »Idee. Oder Wesen«, antwortete er. »Ja, dann…«, begann Alice, aber er hielt abwehren seine Hand hoch und sie schwieg. »Du hast absolut Recht mit deinem Protest. Wörter sind unzureichend und lange Wörter sind noch unzureichender als die meisten anderen. Ich hatte nicht oft das Privileg, mit einem solch aufgeschlossenen Geist wie dem deinen sprechen zu dürfen…« »Was?« Alice zitterte vor Enttäuschung. »Da geht es schon wie-
der los! Oooh!« Und sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden und ging ein Stück von ihm fort. »Es bringt absolut nichts, so mit mir zu reden. Weil ich nicht verstehe, was Sie sagen.« Der Magier sah sofort so niedergeschlagen aus, dass er Alice fast Leid tat. »Begreifen Sie denn nicht, wie das für uns ist?«, sagte sie. »Wir sind an all diese Sachen nicht gewöhnt. Wir gehen in die Schule und essen Würstchen und führen meistens ein ganz normales Leben. Dann sind wir plötzlich hier. Dinge ›geschehen‹, wie Sie sagen… Aber wir wissen nicht, was vor sich geht oder warum. Wir wissen nicht, was wir tun oder denken oder sonst noch sollen. Es ist wirklich ein bisschen unheimlich, wissen Sie? Und Sie sind der Einzige, der uns alles erklären könnte, und dann benutzen Sie Wörter… die nichts sagen – wenigstens mir nicht. O bitte, Mr. Tyler«, sagte sie und war selbst über die Stärke ihrer Gefühle überrascht. »Ich möchte wirklich gerne verstehen und ich versuche es, ganz ehrlich. Aber… dieses Mal geht es überhaupt nicht so, wie ich dachte. William ist so durcheinander, dass er vor lauter Nachdenken schon schlechte Laune hat, und Mary… oh, ich weiß nicht, was Mary macht. Wahrscheinlich schneidet sie ziemlich bald ihre Haare ab und borgt sich Phoebes Schminke – wenn die welche hat, was ich nicht glaube. Wozu soll ein Gemüse auch hübsch aussehen? Ist auch egal. Aber wenn Mary einsilbig ist, dann verändert sie immer ihr Aussehen. Sie hätten sie sehen sollen, als sie plötzlich in der Schule wie ein Grufti rumlief, schwarzer Lidschatten und schwarzer Nagellack und so. Miss Atterton hat sie zu sich gerufen und sie musste alles wieder abwaschen und…« »Kleines Mädchen!«, rief der Magier und hielt sich die Ohren zu. »Stopp! Du bist für mich so verständlich und so laut wie eine Ente, die sich an Kirchenchorälen versucht.« »Was?«, rief Alice. »Eine Ente? Was hat denn eine Ente mit all dem zu tun?« »Genauso viel wie schwarze Schatten, Kirchengrüfte und Gemüse, das hübsch aussehen soll«, fuhr Stephen Tyler sie an. Dann seufzte er. »Es ist hoffnungslos«, sagte er. »Völlig hoffnungslos.« »Als wir uns letzte Weihnachten getroffen haben, haben Sie gesagt, wir müssten eine wichtige Arbeit tun. Und gestern haben Sie das noch mal gesagt. Also warum können wir nicht einfach damit anfangen?« »Aber das habt ihr doch schon getan. Siehst du es denn nicht? Das
hier ist es doch«, rief Stephen Tyler. »Ich bin aus einer anderen Zeit gekommen und ich spreche mit dir. Du bist mein Auge und mein Ohr. Durch dich erfahre ich die Welt. Es ist alles… sehr bemerkenswert.« »Aber ich will etwas erleben und ich will Magie!«, rief Alice aus. »Ich will nicht im Haus rumhängen, wenn Phoebe schlechte Laune und Jack zu viel zu tun hat, um sich wirklich um uns zu kümmern. Und noch was«, fuhr sie fort und sprach immer schneller, weil sie selbstsicherer wurde. »William sagt, dass wir die Dinge begreifen müssen, weil wir Menschen sind und weil Menschen das am besten können.« Der Magier nickte mit dem Kopf. »Also?«, wollte Alice wissen. »Es ist, wie ich schon sagte, sehr verwirrend. Das Problem ist die Magie. Wir haben wenig Kontrolle über sie…« »Nicht mal Sie?«, fragte Alice. »Vielleicht bis zu einem gewissen Grad. Ich weiß, wie ich bestimmte Dinge geschehen lassen kann… aber ich habe keine Kontrolle über die Dinge selbst. Ich kann den Frühling nicht zum Herbst werden lassen oder den Tag zur Nacht. In der Magie wie im Leben muss der Natur und ihren Gesetzen stets gehorcht werden. Und das lernst du gerade…« »Wirklich?«, fragte Alice, sehr überrascht von der Vorstellung. Sie fühlte sich gar nicht so, als würde sie überhaupt etwas lernen, und war auch nicht sicher, ob sie das wollte. Lernen hörte sich viel zu sehr nach Schule an und schließlich waren Ferien. »Du besonders«, sagte Stephen Tyler. »Die anderen – dein Bruder und deine Schwester – brauchen länger. William besteht schon fast nur noch aus Kopf und Denken. Aber ich öffne ihn noch mit der Zeit für andere Dinge. Und das andere Mädchen… Mary, nicht wahr? Sie besteht nur aus Herz und das braucht länger, aber sie wird sehr erfolgreich sein, wenn ihre Zeit gekommen ist. Aber du, kleines Mädchen…«. »Ich wünschte, Sie würden das nicht immer zu mir sagen«, warf Alice dazwischen. »Ich hasse es wirklich. Ich bin nur klein, weil ich die Jüngste bin, und soweit es darum geht, dass ich ein Mädchen bin…« »Sei still!«, donnerte Mr. Tyler mit zornig blitzenden Augen und erhob seinen silbernen Stab, als ob er sie damit schlagen wollte. »Gut«, fuhr Alice fort, aber ihre Stimme war leiser und weniger
selbstbewusst. »Wie würden Sie das finden, wenn ich Sie die ganze Zeit ›alter Mann‹ nennen würde?« »Ich würde es hassen«, antwortete Stephen Tyler und sah sie lächelnd an. »Ich mag dich, Alice.« »Das ist das erste Mal, dass Sie mich beim Namen genannt haben, glaube ich.« »Es ist ein guter Name.« Einen Moment lang sah er traurig aus, dann schüttelte er den Kopf. »Du bist wie eine Schiefertafel, die darauf wartet, beschrieben zu werden. Jugend ist ein wundervoller Zustand. Das Unglück ist, dass wir es zu spät merken.« Er ging zum vorderen runden Fenster und sah hinaus. Seine Haare bewegten sich im Wind. In der Stille konnte man die ersten Vögel singen hören und ein Schimmer des Morgengrauens drang in den Raum. »Jetzt sind Sie traurig«, sagte Alice und ging zu ihm. Spot drehte sich um und sah sie mit langsam hin und her wedelndem Schwanz an. »Alchimie macht traurig.« »Ich weiß noch nicht einmal, was das ist«, seufzte Alice. »Ich meine dieses Alchi-Dingsbums. William hat gesagt, damit kann man Sachen in Gold verwandeln… Was ist es denn wirklich? Wozu ist das gut, was Sie tun?« »Ich habe gestern versucht es zu erklären. Es ist eher so wie Menschen in Gold zu verwandeln«, sagte der alte Mann mit ruhiger Stimme. »Menschen?«, keuchte Alice. »Ich will nicht in Gold verwandelt werden!« »Nein?« »Nein. Ich wäre ja dann eine Statue. Und ich will keine Statue sein.« Der Magier schüttelte langsam den Kopf und sah sie an. »Das Gold, das ich meine, ist ein symbolisches Wort…« Er hob seine Hand, um Alices Protest abzuwehren. »Ein Symbol ist ein Wort, das für etwas anderes steht. Wie man Farbe in einem Bild benutzt… um Tiefe und Entfernung auf etwas darzustellen, das in Wirklichkeit eine flache Leinwand ist. Das Studium und die Praxis der Alchimie schärfen den Verstand und wandeln ihn allmählich von seinem groben Zustand des normalen und gewohnten Denkens, das von Handeln und Reagieren abhängt, zu einem höheren Verständnis, zu Erleuchtungen und schließlich zu allumfassendem Wissen. Wie
Gold sich zu Schlacke verhält, so verhält sich dieses neue Denken zu unserem normalen, alltäglichen Denken.« Alice seufzte. Sie hatte sich große Mühe gegeben zuzuhören, aber er hatte wieder nur eine Menge bedeutungsloser Wörter benutzt. »Das sollten Sie William erzählen«, sagte sie bekümmert. »Ich nehme an, dass er es versteht.« »Nein, Alice«, sagte Stephen Tyler sanft. »Du wirst die Erste sein. Du musst nicht verstehen. Es ist besser, es zu leben. Du wirst die Erste sein, weil du Fantasie besitzt… Fantasie ist das Wichtigste.« Er winkte sie zu sich. »Komm her und sieh dir das an«, flüsterte er und sah wieder aus dem Fenster. »Ich kann nicht«, sagte Alice. »Es ist zu hoch für mich.« »Komm her zu mir«, sagte er und winkte sie wieder heran. »Ich halte dich fest.« Alice stützte sich mit den Händen auf der Unterkante des Fensterrahmens ab und der Magier hob sie hoch, bis sie über die Fensterbank schauen konnte. Vor ihr fiel das Dach steil ab und dahinter drängten sich die dunklen Bäume des Waldes auf dem Hügelabhang. Dazwischen sauste plötzlich ein Vogel an ihr vorbei. Dann stürzte ein zweiter mit ausgebreiteten Flügeln aus dem Himmel. Seine ausgebreiteten, spitzen Schwanzfedern formten ein perfektes V. »Die Schwalben sind zurück«, sagte Stephen Tyler. »Sie bringen den Sommer von fernen Ländern weit hinter unserem Tal.« Als er sprach, konnte Alice immer mehr Vögel sehen. Sie flogen vorbei und stießen im Sturzflug herab und stiegen wieder auf und füllten die Luft mit Bewegung. Wie bei einem geheimen Tanz oder einem besonderen Spiel stießen sie dabei niemals aneinander, obwohl es fast immer so aussah. Ein Vogel löste sich aus dem Schwarm und fegte fort, nur um im Flug herumzuwirbeln und wieder in die Mitte des Schwarms zurückzufliegen. Dann, im letzten Moment, wenn der Zusammenstoß kaum zu vermeiden war, bremste er ab und stieg wieder hinauf in den Himmel oder ließ sich hinunter zur Erde fallen, bevor er wieder umdrehte und sich inmitten des Schwarms stürzte. Es sah so fröhlich und glücklich aus, dass Alice sich danach sehnte, mitzumachen. »Du kannst, wenn du willst«, flüsterte ihr Stephen Tyler ins Ohr. »Aber wie?«, wollte sie wissen. »Sei einfach… still. Lass deine Gedanken bei den Vögeln verweilen. Sieh mit ihren Augen. Sieh, wie der Himmel auf dich zukommt
und die Erde sich entfernt. Fühle, wie sie fühlen. Wie stark der Wind ist, wie kalt, wenn du nach oben steigst, wie viel wärmer, wenn du zur Erde fliegst. Hör zu… kannst du die Stimmen der anderen Vögel hören? Kämpf nicht dagegen an, Alice… sei ohne Widerstand. Benutze einfach… deine Fantasie.«
15 Die Rückkehr der Bauarbeiter Alice trat durch die Hoftür in die Küche, gerade als Mary und William aus der Halle hereinkamen. »Da bist du ja«, sagte Mary. »Wo warst du denn?« »Draußen«, antwortete sie achselzuckend. Ihr Haar war zerzaust und ihre Wangen glühten, als ob sie gelaufen wäre. Mary sah sie misstrauisch an. Normalerweise sah man schon an der Art, wie Alice vermied einen anzusehen, dass sie irgendetwas angestellt hatte. »Wo draußen?«, wollte Mary wissen. »Nur draußen«, antwortete Alice und ging schnell zur Tür in die Halle. »Ich gehe rauf und putz mir die Zähne. Bin sofort wieder da.« Gegen Ende des Frühstücks fuhr ein alter weißer Kombi in den Hof. Jack stand vom Tisch auf und erklärte auf dem Weg nach draußen, dass das bestimmt die Bauarbeiter wären. Das Bellen eines Hundes ließ Spot hochfahren und alle Nackenhaare aufstellen. »Oh! Sie haben diesen Hund mitgebracht«, sagte Phoebe sofort ärgerlich zu sich selbst. Spot knurrte leise und stand mit dem Schwanz zwischen den Hinterbeinen vor der Hoftür. »Was ist los?«, fragte Mary ihn. »Er hasst den Hund der Bauarbeiter genauso sehr wie ich. Das ist ein richtiges Ungeheuer«, erklärte Phoebe. Als die Kinder herauskamen, stand Jack im Hof und sprach mit den Arbeitern. Er stellte sie den Kindern vor: ein fast glatzköpfiger, älterer Mann, der Arthur hieß und spindeldürr war. Er hatte eine scharfe, spitze Nase und blasse, kurzsichtige Augen mit einem so traurigen Ausdruck, als wäre er ständig wegen irgendetwas enttäuscht. Dann kam Kev. Kev war das absolute Gegenteil von Arthur. Er war ein großer, stämmiger Mann mit kurz geschorenen schwarzen Haaren und Tätowierungen auf dem Arm. Er trug eine Weste und sein Bauch wölbte sich über dem Gürtel seiner Jeans. Sein Gesicht war rund und glänzte, er hatte rote Wangen und eine noch rötere winzige Nase. Der dritte Arbeiter war noch jung, nicht älter als sieb-
zehn, und hieß Dan. Dan war dünn und hatte sehr lange Beine, die in engen, zerrissenen Jeans steckten. Statt eines Gürtels trug er ein Stück Kordel. Sein langes, sandfarbenes Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Hinten im weißen Kombi war ein riesiger, hässlicher Hund mit einem Stück Seil angebunden. Er knurrte die Kinder an und begann zu bellen, als Spot an der Küchentür erschien. »Halt die Klappe, Köter!«, rief Kev. Der Hund hörte sofort auf zu bellen, aber er knurrte drohend weiter. Er lief im Wagen hin und her und starrte auf Spot und die Kinder herunter. »Seid ihr hier, um uns zu helfen?«, sagte Arthur, der alte Mann, zu den Kindern. »Da haben Sie kein Glück!«, rief Jack aus. »Die Kinder glauben, dass sie ihre Ferien hier verbringen.« »Also was gibt’s zu tun?«, fragte Dan und drehte den Kindern den Rücken zu. »Wir können damit anfangen, den einen Flügel zu verputzen«, sagte Jack geschäftsmäßig. »Ach ja! Und ich habe einen Container besorgt, damit wir den Müll aus den Kellerräumen loswerden. Er soll am späten Vormittag hier sein und morgen Abend wird er wieder abgeholt.« »Der Müll passt niemals in einen einzigen Container«, sagte Kev zu ihm. »Und wir schaffen das auch nicht in ein paar Tagen.« »Wir können ja zumindest damit anfangen«, entgegnete Jack geduldig. »Ich kann gerne helfen«, sagte William. »Wunderbar! Je mehr Leute, desto besser. Ich nehme die kostenlose Unterstützung gerne an, die du mir angeboten hast«, erwiderte Jack. »O William!«, sagte Mary. »Ich will nicht tagelang in Müllhalden wühlen.« »Das musst du auch nicht. Ich habe nicht für dich gesprochen«, gab William heftig zurück. »Ich helfe dir auch, Onkel Jack«, sagte Alice leise. »Nein, ich habe es doch nicht ernst gemeint. Ihr Bande zieht los und amüsiert euch«, sagte Jack zu ihnen. »Ich möchte aber«, sagte Alice nachdrücklich. Das stimmte eigentlich nicht. Das Letzte, was Alice tun wollte, war den Morgen damit zu verbringen, Müllberge aus dem Keller zu schaffen, aber sie brauchte Zeit zum Denken. Sie wusste, wenn sie
den Tag allein mit William und Mary verbrachte, würde sie ihnen nur von ihrer Begegnung mit Stephen Tyler erzählen, und dazu war sie noch nicht bereit. William würde wieder logisch denken und es wegreden und Mary würde so tun, als ob es sie nicht interessierte, was fast noch schlimmer war. Also entschied sie sich, stattdessen die Ereignisse des Morgens für sich zu behalten, bis sie wenigstens ihr klar waren. »Also gut«, sagte Jack immer noch zweifelnd, »wenn ihr wirklich sicher seid, dass ihr das wollt.« »Bin ich«, antwortete Alice. »Das wird lustig!« Während sie sprach, beobachtete sie, wie die Schwalben über den Hof flogen. Sie fühlte den Wind auf ihren Wangen und musste schnell weggucken, damit sie sich nicht selbst in den blauen Himmel erhob. »Alice?«, sagte Onkel Jack und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Was?«, fragte sie atemlos. »Geht es dir gut? Du siehst aus… als hättest du Fieber.« »Nein. Ich fühle mich gut, wirklich«, antwortete sie strahlend. »Womit sollen wir anfangen?« »Damit, dass ihr eure ältesten Kleidungsstücke anzieht«, sagte Jack zu ihnen. »Wir werden bestimmt unglaublich schmutzig.« Also wurde trotz Marys anhaltender Empörung beschlossen, dass sie den Morgen damit verbringen würden, die Kellerräume zu entrümpeln, und dass sie dann am Nachmittag losziehen könnten, wenn sie das wollten. Es war eine schweißtreibende und ermüdende Arbeit. Mary und Alice hatten die Aufgabe, die Berge von Abfall zu sortieren und im Keller in ordentliche Haufen zu stapeln. William trug das Zeug mit Jack und Kev nach und nach die Kellertreppen hinauf, den Flur entlang und durch die Halle zur Vordertür hinaus. Im Eingang häuften sie neue Stapel aufeinander, um sie später in den Container zu laden. Arthur und Dan verputzten unterdessen die Decken in den Zimmern am Flur zum Keller. Dan hatte einen Ghettoblaster mitgebracht und das Haus, das vor ihrer Ankunft so still gewesen war, erzitterte unter der Popmusik. Der Abfall im ersten Raum bestand hauptsächlich aus leeren Flaschen, die Mary und Alice in schwarze Plastiksäcke packten. Sie sollten aber doch im Keller bleiben, denn Jack sagte, es gäbe einen Glascontainer in der Stadt und er würde sie nächstes Mal mitnehmen, wenn er mit dem Landrover hinfuhr. Der zweite Raum war der mit dem alten Koffer. Es waren noch
mehr da und alle waren mit verrotteten Kleidungsstücken voll gestopft. Es gab Hutschachteln und einen Schrankkoffer mit uralten Stofffetzen, die sofort zu Staub zerfielen, als die Mädchen sie untersuchten. Und mit Kordel umwickelte Papierstapel, eine Auswahl rostiger Gartengeräte, alte Pfannen, eine Truhe mit einem kompletten, gut erhaltenen Essgeschirr, Schachteln mit rostigen Messern und Gabeln, einen uralten Eisenboiler, ein paar zerbrochene Stühle, von Motten zerfressene Samtvorhänge, eine Metalldose voller Knöpfe, die sich über den Boden verteilten, als Alice die Dose öffnete. Sie untersuchten alles und behielten das, was noch brauchbar war. Die Zeit war wie im Flug vergangen, als Phoebe sie zum Mittagessen rief. Die Arbeiter setzten sich in ihren Kombi und kauten an ihren Sandwichs, während Jack und die Kinder bei Phoebe in der Küche einen Salat aßen. Das Fenster war offen und Dans Musik erfüllte den Raum. Phoebe wollte, dass Jack ihn bat die Musik abzustellen, aber Jack sagte, es täte niemandem wirklich weh und warum sollte er nicht seine Musik hören – wenn man das so nennen konnte. Mary informierte sie, dass die Kassette von einer der besten Bands stammte, und sie trommelte die ganze Zeit während des Essens den Rhythmus mit dem Fuß mit. Einmal, als die Musik leiser wurde, hörten sie Arthur sagen: »Will irgendwer dieses Corned-Beef-Brot?« »Ja bitte«, seufzte Alice mit Nachdruck, worüber Mary kichern musste. »Gib schon her, ich esse es«, hörten sie Kev sagen und er rülpste laut. »Tschuldigung!« Das war zu viel für Alice, die so ansteckend loskicherte, dass schließlich sogar Phoebe sich vor Lachen schüttelte und Jack das Fenster schließen musste, damit die Arbeiter sie nicht hörten. Als das Mittagessen vorbei war, verkündete Jack, dass die Kinder nun offiziell Ferien hätten und entlassen wären. Aber sie wollten alle weiter aufräumen. »Es macht mir ziemlichen Spaß«, sagte Mary zu ihrer eigenen Überraschung. »Werdet ihr denn fertig?«, fragte Phoebe. »Wir behalten mehr, als wir wegwerfen«, sagte Mary. Am Nachmittag fingen sie mit dem dritten Kellerraum an. Der Abfall hier war lange nicht so interessant, obwohl Jack hocherfreut war über das, was sie fanden: Stapel von Eichenbrettern und alte Türen. »Wahrscheinlich von den Räumen auf der anderen Seite der Hal-
le«, sagte er. »Als sie damals umgebaut wurden.« »Behalten wir sie?«, fragte William und war erleichtert, als Jack erwiderte, dass sie das auf jeden Fall täten. William fand die Schlepperei zur Vordertür allmählich anstrengend. »Für euch ist alles toll«, sagte er zu den Mädchen. »Ihr habt den ganzen Spaß.« »Bleib doch ein bisschen hier unten, William«, sagte Jack zu ihm, als er und Kev einen von Holzwürmern zerfressenen Schrank ohne Türen hinaustrugen. Also blieb William bei den Mädchen und gemeinsam fanden sie in einer dunklen Ecke ein paar Metallgegenstände gegen die Wand gelehnt, deren Zweck ihnen nicht klar war. Ein Eisenpfahl hatte an einem Ende Löcher, die vielleicht dazu benutzt worden waren, ihn an etwas festzumachen. Das andere Ende des Pfahles war spitz, fast wie ein kurzer dicker Speer. Neben ihm auf dem Boden lag noch etwas in Form eines Kreuzes mit einem Loch in der Mitte. Eine kreisrunde Scheibe war außen an jedem Arm des Kreuzes angebracht. »Wozu ist das gut?«, fragte William nachdenklich. Dann fand Mary ein Stück weiter weg an der Wand und halb verdeckt von einem Eichenbrett ein drittes und viel größeres Stück. »Seht mal hier!«, flüsterte sie aufgeregt. Es war auch aus Schmiedeeisen hergestellt, fast wie eine große flache Figur. In der Mitte war ein gerader Stab, an dem mit zwei dünnen Metallarmen eine runde Sonne mit spitz zulaufenden Strahlen befestigt war, die wie Radspeichen abstanden. An der anderen Seite des Stabes war die dünne Form eines Neumondes auf ähnliche Weise befestigt. »Was habt ihr da gefunden?«, sagte Jack, der plötzlich in den Raum kam. »Ich weiß nicht«, antwortete William. Seine Stimme klang fast ängstlich. »Lasst mal sehen«, sagte Jack und kam näher. »He! Das hat die gleiche Form wie der Anhänger, den ich Phoebe zu Weihnachten geschenkt habe. Wisst ihr noch? Den ich im Kamin gefunden habe. Ist das nicht merkwürdig? Wozu in aller Welt ist das Ding gut?«, fragte er stirnrunzelnd und betrachtete nachdenklich den seltsamen Gegenstand. »Ich glaube, ich weiß es«, sagte Mary ruhig. »Was, Mary?«, fragte Alice.
»Ich glaube, es ist so etwas wie die Wetterfahnen auf den Kirchtürmen.« »Brillant!«, rief Jack aus. »Genau das ist es. Eine Wetterfahne! Diese Form gehört offenbar zu diesem Haus. Ich frage mich, wo sie angebracht war und warum sie abgenommen wurde. Vielleicht ist sie während eines Sturms heruntergefallen.« Als Jack und Kev wieder verschwunden waren, diesmal mit einer rostigen Truhe, drehte sich William um und sah die Mädchen an. »Ihr wisst, was noch so aussieht, oder?«, sagte er. »Eine dieser Zeichnungen aus dem Buch, das Jack letzte Weihnachten ausgeliehen hat. Es hat mit Alchimie zu tun. Es ist die gleiche Form, die ich in der Nacht auf der Kaminwand gesehen habe, als ich die Stufen im Kamin fand. Es ist das Zeichen des Magiers, nicht wahr? Wir sollten es wieder dahin bringen, wo es hingehört. Aber wie sollen wir rauskriegen, wohin?« »Wir könnten ihn fragen«, sagte Alice. »Ja«, sagte William ruhig. Dann runzelte er die Stirn. »Versuch gar nicht erst, es zu verstehen, William«, bat Alice ihn. »Bitte.« »Es ist nur, dass es mir wichtig vorkommt, und ich weiß nicht, warum oder was es bedeutet oder… was immer«, sagte William. »Ich muss wissen, was es darstellt. Ich bin noch nicht mal sicher, dass es eine Wetterfahne ist. Wenn es eine wäre, dann wären auf diesen Metallarmen nicht diese komischen Scheiben, sondern N, S, O und W.« Damit schnippte er eine der Scheiben mit den Fingern an und war überrascht, als sie sich in ihrer Achse drehte. »He!«, rief er aus. »Das ist noch komischer – diese Dinger bewegen sich, seht mal!« Und drehte die Scheibe wieder. »Also wenn das keine Wetterfahne ist – was denn sonst?«, sagte Mary. »Ich weiß es nicht! Das ist das Problem.« Und weil er sich nicht in noch eine Diskussion darüber einlassen wollte, machte er kehrt, um aus dem Keller zu gehen, aber Spot versperrte ihm den Weg. Er hörte ihnen mit schief gelegtem Kopf und aufgerichteten Ohren zu. »Ich gehe den nächsten Keller aufräumen«, sagte William und drängte sich am Hund vorbei. »Nicht ohne uns, William«, sagte Mary und lief hinter ihm her. »Das ist unsere Aufgabe, weißt du?«, und sie lief den Flur hinunter. Alice ging zur Tür und warf ihre Arme um den Hundehals. »Ach Spot!«, seufzte sie. »Warum muss William immer alles so
kompliziert machen?« »Weil«, wisperte der Hund mit einer Stimme in ihr Ohr, die sich ziemlich nach Stephen Tyler anhörte, »das seine Natur ist.« »Aber es ist doch falsch, oder?«, dachte Alice. »Nein«, flüsterte der Hund in ihrem Kopf, »nicht für ihn.« »Aber ich dachte, wir sollten nicht mehr versuchen alles zu verstehen«, protestierte sie. »Du nicht. Aber du bist ganz anders, weißt du? Ihr seid so verschieden voneinander wie ein Fisch von einem Vogel und ein Vogel von einem Bären. Kann ein Vogel schwimmen? Kann ein Bär fliegen? Versuch nicht, den anderen ähneln zu wollen, Alice. Versuch lieber herauszufinden, wer du wirklich bist.« »Und dann?«, dachte Alice ärgerlich. »Dann bist du du selbst – und niemand anderes«, war die Antwort. »Du wirst… du selbst sein. Wenn diese Zeit kommt, dann hat die Alchimie bereits gewirkt. Dann wirst du wirklich – Gold sein.«
16 Die Lichter im Dunkeln Alice stürzte durch die warme Luft. Noch nie im Leben war sie so glücklich gewesen. Das Gefühl war wie beim Schwimmen oder beim Achterbahnfahren auf der Kirmes. Die Morgensonne schien heiß vom wolkenlosen Himmel und die Waldbäume glitzerten alle vom Tau, als ob sie mit Diamanten übersät wären. Die anderen Schwalben waren so voller Freude, dass sie die Luft um sich herum mit ihrem zwitschernden Gelächter füllten. Alice wollte nicht mehr als ewig weiter durch das morgendliche Licht zu fliegen und zu stürzen und zu schwirren. Sie drehte ab und warf sich mit einem gewaltigen Stoß aufwärts, teilte die Luft mit ihren spitzen Flügeln, als wollte sie die Sonne selbst erreichen. Das Licht war so blendend, dass sie fühlte, wie sie mit dem Himmel verschmolz. Im letzten Moment, gerade als sie meinte, in der riesigen blauen Ferne für immer zu verschwinden, drehte sie wieder und raste pfeilschnell auf die Erde zu. Der Boden stürzte auf sie zu. Die Bäume teilten sich, Büsche streiften sie, das hohe Gras umgab sie wie ein Dschungel. »Alice! Alice!«, hörte sie aus der Ferne eine Stimme rufen. »Was?«, sagte sie und öffnete im selben Moment ihre Augen. Das Zimmer war dunkel. Dann hörte sie wieder die Stimme. »Alice, wach auf«, sagte sie. Zuerst wusste sie nicht, wo sie war. Sie wollte weiterschlafen und mit den Schwalben fliegen. Aber Mary kniete neben ihrem Bett auf dem Boden, schüttelte sie sanft und der Schlaf fiel von ihr ab. »Was ist passiert?«, fragte Alice hellwach und ein bisschen ängstlich. »Irgendetwas Seltsames geht da vor sich. Komm und sieh dir das an«, flüsterte Mary. Alice kletterte aus ihrem Bett und folgte ihrer Schwester aus dem Zimmer und über den Flur zu dem winzigen Badezimmer. »Das Bellen hat mich geweckt«, erklärte Mary ihr und da hörte Alice einen scharfen, abgehackten Ton, der durch das Badezimmerfenster drang. »Dann bin ich hierher gegangen und – sieh mal!«, fuhr Mary fort. Zuerst konnte Alice durch das Fenster nur dunkle Nacht sehen,
aber als sie länger hinschaute, bemerkte sie für einen Augenblick das Aufflackern eines Lichtes. Es kam und verschwand so schnell, dass sie zuerst gar nicht sicher war, ob sie es wirklich gesehen hatte. Aber dann erschien es wieder, diesmal ein bisschen höher als vorher. »Was ist das?«, flüsterte sie. »Jemand ist da oben auf dem Abhang. Ganz in der Nähe vom Baumhaus, glaube ich. Guck mal, da ist noch ein Licht, da rechts.« Die Mädchen beobachteten, wie die beiden Lichter sich allmählich aufeinander zu bewegten und sich ein wildes Knurren in das Bellen mischte. William kam zu ihnen in den Raum. »Habt ihr es auch gesehen?«, wisperte er. »Ich wollte euch gerade wecken.« »William, du bist ja angezogen!«, flüsterte Alice. »Ja. Ihr beeilt euch besser«, sagte er. »Und zieht euch Pullover an. Es ist bestimmt kalt da draußen.« »Gehen wir raus?«, fragte Alice überrascht. »Also ich auf jeden Fall. Ich will wissen, was da los ist. Wenn ihr mitkommen wollt, dann beeilt euch lieber.« Er schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete ihnen zurück zu ihrem Zimmer. Die Nachtluft war kalt, als sie aus der Küchentüre traten und über den Hof in den Küchengarten liefen. Spot sprang vor ihnen her, als ob er bereits wüsste, wohin es ging. Dann wartete er beim hinteren Tor auf sie, und als sie auf den Waldweg traten, drehte er sich um und sprang schwanzwedelnd hin und her. »Schon gut, wir folgen dir, Spot«, flüsterte Mary. »Aber wir müssen vorsichtig sein – wer immer das ist, ist vielleicht nicht sehr freundlich. Wir wollen nur wissen, was los ist, mehr nicht.« Spot führte sie den Waldweg hinunter, bog dann ab und folgte einem schmalen Pfad durch die Bäume den steilen Abhang des Hügels hinauf. Obwohl sie ziemlich schnell liefen, kam Alice mit den anderen mit. William benutzte die Taschenlampe so wenig wie möglich und schaltete sie immer nur dann kurz ein, wenn der Boden besonders uneben war oder ein Hindernis auftauchte. Als sie einmal unter den Bäumen waren, konnten sie die Lichter nicht mehr sehen, aber das gelegentliche Bellen sagte ihnen, dass sie ihrem Ziel näher kamen. Nach einer Viertelstunde Klettern lichteten sich die Bäume um sie herum. Sie konnten den Hügelkamm sehen, auf dem sich der Schatten der riesigen Eibe abbildete und gegen den Himmel abhob.
Der aufsteigende Boden war hier sehr steil und der Pfad völlig verschwunden. Vor ihnen verlangsamte Spot seine Geschwindigkeit zu einem vorsichtigen Schleichen. Er hob nur langsam seine Pfoten und streckte den Kopf nach vorne, während er die Umgebung mit allen seinen Sinnen untersuchte. Dann wurde die Stille plötzlich und unerwartet von einer Stimme unterbrochen. »Wer ist da?«, wisperte sie nachdrücklich. »Ted?« Die Kinder erstarrten. Der Hügel fiel vor ihnen so steil ab, dass sie sich an ihm festklammern mussten. »Hier drüben!«, rief eine weiter entfernte Stimme. Ein wenig rechts über ihnen erschien plötzlich ein Licht, das sich von ihnen wegbewegte. Spot drehte sich halb herum und sah die Kinder an, als wollte er sie vor etwas warnen, aber einen Moment später war es schon zu spät. Mit einem wilden Knurren sprang ein Hund aus dem Unterholz und warf sich auf Spot. Sofort wurden die beiden Hunde zu einer sich wie verrückt umeinander windenden Masse aus Fell und Krallen. Sie kämpften auf Leben und Tod. Spots aufgeregtes Bellen mischte sich mit dem bösartigen Knurren seines Gegners. »Spot!«, zischte Alice und wollte den Hügel hinauf zu den Hunden. Aber William hielt sie fest und legte seine Hand über ihren Mund. »Stopp, Alice! Du kannst ihm nicht helfen«, flüsterte er. »Du wirst in Stücke gerissen, wenn du versuchst sie jetzt zu trennen.« Alice boxte ihn mit geballten Fäusten, traf ihn im Gesicht und zog in ihrer Qual an seinen Haaren, aber William hielt sie weiter fest. Aus dem Schatten über ihnen löste sich die Gestalt eines Mannes. Er schaltete seine Taschenlampe an und die keuchenden und knurrenden Hundekörper wurden in der Dunkelheit sichtbar. »Fang!«, knurrte der Mann. Es hörte sich kalt an, machtvoll und herrisch. Aber die Hunde kämpften weiter. »Fang! Aus!«, rief der Mann. »Aus jetzt!« »Was ist los?«, rief der andere Mann und einen Augenblick später erschien eine zweite Gestalt neben der ersten. »Fang! Hierher, Hund. Komm her!« Mit einem letzten wilden Jaulen wurde das wütende Knäuel wieder zu zwei Hunden und einer von ihnen kroch den Abhang hinauf
zu den beiden Männern. »Komm her, Fang!«, sagte die Stimme. Die Kinder ließen sich fallen und pressten sich gegen das dicke Gras auf der Böschung. Über ihnen stand Spot und humpelte ins Unterholz. Der dünne Lichtstrahl der Taschenlampe folgte seinen Bewegungen. »Hund, oder?« »Glaub schon.« »Jemand dabei?« »Glaub nicht.« Das Licht schwang herum, lief über den Boden und kam der Stelle, wo die Kinder sich versteckten, immer näher. Gerade als es so aussah, dass sie entdeckt würden, erklang eine dritte Stimme, eine Frauenstimme, vom Hügelkamm. »Ihr da unten«, rief sie. »Ich kann euch sehen. Ich habe die Polizei benachrichtigt, dass ihr hier seid…« »Abhauen!«, zischte einer der Männer und sie verschwanden den Hügel hinunter zwischen den Bäumen. Einer von ihnen flüsterte noch leise und heiser: »Fang!«
17 Der Dachsbau »Komm her, Gypsy«, sagte Meg Lewis und streichelte Spots Kopf, »lass mal sehen.« Der Hund lag auf der Seite und ließ es zu, dass sie seinen Hals betrachtete. »Kann einer von euch die Taschenlampe halten?«, fragte sie nach einer Weile. Alice nahm sie ihr ab. »Richte das Licht genau dorthin, Herzchen. So ist es gut. Jetzt lass mal sehen, wie groß die Wunde ist. Oh, mein Armer! Oh, mein Schöner!« Meg sang die Worte sanft, fast wie ein Schlaflied. Spot seufzte und streckte sich und schien sich nicht mehr dafür zu interessieren, dass sie die Wunde an seinem Hals untersuchte. »Es ist nicht so schlimm, glaube ich«, sagte Meg zu ihm. »Aber du hast Glück gehabt. Du hättest es besser wissen müssen. Das war ein bösartiges Tier.« »Er hatte keine Wahl.« Alice übernahm sofort Spots Verteidigung. »Der andere Hund kam einfach aus dem Dunkeln und stürzte sich auf ihn.« »Sollte man einsperren, so einen Hund«, murmelte William. »Nein, Herzchen!«, protestierte Meg. »Er ging plötzlich auf Spot los«, sagte William zu ihr. »Er hatte gar nichts getan. Der andere Hund griff ihn einfach nur so an. Widerliches Vieh!« »Ja, aber weißt du…«, sagte Meg ruhig, »ein Tier ist das, wozu sein Herr es gemacht hat. In der Natur greift es nur zur Verteidigung an. Aber dieser Hund hat etwas anderes beigebracht bekommen. Sein Herr ist das widerliche Vieh, Herzchen. Er sollte eingesperrt werden, nicht der Hund.« Sie holte eine Tube Salbe aus der Tasche, drückte ein wenig davon auf ihren Finger und rieb es auf Spots Hals. »Wissen Sie, wer die Männer waren?«, fragte Mary. Meg schüttelte den Kopf. »Als wir uns letztes Mal gesehen haben, habe ich euch erzählt, dass es gerade wieder angefangen hat. Ich hatte bis jetzt noch keine
Gelegenheit, viel herauszufinden. So, Herzchen«, sagte sie zu Spot, »bald ist das wieder geheilt.« Sie saßen im Gras nicht weit von der Eibe oben auf dem Felsen. Die Nacht umhüllte sie von allen Seiten. Dunkle Wolken flogen über den Sternenhimmel und eine leichte Brise bewegte die Äste der Bäume. In der Ferne bellte ein Hund. Spot hob seinen Kopf mit zitternder Nase und lauschte mit aufgestellten Ohren. Die Kinder streckten sich auf dem Gras aus. Mary legte ihre Wange auf den Boden und fühlte die kühle Feuchtigkeit des Taus. Meg saß mit untergeschlagenen Beinen neben ihnen, stützte sich auf einen Arm und beobachtete die Schatten. »Ich war oben im Versteck«, erklärte sie. »Von da habe ich den ganzen Dachsbau im Blick.« »Dachsbau?«, fragte Alice und legte sich auf die Seite, damit sie Meg ansehen konnte. »Da leben die Dachse«, erklärte Meg. »Irgendetwas Großes ist geplant. Ein Freund hat es mir erzählt, als er mich besuchen kam. Er glaubt, sie organisieren ein Treffen.« »Ein Treffen?«, fragte William. »Ja. So ähnlich wie bei einem Kricketspiel oder einem Pferderennen«, sagte Meg, »treffen sich auch die Treiber zu ihrem Sport. Sie wählen einen geheimen Ort, irgendwo, wo man sie nicht entdeckt…« »Und dann? Was machen sie da?«, fragte Alice und fürchtete sich vor der Antwort. »Sie hetzen doch nicht die Dachse, oder?« »Hetzen?«, rief Meg aus. »Nein, Herzchen. Nein! Ich habe es euch schon erzählt. Sie bringen vier oder fünf Dachse zu dem Treffen mit und lassen dann die Hunde auf sie los, einen nach dem anderen. Sie setzen Geld auf die Hunde… wetten darum, welcher den ersten Dachs tötet, welcher die meisten Dachse tötet, welcher am längsten weiterkämpft… das ist ihr Sport, versteht ihr?« »Sie meinen, die Hunde… töten die Dachse?«, fragte Alice. »Am Ende ja. Es darf nur nicht zu schnell gehen, das würde den Männern den Spaß verderben. Aber schließlich sterben die Dachse, ja. Manchmal töten die Männer sie auch selbst. Ein Dachs kann ziemlich gut kämpfen. Manchmal… wenn sie einen wirklich starken Dachs gefunden haben, kann er es mit den Hunden aufnehmen und könnte sogar gewinnen. Dann verhängen die Männer meistens ein Handicap.« »Was ist das?«, fragte Alice. »Ja, weißt du, die Treiber lieben ihre Hunde, sie wollen nicht,
dass ihnen etwas passiert. Wenn es so aussieht, als ob der Dachs gewinnt, dann machen sie es ihm unmöglich. Sie legen ihm vielleicht einen Maulkorb um oder brechen ihm zuerst ein Bein… damit die Hunde eine bessere Chance haben…« Sie schwieg einen Moment lang gedankenverloren oder vielleicht wegen einer schrecklichen Erinnerung. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ein anderes beliebtes Spiel ist, den Dachs an einen Pfahl zu binden und mehrere Hunde gleichzeitig auf ihn zu hetzen…« »Aufhören – bitte!«, sagte Alice und hielt sich die Ohren zu. »Bitte erzählen Sie nicht weiter.« »Ach Kind!«, sagte Meg und legte einen Arm um Alice. »Ich wollte euch keine Angst machen. Ich dachte, ihr wüsstet all diese Dinge.« »Woher denn?«, schluchzte Alice. »Das war der erste Dachs, den ich je gesehen habe.« »Und der war tot«, sagte Mary ruhig und erinnerte sich an Brock auf dem Dunklen und Schrecklichen Weg. »Möchtet ihr sie kennen lernen? Meine Dachse?«, fragte Meg und stand auf. »Bleib hier, Gypsy. Bleib liegen.« Spot sah zu ihr auf und wedelte mit dem Schwanz. »Wir nehmen ihn besser nicht mit«, erklärte Meg. »Sie könnten das Blut riechen und die Angst spüren. Dann kommt mal mit.« Sie führte sie über den Felsrand einen steilen, schmalen Pfad hinunter. Der Mond kam hinter den Wolken hervor und irgendwo in der Nähe schrie eine Eule. Mary sah hoch und suchte den Himmel ab. »Jasper!«, rief sie leise. Meg sah sich überrascht nach ihr um. Mary lächelte schüchtern. »Ich bin mit einer Eule befreundet«, erklärte sie. »Ich habe sie nur nicht mehr gesehen, seit wir das letzte Mal hier waren.« »Ihr seid schon seltsam«, sagte Meg. »Ihr habt Eulen und Turmfalken als Freunde. Meine Dachse werden euch lieben!« Sie legte einen Finger an die Lippen und machte ihnen ein Zeichen, sich ins Gras zu setzen. Eine ganze Weile passierte überhaupt nichts und Alice wurde müde. Sie wollte gerade vorschlagen, dass alle nach Hause in ihre Betten gingen, als sie weiter unter am Abhang eine Bewegung wahrnahm. »Betty!«, flüsterte Meg. »Komm her, mein Mädchen. Komm und sieh mal, was ich hier habe.« Sie wühlte in ihren Taschen und holte
eine Handvoll getrockneter Früchte heraus. »Rosinen«, wisperte sie. »Dachse lieben Rosinen!« Die Kinder sahen im Halbdunkeln, wie das ebenmäßige Land unterhalb von ihnen von etwas unterbrochen wurde, das wie ein Erdhügel aussah. Allmählich kam aus dem Hügel eine Schnauze und der Schnauze folgte ein langer Körper, als ein Dachs aus seiner unterirdischen Wohnung auf das mondbeleuchtete Gras kletterte. Er schnupperte vorsichtig in die Luft, stellte sich auf die Hinterbeine und blickte den Abhang hinauf in ihre Richtung. »Betty!«, rief Meg wieder mit der gleichen Singsang-Stimme, die sie bei Spot benutzt hatte. Der Dachs trottete in ihre Richtung und blieb alle paar Schritte stehen, um in die Luft zu schnuppern. Als er dahin kam, wo Meg vorgebeugt saß und ihm die Rosinen in der ausgestreckten Hand hinhielt, stellte er sich wieder auf und legte ihr die Vorderpfoten auf die Schultern. Ein scharfer, beißender Geruch erfüllte die Luft. »Sie setzt eine Duftmarke«, erklärte Meg flüsternd. »Das tust du, nicht wahr, mein Mädchen? Es ist ihre Art, mich zu begrüßen. Hier«, sagte sie. Sie streckte wieder ihre Hand aus und der Dachs leckte die Rosinen auf. Jetzt kamen noch mehr Dachse aus anderen, gut versteckten Löchern. Zuerst zögerten sie wegen der Kinder. Aber nach und nach wurden sie zutraulicher und nahmen die Rosinen auch aus ihren ausgestreckten Händen. Einen der kleinsten stellte Meg ihnen vor. »Das ist Candy. Sie ist aus Stellas letztem Wurf…« Candy kam tatsächlich, kletterte auf Alices Schoß und schlief da zu ihrer Freude ein. Meg kannte alle Dachse beim Namen. Da waren Trish und Grey und alle ihre Jungen und ein großer männlicher Dachs namens Bawson. Bawson hielt sich von den anderen fern. Er stand aufrecht auf seinen Hinterbeinen, bewegte seinen Kopf hin und her und lauschte auf Gefahren. »Sie vermissen Brock noch immer«, erklärte Meg traurig. »Armer Brock. Er war ihr Führer. Jetzt trägt Bawson die Verantwortung.« Der Geruch der Dachse hing beißend in der Luft, und als sie im Unterholz nach Futter suchten, klang ihr Atmen und Schnauben so fremd für die Kinder, dass sie sich wie in einem Traum fühlten, aus dem sie bald in ihren Betten aufwachen würden, wie Alice aus ihrem Flug mit den Schwalben aufgewacht war. »Das sind meine Dachse«, flüsterte Meg. »Sie sind meine Freun-
de. Sie haben in der Natur keine Feinde außer den Menschen. Menschen wie die beiden eben, die sie aus Spaß töten. Könnt ihr mir das erklären? Kann irgendjemand das erklären? Ist das nicht das Schrecklichste und Traurigste, das ihr je gehört habt? Seht sie euch an! Nachttiere, Familientiere mit Tanten und Onkeln und Großmüttern, die in festen Gruppen zusammenleben, sich umeinander kümmern und umeinander trauern – und Menschen wie die Männer eben kommen mit Hunden, die sie dazu erzogen haben, bösartige Killer zu sein. Sie reißen ihre Bauten auseinander und nehmen die Dachse mit und haben dann ihren Spaß daran, wie diese wunderschönen, friedlichen und freundlichen Tiere in Stücke gerissen werden. Warum? Was ist aus uns geworden? Wie kann es sein, dass jemand von uns Menschen so ist? Wie kann das sein?« Während sie sprach, versammelten sich die Dachse um sie herum, rieben sich an ihr, schlugen spielerisch mit ihren Pfoten nach ihr und zerzausten ihr die Haare mit ihren Schnauzen, bis sie schließlich besorgt verstummte. Eine lange Weile später sagte sie: »Ich habe das nie verstanden. Deshalb gehe ich nicht unter Menschen. Ich bin lieber hier, mitten in der Nacht, bei meinen Freunden.« Schließlich wurde es für die Kinder Zeit zu gehen. Das erste Licht des Morgengrauens zeigte sich im Osten und eine Amsel begann schon zu singen. »Wie kann ich sie in Sicherheit halten«, wisperte Meg, als sie aufbrachen, »wenn diese Männer hier sind? Mit ihren Taschenlampen und Hunden…?« »Sie haben gesagt, die Polizei würde kommen«, sagte Mary. »Stimmt das?« Meg schüttelte den Kopf. »Manchmal schon. Die Polizei ist sehr gut. Aber es ist ein langer Weg von der Stadt bis hierher. Ich habe es gesagt, um die Männer zu vertreiben. Letztes Mal ist die Polizei gekommen. So konnten wir es unterbinden. Es gibt einen Mann bei der Polizei, Bob Parker. Er ist mittlerweile Sergeant und kümmert sich um die Dachse. Er kommt immer, wenn ich ihn erreiche, aber ich habe kein Telefon. Manchmal kommt er mich besuchen. Aber es ist ein Glücksfall, wenn er in der richtigen Nacht hier ist. Wir müssen im Voraus wissen, was passieren wird. Wir müssen wissen, wer die Männer sind. Wir müssen versuchen ihnen immer einen Schritt voraus zu sein.« »Wir können herausfinden, wer sie sind«, sagte William plötzlich.
»Das könnt ihr?«, fragte Meg überrascht. »Sie haben sich selbst verraten«, sagte William zu ihr. »Wie?« »Er hat den Hund Fang genannt. Wir sind schon über den Namen gestolpert.« »Und auch über den Hund, William. Wir haben diesen Hund schon einmal gesehen«, fügte Mary grimmig hinzu. »Seid ihr sicher?«, fragte Meg. »O ja, ich bin sicher«, sagte Mary. »Dieser Hund gehört einem von den Bauarbeitern, die an Onkel Jacks Haus arbeiten.« »Was können wir tun?«, fragte William. »Wenn ihr diesen Mann wirklich kennt, dann gibt es vielleicht Hoffnung«, sagte Meg. »Kommt mich in Four Fields besuchen, sobald ihr könnt.« Sie versprachen es und sagten, sie würden Onkel Jack mitbringen. »Er hilft auch«, sagte Alice zu Meg. »Er wird die schrecklichen Männer stoppen.« Die Kinder holten Spot vom Hügelkamm ab und verließen Meg, die immer noch von den Dachsen umringt war. Sie liefen im immer heller werdenden Morgenlicht den steilen Abhang ins Tal hinunter. Plötzlich blieb Mary stehen. »Oh!«, rief sie aus. »Was ist, Mary?«, fragte Alice. »Wenn der widerliche Hund Kev gehört, diesem Bauarbeiter, weißt du, was das bedeutet?« »Ich glaube schon«, sagte William ruhig. »Das heißt, dass Kev auf den Boden in der Krypta geschrieben hat und…« »Dass Kev auf den Spiegel im Geheimzimmer geschrieben hat«, flüsterte Alice. »Kev hat das Zimmer des Magiers entdeckt. William, Mary, was sollen wir tun?« »Wir müssen den Magier fragen«, sagte William mit Nachdruck. »Aber wie?«, fragte Mary. »Er ist ja nie da, wenn wir ihn brauchen.« »Wir müssen irgendwie mit ihm Kontakt aufnehmen«, sagte William. »Aber wie, William?«, fragte Mary noch einmal. »Ich weiß nicht«, antwortete William verzweifelt. »Es wird schon klappen«, sagte Alice. »Ich bin mir ganz sicher.« Sie rannte voraus und Spot humpelte neben ihr her.
18 Alchimie Erst spät am Nachmittag des nächsten Tages gelang es den Kindern, zum Geheimzimmer hochzusteigen. Arthur und Dan verputzten weiter die Zimmer im Flügel aus dem 16. Jahrhundert und Kev half ihnen, nachdem er alle schweren Sachen aus den Kellerräumen getragen hatte. »Er ist nicht gut im Verputzen«, vertraute Arthur Jack mit trauriger Stimme an. »Aber wir werden Arbeit für ihn finden. Er ist nicht sehr helle, aber er ist stark und das ist manchmal ganz praktisch auf dem Bau.« Irgendwann am Morgen gingen die Kinder mit Spot über den Hof und stießen dabei auf Kev, der hinten auf dem Wagen neben seinem Hund saß und eine Zigarette rauchte. »Eurer hat sich wohl geprügelt, was?«, fragte Kev und nickte mit dem Kopf in Spots Richtung. Er kletterte vom Wagen, offensichtlich verlegen darüber, dass man ihn beim Faulenzen ertappt hatte. »Wie kommen Sie darauf?«, fragte Mary fast herausfordernd. »Ich dachte bloß… er hat eine Wunde am Hals. Komm her, Junge, zeig mal«, sagte er und streckte seine Hand nach Spot aus, der knurrend zurückwich und zur anderen Seite des Hofes hinüberschlich. »Ihr solltet ihn abrichten«, sagte Kev. »Ein Hund muss wissen, wer der Herr ist.« »Er benimmt sich sehr gut«, sagte Alice. »Er kommt immer, wenn man ihn ruft.« »Du kannst Hunden noch mehr Tricks beibringen«, sagte Kev zu ihr. »Wundervoll gehorsame Tiere. Man bekommt sie dazu, genau das zu tun, was man will, wenn man sie hart rannimmt.« Während er sprach, hob er seine Hand gegen seinen Hund, der zurückschreckte und, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, sich hinten in den Wagen kauerte. »Seht euch das an!«, sagte er stolz. »Ich richte euren ab, wenn ihr wollt.« »Wir wollen nicht, dass unser Hund Tricks lernt«, sagte Alice und drehte ihm den Rücken zu. »Wie heißt Ihr Hund?«, fragte William. Kev sah ihn scharf an, dann grinste er.
»Rover«, antwortete er und ging ohne ein weiteres Wort wieder an seine Arbeit zurück. »Rover!«, wiederholte William leise. »Ich wette, er hat noch einen Namen, wenn er arbeitet. He!«, rief er und sah den Hund an. »Fang! Komm her, Fang!« Der Hund preschte bellend und knurrend vorwärts und konnte sich nur nicht auf William stürzen, weil das Seil an seinem Hals ihn daran hinderte. Trotzdem war die ungeheure Kraft des Hundes erschreckend und William trat einen Schritt zurück. »Oh, er macht einem ja Angst!«, sagte Mary und wich zur Küchentür zurück. »Das ist Kevs Schuld«, sagte Alice. »Der Hund tut mir ja fast Leid.« Aber sie lief trotzdem in die Küche, weil sie weg von dem schnappenden und knurrenden Hund wollte. Die Kinder halfen Jack weiter, die Kellerräume zu entrümpeln. Als der ganze Müll, den man nicht mehr brauchen konnte, ausgeräumt und der Rest säuberlich gestapelt war, kehrten sie die Räume aus und bürsteten die Wände ab, damit Spinnweben und Schichten von Schmutz verschwanden. Nachdem der Hof leer war, kam Spot zurück und schnupperte um den Wagen herum. Was immer er da entdeckte, ließ ihn knurren und Phoebe, die gerade in der Küche war und Getränke für alle machte, rief ihn herein, damit er mit dem Krach aufhörte. Später am Nachmittag kam ein Laster und holte den Container ab, der bis oben hin voll mit Abfall war. Dann sagte Jack zu den Kindern, sie sollten eine Pause machen. »Ab mit euch an die frische Luft«, sagte er. »Ich wollte wirklich nicht, dass ihr die ganzen Ferien arbeitet.« Sobald sie allein waren, gingen sie ins Geheimzimmer hinauf. Sie waren jetzt so an die Stufen im Kamin gewöhnt, dass sie nicht einmal mehr eine Taschenlampe mitnahmen. William öffnete die Läden an beiden Fenstern. Das Licht sickerte hinein und zeigte den staubigen, leeren Boden und die dunklen Ecken voller Spinnweben. »Und jetzt?«, fragte Mary. »Wie bekommen wir den Magier hierher?« »Vielleicht, wenn wir alle fest an ihn denken«, schlug William vor. Aber das klappte überhaupt nicht. »Ich finde es ganz schön schwer, nur an ihn zu denken«, bemerkte
Mary. »Ich weiß nicht, sollen wir daran denken, wie er aussieht oder wie er spricht oder was er sagt… oder was? Wie denkt man über etwas nach?« »Ich meine damit konzentrieren«, sagte William gereizt. »Aber ich weiß, was Mary meint«, unterbrach Alice sie. »Ich denke immer an etwas anderes, so wie Essen oder wie Phoebe ihre Brust rausnahm und das Baby fütterte.« »Sei still, Alice!«, sagte William, kniff die Augen zu und wiederholte immer wieder den Namen des Magiers in seinem Kopf. »Ich glaube, wenn wir ihn uns einfach herbeiwünschen, dann klappt das besser«, schlug Alice vor. Aber das Wünschen stellte sich als genauso schwierig wie das Vorstellen heraus und bald war ihnen allen langweilig. Mary stand vom Boden auf, wo sie im Schneidersitz gesessen hatte, und schlenderte zu der Ecke, wo der Spiegel an der Wand festgemacht war. »Du bist so eitel, Mary«, sagte Alice angewidert. Aber Mary biss nicht an. Sie stand einen Augenblick da und starrte schweigend in den Spiegel, dann sagte sie ohne sich umzudrehen: »Kommt her und seht euch das an. Diesmal ist hier eine von diesen komischen Zeichnungen drauf.« William und Alice liefen zu ihr. Sie hatte Recht. Ganz schwach auf der feinen Staubschicht, die den Spiegel bedeckte, konnten sie gerade die grobe Zeichnung einer Sonne und eines Mondes erkennen, die durch eine einzige Linie getrennt waren. »Noch eins von diesen Symbolen«, sagte William wie zu sich selbst. »Aber wer hat es dahin gemalt und warum?« »Also, es war noch nicht da, als ich hier oben war«, sagte Alice und wurde rot, als die anderen beiden sich zu ihr umdrehten. »Bist du hier alleine raufgegangen, Alice?«, wollte William zornig wissen. »Ich wollte es euch ja erzählen«, sagte Alice mit leiser Stimme. »Wir haben den feierlichen Eid geschworen, Alice«, brüllte William aufbrausend. »Sei leiser«, zischte Mary. »Und überhaupt, ich weiß gar nicht, wieso du dich aufregst, William. Du hast den feierlichen Eid an Weihnachten gleich zweimal gebrochen.« »Es ist nicht sicher für sie, wenn sie alleine hierher kommt«, beharrte William. »Was hätte ich denn sonst tun sollen?«, wollte Alice wissen und verlor auch die Geduld. »Ihr habt die ganze Zeit nur rumgehangen.
Das hat doch nichts gebracht.« »Jetzt haltet beide mal die Klappe«, fuhr Mary dazwischen. »Wenn ihr in die Luft geht, hilft das überhaupt nichts. Hast du das hier auf den Spiegel gezeichnet, Alice?« »Nein, natürlich nicht. Vielleicht war es Mr. Tyler…« »Das ist es!«, rief William aus. »Natürlich. Der Magier hat es uns ja mehr oder weniger gesagt.« »Ja – was denn, William?«, sagte Mary jetzt auch ungeduldig. »Dieser Spiegel ist irgendwie besonders – erinnert ihr euch nicht? Er sagte, in seiner Zeit hätte er eine andere Form als in dieser – irgendwie andersherum, wie eine Schüssel…« »Also?«, wollte Mary wissen. »Ich weiß nicht. Vielleicht wenn wir… den Spiegel benutzen… Wenn wir ihn alle… ansehen und… vielleicht, wenn wir dann alle versuchen nicht an irgendwas zu denken, sondern uns zu konzentrieren…« Mary holte ein Taschentuch aus der Tasche ihrer Jeans und putzte über das Glas, um die Zeichnung wegzuwischen. »Komisch«, sagte sie. »Es geht nicht ab.« »Lass mal sehen, Mary«, sagte William, nahm das Taschentuch und rieb damit über den Spiegel. Aber Mary hatte Recht. Es war kein Staub mehr auf dem Glas, aber die Zeichnung blieb, so fest man auch darüber wischte. »Ich krieg es auch nicht ab«, sagte er. Dann sah er sich mit einem beunruhigten Ausdruck nach den Mädchen um. »Es ist fast so«, fügte er hinzu, »als wäre es auf die andere Seite gezeichnet.« »Was meinst du?«, fragte Alice ängstlich. »Als ob die Zeichnung irgendwie auf der Innenseite des Spiegels wäre«, antwortete William nachdenklich. Die drei Kinder standen nebeneinander und starrten den Spiegel an. Zuerst sahen sie ihre eigenen Gesichter, die durch das runde Glas leicht verzerrt aussahen, und hinter sich den staubigen, leeren Raum. Dann ganz allmählich verblasste die Spiegelung. »Oh!«, keuchte Alice. »Schhh!«, zischte William. »Aber wir verschwinden«, flüsterte Alice. Als sie sprach, wurden die drei Gesichter wieder klarer. »Alice!«, rief Mary. »Was?«, rief Alice. »Wegen dir hat es aufgehört«, sagte Mary.
Das stimmte. Die Reflexion der drei Gesichter wurde wieder normal. »Das war ich nicht. Warum soll ich das gewesen sein?« »Du hättest nicht reden sollen«, fauchte William sie an. »Aber… es war so… gruselig.« »Die Zeichnung ist immer noch da«, sagte Mary. »Nein, wartet mal«, rief William und wischte mit dem Taschentuch über das Glas. Die Zeichnung war verschwunden. »Jetzt ist sie auf dieser Seite des Spiegels. Aber… wie? Ich verstehe es nicht. Sie war doch vorher nicht da. Was bedeutet das?« »Es bedeutet«, verkündete eine Stimme hinter ihnen, »dass ihr schon fast durch die Zeit reisen könnt. Und ich bin wirklich sehr beeindruckt.«
19 Alice verliert die Nerven Stephen Tyler stand am vorderen Fenster, stützte sich mit einer Hand auf das Fensterbrett und hielt seinen Silberstab in der anderen. Er nickte ernsthaft, als sie sich zu ihm umdrehten. »Sie sind hier!«, rief Alice erfreut aus. »Wir haben Sie kommen lassen.« »Das habt ihr mit absoluter Sicherheit nicht getan!«, gab er zurück. »Ich tanze nicht nach eurer Pfeife! Aber ihr habt ein wenig Sachkenntnis erworben. Und das ist sehr beruhigend. Wisst ihr, wie ihr es getan habt?« Die Kinder schüttelten alle die Köpfe. »Das ist schade. Unbewusste Fähigkeiten sind nutzlos.« Stephen Tyler klang enttäuscht. »Es heißt einfach nur, dass das, was ihr erreicht habt, aus Zufall geschah. Man kann sich nicht darauf verlassen. Und doch gab es einiges an Überlegungen. Du, William, sag mir, was deiner Meinung nach passiert ist.« »Wir haben uns alle so sehr gewünscht, dass Sie erscheinen, dass wir Sie… irgendwie mit unserem Willen hergeholt haben«, stammelte William unsicher. »Willen? Da bin ich mir nicht sicher. Man braucht einen starken Geist, um den Willen einzusetzen. Mary?« Mary zuckte mit den Schultern und wurde rot. »Wir haben uns einfach gewünscht, Sie wären hier…« »Nein, haben wir nicht, Mary«, unterbrach Alice sie. »Ich habe es vorgeschlagen, aber wir haben wieder aufgegeben, weil wir es nicht richtig geschafft haben. Eigentlich habe ich an gar nichts Bestimmtes gedacht, als unsere Gesichter verschwanden. Ich wusste einfach… nicht mehr weiter.« »Gut«, sagte der Magier und nickte begeistert mit dem Kopf. »Sehr gut! Lasst mich von der ersten Stufe der Herstellung von Gold erzählen… Wahres Gold, Himmelsgold. Diese Stufe ist ziemlich einfach. Ihr nehmt ein Pfund Quecksilber und erhitzt es in einem Schmelztiegel, bis es zu dampfen beginnt. Das ist alles. Quecksilber – dieser Stoff, der sich hierhin und dahin bewegt und niemals still steht.« Er durchbohrte sie mit seinem stechenden Blick. »Hört mir
zu, meine Schüler. Quecksilber ist der Geist. Für den ersten Schritt auf eurer Reise dahin, zu Gold zu werden, müsst ihr nur aufhören euren Geist hin und her schwirren zu lassen, jeden kleinen Gedanken zu verfolgen, jeden kleinen Einfall, jede kleine Sehnsucht oder Empfindung. Bringt euren Geist zum Stillstand. ›Ist das alles?‹, werdet ihr fragen. Glaubt mir, es ist das härteste Stück Arbeit im ganzen Ablauf. Man braucht normalerweise jahrelange Übung, um den Geist stillstehen zu lassen. Ihr macht das tatsächlich schon sehr gut. Ich bin wirklich froh. Die nächste Stufe ist nun das Quecksilber allmählich zu erwärmen, den Geist zu erwärmen. Womit sollte man ihn erwärmen? Wollt ihr das wissen? Dann erzähle ich euch ein großes Geheimnis.« Er senkte seine Stimme. »Nur mit Wärme im Herzen kann man auch den Geist erwärmen.« Er blickte aus dem Fenster. »Also – sollen wir sofort mit der nächsten Stufe beginnen? Sie ist schwer. Seid ihr bereit dazu?« Er sah sie wieder an. »Vielleicht«, murmelte er vor sich hin. »Nun gut…«, und seine Stimme wurde wieder heiter und fröhlich. »Stellt mir jetzt eure Fragen.« Die Kinder begannen alle auf einmal zu reden. Es gab so viele Fragen, auf die sie eine Antwort wollten. »Hat Kev das Geheimzimmer gefunden?«, wollte William wissen. »Frag ihn«, kam die Antwort. »Aber wenn er das hat…« »Dann bedeutet es nichts für ihn. Er hat einfach nur oben unter dem Dach einen leeren Raum gefunden.« »Mit Stufen, die den Kamin hinunterführen? Wird er das nicht seltsam finden?« »Er wird sie für die Treppe des alten Turms halten, die auf halbem Weg mit einer Holztür blockiert ist. Glaubt mir, es bedeutet nichts. Ein versperrtes Dachzimmer und eine halbe alte Treppe. Vertraut mir. Leute ohne Fantasie sehen nur das, was sie glauben vor sich zu haben.« »Aber… Sie haben doch gesagt, es störe Sie, wenn Leute hierher kommen.« »Hab ich das? Vielleicht. Aber nicht in eurer Zeit. In meiner Zeit stört es mich ziemlich. Denkt daran, wenn ihr mich je besuchen kommt.« »Das ist ja wohl kaum möglich, oder?«, sagte William mürrisch. »Ich halte es sogar für sehr wahrscheinlich. Ihr macht euch wirklich gut. Aber kümmert euch nicht um die Zukunft. Das ist einer der beliebtesten Tricks des Geistes – er bewegt sich in die Zukunft und
in die Vergangenheit und ist kaum oder fast nie hier in der Gegenwart, im Jetzt. Was diesen Mann betrifft… fragt ihn einfach und wartet ab, was er sagt. Noch Fragen?« »Wie geht das mit der Zeichnung auf dem Spiegel?«, sagte Mary schnell, weil sie nicht wollte, dass William alle Aufmerksamkeit auf sich zog. »Vermutlich hat dieser… Kev… die seltsame Nachricht geschrieben. Okay?«, sagte Stephen Tyler lächelnd. Das letzte Wort klang wie vorher geprobt, wie die Redewendung aus einer Fremdsprache, die er gerade lernte. »Nein!«, beharrte Mary. »Sie verstehen nicht. Hier war heute etwas Neues.« »Erzähl mir davon«, sagte der Magier. Wieder sprachen sie alle durcheinander und erklärten Stephen Tyler, was passiert war. Der Raum war von ihrem Geschnatter erfüllt. »Aufhören!«, rief er. »Hier geht es ja zu wie im Hühnerstall. Und Hühner sind keine guten Schüler!« Er entschied, dass Mary ihm erklären sollte, was geschehen war, denn sie hatte die ursprüngliche Frage gestellt. Stephen Tyler hörte ihrer Geschichte ruhig zu. »Das ist sehr interessant«, sagte er schließlich. »Der Spiegel, wie ihr ihn nennt und wie ich euch schon einmal erklärt habe, ist in Wahrheit die Glaskugel der Philosophen in meinem Arbeitszimmer. Sie wird für viele verschiedene Dinge benutzt, aber meistens als eine Art Hilfe zum Nachdenken. Manchmal, wenn ich die Dinge bewusst klarer sehen will, zeichne ich mit dem Finger Symbole auf das Glas. Es begann also, wie ihr sagt, gleichsam auf meiner Seite des Glases und endete auf eurer Seite…« Er nickte tief in Gedanken. »Ich glaube, das beweist, dass ihr alle für einen kurzen Augenblick… in meiner Zeit wart. Und als ihr zurückgekehrt seid, habt ihr euch so sehr auf das Symbol konzentriert, dass ihr es… mitgenommen habt.« Er dachte eine Weile nach. »Aber wer hat das Symbol gezeichnet?«, sagte er schließlich. »Das ist eine ganz andere Frage. Es können ja nur ich – und ich war es ganz bestimmt nicht – oder… Morten gewesen sein. Morten!« Er wiederholte den Namen mit ärgerlicher Stimme. »Dauernd mischt sich dieser Assistent in alles ein!« Und er ging mit großen Schritten durch den Raum und schüttelte gedankenverloren den Kopf. »Wenn er Sie so ärgert«, rief Mary aus, »sollten Sie ihn loswerden.«
»Nein, nein!«, murmelte der alte Mann und beruhigte sich ein bisschen. »Das kann ich nicht. Ich bin auch auf dieser Reise, wisst ihr. Auch ich hoffe verwandelt zu werden. Wenn man Gold herstellt, muss notwendig auch Schlacke dabei sein. Man kann das eine nicht ohne das andere erhalten. Morten ist meine Schlacke. Außerdem wäre ich ohne seinen ernüchternden Einfluss wohl in der Gefahr, überheblich zu werden. Er ist für meine Bemühungen nützlich, denn wegen ihm arbeite ich härter. Morten ist mein Gewissen, mein Zeitmesser. Er erinnert mich daran, wie viel es immer noch zu tun gibt, und ich mache weiter. Ich muss Morten immer einen Schritt voraus sein. Ein Magier, der mit Engeln arbeitet, muss die Teufel sehr gut kennen.« »O bitte!«, rief Alice verzweifelt. »Sagen Sie uns doch eines…« »Und was ist das, Alice?«, fragte Stephen Tyler und sah sie kalt an. »Wie können wir den Dachsen helfen?«, wollte sie wissen. »Den Dachsen?«, sagte der Magier. »Warum sind Dachse so wichtig?« »Warum?«, rief Alice aus. »Die Dachse werden getötet…« Der Magier sah sie einen Augenblick nachdenklich an, und als er das nächste Mal sprach, war seine Laune völlig verändert. Seine Augen blitzten und seine Stimme klang zornig. »Kleines Mädchen«, sagte er, »wir sind hier, um die Verwandlung deiner sterblichen Seele zu diskutieren, und du belästigst mich mit Dachsen?« »Sie haben uns gesagt, dass wir uns um die Dachse kümmern sollen«, gab Alice entrüstet zurück, »und außerdem haben sie niemandem etwas Böses getan. Meg sagt, sie haben keine Feinde außer den Menschen. Sie töten sie… aus Spaß…« »Aber Alice«, sagte Stephen Tyler etwas sanfter, »die Natur ist schon immer grausam gewesen. Das können wir nicht ändern.« Er streckte seine Hand aus, als ob er sie näher zu sich holen wollte. »Komm«, flüsterte er, »wir müssen viel wichtigere Dinge tun. Belaste deinen Kopf nicht damit.« Alice blickte ihn mit plötzlicher Abscheu an. Sie sah einen alten Mann in einem langen, schwarzen Mantel und mit dünnen roten Haarbüscheln, die von seinem fast kahlen Kopf abstanden. Er war überhaupt nicht mehr magisch, nur noch ganz durchschnittlich. »Wichtiger? Es gibt nichts Wichtigeres!«, rief sie. »Wenn Sie das nicht sehen können, dann… sind Sie fast so schlecht wie diese Män-
ner. Wir haben gedacht, Sie würden uns helfen.« Sie spürte einen Kloß in der Kehle und schluckte heftig, damit sie nicht weinte. »Ich dachte, Sie wollten, dass wir die Natur und solche Sachen verstehen. Und die Dachse gehören zur Natur, oder?« »Du vergeudest meine Zeit«, stieß Mr. Tyler hervor und hob drohend seinen Silberstab. »Ich werde den Dachsen helfen«, sagte Alice trotzig. »Damit machst du mich sehr zornig.« »Gut!«, schrie sie. »Das ist mir egal…« »Alice«, flüsterte Mary warnend. »Nein, Mary. Du kannst mich nicht aufhalten. Es ist mir egal, was er tut. Es ist mir egal, wenn ich ihn nie mehr wieder sehe. Es ist mir egal, wenn ich nie mehr hier raufkomme. Es ist mir alles egal – die Magie und alles. Wenn er nicht sieht, dass das Leben der Dachse genauso wichtig ist wie sein blödes Alchi-Dingsbums, dann will ich überhaupt nichts mehr von ihm wissen. Dann gehe ich lieber zu Meg Lewis.« Sie sah den Magier noch einmal an, am ganzen Körper zitternd und mit vor Zorn gerötetem Gesicht. »Ich habe immerzu an Sie denken müssen und konnte nicht erwarten, bis ich hier war. Ich kann einfach nicht glauben, dass Sie uns nicht helfen wollen…« Damit rannte sie aus dem Zimmer und die Treppe hinunter und die Tränen, die sie bis dahin zurückgehalten hatte, liefen ihr über die Wangen. Nachdem sie gegangen war, sahen William und Mary sich an. Beide hofften, dass der andere etwas sagen würde, aber sie hatten beide zu viel Angst davor. Der Magier ging mit großen Schritten an ihnen vorbei zur Treppe. »Du wirst ganz alleine sein«, rief er. »Ich werde nicht da sein, um dir zu helfen. Es ist Schluss mit… MAGIE.« Er rief die Worte so laut, dass sie von der Wendeltreppe widerhallten. »Ist mir egal«, kam Alices Stimme schluchzend und todunglücklich aus dem Dunkel. Stephen Tyler kam zurück. Er war so wütend, dass seine Augen wie Kohlen glühten. »Es wird ihr bald nicht mehr egal sein. Und ihr zwei… Was habt ihr mir zu sagen? Widersetzt ihr euch auch? Benehmt ihr euch auch so hysterisch und überspannt? Wendet ihr euch auch von der großen Aufgabe ab – wegen ein paar kleiner Tiere? Einer von euch möge sprechen.« »Komm, Will«, sagte Mary und streckte ihre Hand nervös nach ihrem Bruder aus. »Wir müssen jetzt gehen«, fuhr sie fort und schob
sich an dem Magier vorbei. »Gehen? Wohin?«, donnerte er. »Zu Alice«, antwortete William mit unsicherer Stimme. »Ihr bleibt«, befahl der Magier. »Ich habe Arbeit für euch.« »Es tut mir Leid, aber wir müssen gehen«, wiederholte William nervös. »Ich verliere wirklich die Geduld«, tobte der Magier. Mary war schon an der Tür. Jetzt war der Augenblick zu verschwinden. William war dicht hinter ihr. Zusammen könnten sie aus dem Zimmer laufen. Aber irgendetwas hielt sie auf. Es gab etwas, das sie sagen musste. »Ich glaube, Alice hat Recht«, sagte sie und drehte sich um. Dann sprach sie schnell weiter, bevor der Magier sie unterbrechen konnte. »Wir verstehen nicht, was Sie wollen oder so. Aber wir verstehen wenigstens die Dachse. Sie werden aus Spaß getötet – wie Elefanten und Tiger und… all die anderen Lebewesen, die Wale, die Delfine, die Wildblumen, das Wasser, das wir trinken, und die Luft, die wir atmen. Wir töten unsere Welt. Bald gibt es keine Tiere mehr, wenn nicht jemand etwas unternimmt. Vielleicht ist es in Ihrer Zeit nicht so. Vielleicht können Sie das nicht verstehen. Dann tut es mir Leid, aber ich bin auf Alices Seite. Sie hat Recht. Es gibt viel Wichtigeres zu tun als Ihre Alchimie-Sache. Und zwar genau hier, in diesem Tal. Und es tut mir nicht Leid, dass sie das alles gesagt hat. Wir dachten, Sie wären unser… Freund. Wir dachten… ach komm, William…«, und sie rannte aus dem Zimmer. William drehte sich um. Stephen Tyler und er starrten sich durch das leere, staubige, völlig unmagische Dachzimmer an. »Du auch?«, fragte der Magier ruhig. William zuckte unsicher die Schultern. »Ich glaube, Sie hätten auf Alice hören sollen«, sagte er. »Es ist schrecklich, was mit den Dachsen passiert.« »Geh mir aus den Augen!«, brüllte der Magier, und als William auf der dunklen Treppe verschwand, rief er hinter ihm her: »Ich warne dich, es wird keine Magie geben. Ihr seid jetzt völlig allein.« Williams Schritte hallten auf der Treppe wider. Stephen Tyler machte einen Schritt zur Tür und blieb dann stehen. Er nickte lächelnd und ging zum hinteren Fenster, wo er leise rief: »Jasper, mein Vogel. Komm zu mir, Jasper.« Flügelschlagen kündigte die Ankunft einer großen Eule an. Sie landete auf dem Fensterbrett, zwinkerte mit den Augen und schüttel-
te ihr Gefieder zurecht. »Bring mir Cinnabar, den Fuchs, und Sirius, den Hund – es gibt Arbeit. Trefft mich im Baumhaus. Sag Falco, dem Turmfalken, Bescheid und hol auch Merula, die Amsel. Sag es den Schwalben und Mauerseglern… Ich hatte Recht, mein Vogel. Jetzt kann es losgehen…«
20 Four Fields Am Samstag gingen sie nach Four Fields. Jack sagte, er würde das Wochenende freinehmen, wie das alle normalen Leute tun, und vielleicht könnten sie ja mit dem Landrover rausfahren und ein Picknick machen. »Wir könnten bis nach Wales fahren«, schlug er vor. »Die Hügel sehen im Moment wunderschön aus.« Aber Alice überzeugte ihn davon, dass es dumm war, irgendwo anders hinzufahren, wenn sie noch nicht einmal die Gegend vor ihrer eigenen Nase ausgekundschaftet hätten. Also machten sie sich nach dem Frühstück gemeinsam auf den Weg. Phoebe trug Stephanie in einem Tuch und Jack und William schleppten abwechselnd den Picknickkorb. Spot war schon früh am Morgen aus dem Haus gelaufen und nirgends zu sehen, also mussten sie sehr zu Alices Enttäuschung ohne ihn losgehen. »Ich sehe ihn kaum noch im Haus«, stöhnte sie. »Ich glaube, er mag mich nicht mehr.« »Vielleicht treffen wir ihn unterwegs«, tröstete Phoebe sie. »Und wenn nicht«, sagte Jack, »wird er unserer Spur folgen. Er ist klug, er findet alles.« William musste ihnen den Weg zeigen. Er führte sie den steilen Abhang des Tales hinauf und folgte einem schmalen Pfad, der auf der Karte eingezeichnet war und sie auf die Kuppe über Golden House nicht weit von der Eibe führte. Sie gingen über offenes Land und schließlich wieder in den Buchenwald. Der See, den sie bei ihrem vorigen Ausflug gesehen hatten, glitzerte links von ihnen durch die Bäume. Vögel sangen und eine warme Brise wehte über die Zweige. Sie wanderten gemächlich über den sonnengesprenkelten Waldboden, bis sie zu einem breiten Weg kamen, der wie eine Schneise durch den Wald lief. »Auf der Karte steht, es ist ein Reitweg«, berichtete William. »Wie weit ist es denn noch?«, fragte Phoebe und hob Stephanie höher auf ihre Hüfte. »Du bist ein kleines Schwergewicht, genau das bist du!«, sagte sie und gab dem Kind einen Kuss. »Soll ich sie tragen?«, fragte Mary.
»Nein«, wehrte Phoebe ab. »Ich will dich nicht damit belasten.« »Ich möchte aber«, sagte Mary. »Sie ist vielleicht ein bisschen schwer für dich«, sagte Phoebe. »Wenn wir noch diesen Pfad hinaufgehen«, verkündete William und studierte die Karte, »kommen wir zu diesen Feldern.« Er zeigte sie Jack. »Ich glaube, da lebt Meg Lewis.« Jack war überrascht, dass sie Freunde im Wald hatten, also erzählten die Kinder ihm und Phoebe beim Weitergehen alles, was sie über Meg wussten. Aber als es um die nächtlichen Ereignisse mit den Treibern ging, erzählte William nur das Nötigste. Alice redete jedoch in ihrem Eifer so viel, dass allen klar war, was sich wirklich zugetragen hatte. »Augenblick mal«, rief Jack aus und sah die drei Kinder an. »Wollt ihr sagen, dass ihr mitten in der Nacht im Wald rumgelaufen seid?« »Also das gerade nicht…«, murmelte William. »Was soll es denn sonst gewesen sein?«, fragte Jack und wurde immer zorniger. »Es war… Also, wir haben diese Lichter gesehen und Hunde bellen gehört und…« »Und ihr seid rausgegangen? Mitten in der Nacht? In den Wald? Allein?« »Nein, wir waren alle zusammen, ganz ehrlich, Onkel Jack«, erklärte Mary. »Ich kann nicht glauben, was ihr mir da erzählt!«, donnerte Jack. »Seid ihr verrückt geworden? Oder seid ihr bloß dumm? Benutzt ihr eure Köpfe auch mal zum Denken? Diese Männer hätten gewalttätig sein können. Sie hätten euch angreifen können. Sie hätten euch entführen können. Sie hätten euch belästigen können… Ihr könnt nicht so unbedarft sein, dass ihr die Gefahren nicht kennt.« Die Kinder ließen die Köpfe hängen. »Also? Was habt ihr dazu zu sagen?« »Meg geht auch ganz allein in den Wald«, sagte Alice leise. »Mir ist völlig egal, was eure Freundin Meg tut. Darum geht es nicht. Ihr hört sofort auf mit dem Unsinn. Habt ihr verstanden?« »Aber, Onkel Jack«, beharrte Alice. »Wir können doch die Männer nicht einfach die Dachse umbringen lassen. Wir müssen was tun!« Phoebe legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. »Ich habe von diesen Treibern gehört«, sagte sie. »Ich kann nicht
glauben, dass sie hierher kommen.« »Tun sie aber«, sagte William. »Meg wird es bestätigen.« »Wir müssen sie aufhalten, Jack«, sagte Phoebe. »Ja«, stimmte Jack weniger zornig zu. »Aber trotzdem, ich will nicht, dass die Kinder sich in Gefahr begeben…« »Ich glaube nicht, dass sie das noch mal tun«, sagte Phoebe. »Sei nicht mehr böse mit ihnen. Nicht heute. Sieh dich mal um! Das ist so ein zauberhafter Ort, wir sollten uns einfach daran freuen. Bitte, Jack.« Sie gingen unter großen Buchen her, deren Zweige leuchtend grüne Blätter trugen. Wilde Geißblattranken schmückten die Bäume und erfüllten die Luft mit ihrem süßen Duft. Dann rief William, der vorausgelaufen war: »Kommt und seht euch das an!« Und als sie bei ihm waren, sahen sie, dass der Weg durch ein altes Holzgatter versperrt wurde. Dahinter erstreckte sich eine Wiese. Das Gras war übersät mit Butterblumen und Klee. Hohe Margeriten nickten im Wind und winzige Stiefmütterchen leuchteten wie Edelsteine durch das Grün. Das Feld war nicht sehr groß und von einer Hecke umgeben. Auf der gegenüberliegenden Seite konnten sie durch ein Gatter zwei Kühe und ein paar Schafe zufrieden kauen sehen. »Hier ist es!«, rief Alice aufgeregt. Sie kletterte über das Gatter und sprang auf die Wiese. »Warte mal«, sagte Jack. »Das ist doch bestimmt Privatbesitz.« Aber Alice rannte bereits quer über das Feld. »Ist schon in Ordnung«, rief sie. »Es muss Four Fields sein. Und dann sind wir sowieso eingeladen.« »Alice!«, brüllte Jack hinter ihr her. »Komm zurück!« Aber sie war schon am anderen Gatter angekommen, öffnete es und verschwand aus ihrem Blickfeld. »Ich bin sicher, dass es in Ordnung ist, Jack«, sagte Phoebe und versuchte selbst das Gatter zu öffnen. Aber es war mit einer alten Kette verschlossen. »Wir müssen auch drüberklettern«, sagte sie. »Geh du zuerst, dann kann ich dir Stephanie in die Arme drücken.« Als sie beim nächsten Gatter ankamen, lief Alice gerade über das zweite Feld zurück und zwei schwarz-weiße Hunde, mit denen sie sich sofort angefreundet zu haben schien, bellten und sprangen um sie herum. »Seht mal!«, rief sie, als sie sie kommen sah. »Sie sehen alle aus wie Spot! Aber er ist nicht hier. Meg auch nicht. Ich habe an die Tür
geklopft… Jetzt kommt doch!«, rief sie aufgeregt, drehte sich um und rannte wieder fort. In einer Ecke dieses Feldes stand eine kleine, baufällig aussehende Kate. Sie war so in wildes Geißblatt und Efeu eingepackt und der Boden davor so mit Blumen und Gemüse überwuchert, dass man sie bis auf eine Tür und ein kleines Fenster zuerst gar nicht als Gebäude erkennen konnte. Eine weiße Katze lag ausgestreckt in der Sonne auf der Türschwelle. Schläfrig öffnete sie ein Auge, als Alice näher kam, und gähnte träge. Alice stieg über sie und hämmerte mit der Faust an die Tür. Dabei ging die Tür auf und drei weitere Katzen huschten hinaus und verschwanden im Gebüsch. »Hallo?«, rief Alice und spähte in den dunklen Flur. »Hallo? Ist da jemand? Hallo? Meg?« Aber niemand antwortete und es war klar, dass das Haus leer war. »Sie ist nicht hier«, sagte Alice und konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. »Jetzt sind wir so weit gelaufen und sie ist nicht hier.« Und sie stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf den Boden. »Macht doch nichts«, sagte Phoebe zu ihr. »Wir können doch erst picknicken und vielleicht ist sie zurück, bis wir damit fertig sind.« Sie fanden ein Plätzchen unter ein paar Bäumen in einer Ecke des Feldes und breiteten den Inhalt des Korbes aus. Phoebe hatte Tomaten und Frühlingszwiebeln und Käsescheiben und Zwiebelkuchen in Pergamentpapier eingepackt. Es gab hart gekochte Eier und eine Schüssel mit frischem Salat, Äpfel und Birnen und eine Flasche selbst gemachte Limonade. »Ihr müsst sie nach dem Trinken abwischen«, sagte sie. »Ich habe keine Gläser mitgenommen.« Die Kühe kamen neugierig angelaufen und zwei Lämmer waren so zutraulich, dass eines von ihnen sogar Salatblätter von Alice annahm, bis seine Mutter es rief und es zu ihr zurücktrottete. »Das ist eine wahre Wonne«, sagte Jack und streckte sich aus. »Ich habe noch nie so zutrauliche Tiere gesehen«, bemerkte Phoebe. Sie hatte ihr Kleid aufgeknöpft und stillte Stephanie. Alice hatte sich inzwischen an den Anblick gewöhnt. »Ich mag eigentlich nicht hingucken, wenn ihr wisst, was ich meine«, hatte sie William und Mary einmal anvertraut, als sie in ihren Zimmern waren. »Aber… es ist ganz praktisch, ein Baby so zu füttern, oder nicht? Man muss nicht die ganze Zeit irgendwelche Sachen mit sich rumschleppen… Flaschen und… ihr wisst, was ich meine. Und es
würde auch eine furchtbare Verschwendung von dieser ganzen Milch sein… Es ist nur…«, und sie schauderte. »Ich hoffe eben, dass mir das nicht passiert. Ich finde Brüste albern, und wenn sie mir wachsen, dann rolle ich mich so lange auf dem Boden herum, bis sie platt sind.« Dann musste sie so sehr über diese Vorstellung kichern, dass sie Schluckauf bekam. Aber jetzt, besonders hier auf dem Land, sah es gar nicht mehr so unappetitlich aus, und obwohl sie eigentlich nicht hinsehen wollte, machte es ihr aber auch nichts mehr aus. Sie war sogar neugierig genug – obwohl sie dabei einen Baum in der Ferne anstarrte – Phoebe zu fragen: »Tut das nicht weh, Phoebe?« Und Phoebe lachte und sagte, dass es das manchmal täte. »Sie kann sehr gierig sein. Wie jetzt zum Beispiel!«, sagte sie lachend. Aber es schien ihr nicht viel auszumachen. »Ich würde ja gerne helfen«, sagte Jack schläfrig, »aber ich fürchte, ich bin keine besonders große Hilfe bei dieser Aufgabe.« »Onkel Jack! Sei nicht so gemein«, kreischte Alice und hämmerte mit den Fäusten auf ihn ein. »Männer haben keinen Busen, so viel weiß ich auch.« »Halt die Klappe, Alice«, sagte Mary träumerisch. Sie lag auf dem Rücken, blickte in den Himmel und wollte nur den Vögeln und den summenden Insekten und dem ruhigen Kauen der Kühe zuhören. »Ach ja!«, seufzte sie. »Ich könnte ewig hier bleiben.« Und dann sank sie wieder in einen Halbschlaf. Bis zum Nachmittag war Meg noch immer nicht zurück und Phoebe schlug schließlich vor, dass sie sich wieder auf den Weg zurück nach Golden House machen sollten. Die Luft wurde kühler und die Sonne, die den ganzen Tag über warm geschienen hatte, verschwand immer wieder hinter dunklen Wolken. »Ja, wir sollten uns in Bewegung setzen«, sagte Jack zustimmend. »Es sieht so aus, als ob wir es kaum noch vor dem Regen nach Hause schaffen.« Sie sammelten die Reste des Picknicks zusammen und packten sie in den Korb. »Er ist jetzt viel leichter, William. Kannst du ihn tragen?«, fragte Jack. »Dann trage ich meine Tochter. Komm, mein kleines Würstchen!«, sagte er, hob Stephanie hoch und gab ihr einen Kuss. »Onkel Jack!«, rief Alice. »Sag das bitte nicht, das verkrafte ich nicht.« »Ich meinte natürlich ein vegetarisches Würstchen!«, sagte Jack
und gab Phoebe einen Kuss auf die Wange. »Mmmh!«, sagte Phoebe scherzhaft. »Ihr Fleischfresser! Wie würdet ihr das finden, wenn diese beiden schönen Kühe euch als Hackfleisch zum Frühstück fressen würden?« So gesehen musste sogar Alice eine gewisse Sympathie für Phoebes Gemüsetick zugeben. Die fraglichen Kühe hatten es sich unter einem Baum bequem gemacht und kauten gleichmäßig. »Aber Würstchen sind keine Tiere«, sagte sie. »Es sind bloß – Sachen, die man beim Metzger kauft.« »Aha!«, sagte Phoebe, »aber der Metzger bekommt sie doch irgendwoher, Alice.« Und Alice seufzte, weil ihr keine gute Antwort darauf einfiel, und wenn sie ehrlich war, hatte sie wirklich so einen Spaß an ihrem Picknick gehabt, dass sie bis dahin gar nicht mehr an Würstchen gedacht hatte. »Ich werde diesen Ort nie vergessen«, sagte Mary und sah sich noch einmal um, bevor sie über das Gatter kletterte. »Ich auch nicht«, stimmte Phoebe zu. »Und auch nicht unser Picknick. Es war wie… in einer anderen Welt. Ein sicherer Ort.« Als sie auf dem Reitweg waren, fielen die ersten Regentropfen durch die Äste über ihren Köpfen. »Ich fürchte, wir werden nass«, sagte Jack und bedeckte Stephanies Kopf mit seinem Pullover. Es wurde immer dunkler, und als sie im Buchenwald ankamen, fing es in der Ferne an zu donnern. »Wir müssen uns irgendwo unterstellen, Jack«, rief Phoebe. »Ich weiß, wo«, flüsterte Alice William zu. »Können wir sie zum Baumhaus mitnehmen?« »Warum nicht? Was meinst du, Mary?«, fragte William. Mary seufzte. »Jetzt ist es wohl egal«, sagte sie. »Wo wir uns schon mit dem Magier gestritten haben, macht es wohl nicht mehr viel Sinn, seine Geheimnisse für uns zu behalten, oder?« Und alle drei wurden sofort traurig, als sie sich daran erinnerten, was sie aufgegeben hatten. »Wie auch immer«, sagte Alice wieder fröhlicher. »Es war schon fast so wie Magie, einfach nur in Four Fields zu sein. Ich finde, Meg ist was Besonderes.« Dann fügte sie hinzu: »Ich wette, sie kennt Zaubersprüche.« Aber die Feststellung klang nicht sehr überzeugt. »Kommt jetzt, Kinder«, rief Jack. »Wir müssen einen Baum suchen, wo wir uns unterstellen können.«
»Hier lang, Onkel Jack«, antwortete Mary und führte sie über das unbewachsene Stück Land zur Eibe.
21 Ein Sturm braut sich zusammen Als der Regen auf sie niederprasselte, suchten Phoebe, Jack und die Kinder Zuflucht unter der Eibe. Jack drückte Stephanie an sich und sein dicker Pullover schützte ihren Kopf und ihre Schultern. Sie war aus einem glücklich blubbernden Schlaf erwacht und wimmerte nun jämmerlich. »Ich glaube nicht, dass unsere Tochter Regen mag!«, sagte Jack lachend, nachdem sie sich alle im Schutz der dichten Eibe befanden und in der Dunkelheit standen. »Sie hat keinen Regen abbekommen, oder?«, fragte Phoebe besorgt und nahm ihm das Kind ab. »Nein, aber der Pullover.« Unter dem Baum war es ziemlich trocken. Phoebe setzte sich mit dem Rücken zum Stamm und wiegte Stephanie in ihren Armen. Der Donner grollte immer näher heran und plötzlich kam Wind auf. Jack und William spähten durch die hängenden Zweige in den strömenden Regen. Die Wassertropfen sprangen von der Erde wieder hoch und bildeten überall Pfützen. Mary und Alice stampften mit den Füßen und schüttelten sich, um trocken zu werden. »Es dauert bestimmt nicht lange«, sagte Jack. Da krachte ein Donner direkt über ihnen und ein Blitz tauchte die Welt kurz in schwefelgelbes Licht. Jack pfiff durch die Zähne. »Das war knapp!«, sagte er. »Das Unwetter muss direkt über uns sein. Es ist so schnell heraufgezogen.« Es donnerte immer wieder so laut, dass der Krach den Baum erzittern ließ und die Zweige schaukelten. Phoebe legte eine Hand über Stephanies eines Ohr und drückte ihren Kopf sanft an sich. Sie wiegte und beruhigte sie, weil Stephanie fürchterlich schrie. Alice kauerte sich mit dem Rücken am Stamm neben sie. Sie mochte den Donner auch nicht und hätte selbst ein bisschen Trost gebrauchen können. Aber sie versuchte sehr tapfer zu sein, also verzog sie nur den Mund und summte eine kleine Melodie, um sich Mut zu machen. Mary fuhr sich inzwischen mit den Fingern durch ihre kurzen
Haare, um sie zu trocknen. Als William aufschrie, weil ihm ein Schwall Wasser durch die Zweige genau auf den Rücken platschte, wich sie kreischend zur Seite. »William!«, keuchte sie. »Hast du mich erschreckt!« »Der Regen ist ganz kalt«, sagte er und versuchte seinen Rücken mit der Hand trockenzureiben. Phoebe blickte sie an und hörte mit dem tröstenden Singsang auf. »Hört mal!«, sagte sie nachdrücklich. Noch ein Donnerschlag hallte im Tal wider und um sie herum knisterten und zuckten Blitze. »Hört mal!«, sagte sie wieder und drückte Stephanie noch dichter an sich, um ihr Geschrei zu dämpfen. »Was ist?«, fragte Jack. »Ich bin ganz sicher, ich habe…« »Hilfe!«, rief eine schwache Stimme von irgendwo über ihnen. »Kann mir bitte jemand… helfen?« »Habt ihr das gehört?«, sagte Phoebe atemlos. »Ja«, antwortete Jack und blickte verwirrt in den Baum hinauf. »Komm«, sagte Mary und lief zum Baumstamm. »Hier rauf, Onkel Jack!«, und sie begann hinter Phoebe und Alice die unteren Äste auf der anderen Seite des Baumes hinaufzuklettern. Auch Alice sprang auf. »Ah! Ist das das Baumhaus, von dem ihr erzählt habt?«, fragte Jack. »Komm mit«, sagte William zu ihm. »Du wirst schon sehen.« Und er stieg hinter Alice und Mary den Baum hinauf. »Du bleibst besser hier«, sagte er zu Phoebe. »Wir können Stephanie nicht da hochtragen.« »Helft mir doch… bitte!«, rief die Stimme wieder. Je höher sie kletterten, desto mehr wurde der Baum vom Wind geschüttelt. Als sie zu dem Eisenring kamen, musste William Alice festhalten und sie fast über die Astlücke auf die Plattform heben. Jack hatte weniger Probleme, weil er größer war. »Wie um Himmels willen habt ihr dieses Baumhaus gefunden?«, fragte er William und machte mit Hilfe des Eisenrings einen großen Schritt über die Lücke auf die Plattform. »Das war Zufall«, antwortete William. »Es dauert etwas länger, das zu erklären.« Sie schoben sich bis zu dem hängenden Zweig vor und duckten sich unter ihm hinweg. Jack war fast ein bisschen zu groß dafür, und als er schließlich mit den Kindern das Baumhaus
betrat und bei seinem Anblick überrascht den Atem anhielt, musste er sich tief bücken, damit er sich nicht den Kopf am Türrahmen stieß. Das Haus schaukelte und bebte im Wind, der an den offenen Fensterläden zerrte und sie geräuschvoll auf- und zuklappte. Es war genauso wie im Krähennest hoch oben am Mast eines Schiffes während eines Sturms. Im Zimmer war nicht viel Platz und sie konnten sich kaum rühren. Mary war die Erste. Sie kniete sich hin und erst da sahen sie die Gestalt am Boden liegen. Im Halbdunkel konnten sie gerade einen weißen Haarschopf unter einem alten Hut erkennen. »Meg!«, rief Mary. »Was ist passiert?« »O Gott sei Dank, dass ihr gekommen seid!«, rief Meg aus. »Ich liege hier schon so seit letzter Nacht. Könnt ihr mich vielleicht losbinden?« Sie rollte sich zur Seite und zeigte ihnen, dass ihre Arme und Beine fest auf ihrem Rücken verschnürt waren, und zwar so, dass sie die Beine nach hinten angewinkelt hatte. »Lass mich das machen, Mary«, sagte Jack. Er zwängte sich vorbei und holte ein Messer aus der Tasche. Schnell schnitt er das dicke Seil durch, um Meg zu befreien. »Sie müssen der Onkel sein, nicht wahr?«, sagte sie und blinzelte ihn an. »Ja«, sagte er. »Ich heiße Jack Green und wohne in Golden House. Und Sie sind… Meg?« »Meg Lewis, richtig. Können Sie mir beim Aufstehen helfen? Ich fürchte, ich habe zu lange in dieser Haltung gelegen, so dass ich ein bisschen steif bin.« »Wer hat Ihnen das angetan?«, fragte Jack und schnitt weiter das Seil durch. »Gute Frage. Ich habe das Gesicht nicht sehen können. Hat mich völlig überrascht. Ich war gerade hierher gekommen. Und im nächsten Augenblick hatte ich einen Knebel im Mund und wurde wie ein Paket verschnürt. Ich habe den Knebel durchgebissen, aber ich konnte weder meine Hände noch meine Beine befreien.« Jack löste die letzten Stücke des verknoteten Seils von ihren Knöcheln. Dunkelrote Striemen zeigten, wo das Seil ins Fleisch geschnitten hatte. Meg massierte ihre Knöchel und streckte die Beine aus. »Sie müssen sich furchtbar fühlen…«, sagte Jack und half ihr auf die Füße. Sie stand unsicher da und wartete, dass das Blut in ihre Gliedmaßen zurückkehrte. »Kümmern Sie sich nicht um mich«, sagte sie. »Die Dachse sind
viel mehr in Gefahr.« Dann zwängte sie sich an ihnen vorbei zur Tür und verschwand unter dem Zweig. Phoebe stand unten am Stamm und spähte mit Stephanie auf dem Arm den Baum hinauf, um herauszufinden, was los war. Sie war überrascht, dass die erste Person, die schnell und geschickt den Baumstamm herunterkletterte, nicht eines der Kinder oder Jack war, sondern eine kleine, ältere Frau in einem Regenmantel und mit einem Männerhut auf dem Kopf. »Huch!«, rief sie aus, als Meg ohne ein Wort an ihr vorbei durch die grünen Zweige des Baumes in den strömenden Regen hinausging. Einen Augenblick später kam Jack und kurz danach William. »Wo ist sie?«, fragte Jack. »Sie stürmte da entlang…«, antwortete Phoebe und zeigte unbestimmt in die Richtung, in die Meg verschwunden war. »Kommt«, sagte William. »Ich weiß, wo sie hinwill!« Und er lief in den Regen. Ein kleines Stück den steilen Abhang hinunter kniete Meg im Schlamm. Der Regen durchnässte sie völlig, aber sie schien es nicht zu bemerken. Als sie bei ihr ankamen, schien sie es nicht wahrzunehmen. Der Boden um sie herum war durchwühlt und zertrampelt, als ob er umgegraben worden wäre. Sie hielt in ihrer geballten Faust ein Büschel grauer Haare, und als sie sich umdrehte, war ihr Gesicht voller Tränen. »Oh meine Kleinen! Meine Lieblinge! Ich habe euch im Stich gelassen«, sagte sie mit gebrochener Stimme. »Ich habe euch im Stich gelassen!« Und dann konnte sie sich nicht mehr beherrschen, beugte sich über die nasse Erde und schluchzte herzzerreißend. Alice rutschte den Abhang hinunter, kniete sich neben Meg und drückte sie fest an sich. »Wein doch nicht«, flüsterte sie. »Bitte wein doch nicht, Meg. Wir kennen einen der Männer…« »Zu spät, Herzchen. Sie haben die Dachse mitgenommen.« »Alle?«, fragte Alice entsetzt. »Nein. Sie werden sich nicht mit den Kleinen oder den Alten abgegeben haben. Ich wage gar nicht daran zu denken, was mit ihnen passiert.« Sie wischte mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen und schmierte sich dabei den nassen Schlamm ins Gesicht. »Was ich nicht verstehe – woher wussten sie, wo ich war?« »Erzählen Sie uns, was passiert ist«, sagte Jack.
»Ich war oben im Versteck. Ich hatte Lichtzeichen gesehen.« Sie schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. »Hinter mir war ein Geräusch. Ich drehte mich um… Es war dunkel. Ich nehme nie eine Taschenlampe mit, damit man mich nicht entdeckt. Ich weiß nur noch, dass jemand auf mich zusprang. Ich wurde geknebelt und gefesselt, bevor ich ›Piep‹ sagen konnte.« »Wie lange sind Sie da oben gewesen?« »Nicht lange. Ich bin nachts meistens hier unten beim Dachsbau. Aber der Wind war kalt und es schien niemand hier zu sein. Außerdem habe ich einen viel besseren Blick von da oben. Ich kann jeden sehen, der kommt, egal aus welcher Richtung. Nein, ich war kaum ins Baumhaus gestiegen und hatte es mir bequem gemacht, da ist es auch schon passiert.« »Also hat Sie vermutlich jemand eine Weile beobachtet und ist Ihnen dann gefolgt?« »Möglich«, stimmte Meg zögernd zu. »Aber ich bin sonst so wachsam. Ich bin an die Dunkelheit gewöhnt, wissen Sie. Sie ist für mich fast so wie Tageslicht…« Sie schwieg wieder und streichelte über das Haarbüschel in ihrer Hand. »Kommen Sie mit unter den Baum ins Trockene«, sagte Jack und half ihr auf. Mary und William standen genau hinter ihr. Mary nahm ihre Hand und half ihr den Abhang hinauf. William zog inzwischen Alice zu sich hoch. »Wenn nur…«, sagte sie leise. »Was?«, fragte er, aber er ahnte schon, was sie sagen wollte. »Wenn ich mich nur nicht mit dem Magier verkracht hätte. Er könnte uns helfen. Ich bin sicher, er würde das tun, wenn er wüsste, was los ist. Glaubst du nicht auch, Will…?« Aber William antwortete nicht, also gingen sie schweigend weiter den Hügel hinauf. Es fiel jetzt nur noch leichter Regen und der Donner grollte weit entfernt. Als die beiden an der Eibe ankamen, brachen die anderen gerade auf. »Kommen Sie mit uns, Miss Lewis«, sagte Phoebe. »Wir sind jetzt viel näher an unserem Haus als an Ihrem und wir können Sie mit dem Landrover zurückfahren… Es führt doch eine Straße zu Ihnen?« »Ja, meine Liebe«, antwortete Meg. »Es gibt einen Weg durch den Wald bis zur Straße durch das Moor. Ich benutze ihn kaum noch. Ich gehe nicht viel in die Stadt. Ich passe da nicht mehr richtig hin.«
»Bitte kommen Sie mit nach Golden House«, wiederholte Phoebe sanft und Stephanie streckte ihre Hände aus und strich über Megs Gesicht. Meg lächelte traurig und nahm die kleinen Finger in ihre Hand. »Eine Lewis zurück in Golden House?«, sagte sie zu sich selbst. »Vielleicht ist die Zeit gekommen. Zumindest für meine Dachse.« Sie sah Phoebe in die Augen. »Für sie soll ich die Vergangenheit vergessen? Vergeben und… vergessen?« Phoebe runzelte die Stirn. Sie verstand nicht, worüber Meg sprach, war aber trotzdem beunruhigt über ihre Worte. »Hassen Sie unser Haus so sehr?«, fragte sie. »Nicht das Haus selbst, eher was es mit den Menschen macht.« »Kommt jetzt«, unterbrach Jack jedes weitere Gespräch. »Wir sollten uns besser beeilen, solange es nicht regnet.« Als sie aus dem Schutz des Baumes traten, nahmen Mary und Alice Meg in ihre Mitte und zogen sie mit sich. Phoebe trug Stephanie fest in den Armen, bedeckte ihren Kopf mit Jacks Pullover und folgte den anderen durch das nasse Gras zum Rand des Tales. »Ich kann aber nicht lange bleiben«, sagte Meg immer noch unsicher zu den Mädchen. »Ich muss die Kühe melken… die Tiere werden sich wundern, wo ich so lange bleibe.« Plötzlich fiel ihr etwas ein und sie blickte sich zur Eibe um. »Habt ihr Gypsy gesehen? Ich dachte, ich hätte ihn kurz nach dem Morgengrauen gehört. Du weißt sicher besser als jeder andere, wo er ist«, fügte sie an Alice gewandt hinzu. »Ich habe Spot seit Ewigkeiten nicht gesehen«, antwortete Alice, die ihn nur so nennen konnte. »Er mag mich nicht mehr, glaube ich.« »Das denke ich nicht, Herzchen!«, sagte Meg zu ihr. »Wenn du einmal einen Hund für dich gewinnst, dann hast du ihn fürs Leben. Er hat wahrscheinlich irgendetwas zu tun gehabt. Tiere führen auch ihr eigenes Leben, weißt du? Wir wissen noch nicht mal die Hälfte von dem, was sie so anstellen!« »Hier lang!«, rief William vor ihnen und verschwand den steilen Pfad hinunter. Meg holte tief Luft, als ob sie sich beruhigen müsste. »Nun gut«, sagte sie, »jetzt ist es also so weit. Eine Lewis kehrt nach Golden House zurück.«
22 »Eine Lewis kehrt nach Golden House zurück« Sobald sie im Hause ankamen, liefen die Kinder nach oben, um sich trockene Kleider anzuziehen, und Jack brachte Stephanie ins Schlafzimmer. Phoebe führte Meg inzwischen durch die Halle in die warme Küche. »Sind Sie sicher, dass Sie nichts Trockenes anziehen wollen?«, fragte sie. »Vielleicht einen Bademantel?« Aber Meg schüttelte nur den Kopf und zog ihren Regenmantel aus. »Vielen Dank, meine Liebe, aber ich bin an feuchte Kleidung gewöhnt«, sagte sie schüchtern. »Man kann es nicht ändern, wenn man draußen lebt. Ehrlich gesagt merke ich die Feuchtigkeit schon gar nicht mehr. Regen oder Sonne – das ist das Gleiche für mich.« Also zog Phoebe einen Stuhl an den Küchenherd und ließ Meg sich aufwärmen, während sie nach oben ging, um sich umzuziehen. Als die Kinder herunterkamen, saß Meg auf der Stuhlkante und starrte in die Flammen. »Seltsam, dass ich hier bin«, sagte sie mit verträumter Stimme. »Seltsam! Meine Familie hat dies alles einmal besessen, wisst ihr. Aber mein Großvater hat es verloren. Wegen Glücksspielerei. Das haben sie mir wenigstens gesagt – das war sein Laster. Für mich sah er nie wie ein Spieler aus. Natürlich war ich noch klein, als er starb. Er war wie ein Verfolgter. Wir sind alle verfolgt worden – von diesem Haus. Golden House!« Sie sagte die beiden Worte mit großer Bitterkeit. »Golden House! Immer hat Gold den Menschen verdorben. Bis heute bin ich nie in diesem Haus gewesen, aber ich könnte euch jede Ecke beschreiben. Jeden Winkel. Jede Ritze. Ich kenne Räume hier, von denen ihr noch nicht mal träumen würdet. Großvater Lewis verbrachte jeden Tag damit, Karten und Diagramme zu zeichnen. Ich kann ihn noch vor mir sehen, wie er über Papieren brütet, rechnet, ausradiert, neu beginnt und schließlich ein Blatt nach dem anderen ins Feuer wirft. Die ganze Zeit schüttelt er den Kopf und murmelt vor sich hin. Armer Mann. Dieses Haus hat ihn zerstört
und doch – sogar nachdem er weggegangen ist – konnte er es nicht in Ruhe lassen. Und mein Vater auch nicht. Seine Erinnerungen haben ihn früh ins Grab gebracht. Mutter und ich mussten allein für uns sorgen. Und dann kam ich eines Tages vom Markt – ich erinnere mich noch, dass ich ein Stierkalb verkauft habe – und Mutter war auch gestorben, weggerafft von Sorgen und einem gebrochenen Herzen. Da stand ich nun alleine in Four Fields und hätte eigentlich die Herrin von all diesem hier sein sollen.« Sie schwieg wieder und starrte in das glühende Feuer. »Haben Sie die gezeichneten Karten noch?«, fragte William sie. »Die Ihr Großvater vom Haus gemacht hat?« Meg sah ihn an, als wäre sie nicht nur überrascht über seine Frage, sondern auch darüber, dass er überhaupt da war, so sehr war sie in Gedanken versunken. »Was meinst du, Herzchen?«, fragte sie. »Haben Sie seine Karten noch?« »Ja und nein«, antwortete sie. »Ich habe sie mit dem ganzen anderen Zeug verbrannt – ich habe verkauft, was ich konnte, und den Rest verbrannt. Aber man kann Erinnerungen nicht verbrennen, nicht wahr?« Sie tippte sich an die Stirn. »Ich habe sie alle hier drin«, sagte sie. »Sicher verpackt. Niemand wird sie aus mir herausholen. Niemals. Sie haben ihn zerstört und ich will nicht, dass das jemand anderem passiert. Dann wäre ich dafür verantwortlich.« »Wissen Sie was über den Raum oben im Kamin?«, flüsterte Alice. »Ich sage dir«, flüsterte Meg zurück. »Ich weiß alles.« »Und Sie waren noch nie hier?«, fragte Mary. »Nicht in Fleisch und Blut. Aber in meinen Gedanken bin ich fast jeden Tag hier. Der Geist kann schneller reisen als der Körper. Ich sitze im Baumhaus und starre auf diesen Ort. Ich freue mich, dass hier wieder Kinder leben. Das Haus braucht Gelächter und Wärme. Es war ein trauriges Haus, als die Crawdens hier lebten. Er war ein furchtbar grausamer Mann. Er vertrieb meinen Großvater und meine Großmutter wegen einer Geldschuld, obwohl er schon mehr als genug besaß. Mein Vater war damals zwei Jahre alt. Aber sie mussten raus und nahmen ihn – ein kleines Baby – mit in eine ärmliche, verfallene Hütte mitten im Wald. Harte Zeiten. Aber manchmal muss man nur lange genug warten. Schließlich stand das Haus leer, nachdem die alte Miss Grawden gestorben war, und wir beide blieben als Einzige im Tal übrig – das Haus und ich. Ich habe Tag für Tag beo-
bachtet, wie es langsam verfiel. Das hatte sich unsere Familie gewünscht, wisst ihr, dass es Golden House eines Tages nicht mehr geben und er seine Macht… verlieren würde.« »Welche Macht?«, flüsterte William. Die Kinder hörten Meg mit weit aufgerissenen Augen zu. »Ich denke, ihr wisst ziemlich genau, worüber ich spreche«, sagte Meg und sah sie an. »Der Magier ist eigentlich nicht wirklich böse«, sagte Alice. »Das ist er sicher nicht. Er ist nur… manchmal ein bisschen streng und wird wütend, wenn wir die falschen Fragen stellen.« »Er hat meinen Großvater zerstört«, sagte Meg bitter. »Ich glaube…«, sagte William und versuchte angestrengt sich zu erinnern. »Ich glaube, wir haben das alles in einem Buch gelesen, das Onkel Jack an Weihnachten mitgebracht hat. Er hatte es von einer Frau im Museum geliehen. Hieß ihr Großvater Jonas Lewis?« Meg nickte. »Dann hat er das Buch geschrieben…« »Ich kenne das Buch«, sagte sie kurz angebunden. »Es hat uns einmal gehört, aber ich habe es verkauft. Ich brauchte das Geld, um Mutter und mich am Leben zu halten, und wozu sollten wir ein Buch voll von Großvaters verfluchten Zeichnungen aufheben? Wir hatten schon seit Jahren genug davon…« »Also, wenn Sie das Buch gelesen haben, dann wissen sie es wohl… Er hatte Gold für sich selbst gemacht, deshalb war der Magier so ärgerlich…« »Ja, ich erinnere mich«, sagte Meg nach einer Weile. »Ich erinnere mich an die Geschichte. Aber – vorausgesetzt, sie ist wahr – wäre es denn so ein großes Verbrechen gewesen? Er hatte jeden Penny für die verwünschten Experimente verbraucht. Jeden Penny. Musste er so grausam für seine Tat bestraft werden? War es das Ziel, Gold herzustellen? Der arme Mann, hatte er nicht schon genug gelitten? Konnte man ihm nicht vergeben…?« Die Kinder fühlten sich unbehaglich und wussten nichts zu sagen. Dann schüttelte Meg den Kopf und wechselte das Thema. »Jetzt wohnt also ein junger Mann mit seiner Frau in Golden House und mit seiner kleinen Tochter und seinem Neffen und seinen Nichten… und das Haus lebt wieder. Es ist wieder mit Leben erfüllt… und zum allerersten Mal habe ich es betreten…« Sie schauderte, als ob ihr kalt wäre, und rückte näher an das offene Feuer. Als Phoebe zurückkam, nachdem sie sich umgezogen hatte, fand sie die Kinder und Meg schweigend vor dem Herd.
»Jack kommt gleich«, sagte sie und holte Milch aus der Vorratskammer. Einen Augenblick später betrat er mit Stephanie auf dem Arm den Raum. »Tut mir Leid«, sagte er und legte das Baby in sein Bettchen. »Sie brauchte neue Windeln. Und da bin ich ein absoluter Fachmann!« Phoebe machte heißen Kakao für alle. Meg wollte gerne wieder gehen, aber sie konnten sie überreden zu bleiben. »Wir wollen alles über die Dachstreiber wissen«, sagte Phoebe und schnitt große Stücke Kirschkuchen ab. Also erzählte Meg Jack und Phoebe alles, was sie wusste, bis hin zu der neusten Katastrophe. »Es würde mich nicht wundern, wenn die Dachse, die das überlebt haben, zugrunde gehen«, sagte Meg. »Heute Nacht werde ich es herausfinden.« »Sie gehen wirklich heute Nacht wieder dahin?«, fragte Phoebe. »Zum Dachsbau?«, fragte Meg überrascht. »Aber natürlich tue ich das. Es ist mein Zuhause. Und deshalb muss ich auch dorthin, meine Liebe«, fuhr sie fort. »Ich habe sie im Stich gelassen. Das muss ich wieder gutmachen. Zumindest an denen, die überlebt haben.« »Wohin haben sie die anderen Dachse wohl gebracht?«, fragte Jack. »Haben Sie eine Idee?« Meg zuckte mit den Schultern. »Das ist das Problem, mein Lieber. Sie könnten überall sein«, antwortete sie. »Diese Leute reisen für ein Treffen quer durchs Land. Sie kommen aus Wales und den Midlands, aus Somerset und aus dem Norden. Sie sind clever, wissen Sie. Was sie tun, ist kriminell, also treffen sie sich immer woanders, damit die Polizei sie nicht schnappt. Das weiß ich von einem Freund. Hier in dieser Gegend ist in letzter Zeit viel gegraben worden. Er lebt drüben in der Nähe von Oxford und hat mich Anfang der Woche besucht, hat mir alles erzählt. Ich habe ihn zu meinem Dachsbau mitgenommen.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn gegraben wird, dann heißt das normalerweise, sie sammeln Dachse für ein Treffen.« »Das ist grausam!«, brauste Phoebe auf. »Was für Leute tun so was? Wer sind sie?« »Offensichtlich baut gerade einer von ihnen Golden House für Sie um«, erwiderte Meg ohne ihren Abscheu zu verbergen. »Was?«, rief Jack. Also mussten die Kinder erzählen, was sie herausgefunden hatten.
»Fang?«, rief Jack aus, als sie zu diesem Teil der Geschichte kamen. »Ich bin sicher, dass Kevs Hund nicht Fang heißt!« »Wie heißt er denn sonst?«, wollte Alice wissen. »Ich glaube, ich habe noch nie gehört, wie Kev nach ihm ruft«, sagte Jack verblüfft. »Ich gebe zu, dass er gefährlich aussieht und dass ich froh bin, weil er immer angeleint ist, aber Kev ist mit Sicherheit kein Treiber. Er ist nur… na ja, er ist ein bisschen grob, aber ich komme ganz gut mit ihm zurecht.« »Du kommst mit jedem gut zurecht!«, rief Phoebe aus. »Diese Leute verhalten sich unauffällig, Mr. Green«, sagte Meg. »Wahrscheinlich sehen sie für ihre Nachbarn völlig normal aus.« »Wie auch immer«, unterbrach William sie, »wer sonst könnte diese Nachricht mit Fang im Keller geschrieben haben?« »Und auch oben im Geheimzimmer«, sagte Alice und die Worte waren draußen, bevor sie sich bremsen konnte. »Geheimzimmer?«, sagte Phoebe und sah sie an. Alice wurde rot und ließ den Kopf hängen. »Was für ein Geheimzimmer?«, wollte Jack wissen. »Was soll das alles? William? Jetzt kannst du uns das eigentlich auch noch erzählen.« »Es gibt ein Zimmer oben unter dem Dach neben meinem«, murmelte William. »Oh«, lachte Jack. »Das kennen wir! Der verschlossene Dachraum über dem neuen Flügel? Wahrscheinlich hat derjenige, der damals Golden House umbauen ließ, entschieden, dass er genug Dachzimmer hatte und nicht noch ein weiteres brauchte. Aber du hast Recht, Kev hat das Zimmer entdeckt, als er auf dem Dach gearbeitet hat. Wir wollen es mit einer Tür von deinem Zimmer aus zugänglich machen, William. Es gibt keine andere Möglichkeit.« Die Kinder sahen sich verstohlen an. »Oder etwa doch?«, fügte Jack hinzu, der die Blicke bemerkt hatte. »Lassen Sie das Zimmer in Ruhe«, unterbrach Meg ihn. »Was wissen Sie darüber?«, fragte Jack. »Ich weiß, dass mein Großvater dieses Zimmer fürchtete. ›Dach und Keller des Hauses‹, das hat er immer gesagt, ›da kommt das Böse her. Dach und Keller.‹ Und dennoch – während der ganzen Zeit, in der er von diesem Ort vertrieben war, arbeitete er Tag und Nacht nur an diesen kleinen Zeichnungen. Ich glaube, er bedauerte so sehr, was passiert war, dass er darüber den Verstand verloren hat. Armer Mann!«
Phoebe ging zu der alten Frau und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Seien Sie nicht traurig«, sagte sie. Als sie sich vorbeugte, blinkte der Anhänger an ihrer Halskette im Licht des Feuers. Meg sah ihn zum ersten Mal und wich vor Phoebe zurück. »Woher haben Sie diese Kette?«, fragte sie. Phoebe fühlte überrascht nach ihrem kleinen Talisman an seiner Goldkette. »Jack hat ihn hier gefunden. Er hat ihn gereinigt und mir letzte Weihnachten geschenkt.« Die goldene Sonne und der silberne Mond glänzten in ihrem Rahmen aus mattem, rotem Metall. »Ich mag ihn, ich trage ihn immer.« »Er ist sehr schön«, sagte Meg mürrisch. »Und doch…« »Was?« »Er erinnert mich…« Meg schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Zu viele Erinnerungen. Deshalb mag ich es draußen – in den Wäldern, in der wirklichen Welt. Deshalb liebe ich meine Dachse. Sie haben keine Zeit für Fantasien, für Erinnerungen. Sie zeigen mir eine andere Lebensart. Eine leichtere? Vielleicht. Eine ehrlichere? Mit Sicherheit! Und dann kommen diese Männer… und zerstören all das… aus Spaß?« Sie schüttelte den Kopf und kämpfte mit den Tränen. »Und wir glauben, dass Kev einer dieser Männer ist«, sagte Jack nachdenklich. »Was hält mich dann davon ab, jetzt sofort zu ihm zu gehen? Wenn sie, wie Sie sagen, Meg, Dachse wegen ihres schrecklichen Sports gefangen haben, dann müssen sie sie ja irgendwo verstecken. Wenn ich einen der Männer mit einem Dachs erwischen könnte…« »Sie behalten sie nicht lange«, unterbrach Meg ihn. »Sie werden das Treffen wohl… heute Nacht haben. Samstagnacht. Dann tun sie es normalerweise. Aber wo? Das ist die Frage. Wo werden sie dieses verfluchte Treffen abhalten?« In dem Moment sprang die Hintertür auf und ließ einen Schwall kalter, feuchter Abendluft herein. Die Menschen um das Herdfeuer drehten sich erschreckt über die plötzliche Störung um. In der Türöffnung stand die verdreckte und fast nicht wiederzuerkennende Gestalt eines Hundes. Sein Fell war klatschnass und voller Schlamm. Dunkel verfilzte Blutflecken waren an seiner Kehle und auf seinen Schultern. Seine Augen blickten wild und er knurrte böse. »Spot?«, flüsterte Alice und machte einen Schritt auf ihn zu.
»Spot…? O Spot, was ist mit dir passiert?« Sie lief mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Der Hund humpelte ein paar Schritte in den Raum und sah Alice bittend an. Er zitterte vor Müdigkeit und blutete immer noch aus mehreren Wunden. Und dann brach er mit einem jämmerlichen Seufzer vor ihren Füßen zusammen. »Spot, ach Spot!«, rief Alice und kniete sich neben ihn. »Lieber Spot… Bitte«, schluchzte sie, »kann jemand ihm helfen?« Meg stand auf und lief zu ihm. Phoebe kniete sich neben Alice und drückte sie fest an sich. »Was sollen wir tun?«, fragte Jack und überließ Meg sofort das Kommando. »Ein Hundekampf, so wie es aussieht«, sagte Meg, die den Körper untersuchte. »Das sieht meinem Gypsy gar nicht ähnlich und euerem Spot auch nicht.« Sie streichelte sanft den Kopf des Hundes. »Ich brauche warmes Wasser und ein bisschen Salz, um die Wunden zu reinigen«, sagte sie kurz angebunden. »Und du, Alice, du musst dich neben ihn setzen, während ich das Fell wegschneide, damit ich die Verletzungen sehen kann.« Alice nickte und legte ihre Hand auf den Hundekopf. Spot bewegte sich leicht und leckte ihr über den Arm. »Siehst du«, sagte Meg. »Er ist ganz tapfer.«
23 Jasper und Cinnabar Meg verarztete den Hund, so gut sie konnte. Er hatte mehrere tiefe Schnitte auf Schultern und Rücken - »Von Krallen, vermute ich«, murmelte sie vor sich hin, als sie die Wunden sanft mit Salzwasser auswusch – und eine viel schlimmere Stelle am Hals, wo Fell und Fleisch weggerissen waren und eine offene Wunde klaffte. »Ihr solltet ihn morgen früh zum Tierarzt bringen, wenn dieser Biss irgendwie entzündet aussieht«, fügte sie hinzu. Dann nahm sie Spots Kopf in die Hände und blickte ihm liebevoll in die Augen. »Es war wohl ein schlimmer Kampf, alter Gypsy. Worum ging es denn nur?« Jack wollte inzwischen aufbrechen. »Ich möchte Kev erreichen, bevor er aus dem Haus geht. Wenn Sie Recht haben und das Treffen ist heute Nacht, dann könnte es jetzt bereits zu spät sein. Er ist vielleicht schon unterwegs und wir wissen nicht mal, wohin. Wo findet dieses schreckliche Treffen nur statt? Es könnte überall sein.« »Das stimmt«, sagte Meg und zog sich ihren Regenmantel an. »Es kann aber auch genau hier vor unserer Nase sein. Ich wünschte, der Hund könnte reden. Er hätte bestimmt einiges zu erzählen.« Alice rückte näher an Spot heran und legte ihm eine Hand auf den Kopf. Sie wollte sich von ihm trösten lassen und gleichzeitig ihn trösten. Sie fühlte sich plötzlich schrecklich schuldig. Wenn sie sich nur nicht mit dem Magier gestritten hätte, dachte sie, dann könnte sie mit Spot reden und er könnte ihr genau erzählen, was passiert war. »Ach!«, rief sie in Gedanken. »Wie dumm von mir!« Und der Hund stieß einen langen, zittrigen, müden Seufzer aus und streckte sich schmerzhaft. »Kann ich mit dir kommen, Onkel Jack?«, fragte William. »Nein, besser nicht. Es wird vielleicht ein bisschen ungemütlich.« »Oh Jack, sei vorsichtig«, bat Phoebe. »Du bist kein Schläger…« »Was soll ich denn sonst machen? Die Augen verschließen und die Dachse töten lassen?« Phoebe schüttelte schweigend den Kopf. »Gehen Sie zuerst zu Bob Parker auf die Polizeiwache«, riet Meg. »Es gibt nichts Besseres zur Abschreckung als eine Polizeiuniform.«
»Du musst mich mitnehmen, Onkel Jack«, bat William. »Ich weiß mehr darüber als du. Ich kann dir helfen. Bitte.« »Dann komm«, sagte Jack nach kurzem Nachdenken. »Kommst du allein zurecht?«, fügte er an Phoebe gewandt hinzu. »Ja, natürlich. Beeil dich«, drängte sie ihn. »Wenn Sie mich am Ende des Weges rauslassen«, sagte Meg, als sie zur Küchentür gingen, »gehe ich zurück zu den Tieren. Wenn ich die Kühe gemolken und die Hunde und Katzen gefüttert habe, mache ich mich auf den Weg zum Dachsbau.« »Ich mag gar nicht daran denken, dass Sie dahin zurückwollen«, sagte Phoebe, als sie in den Hof traten. »Die kommen nicht mehr«, versicherte Meg. »Die haben das Schlimmste schon erledigt. Aber ich muss wissen, wie viele sie mitgenommen haben und wie es den Kleinen geht.« »Darf ich Meg begleiten?«, fragte Mary. »Also, ich weiß nicht. Was denkst du, Jack?« »Ich passe auf sie auf«, sagte Meg. »Und sie könnte mir helfen…« »Ja, in Ordnung. Aber – kommt jetzt«, drängte Jack. Er sah zum dunkler werdenden Himmel hinauf. »Ich weiß nicht, wie wir sie finden sollen, wenn es erst mal dunkel ist.« Alice saß inzwischen in der Küche neben Spots Korb, der seine Pfoten leckte und hechelte, als ob er ein Rennen gelaufen sei. »Spot«, flüsterte sie wieder kläglich. »Es ist alles meine Schuld. Wenn ich nur nicht die Nerven verloren hätte. Wir brauchten jetzt ein bisschen Magie… und es geht nicht.« Sie hörten, wie der Landrover startete und aus dem Hof fuhr, und einen Augenblick später kam Phoebe zurück in die Küche. »Wo ist Mary?«, fragte Alice. »Sie ist mit Meg gegangen«, antwortete Phoebe. Sie ging zu dem Bettchen neben dem Feuer und sah auf Stephanie hinunter. »Sie schläft fest«, sagte sie, »als hätte sie überhaupt keine Sorgen. Ach Alice, ist das Ganze nicht schrecklich?« Und zu Alices Verwunderung legte sie eine Hand auf den Mund, drehte sich um und fing an zu weinen. »Ich glaube, es ist alles unsere Schuld«, sagte sie. »Es ist einer unserer Arbeiter, der daran beteiligt ist. Er wusste vielleicht nicht mal, dass es Golden Valley überhaupt gibt, bis wir ihn hierher geholt haben. Ich wusste, dass er nichts taugt. Ich wusste es…« Sie schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken über die Au-
gen. »Ich glaube, es ist mein Fehler«, sagte Alice leise. »Natürlich nicht«, sagte Phoebe und putzte sich die Nase. »Jetzt sieh uns beide mal an!«, lächelte sie. »Echte Jammerlappen.« Sie ging zum Fenster und sah in den Hof hinaus. Der Abend war drückend und der Himmel bewölkt. Die Dämmerung legte sich über Golden Valley. »Mir ist gerade was eingefallen«, sagte sie immer noch mit dem Rücken zu Alice. »Wie konntet ihr vom Dachzimmer über dem neuen Flügel wissen? Es führt kein Weg dorthin. Kev konnte es nur entdecken, weil er das Dach repariert hat. Woher kennt ihr es, Alice?« Alice zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht«, murmelte sie. »Ist es ein Geheimnis?«, fragte Phoebe und blickte sie an. Alice zuckte wieder mit den Schultern. Phoebe runzelte die Stirn und ging zum Herdfeuer, um ihre Hände darüber zu wärmen. »Wart ihr da oben?«, fragte sie. Immer noch schwieg Alice. »Möchtest du es mir nicht sagen?« Alice schüttelte den Kopf. »Alice!«, seufzte Phoebe. »Ich möchte doch nur, dass wir Freunde sind. Warum willst du das nicht? Es kann doch nicht nur daran liegen, dass ich Vegetarierin bin! Willst du etwa behaupten, du würdest mich mögen, wenn ich dich die ganze Zeit mit Würstchen voll stopfte? Das ist doch albern! Möchtest du jetzt etwas zu essen? Nun sag doch was, Alice!«, rief sie die letzten Worte laut, dann schüttelte sie wieder den Kopf. »Da, nun hab ich die Beherrschung verloren. Tut mir Leid«, sagte sie, nahm Stephanie aus ihrem Bettchen und ging mit ihr aus der Tür in die Halle. »Ich werde Stephanie jetzt baden. Willst du mitkommen?«, fragte sie. Alice schüttelte den Kopf. »Ich bleibe bei Spot«, sagte sie mit leiser Stimme. Als sie Phoebe ansah, die in der Tür stand, merkte sie, wie traurig sie aussah. »Also ich mag das Essen wirklich, was du kochst, Phoebe«, fügte sie hinzu. »Und mir macht es nichts aus, kein Fleisch zu essen. Ehrlich nicht. Es ist nur, weil wir nicht daran gewöhnt sind, und überhaupt fühle ich mich so schlecht, weil… es alles mein Fehler ist, was mit den Dachsen passiert. Ich weiß es. Ich habe nämlich«, und sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme beim Sprechen zitterte, »ich habe auch die Beherrschung verloren, genau wie du… Nur diesmal ist es wirklich ernst, weil es mit…« Aber sie
schüttelte den Kopf. Die Zeit war noch nicht gekommen, um Phoebe die Sache mit dem Magier zu erklären. Sie seufzte. »Weißt du«, fuhr sie flüsternd fort, »normalerweise kann ich mit Spot sprechen… Ich weiß, dass sich das verrückt anhört, aber es stimmt. Es ist nicht wirklich Magie, es passiert einfach nur… nur jetzt kann ich es nicht mehr. Und wenn ich es noch könnte, dann würde er uns genau sagen, wohin Kev die Dachse gebracht hat… und wir könnten sie retten…« Die Tränen, die sie zurückgehalten hatte, begannen jetzt zu fließen und sie konnte vor lauter Schluchzen nicht mehr sprechen. Phoebe legte Stephanie schnell wieder in ihr Bettchen. Dann kniete sie sich vor Alice auf den Boden und nahm sie in die Arme. »Nicht weinen«, sagte sie sanft zu ihr. »Bitte nicht weinen, Alice. Es ist nicht deine Schuld. In Wirklichkeit sind deine Tränen genauso wichtig für die Dachse… weil sie zeigen, dass du dir echte Sorgen machst.« »Nein!«, schluchzte Alice. »Das ist aber nicht genug. Wir müssen ihnen helfen.« »Aber das versucht Jack doch gerade – und William und Meg und Mary – genau jetzt in diesem Augenblick. Wir alle versuchen ihnen zu helfen.« Als Phoebe Alice festhielt und ihr die Tränen von den Wangen wischte, kam Spot aus seinem Korb, setzte sich vor die beiden und blickte Alice aufmerksam ins Gesicht. »Sieh dir Spot an«, sagte Phoebe, »er kann es nicht ertragen, dass du unglücklich bist.« »Spot!«, seufzte Alice und dann, als sie ihn ansah, erinnerte sie sich plötzlich an die Worte des Magiers, als sie ihn allein im Geheimzimmer getroffen hatte: »Sei einfach still… Kämpf nicht dagegen an, Alice… widerstehe nicht… benutze einfach… deine Fantasie…« Und als sie sich daran erinnerte, ruhten für einen Moment ihre Gedanken. »Das ist besser«, wisperte Spot in ihrem Kopf. Alice holte tief Luft und sah schnell Phoebe an, ob sie die Worte auch gehört hatte. Aber das hatte sie offensichtlich nicht, denn sie wiegte Alice einfach weiter in ihren Armen und sagte: »Komm und hilf mir Stephanie zu baden«, und dann drückte sie Alice noch einmal fest. Alice schüttelte den Kopf und dann gab sie, was sogar sie selbst überraschte, Phoebe einen Kuss auf die Wange. »Mir geht’s jetzt wieder gut. Ich bleibe hier bei Spot.«
»Sicher?«, fragte Phoebe, und als Alice nickte, stand sie auf und nahm Stephanie wieder auf den Arm. »Und Phoebe…«, rief Alice. »Wenn ich was falsch mache, dann bist du nicht böse auf mich, oder? Ich meine…« »Alice!«, unterbrach Phoebe sie. »Ich will nie böse sein. Ich hasse es genauso wie du, wenn es passiert. Aber versuch mich zu verstehen – dies hier ist auch seltsam für mich, weißt du? Ich bin nicht daran gewöhnt, mit Kindern umzugehen. Oder mit diesem kleinen Energiebündel!« Sie hob Stephanie hoch und gab ihr einen Kuss. »Wenn ich böse bin, dann eigentlich meistens nur mit mir selbst – und hinterher fühle ich mich schrecklich und wünschte, ich hätte nie gesagt oder getan, was immer ich gesagt oder getan habe! Also, wenn ich nächstes Mal böse mit dir bin… wenn es ein nächstes Mal gibt… dann verzeih mir bitte!« Dann ging sie zur Tür, aber bevor sie ging, drehte sie sich noch einmal um. »Sind wir Freunde?«, fragte sie. Alice nickte lächelnd, aber sie war ziemlich erleichtert, als Phoebe endlich aus dem Raum ging. »Oooh!«, wisperte sie, »sie redet und redet. Wirklich, ich verstehe nicht, warum wir uns so lange aneinander gewöhnen müssen. Mama findet uns alle ganz unproblematisch…« »Schhhh!«, zischte Spot. Also schüttelte Alice ihren Kopf, als ob sie ihre Gedanken vertreiben wollte, kniete sich dann auf den Boden und starrte den Hund an. Spot stand langsam auf. Er ging hinüber zu seinem Napf und schlabberte ein bisschen Wasser, dann schnüffelte er mit langsam wedelndem Schwanz um den Napf herum nach Futterresten. Als er sich überzeugt hatte, dass er keinen Krümel übrig gelassen hatte, setzte er sich hin und kratzte sich hinter dem Ohr. Dabei zuckte er zusammen. Er drehte den Kopf und leckte eine der Wunden an seiner Seite. Dann wurde er auf etwas aufmerksam, vielleicht auf ein Geräusch, das Alice nicht hören konnte. Er blickte zum Fenster. Er stand auf, den Kopf leicht auf die Seite gelegt, und lauschte. Er ging zur Hintertür und schnüffelte durch den Spalt zwischen Tür und Steinboden. »Was ist los?«, fragte Alice und ging zu ihm. Der Hund sah zu ihr hoch, als sie den Riegel öffnete. Kühle, feuchte Luft drang in den Raum. Alice fröstelte und nahm sich ihren Anorak von einem der Haken neben der Tür. Sie ging in die Dämmerung und zog den Anorak über. Spot folgte ihr, schnupperte in die Luft und lauschte immer noch angestrengt.
Eine Eule schrie irgendwo in der Nähe. »Jasper!«, wisperte Spots Stimme in Alices Kopf. Dann durchdrang das scharfe, überraschende Bellen eines Fuchses die Abendstille. Es kam vom Hang oben aus den Bäumen hinter dem Küchengarten. »Und Cinnabar!«, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf wieder. Alice sah auf Spot herunter. Er stand neben ihr, eine Pfote in der Luft, den Kopf auf die Seite gelegt, die Ohren aufgestellt. Sie konnte die angespannte Aufmerksamkeit spüren, mit der er die Geräusche und Gerüche des Waldes aufnahm. Ihre Nase fing an zu zucken, als sie den Geruch von Tannennadeln und feuchter Erde witterte. Wieder schrie die Eule und der Fuchs bellte. Dann merkte sie, dass noch mehr Vögel sangen. Überall piepste, tschilpte und pfiff es, lang gezogene Flötentöne und kurzes Gezwitscher erfüllten die fernen Bäume mit einer Art Musik. Es war, als ob der ganze Wald nach ihr rufen und an ihr zerren würde. »Komm!«, sagte Spot aufgeregt. Und Alice spürte die Kälte durch ihre Pfote, als sie sie wieder auf den Boden setzte. Sie schüttelte den Kopf und schnupperte erneut in die feuchte, duftende Luft. Dann sprangen Spot und sie über den Hof zum Gartentor, drückten es auf und rannten am Taubenschlag vorbei den mittleren Weg hinunter. Jasper, die Eule, stieß von einem der obersten Fensterbretter herab und flog voraus zum Tor Richtung Wald. Das Tor war nicht verschlossen und schwang im starken Wind hin und her. Spot und Alice warteten, bis die Lücke breit genug war, und bahnten sich dann einen Weg in den dunklen, vom Wind gepeitschten Wald dahinter. Aus dem Unterholz tauchte Cinnabar, der Fuchs, auf und trottete auf sie zu. »Wo sind die anderen?«, fragte er. »Der Junge ist nicht ein einziges Mal zu mir gekommen.« »Und ich habe auf das Mädchen gewartet«, schrie die Eule. »Kümmert euch jetzt nicht darum«, sagte Spot zu ihnen. »Wir müssen sie finden und sie warnen. Die Dachse sind zum BlackscarSteinbruch gebracht worden.« Die Eule schrie traurig und das rote Fell auf Cinnabars Nacken sträubte sich. »Blackscar!«, sagte er. »Cinnabar«, grollte Spot, »der Junge ist mit dem Mann in die Stadt gefahren, um Hilfe zu holen. Warte auf sie an der Straße zum Moor. Du musst sie nach Blackscar führen. Und Jasper, das Mäd-
chen geht mit Meg zum Dachsbau. Du wirst sie da finden.« »Wohin wirst du gehen, Hund?«, schrie die Eule. »Wir gehen sofort nach Blackscar«, grollte Spot. »Auf welchem Weg?«, bellte der Fuchs. »Auf dem schnellsten«, antwortete Spot ohne zu zögern. »Dem schnellsten?«, schrie Jasper. »Ihr nehmt den Dunklen und Schrecklichen Weg?«, wisperte Cinnabar. »Wenn wir müssen«, antwortete Alice – und überraschte sich selbst mit der Antwort. »Weißt du, wie furchtbar dieser Ort ist?«, fragte Cinnabar. »Wenn die Jäger kommen, sterben dort meine Verwandten.« »Und meine sind da erschossen worden – mit Schleudern und Katapulten und Luftgewehren und Flinten«, schrie Jasper. »Der Weg ist von Menschen gemacht«, sagte Spot grimmig, als ob das alles erklären würde. »Aber ist es der schnellste Weg für uns, um zu den Dachsen zu kommen, Spot?«, fragte Alice. »Der einzige Weg«, wisperte der Hund in ihrem Kopf. »Dann müssen wir gehen«, sagte Alice und sprang ohne zu zögern mit Spot in großen Sätzen fort. Während sie in der Düsterkeit des Waldes verschwanden, segelte die Eule mit und kreiste dann einmal zum Abschied über ihnen. Der Fuchs schoss davon, um die Gartenmauer herum zur Einfahrt und dann den Weg hinunter zur Straße Richtung Moor. »Auf Wiedersehen«, rief Jasper und flog in die Nacht. »Auf Wiedersehen«, bellte Cinnabar, als er den Waldweg verließ. »Kommt bald«, jaulten Spot und Alice auf dem steilen Abhang über dem Tal.
24 Der Dunkle und Schreckliche Weg Die Nacht war dunkel, und obwohl es zu regnen aufgehört hatte, war die Luft immer noch feucht und kalt. Nebelschwaden wanden sich um die Baumstämme, und die Wassertropfen auf den Gräsern und Farnen durchnässten Spots Fell, als sie daran vorbeistreiften. Jede Wunde an seinem Körper schmerzte und er war so müde, dass seine Beine bei jedem Schritt zitterten. »Bitte«, wisperte Alice, »wir müssen anhalten.« Aber Spot schüttelte den Kopf. »Geht nicht«, keuchte er, »keine Zeit.« »Sprich nicht«, flüsterte Alice und dann schrie sie auf, als eine Brombeerranke an seinem Körper entlangkratzte und an der Wunde am Hals riss. »Oh, das ist ja schrecklich, Spot«, schluchzte sie. »Ich wünschte, ich wäre zu Hause oder… vielleicht könnten wir uns eine Zeit lang trennen? Unser Körper tut so weh und ich halte das fast nicht aus.« Aber kaum hatte sie das gesagt, da schämte sie sich. »Es tut mir Leid. Das war gemein von mir. Wenn du leiden musst, dann werde ich das auch. Nur wünschte ich, wir wären beide zu Hause. Ich meine… ich wünschte, das alles würde nicht passieren und wir müssten nicht hier sein. Ich wünschte…« »Denk nicht so viel«, seufzte Spot in ihrem Kopf. »Wir müssen unsere Kräfte für den Kampf sparen.« »Kampf?«, wisperte Alice sofort ängstlich. »Ja, was glaubst du denn, was wir hier tun? Nach Blackscar gehen und nur ein bisschen… reden? Die Hunde freundlich fragen, ob es ihnen was ausmachen würde, mit dem Dachstöten aufzuhören?« »Wahrscheinlich nicht«, sagte sie und spürte Angst aufsteigen. »Ich hatte mir noch gar nicht überlegt, was wir tun, wenn wir da sind. Wie viele Hunde sind es?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Spot grimmig. »Fünf? Zehn? Vielleicht mehr. Wenn die Männer von weither kommen, dann könnten es sehr viel mehr sein.« »Mehr als zehn?«, rief Alice aus. »Wir können nicht gegen zehn Männer und ihre Hunde kämpfen, Spot. Nur wir beide, ganz allein!«
»Und bestimmt nicht, wenn es noch mehr wie Fang gibt«, ächzte Spot. »Hat Fang dich so verletzt?«, fragte sie und stöhnte vor Schmerz, als ein Muskel am Vorderbein sich zusammenzog und dabei wieder eine Wunde aufriss. Spot winselte. »Ja, es war Fang«, antwortete er. »Dieser Hund und ich haben nur darauf gewartet, aufeinander loszugehen, seitdem er das erste Mal ins Haus gekommen ist. Als sie die Dachse mitgenommen haben…« »Wie viele?«, fragte Alice. »Wie viele haben sie mitgenommen?« »Vier. Sie haben die Kleinen zurückgelassen und die alte Dächsin – Betty. Sie haben Bawson und Grey und Trish und Stella…« »Stella? Sie ist Candys Mutter«, dachte Alice und erinnerte sich an den kleinen Dachs, der auf ihrem Schoß eingeschlafen war. »Was ist mit den anderen passiert – die sie zurückgelassen haben?« Spot seufzte. »Sie wurden vertrieben. Drei Hunde waren letzte Nacht da. Ich habe mit allen gekämpft. Das gab den Kleinen wenigstens eine Chance, sich zu verstecken. Ich weiß nicht, was mit ihnen passiert ist. Ich bin den Männern gefolgt. Dann hat Fang meine Spur aufgenommen. Sein Herr – der Arbeiter…« »Kev«, half Alice ihm weiter. »Er… er hat Fang auf mich gehetzt.« »Wie?«, fragte Alice entsetzt. »Er sagte… ›Los, Fang! Töte, Fang!‹… Es war wie ein Befehl. Der Hund war wie ein… na ja, nicht wie ein Hund. Ich habe versucht mit ihm zu kämpfen… aber ich habe noch nie eine solche Wut erlebt.« »Wut?«, flüsterte Alice. »Ja. Er ist so abgerichtet worden. Von diesem Mann, glaube ich. Vielleicht ist er tief im Inneren wütend auf ihn… Oder auf sich. Wie auch immer, wenn sein Herr ihm den Befehl gibt zu töten, dann muss er es tun. Und die ganze Zeit haben die drei Männer ihre Taschenlampen auf uns gehalten und… gelacht.« Spot seufzte bei der Erinnerung und sein ganzer Körper bebte. »Ich konnte bloß entkommen, weil ich einen Trick kenne – sonst hätte er mich getötet.« »Welchen Trick?«, fragte Alice. »Der Magier hat ihn mir beigebracht«, antwortete Spot. Als er den Magier erwähnte, setzte Alices Herz einen Schlag aus. »O bitte, Mr. Tyler – helfen Sie uns«, rief sie. »Er kann nicht. Er hat andere Dinge zu tun.«
»Was für ein Trick ist das?« »Wenn du kämpfen musst, hat er zu mir gesagt, und es läuft schlecht, dann wehre dich nicht. Tu das Gegenteil… gib nach. Entspann dich…« »Aber – wenn du nachgibst«, protestierte Alice, »dann gibst du auf. Dann verlierst du.« »Nein«, antwortete Spot, als ob das, was er ihr da erzählte, auch ihn verwirrte. »Genau das Gegenteil passiert. Der Hund greift dich an – und da ist nichts zum Angreifen. Dann kannst du verschwinden. Wenn du schnell bist.« Alice war einen Moment lang verblüfft. »Aber kann das gehen?«, fragte sie. »Denk mal nach«, sagte Spot. »Wenn jemand dich schlagen will und du entspannst dich, dann geht der Schlag einfach durch dich hindurch, oder?« »Aber er tut immer noch weh.« »Nein, nicht wirklich, nicht wenn du es richtig kannst.« »Du meinst, wenn man sich wegduckt?« »Ja, das gehört auch dazu. Er sagte nur – der Magier – er sagte nur: ›Wehr dich nicht.‹ Also habe ich das auch nicht getan… und für einen Moment hatte Fang nichts, wogegen er kämpfen konnte, und ich konnte wegschleichen. Aber wenn sein Herr ihn nicht zu sich befohlen hätte, dann wäre es mir trotzdem schlecht ergangen.« Alice dachte, dass es ihm auch so schon schlecht genug ging. Sie merkte, wie seine Kräfte nachließen. Er wurde langsamer, sein Atem schwerer. Er zog die Pfoten über den weichen Waldboden und bei jedem Schritt durchzuckte der Schmerz seinen Körper. Als sie schon dachte, sie müsste ihn zwingen stehen zu bleiben, erreichten sie einen breiten Weg, der wie eine Schneise im Wald vor ihnen lag. »Wir sind da«, flüsterte er und Alice sah den Hund auf die Mitte des Weges taumeln und vor ihren Füßen zusammenbrechen. Da merkte sie, dass sie wieder getrennt waren. Es geschah so plötzlich, dass es sie völlig überraschte. Sie blickte sich in der Dunkelheit um und vermisste den besseren Überblick durch Spots Hundeaugen und seine Hundesinne, aber sie war auch befreit von seinen Schmerzen und seiner Schwäche. Stattdessen spürte sie ihre eigene menschliche Furcht. »Wo sind wir?«, fragte sie mit leiser, ängstlicher Stimme. Spot antwortete nicht. Er atmete schwer, keuchte und stöhnte. A-
lice lief schnell zu ihm, kniete sich hin und legte eine Hand auf seinen Kopf. Dann blickte sie sich wieder um. Die Bäume auf beiden Seiten des Weges bildeten schwarze, undurchdringliche Wände. Der Himmel hing voller Wolken, die über einen riesigen, silbernen Mond jagten. Der Wind ächzte und seufzte. Kein Vogel sang. Kein Tier bellte und schrie. So als wären Spot und sie die einzigen Lebewesen auf dieser ganzen windigen, dunklen, bedrohlichen Welt. Sie steckte die Hände unter die Achselhöhlen, damit ihr wärmer wurde. Sie fühlte sich schrecklich allein und ängstlich und dann wusste sie plötzlich angewidert, wo sie waren. »Das ist er, nicht wahr?«, sagte sie. »Das ist der Dunkle und Schreckliche Weg.« Spot antwortete nicht. Alice beugte sich über ihn und spähte durch die Dunkelheit auf sein Gesicht. Seine Augen waren offen, er atmete unregelmäßig. »Spot«, flüsterte sie. »Lieber Spot. Was ist mit dir? Bitte sag es mir. Was geschieht hier?« »Der Dunkle und Schreckliche Weg«, keuchte er, »führt… zum… Tod.« Und er stieß einen Seufzer aus, der wie ein langes, zitterndes Ausatmen klang. Jack fuhr zuerst zur Polizei. Megs Freund Bob Parker hatte keinen Dienst, aber ein anderer Sergeant rief ihn zu Hause an und Jack konnte ihm wenigstens am Telefon das Wenige erzählen, das er wusste. Bob versprach, noch in zwei weiteren Bezirken nachzufragen, ob die Polizei dort Informationen darüber hatte, wo das Treffen stattfinden sollte. »Es ist sowohl eine Straftat, wissen Sie«, sagte Bob, »als auch eines der gemeinsten und unmenschlichsten Verbrechen. Ich will Ihnen gar nicht sagen, was ich am liebsten mit diesen… machen möchte, wenn ich sie erwische. Das wäre dann allerdings auch eine Straftat.« »Ich versuche Kev zu finden«, sagte Jack zu ihm. »Dann sollten wir uns irgendwo treffen.« Nach einigem Hin und Her wurde entschieden, dass sie sich beide auf der Wache meldeten, wenn sie etwas Neues wussten, und dass sie sich wahrscheinlich später träfen. Dann gab Jack dem Dienst habenden Sergeant den Hörer, damit Bob ihm erzählen konnte, worum es ging. Alle Polizisten, die im Umkreis Streife fuhren, sollten die Augen offen halten, auf jede verdächtige Ansammlung von Autos achten oder auf andere Indizien, die auf das Treibertreffen hin-
weisen könnten. Als Nächstes fuhr Jack zu Arthurs Haus, weil das die einzige Adresse war, die er von den Arbeitern hatte. Arthur saß gerade beim Abendbrot und sah sich dabei Billard im Fernsehen an. »Was ist los, Mr. Green?«, fragte er, als seine Frau Jack und William in die kleine Küche führte. Während Jack den Grund ihres Besuches erklärte, kaute Arthur langsam vor sich hin. »Ja, das ist gut möglich, dass Kev mit drinsteckt«, sagte er, als Jack zu Ende berichtet hatte. »Er ist ein richtiger Sportfreak und ein großer Fan vom F. C. Bagdale.« »Das ist kein Sport, Arthur«, unterbrach William ihn. »Es ist schrecklich. Wissen Sie, was die mit den Dachsen machen?« Arthur zog die Nase hoch und blinzelte William kurzsichtig an. »Du magst Dachse, was?«, fragte er. »Ja«, rief William aus. »Na ja«, fügte er hinzu. »Ich habe fast noch nie einen gesehen. Aber ich glaube, es ist einfach nicht richtig, dass Männer ihre bissigen Hunde auf irgendein wildes Tier hetzen. Das kann doch nicht richtig sein, oder?« Arthur zog wieder die Nase hoch und zermatschte eine Kartoffel in der Soße auf seinem Teller. »Also, ich mag Fernsehen. Beim Fernsehen wird man nicht nass. Ein Bauarbeiter geht nicht gerne raus. Das ist dann so wie Arbeit.« Schließlich eröffnete er ihnen, dass Kev erst kürzlich in die Stadt gezogen war und dass er in derselben Straße wie Dan wohnte. »Er kann euch sagen, wo genau. Ich weiß es nicht. Ich halte mich da raus. Nur kein Ärger, das ist mein Motto. Nicht wahr, Mutter?«, sagte er und sah seine Frau an, die heißes Wasser in eine Teekanne schüttete. »Wir bleiben ganz für uns«, stimmte sie schwerfällig zu. Jack schrieb ungeduldig Dans Adresse auf, und nachdem Arthur ihnen den Weg beschrieben hatte, liefen William und er zum Landrover zurück. »Wie konnte er einfach dasitzen… und essen… Die Dachse waren ihm völlig egal…«, beschwerte sich William. »Viele Leute sind so, Will«, sagte Jack zu ihm. Aber Dan gehörte nicht dazu. Sobald er hörte, was sie zu berichten hatten, lief er über die Straße zu Kevs Haus und hämmerte an die Tür. Zuerst blieb es still und sie dachten schon, sie wären zu spät gekommen, aber dann sah eine Frau aus einem der oberen Fenster
und rief, sie sollten verschwinden. »Wir suchen Kev«, rief Dan. »Dann habt ihr ihn verpasst. Der ist schon eine halbe Stunde weg«, antwortete die Frau. »Jetzt haut ab! Ich will weiter fernsehen. Ihr stört mich.« »Hat er gesagt, wohin er geht?«, rief Jack. »Er ist mit diesem verfluchten Hund irgendwo im Wald«, rief sie. »Wenn ihr ihn seht, könnt ihr ihm sagen, er soll sich ’ne Currywurst mitbringen, denn ich liege mit Frankenstein im Bett!« Sie brüllte vor Lachen und warf das Fenster zu. »Er kann überall sein«, sagte Jack düster. »Nein. Kommen Sie«, rief Dan. »Es gibt nicht viele Wege durch den Wald und außerdem hat er kein Auto. Er hat seinen Führerschein verloren, weil er betrunken am Steuer saß…« »Er hat einen Freund, der Ted heißt«, erzählte William. »Wenigstens war der dabei, als wir ihn beim Dachsbau getroffen haben.« »Ted? Ted Jenkins?«, fragte Dan. »Das weiß ich nicht«, sagte William achselzuckend. »Ich wette, er ist es«, sagte Dan. »Der ist sowieso ein Schreihals. Gehört zu der Sorte ›We are the champions!‹ und läuft im T-Shirt der Nationalelf rum. Aber jetzt wissen wir wenigstens, wo wir anfangen sollen. Ted hat einen alten schwarzen Lieferwagen, und wenn wir nach dem suchen, dann finden wir Kev vielleicht auch.« »Aber – wo sollen wir suchen?« »Auf jedem Waldweg, wenn es sein muss«, antwortete Dan. »Ich hasse Grausamkeit. Ich verabscheue sie. Was haben die Tiere solchen Typen wie Kev und Ted Jenkins jemals getan? Es geschähe ihnen recht, wenn die Tiere sich auf sie stürzen würden.« »Ich weiß nicht, wie wir den ganzen Wald absuchen sollen«, sagte Jack bedrückt. »Bob Parker wird uns bestimmt dabei helfen«, schlug William vor. »Wir müssen was tun, Onkel Jack.« Jack fuhr zur Polizeiwache zurück und berichtete, was er herausgefunden hatte. Dann machten sie sich wieder auf den Weg in den Wald. Gerade als Jack mit dem Landrover in die Straße zum Moor einbog, sprang ein Fuchs vor seine Scheinwerfer, so dass er den Wagen über den Randstreifen steuern musste. »Uff! Das war knapp!«, sagte er. »Ich habe ihn gar nicht kommen sehen.«
Aber William, der neben ihm saß, öffnete die Tür und sprang heraus. Er lief in die Dunkelheit neben der Straße. »Cinnabar?«, rief er flüsternd. »Cinnabar!« »Aha? Du sprichst also wieder mit mir, was?«, wisperte eine Stimme in seinem Kopf. »Ich habe darauf gewartet, dass du zu mir kommst, seitdem du wieder zurück im Tal bist. Wir wussten, dass du hier bist. Aber ich nehme an, du warst so mit Verdrängen beschäftigt, dass du noch nicht einmal mehr an das glauben konntest, was du schon vorher erlebt hast.« »Tut mir Leid«, wisperte William zerknirscht. »Will?«, rief Jack aus dem Landrover. »Kannst du was sehen? Ich habe ihn doch nicht angefahren, oder?« »Nein, ich glaube nicht«, rief William. »Ich komme jetzt.« Dann fuhr er flüsternd fort: »Aber wo, Cinnabar? Wo müssen wir suchen?« »Blackscar-Steinbruch«, antwortete der Fuchs. »Ich bin vor dir da!« Und als sich die letzten Worte noch in Williams Kopf formten, lief der Fuchs schon über die Straße zurück und sein Fell blitzte rot in den Scheinwerfern auf. »Da ist er«, rief Dan vom Rücksitz. »Ich habe gerade den Fuchs vorbeilaufen sehen.« »Komm, Will«, rief Jack. »Wir verlieren Zeit.« »Hast du die Karte, Onkel Jack?«, fragte William und stieg wieder ins Auto. »Nein. Du hattest sie, weißt du noch?«, erwiderte Jack. »Mist«, sagte William. »Wir müssen zum Blackscar-Steinbruch.« »Woher um Himmels willen weißt du das?« »Das ist jetzt egal, hilf mir nur, hinzukommen.« »Ich kenne den Steinbruch«, sagte Dan. »Ich habe da als Kind gespielt. Er ist ziemlich weit von hier, auf der anderen Seite von Goldenwater…« Meg brauchte lange, um die Kühe zu melken und die Tiere zu füttern, obwohl Mary ihr half, so gut sie konnte. Gerne hätte sie Melken gelernt, aber das verschob sie lieber auf ein anderes Mal. Als die Hunde Näpfe voller Futter verschlangen und die Katzen kleine Stückchen von ihrem abrissen, nahm Meg die Taschenlampe und einen Spazierstock und dachte auch an ihre Kamera mit dem Blitzlicht. »Wenn wir irgendwelchen Treibern über den Weg laufen«, erklärte sie, »erschreckt es die ziemlich, wenn sie denken, ich hätte
sie fotografiert. Der Blitz blendet sie auch für ein paar Sekunden. Man weiß nie, wozu das gut sein kann.« Dann machten sie sich schnell auf den Weg zum Dachsbau. Sie gingen nicht über den Reitweg, über den die Familie am Mittag gekommen war, sondern eine Abkürzung durch den Wald und am See entlang. Das Wasser glitzerte wie Stahl und reflektierte das Mondlicht durch die am Himmel vorbeijagenden Wolken. Der Wind warf Wellen, und fast hörte es sich wie am Meer an, wenn Wellen gegen Felsen schlugen. »Goldenwater wird der See hier genannt«, sagte Meg zu Mary. »Es gibt Geschichten über riesige Schätze, die auf seinem Grund liegen sollen. Ich weiß nichts darüber – die Gerüchte über Reichtümer und Schätze und Berge von Gold kursieren schon furchtbar lange. Aber der See ist wirklich tief. Manche sagen sogar, er wäre bodenlos. Aber jeder See hat einen Grund, nicht wahr? Wie jede Straße ein Ende hat und jeder Berg einen Gipfel. Am anderen Ende«, sagte Meg und zeigte den Weg hinunter bis zum undeutlichen Umriss einer fernen Landschaft mit hohen Felsen und Bergmassiven dahinter, »da ist ein Wasserfall. Er heißt Goldenspring. Falls ihr im Sommer wiederkommt, könnt ihr da schwimmen gehen, obwohl – das Wasser ist eiskalt.« »Wir kommen im Sommer auf jeden Fall wieder«, sagte Mary zu ihr und blickte sich noch einmal nach dem Wasserfall um, der irgendwo im Dunkel der Nacht versteckt war. Als sie die Eibe erreichten, schrie eine Eule in den oberen Zweigen. »Ist das wieder dein Freund?«, fragte Meg und sah Mary prüfend an. Aber sie wartete nicht auf eine Antwort. Ihre Gedanken waren bei den Dachsen und sie blieb nicht stehen, bis sie den Abhang hinuntergelaufen war und zu den Buchen kam, unter denen der Dachsbau lag. »Kommt her«, rief sie mit einer hohen, hellen Stimme. »Kommt her, meine Kleinen. Kommt, meine Lieben. Betty, komm her, Betty…« Meg kniete sich auf den Boden, rief die Dachse und klatschte dabei leicht in die Hände, was so sanft klang wie der Flügelschlag eines Vogels. Mary kroch leise den Hügel hinunter, aus Angst, sie könnte ein Geräusch machen, das die Dachse erschreckte. Als sie direkt hinter Meg stand, blickte die alte Frau zu ihr hoch. Im Halbdunkel konnte sie den besorgten Ausdruck auf Megs Gesicht erkennen.
»Wo sind sie?«, flüsterte Meg. »Wo sind meine Kleinen?« Und sie drehte sich wieder um und rief und klatschte in die Hände: »Kommt her, kommt, meine Lieben! Kommt, meine Kleinen!« Kein Dachs kletterte aus der zertrampelten Erde. Der Wind knarrte in den Bäumen und das Mondlicht kam und ging mit den über den Himmel jagenden Wolken. Jasper schaukelte in den Zweigen der Eibe. Von seinem Platz aus konnte er das Mädchen sehen und die alte Frau, die auf dem Boden vor ihr kniete. Man hatte ihm gesagt, er solle sie finden – Sirius, der Hund (oder Spot, wie die Kinder ihn nannten), neigte manchmal dazu, ihn ein bisschen viel herumzukommandieren. »Gut«, dachte Jasper. »Ich habe sie gefunden. Und jetzt werde ich warten. Das Mädchen hat nicht einmal versucht Kontakt mit mir aufzunehmen. Es hat vielmehr den Anschein, als erwarte sie, dass ich zu ihr komme. Ich werde ihr eine Lehre erteilen. Ich – der ich so alt bin wie die Nacht – nehme nicht… die Verbindung auf.« Und er schrie seinen Abscheu so laut heraus, dass es durch das ganze Tal hallte. Cinnabar hetzte gerade die steile Seite des Abhangs hinauf, als er Jaspers Ruf hörte. Er hielt lange genug an, um seine Antwort scharf zu bellen. Jasper hörte sein Bellen, breitete die Flügel aus und stürzte sich aus der Eibe, um über den Rand des Tales zu segeln und mit seinen scharfen Augen den roten Körper des Fuchses irgendwo im Unterholz zu finden. »Hier bin ich«, rief er. »Der Junge und der Mann sind auf dem Weg zum Steinbruch. Sag es dem Mädchen. Wir treffen uns dort«, bellte Cinnabar. »Fuchs«, schrie die Eule. »Wo sind die kleinen Dachse?« »Die alte Dächsin hat sie mitgenommen«, erwiderte Cinnabar im Vorbeilaufen. »Aber wohin?«, kreischte die Eule hinter ihm her. »Zum Steinbruch«, bellte der Fuchs. »Zum Steinbruch?«, rief Jasper traurig. Dann wurde er von der Stimme des Mädchens abgelenkt. »Jasper«, rief Mary. »Jasper…« »Was ist?«, fragte die Eule und schwebte herüber. »Weißt du, wo die Dachshetze sein wird?«, rief Mary in ihren Gedanken. Fast gleichzeitig drehte sie sich zu Meg um und sagte laut: »Blackscar-Steinbruch.« »Was ist, Herzchen?«, fragte Meg und blickte zu ihr auf.
»Dahin haben sie die Dachse gebracht.« »Dann müssen wir sofort los«, sagte Meg, stand auf und fragte Mary noch nicht einmal, woher sie das wusste. »Wenn Mr. Green nur mit Bob Parker gesprochen hat. Die Polizei wäre eine große Hilfe.« »Du kannst nicht alleine dorthin«, wisperte Spot. »Doch, kann ich, Spot. Das geht schon in Ordnung. Aber was ist mit dir?«, sagte Alice und versuchte tapfer zu klingen. Aber dann kullerten doch die Tränen aus ihren Augen. »Ich will nicht, dass du hier allein auf dem Dunklen und Schrecklichen Weg stirbst.« »Das tue ich nicht. Für dich halte ich durch«, keuchte der Hund. »Nur… beeil dich. Mir wird es wieder gut gehen. Ich verspreche es. Aber ich möchte nicht, dass alles umsonst war. Ruf Merula. Ruf ihn. Er wird dir helfen.« »Ich verstehe nicht«, schluchzte Alice. Sie wusste, dass sie tapfer sein musste, aber sie konnte nicht ertragen ihren geliebten Spot so schwach und krank zu sehen. »Ruf Merula. Die Amsel des Magiers…« »Aber – es ist Nacht und Amseln schlafen jetzt und überhaupt: Der Magier hat uns im Stich gelassen.« »Er wird euch nie im Stich lassen. Ihr seid ein Teil von ihm«, wisperte Spot. Dann füllte er seine Lungen mit Luft und stieß einen einzigen, langen, qualvollen Schrei aus: »M… E… R… U… L… A!« Der Name hallte zwischen den engen Winkeln des Weges hin und her. »Es hat keinen Zweck, Spot«, sagte Alice traurig. »Die Magie ist weg. Der Magier ist böse mit uns. Wegen mir ist er böse. Es ist meine Schuld. Und jetzt müssen wir alles alleine machen. Nur stirb bitte nicht, bitte, Spot. Ich tue alles, damit du nicht stirbst. Ich gehe sogar allein zum Steinbruch. Ich sage den Männern, dass die Polizei kommt, so wie Meg das getan hat. Vielleicht werden sie abhauen – glaubst du, es funktioniert?«, fragte sie ihn und zweifelte an ihren eigenen Worten. Sie sah wieder den am Boden liegenden Hund und schluchzte: »Spot, ich hab dich so lieb…« Dann drehte sie sich entschlossen um und ging den Dunklen Weg hinunter. Nachdem sie ein paar Schritte gegangen war, hörte Alice über sich das Geräusch des Windes und, lauter als das Knarren der Äste, noch etwas anderes. Es war das eifrige Schlagen von tausend Flügeln
und der Gesang von fünfhundert Vögeln. Alice blieb stehen und blickte hoch. Über den Baumwipfeln lichteten sich die Wolken und sie sah einen nahezu vollen Mond am Nachthimmel. Sofort war der Weg mit blendendem Silberlicht erfüllt und die Bäume, die grimmig und abweisend ausgesehen hatten, waren wie verwandelt und ihre Zweige erstrahlten im Lichterglanz. »O Spot, sieh dir das an!«, rief Alice und drehte sich einmal um sich selbst. »Sieh dir die Bäume an! Es ist doch kein so übler Ort. Nicht wenn der Mond scheint.« Und dann schossen Schwalben auf den Weg hinunter und Mauersegler tanzten um ihren Kopf. Blaumeisen und Bachstelzen, Drosseln und das kleine Rotkehlchen flogen fröhlich über sie und stoben wieder auseinander. Schließlich kam, schwarz wie die Nacht, die Amsel Merula und setzte sich mit glänzenden Augen und gelbem Schnabel auf Alices ausgestreckte Hand. »Komm«, sang Merula und es klang so rein und voll, dass Alice glaubte nie zuvor etwas Schöneres gehört zu haben. »Komm«, sang er noch einmal. »Du hast die Dunkelheit vertrieben. Du hast uns den Silbernen Pfad wiedergegeben.« »Wirklich?«, fragte Alice verwirrt. »Ich? Du meinst mich? Aber ich habe doch gar nichts getan!« Alle Proteste waren nutzlos, denn in diesem Augenblick stieg sie auf den schwarzen Flügeln der Nacht auf. Sie flog immer höher, bis der Weg unter ihr nur noch wie ein Strich auf einer Karte war. Die dunkle Landschaft wurde nur durch das in der Ferne blitzende Blaulicht eines Polizeiautos durchbrochen und den schwachen Schein der Lampen, die einen scharfen Riss in den Felsen beleuchteten: den Blackscar-Steinbruch.
25 Bawson Im Blackscar-Steinbruch war schon seit vielen Jahren nicht mehr gearbeitet worden. Um den rauen Felsboden herum drängten sich Büsche und junge Bäume gegen den nackten Felsen, der ihn auf drei Seiten einschloss. Auf der vierten Seite führten zwei Wege im rechten Winkel zueinander von ihm fort. Der erste, ein überwachsener Reitweg, lief durch eine schmale Öffnung in den Felsen weiter in den finsteren Tannenwald hinein. Der andere war ein schmaler Pfad, der steil vom Steinbruch weg in einen fernen Waldweg mündete. Normalerweise war der Ort verlassen und nur von Kaninchen bevölkert, die hier lebten. Im Sommer kam manchmal zufällig ein Spaziergänger vorbei oder ein paar Jugendliche trafen sich hier, um Zigaretten zu rauchen und mit Luftpistolen auf Bierdosen zu schießen. Es war ein unheimlicher, einsamer Ort, voller Schatten und klagender Windgeräusche. Ein geisterhafter, vergessener Ort. Aber in dieser Nacht hätte jemand, der zufällig hier vorbeikam, in der Stille das aufgeregte Jaulen von Hunden und die gedämpften Stimmen von ungefähr zwanzig Männern hören können, die mit Autos und Lieferwagen hierher gekommen waren. Sie verbreiteten eine Atmosphäre von angestrengter Geschäftigkeit und gespannter Erwartung. Kisten und Säcke wurden von den Lieferwagen abgeladen und die Hunde rissen an den starken Ketten und Seilen, mit denen sie angebunden waren, als sie den strengen Angstgeruch der Dachse witterten. In der Mitte des Steinbruchs war eine niedrige Barrikade aus Baumstümpfen und Zweigen errichtet und mit Steinen befestigt worden. Sie bildete eine Art Kreis, den die Männer ›die Grube‹ nannten. Manche standen im Scheinwerferlicht ihrer Autos um den abgesteckten Kreis herum. Sie waren alle von unterschiedlichem Alter – vom Jugendlichen bis zum Großvater. Ihre Augen leuchteten und ihre Gesichter glänzten vor Aufregung, als sie auf den Boden trampelten, um ihn zu glätten. Kev hatte Fang an einen Baum gebunden und lud mit Ted und seinem Freund Pete die Dachse ab, die er aus dem Dachsbau im Golden Valley gefangen hatte. Es war Petes erste Hetze und er war
aufgeregt und gleichzeitig erschreckt. »Wann fangen wir an?«, fragte er Kev, als sie zusammen einen Käfig aus Teds Lieferwagen hoben. »Bald«, antwortete Kev. »Ich hoffe, du hast genug Geld dabei. Fang und ich haben Glück heute Nacht.« »Das ist aber ein großer«, sagte Ted und deutete mit dem Kopf auf den Käfig, den sie trugen. »Sogar für deinen Fang. Ich würde meinen Terrier nicht gerne auf ihn ansetzen.« »Dann kannst du mir dein Geld genauso gut jetzt schon geben«, witzelte Kev. »Du solltest dir einen richtigen Hund besorgen, mein Lieber, wenn du ins Geschäft kommen willst. Dieses Vieh ist meinem Fang nicht gewachsen. Er könnte ihn mit zusammengebundenen Vorderpfoten besiegen.« Und er stieß mit einem Stock nach dem großen, grauen Dachs, der still und hechelnd in dem Käfig zu seinen Füßen lag. »Sieh dir das Untier an«, sagte Ted und überging Kevs Spott, »meinst du, wir sollten ihn erst lähmen?« »Nein!«, rief Kev aus. »Lähmen? Das ist unsportlich. Die Hunde sollen für ihr Geld mal zeigen, was sie können. Ich hasse ungleiche Kämpfe.« »Das sagst du bloß, weil du Fang hast«, beklagte sich Ted und öffnete zischend eine Bierdose. Kev grinste und ging zu seinem Hund. »Ich weiß gar nicht, warum alle Angst vor dir haben«, sagte er und gab Fang einen Schlag mit dem Seil, mit dem er festgebunden war. Der Hund jaulte vor Schmerz und knurrte tief in der Kehle. »Oh! Schlechte Laune«, sagte Kev und schlug den Hund noch mal, aber diesmal härter. »Das können wir nicht dulden, oder?«, und er schlug ihn wieder, so dass er winselte, aber nicht mehr knurrte. »Schon besser«, sagte Kev. »Platz, ihr zwei, mal sehen, was es noch zu tun gibt.« Damit stolzierte er in die Mitte des Steinbruchs. Allein gelassen starrten Bawson, der Dachs, und Fang, der Hund, sich in der Dunkelheit an. Der Hund knurrte und bellte, stieg auf die Hinterbeine und zerrte am Seil. Der Dachs lag ruhig und aufmerksam da, die Schnauze am Boden. In der Mitte des Kreises stritten sich zwei Männer über die Reihenfolge der Kämpfe. Die Hunde wurden dadurch aufgebracht, bellten und winselten. Dann ertönte ein begeisterter Schrei aus der Menge. Der Dachs blickte über die Schulter. Der Käfig war gerade groß genug für ihn. Er roch nach Kaninchen und war wohl als Stall be-
nutzt worden. Angst und Gefangenschaft und Grausamkeit lagen noch in der Luft. Er konnte sehen, dass die Männer ihre Hunde versammelten. Der erste Dachs wurde in die Grube gesetzt. Das Hundegebell überschlug sich beinahe, als einige von ihnen auf den Dachs losgelassen wurden. »Es geht los«, dachte Bawson und blickte Fang an, der empört am Seil zerrte, weil er noch nicht geholt worden war. Jack sah das Blaulicht des Polizeiwagens durch den dunklen Wald blinken und gab Gas. »Blackscar-Steinbruch«, rief er aus dem Fenster, als er bei dem Wagen angekommen war. »Okay«, sagte Bob Parker und rief Verstärkung über Funk. »Folgen Sie mir«, rief er Jack zu, wendete sein Auto und raste davon. Als Cinnabar den Steinbruch erreichte, konnte er über dem Getöse der Hunde das Seufzen der Dachse hören. Er konnte ihre Furcht riechen und ihre Angst schmecken. Suchend lief er hinter den Autos her, bis er Bawsons Käfig gefunden hatte. »Gut, mein Fuchs«, wisperte Bawson zur Begrüßung. Ohne zu zögern begann Cinnabar an dem Seil zu nagen, das die Käfigtür verschloss. Fang bellte aufgeregt, um Kev darauf aufmerksam zu machen. Der Fuchs beachtete ihn gar nicht und nagte verzweifelt weiter, aber das Seil war dick und Cinnabars scharfe Zähne konnten nur einen Strang auf einmal durchbeißen. Mary und Meg standen oben am Rand des Steinbruchs. Unter sich konnten sie den Kreis aus Lichtern sehen und die dunklen Umrisse der Männer, die jubelten und johlten. »Es hat angefangen«, sagte Meg grimmig. »Dann komm«, sagte Mary und suchte verzweifelt einen Weg nach unten. »Wir können da nicht hinuntergehen, Kind. Wir können es nicht mit ihnen aufnehmen.« »Warum sind wir dann hier?«, rief Mary. »Um bei den Dachsen zu sein«, sagte Meg traurig. »Um zu sehen, wie sie sterben.« »Nein!«, rief Mary aus. »Komm, Meg! Bitte! Wir müssen irgendwas tun, damit sie aufhören«, bat sie. »Nun, wir können es wenigstens versuchen«, sagte Meg, die Marys Drängen nachgab. »Wenn du ein paar Fotos von den Gesichtern
der Männer machen könntest«, fuhr sie fort, holte die Kamera aus ihrer Tasche und steckte das Blitzlicht darauf, »dann könnte die Polizei damit etwas anfangen. Komm, Herzchen. Da hinten führt ein Pfad hinunter…« Merula, die Amsel, saß auf dem Zweig eines jungen Baumes. »Wir müssen jetzt abwarten«, wisperte Merula. »Ich will aber nicht zusehen«, sagte Alice. »Das kommt schon in Ordnung«, rief eine bekannte Stimme und Jasper flatterte in den Baum neben ihrem. »Woher willst du das wissen?«, rief Alice. »Ich weiß es nicht«, antwortete Jasper. »Ich… hoffe es.« »Verdammter Fuchs! Hast du das gesehen?«, rief Kev aus und trat nach Cinnabar, der wie der Blitz in der Dunkelheit verschwand, als die Männer auftauchten. »Er wollte wohl in den Käfig, was? Widerliche Dreistigkeit! Ich hasse Füchse. Sie machen nichts als Ärger. Ungeziefer!«, rief er, als Ted und er den Käfig anhoben und zur Grube trugen. Sie öffneten die Käfigtür und stießen den Dachs in den Lichterkreis. Um ihn herum stand eine Reihe wütender Hunde, die geifernd und zähneknirschend an ihren Halsbändern rissen und auf das »Los!« ihrer Herren warteten. »Hört zu«, wisperte Bawson in die Köpfe der Hunde. »Hört mir zu. Wir sind doch alle Tiere. Ihr seid nicht meine Feinde. Wir sollten miteinander leben. Wir sind keine Gegner, wir sind keine Feinde. Die Menschen haben euch zu dem gemacht, was ihr seid. Wegen ihnen seid ihr nicht… frei. Ihr tut nur, was die Menschen euch beigebracht haben. Ihr habt eure Tierseele verloren, ihr habt eure Natur verloren.« Ein kleiner Terrier sprang vor und schnappte nach Bawsons Vorderpfoten. Bawson wich zurück und schüttelte den Hund ab. »Ich will dir nicht wehtun«, beharrte er. »Warum willst du mich verletzen?« »Weil ich dich hasse«, schnappte der Terrier. »Das tust du nicht. Du kennst mich nicht mal. Du denkst nur das, was dir befohlen wurde. Nicht deine eigenen Gedanken… sondern die der Menschen!« »Ist mir egal«, knurrte ein Pitbull. »Töten macht Spaß«, und als er die Worte bellte, stürmte er mit gebleckten Zähnen vor und versetzte Bawson einen raschen Hieb auf die Wange. Die anderen Hunde kamen schnappend und bellend und kratzend
und beißend näher. Bawson wehrte sie mit Krallen und Zähnen ab, versuchte aber keinen von ihnen zu verletzen. »Wir müssen das nicht tun«, erklärte er ihnen. »Wir müssen das Spiel der Menschen nicht mitmachen. Eure Herren waren auch einmal Tiere. Aber jetzt… sind sie Bestien. Wir müssen keine Bestien werden…« Dann teilte sich die schnappende und winselnde Meute vor Bawson und Fang erschien. Der große Hund und der große Dachs maßen einander mit Blicken. Eine seltsame Stille legte sich über den Steinbruch. »Er kann es mit ihm aufnehmen«, sagte eine Männerstimme. »Töte, Fang! Töte!«, schrie Kev und gab dem Hund einen brennenden Schlag mit dem Seil über den Rücken, so dass er keuchte vor Schmerz. »Willst du diesem Mann für den Rest deines Lebens dienen, Fang?«, wisperte Bawson, als er sich auf Fangs Angriff gefasst machte. »Ich diene niemandem«, knurrte Fang. »Töte, Fang! Töte!«, brüllte Kev wieder. Der Hund sprang vorwärts und senkte seine Zähne tief in die linke Schulter des Dachses. Die beiden Körper fielen in einer tödlichen Umarmung um, ihre Zähne schnappten zu und ihre Krallen rissen am Gegner. Bawson landete auf dem Rücken, Fang war über ihm. Mit einem riesigen Kraftaufwand und allen vier Beinen warf er den Hund ab, so dass er durch die Luft flog. Fang fiel schwer auf den Boden, stand aber sofort auf, drehte sich um und wollte wieder losspringen. Aber in diesem Augenblick sah er, wie der große Dachs Bawson auf seine Hinterbeine stieg. Er stand aufrecht, das Blut lief aus der offenen Wunde auf seiner Schulter, die Vorderpfoten hatte er ausgestreckt und den schlanken Kopf hoch gereckt. Als ein Strahl des glänzenden Mondlichts seine Augen blendete, dachte Fang plötzlich, ein großer Mann stünde anstelle des Dachses vor ihm. Der Mann trug einen langen schwarzen Mantel und hielt einen dünnen Silberstab in einer Hand. Fang duckte sich winselnd. »Töte, Fang! Töte!«, hörte er Kev brüllen. Der Hund grollte tief in seiner Kehle und versuchte den Mut für einen neuen Angriff aufzubringen. Kev kletterte in die Grube und schlug den Hund mit seinem Seil. »Ich sagte töte, verdammt noch mal! Töte!«, schrie Kev. Sein
Zorn übermannte ihn und er peitschte auf den Hund ein. Fang sprang vorwärts und die Schmerzen der Schläge brannten auf seinem Rücken. Der Mann hielt seinen Silberstab hoch, Fang sprang auf seinen Arm zu und senkte seine Zähne tief in den Muskel über dem Handgelenk. »Ist das die einzige Sprache, die du verstehst, armer Fang?«, hörte er eine ruhige Stimme in sein Ohr wispern. »Dann töte, Fang, töte!« Fang heulte auf und fiel zu Boden. Er drehte sich um und sah zu Kev auf der anderen Seite der Grube hinüber. »Zum Teufel mit dir, ich sagte töte, Fang!«, knurrte Kev. Fang sprang durch den Kreis direkt auf Kev zu und all seine zurückgehaltene Wut und sein Zorn entluden sich mit einem wilden, entsetzlichen Brüllen. »Pass auf, er läuft Amok!«, schrie Ted. Kev hob seinen Arm und wehrte den riesigen Hund ab, so gut er konnte. Die anderen Hunde begannen zu bellen und zu schnappen. Manche gingen aufeinander los, andere griffen ihre Herren an. »Was zur Hölle ist hier los?«, schrie einer der Männer. Seine Kumpel rannten auf ihre Autos zu. Nun war die Luft um sie herum plötzlich voller Vögel. Sie schlugen mit den Flügeln, stürzten auf sie herab und stoben wieder davon wie ein Bienenschwarm. Die Männer mussten sich ducken und zur Seite springen und mit den Armen wedeln. Die Dachse in den Säcken bahnten sich mit ihren Krallen einen Weg in die Freiheit. Ein Fuchs sprang aus dem Dunkel und biss Pete in den Knöchel. Eine Eule stürzte vom Himmel und senkte ihre Klauen in Teds Nacken. Er stieß sie mit einem Schrei fort. »Was zur Hölle geht hier vor?«, rief er. Im selben Augenblick stellte sich eine kleine, alte Frau vor ihn und ein Blitzlicht flackerte in der Dunkelheit auf. Bevor er überhaupt begriff, was geschehen war, war Meg schon weitergegangen und machte so viele Bilder von den Männern, wie sie konnte. Mary befreite inzwischen die Dachse aus ihren Käfigen und Säcken. Die Tiere liefen aber nicht in den Schutz bietenden Wald, sondern beteiligten sich an dem Kampf der Hunde und Vögel gegen die Menschen. Alice tauchte plötzlich aus dem Nichts auf. Sie rannte direkt zu Bawson, der mit blutender Schulter auf dem Boden lag. »Mr. Tyler«, wisperte sie und betupfte die Wunden des Dachses mit ihrem Taschentuch. »Es tut mir so Leid.«
Kev war es gelungen, sich von Fang zu befreien. Er lief humpelnd zu Teds Lieferwagen. Ted erreichte ihn im selben Moment. »Lass uns um Himmels willen hier verschwinden«, keuchte Kev. Aber Fang sprang ihn wieder von hinten an und riss ihn auf den Boden. »Hilf mir, Ted«, schrie Kev und streckte beim Fallen seine Hand aus. »Lieber nicht«, erwiderte Ted und kletterte in seinen Wagen. »Mach das mal lieber allein, Kumpel.« Das Geräusch der startenden Motoren röhrte durch den Tumult. Männerstimmen riefen durcheinander. Hunde bellten und winselten. Gerade als der erste Wagen wenden wollte, fuhr ein Polizeiauto in den Steinbruch und blockierte mit blitzendem Blaulicht den Ausgang. Jacks Landrover kam hinter ihm quietschend zum Stehen. Jack und William und Dan sprangen heraus und betrachteten ungläubig, was sich vor ihren Augen abspielte. In der Ferne kündigten Polizeisirenen die Verstärkung an. »Lauft, Leute!«, schrie einer der Männer und es begann eine Massenflucht zum einzigen anderen Ausgang aus dem Steinbruch: zum Dunklen und Schrecklichen Weg. Aber als sie die Felsöffnung erreichten, fanden sie den Weg blockiert von einem völlig verdreckten, aber wütenden schwarz-weißen Hund. »Spot!«, schrie Alice, stieß sich einen Weg durch die Menge und stellte sich neben ihn. Dann drehte sie sich herum und sah die Männer an. »Ihr bleibt, wo ihr seid«, schluchzte sie und erleichterte und zornige Tränen liefen ihr die Wangen herunter. »Ihr bleibt, wo ihr seid. Ihr… gemeinen, scheußlichen, grausamen Kerle.« »Aus dem Weg«, rief ein Mann und stieß sie zu Boden, als er sich an ihr vorbeidrängte. Alice fiel schluchzend auf die Knie. Um sie herum war ein wildes Durcheinander von Männern, die fliehen wollten. Aber die Felsöffnung war schmal und nach und nach gaben sie auf. Manche ließen die Köpfe hängen. Der Anblick des kleinen Mädchens, das weinend vor ihnen auf dem Boden kniete, zerrte an ihren Gefühlen. »Nicht weinen, Schätzchen«, sagte einer der älteren Männer. »Wir wollten doch nur ein bisschen Spaß haben.« »Spaß?«, brüllte Alice, warf sich auf ihn und schlug mit den Fäusten auf ihn ein, als wollte sie ihn umbringen.
»He! Du kleines Biest«, rief der Mann aus. »Ich lasse dich wegen Körperverletzung einsperren. Das kannst du nicht mit mir machen«, und er packte Alice mit seinen starken Armen. »Lass sie los!«, befahl eine grimmige Stimme hinter ihm. Der Mann drehte sich gerade rechtzeitig um, so dass er noch Jacks Faust auf sein Kinn zuschnellen sah. »Onkel Jack!«, rief Alice aus und platzte fast vor Stolz, als sie aufstand. »Ich glaube, du hast ihn k.o. geschlagen!«
26 Eine leichte Brise bei Vollmond Am folgenden Morgen schliefen in Golden House alle aus und die Sonne stand schon hoch am Himmel, als es in der Küche Frühstück gab. Phoebe hatte sich viel zu viele Sorgen gemacht, um böse auf sie zu sein, und sogar Alice wurde nur gerügt. »Du kannst nicht einfach mitten in der Nacht allein weggehen, Alice. Was würden deine Mutter und dein Vater dazu sagen?« »Tut mir Leid«, sagte Alice zu ihr. »Aber ich war ja nicht wirklich allein, Phoebe. Spot war bei mir. Und Mama und Papa würden das verstehen, da bin ich mir sicher.« Jack und Dan hatten Bawson in den Landrover getragen. Dann waren sie mit Meg und Spot zu Four Fields gefahren. Meg sagte, sie würde am nächsten Morgen als Allererstes den Tierarzt kommen lassen, damit er sich Bawson ansah, und es könnte auch nichts schaden, wenn er einen Blick auf Spot werfen würde. Die anderen Dachse waren in der Nacht verschwunden. Die Dachse aus Golden Valley hatten es nicht weit. Sie fanden Betty und die Kleinen über dem Steinbruch zusammengekauert unter einem Baum, wo sie das gruselige Schauspiel beobachtet und nicht gewagt hatten sich zu bewegen, damit sie nicht zu Grey, Stella und Trish gebracht wurden, die zum Glück überlebt hatten. Meg hatte sich inzwischen Gedanken darüber gemacht, was aus den Dachsen wurde, die die Treiber von außerhalb mitgebracht hatten. »Vielleicht lassen sie sich hier nieder«, meinte sie, »aber das bezweifle ich. Sie werden Heimweh nach ihren eigenen Familien haben. Deshalb blieb auch Betty nicht hier. Familie ist das Allerwichtigste für einen Dachs. Ich fürchte, sie werden versuchen nach Hause zu laufen, und das könnte bedeuten, dass sie meilenweit durch unbekannte Gegenden müssen.« Die Polizei hatte die Dachstreiber eingekreist und ihre Personalien festgestellt. Ein paar von den Rowdys waren eingesperrt worden. Es hatte lange gedauert, bis die Hunde sich beruhigt hatten, besonders Fang musste erst betäubt werden, bevor man sich um ihn
kümmern konnte. Ein Krankenwagen hatte Kev ins Krankenhaus gebracht. Und die Vögel waren einfach wieder im dunklen Wald verschwunden und mit der Nacht verschmolzen. Man würde sich nur noch vage an sie erinnern und irgendwann würden sie zu den magischen Geschichten von Golden Valley gehören. »Ich habe noch nie gesehen, dass Vögel sich so verhalten«, hatte Bob Parker immer wieder gesagt. »Fliegen mitten in der Nacht herum? Greifen Menschen an? Was in aller Welt war da los?« »Sie haben ihren Freunden geholfen«, hatte Meg ruhig gesagt und dabei bedeutungsvoll die Kinder angesehen. Schließlich hatte Bob die drei in seinem Panda zurück nach Golden House gefahren. Phoebe ging unruhig in der Einfahrt auf und ab und hielt nach ihnen Ausschau. Sie war so erleichtert sie gesund und munter wieder zu sehen, dass sie alle an sich drückte und weinte und nicht einmal böse wurde. Jetzt, bei Tageslicht besehen, begannen die Schrecken der letzten Nacht zu verblassen. Sie hatten verabredet, Meg in Four Fields zu besuchen, aber sie beschlossen bis nach dem Mittagessen zu warten, damit der Tierarzt Zeit genug für die Untersuchungen hatte. Die Kinder warteten, bis die Luft rein war, und rannten dann die Stufen zum Geheimzimmer hinauf. Zu ihrer Überraschung wartete der Magier bereits auf sie. Er sah älter und trauriger aus und der Arm, der sonst den Silberstab hielt, steckte in einer weißen Schlinge. Sobald Alice ihn erblickte, lief sie durch den Raum und warf ihre Arme um seinen Hals. Ihr Gewicht ließ ihn zusammenzucken, aber er legte seinen gesunden Arm um sie und drückte sie an sich. »Gut gemacht, Alice!«, sagte er. Dann blickte er über ihre Schulter auf die anderen beiden und nickte lächelnd. »Das habt ihr alle gut gemacht.« »Mr. Tyler, ich dachte, ich würde Sie nie wieder sehen«, sagte Alice. »Und das war so schrecklich, dass ich… dass ich es kaum ausgehalten habe.« »Das solltest du auch denken, Alice«, sagte er sanft zu ihr. »Du musstest aus eigener Überzeugung handeln. Du musstest all deinen Mut zusammennehmen. Die Gefahr in der Magie liegt darin, dass man sich zu leichtfertig auf sie verlässt. Du erwartest, dass sie die Dinge für dich erledigt. Es ist ja ganz schön, mutig zu sein, aber wenn du insgeheim weißt, dass du nur ein bisschen mit dem Zauberstab wedeln musst und du kannst die Dinge in Ordnung bringen, dann schmälert das die Tapferkeit ein bisschen, nicht wahr? Aber du
musstest aus dir selbst heraus mutig sein. Und das warst du. Du warst mutig und grimmig und stark. Du hast mit deinem Herzen reagiert und deine Waffe war die Liebe. Ich bin so stolz auf dich, Alice. Du bist eine wahre Constant und du wirst immer beständig und treu sein. Du wirst mich bei dieser Arbeit immer begleiten. Ich habe euch allen gesagt, dass ihr lernen musst die natürliche Welt zu erfassen. Es ist eine einfache Welt, die von den Bedürfnissen der Menschen durcheinander gebracht und beschmutzt worden ist. Aber es ist noch nicht zu spät für unsere Welt. Es wird, glaube ich, niemals zu spät sein, solange die Menschen lernen aus dem Herzen heraus zu handeln und nicht aus der Gier nach Reichtum oder aus dem Verlangen nach Macht. Nur das Herz kann die natürliche Welt retten, denn nur das Herz harmonisiert mit der Natur. Und darin liegt auch das Verstehen. Aus eurem Herzen heraus reagiert ihr auf die Schönheit eines Sonnenuntergangs oder das Wunder einer Rose. Mit eurem Herzen hört ihr eine Amsel singen oder riecht das wilde Geißblatt. Durch euer Herz könnt ihr in den Hund Sirius und den Fuchs Cinnabar und die Eule Jasper eintreten. Mit dem Herzen hört und fühlt und riecht und schmeckt und seht ihr alle Wunder dieser Welt. Ihr drei habt gute Herzen. Ihr drei Constant-Kinder. Meine Helfer. Meine Freunde.« Er hielt inne und Schweigen herrschte im Raum. Alice sah William und Mary nicht an. Sie war zu verlegen. Sie dachte, dass die lange Rede des Magiers eigentlich ein bisschen übertrieben war. So mutig war sie gar nicht gewesen, eigentlich hatte sie die meiste Zeit so viel Angst gehabt, dass sie kaum atmen konnte. Und überhaupt war es Spot gewesen, der die meisten mutigen Dinge getan hatte. Aber es war schön, besonders gelobt zu werden, und sie war so froh den Magier wieder zu sehen, dass sie sich entschied nichts zu sagen. Aber dann fiel ihr etwas ein, das sie einfach aussprechen musste, obwohl es eigentlich mehr William und Mary galt als dem Magier. »Der Dunkle und Schreckliche Weg ist eigentlich gar nicht so schlimm, wisst ihr? Also war ich gar nicht tapfer. Der Mond kam heraus und alle Bäume sahen wie Weihnachtsbäume aus und es war so hell und überhaupt nicht mehr gruselig.« Stephen Tyler stieß einen Freudenschrei aus. »Der Silberne Pfad!«, rief er aus. »Oh, das sind gute Nachrichten! Wisst ihr, dieser Ort, Golden Valley, ist etwas ganz Besonderes, weil es ein Ort mit drei großen Energielinien ist – wisst ihr, welche das sind?« Die Kinder schüttelten die Köpfe. »Nein? Auch gut, ihr wer-
det es eines Tages herausfinden. Es sind die alten Pfade, die unsere Vorväter verstanden und benutzten. Es sind die heiligen Pfade, wo die Erdenergie am stärksten ist. Hier in Golden Valley haben wir zwei solcher Pfade dicht beieinander. Den Goldenen Pfad und den Silbernen Pfad und zwischen ihnen und einzig und allein wegen ihnen gibt es einen dritten, versteckten, ziemlich einzigartigen und geheimen Pfad. Er hat keinen Namen und irgendwie ist er immer noch unerforscht. Aber der Silberne Pfad hat seine Kraft verloren. Die Menschen haben die heimischen Buchen gefällt und fremde Tannen gepflanzt. Die Tiere verließen den Pfad, Vögel wollten dort nicht mehr leben, sogar das Mondlicht konnte die dichten Zweige nicht durchdringen. Als die Kraft den Silbernen Pfad verließ, verlor er die Balance. Deshalb zerfiel dieses Haus. Deshalb war Jonas Lewis so leicht zu bestechen. Bestechlichkeit in Golden House? Das durfte nicht sein. Deshalb wurde schließlich das Symbol abgenommen.« Stephen Tyler seufzte in trauriger Erinnerung. Alice gähnte. Er redete wieder an ihr vorbei. Und Mary scharrte mit den Füßen und fragte sich, ob es ein langer Vortrag werden würde. Sie hatte ein Auto in die Einfahrt einbiegen hören und wollte wissen, wer sie besuchen kam. Aber William hörte den Worten des alten Mannes eifrig zu und rief aufgeregt aus: »Ja, genau. Das habe ich gedacht, als wir mit dem Turmfalken geflogen sind. Das Land unter uns erinnerte mich an das Bild, das ich an der Wand über dem Kamin sah, als ich die Stufen im Kamin entdeckt habe. Und der Anhänger, den Jack gefunden und Phoebe geschenkt hat. Es ist alles dasselbe, oder? Und die Wetterfahne. Das stimmt doch, oder?« Stephen Tyler sah ihn genau an. »Deine Zeit kommt, William Constant. Dieser Geist muss geöffnet werden. Wann wirst du das nächste Mal für längere Zeit hier sein?« »In den Sommerferien«, erwiderte William. »Wir werden ausgelassen feiern in den Sommerferien«, sagte der Magier zu ihm. »Was? Nur William?«, protestierte Alice. »Natürlich nicht. Ihr alle.« »Wo war die Wetterfahne früher?«, fragte Mary. »Oben auf dem Taubenschlag«, antwortete Stephen Tyler. »Jetzt könnte sie zurückgebracht werden. Es wäre die richtige Zeit dafür.
Denn heute Nacht werden wir eine leichte Brise bei Vollmond haben.« Er seufzte wieder, als ob er Schmerzen hätte, und brachte seinen Arm in eine bessere Haltung. »Tut Ihr Arm sehr weh?«, fragte Alice. »Natürlich tut er weh«, antwortete er gereizt. Dann lächelte er entschuldigend. »Du erinnerst dich – ein Hund hat ihn gebissen. Ich muss gehen. Vielleicht sehen wir uns heute Nacht im Baumhaus. Ihr müsstet es noch im Licht der Laterne sehen. Aber nur, wenn es euch passt. Ihr habt genug getan, ihr drei. Ihr habt uns den Silbernen Pfad zurückgegeben.« Er ließ sie allein im Geheimzimmer zurück und verschwand mit einem langen, erschöpften Seufzer in seine eigene Zeit. Als sie wieder in die Halle hinunterkamen, sahen sie, dass Dan gekommen war. Er war immer noch voll bei den Ereignissen der vergangenen Nacht am Blackscar-Steinbruch und wollte ihnen versichern, dass Arthur und er mit der Arbeit am Haus weitermachen würden, wenn sie das dürften. »Natürlich dürfen Sie«, sagte Phoebe zu ihm und gab ihm ein zweites Stück Kirschkuchen. »Es war nicht Ihr Fehler, dass Kev sich so schrecklich benommen hat.« »Ich glaube, er wird das nie wieder tun«, sagte Dan. »Ich denke schon, dass ihn das, was gestern passiert ist, sein ganzes Leben lang verfolgen wird.« »Was passiert mit Fang?«, fragte Alice. »Ich fürchte, man muss ihn töten lassen. Dieser Hund ist völlig außer Kontrolle. Ein wirklich gefährliches Vieh.« »Armer Fang!«, sagte Alice. »O nein!«, stöhnte Mary. »Du fängst doch jetzt nicht noch damit an, dass Fang dir Leid tut, oder was?« »Ich kann nichts dafür, wenn ich ein großes Herz habe«, sagte Alice mit überheblichem Achselzucken, dann kicherte sie so sehr darüber, dass die anderen auch lachen mussten. Als Dan gehen wollte, fing William ihn ab und sie flüsterten eine Weile miteinander, dann verschwanden sie hinter dem Haus. »Was hat William vor?«, fragte Alice. »Weiß ich nicht«, sagte Mary geistesabwesend. Dann fuhr sie mit der Hand durch ihre Haare. »Ich glaub, ich gehe jetzt meine Haare waschen«, sagte sie. »Mary?«, sagte Alice und sah sie misstrauisch an. »Und was hast
du wirklich vor?« »Nichts«, antwortete Mary unschuldig. »Du hast diesen komischen Ausdruck… O nein!«, seufzte sie, als sie plötzlich verstand. »Du hast dich in Dan verliebt. O Mäusedreck!« »Hab ich nicht«, protestierte Mary ärgerlich. Dann rannte sie ins Haus und bestätigte damit Alices Vermutungen. Sie fuhren am Nachmittag mit dem Landrover nach Four Fields. Meg begrüßte sie an der Tür und Spot erschien mit einem Verband und tat sich sehr Leid. Aber als er Alice sah, wedelte er doch ein bisschen mit dem Schwanz. Meg stellte Tee und Wurstbrötchen auf den Tisch, die sie extra bei dem Händler besorgt hatte, der einmal in der Woche bei ihr vorbeikam. Alice hatte in ihrem ganzen Leben noch nie etwas so Leckeres gegessen, aber sie sagte es nicht, weil sie Phoebe nicht ärgern wollte. Sie blieben bis zur Dämmerung. Jack und Phoebe fuhren mit Stephanie nach Hause und die Kinder wanderten mit Meg durch den Wald zur Eibe. Sie wollte nachsehen, ob Bawson sicher nach Hause gekommen war und ob die anderen Dachse sich wieder im Bau niedergelassen hatten. Der Tierarzt hatte Bawson ein Antibiotikum gegeben, aber sonst, hatten sie entschieden, sollte die Natur den Rest erledigen. Der große Dachs hatte es nicht erwarten können, zu seiner Familie zurückzukehren, und sobald er sich wieder bewegen konnte, war er über die Wiese in den Wald hineingehumpelt. Ein starker Wind blies, als sie den Rand des Tales erreichten. Das Licht wurde blasser und die makellose Silberscheibe des Mondes stieg über den struppigen Bäumen am Horizont auf. Die Kinder kletterten die Eibe hinauf zum Baumhaus und Meg ging den Hügel hinunter, um bei ihren Dachsen zu sein. William hatte eine Schachtel Streichhölzer mitgebracht und zündete die Kerze in der alten Laterne an. Dann öffneten sie alle Läden der spitzbogigen Fenster. Die Luft wirbelte frisch und kühl herein. Die Laterne schwang hin und her und warf dabei blasse Schatten. Dann, als der Mond höher stieg und sein Licht stärker wurde, erschien eine winzige, kreisförmige Scheibe tief unten im Tal, wo man die Schornsteine des Hauses gerade noch erkennen konnte. Sie glitzerte und glänzte so hell wie ein Scheinwerfer, wie ein Spiegelbild des Mondes. »Es ist das Fenster vom Geheimzimmer«, dachte William laut.
»Die Metallspiegel hinter den Kerzen. Dafür sind sie gedacht. Sie spiegeln den Mond und die Sonne. Und seht mal!« Zwischen dem Haus und dem steilen Abhang des Tales blitzten kleine Lichter auf. »Was ist das?«, fragte Alice. »Die Wetterfahne. Dan hat mir geholfen sie wieder anzubringen. Ihr erinnert euch doch an die vier kleinen Scheiben an dem Metallkreuz unter der Sonne und dem Mond? Ich glaube, dass sie das Licht reflektieren, wenn der Wind sie dreht.« »Aber wozu ist das gut?«, fragte Mary verwirrt. »Spielerei«, antwortete eine Stimme hinter ihnen, und als sie sich umdrehten, sahen sie Stephen Tyler in den Raum treten. »Warum muss alles zu irgendetwas gut sein? Sie sind ein Signalfeuer. Sie sind ein Licht, das uns führt. Aber am allermeisten sind sie… Spielerei. Seht doch nur, wie das Tal glitzert! Und hört hin…« Die Eulen jagten in der Nacht und irgendwo bellte ein Fuchs. »Atmet«, sagte der alte Mann. Die Luft war schwer vom Duft nach Tannen und Geißblatt, nach feuchter Erde und frischem Tau. »Das ist die Welt der Natur«, wisperte der alte Mann. »Der Mond reflektiert die Sonne. Das Gleichgewicht ist vollkommen. Da draußen ist Leben und Tod, Dachs und Fuchs gehen ihren Geschäften nach. Alles ist gut.« »Weißt du noch«, sagte Alice, »wie wir die Tür im Baum entdeckt haben? Ich habe immer gedacht, dass es eine Tür im Baum gibt. Irgendwie schien es richtig zu sein. Aber… ich habe nicht geglaubt, dass ich wirklich eine finde. Hast du daran geglaubt, Mary?« Aber Mary antwortete nicht. Sie wollte den Stimmen der Nacht lauschen. Und William… er versuchte herauszufinden, wie das alles möglich war. Alice seufzte zufrieden. Die Dachse waren in Sicherheit, Spot war nicht auf dem Dunklen und Schrecklichen Weg gestorben und, was das Wichtigste war, der Magier hatte ihr verziehen. »Das nächste Mal, wenn wir hierher kommen, werden wir eine halbe Ewigkeit bleiben«, dachte sie. Wenn ihr wissen wollt, welche weiteren Abenteuer Mary, William und Alice im Haus des Magiers erleben, dann lest weiter im nächsten Band der Reihe:
Der Tunnel hinter dem Wasserfall, (dtv junior 70.703)