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Josef H. Reichholf
Die Zukunft der Arten Neue ökologische Überraschungen
Verlag C.H.Beck
4 Mit 46 Abbildungen
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Josef H. Reichholf
Die Zukunft der Arten Neue ökologische Überraschungen
Verlag C.H.Beck
4 Mit 46 Abbildungen
© Verlag C. H. Beck oHG, München 2005 Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten Druck und Bindung: Pustet, Regensburg Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany ISBN 3 406 52786 8 www.beck.de
5 Inhalt
Einführung: Natur im Wandel – Wandel der Betrachtungsweise 7 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Bedrohte Artenvielfalt 20 Artenschwund durch Naturschutz 35 Mauersegler und Wasserqualität 47 Klares Wasser für den Gänsesäger 66 Pflanzenwelt in Bewegung 82 Sieben warme Jahre – und noch mehr? 107 Comeback der Insekten? 115 Der «Gießvogel» und das 19.Jahrhundert 127 Kuckucksrufe 150 Pestvögel 173 Türkentaube und Türkenkorn 191 Wald im Wandel 204
Epilog: Die Zukunft der Arten Literatur
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7 Einführung
Natur im Wandel – Wandel der Betrachtungsweise
Eigentlich leben wir in einer fremdartigen Natur. Auf den Fluren wächst Getreide, das aus dem Vorderen Orient stammt. Der Mais hat seine Heimat im Hochland von Mexiko. Die Kartoffeln kommen aus den südamerikanischen Anden. Nicht einmal das Bier können wir unser Eigen nennen, denn auch die Gerste stammt nicht von hier. Schon vor Jahrtausenden hatten sie die aus Vorderasien nach Mitteleuropa eingewanderten Ackerbauern mitgebracht und von dort, aus dem westlichen Zentralasien, kommt auch der Hopfen. Wie man Bier braut, wussten die Kulturvölker des Vorderen Orients schon viele Jahrhunderte, als Germanien noch «finstere Wälder», dem römischen Geschichtsschreiber Tacitus zufolge, bedeckten. Das weite Land jenseits des Limes war für die Römer nicht erstrebenswert, weil dort kein Wein mehr gedieh. Die Reben hatten sie aus dem östlichen Mittelmeerraum erhalten und bis an die Grenzen des Imperiums, bis zum Limes, heimisch gemacht. Fremd ist er also, der Wein an Mosel, Main und Rhein; fremd wie viele Obstsorten und die meisten Pflanzen, die in Gärten, Parks und Anlagen blühen oder sie mit ihrem Wuchs schmücken. Nicht aus der weiten Ferne, sondern aus der Höhe der Bergwälder kam die Fichte, der heutige «Brotbaum» der Waldbesitzer, in unsere Forste. Aus dem südöstlichen Europa stammt die Buche, von der wir unseren Ausdruck für Schriftzeichen bezogen haben; die Buch-Staben. Denn es waren Stäbchen aus Buchenholz, mit denen unsere fernen Vorfahren erste beständige und versetzbare Zeichen fertigten. Aus den Schluchten des Balkans gelangte vor wenigen Jahrhunderten die gewöhnliche Kastanie, die Rosskastanie, zu uns – und wurde erst im vergangenen Jahrhundert zum Charakterbaum der (bayerischen) Biergartenkultur. Was Wunder, dass auch die Tierwelt zu großen Teilen
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nicht von dieser «unserer Welt» ist, wenn doch die Fluren, die Wälder und die Gärten voll sind mit Pflanzen fremder Herkunft. So stammen unsere Rinder nicht etwa von den gewaltigen germanischen Ur-Rindern (Auerochsen) ab, sondern von eher kleinwüchsigen Formen, die vor mehreren Jahrtausenden am Rand der vorderasiatischen Gebirge lebten. Dort zogen sie in kleinen Herden umher, wo der Wald allmählich in die Steppe überging. Etwa 15 Millionen Rinder gibt es zurzeit in Deutschland und ihr Lebendgewicht übertrifft das der 82 Millionen Menschen um ein Mehrfaches. Ur-Rinder gab es in früheren Zeiten wohl kaum mehr als ein paar Zehntausend. Aus Westasien gelangten Zuchtformen von Wildziege und Wildschaf als Haustiere zu uns und nicht einmal beim Schwein können wir sicher sein, dass es von mitteleuropäischen Wildschweinen abstammt. Diese mischten höchstens nachträglich mit, als sich Hausschweine, die in die Wälder getrieben worden waren, um sich darin mit Eicheln und Bucheckern selbst zu mästen, mit wilden Ebern paarten. Solche Halb-Wildschweine wurden jedoch frühzeitig geschlachtet, um zu verhindern, dass die Hausschweine zu «wild» wurden. So verdanken wir der Germanen und Gallier liebstes Fleischtier ausgerechnet jenem Großraum, in dem später die Menschen aus religiösen Gründen das Schweinefleisch als unrein einstuften und nicht verzehren, nämlich dem eurasischen Nordrand der islamischen Welt. Zweifel sind sogar angebracht, ob wenigstens einige der vielfältigen Zuchtformen des Haushundes von west- und mitteleuropäischen Wölfen abstammen. Die wenigen Rassen, bei denen dies wahrscheinlich war, ließ man längst wieder aussterben. Klar liegt der Fall hingegen bei der Katze. Zur Hauskatze machten sie die alten Ägypter, zu deren Zeit sie als Göttin Bastet verehrt, zu Zigtausenden einbalsamiert und mit ähnlicher Sorgfalt wie Menschen zu Mumien verarbeitet wurde. Mit der europäischen Wildkatze mischt sich diese nordafrikanische Falbkatze zwar durchaus, weil beide Formen nicht artverschieden sind, sondern nur Unterarten darstellen, aber gerade das sieht man in Kreisen von Jägern und auf Rassereinheit bedachten Naturschützern höchst ungern. Die Mischlinge müssen, so ihr Credo, ausgemerzt werden. Diese Einstellung macht deutlich, dass
In dieser Situation geht gegenwärtig wieder die Angst um. Es ist die Angst vor einer «Globalisierung», die nicht allein die Wirtschaft und die Märkte, sondern auch «die Natur» zu erfassen droht. «Multikulti» in der Tier- und Pflanzenwelt sei doch furchtbar! Aber was heißt das? Soll die Warnung vor der Über-
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selbst nach Jahrtausenden ihres Hierseins die Hauskatze immer noch in gewisser Weise als Fremdling eingestuft wird. Und sollte sie im Stadtpark mal ein Kaninchen jagen, greift sie nach einer ihrer Urheimat näher liegenden Beute als beim Fang einer Amsel. Denn Kaninchen stammen von der Iberischen Halbinsel und gekommen sind sie mit den Römern. Diese führten sie in die Provinzen nördlich der Alpen ein und hielten sie in «Leporarien», weil man zu ihren Zeiten Kaninchenfleisch besonders schätzte. Währenddessen rückte der Feldhase mit der sich ausbreitenden Landwirtschaft aus den südöstlichen Steppen vor und wurde zum Charaktertier der Flur – und mit der Zeit auch zum Osterhasen. Zu dieser fremden Herkunft aller wichtigen Haustiere passt es, dass auch die allermeisten Heimtiere nicht von hier sind: Wellensittiche stammen aus Australien, Kanarienvögel von den Kanarischen Inseln (Kanarengirlitz), Meerschweinchen aus Südamerika und der Menge nach fast alle Aquarienfische aus den Tropen. Bleibt hinzuzufügen, dass sogar wir Menschen hierzulande nicht gerade Ureinwohner repräsentieren, sondern bunte Mischungen unterschiedlichster Herkunft darstellen. Die Bevölkerungen wurden im Laufe der Jahrhunderte durch Grenzziehungen der «Mächte» regional zu Staaten zusammengefasst. Die Mischung als solche lässt sich mit den neuen Methoden der Genforschung klar nachweisen (Cavalli-Sforza 2000), doch wer auf die Sprache hört, erkennt darin auf einfachere Weise, wie viele und wie unterschiedliche Einflüsse aus anderen Sprachen die aktuell benutzte geformt und bereichert haben. Deutsch ist eine starke Mischung, das Englische noch mehr – und die Mehrzahl der anderen «großen» Sprachen ebenfalls. Nur kleine, isolierte Sprachgruppen konnten sich da und dort «rein» erhalten. Ob zu ihrem Vor- oder Nachteil, muss offen bleiben.
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fremdung bedeuten, dass unsere ohnehin so fremde Natur nicht noch mehr Fremdes oder gar keine fremden Arten mehr verträgt? Was geschieht mit «unseren Arten», wenn die Fremden kommen und «sich wie ein Krebsgeschwür ausbreiten, infiltrierend, metastasierend», wie in einer deutschen Naturschutzzeitschrift in den 1990er Jahren zu lesen war? Diese Befürchtung wirft grundsätzliche Fragen zur Zukunft der Arten auf: Worauf wird «das Fremde» bezogen? Gab es einmal so etwas wie einen richtigen Naturzustand, in dem alles echt und einheimisch war? In welcher Zeit könnte das gewesen sein? War das die «gute alte Zeit», die man mit dem Jahre 1900 zu Ende gehen ließ? Nein, das kann es nicht gewesen sein, denn gerade im 19. Jahrhundert wurde kunterbunt gemixt, aus- und umgesetzt. Alles, was irgendwie möglich und attraktiv schien, versuchte man von irgendwoher einzubürgern oder umzusiedeln. «Akklimatisierungsgesellschaften» wollten das Spektrum «guter» und «nutzbarer» Arten vergrößern. Australien erhielt schon vor 150 Jahren seine heutige Fülle dem Kontinent fremder, europäischer Tierarten und auch große Mengen an Pflanzen aus «passenden Ländern» der übrigen Welt. Riesige Gebiete Süd- und Südostaustraliens sowie fast ganz Neuseeland wurden im 19. Jahrhundert «europäisiert». Die Probleme, die diese Importe verursachten, zeigten sich erst später. Umgekehrt wurden damals in Deutschland, im Rheinland, Kängurus ausgesetzt. In Russland liefen die Vorbereitungen zu einem besonderen Großprojekt an, das bis ins 20. Jahrhundert andauerte. Im russischen Großforschungsbetrieb Askania Nova sollten afrikanische Antilopen und nordische Elche zu Haustieren gemacht werden. Fast alle fremdländischen Bäume und Sträucher wuchsen schon seit Jahrhunderten oder seit vielen Jahrzehnten in Deutschland, als im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Diskussionen um «das Heimische und das Fremde» wieder aufflammten. Missionare hatten sie aus Ostasien, Kaufleute und Reisende aus Amerika oder Südafrika mitgebracht. Was also ist «heimisch» und wie lange ist eine Art «fremd», bis sie das Einbürgerungsrecht erhält? Gibt es überhaupt so etwas wie einen «Naturzustand der Natur»? Oder werden Vorstellungen und Wünsche nur an Bildern festgemacht, die aus der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts überkommen sind?
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Jede Gegenwart hat sich mit ihrer Herkunft schwer getan. Wahrscheinlich kann und will sich keine «Gegenwart» selbst schon als Geschichte, als etwas Vorübergehendes und Vergängliches also, betrachten. Die Gegenwärtigen empfinden sich als das Maß aller Zeiten und nicht als – vielleicht ziemlich belangloser – Augenblick der Geschichte. Die Menschen, die in der jeweiligen Gegenwart den Zeitstrom der Geschichte formen, halten sich in ihrem Leben für das Ende der Geschichte. Sie können nicht anders und sie wollen sich auch nicht als Teil des großen Stromes empfinden, der nicht nur beständig (und unerbittlich) weiterfließt, sondern der sich dabei mehr oder minder rasch wandelt. Dieser Strom ist etwas anderes als die Wiederkehr der Jahreszeiten oder der Kreis der Jahre. Wie ein Fluss in Raum und Zeit hat er Richtung und Geschichte. Sein «Ergebnis» ist Wandel. Wandel bedeutet Veränderungen und Evolution. Er prägt den Weg der Gegenwart in die Zukunft. Diese wird kaum jemals so aussehen wie die Vergangenheit, aus der sie hervorgegangen ist. Evolution gilt in den von den Naturwissenschaften geprägten Gesellschaften längst als unumstößliche Gegebenheit. Evolution hat das Sosein und das Gegenwärtigsein der Lebewesen geformt. Vieles, was uns an Tieren und Pflanzen auffällt oder bemerkenswert vorkommt, Abstruses und Bizarres eingeschlossen, wird in aller Regel als Anpassung an die besonderen Lebensbedingungen dieser Arten gedeutet und verstanden. Mehr noch: Alles, was solcherart natürlicherweise entstand, wird für «gut» gehalten. Was der Mensch verändert, nicht mehr. Auch wenn er in derselben Weise vorgeht, ausliest, züchtet und neue Formen nach seinen Wünschen schafft, die seiner Umwelt gemäß sind. Die moderne Genetik liefert die Beweise für die Einheitlichkeit allen Lebens: Das Erbgut zeigt sie und die abgestuften Veränderungen darin lassen den Prozess der Evolution sichtbar werden. Alle Organismen kommen aus einer Wurzel, deren Sprosse sich vielfach verzweigten und so im Erbgut die Spur der Evolution zurückließen. Wegen dieser gemeinsamen Abstammung kann man die verwandtschaftlichen Beziehungen in «Stammbäume» umsetzen, aus denen sich Nähe oder Ferne ablesen lässt. Die Stammbäume verraten aber noch mehr, nämlich wie lange etwa die Abspaltungen und Trennungen zurückliegen. Damit drü-
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cken sie in Linien und Zahlen von Computergrafiken genau jenen Fluss in Raum und Zeit aus, der das Wesen des Lebendigen ausmacht. Deshalb kann Evolution nicht mehr in Frage gestellt werden, genauso wenig wie die Fossilien als versteinerte Zeugen früheren Lebens auf der Erde heute noch als zufällige Spielereien der Gesteine abgetan werden können. Als Versteinerungen bringen sie den Wandel des Lebens auf der Erde unmittelbar zum Ausdruck. Das Unsichtbare im Erbgut, im Genom, konnte erst mit den methodischen Neuentdeckungen der letzten Jahrzehnte sichtbar gemacht werden. Übereinstimmend kennzeichnen jedoch beide, Fossilien und Genom, den Wandel. Evolution ist Wandel und das Leben erhält sich über Evolution am Leben. Darin liegt seine Beständigkeit. Diesen Wandel anzunehmen fällt vielen Menschen offenbar sehr schwer. Sie wollen Beständigkeit und versuchen den Strom der Zeit und des Lebens aufzuhalten. Kaum irgendwo sonst, von Religionen abgesehen, haben sich die Ablehnung von Wandel und die Bevorzugung von Beständigkeit so sehr ausgeprägt wie in der Ökologie. In ihrer gesellschaftlich verbreiteten Form als Öko-Bewegung gleicht sie mit ihrer «Rück-Bindung» (lateinisch re-ligio) an die guten alten Zeiten ungestörter, vom Menschen nicht veränderter oder belasteter Natur einer Naturreligion. Als Naturwissenschaft sieht die Ökologie zwar anders aus, aber dennoch enthält sie, wie jede Wissenschaft, auch gesellschaftliche Vorgaben aus der Zeit ihrer Entstehung und ihrer Entwicklung. Man könnte diese Mitgift auch eine Last nennen. Im Fall der Ökologie und ihrer zentralen begrifflichen Inhalte entbehrt das nicht einer gewissen Ironie. Denn ausgerechnet einer der besten und vehementesten Verfechter von Darwins Sicht der Evolution, der deutsche Biologe Ernst Haeckel, prägte 1866 den Begriff der Ökologie und gab dieser Wissenschaft damit Inhalt. Der Haushalt der Natur, den Haeckel mit dem Fachbegriff Ökologie meinte, sei zu verstehen wie ein Haus (griechisch oikos), das gut gebaut und wohl geordnet ist, Beständigkeit garantiert und einen ordentlichen Haushalt aufweist. Dazu gehören ein festes Fundament, stabile Mauern, gegliederte Räumlichkeiten, Stockwerke und ein schützendes Dach. Das «Haus der Natur» bekam so von Anfang an Statik, aber so gut wie keine Dynamik, keine Veränderlichkeit.
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Eine ordentliche Hauswirtschaft («Oeconomie») setzt nämlich voraus, dass Zu- und Abgänge zumindest ausgeglichene Bilanzen erzeugen. Wachsen (d. h. im Sinne des Hauses weiter «ausgebaut» werden) kann das Ganze nur, wenn mehr hineinkommt, als hinausmuss oder verloren geht. Ernst Haeckel wäre, seiner Begriffsbestimmung der Ökologie zufolge, die Bezeichnung Ökonomie sogar lieber gewesen. Denn er erläuterte seine Ökologie als «Oeconomie des Naturhaushaltes». Doch dieser Begriff war bereits vergeben. So bürgerte sich der Haeckelsche Ökologie-Begriff ein und wurde international als Bezeichnung für den Bereich der Beziehungen der Lebewesen zur Umwelt übernommen. Gemäß dem Bild eines fest gefügten Hauses war es geradezu «natürlich», dass dieses auch «stabil» zu sein hatte. Doch da es ganz offensichtlich in der Natur vielfältige Schwankungen und Veränderungen gibt, bedurfte das «Oikos» einer ganz wesentlichen Ergänzung. Es muss so etwas wie ein Gleichgewicht geben, das den Naturhaushalt aufrechterhält und immer wieder nachstabilisiert, wenn Abweichungen auftreten. Die Idee vom Gleichgewicht des Naturhaushalts passte zeitgeschichtlich bestens zu anderen Kräftegleichgewichten, etwa in der Politik oder bei den militärischen Konfrontationen vor dem Ersten und ganz besonders nach dem Zweiten Weltkrieg im so genannten Kalten Krieg zwischen West und Ost. Ungleichgewichte hingegen gefährden ganz offensichtlich eine Welt, die nach Gleichgewicht strebt und die sich ihren gegenwärtigen Zustand dauerhaft (er) erhalten möchte. Veränderungen mussten demzufolge abgelehnt oder gar bekämpft werden. Das war so in der Politik des späten 19. Jahrhunderts und so blieb es eigentlich auch bis in die jüngste Vergangenheit. Nicht anders sollte es sich daher mit dem Naturhaushalt verhalten. Er darf nicht gestört, verändert oder zum Zusammenbruch gebracht werden. Nicht nur «typisch Konservative» bauen darauf, sondern noch mehr tut das die «grüne Politik». Evolution vollzieht sich aber aus Ungleichgewichten heraus. Wäre die Welt stets (einigermaßen) unverändert und stabil geblieben, hätte unsere Erde weder die wunderbare Vielfalt an Lebewesen hervorgebracht noch Raum für neue Entwicklungen gegeben oder Fortschritte bringen können beim Auftauchen und bei der Ausformung des Geistes. Darwins Evolution geht
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nicht von einer stabilen, im «Gleichgewicht des Naturhaushaltes» befindlichen Welt aus, sondern von einer veränderlichen, die nicht von Anbeginn so gewesen sein konnte, wie sie heute ist. Evolution lässt sich bildhaft gleichsetzen mit einem «Spiel» auf sich fortwährend verändernden «Bühnen», wie es die amerikanische Ökologin G. Evelyn Hutchinson vor mehr als einem halben Jahrhundert ausgedrückt hatte: ein «evolutionäres Spiel» auf den «ökologischen Bühnen» der Zeit! Wer also Evolution für eine Gegebenheit hält, wer sie als grundsätzlich zutreffende Beschreibung der Entwicklung und Entfaltung des Lebens und seiner so faszinierenden Vielfalt erachtet, muss sich von der Vorstellung eines fest gefügten, «im Gleichgewicht befindlichen» Naturhaushalts lösen, in dem alle Lebewesen ihren festen Platz einzunehmen haben und der ausgerechnet in seinen gegenwärtigen Zuständen aufrechterhalten werden muss. Denn dieser «Naturhaushalt» kann als Bühne der Evolution nicht unveränderlich sein – ansonsten wäre das Spiel des Lebens an seinem Ende angelangt! Dem Naturhaushalt kann auch kein bestimmter Zustand als der einzig «richtige» zugeordnet werden, denn alle früheren wären dann «falsch» gewesen, gleichgültig, ob sie die gewaltigen Dinosaurier hervorgebracht hatten oder ob aus ihnen die Anfänge der Menschwerdung hervorgingen. Es kann die «Eiszeit» keine «Falschzeit» und die warmen Zwischeneiszeiten können als «Warmzeiten» nicht «richtig» gewesen sein. Sie waren so, wie sie geworden sind, brachten gewaltige Veränderungen in (sehr) kurzer Zeit mit sich und bestätigten mit ihrem Kommen und Gehen, dass das «einzig Beständige der Wandel ist». Die drei bis dreieinhalb Jahrhunderte der so genannten Kleinen Eiszeit zwischen etwa 1500 und 1850 können deshalb schwerlich den Idealzustand unserer Natur repräsentiert haben. Sie müssten aber eigentlich die «gute alte Zeit» gewesen sein, wenn es nach ihrem Ende «mit der Natur abwärts ging», weil das Klima wärmer wurde. Von einer solchen Annahme auszugehen ist offensichtlich unsinnig. Kein noch so kompetenter Ökologe ist in der Lage, einen bestimmten Zustand der Vergangenheit als den «besten» oder gar den einzig «richtigen» auszuweisen. Vielmehr wird ganz einfach angenommen, so wie es früher war (was immer damit gemeint sein mag), war es gut. Was
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sich ändert, kann daher nur schlecht sein, eben weil sich etwas (vom gewohnten Bild abweichend) verändert. So betrachtet kann natürlich die gegenwärtige Klimaerwärmung gar nichts anderes als etwas Schlechtes sein. Und wenn die Ereignisse, die als Vorzeichen der Änderung angesehen werden, gar «global» auftreten (weil wir sie jetzt per Fernsehen in nahezu Echtzeit global geliefert bekommen), schwillt die Änderung ganz von selbst zur drohenden Weltkatastrophe an. Nichts bleibt so, wie es ist, wird zwar gern als Phrase benutzt, aber anscheinend nicht wirklich geglaubt oder ernst genommen. Denn es soll sich ja nichts ändern! Die popularisierte Ökologie der letzten Jahrzehnte leistete einen ganz erheblichen Beitrag zu dieser «Nichts-darf-sichändern»-Haltung. Längst geht es für sie nicht mehr darum, «zurück zur Natur» zu kommen. Man ist bei der Natur ja schon wieder «angekommen», seit alles, was gut und annehmbar ist, «öko» oder zumindest «bio» sein muss. Was das bedeuten soll, lässt sich in aller Regel jedoch nur mit der abgelehnten, fortschrittlichen chemisch-physikalischen Analysetechnik und oft auch verbunden mit Unmengen von Tierversuchen bewerten. Nur so sind Menge und Gefährlichkeit der Inhaltsstoffe festzustellen. «Transgen» ist aus dieser Sicht von Natur aus gefährlich, weil es Änderung («Trans») bedeutet. Kaum jemand unter den Gegnern von genetisch veränderten Organismen weiß, dass ein Großteil sogar unserer Wildpflanzen Hybriden darstellen, die unterschiedliches Erbgut über die Artgrenzen hinweg in sich vereinigen. Symbiosen von Mikroben mit Pflanzen kommen dazu. Diese sind zwar höchst erfolgreich, wären aber nach der heutigen «ökologischen Auffassung» von Natur «unzulässig» und gar nicht genehmigungsfähig, hätte sie die Natur selbst nicht schon seit Urzeiten ungefragt erfunden und in fortgesetzter Nutzung erhalten. Die «Statik» in der Sicht schreibt eben vor, dass sich nichts am vorgefundenen (nicht vorgegebenen!) Zustand ändern dürfe, weil nur dieser gut und richtig sein könne. Diese Ablehnungshaltung reicht in ihrer Wirkung inzwischen sogar so weit, dass der allgemeine Prozess der Evolution gebietsweise schon wieder in Frage gestellt oder fundamentalistisch abgelehnt wird. Zwar ist das wenigstens in Europa, Nordund Ostasien noch nicht der Fall, aber die mit der Evolution
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verbundene Vorstellung vom «Fortschritt» müsse aufgegeben werden. Diese Auffassung vertrat sogar der höchst einflussreiche amerikanische Paläontologe und Publizist Stephen Jay Gould in seinem Buch Illusion Fortschritt. Von einem Menschen mehr zu halten als von einer Mücke, wäre ihm zufolge lediglich ein menschliches Vorurteil. Sollte diese radikale Änderung in der Sicht der Evolution um sich greifen und allgemein akzeptiert werden, müsste auch der Naturschutz seine Ziele und Strategien grundsätzlich überdenken und vieles ganz anders machen. Polioviren oder Fiebermücken zu erhalten bekäme zwangsläufig denselben Rang wie der Schutz von Tiger und Elefant. Die kleine Muschel im Donaustrom könnte ein großes Ausbauprojekt zu Fall bringen (zur Freude der Naturschützer), während gleichzeitig Meisen und Nachtigallen zweifelhafte Objekte des Artenschutzes würden, weil sie ja ihnen gleichwertige, geschützte Schmetterlinge und andere Raritäten der Insektenwelt verzehren und dadurch dezimieren könnten. Schließlich sollte aber ein «Haus der Natur», das in Ordnung ist, überhaupt keinen Naturschutz brauchen. Denn solche Arten, die ein im Gleichgewicht befindlicher Naturhaushalt nicht haben «will», verschwinden eben daraus, und es lohnt folglich nicht, sich um sie zu kümmern. Die Natur, die ohne Eingriffe des Menschen sich selbst überlassen bleibt, sorgt schon dafür, dass alles, was hineingehört, auch seinen Platz findet und behalten wird. Die immensen Artenverluste, die in geschützten Gebieten auftraten, weil diese sich selbst überlassen blieben, sprechen jedoch eine andere Sprache. Sie brachten Verarmung und keine Bereicherung. Die Wirklichkeit und das theoretische Vorurteil klaffen nicht selten weit auseinander. So ist es nicht verwunderlich, wenn unterschiedliche Gruppen von Naturnutzern und Naturschützern recht weit auseinander liegende Vorstellungen davon haben, worum es sich beim Gleichgewicht im Naturhaushalt handelt und wie dieses Gleichgewicht aussehen soll. Gewässer voller Fische natürlich und ganz wenige Vögel, die Fische fangen und fressen, wünschen sich viele Angler; einen Wald voller Wild möchten die Jäger, also praktisch ohne die Förster. Der Landwirt will keine Verluste an seiner Pflanzenproduktion hinnehmen. Der Naturfreund, der sich in der Flur ergeht, fordert «blühende Landschaften», die
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nicht nur einmal im Jahr in Goldgelb erstrahlen, wenn der Raps auf den Feldern oder der Löwenzahn auf den Wiesen blüht. Die Ausflügler in die Natur halten Stechmücken, Bremsen und Zecken für gefährliche, zumindest aber für entbehrliche Lebewesen. Deren Rolle im Naturhaushalt kümmert sie nicht. Zum Glück, denn nicht wenige Naturschützer und Ökologen kämen in arge Bedrängnis, müssten sie diese «Rollen» hinreichend überzeugend begründen. Da hilft auch kein Ausweichen auf das «Fließgleichgewicht» der Physiker, denn dieses findet eben gerade nicht im Gleichgewicht statt, sondern fern davon. Ilya Prigogine hat dies überzeugend dargelegt und für seine Erkenntnisse zu diesen sich selbst erhaltenden Strukturen fern vom Gleichgewicht (die er «dissipative Strukturen» nannte, weil sie Energie gewissermaßen verschleudern) den Nobelpreis erhalten. Naturschützer denken da lieber nach altem Schema vom sparsamen Umgang mit Energie im Haus der Natur und sie wollen dafür sorgen, dass dieses zerbrechliche Gebilde nicht zusammenbricht (als «Ökosystem»). Deshalb darf auch nichts Fremdes hineinkommen! Was dem einen die Eule, ist dem anderen die Nachtigall, sagt ganz treffend das Sprichwort. Manche ziehen deshalb heimische Blumen, die nicht gepflückt werden dürfen, den fremden Blüten der Gärten vor, die in vollen Sträußen die Wohnungen zieren können. Welche Betrachtungsweise gerade vorherrscht, bestimmen nicht die Fakten, sondern der Zeitgeist. Die Natur gibt nichts vor. Sie wertet nicht, denn sie ist keine Person. Die Urteile und Wertungen stammen von Menschen. Gegenwärtig schwingt das Pendel wieder in die Gegenrichtung, weil unsere Welt aus dem (politischen) Gleichgewicht geraten und «ungleich» geworden ist. Deshalb «darf» nun die Sichtweise wieder nach und nach abrücken vom lieb gewordenen Zustand des Gleichgewichts. Feststellungen, dass «die Natur» nie statisch war, sondern stets in Veränderung begriffen und dass Ungleichgewichte ihren Lauf begleiteten, die Evolution erst möglich machten, verlieren allmählich den Geruch der «politischen Inkorrektheit». Allmählich, denn die Ökologie(bewegung) tut sich ähnlich schwer wie eine fundamentalistische Religion, die alte Statik abzubauen und sich der Evolution und den sie begleitenden Veränderun-
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gen zu öffnen. Dennoch sollte bei aller Trauer um die alten Wunschbilder einer heilen Welt das Staunen über das Neue nicht verloren gehen. Eine ausgewogene Sicht erfordert beides: sich zu vergegenwärtigen, was schwindet, was verloren geht, zusammen mit einer möglichst vorurteilsfreien Betrachtung der Neuerungen, um gleichsam «Minus» und «Plus» einander gegenüberstellen zu können. Über die Gewichtungen wird man streiten können. Bedeutung erlangen sie ohnehin erst, wenn die Ursachen von Zu- und Abnahmen geklärt sind. Für ein statisches Bild der Natur mag die bloße Beschreibung ausreichen. Ihre Dynamik zu erkennen erfordert die Erforschung von Ursachen. Vermutungen reichen nicht, um die Veränderungen in der Tier- und Pflanzenwelt zu bewerten. Als «plausible Annahmen» können sie aber zum Programm für genauere Untersuchungen werden. Rückgänge nur zu beklagen rettet keine Art. Allzu viele Klagen stumpfen zudem ab. Wer jedoch als «gute Arten» grundsätzlich nur solche anerkennt, die abnehmen und zu verschwinden drohen, andere, die sich ausbreiten, aber von vornherein für «verdächtig», bedrohlich und «schlecht» hält, bringt kaum mehr als sein eigenes Vorurteil zum Ausdruck. Eine sachliche Beurteilung ist das nicht. Und wer dafür sorgt, dass die Bevölkerung weithin aus jener Natur ausgesperrt wird, die noch interessant ist und Vielfalt enthält, sollte schwindendes Interesse an Natur und Naturschutz nicht beklagen. Zum Glück ist sie bei weitem noch nicht so verarmt, unsere Natur, dass sie kein Interesse mehr verdiente und kein Staunen mehr hervorrufen könnte. Für Überraschungen ist sie allemal gut. Doch welche Zukunft wird sie haben? Was wird mit den Arten geschehen, die gegenwärtig noch die so wundervolle Vielfalt der Natur ausmachen? Werden spätere Generationen sie nicht mehr antreffen und erleben können? Was bedroht ihre Zukunft? Wird sich ihr Sterben aufhalten lassen? Neueste Einschätzungen, etwa aus den «Roten Listen der gefährdeten Arten», stimmen nicht gerade hoffnungsvoll. Ist die Lage so ernst, wie sie uns von Naturschützern dargestellt wird? Um Fragen und Probleme dieser Art geht es in diesem Buch. Die Beispiele sind gewählt, wie das immer der Fall ist. Die Fülle der Untersuchungen und Befunde könnten gegenwärtig auch die Großrechner der Klimaforscher nicht mehr bewältigen. Wenn eigene Untersuchungen stark in
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den Vordergrund gerückt werden, so aus einem ganz einfachen Grund. Es werden damit nicht die Befunde anderer aus ihrer Sicht verzerrt oder gar falsch dargelegt oder in unzulässiger Weise uminterpretiert. Jeder hat seine Meinung zu seinen Befunden. Das soll respektiert sein. Kritik trifft mich daher selbst und nicht andere Menschen. Kritik wird kommen. Das wird die Diskussion fördern und vielleicht jene, die in der Lage sind, über der Sache zu stehen, nachdenklich stimmen. Allein dies zu erreichen würde den Zweck des Buches rechtfertigen.
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Bedrohte Artenvielfalt
Die Zukunft der Arten gilt als hochgradig bedroht. Mindestens 6400 verschiedene Arten von Tieren sind gegenwärtig allein in Bayern «gefährdet», so die Bilanz der neuesten «Roten Liste gefährdeter Tiere Bayerns» (Bayerisches Landesamt für Umweltschutz 2003). Weitere rund 1700 Arten stehen auf der «Vorwarnliste». Nach drei Jahrzehnten intensiver Naturschutzpolitik ist das ein höchst mageres, ein geradezu beunruhigendes Ergebnis. Verbleibt doch nicht einmal mehr die Hälfte der insgesamt 16 000 untersuchten Tierarten auf der sicheren Seite. Fast genauso schlecht steht es um die bayerische Pflanzenwelt. Sieht so die Zukunft der Arten, das Schicksal der Vielfalt des Lebens aus? Die neuen Befunde, Anfang April 2004 in Augsburg vorgelegt bei der offiziellen Präsentation der aktualisierten Roten Listen durch das Bayerische Landesamt für Umweltschutz, beeindrucken einerseits durch Umfang und Gründlichkeit. Denn sie sind die bislang umfassendsten Roten Listen überhaupt. Aber bedeuten sie andererseits nicht auch ein weitgehendes Scheitern des Artenschutzes? In den gut 30 Jahren der Existenz des Bayerischen Umweltministeriums, der Artenschutzverordnungen und der europäischen Vogelschutzrichtlinie wurden die Roten Listen nicht nur nicht kürzer, sondern länger! Gegenwärtig sind, das besagen diese Listen, hierzulande erheblich mehr Tier- und Pflanzenarten gefährdet als zu Beginn der Erhebungen nach dem Europäischen Naturschutzjahr 1970. Die Verhältnisse in Bayern werden deutschlandweit für typisch erachtet. Was, so muss man fragen, haben dann Natur- und Umweltschutz in diesen Jahrzehnten gebracht? Was haben sie bewirkt, um die Artenvielfalt zu erhalten? Was ist die Erklärung auf dem Umweltgipfel von Rio 1992 wert gewesen, wenn sich nicht einmal ein nach globalen Maßstäben so reicher Staat wie Deutschland erfolgreich mit seinem «Spitzenland Bayern» ge-
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gen den Schwund der Artenvielfalt und die Naturverarmung stemmen kann? In all den Jahren des Naturschutzes hat man uns Menschen hier im Lande zwar mit großem Erfolg abgewöhnt, Wildblumen zu pflücken (weil sie geschützt sein könnten), Schmetterlinge oder Käfer zu fangen, und Vogelschutz ist uns eine Herzensangelegenheit! Aber sollte all das und all das viele Geld, das in den Naturschutz gesteckt worden ist, wirklich so wenig bewirkt haben, dass noch weniger als nichts herausgekommen ist? «Rote Listen der gefährdeten Arten» gibt es seit nunmehr etwa einem halben Jahrhundert. Ursprünglich von der Internationalen Naturschutzunion entwickelt, sollte die Auflistung die Schwerpunkte für den Artenschutz setzen. Das Ziel war klar und ist das auch bis in die Gegenwart geblieben: Es muss alles getan werden, um das Aussterben der gefährdeten Arten zu verhindern. Tatsächlich starb seither auch nahezu keine der von den ersten Listen erfassten Arten aus, weil die Schutzmaßnahmen Erfolg hatten. Die Rate des Aussterbens sank Ende der 1990er Jahre praktisch auf null – in krassem Gegensatz, wie es scheint, zu den Klagen der kleinen und großen, besonders auch der international tätigen Naturschutzverbände, die von Tausenden Jahr für Jahr aussterbenden Arten sprechen. «Jede Stunde verschwindet eine Art», verkündete die Umweltstiftung WWF Deutschland im Oktober 1993. Die Schätzung lag anscheinend viel zu niedrig, denn vier Jahre später kalkulierte Dobson (1997) das Zwanzigfache. Allerdings lässt sich keine einzige dieser ausgestorbenen Arten benennen und es liegt auch kein wirklicher Nachweis des Aussterbens vor. Das Verschwinden so vieler Arten wird vermutet, weil höchst artenreiche Tropenwälder in den letzten Jahrzehnten in so großem Umfang vernichtet worden sind (Reichholf 2004). Als «ausgestorben oder verschollen» gelten in Bayern zahlreiche Arten. Das geht aus den genannten neuen bayerischen Roten Listen hervor und damit hat es auch seine Richtigkeit. Denn das tatsächliche Verschwinden von Tieren oder Pflanzen in einem bestimmten, (politisch) abgegrenzten Gebiet ist etwas anderes als das wirkliche, endgültige Aussterben. Ausgestorbene Arten gibt es dann nicht mehr; nirgendwo! In Bayern oder in Deutschland ausgestorbene Tiere und Pflanzen können je-
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doch bereits in den Nachbarländern vorkommen und dort, je nachdem, welche Lebensbedingungen herrschen, sogar durchaus häufig und «nicht gefährdet» sein. So zum Beispiel «unser» Weißstorch. Er ist Symbolvogel des Artenschutzes und Hauptstück im Logo des Naturschutzbundes Deutschland (NABU), der aus dem Deutschen Bund für Vogelschutz hervorgegangen ist. Der starke Rückgang des Weißstorchs in Deutschland, der schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich geworden war, war Anlass für die ersten intensiven Storchenschutzmaßnahmen. Doch in Mittelost- und Osteuropa lebten zur selben Zeit über 150 000 Brutpaare, sodass «der Storch» als Art nicht gefährdet war. Eine andere, in Deutschland unmittelbar vom Aussterben bedrohte Vogelart, das Birkhuhn (Tetrao tetrix), kommt in einem riesigen Gebiet von Skandinavien bis Ostasien und von der nördlichen Waldgrenze bis zu den zentralasiatischen Steppen vor. Das Birkhuhn kann als Art keineswegs als gefährdet eingestuft werden, gleichwohl trifft das für die kleinen Restvorkommen in Deutschland zu. Regionale Gefährdung und großräumige Sicherheit bilden keinen Widerspruch. Sie sind vielmehr Teile, die zusammengehören. Aus Vorkommen und Verbreitung, Häufigkeit und Seltenheit geht hervor, ob eine Art insgesamt oder nur in bestimmten Gebieten gefährdet ist. Ein weiterer Faktor kommt hinzu. Die Verbreitungsgebiete der Arten, die «Areale», liegen keineswegs so fest, wie sie auf den Verbreitungskarten eingetragen sind. Das Atlasbild erweckt den Eindruck einer Beständigkeit, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Besonders an den Rändern kommt es immer wieder zu Verschiebungen. Zeitweise breiten sich die Arten aus, weil vielleicht die Witterung günstig war, oder ihre Vorkommen schrumpfen, weil die Lebensbedingungen ungünstiger wurden. Die Randzonen trifft das besonders und sie gelten als so genannte Verschleißzonen. In diesen Zonen reicht die Fortpflanzung oft nicht aus, um die örtlichen Vorkommen aus eigener Kraft zu erhalten. Überschüsse aus den zentralen Teilen des Areals füllen regelmäßig oder auch nur von Zeit zu Zeit diese Randzonen auf. In guten Jahren liegt der Fortpflanzungserfolg vielleicht hoch genug, um die Verluste in dieser Verschleißzone auszugleichen. Es kann auch Überschüsse geben, die eine weitere Ausbreitung ermöglichen. Doch die Neuansiedlungen sind oft nicht sehr von Dauer, weil an den
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Rändern die Lebensbedingungen zunehmend ungünstiger werden. Insgesamt ergibt sich aus all diesen Vorgängen die so genannte Arealdynamik. Verläuft sie über politische Grenzen hinweg, kann das dazu führen, dass manche Arten zeitweise «auf dem Vormarsch» sind, während sich andere «auf dem Rückzug» befinden und somit seltener werden. In welchem Umfang diese Dynamik den Grad der Gefährdung einer bestimmten Fauna und Flora beeinflusst, etwa im Fall der Tiere und Pflanzen Bayerns, bleibt zumeist offen. Auch in der neuesten Roten Liste wird nicht versucht, den Anteil solcher Arten am Rande ihres (großen) Verbreitungsgebiets denjenigen entgegenzustellen, die im Kern ihrer Vorkommen hier heimisch – und gefährdet sind! Erst seit die Gefahr einer Klimaänderung in der Öffentlichkeit diskutiert wird, richtet sich wieder mehr Aufmerksamkeit auf solche von Wetter und Klima (mit) verursachten Arealveränderungen. Sie müssen nun plötzlich neben den beiden bekannteren Gründen für Rückgänge von Arten, nämlich direkte Verfolgung und Vernichtung sowie Entzug von Lebensraum, in besonderer Weise berücksichtigt werden. Die früher so kleine Gruppe der «natürlichen Ursachen» bläht sich unter diesen neuen Gesichtspunkten nun anteilsmäßig ziemlich abrupt zu einer regelrechten Großkategorie «Folgen des Klimawandels» auf. In einem Raum, der wie Mitteleuropa geografisch mitten in einem klimatischen Übergangsgebiet liegt, haben aber solche Arealverschiebungen schon immer eine besondere Rolle gespielt. Denn hier treffen gleich vier sehr unterschiedliche Klimatypen zusammen – und das auch noch in recht vielgestaltiger Landschaft. So wirkt der atlantisch-gemäßigte Westen weit nach Mitteleuropa hinein und trifft dort sowohl auf den nordöstlich kontinental-kalten («borealen») Einflussbereich als auch auf das von Südosten heranreichende pannonisch-pontische sommerwarme Klima, während von Süden her mediterrane Einflüsse wirksam sind. Je nach Stärke und Dauer von Wetterlagen aus der jeweiligen Klimazone nehmen Arten, die diesen Verbreitungstypen angehören, mehr oder minder stark zu, während die anderen entsprechend abnehmen. Unterschiedlich stark ausgeprägte Jahreszeiten kommen hinzu. Kältewinter und kurze, aber heiße Sommer begünstigen bestimmte Arten, milde Winter, verbunden mit kühlen Sommern, dagegen ganz andere.
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So kann die «Erfassung» von Verbreitung und Seltenheit der Arten in einem Gebiet kaum mehr als einen kurzen Zeitschnitt liefern, der für durchschnittliche Verhältnisse durchaus angemessen sein, aber auch ziemlich daneben liegen kann. Zudem machen die Arten in aller Regel umso größere Schwankungen ihrer Häufigkeit durch, je kleiner sie sind und je kürzer ihr individuelles Leben währt. Wir kennen das von allgemein verbreiteten und häufigen Schmetterlingen oder anderen Insekten. In manchen Jahren sind etwa die Pfauenaugen sehr häufig, in anderen selten oder kaum zu sehen. Die jährlichen Unterschiede in der Häufigkeit können bei Kleintieren, wie den Insekten, das Hundertfache und mehr ausmachen. Vogelbestände schwanken im Vergleich dazu nur wenig. Am «stabilsten» sind naturgemäß Bestände von Bäumen, also Wälder (wenn sie nicht abgeholzt oder durch andere Nutzungen stark verändert werden). Bäume und Vögel machen jedoch nur einen sehr geringen Teil im Spektrum der in Roten Listen erfassten Arten aus. Unter den fast 20 000 Arten der neuen bayerischen Roten Listen vertreten sie gerade einmal gut 1 %! Alle hinreichend langlebigen, «stabilen» Arten zusammen ergeben noch keine 10 % des Gesamtspektrums. Beim großen Rest von wenigstens 90 % muss also mit einem starken «Artenumsatz» (turnover) gerechnet werden. Bei Schmetterlingen, wo dieser Umsatz mehrfach mit standardisierten Methoden (Lichtfang über viele Jahre) untersucht worden ist, bewegt er sich im Mittel von Jahr zu Jahr um 35 % des Artenspektrums. Aber von einem Jahr auf das andere kann er auch auf fast 70 % ansteigen oder mit nur wenig über 10 % recht unauffällig bleiben. Das hängt davon ab, welche Witterungsverhältnisse gegeben waren und wie groß die Unterschiede zum Folgejahr sind. Auf bestimmte Gebiete bezogen, muss darüber hinaus eine mehr oder minder lange Untersuchungszeit veranschlagt werden, bis das Artenspektrum genau genug erfasst ist. Je mehr Arten es gibt, desto länger ist die Mindestzeitspanne. Wiederum bei Schmetterlingen hat sich gezeigt, dass die Untersuchung artenreicher Auwälder etwa sieben bis neun Jahre erfordert, bis wenigstens 90 % der darin vorkommenden Schmetterlingsarten (Tag- und Nachtfalter sowie Kleinschmetterlinge) nachgewiesen sind. In artenärmeren Großstadtgärten reichen drei bis vier Jahre. Auch
0 = ausgestorben oder verschollen über 1 = vom Aussterben bedroht, 2 = stark gefährdet, 3 = gefährdet, zu
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das ist noch lange genug, verglichen mit der Zeit, die für solche Untersuchungen zumeist zur Verfügung steht. Die meisten Erhebungen werden viel zu kurz angesetzt. Zwei bis drei Jahre Forschung reichen in aller Regel bei weitem nicht, um bloße Schwankungen, die Fluktuationen, von echten Trends mit Zuoder Abnahme zu unterscheiden. Entsprechend «schwach» sind tatsächlich die Einstufungen zur «Gefährdung». Denn die wenigsten der ihnen zugrundeliegenden Untersuchungen erfüllen die Kriterien für verlässliche Erfassungen und Bewertungen (Reichholf 1993). Liegt es also an den unzureichenden Methoden, dass sich Erfolge im Artenschutz – von wenigen Säugetieren und einigen besonderen Vogelarten abgesehen – kaum zeigen? Warum sind die Roten Listen so lang, wie sie (geworden) sind? Wurden sie lediglich deshalb «länger», weil mehr Arten berücksichtigt wurden? Oder drücken sie doch verlässlich genug aus, wie sich das Spektrum der Arten in unserer Zeit verschoben hat? Das sind alles andere als «akademische Fragen», denn an den Roten Listen sind die Artenschutzgesetze und -verordnungen festgemacht worden. Abnahmentendenzen und Seltenheit von Arten sind ihr Grundkriterium. Die Schutzbestimmungen schließen aber viele Nutzungen von frei lebenden Tier- und Pflanzenarten oder sogar eine auch nur nähere Beschäftigung mit ihnen aus. Deshalb sollten die Vorgaben kritischer Überprüfung standhalten, um die von den Gesetzen und Verordnungen für die Allgemeinheit verfügten Einschränkungen zu rechtfertigen. Halten sie stand? Im Großen und Ganzen nicht! Dieses Urteil wird nachfolgend begründet. Betrachten wir zunächst, in welchem Ausmaß die verschiedenen Gruppen der rund 16 000 «erfassten» Tierarten als gefährdet eingestuft worden sind. Die Kriterien reichen von Kategorie
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G = Gefährdung anzunehmen, aber Status unbekannt, R = extrem seltene Arten und Arten mit geografischen Restriktionen, V = Arten der «Vorwarnliste» sowie D = Daten defizitär. Das System ist logisch. Es drückt sowohl unterschiedliche Grade der Gefährdung (soweit das bekannt oder einigermaßen begründet anzunehmen ist) als auch Annahmen aus, die auf Meinungen der Kenner der verschiedenen Gruppen beruhen. Die Kategorie «R» beinhaltet aber nun gerade nicht, was sie enthalten sollte, nämlich die vielen Arten, deren Vorkommen hier in Bayern (oder Mitteleuropa) am Rand ihres (viel größeren) Areals liegen, sondern sie meint lediglich «seit jeher seltene oder lokal vorkommende Arten, für die kein merklicher Rückgang und keine akute Gefährdung zu erkennen sind». Damit fehlt von vornherein eine Zuteilung zur Randlage. Das schließt Dynamik so gut wie ganz aus und bezieht die Befunde oder Einschätzungen der Experten auf einen als fest anzunehmenden Ausgangszustand. Benannt oder gar begründet wird dieser nicht. Als Ausgangsjahr erkennt man grob (und willkürlich) das Jahr 1900. So bleibt nichts anderes übrig als der Bezug auf die erste (bayerische) Rote Liste und die Seltenheit oder die Abnahmetendenzen. Unter diesen Rahmenbedingungen haben sich die allgemeinen Prozentsätze der Gefährdung der bayerischen Tierwelt und die spezielleren der einzelnen Tiergruppen ergeben. Abb. 1 zeigt das Ergebnis für alle 16 000 in die Bewertung einbezogenen Tierarten Bayerns. Sie machen geschätzt etwa die Hälfte aller in diesem Land vorkommenden Tierarten aus. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die gleichzeitig veröffentlichte «Rote Liste gefährdeter Gefäßpflanzen Bayerns mit regionalisierter Florenliste». Dieser Erfassung liegt die gesamte Artenausstattung der Pflanzenwelt Bayerns zugrunde. Diese setzt sich zusammen aus 2704 «einheimischen Arten (Sippen)» und 374 «Eingebürgerten». Die Erörterungen, ab wann eine frei wachsende Pflanzenart als «einheimisch» angesehen werden darf, nimmt viel Raum ein und führte zu mehreren «Grenzwerten», darunter als wichtigen Wert das Jahr 1800. Gefährdet sind demnach 1170 einheimische Pflanzenarten
27 Abb. 1: Prozentsätze der Gefährdungsgrade von Bayerns Tierwelt (16000 Arten), Zustand im Jahre 2003. Vom Aussterben bedrohte, stark gefährdete und gefährdete Arten nehmen zusammen einen Anteil von 31% ein. Die weiteren Kategorien (Vorwarnliste, Gefährdung anzunehmen, Seltenheiten und Datenmangel) erhöhen auf 51%. Als «nicht gefährdet» gilt knapp die Hälfte der bayerischen Fauna.
(43 %) und fast 53 % wurden insgesamt in die Rote Liste aufgenommen. Da auch unter den 374 neu angesiedelten Pflanzenarten, den so genannten Neophyten, 79 Arten oder knapp 21 % rückläufig sind, drückt deren Einbeziehung schon deutlich besser die Dynamik aus. So argumentieren auch die Hauptverfasser dieser Pflanzenliste, dass eigentlich wünschenswert wäre, den artenreichsten Zustand Bayerns als Bezug wählen zu können. Da nach neuestem Stand jedoch 374 Neophyten den 78 ausgestorbenen und verschollenen Pflanzenarten Bayerns gegenüberstehen und mit weiterer Ansiedlung von Neophyten zu rechnen ist, könnte dieser artenreichste Zustand erst noch kommen. Denn immerhin gibt es gegenwärtig fast fünfmal mehr neue Pflanzenarten in Bayern, als verschwunden sind. Eingebürgerte machen genau 12% der Gesamtflora aus, verschollene Arten aber nur 2,5 %. Die Festlegung auf das Jahr 1800 erscheint daher auch ziemlich willkürlich, zumal es damals schon sehr viele frühere Neophyten gegeben hat, die heute zu den Einheimischen gerechnet werden; 2000 wäre als Stichjahr genauso gut oder schlecht!
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Die größere Klarheit in der Pflanzenliste drückt daher deutlicher das Ringen mit der Zeit und den Veränderungen aus, als das aus der Tierliste hervorgeht. Beide betonen, ganz zu Recht, dass die Gefährdung der Artenvielfalt (trotz Zuwanderer und Einbürgerungen) in den letzten 30 Jahren deutlich bis stark zugenommen hat. So stieg der Prozentsatz der gefährdeten Pflanzenarten von 1986 (32 %) bis 2002 weiter auf das nun fast Doppelte von 1974 (24 %), nämlich auf 43 % an. Aber es war kein Prozess, der nur in eine Richtung verlief. Denn von den 1986 als gefährdet eingestuften Arten blieben knapp zwei Drittel auf diesem Status, für 21 % wurde die Lage ungünstiger und für 15 % günstiger eingestuft. Die Zunahme des Gefährdungsgrades setzt sich also aus Bilanzen von Gewinnen und Verlusten zusammen. Nun drängt sich aber schon bei oberflächlicher Betrachtung von Endergebnis und Verteilung auf die Gefährdungskategorien der Eindruck auf, die Prozentsätze würden bei Tieren und Pflanzen recht ähnlich liegen. Abb. 2 gibt diesem Eindruck Recht. Lediglich die erheblich geringere Artenzahl bei den Pflanzen (ein Fünftel der Tierarten) verschiebt die Prozentsätze in etwas höhere Bereiche. Die Korrelation beider Sätze fällt hoch signifikant aus. Diese Übereinstimmung kann schwerlich darauf zurückgeführt werden, dass die Menschen in Bayern in fast gleichem
Abb. 2: Vergleich der Gefährdungsgrade verschiedener Kategorien von Fauna und Flora in Bayern (2003).Quelle: Bayer. Landesamt Umweltschutz 2003
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Umfang unterschiedslos die Pflanzen und die Tiere verfolgen und dadurch seltener gemacht oder in Gefahr gebracht haben. Die hohe Übereinstimmung muss andere Gründe haben. Da bekanntlich viele Pflanzen recht eng an bestimmte Lebensstätten (Biotope) gebunden sind, liegt die Annahme nahe, dass der Zusammenhang über diese zustande kommt. Eine genauere Betrachtung der Tiergruppen bekräftigt diese Vermutung (Abb. 3). Den höchsten Gefährdungsgrad weisen demnach die reichlich unbekannten und nicht bekämpften Dunkelmücken (Thaumalaeidae) auf, während die lästigen, stechenden und häufig tot geschlagenen Gnitzen (Ceratopogonidae) und Bremsen (Tabanidae) mit 24 und 26 % ungleich besser wegkommen. Die von nur wenigen Spezialisten gesammelten (und von ihnen bestimmbaren) Kleinschmetterlinge sind prozentual stärker gefährdet als die viel größeren und für Sammler attraktiveren Nachtfalter. Fische werden umfangreich gehegt und durch Besatzmaßnahmen in ihren Beständen gestärkt. Sie «gehören» vollständig in allen Arten der Fischerei und unterliegen damit klaren Regelungen von Fang oder Schonzeiten. Dennoch fällt ihr Gefährdungsgrad fast genauso hoch aus wie jener der Frösche und Molche, die nicht zum Fischereirecht gehören. Den von der Forstwirtschaft zeit- und gebietsweise sehr heftig bekämpften Borkenkäfern (und den zu dieser Gruppe gerechneten Breitrüsselkäfern und Kernkäfern) geht es ungleich besser als den vollständig geschützten Lauf- und Sandlaufkäfern oder gar den gemeinhin geschätzten Bienen und Ameisen. Hieraus ergibt sich ganz klar, was die anderen, noch weniger bekannten und beachteten Gruppen der Tiere noch verstärkt zum Ausdruck bringen, nämlich dass weder die direkten Verfolgungen noch genereller Schutz in irgendeinen Zusammenhang mit dem Gefährdungsgrad der 16 000 Tierarten zu bringen sind. Die Ursachen müssen anderer Natur sein und sie wurden offenbar von der Unterschutzstellung so vieler Arten und ganzer Artengruppen so gut wie überhaupt nicht in ihrer Wirkung vermindert. Wäre die Inschutznahme nämlich wirksam gewesen, hätten nach 20 oder 30 Jahren auch generelle Erfolge vorzeigbar sein müssen. Doch das Gegenteil ist der Fall, wie im allgemeinen
30 Abb. 3: Gefährdungsgrade für 22 ausgewählte Tiergruppen in Bayern. Angaben in Prozent des Artenspektrums. Zusammengefasst aus den Roten Listen für Bayern von 2003
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Teil der «Roten Liste gefährdeter Tiere Bayerns» in vollem Klartext festgestellt wird: «Trotz unverkennbar verstärkter Schutzanstrengungen und zahlreicher Einzelprojekte (z. B. BayernNetzNatur mit 300 Projektgebieten, diverse Artenhilfsprogramme, Ausbau und Weiterentwicklung des Vertragsnaturschutzes) konnte der landesweite Rückgang vieler Arten nicht gestoppt werden.» Die vom Artenschutz verfügten Beschränkungen hatten also die Ursachen (die Verursacher) gar nicht getroffen. Wer früher einen Blumenstrauß pflückte oder als Kind Froschlaich zur Entwicklung brachte, Raupen zu Schmetterlingen züchtete oder sich eine nestjunge Dohle vom Kirchturm holte, um sie aufzuziehen und frei fliegen zu lassen, kann ebenso wenig Verursacher der Artenrückgänge gewesen sein wie die begeisterten Käfer- und Schmetterlingssammler, die Hobby-Naturfotografen und die Naturliebhaber, die durch die Büsche krochen, um seltene Tiere zu beobachten. Ihnen allen wurde der nähere Umgang mit den geschützten Arten verboten. Genützt hat das Verbot, hat dieser «Artenschutz» nichts. In der Gesamtbilanz zumindest; die Ausnahmen, in denen der Schutz den betroffenen Arten tatsächlich nutzte, verdienen eine genauere Betrachtung. Denn sie lassen erkennen, woran es lag und woran es vielfach auch heute noch liegt, dass Arten selten werden, zu verschwinden drohen oder auch wiederkommen. Ihre Fallbeispiele beweisen, dass das gleiche Urteil wie für die «geschützten Arten» auch auf die allermeisten Naturschutzgebiete zutrifft. Der Schutz erfüllt auch als Gebietsschutz seinen Zweck nicht, weil er mit den Einschränkungen oder Aussperrungen der Interessierten die eigentlichen Belastungen der Gebiete nicht aus der Welt schafft oder auch nur mindert. Auf keinen Fall eignen sich aber so umfassende Rote Listen dafür, als Instrumente gegen Veränderungen in der Landschaft eingesetzt zu werden. Bei konsequenter Anwendung von Vorkommen, Gefährdung oder Verdrängung von «Rote-Liste-Arten» würden nämlich sehr viele der Naturschutzgebiete «fallen», denn sie haben durch die (oder seit der) Unterschutzstellung mit Sicherheit auch «Rote-Liste-Arten» verloren. Gerade die seltenen Arten sind unstet und wenig verlässlich. Ihr «Umsatz» liegt, wie oben bereits ausgeführt, viel zu hoch, um eine hinreichende Beständigkeit an Ort und Stelle zu gewährleisten. Nur
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Bäume und andere Pflanzen, die lange leben, sowie die Vögel erfüllen in Mitteleuropa die Kriterien genügend geringer Umsatzraten im Artenspektrum, um im Sinne der «Rote-ListeArten» Verwendung finden zu können. Ihr guter Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung kommt dem entgegen und umgekehrt erzeugt die Unkenntnis der speziellen Kleintierarten, die außer einigen wenigen Spezialisten niemand überhaupt bestimmen kann, völlig zu Recht großes Unbehagen. Die einzelne Motte sagt den allermeisten Menschen so gut wie nichts, mag sie auch bei starker Vergrößerung noch so schön sein. Mit Rotkehlchen und Seeadlern, alten Eichen oder Eiben, mit Orchideen und Silberdisteln hingegen kann man auch das Interesse bei jenem Teil der Bevölkerung wecken, der zwar Natur grundsätzlich als etwas Gutes ansieht, aber allzu direkten Kontakt damit meidet. Die Erfolge des Artenschutzes betreffen daher typischerweise die bekannten, die großen und die schönen Arten. Von den 10 000 von Bayern auf Deutschland hochgerechnet als gefährdet anzusetzenden Tier- und Pflanzenarten eignen sich höchstens ein paar Prozent für die Roten Listen und für positive Wirkungen, die davon ausgehen sollen. Für alle anderen gilt, was längst hinlänglich bekannt ist, aber verdrängt wird, dass sich ihr Schutz nämlich praktisch automatisch über die Erhaltung ihrer Lebensräume ergibt. Und bei diesen, bei den Biotopen, setzt das eigentliche Problem an. Der Artenrückgang, die Zunahme der Gefährdungsgrade und das Verschwinden zahlreicher Arten aus Mitteleuropa hängen mit den Veränderungen in den Biotopen zusammen. Ein Artenschutz, der nicht verhindern kann, dass die Biotope umgewandelt, vernichtet oder nicht immer wieder neu geschaffen werden, hat keine Basis. Er bleibt auf dem Papier und er wird die besten Mitstreiter für die Erhaltung der Artenvielfalt, die Naturfreunde in der Bevölkerung, nach und nach verlieren. Denn sie sind die eigentlichen Verlierer. Ihnen wird durch die Naturschutzgesetze und die Verordnungen sehr viel Natur vorenthalten. Der Nachweis, dass sie «schuld» waren an Rückgängen oder Schäden, ist hingegen nicht erbracht worden. Die Singvögel wurden nicht häufiger, seit sie unter Schutz stehen, die Frösche und die Eidechsen ebenfalls nicht. Fast alle Orchideen stehen nach wie vor in der Roten Liste, obwohl sie vom Gesetz her umfassend geschützt
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sind und sich daher hätten erholen sollen. Den Fischen brachte die vollständige Einbeziehung in das Fischereirecht gleichfalls keine Erholung und nicht viel anders verhält es sich bei den meisten der jagdbaren, aber vollständig geschonten Wildarten. Nur wenigen kam der Vollschutz zugute; zu wenigen, um mit ihnen die Überlegenheit des Jagdrechts gegenüber dem Naturschutzrecht demonstrieren zu können. Der Anteil gefährdeter Arten beim jagdbaren Wild liegt höher als bei den nichtjagdbaren Singvögeln oder Kleinsäugern. Es muss also über allem ein Hauptfaktor liegen, der die Rückgänge verursacht, die Inschutznahmen nicht zur Wirkung kommen lässt und Wiedererholungen weitgehend verhindert. Dieser Hauptfaktor muss dort zu finden sein, wo alle drei Rechtssysteme ansetzen und sich weithin als unwirksam erwiesen haben, den Artenschwund zu stoppen. Der gemeinsame Bezug aller ist das Land, die Fläche. Es ist der Lebensraum in der Vielfalt seiner Lebensstätten, der Biotope. Es sind die Orte, an denen sich das Leben der bunten Vielfalt der Arten abspielt, um die es geht. Von der Art der Biotope, von ihrer Verteilung und Häufigkeit sowie von den Veränderungen, die sich in ihnen vollziehen, hängt es ab, welche Arten gefährdet sind, seltener werden oder verschwinden. Oder auch, wer sich wieder ausbreiten und neu ansiedeln kann. Die Bilanzen der Roten Listen, so wie sie sich in den letzten drei Jahrzehnten darstellen, sind ein Spiegel der Veränderungen in der Nutzung unseres Landes. Von den Nutzungen hängt das Schicksal der Artenvielfalt ab, nicht von den Artenschutzgesetzen. Denn diese sind hinsichtlich der Nutzungen und der Nutzer so gut wie unwirksam geblieben. Zur Wirkung hätten die Gesetze und Verordnungen auch gar nicht kommen können, denn die «Nutzer», allen voran die Landwirtschaft, waren ausgenommen. Ordnungsgemäße Landwirtschaft stellte keinen Eingriff in den Naturhaushalt dar, wie das alte Bundesnaturschutzgesetz eindeutig feststellte. Für den Artenschwund ist sie der Hauptverantwortliche (Reichholf 2004). Aber nicht nur die Landwirtschaft ist schuld. An zweiter Stelle stehen Natur- und Umweltschutz als Verursacher von Artenschwund und Verlängerer der Roten Listen! An dritter Stelle kommt die Verfolgung größerer Tiere, die diese scheu und empfindlich macht. Ganz
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nachrangig als «Verursacher» sind inzwischen die «klassischen Feindbilder des Naturschutzes», nämlich Bau- und Siedlungstätigkeit, Industrie und Verkehr. Das «Klima» wirkt bei den jährlichen Fluktuationen. Als Trend lässt sich die Klimaerwärmung aber nur dann «beweisen», wenn einzelne Arten hochgradig selektiv herausgegriffen werden. Die größte Herausforderung für den Naturschutz jedoch ist er selbst mit seinen Auswirkungen und Nachwirkungen.
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Artenschwund durch Naturschutz
«Vom Schlechten des Guten» schrieb Paul Watzlawick (1986) und beleuchtete damit eine bemerkenswerte Seite unseres Strebens: Was einmal als «gut» und «richtig» angesehen oder erkannt worden ist, wird durchgeführt, auch wenn das bittere Ende kommt. Die Umkehrung, nämlich «vom Guten des Schlechten», charakterisierten Dirk Maxeiner und Michael Miersch (2001) im «Mephisto-Prinzip». Auch der Naturschutz unterliegt, wie alle menschlichen Aktionsfelder, diesem Grundsatz, dass das Gute nicht immer und überall und für alle Zeiten gut ist und bleibt. Ungewollt gerieten daher nicht wenige Maßnahmen und Erfolge des Naturschutzes unversehens zum Gegenteil des Angestrebten. Der Naturschutz wurde sich selbst zum Naturschutzproblem. Die nachfolgend schwerpunktmäßig herausgegriffenen Bereiche, in denen dies der Fall ist, belegen nicht nur diese «ungeheuerliche Feststellung», sondern zeigen auch, wo die Hauptprobleme für den Natur- und Umweltschutz liegen. Sie lassen sich fast immer auf eine Fehleinschätzung von «Mensch und Natur» zurückführen – eine Fehleinschätzung deshalb, weil «der Mensch» als etwas grundsätzlich Unnatürliches, Naturfremdes oder gar als eine «Fehlentwicklung der Natur» angesehen wird (Reichholf 2002) und daher im Gegensatz zu «der Natur» stehen müsse. Was immer er auch tut, es stellt einen «Eingriff in den Naturhaushalt» dar, während dasselbe, von Tieren gemacht oder von Naturkräften bewirkt, gut und richtig ist. Gefragt ist auf der Basis dieser Grundeinstellung nicht mehr, was sich aus der Reaktion der anderen Arten von Lebewesen, also der Betroffenen selbst, ablesen lässt, sondern was dem Bild oder Vorurteil entspricht. Wird das Bild «gestört», ist der Naturhaushalt gestört und die «Störung» muss abgestellt werden. So geschah es zu Beginn der modernen Naturschutzära in einer ganzen Reihe von Fällen, die als Eingriffe in den Natur-
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haushalt angesehen wurden. Zum Beispiel mit den Kiesgruben. In den 1970er Jahren wurden sie zu «Wunden in der Landschaft» erklärt, die nicht länger hingenommen werden könnten. Der wilde Kiesabbau sei deshalb nicht länger zu tolerieren. Bedarf war zwar gegeben, sehr hoher Bedarf sogar, weil noch viel gebaut wurde, aber der müsse eben über Großanlagen gedeckt werden. Kiesabbaupläne hatten dafür zu sorgen, dass besondere Gebiete ausgewiesen wurden, in denen Kiesabbau noch grundsätzlich möglich ist. Über strenge Renaturierungsauflagen sollten jedoch auch diese Wunden in der Landschaft geheilt, zumindest abgedeckt werden. Auf diese Weise entstanden zahlreiche große Baggerseen, die sich hervorragend als Erholungsgebiete eigneten. Die Ufer wurden entsprechend abgeflacht, zu Liegewiesen umgestaltet oder parkartig angelegt. Steilufer kamen natürlich nicht in Frage, es könnte ja jemand abstürzen. Als Grundwasserseen hatten die Baggerseen den Vorzug, klares Grundwasser zu enthalten. Abwassereinleitungen oder Belastungen aus dem Einzugsbereich, wie sie bei Flüssen auftreten, sowie Verschmutzungen durch Hochwasser gab es nicht. Die Baggerseen brauchten nur für die Erholungszwecke «gestaltet» zu werden, dann waren sie nach Abschluss der Kiesnutzung geeigneter für die Nah- und Fernerholung als Naturseen. Baden, Surfen, Tauchen und außerhalb der Badesaison auch Angeln oder im Winter der Eislauf bieten auf diesen Baggerseen ein nahezu komplettes Spektrum an Erholungsmöglichkeiten und Freizeitaktivitäten. Längst sind sie unverzichtbarer Bestandteil der Naherholung. Sofern das Grundwasser nicht zu sehr belastet ist mit Nährsalzen wie Stickstoff- und Phosphorverbindungen (Nitraten, Phosphaten), die aus den umliegenden Fluren als Düngerverluste einsickern, halten sich solche Baggerseen auch jahrzehntelang in einem für die Erholungsfunktionen günstigen Zustand. Inzwischen entwickelt sich das Grün am Ufer, schließt die Kulisse und lässt den Eingriff in die Landschaft optisch verschwinden. Die Wunde, die der Natur geschlagen wurde, kann als geheilt gelten. Alles ist bestens gelaufen. Das gilt ohne Zweifel für die Erholungssuchenden und ganz gewiss auch für die Planer von Freizeitanlagen oder von Landschaftsgestaltung. Vielerorts leisteten sie hervorragende, das ästhetische Empfinden der Menschen befriedigende Arbeit.
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Doch nach und nach mussten offenbar Zugeständnisse an den Naturschutz gemacht werden, obgleich es doch der Naturschutz war, der diese Konzentration des Kiesabbaus und die Folgenutzung als «Landschaftsseen» durchgesetzt hatte. Seine Forderung, die Wunden in der Landschaft zu heilen, wo sie dieser unvermeidlich geschlagen (gegraben) werden mussten, war doch voll und ganz erfüllt worden! Es gab keine kleinen Kieslöcher mehr irgendwo und in großer Zahl verstreut übers Land, wo immer unter der Bodenoberfläche Kies, Sand oder Lehm in abbauwürdiger Form vorhanden sind, sondern die bestens geplanten, klaren Genehmigungsverfahren unterzogenen Tagebaue. Nun aber mussten an diesen so perfekt gestalteten Landschaftsseen Ecken eingerichtet und nicht selten mit hohen Zäunen abgegrenzt (besser: eingesperrt) werden. Schilder verkünden, dass es sich dabei um «Biotope» (Betreten verboten!) handelt. Die Sicherung von Biotop-Ecken gehört mittlerweile zum Standardrepertoire der Landschaftsplanung. Irgendwo am Rand lassen sie sich schon unterbringen. Wie es drin aussieht, geht ohnehin niemanden (mehr) etwas an. Denn die Biotope sollen sich selbst überlassen bleiben und dürfen nicht gestört werden. Die zuständigen (unteren) Naturschutzbehörden nehmen das so ernst, dass sie dafür sorgen, dass hohe, möglichst unüberwindliche Zäune den Zugang verwehren. Sie selbst gehen auch nicht hinein – und stören daher nicht. Allerdings hätten sie in aller Regel auch gar nicht die Zeit, alle Biotope, die ihnen zugeteilt sind, regelmäßig zu kontrollieren, um deren Entwicklung und die dort ablaufenden Vorgänge lückenlos dokumentieren zu können, für Auswertungen zum Beispiel. Doch da die Natur hier für die Natur da sein soll und nicht, wie der große Rest des Gebiets für die Menschen, spielt das auch keine Rolle. Die Natur wird mit sich selbst schon zurechtkommen. Offenbar ist das aber nicht der Fall. Denn sonst mussten sich ja entsprechende Erfolge in den Gefährdungsgraden jener Arten zeigen, die in den Roten Listen erfasst sind. Und es sollte auch kaum nötig sein, unabhängig von solchen aus dem Abbau von Kies, Sand oder Lehm hervorgegangenen Landschaftsseen mit ihren «Biotopen» weitere solcher Biotope in großer Zahl künstlich anzulegen. Weil es an natürlichen Biotopen dieser Art mangelt! Worum handelt es sich? Wieso kam der Mangel zu-
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stande? Durch den Naturschutz! Denn es waren die ungezählten Kleingewässer sowie die trockenen Kies- und Sandgruben, die stetig über Jahrzehnte und Jahrhunderte immer wieder neu gemacht (gegraben) worden waren, an denen es nun – nachdem sie verboten worden sind – so sehr mangelt! Der geplante Großabbau kann nur in Sonderfällen nebenher das Angebot an Kleingewässern und sandig-trockenen, offenen Bodenbereichen verbessern. In aller Regel unterliegen die Abbaugenehmigungen dem Zwang zur Rekultivierung, was zumeist Bepflanzung mit standortgerechten Gehölzen bedeutet und vielfach auch, wo kein Landschaftssee mit nachfolgender Erholungsfunktion entstehen soll, die Auflage zur Wiederverfüllung einschließt. Am schnellsten wiederverfüllt (und damit von der Bildfläche verschwunden) sind die flachen Kleingewässer am Rand; am leichtesten wieder aufgeforstet werden können die mit kleinen Feuchtstellen durchsetzten Abgrabungsbereiche. Die Bilanz fällt für mehrere Großgruppen von Tieren und Pflanzen verheerend aus. Die Kleingewässer verschwinden. Sie verlanden, werden zu intensiv besetzten Fischweihern umgewandelt, so es sie noch gibt, oder verfüllt. Die Abgrabungsstellen werden gleichfalls zu Deponien für die Wiederauffüllung umfunktioniert. Ihre Wände müssen abgeschrägt und bepflanzt werden, damit sie sich wieder harmonisch ins Landschaftsbild einfügen. Zurückbleiben dürfen nach dem Abbau keine unordentlichen Haufen nicht benutzten Materials, keine Löcher oder sonstig Störendes, denn alles muss ja wieder seine gute Ordnung haben und sollte gefällig aussehen. Das «Urteil» der Tiere und Pflanzen zählt nicht mehr. Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass es sich dabei um das Todesurteil für sehr viele Arten handelt. Sie werden unserem Sinn (oder Unsinn?) für Ordnung und einem Phantom geopfert, das da «Wunden in der Landschaft» hieß. Einmal eingeführt und für gut befunden, lässt sich die vollkommene Planung nicht mehr auf ein vernünftiges Maß zurückdrehen. Sie war gut und bleibt daher gut! Die Folgen lassen sich aus den Roten Listen klar ablesen. Pflanzen und Tiere, die niemand wirklich verfolgt, die aber als geschützte Arten der Allgemeinheit entzogen sind, wurden rar, sehr rar sogar. Vor allem zwei Hauptgruppen sind zu nennen:
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die Bewohner der Kleingewässer und solche, die auf offenem, trockenem und warmem Gelände leben. Unter den Tieren sind sie leicht auszumachen, denn bei ihnen liegen die Gefährdungsgrade besonders hoch. 70 % der Kriechtierarten und fast zwei Drittel der Frösche, Kröten und Molche sind als «gefährdet» eingestuft. Eidechsen und Schlangen lebten vornehmlich in solchen Biotopen, die der Bekämpfung der «Wunden in der Landschaft» zum Opfer fielen. Noch mehr trifft das für die Lurche zu, denn Frösche, Kröten und Molche brauchen solche möglichst fischfreien Kleingewässer für ihre Fortpflanzung. Gleiches gilt für Lauf- und Sandlaufkäfer (51 % der Arten gefährdet), Libellen (53 %), Wasserwanzen (47 %), Wasserkäfer (43 %), Goldwespen (61 %), Wegwespen (65 %), Grabwespen (48 %), Wildbienen (54 %), viele Spinnenarten (50 %) und kleine Arten von Wasser- und Landschnecken sowie Muscheln (60 %). Hunderte von Tierarten sowie ähnliche Mengen von Pflanzen, die auf Rohböden, Trockenstandorten, an und in Kleingewässern in deren Anfangsstadien der Entwicklung oder an Abbruchen wachsen, kommen hinzu. Somit ist es voll und ganz gerechtfertigt zu behaupten, dass ein hoher Anteil an den als gefährdet erfassten Arten durch Maßnahmen des Naturschutzes in die Gefährdung geriet. Die großen Baggerseen wären ohnedies für die Erholungsnutzung entsprechend rekultiviert und gestaltet worden. Die Konzentration auf die ausgewiesenen Abbaugebiete und -stellen verursachte also gar keine Einschränkungen für die Kieswirtschaft. Sie erzeugte auch keine Engpässe in der Versorgung, aber im Bereich kleiner Bedarfsmengen große Transportstrecken. Gewinne im Hinblick auf die Zielsetzungen des Naturschutzes erbrachten sie nicht, wohl aber sehr massive Verluste an kleinen Feuchtstellen und Trockenbiotopen. Sie gingen in großer Zahl verloren. Neue konnten nahezu keine mehr entstehen. So gab es im Inntal bei Bad Füssing, Niederbayern, in den 1970er Jahren noch fast 30 solcher artenreicher Kleingewässer in den Auwäldern, im Forst und in der Feldflur. Überall lebten darin und an den Rändern Laubfrösche und Molche, Wildbienen und Eidechsen. Doch es kamen keine mehr nach. Die Kleingewässer verlandeten, die Gruben wurden zugefüllt und einige wenige als Karpfenteiche weiterbetrieben. Die Vorkommen von Lurchen und Eidechsen
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brachen zusammen. Die großen Kiesgrubenkomplexe im niederbayerischen Inntal können diese rückläufigen Entwicklungen in den Beständen der selten gewordenen Arten nicht mehr abfangen. Die daraus entstandenen Badeseen schon gar nicht. Zwei im Auwald (als Naturschutzmaßnahme) neu gegrabene Laichgewässer für Amphibien in 30 Jahren konnten keinen Ersatz bieten, kosteten aber Geld. Noch weniger sind Gartenteiche dafür geeignet, denn sie liegen im besiedelten Bereich, sind meistens viel zu klein, und wenn sich Frösche einfinden, gefährden die Straßen die zu- und abwandernden Lurche. Dieselben Teiche im Auwald oder in der Flur hätten ungleich günstigere Auswirkungen auf die Artenvielfalt gebracht. Doch sie dürfen nicht mehr angelegt werden. Aus Naturschutzgründen! Genehmigungsfrei sind sie (vorerst) nur noch in den Privatgärten. Entstanden waren sie ursprünglich immer wieder durch die Hochwasser der Flüsse oder wenn Hangrutschungen Kuhlen mit lehmigem Untergrund gebildet hatten, in denen sich Wasser sammelte. «Regelmäßig unregelmäßig» könnte man das Eintreten der Vorgänge nennen, die immer wieder neue Kleingewässer zur Folge hatten. An unregulierten Flüssen rissen die Hochwasser mitunter ganze Teile des Auwalds mit sich fort, schufen neue Rinnen oder warfen mit Sand und Schlamm die Mündungen der alten in den Hauptlauf zu. Solcherart zustande gekommene Altwasser waren der Hauptlebensraum der Frösche, Kröten und Molche oder – in den Waldbachtälern – der Salamander gewesen. Gleich nebenan erzeugten dieselben Hochwasser die Anschwemmungen von Sand und die ihrer Vegetation beraubten Uferbereiche, auf denen sich die Wärme liebenden Eidechsen und Schlangen einfanden. Dort, im warmen Sand, konnten sie ihre Eier ablegen. Die kleinen Kies- und Sandabgrabungen ahmten dieses Muster von Werden und Vergehen grundsätzlich nach und hielten es auch noch aufrecht, als die Flüsse längst so gut wie alle begradigt, kanalisiert und ihrer Hochwasserdynamik beraubt waren. So boten sie rechtzeitig vor dem Verschwinden der natürlichen Auegewässer neue Lebensräume. Sie wurden sofort angenommen. Mit der Einstellung des kleinen Abbaus zugunsten der großen, der kontrollierten und «renaturierten» Abbaugebiete nach «Plan» wurde den Fröschen und Schlangen, den Kröten und Eidech-
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sen aber auch der Ersatzlebensraum genommen, ohne dass es in nennenswertem Umfang im Gegenzug zur Renaturierung der Flüsse gekommen ist. Die wenigen alten Teiche, etwa als Mühlenteiche an Bächen angelegt, verloren schon in den 1970er Jahren ihre Eignung als Laichgewässer, weil zu viele Düngestoffe und Pflanzenschutzmittel aus der Landwirtschaft eingeschwemmt wurden. Die Bäche tragen diese aus einem vielfach größeren Einzugsgebiet ein, als bei einem kleinen Baggerweiher über das Grundwasser nach und nach einsickert. Weiher, an denen im Frühjahr Hunderte oder Tausende von Erdkröten laichten, verloren durch diesen Vorgang innerhalb von weniger als einem Jahrzehnt an Bedeutung. Die Auswirkungen der übermäßigen Anreicherung von Nährstoffen, die Eutrophierungen, werden später ausführlicher behandelt. Gelingt es aber in der heutigen Situation akuten Mangels an Laichgewässern da und dort den Laubfröschen etwa, einen geeigneten Gartenteich ausfindig zu machen, muss der Besitzer mit einer Privatklage der Nachbarn rechnen, weil die «von ihm angesiedelten Frösche» einen ruhestörenden Lärm verursachen. Der staatliche Naturschutz sieht sich in solchen Fällen genötigt, den Gartenteich mit seinen Fröschen als Artenschutzmaßnahme zu rechtfertigen und die Frösche zu verteidigen, die aus Vorstellungen von Natur- und Landschaftsschutz heraus zuvor aus der Flur vertrieben worden waren. Besonders bedauerlich ist dies alles auch im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Problematik der Klimaerwärmung. Denn diese sollte ja zum Vordringen Wärme liebender Arten führen. Die neue bayerische Rote Liste führt auch, recht zaghaft, wie es den Anschein hat, einige Arten in diesem Zusammenhang auf: die rote Feuerlibelle (Crocothemis erythraea) und die Kleines Granatauge genannte Libelle Erythromma viridulum sowie die große schwarzblaue Holzbiene (Xylocopa violaced). Auf die Tatsache, dass solche Arten auch auf Kleingewässer (Libellen) und unkultivierte Sand- oder Kiesgruben angewiesen wären, wird nicht hingewiesen. Wie auch die beiden zusätzlich genannten, seltenen Heuschrecken kennt kaum jemand diese Arten und so bleiben sie in der öffentlichen Wirkung unerheblich. Dass aber die tatsächliche Ausbreitung einer außerordentlich prachtvollen Vogelart lediglich in verschlüsselter Weise in der Liste selbst ver-
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merkt ist (II = kein regelmäßiger Brutvogel [Vermehrungsgast]), lässt erahnen, wie wenig vordringende Arten vom offiziellen Naturschutz geschätzt werden, auch wenn es sich um solche Besonderheiten handelt, die europaweit als gefährdet eingestuft sind. Gemeint ist der Bienenfresser (Merops apiaster), der in den Jahren um die Jahrtausendwende in Deutschland in wenigstens 200 Brutpaaren vorkam. Für ihn scheint man kein Artenhilfsprogramm für nötig zu halten. Dieses müsste nämlich die Schaffung von «Brutwänden» vorsehen, in denen die Bienenfresser, wie die Uferschwalben, ihre Röhren zum Nisten graben können. Solche «Bienenfresserwände» waren durch die Abgrabungen von Lehm und Sand oder auch von Kies in bestimmten Regionen entstanden. Sie müssen steil genug und möglichst südexponiert sein – und sie sollten entweder immer wieder abgegraben werden oder mit ausreichender Steilheit nachrutschen können. Genau solche Verhältnisse hatte es vor dem über behördliche Pläne geregelten (Groß-)Abbau vielfach gegeben. Heute entstehen sie nur noch während des Abbaus. Selbst das nehmen die Bienenfresser hin und siedeln sich, wie die Uferschwalben auch, schon an, während die Maschinen noch laufen. Danach zwingen sie die Rekultivierungsmaßnahmen wieder zum Verschwinden. Für die Uferschwalben fertigen deshalb Naturschützer seit Jahren in mühevoller und aufwändiger Eigenarbeit Brutwände. Was vorher nebenbei und kostenfrei zustande kam, muss jetzt als Artenschutzmaßnahme bezahlt werden und lässt sich nur an wenigen Stellen – und nicht immer an den gerade günstigsten – verwirklichen. Die Bienenfresser werden daher vielerorts kaum Chancen haben, wie die Ansiedlungsversuche in den letzten Jahren in Bayern gezeigt haben, weil die Voraussetzungen für ihre Ausbreitung oder ihre Wiederkehr nicht mehr gegeben sind und auch nicht mehr zustande kommen dürfen. So haben vielleicht einige Bauarbeiter, die schwere Maschinen fahren, in Sandgruben die Chance, Bienenfresser in ihrer tropisch anmutenden Buntheit, mit ihren wundervollen Flugkünsten und bei der Jagd auf Insekten erleben zu können – so ihnen die Arbeit für Sekunden oder Minuten die Zeit dafür lässt. Aus nahe liegenden Gründen kann jedoch die interessierte Öffentlichkeit in so einem Betriebsgelände nicht zugelassen werden. Sie sieht vielleicht von außen, dass sich die bun-
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ten Vögel von Maschinen, Lärm und Betrieb nicht stören lassen, doch wenn der Abbau beendet ist, sind auch die Vögel fort. Ähnliches geschah mit der systematischen Bepflanzung von Dämmen, Straßen- und Autobahnrändern, da diese Einschnitte in Natur und Landschaft ja als solche aus dem «Bild» zu tilgen waren. Waren gerade Dämme mit ihren Sonnenseiten und ihrer Trockenheit früher höchst artenreiche Lebensräume, auf denen sich im Sommer die bunte Fülle der Tagfalter tummeln konnte, an denen es Eidechsen und die sie jagenden Schlangen, vornehmlich die seltene Schlingnatter Coronella austriaca, gab und an denen sich rasch prächtige Bestände von Orchideen entwickelten, da beendete die Bepflanzung so eine von selbst gekommene Vielfalt höchst wirkungsvoll. Ein vollständig mit einheimischen Büschen und Bäumen bepflanzter Damm entschwindet zwar formal im Bild, aber noch viel mehr verliert er seine Qualität als Lebensraum für seltene Arten. Sofern, wie im Naturschutz üblich, die «Qualität» über «Rote-Liste-Arten» (mit) gemessen wird, zerstörten die Vorgaben des Naturschutzes immens viel Qualität, nur um die Augen der Betrachter (welcher Betrachter eigentlich?) zu beruhigen. Das Vor-Urteil wurde dem Urteil der eigentlich Betroffenen, der Pflanzen und Tiere, von vornherein vorgezogen. Dämme oder große Autobahnböschungen stellen «Eingriffe» dar, die ausgeglichen werden müssen. Der weitaus schlimmere (im Hinblick auf die RoteListe-Arten!) kaschierende Eingriff der Naturschutzauflagen und der Landschaftspflege hingegen braucht nicht ausgeglichen zu werden. Es ist offenbar in Ordnung, wenn die Roten Listen länger werden! Es wird ja ohnehin alles schlechter. Auf ähnliche Weise verschwanden viele Arten weithin aus Deutschland, die Waldlichtungen – als sonnige und warme Stellen im Wald – bewohnten. Unter ihnen sind sehr auffällige, geschätzte oder wegen ihrer Besonderheiten bekannte Vögel wie das Birkhuhn, die Heidelerche, der Baumpieper, der Ziegenmelker, der Schlangenadler und die Blauracke, richtig «feine Arten» also und nicht bloß fast unbekannte Raritäten, die nur Ornithologen zu schätzen wissen. Beide großflächig heimischen Eidechsen- (Zaun- und Waldeidechse) und die drei Schlangenarten (Ringel-, Schlingnatter und Kreuzotter) gehören zu diesen Verlierern und darüber hinaus eine große Zahl
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von Insekten und Pflanzenarten. Auch Säugetiere, wie fast alle Arten des jagdbaren Wildes, die meisten am Boden lebenden Kleinsäuger der Wälder sowie die Fledermäuse verloren mit den «großflächigen Lichtungen», die nach und nach wieder zu Wald aufwuchsen, sehr bedeutende Flächen ihrer Lebensräume. Für nahezu alle verschiedenen Gruppen von Tieren und Pflanzen gilt nämlich, dass sie vor allem in den Anfangsstadien der Waldentwicklung besonders häufig und artenreich vertreten sind – und das wäre in vergleichbarer Weise auch wieder in der Zerfallsphase der Wälder der Fall (Kap. 12). Die Bücher von Biologen, die mit der Artenvielfalt der Wälder vertraut sind, geben dazu im Detail Aufschluss, wie etwa W. Scherzinger (1996). Die «großen Lichtungen», wie waren sie aber entstanden und warum gibt es sie heute nicht mehr? Ursprünglich rissen schwere Stürme da und dort größere Flächen in den Wäldern nieder. Stürme, wie die Orkane Vivian und Wibke oder Lothar in den letzten 20 Jahren, hatte es immer wieder einmal gegeben. Noch wirkungsvoller aber waren die für die Nadelwälder der Nordhemisphäre typischen Waldbrände gewesen. Denn sie hinterließen düngende Asche für ein neues, besonders üppiges Wachstum. Diese Asche glich mit ihrer alkalischen Reaktion im Boden auch die durch die abfallenden Nadeln entstandene und fortschreitende Versauerung aus. Waldbrände werden seit gut einem Jahrhundert wirkungsvoll bekämpft und gelten als Naturkatastrophe. Seit Jahrzehnten sorgen moderne Löschflugzeuge dafür, dass sie sich, einmal entstanden, nicht allzu weit ausbreiten. Sturmschäden werden so rasch wie möglich beseitigt und die «Wunden, die der Wind geschlagen hat», durch Aufforstungen geschlossen. Doch beides wäre bei weitem nicht so wirksam geworden, hätte nicht der Naturschutz in engem Schulterschluss mit den Förstern erreicht, dass der Kahlschlag als Waldbewirtschaftungsform verpönt und schließlich weitgehend eingestellt wurde. Hierauf wird im letzten Kapitel nochmals eingegangen. Heute gilt die Einzelstammnutzung (Plenterwald) als die beste Form der Waldwirtschaft, weil sie einen «vielstufigen Waldaufbau» hervorbringt, in dem sich kleinräumig Alt und Jung abwechseln. Gut gedacht und auch wohl getan in mancher, aber nicht in jeder Hinsicht. Denn diese Form der Waldbewirtschaftung vermeidet eben vollstän-
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dig den weitflächig offenen Neubeginn, wie er nach Sturmwurf und Waldbrand im Naturwald oder nach Kahlschlag als Ersatzform dieser beiden von der Natur bewirkten «Eingriffe» immer wieder entstanden war. Hunderte von Tier- und Pflanzenarten wurden als Folge dieser waldbaulichen Umstellung seltener oder verschwanden. Sie sind «Opfer» von gut gemeinten Maßnahmen, die sicherlich auch in Teilbereichen ihren Sinn haben. So erklärt sich auch der Rückgang zahlreicher Arten von Ameisen zum Teil aus diesen Maßnahmen. Gerade an der Verfügbarkeit von Ameisen und ihren Puppen («Ameiseneier» genannt) hingen aber Vorkommen und Erfolg von Birk- und Auerhühnern, weil deren Junge diese besondere Art von Nahrung benötigen. Wo der Wald zu (schön) dicht und «vielstufig» bis zum Boden reicht, sagt es den Ameisen nicht mehr zu. Schöne, bekannte Blütenpflanzen, wie der prächtige, hoch aufwachsende Rote Fingerhut Digitalis purpurea mit seiner Heilkraft (Herz- und Kreislaufmittel), gehören durch die Umstellung der Waldbewirtschaftung ebenfalls zu den Verlierern. Wo es an großen Waldlichtungen mangelt, auf denen es viele Mäuse und auch Igel gibt, ist der Uhu, unsere größte Eule und auch ein Symbolvogel des Artenschutzes, gezwungen, aufs «Land» hinaus zu fliegen. Land bedeutet Straßenränder und die nähere Umgebung von Siedlungen, wo es erstens Mäuse und zweitens besonders viele Igel gibt. Diese Jagdgebiete bringen ihn jedoch auch in eine erhöhte Gefährdung durch den Straßenverkehr oder durch Stromleitungen. Wie sehr der Mangel an Lichtungen sich auch auf Verteilung und Nutzungsart des Lebensraums durch das so genannte Schalenwild, durch Hirsch und Reh, insbesondere aber auch durch die Wildschweine, auswirkt und welche Folgen dies im Gegenzug für den Wald zeitigt, wird in Kapitel 12 nochmals angesprochen. Hier soll zunächst nur festgehalten werden, dass auch im Wald die Vorgaben des Naturschutzes zu starken Rückgängen von Arten geführt haben, die in den Roten Listen mit entsprechenden Anteilen ausgewiesen werden müssten. Und weiter: Die angestrebte Verdichtung von Bau- und Siedlungstätigkeit in den Ballungsräumen, die ein «Wuchern der Städte wie ein Krebsgeschwür» verhindern soll, vernichtete und vernichtet gerade in einem sehr wesentlichen Teil der gesamten Landesfläche die nicht intensiv genutzten,
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offenen und warmen, oft auch mageren Standorte, die sehr artenreich (geworden) sind und in dieser Hinsicht das «Land» oft bei weitem übertreffen. Die Bündelung von Verkehrstrassen verstärkt ihre Zerschneidungswirkung, mindert ihre Möglichkeit, vernetzend zu wirken, weil nicht genügend Fläche und Strecke zwischen den Trassen übrig bleibt, und verkennt, dass uns Menschen der Verkehr mit Lärm, Geschwindigkeit und Abgasen zwar enorm stört und belastet, dass dies aber für frei lebende Tiere und Pflanzen nicht automatisch auch so sein muss. Zusammengefasst ergibt sich daraus, dass der Naturschutz selbst zu einem bedeutenden «Verursacher» der Artenrückgänge geworden ist. Maßnahmen und Errungenschaften des Natur- und Landschaftsschutzes erzeugten große Anteile der bedrohten und in ihren Beständen und Vorkommen verstärkt rückläufig gewordenen Arten. In Bezug auf den Artenschwund nehmen diese Folgen des Natur- und Umweltschutzes im weiteren Sinne hinter der Landwirtschaft den zweiten Rang ein. Denn sie betreffen noch einen weiteren, sehr großen Wirkungsbereich und das ist das Wasser. Genauer: die Qualität des Wassers, die wir anstreben und für die wir teuer bezahlen! Was es damit auf sich hat, wird im nächsten Kapitel behandelt.
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Mauersegler und Wasserqualität
Mitte Juni 1968 schwärmten wie jedes Jahr im Frühsommer die Zuckmücken (Chironomiden) am Ismaninger Speichersee am nordwestlichen Stadtrand von München in so großen Mengen, dass es sich beim Gang über den Süddamm empfahl, einen Atemschutz zu tragen, um nicht zu viele dieser Mücken in die Nase zu bekommen. Zuckmücken sind harmlos. Sie stechen nicht und sie leben nur kurze Zeit. Mitunter dauert ihr Schwärmen nur wenige Tage. Das hohe Sirren, das sie erzeugen, wenn sie wie Rauchsäulen über niedrigen Büschen oder anderen etwas erhöhten Stellen an den Ufern von Gewässern aufsteigen, leitet die Weibchen zu den Männchen ihrer Art. Der Schwärmflug beschließt ihren Lebenszyklus mit einem kurzen Ende als erwachsene, zur Fortpflanzung fähige Mücken nach einer langen Zeit als Larven im Wasser. Während dieser Larvenzeit werden alle nötigen Vorräte angelegt, die von den geschlüpften Mücken für Schwärmflug und die Entwicklung der Eier gebraucht werden. Die begatteten Weibchen legen diese gleich nach der Paarung ins Wasser ab, aus dem sie kurz vorher als Puppen aufgestiegen und geschlüpft waren. Sie brauchen also – anders als die Stechmücken – kein Blut, um Eier zu erzeugen. Das Leben der Stechmücken währt umgekehrt im Larvenstadium kurz. Bei warmen Wassertemperaturen kann die Entwicklung in weniger als zwei Wochen abgeschlossen sein. Bei diesem schnellen Heranwachsen bekommen die Weibchen kaum Reserven mit, aus denen sie die Eier bilden könnten. Sie brauchen das Blut von Wirbeltieren dafür. Die Weibchen der Zuckmücken haben gar keinen Stechapparat und Saugrüssel. Ihre Lebensstrategie besteht darin, möglichst gleichzeitig auszuschlüpfen, zu schwärmen, Partner zu finden und befruchtete Eier abzulegen, während die Männchen schon wieder sterben. Weit über 90 % ihres gesamten Lebens finden im Wasser statt, wo die Larven die obe-
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ren Schichten des Bodenschlamms besiedeln. Organische Reststoffe darin, die gerade von Bakterien oder Pilzen zersetzt werden, bilden ihre Nahrung. Wo diese Reststoffe, Detritus genannt, reichlich vorhanden sind, leben diese Mückenlarven zu Zehntausenden pro Quadratmeter. Sie gelten seit langem als gute Anzeiger, als Bioindikatoren, für die organischen Nährstoffverhältnisse im Gewässer. Nahrungsreiche, also eutrophe Seen und Teiche enthalten andere Arten von Zuckmücken als nahrungsarme, oligotrophe, oder solche mesotrophen Gewässer mit mittlerem Versorgungsgrad an organischer Nahrung. Die Mengen der Mückenlarven und der dann zu bestimmten Jahreszeiten schlüpfenden Mücken ist umso größer, je nahrungsreicher das Gewässer ist – und umgekehrt. So besagt die Mückenmenge am Ufer schon recht viel über die von außen nicht sichtbaren Nährstoffverhältnisse unter Wasser. Doch die Arten selbst sind etwas für besondere Kenner dieser Mücken, wenn es um die genaue Bestimmung geht. Für Fische oder, nach dem Schlüpfen, für die Vögel ist das unerheblich. Es reicht aus, dass es sie und ihre Larven gibt. Lediglich die Größe und vor allem die Häufigkeit dieser Mücken entscheiden darüber, ob sie als Nahrungsquelle für die eine oder die andere Art von Fischen oder Vögeln in Frage kommen. Tatsächlich haben sie auch sehr viele Nutzer, die ihnen nachstellen. Die Mauersegler und die Schwalben gehören dazu. Für beide Flugjäger bestimmt die Menge der Zuckmücken, die dem Gewässer entsteigen und die darüber oder am Ufer schwärmen, ob das Gebiet attraktiv ist oder nicht. Der Ismaninger Speichersee war sehr attraktiv in jenen späten 1960er Jahren; vielleicht war er damals das beste Zuckmückengebiet an ganz Mitteleuropa. Denn die kaum vorstellbaren Massen ihrer Larven lebten von den organischen Abwässern der Millionenstadt München. Abwasser erzeugte diese Mücken zu Milliarden. Die Mengen waren so groß, dass die Mauersegler aus der Stadt zum Speichersee geflogen kamen und einfach mit offenen Schnäbeln die Dämme entlang und über den Fischteichen auf und abjagten. Eine Katze, die auf dem Süddamm lag, griff damals, im Juni 1968, einfach mit der Pfote und mit ausgefahrenen Krallen in die Luft und «angelte» sich auf diese Weise Mauersegler. So dicht über dem Damm jagten diese im Tiefflug.
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Das Massenschlüpfen der Zuckmücken findet bei «Schlechtwetter» statt. Der fallende Luftdruck eines nahenden Tiefdruckgebiets gibt das äußere Signal, wenn die Jahreszeit richtig ist. Für die Mücken ist es noch wichtiger als für größere Wasserinsekten, bei hoher Luftfeuchte zu schlüpfen, denn sie verlieren im Luftraum sehr schnell Wasser. Anders als echte Landinsekten sind Wasserinsekten nicht «wasserdicht». Die Rohrsänger machen sich diese Eigenheit der (kleinen) Wasserinsekten zunutze. Sie brüten in hoher Siedlungsdichte (und entsprechend kleinen Revieren) im Röhricht am Ufer. Bei «schönem Wetter» (Hochdruck) gibt es für sie die kleinen Landinsekten, bei «schlechtem Wetter» (Tiefdruck) aber das noch viel bessere Massenangebot der Wasserinsekten, sofern sie zur richtigen Jahreszeit brüten. Das tun sie natürlich; nämlich genau in der Hauptphase des Schwärmens der Zuckmücken zwischen Ende Mai und Mitte oder Ende Juni. Auch für Schwalben und Segler sind diese schwärmenden Wasserinsekten eine höchst willkommene Nahrung. Doch sie müssen oft von weither anfliegen, um an Seen oder große Teiche zu gelangen, die reich an solcher «Emergenz» sind. Bezeichnet wird damit all das, was an Wasserinsekten aus dem Wasser hervorkommt. Dazu gehören neben den der Menge nach fast immer an erster Stelle stehenden Zuckmücken und den unangenehmen Stechmücken insbesondere auch die Eintagsfliegen, Köcherfliegen und Steinfliegen sowie die Libellen. Gemeinsam ist ihnen allen (mit nur wenigen Ausnahmen), dass ihre Larven von den organischen Abfallstoffen im Wasser leben. In ihrer Gesamtheit werden diese «Detritus» genannt. Im Bodenschlamm der Gewässer entspricht er dem Humus der Böden an Land. An einem größeren Natursee wechseln die Schwärmphasen verschiedener Arten von Zuckmücken sowie der kleinen Eintagsfliegen vom Frühling über den Sommer hin einander ab. Auch im Herbst kann es nochmals einen Anstieg der Häufigkeit geben. Dieses herbstliche Schlüpfen nutzen die Schwalben, um auf ihrem Zug in den Süden «aufzutanken». Nicht ohne Grund wählen die ziehenden Schwärme häufig Schilfbestände zum Übernachten. Die Mauersegler sind in dieser Zeit längst schon abgezogen. Ihre Anwesenheit im Brutgebiet währt nur kurz. Ende April bis Anfang Mai kommen sie aus ihrem Winterquar-
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tier im tropischen Afrika zurück. Um die Maimitte beginnen sie mit dem Brüten. 18 bis 20 Tage später schlüpfen die Jungen. Wenigstens sechs Wochen lang müssen die Eltern ihre Brut versorgen, bis die Jungen zum Ausfliegen bereit sind. Wurden die Eier zwischen 16. und 20. Mai gelegt, schlüpfen die Jungen in der ersten Juniwoche. Den ganzen Juni und einen Großteil des Juli werden sie nun mit Kleininsekten gefüttert. Diese fangen die Altvögel bei schönem Wetter in höheren Luftschichten, wohin das «Luftplankton» gewirbelt worden ist, oder eben bei regnerischem Wetter über den Gewässern nahe ihrer Oberfläche. Im langjährigen Mittel ist der Juni der niederschlagsreichste Monat des Jahres in Mitteleuropa. Anhaltende Schönwetterphasen gibt es selten, verregnete Frühsommer umso häufiger. Für die Mauersegler war das nicht schlecht, denn wenn es dabei nicht zu kalt wurde («Schafskälte» im Juni!), bedeutete der Wechsel zwischen Regenfronten und kurzen Schönwetterphasen «guten Flug» bei den Zuckmücken und den kleinen Eintagsfliegen aus den Gewässern. Und ihre Jungen halten auch einige ungünstige Tage aus. Ihre Entwicklung bis zum Flüggewerden kann sich um zehn Tage oder mehr verzögern, so es zu kühl (geworden) sein sollte. Die Altvögel selbst sind in der Lage, bei sehr ungünstiger Witterung in einen Starrezustand (Torpor) zu verfallen. Ein paar Tage lang halten sie auf diese Weise durch, ohne zu fliegen und Nahrung aufzunehmen. Ihre Körpertemperatur sinkt und sie fühlen sich kalt und starr an. Auf wechselhafte Witterung sind sie also ihrer Natur nach eingestellt. Dass sie sich dennoch weit über den mediterranen Klimabereich in das wechselhafte Wetter der «gemäßigten Breiten» ausgebreitet haben, deutet darauf hin, dass es dort auch reichlich Nahrung gibt. Ansonsten wäre es nicht nur nicht lohnend, sondern geradezu selbstzerstörerisch gewesen, sich den Unbilden und den Unregelmäßigkeiten einer Witterung auszusetzen, die für «Tropenvögel» gar nicht passt. Und aus den Tropen kommen unsere Mauersegler. Die Tropenzone ist auf allen Kontinenten Hauptlebensbereich der Segler. Fast alle der 92 Arten ihrer Verwandtschaft leben dort. Die nächsten Verwandten der Segler aber sind die nur in Amerika frei lebend vorkommenden Kolibris. Auch von diesen schafften es nur einige wenige Arten, den außertropischen Bereich zu besiedeln. Im Südwesten von
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Alaska gelangten Kolibris auf der Nordhalbkugel ähnlich weit polwärts wie der Mauersegler. Und wie die Kolibris führen die Segler ein sehr aufwändiges Leben, «aufwändig» im Sinne des Umsatzes von Energie. Denn Segler ruhen wenig und fliegen sehr viel. Ihr zumeist rasend schneller Flug verbraucht sehr viel Energie und nicht etwa wenig, wie die deutsche Bezeichnung «Segler» vermuten ließe. Mit steifen Flügeln segeln sie tatsächlich nur selten. Außerhalb der Brutzeit fliegen sie sogar fast andauernd aktiv und es gibt gute Hinweise darauf, dass sie, einmal in die so genannte Intertropische Konvergenzzone gekommen, viele Tage und Nächte ununterbrochen fliegen und dabei im Flug sogar «schlafen». Wenn solche Vögel in vergleichsweise unberechenbar wechselhafte und oft sogar recht kalte Regionen fliegen, um dort zu brüten und ihre Jungen großzuziehen, müssen diese entsprechend mehr bieten als ihre tropisch-subtropische Herkunft. Das Gebotene zeichnet sich durch gleich zwei ganz beträchtliche Vorzüge aus. Der erste Vorteil steckt in der Menge der Kleininsekten, die in der wichtigsten Zeit, wenn die kleinen Jungen im Nest zu versorgen sind, in den «gemäßigten Breiten» schwärmen. Der zweite hängt mit der Gegebenheit zusammen, dass all diese Klein- und Kleinstinsekten, die aus den Gewässern aufsteigen, keine Giftstoffe enthalten und so vorbehaltlos an die Jungen verfüttert werden können. In den Tropen ist das nicht so. Die meisten Insekten tragen irgendwelche Giftstoffe in sich, die sie entweder direkt von den Futterpflanzen übernommen oder über die früheren Larvenstadien mitbekommen haben. Manche Insekten bilden auch selbst eigene Giftstoffe aus, mit denen sie sich vor zu starker Verfolgung durch die Vögel schützen. Wir kennen das aus eigener Erfahrung: Gerät ein Kleininsekt ins Auge, wenn wir im Frühsommer am Seeufer entlangfahren oder -laufen, kann das wenig mehr als nur einen einfachen Reiz verursachen. Es kann aber auch ziemlich unangenehm brennen. War das Insekt eine Zuckmücke, verursachte sie nur den harmlosen mechanischen Reiz. Handelte es sich aber um einen vom Land stammenden Kleinkäfer aus der Familie der Kurzflügler (Staphylinidae), so lösen die Sekrete, die diese Käferchen von sich geben, das recht unangenehme und ziemlich lang anhaltende Brennen aus oder auch einen üblen
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Geschmack im Mund, wenn der Winzling über die Nase in den Rachen oder direkt in den Mund gelangte. Den jungen Mauerseglern im Nest bleibt das erspart, wenn die Altvögel zu den Seen, Stauseen und Teichen hinausfliegen, um dort die schlüpfenden und aufsteigenden Kleininsekten zu erbeuten. Dafür nehmen die Segler recht weite Flüge in Kauf: In den 1970er und 1980er Jahren sammelten sie sich bei Schlechtwetter (noch) zu Tausenden an den Stauseen am unteren Inn. Der Menge nach müssten sie von München, zumindest aber von Städten wie Salzburg, Linz und Passau gekommen sein. Flugweiten von 100 Kilometern und mehr sind für die Segler nachgewiesen, wenn sie ergiebige Nahrungsquellen aufsuchen. Wie ergiebig sie sind, geht aus Abb. 4 hervor. Sie zeigt, welche Mengen von Zuckmücken und kleinen Eintagsfliegen (Gattung Caenis) den Sommer über aus den Stauseen am unteren Inn im Vergleich zum angrenzenden Auwald schlüpften. Das Verhältnis liegt größenordnungsmäßig beim fast Zwanzigfachen der Auwaldmenge. Dabei gilt der Auwald als der natürlicherweise produktivste Lebensraum (Biotop) Mitteleuropas. Häufig wird er als Kleinausgabe des tropischen Regenwalds charakterisiert. Die Brutzeit der Mauersegler fällt genau in die Zeit, in der die Zuckmücken und kleinen Eintagsfliegen aus den Gewässern
Abb. 4: Lichtfallenfänge von Kleininsekten (Zuckmücken, kleine Eintagsfliegen) an den Stauseen am unteren Inn und im Auwald (Monatsdurchschnittswerte pro Fangnacht von 1977 bis 1996)
53 Abb. 5: Kleininsekten und Brutzeit der Mauersegler am unteren Inn. Die Nestlingszeit (schwarzer Balken) fällt genau in die Hauptphase des Schlüpfens der Wasserinsekten.
aufsteigen und schwärmen. Das günstigste Nahrungsangebot steht in der ersten Junihälfte zur Verfügung (Abb. 5). Für die jungen Mauersegler ist das die kritische Zeit für ihr Überleben. Die Ankunft der Mauersegler passt genauso zum Beginn der Schwärmzeit der Zuckmücken wie ihr Abzug Ende Juli/Anfang August zu deren Ende. Dann müssen die Jungen fertig entwickelt und selbständig in der Lage sein zu fliegen. Lernen müssen sie das Fliegen nicht; sie können es, sobald sie die entsprechende Kondition erreicht haben. An diesem plötzlichen und sehr reichhaltigen Angebot an Kleininsekten, die nicht nur kurzzeitig (und zumeist gegen Abend) an den Ufern der Gewässer tanzen, sondern die auch von den Luftströmungen hochgerissen und zu Luftplankton gemacht werden, liegt es, dass die Mauersegler ihre Tropenheimat verlassen und sich in den nördlichen außertropischen Breiten angesiedelt haben. Deshalb ziehen sie auch bereits wieder zu einer Zeit ab, in der der Sommer (für uns Menschen) oft erst richtig in Schwung kommt. Ihre Saison ist dann schon vorüber. Die Nachzügler im August bedeuten nicht mehr viel für den Erfolg oder Misserfolg der vorausgegangenen Fortpflanzungsperiode. In den letzten Julitagen verlässt uns die Hauptmenge so plötzlich, wie sie Anfang bis Mitte Mai eintrifft. Die Vorhut und die Nachzügler be-
54 Abb. 6: Ankunft und Brutbeginn der Mauersegler bei München (Daten von Jürgen Siegner, Pullach). Zwischen den Erstankunftsdaten und dem Brutbeginn kommt kein statistisch signifikanter Zusammenhang zustande.
sagen daher kaum etwas über den entscheidenden Teil der Brutzeit, auch wenn sie eifrig von Vogelkundlern registriert werden, um die «Erstankunft» zu ermitteln. Diese hat, wie Abb. 6 zeigt, einen Spielraum von gut zwei Wochen, bis das Brutgeschäft Mitte Mai beginnt. Dann aber muss es beginnen, sonst kommen die Jungen zu spät im so gedrängten Zeitplan zum Ausfliegen. Die Altvögel jagen in den langen Tagen des Juni und Juli bis in die späte Dämmerung und nutzen die Zeit damit bis an die Grenzen. Verglichen mit dem tropischen 12-Stunden-Tag gewinnen sie während der gut sechs Wochen, in denen sie ihre Jungen zu füttern haben, im Hauptbrutgebiet nördlich der Alpen zwei Wochen Tageszeit oder mehr dazu. Das lohnt! Zudem ist wichtig, dass schon bei oder kurz nach der Ankunft im Brutgebiet ein gutes Angebot an Insekten vorhanden ist. Denn die Weibchen haben Schwierigkeiten, genügend Reserven für die Entwicklung der Eier anzusammeln. Da aber an den Stauseen schon in der ersten Maihälfte Zuckmücken in zehnfach größeren Mengen vorhanden sind als über dem Auwald, verbessert dies die Kondition der Weibchen beträchtlich. Unter solchen Umständen konnten die Mauersegler zu Tausenden in den Städten leben, wo die Gebäude passende Nistmöglichkei-
55 Abb. 7: Rückgang der Nahrung fangenden Mauersegler an den Stauseen am unteren Inn. Anfänglich wurden, weil die Mengen «bekannt schienen», nur große Schwärme notiert.
ten bieten, weil sie im Umkreis von weniger als 100 Kilometern bei Schlechtwetter die schwärmenden Massen von Zuckmücken zur Verfügung hatten. Das war so, aber das ist nicht mehr so! Mauersegler jagen nicht mehr in lockeren Wolken schwarzer Vögel mit mehr als 100 Stundenkilometer Fluggeschwindigkeit über die Dämme am Ismaninger Speichersee oder über die weiten Wasserflächen der Stauseen und Naturseen Südbayerns. Ihre Bestände sind in Mitteleuropa im Rückgang begriffen. Die noch Anfang der 1990er Jahre geschätzte Größenordnung von 600 000 bis 1,1 Millionen Brutpaaren (Bauer & Berthold 1996) dürfte kaum noch zutreffen. Die Befunde für den südbayerischen Raum vermitteln eine grobe Vorstellung davon, dass es im Mauerseglerbestand massive Abnahmen gegeben haben muss (Abb. 7). Dabei gingen seit den späten 1960er Jahren nicht nur die festgestellten Maximalwerte stark zurück, sondern auch die Durchschnittswerte fielen in diesen Fünfjahres-Zeitabschnitten von 480 (1974 bis 1979) auf weniger als ein Zehntel davon in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Da Mauersegler – von seltenen Ausnahmen abgesehen, in denen sie in Baumhöhlen in Hochwäldern nisten – Gebäudebrüter sind, müssen die früheren Mengen aus den Städten und Siedlungen der Umgebung gekommen sein. Ge-
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nauere Untersuchungen in Hamburg hatten gezeigt, dass in den Innenstadtbereichen mit 42 Brutpaaren pro Quadratkilometer eine fünfmal höhere Siedlungsdichte an Mauerseglern 2 gegeben ist als in den Wohnsiedlungen (9/km ) oder in den 2 Randbereichen (7/km ). In kleineren Dörfern mit niedrigen Gebäuden und vor allem in solchen, die fernab von Gewässern liegen, gibt es oft gar keine Brutvorkommen von Mauerseglern. Für München hatte Walter Wüst (1986) einen Brutbestand von 2 etwa 12 000 Paaren angenommen (40 Brutpaare/km ). Ein Viertel bis die Hälfte dieses Bestandes hätte somit vor 30 bis 40 Jahren über den 150 Kilometer entfernten Stauseen am unteren Inn nach schlüpfenden Zuckmücken gejagt. Falls die Mauersegler, was anzunehmen ist, damals aber zum nahe am Stadtrand gelegenen Ismaninger Speichersee flogen, erklärt das die dortigen Mengen. Die Segler der Innstauseen hätten aus Passau, Salzburg, Regensburg und anderen Städten der Umgebung kommen müssen. Zusammengenommen dürften diese Städte damals auch etwa einen entsprechenden Brutbestand gehabt haben. Der massive Rückgang in den letzten Jahrzehnten muss daher erhebliche Anteile der Stadtbestände der Mauersegler betroffen haben. Bemerkt wurde dies kaum, weil Segler so schwer zu zählen sind. Erst als die Art für das Jahr 2003 zum «Vogel des Jahres» ernannt wurde, rückten die Bestandsabnahmen stärker in den Blickpunkt des Interesses. Die beiden großen deutschen Vogel- und Naturschutzverbände, der NABU und der LBV, erklärten zum Rückgang in ihrer Mauersegler-Broschüre: «Drastische lokale Einbrüche (der Bestände), meist auf Grund von Brutplatzverlusten, kommen dagegen häufig vor.» Mit der Wahl des Mauerseglers zum «Vogel des Jahres» wollten die Naturschutzverbände «auf die ökologischen Probleme unserer Dörfer und Städte aufmerksam machen». Aber sind ökologische Probleme im Siedlungsbereich tatsächlich für die Rückgänge bei dieser Vogelart verantwortlich, die so gut wie niemand verfolgt und für die sogar vielfach spezielle Nistkästen an den Gebäuden angebracht worden sind? Was sind die Ursachen? Zugemauerte Nischen erscheinen als Begründung kaum glaubhaft. Oder passt die frühere Abstimmung von Ankunft und Brutzeit mit dem Schwärmen der Zuckmücken nicht mehr zusammen, weil sich das Klima verändert? Vielleicht sind die Gründe gar nicht hier,
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sondern im afrikanischen Winterquartier der Vögel zu suchen. Von dort kommen ja immer wieder Meldungen und Berichte über großflächige Naturzerstörungen. Doch dann müssten die Bestände gleichmäßiger abgenommen haben und nicht da und dort (sehr) stark, andernorts aber nicht erkennbar. An den großen süddeutschen Naturseen jagen gegenwärtig im Frühsommer wohl auch noch deutlich mehr Mauersegler zur Zeit des Schlüpfens der Zuckmücken als an den Stauseen. Und mitten in Gebieten mit allgemein starker Abnahme der Mauerseglerbestände gibt es Stellen, an denen sich in den Brutkolonien offenbar kaum etwas verändert hat, was über normale Schwankungen, über Fluktuationen, hinausgehen würde. Doch es gibt eine ganz ähnliche Entwicklung bei einigen anderen Vogelarten. Zu diesen gehören die Rohrsänger und auch der Kuckuck. Seit Jahren ertönen weit weniger Kuckucksrufe in den Flussniederungen als in früheren Zeiten. So der Eindruck; gezählt hat offenbar kaum jemand (Kap. 9). Wie die Mauersegler überwintert der Kuckuck in den afrikanischen Tropen und dorthin fliegen auch die Teichrohrsänger, seine Hauptwirtsvögel. Umfangreiche Forschungen von Professor Peter Berthold (Max-Planck-Gesellschaft) an der Vogelwarte Radolfzell, die sich über Jahrzehnte erstrecken, haben ergeben, dass bei den meisten dieser «Fernzieher» unter den Zugvögeln, die im tropischen Afrika überwintern, seit den 1970er und 1980er Jahren mehr oder weniger stark ausgeprägte Rückgänge in den Beständen festzustellen sind. All das scheint für Afrika und vielleicht auch für den Klimawandel als Ursachen zu sprechen, zumal für dieselben Arten auch aus Westeuropa ähnliche Tendenzen bekannt geworden sind. Dennoch lässt sich wohl der größere Teil – wenn nicht sogar der gesamte Rückgang – als «hausgemacht» erklären. Den Schlüssel dazu liefern ganz ähnliche, ja sogar im Ausmaß noch weit kräftiger ausgebildete Rückgänge bei den Großmuscheln. Und die wandern nicht irgendwohin, sondern sie leben dauerhaft für Jahre und Jahrzehnte in jenen Gewässern, aus denen auch die «Emergenz» von Zuckmücken, kleinen Eintagsfliegen und anderen Wasserinsekten hervorkommt. Abb. 8 zeigt diesen Rückgang der Großmuscheln im selben Gebiet der Stauseen am unteren Inn, in dem auch die starke Abnahme der Mauer-
58 Abb. 8: Abnahme der Großmuscheln (Teich- und Malermuscheln) seit Anfang der 1970er Jahre in den Buchten und Lagunen der Stauseen am unteren Inn
Seglerhäufigkeit festzustellen war. Die Kleinmuscheln gingen ebenfalls sehr stark zurück. Fügt man nun auch noch die Abnahme der Häufigkeit der Zuckmückenlarven (Abb. 9) hinzu, die im Bodenschlamm dieser Stauseen leb(t)en, ergibt sich ein einheitliches Gesamtbild (Abb. 10).
Abb. 9: Rückgang der Zuckmückenlarven (Chironomiden) im Bodenschlamm der Stauseen am unteren Inn (Lebendgewicht in Gramm pro Quadratmeter)
59 Abb. 10: Der Rückgang der Mauersegler (Abb. 7) verlief parallel zur Abnahme derGroßmuscheln und der Mückenlarven.
Die Gleichsinnigkeit der Verläufe bei den drei so ganz unterschiedlichen Tiergruppen geht hieraus so deutlich hervor, dass sich ein gemeinsamer Grund geradezu aufdrängt. Er lässt sich aus der Lebensweise der Zuckmückenlarven und der Großmuscheln direkt ableiten und mit der Abnahme der Mauersegler verbinden. Beide, die Larven der Zuckmücken wie die Großmuscheln, leben von jenem schon benannten organischen Detritus, den Bakterien und Pilze zersetzen. Sie filtern oder strudeln ihn aus dem Wasser und den obersten Schichten des Bodenschlammes heraus. Vor allem das Bakterieneiweiß, das darin enthalten ist, stellt eine ergiebige Nahrungsgrundlage dar. Sie bildet gleichsam die Basis einer eigenen, sehr umfangreichen Nahrungskette. Erstnutzer dieses Detritus sind Zuckmückenlarven und Schlammröhrenwürmer, die in ähnlichen Mengen und Mengenverhältnissen wie die Zuckmückenlarven in solchen Gewässern vorkommen sowie die Muscheln. Wo es viel von dieser Detritus-Nahrung gibt, entwickeln sich große Bestände dieser «Schlammfauna» (Reichholf 1993). Mit bis zu 2,6 Kilogramm Frischgewicht pro Quadratmeter erreichten Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre die Zuckmückenlarven sogar ziemliche Rekordwerte. Noch erheblich größere Mengen hatte es am Ismaninger Speichersee gegeben. Dort fand Heinrich Springer (1960) Ende der 1960er Jahre auch die kleinsten
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Singvogelreviere, die bisher überhaupt bekannt geworden sind. Für den Teichrohrsänger kartierte er damals einzelne Minireviere von nur etwas über 60 Quadratmeter. Entsprechend ausgezeichnet muss das Nahrungsangebot gewesen sein, sonst hätten die Teichrohrsänger mit so wenig Platz gar nicht auskommen können. Im Auwald sind die Reviere der als Insektenfresser vergleichbaren Laubsänger, wie Fitis (Phylloscopus trochilus) und Zilpzalp (Phylloscopus collybita), wenigstens zwanzigmal größer. Doch die Au bietet eben auch nur durchschnittlich ein Zwanzigstel bis ein Fünfzigstel der Kleininsektennahrung verglichen mit dem Schilfufer nahrungsreicher Gewässer. Da die Großmuscheln als Filtrierer von der grundsätzlich gleichen Nahrungsquelle, dem organischen Detritus, leben, muss es an diesem gelegen haben, dass ihre Bestände entsprechend wie die der Zuckmücken und in der Folge auch jene der Rohrsänger und Mauersegler so stark zurückgegangen sind. Dieser organische Detritus kam früher mit dem Abwasser auf ähnliche Weise in die Flüsse und Seen, wie das mit Absicht beim Ismaninger Speichersee gemacht worden war. Dieser hatte die Funktion einer großen Nachkläranlage für das Münchner Abwasser. In den Fischteichen daneben, südlich des Speichersees, die mit diesem Abwasser in einem geeigneten Mischungsverhältnis mit Wasser aus der Isar gespeist worden waren, wuchsen die «Ismaninger Karpfen» heran und wurden rechtzeitig für den herbstlichen Verkauf groß und fett! Auf «sichtbare Weise» drückten diese Karpfen aus, was zumeist unbemerkt unter Wasser abläuft, nämlich die Umwandlung organischer Rest- und Abfallstoffe in tierisches Eiweiß. Ob dieses zu Fischfleisch wird, das von Zuckmückenlarven und Schlammröhrenwürmern als Zwischenstation genährt worden war, oder ob es die flachen Uferbereiche wieder «verlässt» in Form der Mücken selbst, die in die Luft steigen, ist aus ökologischer Sicht von nachrangiger Bedeutung. Genutzt wird diese Emergenz in der Luft von den Mauerseglern und Schwalben, im Röhricht von den Rohrsängern und im Uferwald auch von den Laubsängern und Grasmücken. In jedem Fall handelt es sich um den Aufbau neuer Biomasse aus Abfall, ohne dass am Anfang grüne Pflanzen als «Primär-Produzenten» stehen. Das macht die Besonderheit dieser Nahrungskette aus. Ihr sind der Fischreichtum der Gewässer ebenso zu
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verdanken wie die Vielfalt der Wasservögel, der Libellen und anderer Wasserinsekten! Ihr – und nicht den Pflanzen, die am Ufer wachsen, oder den Algen im Wasser. Doch warum gab es in den 1970er Jahren noch so viel mehr solcher Wasserinsekten, dass die Bestände der davon lebenden Tiere so hoch und so produktiv waren, später aber nicht mehr? Was sind die Gründe für den Rückgang des organischen Detritus? An den wasserbaulichen Veränderungen kann es nicht gelegen haben, denn die Großeingriffe, die Korrektur der Flüsse, ihre Begradigung und über weite Strecken auch ihre Kanalisierung waren längst vollzogen. Donau und Rhein hatte man im 19. Jahrhundert «korrigiert»; am Inn war der Längsausbau zu Beginn des 20. Jahrhunderts fertig und fast alle Staustufen gab es bereits viele Jahre, bevor der Niedergang der Tierwelt einsetzte. Im Abschnitt des unteren Inn, der zum «Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung» erklärt und als «Europareservat» für Wasservögel ausgewiesen wurde, entstand die letzte Staustufe 1961 und die allerletzte vor Passau 1965. Die Stauseen, an denen die Befunde zu Vorkommen und Häufigkeit der Großmuscheln, der Zuckmückenlarven und der Mauersegler erhoben wurden, gibt es bereits seit 1942/43. Sie waren längst «gereift», als der große Rückgang einsetzte. Seit 1980 erfolgten die wasserbaulichen Eingriffe im Wesentlichen an den kleinen Bächen oder in Feuchtgebieten, die landwirtschaftlich besser nutzbar gemacht werden sollten. Wo größere Feuchtgebiete angelegt wurden, wie etwa im Rahmen des Rhein-Main-DonauKanals die Ausgleichsspeicher(seen) an der Altmühl, entwickelten sie sich rasch zu neuen Zentren der Artenvielfalt. Bedrohte Arten «gewannen» durch sie; sie verloren nicht annähernd in dem Umfang, wie das die neuen Roten Listen ausdrücken. Diesen zufolge kam es bei fast der Hälfte der bayerischen Tierwelt seit den ersten Erhebungen von 1976 zu starken Rückgängen, also im letzten Vierteljahrhundert, in welchem dem Wasserbau diese massiven Veränderungen wirklich nicht mehr untergeschoben werden können. Den Seen wurde in den letzten Jahrzehnten sogar ein umfangreiches Sanierungsprogramm zuteil mit Ringkanalisationen und Schutz vor Einleitungen. Tatsächlich reagierten sie auch zuerst gut erkennbar: Nach Inbetriebnahme der Ringkanalisationen fielen die herbstlichen und win-
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terlichen Mengen an Wasservögeln stark ab. Diesen Zusammenhang mit der «Wassergüte» stellt in den späten 1970er Jahren bereits Hans Utschick in seiner Diplom- und Doktorarbeit fest. Darin verwertete er die vorhandenen, sehr umfangreichen Zählungen von Wasservögeln an bayerischen Seen und Stauseen in Zusammenhang mit der vom Wasserwirtschaftsamt festgestellten Wassergüte. Die Ergebnisse fielen sehr deutlich aus: Je größer die Wasserverschmutzung, desto mehr Wasservögel gab es – und umgekehrt. Doch die Angaben der Wasserwirtschaftsämter waren nicht aufgeteilt in die gelösten Pflanzennährstoffe, wie Nitrate und Phosphate, in Giftstoffbelastungen und in die organischen Anteile, den Detritus. Die Wassergüte wurde (und wird) nach Bakteriengehalten, Sauerstoff und gelösten chemischen Stoffen komplex beurteilt und in Klassen (I-IV mit Unterteilungen, von Trinkwasserqualität bis sehr stark verschmutzt) eingeteilt. Die organischen Stoffe finden kaum Beachtung, außer dass sie als Verschmutzung gelten, die zu entfernen ist. Moderne Kläranlagen leisten dies vorzüglich. Für diese Abwasserreinigung muss die Bevölkerung auch entsprechend bezahlen. Trinkwasser führen die Bäche und Flüsse dennoch nicht, weil ein Mehrfaches an landwirtschaftlichen Abwässern verglichen mit denen, die von Menschen stammen, frei auf den Fluren als Gülle ausgebracht und als Dünger angesehen wird. Was davon über das Grundwasser, das landauf, landab entsprechend hoch belastet und seit langem für die Trinkwassergewinnung nur in speziellen «Wasserschutzgebieten» genutzt werden kann, in die Bäche und Flüsse gelangt, verhindert, dass die Abwasserklärung die von der Bevölkerung angenommene Wirkung entfaltet. Denn wenn das Drei- oder Fünffache der häuslichen Abwässer übers Land ungeklärt ausgebracht wird, kann zwangsläufig die menschliche Abwasserreinigung in der Fläche nicht wirksam werden. Vor allem die Bäche und die Flachlandflüsse sind stark überdüngt – freilich mit Nährsalzen, die das höchst unerwünschte Wachstum von Blaualgen (Cyanobakterien) und echten Algen begünstigen, und nicht mit dem «guten Humus des Wassers», dem organischen Detritus. Die Entfernung der organischen Abwasserbestandteile ist jedoch erklärtes Ziel der (Ab-)Wasserwirtschaft. Sie strebt keine «produktiven Gewässer» an. Als wesentlicher Bestandteil des
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Umweltschutzes unserer Zeit setzte sie viele Millionen ein, um die häuslichen und industriellen Abwässer nach dem Stand der Technik optimal zu reinigen. Doch kann es alleiniges Ziel sein, alle Gewässer quasi in Trinkwasserqualität zu bekommen? Im Trinkwasser lebt so gut wie nichts mehr – und soll das auch nicht. Aber in der freien Natur?! Reicht es, dass da und dort ein wenig Laub vom Ufer ins Wasser fällt, um die Nahrungsketten mit organischen Stoffen zu versorgen? Sollen möglichst wenige Fische in den Gewässern leben? Die Fangerträge gingen am unteren Inn ähnlich stark zurück wie die Mengen der anderen Wassertiere, obgleich Nutzfische in großen Mengen von den Angelsportvereinen als Besatz ausgesetzt werden. Der Rückgang verlief parallel zum Absinken des organischen Nährstoffgehalts, was dem Anstieg der Wassergüte komplementär entspricht (Abb. 11). Genügen Kulissenufer dem Anspruch einer vielfältigen Umwelt, in der möglichst alle Arten von Tieren und Pflanzen auch ihren Platz zum Leben haben? Würde der allergrößte Teil unseres Trinkwassers unmittelbar aus den Flüssen und Seen entnommen werden müssen, wäre diese Zielvorgabe verständlich. Wir brauchen sauberes Trinkwasser. Doch dieses kommt nur zu geringen Teilen aus diesem Gewässerbereich. Sauberere Quellen werden bevorzugt, in die keine Rückstände von Pflanzenschutzmitteln oder Abfallstoffe aus Industrie und Verkehr gelangen. Diese und noch weiter gehende Fragen sind nicht nur aus Gründen des Umweltschutzes an die Wasserwirtschaft zu richten, sondern auch im Hinblick auf die Kosten der Abwasserreinigung und -beseitigung. Wie hoch sie sind, ergibt sich aus den kommunalen Abwasserbescheiden. Ob sie so hoch sein müssen, ergibt sich daraus nicht. Dreißig Jahre intensive Investitionen in die Abwasserreinigung sollten und müssten längst dazu geführt haben, dass die notwendigen und vernünftigen Ziele erreicht sind. Dann sollte die Kostenfrage ernsthaft gestellt werden, was es bringt, noch höhere Reinigungsgrade zu erreichen, wenn ein Mehrfaches des tatsächlich anfallenden Abwassers gänzlich ungeklärt bleibt. Und es muss die Naturschutzfrage gestellt werden: Ist es gerechtfertigt, den Rückgang von Großmuscheln, Libellen, Fischen und anderen Tieren der Gewässer in Roten Listen zu beklagen, wenn eine der Hauptursachen, in unserer Zeit die wahrscheinlich bedeutendste über-
64 Abb. 11: Rückgang der Fischfänge trotz stark gestiegener Zahl der Fangmeldungen am unteren Inn und Verbesserung der Wassergüte. Datenquelle: Bayerische Landesanstalt für Fischerei (Kormoran-Gutachten 1994)
haupt, im Natur- und Umweltschutzziel des sauberen Wassers liegt? Wir können all diesen Tieren die Nahrung nicht wegnehmen und dann darüber klagen, dass sie seltener werden. Nun war zwar menschliches Abwasser, noch dazu, wenn es hoch konzentriert aus Städten mit Zehntausenden oder gar Millionen von Einwohnern kam, nicht gerade die natürlichste Düngung der Flüsse. Unnatürlicher als Dung vom Vieh ist es aber allemal auch nicht. Grundsätzlich vergleichbar bleibt es zu den Ausscheidungen von Wildtieren, wie Hirschen und Wildschweinen. Es kann (und konnte) also nur um die Mengen gehen und nichts ums Prinzip. Ansonsten dürfte die Landwirtschaft selbstverständlich keinen Liter Gülle auf den Fluren ausbringen. Natürlich waren die Flüsse vielfach extrem belastet oder überlastet mit all dem Abwasser, das in sie eingeleitet worden war. Natürlich war es richtig, diesen katastrophalen Zustand nachhaltig zu ändern. Und natürlich spielen auch hygienische Gesichtspunkte eine wichtige Rolle. Aber wenn übersehen wird, dass im Jahrhundert seit den großen Flusskorrekturen fast allen Flüssen weithin ihre Auwälder entzogen (und in Acker- oder
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Siedlungsland umgewandelt) wurden, richtet sich das gute Ziel gegen sich selbst. Die Gewässer brauchen Nahrung, um natürliche Gewässer sein zu können. Sie sind nicht von Natur aus zu Trinkwasserspeichern bestimmt. Die nötige Nahrung hatten sie aus den Auen erhalten. Was dort von der Pflanzenwelt produziert wurde, gelangte über kurz oder lang ins Wasser und startete darin die neue, so wichtige Nahrungskette, die auf dem organischen Abfall aufbaut. Diese Auen fehlen inzwischen flächenmäßig zu 90 % und mehr. Wer den Flüssen die «Ersatznahrung» der organischen Abwässer entzieht, aber nicht dafür sorgt, dass im entsprechenden Umfang, nämlich den natürlichen Verhältnissen gemäß, die angeblich angestrebt werden sollen, wieder Auen nachwachsen können und Überflutungsräume eingerichtet werden, degradiert tatsächlich die Flüsse weitgehend zu Kulissen. «Natürlich» sind sie nicht; sie erwecken nur den Anschein von Natürlichkeit. Zur Flussnatur gehören eben auch die Fische und die Vögel, die Mücken und die Wassermotten und all das andere Getier, von dem so viel auf der Roten Liste steht. Die Einstufung als «gefährdet» nützt ihnen nichts. Man könnte sie ironisch als Totenklage bezeichnen, weil die noch Lebenden eigentlich gar nicht wieder «gefördert» werden sollen. Natur- und Umweltschutz haben zu viel dagegen, dass die Gewässer produktiv bleiben.
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Klares Wasser für den Gänsesäger
Ein schlanker, bräunlich gefärbter Vogel vom Typ einer Ente treibt wie unschlüssig am Ufer dahin. Die Federn am Hinterkopf gesträubt, den Hals gestreckt und augenscheinlich sehr wachsam äugt der tief im Wasser liegende Entenvogel umher. Gelegentlich ist ein gutturaler, an ein Bellen erinnernder Laut zu hören. Als sich diese Warnrufe verstärken, eilen von allen Seiten kleine Jungen auf den Schwimmvogel zu. Einige laufen regelrecht übers Wasser. Gegen die Strömung ankämpfend, halten sie den kleinen Kopf und ihren Hals weit vorgestreckt, bis sie die Mutter erreicht haben. Fünf, sieben und schließlich elf junge sind es, wie sich zeigt. Sie dürften wohl erst einige Tage alt sein, beherrschen aber – außer fliegen zu können – schon so gut wie alles. Sie tauchen und jagen im Flachwasser hinter kleinen Fischen her. Sie paddeln geschickt in den Wirbeln, die von der Strömung am Ufer gebildet werden, und picken darauf driftende Wasserinsekten ab. Sie klettern auf glitschige Steine oder am liebsten auf den Rücken der Mutter, um sich tragen zu lassen. Dann scheint ihr Hals noch länger zu werden, wenn sie mit ihrer Fracht davonschwimmt. Am schlanken langen Schnabel mit der Hakenspitze ist die Mutter als Gänsesäger zu erkennen. Ruht sie am Ufer mit ins Rückengefieder gestrecktem Kopf, übersieht man sie leicht, wie auch die sich eng zusammenkuschelnde Gruppe der Jungen daneben. Der Grund des augenblicklichen Warnens ist ein Boot voller lärmender junger Leute, das in der Strömung schnell vorüberfährt. In weniger als einer Minute befindet es sich schon wieder in sicherer Entfernung von der kleinen Familie. Die Jungen schwärmen erneut aus, die Mutter schüttelt wie beruhigt ihr Gefieder kurz durch und späht dann selbst ins Wasser. Wenige Minuten später wiederholt sich der Vorgang: Warnen, Sammeln, Abwarten, Entspannung. Und so fort. An einem Frühsommer-Wochenende ist das so an der Isar,
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die südlich von München als Wildfluss durch eine großartige, fast vollständig natürliche Landschaft strömt. Hunderte von Booten kommen dann den Fluss herabgefahren. Am frühen Vormittag beginnen einzelne Wasserwanderer oder Gruppen von Kajakfahrern die große Bootspartie, doch erst gegen 11 Uhr verdichtet sich der Verkehr zu stundenlanger Stoßzeit. Mitunter kann man von einem der vielen erhöhten Aussichtsplätze am Ufer Dutzende von Schlauchbooten gleichzeitig sehen. Orangefarben, weiß oder blau und in gar schreiend bunten Farben kommen sie daher. Die Ufer entlang aber stöbern Hunde – und nur vor ihnen ergreift das ihre Junge führende Gänsesägerweibchen in panischer Angst die Flucht. Die vielen Boote stören offensichtlich nicht besonders. Den am Ufer lagernden Menschen nähern sich Mutter und Junge bis auf wenige Meter, um im Flachwasser zu fischen. Hat sie der Rummel auf dem Wasser so abgestumpft, dass sie sich fast wie Tiere im Zoo verhalten? Warum kommen sie überhaupt an die Isar und das noch dazu auf mitunter höchst beschwerliche, kaum zu glaubende Weise, wie etwa die Jungen des Gänsesägerweibchens, die in Kloster Schäftlarn oben im Kirchturm erbrütet werden? Unter dem Getöse der Glocken, die bekanntlich erst in angemessener Entfernung ihren Wohlklang entfalten, richten sich Gänsesäger seit vielen Jahren ihren Nistplatz ein, statten das Nest mit Daunenfedern aus ihrem Brustgefieder aus und bebrüten unverdrossen einen vollen Monat lang ihr Gelege, bis die Zeit zum Schlüpfen der Küken gekommen ist. Dann piepsen diese in den großen, sehr glattschaligen Eiern und signalisieren ihr Kommen. Anfang bis Mitte Mai, je nach Verlauf der Frühjahrswitterung, ist es so weit. Die Flaumbällchen, zu denen sie geworden sind, wenn sich ihr anfänglich noch verklebtes Daunengefieder an der Brust der Mutter gerieben hat, kugeln im Nest umher und bald darauf auch darüber hinaus. Noch ist der Schnabel kurz, die Flügelchen sind noch klein und absolut untauglich für den Flug. Doch so etwas Ähnliches steht ihnen jetzt bevor. Sie müssen, gelockt und geführt von der Mutter, aus dem Turm abspringen – auf das Kirchendach oder auch knapp daneben vorbei bis direkt zum Boden hinab! So leicht, wie sie sind, überstehen sie den Absprung in aller Regel unbeschadet. Nur nass dürften sie nicht sein. Un-
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ten sammelt sie die Mutter mit Lockrufen und führt sie dann im Trippelschritt langsam zur Isar hinunter. War der Brutplatz schon problematisch genug, so fängt dort nun der geschilderte Trubel an, wann immer es schön und warm ist. So wird es bleiben, bis sie flügge geworden sind und auf eigenen Schwingen vor den Booten her oder über sie hinweg die Isar hinauf und hinab fliegen können. Eilig haben sie es dennoch nicht, von dieser Ferienverkehrsstraße wegzukommen in ruhigere Gewässer. Beinahe muss man annehmen, sie finden das ganz normal und in Ordnung, denn wie sonst kämen sie darauf, ausgerechnet zu den Gewässern in der Millionenstadt, in den Nymphenburger Park, in den Englischen Garten oder sogar an den kleinen Teich an der Blutenburg im Münchner Westen zu ziehen, wo nahezu unablässig Menschen vorbeikommen. Auf dem Nymphenburger Kanal oder auf den beiden «Seen» im Park balzen im Winter und im Vorfrühling, sobald die Gewässer eisfrei geworden sind, die prächtig lachsrosa gefärbten Erpel der Gänsesäger. Ihr roter Schnabel leuchtet, der flaschengrüne Kopf schillert. Zu mehreren in Gruppen präsentieren sie sich bei der Balz und versuchen die Aufmerksamkeit der Weibchen auf sich zu ziehen. Die Menschen am Ufer kümmern sie nicht – und Hunde auch nicht mehr, solange diese ordentlich auf den Wegen bleiben. Kaum scheuer verhalten sie sich als die Stockenten im Park, deren Erpel in der Wildform ähnlich wie die Männchen der Gänsesäger ein grün schillerndes Kopfgefieder tragen, aber mit flacherem, breiterem und zitronengelbem Schnabel leicht von den Sägern zu unterscheiden sind. Diese Enten und ihre Abkömmlinge, die in allen Mischungen von reinem Weiß bis vollständigem Schwarzgrün als «Parkstockenten» die Hauptmenge der Enten auf den Stadtgewässern stellen, werden von den Besuchern in beträchtlichem Umfang gefüttert. Sie sind «futterzahm» und ihre Vertrautheit verwundert also nicht. Zurück zur Isar und zur Brutzeit der Wasser- und Ufervögel. Natürlich gibt es dort auch Stockenten, die Junge führen und sich an einigen Stellen auch von den Besuchern füttern lassen. Um Stockenten, die gewöhnlichen «Wildenten» der Jäger, kümmern sich aber selbst Vogelkundler nur wenig. So fällt kaum auf, dass es an der Isar, trotz Wildflussnatur und Futterzahmheit
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mancher dieser Enten, weit weniger von ihnen gibt als in der Stadt. Im Stadtgebiet von München leben Hunderte von Brutpaaren der Stockenten; in Bereichen der Wohnsiedlungen mit kleineren und größeren Gärten und dem einen oder anderen Gartenteich gibt es zwischen fünf und zehn Paare pro Quadratkilometer. Sollten diese im westlichen Stadtgebiet ermittelten Häufigkeiten für die ganze Stadt einigermaßen zutreffen, so müssten in München zwischen 1500 und 3000 Stockentenpaare brüten. Walter Wüst gab 1973 für den Nymphenburger Park allein 45 brütende Weibchen für den nur knapp zwei Quadratkilometer großen Park an. Selbst wenn pro Quadratkilometer in München nur ein Entenpaar brüten sollte, würde das noch immer zusammen mit Nymphenburger Park und Englischem Garten/Isarlauf mehr als 500 brütende Weibchen ergeben. Für das nahe, international berühmte Vogelschutzgebiet und Europareservat «Ismaninger Speichersee» bei München wurden hingegen für Mitte der 1990er Jahre nur etwa 20 brütende Stockenten angegeben. Eher noch weniger waren es zur selben Zeit am Wildflusslauf der Isar zwischen Bad Tölz und dem Stadtrand von München. Ganz anders sieht es beim Gänsesäger aus: Gerade im mit Abstand am stärksten befahrenen Abschnitt zwischen Bad Tölz und Icking und den angrenzenden Abschnitten der Loisach bis zur Mündung geben U. Bauer und H. Zintl (1995) mit 34 bis 42 Brutpaaren (Zeitraum 1988–1994) die bei weitem höchsten Zahlen für den Brutbestand des Gänsesägers an der ganzen Isar an. Lediglich am Lech (mit Stauseen) gab es zwischen dem Landkreis Landsberg und Augsburg ähnlich viele – aber auf nahezu doppelt so langer Flussstrecke! An der Isar selbst kamen zur Untersuchungszeit in den frühen 1990er Jahren mit etwa 20 weiteren Brutpaaren Gänsesäger nur noch etwa halb so viele vor wie im vom Erholungsbetrieb heimgesuchten Flussabschnitt südlich von München. Versuche hatten ergeben, dass sich dort der Bestand sogar noch weiter hätte vergrößern lassen, wenn den Gänsesägern geeignete Nistkästen angeboten worden wären. Das Brüten im Kirchturm von Schäftlarn zeigte, wie schwierig sich die Nistplatzsuche für die Gänsesäger gestaltete und wie wenige geeignete Naturhöhlen in alten Bäumen oder in geschützten Fels-
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nischen für diesen Höhlenbrüter zur Verfügung stehen. Um die Konflikte mit der Fischerei nicht noch weiter anschwellen zu lassen, wurden keine Nistkästen ausgebracht und vorhandene wieder entfernt. Also beschränkt das Angebot an Nisthöhlen die Größe des Brutbestandes der Gänsesäger an der Isar südlich von München – und nicht das Ausmaß der Störungen, denen sie am Fluss selbst ausgesetzt sind! Diese Feststellung ist an sich schon merkwürdig genug, um eine nähere Betrachtung herauszufordern. Noch merkwürdiger wird sie aber, wenn man hinzufügt, dass die Isar südlich von München vom Gänsesäger erst Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre besiedelt worden ist. Außerhalb der Alpen «ab 1975 wieder besiedelt», beeilen sich die Verfasser der oben genannten Studie über den Gänsesäger in Bayern hinzuzufügen. Das ist auch ganz richtig so. Denn dieser von Fischen lebende Schwimmvogel kam in früheren Zeiten durchaus auch da und dort an Gewässern der Alpen bis zu den Schweizer Seen vor, aber er war als Brutvogel selten. Dafür suchten umso mehr Gänsesäger – Hunderte nämlich – als Wintergäste die oberösterreichischen, bayerischen und schweizerischen Seen und Stauseen auf. Allein an den Stauseen am unteren Inn gab es in den 1960er Jahren Winteransammlungen von mehr als 600 Gänsesägern, bevor die Entwicklung des randalpinen Brutbestandes in Gang kam. Von weniger als 40 vor 1960 stieg der Brutbestand bis Ende der 1990er Jahre auf fast 400 Brutpaare an und bleibt seither offenbar stabil. In der Gesamtmenge entspricht er damit, den Nachwuchs eingerechnet, etwa der früher auf Bayerns Seen, Stauseen und Flüssen überwinternden Zahl der Gänsesäger. Die Winterbestände gingen zur gleichen Zeit stark zurück und liegen gegenwärtig im Durchschnitt bei wohl etwa einem Drittel der früheren Mengen (vor 1970). Doch dieser Rückgang hat aller Wahrscheinlichkeit nichts mit dem Anstieg des Brutbestandes zu tun, denn die Wintergäste kamen aus dem Norden und Nordosten und die meisten der in Südbayern brütenden Gänsesäger ziehen zur Überwinterung an den Bodensee oder an die Schweizer Seen. Vielmehr sieht es ganz danach aus, als habe die starke Zunahme des Kormorans im Winterhalbjahr die Verlagerung der Gänsesäger in andere Überwinterungsgebiete und so ihre Abnahme in Bayern verursacht. Denn auf den Stauseen am unteren Inn gleicht die
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Zunahme der Kormorane genau den Rückgang der Gänsesäger aus. Nun war jedoch Anfang der 1970er Jahre der Gänsesäger unter Schutz gekommen und die Jagd auf ihn eingestellt worden. Hieraus könnte der – wie sich zeigt, nicht zutreffende – Schluss gezogen werden, die Einstellung der Bejagung habe die Wiederbesiedelung von Lech und Isar und den Aufbau eines kleinen, aber überlebensfähigen Brutbestandes der Gänsesäger am nördlichen Alpenrand ermöglicht. Diese Schlussfolgerung ist besonders verlockend, weil vielfach im Artenschutz die Einstellung der Bejagung oder der sonstigen Verfolgungen zur Erhaltung und Verbesserung der Bestände bedrohter Arten gefordert wird. Durchaus zu Recht, wie viele Fälle ergaben, hier aber, beim Gänsesäger, spielte die Bejagung sicher nicht die Hauptrolle. Denn sie betraf (und betrifft in manchen Ländern immer noch) die Zugvögel aus den nördlichen und östlichen Brutgebieten, die vom Herbst bis in den Winter hinein gejagt worden war. Die Einstellung der Bejagung machte die Gänsesäger in der Tat auch in weiten Bereichen Mitteleuropas deutlich weniger störungsanfällig. Die Fluchtdistanzen, die am unteren Inn noch in den 1960er Jahren über 200 Meter betragen hatten, gingen auf ein Drittel zurück und verminderten sich bei den überwinternden Zugvögeln auf etwa 70 Meter. Für die Gänsesäger an der Isar wäre das jedoch noch immer viel zu viel. Mit solchen Fluchtdistanzen könnten sie den Erholungsbetrieb gewiss nicht ertragen. Wenn sie, wie schon seit gut einem Jahrzehnt oder seit Anfang der 1990er Jahre, die Boote in nur zehn Metern Entfernung oder mitunter sogar in noch geringerer Distanz an sich vorbeilassen, ohne in Panik zu verfallen, und mit den Jungen bei der Nahrungssuche bis auf wenige Meter an die Menschen, die am Ufer lagern, herankommen, so stellt das eine andere Qualität im Verhältnis zum Menschen dar. Diese werden nicht (mehr) als Feind betrachtet und kaum anders behandelt als Kühe am Ufer oder ein vorbeitreibender Baumstamm bei Hochwasser. Wie sonst hätten die Gänsesäger ausgerechnet im am dichtesten befahrenen Isarabschnitt die größte Brutdichte erreichen können, die nur der Brutplatzmangel einschränkt? Nun werden sie tatsächlich weder im Brutgebiet noch im Winterquartier oder auf den Flugstrecken dorthin in nennens-
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wertem Umfang unter Beschuss geraten. Denn auch am Bodensee droht ihnen kein Abschuss mehr. Die kleinräumige Beziehung zwischen Brutgebiet am Alpennordrand und den großen, für die Überwinterung bestens geeigneten Seen südwestlich davon erspart ihnen Gebiete, in denen sie, wie die Artgenossen aus Skandinavien oder Nordosteuropa, bejagt werden könnten. Doch diese Lage stellte sich erst nach Beginn des Anwachsens der Gänsesäger-Brutbestände am bayerischen Alpennordrand ein. Sie war nicht die Voraussetzung, sondern ein ausgesprochen günstiger Umstand, der sich während des raschen Bestandsaufbaus ergab und als dauerhaft erwiesen hat. So müssen auch nur wenige Gänsesäger in für sie sicheren Städten wie München und Augsburg überwintern, wo aber in ausgeprägten Kälteperioden die flachen Gewässer vollständig zufrieren können. Es lag an ganz anderen Ereignissen, die in den 1960er Jahren den Aufschwung beim Gänsesäger möglich gemacht haben. Den Schlüssel dazu liefert die «Inn-Salzach-Lücke» im Brutvorkommen des Gänsesägers am Alpennordrand. Diese Lücke wurde bemerkbar, als die Besiedelung von Lech und Isar aus auf die nächsten Flüsse und die randalpinen Seen bis nach Oberösterreich übergriff. Der Inn blieb davon so gut wie zur Gänze ausgespart und auch an der Salzach gelangen keine dauerhaften Ansiedlungen, auch wenn es die Gänsesäger dort mehrfach versucht haben. Anfang der 1990er Jahre bot sich ein merkwürdiges, seither unverändert gebliebenes Bild: Vom Bodensee bis ins Salzkammergut brüten Gänsesäger mit einem Gesamtbestand von etwa 400 Paaren alljährlich, aber nicht an Inn und unterer (außeralpiner) Salzach. Nun gibt es aber am unteren Inn ein sehr bedeutendes, mehr als 40 Flusskilometer langes bayerisch-oberösterreichisches Wasservogelschutzgebiet, das «Europareservat Unterer Inn». Unter Naturschutz gestellt und als Vogelschutzgebiet ausgewiesen ist auch der Wasserburger Innstausee. 50 Kilometer Vollnaturschutzgebiet, die im Vergleich zu den Verhältnissen an der Isar südlich von München nahezu überhaupt nicht vom Erholungsbetrieb gestört werden, sollten nun ausgerechnet am Inn nicht dazu geeignet sein, den Gänsesägern attraktive Brutplätze zu bieten? Dass sie Stauseen nicht mögen, scheidet aus, denn in Winter traten die großen Ansammlungen nordischer Gänsesäger dort
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auf (s. o.). In beiden Naturschutzgebieten findet seit Mitte der 1970er Jahre keine Jagd auf Wasservögel mehr statt. Nicht nur die Gänsesäger, sondern alle Wasservögel haben dort sichere Rast-, Überwinterungs- und Brutplätze. Kaum sonst irgendwo geht es ihnen – bis zum Bodensee – in dieser Hinsicht besser. Die Mengen anderer Wasservögel und deren Artenvielfalt drücken dies ebenfalls aus. Warum also sollten Inn und Salzach nicht als Brutgebiete für die Gänsesäger in Betracht kommen, wohl aber die randalpinen Gewässer westlich und östlich davon? Warum rücken die Brutvorkommen lech- und isarabwärts kontinuierlich bis zur Mündung dieser Flüsse in die Donau vor, wobei sogar Bereiche in den Großstädten Augsburg und München besiedelt werden, während es in den Vogelschutzgebieten von europäischem Rang am unteren Inn bisher überhaupt keine Gänsesägerbruten gegeben hat? Die Antwort ist verblüffend einfach und sie ergibt sich aus der Natur dieser Flüsse: Beide sind während der Brutzeit zu trüb für den Gänsesäger (Reichholf 1999, Gross 2000). Der Inn ist das stets im Sommer, die Salzach in den meisten Jahren. Von April/Mai bis in den August hinein führt der Inn «Gletschermilch», wie es die Anwohner nennen. Feinster Gesteinsabrieb aus den zentralalpinen Gletscherregionen trübt mit mehreren hundert Milligramm pro Liter Wasser diesen größten Alpenfluss so sehr, dass in den Früh- und Hochsommermonaten die Sichttiefe ins Wasser hinein gleich null ist. In der Farbe wie heller Milchkaffee oder eben wie Milch, wälzt der Inn jedes Sommerhalbjahr etwa eine Million Tonnen Schwebstoffe aus den Alpen hinaus und schickt sie in die Donau hinein, die im Sommer vielfach auch nicht die «schöne Blaue» ist, als die sie besungen wird. Denn der wasserreichere Inn bestimmt ihren Lauf ab Passau bis über Wien hinaus. Blau wird sie erst (wieder) im Herbst, wenn in der Wachau die Trauben reifen und die goldene Oktobersonne über dem Donautal liegt. Dann hat der Inn seine SchwebstoffFracht fürs Jahr durchgezogen und ist selbst in die «Klarwasserphase» übergegangen. Diese hält nun bis zum nächsten Frühjahr an, außer es kommt zu einem frühwinterlichen Hochwasser. Doch das ist selten der Fall, denn die meisten Hochwasser des Inns fallen in den Hochsommer, wenn anhaltend starke Regenfälle im Vorland mit intensiver Gletscherschmelze in den
74 Abb. 12: Wasserführung und Schwebstoff-Fracht des Inns vor der Einmündung der Salzach (langjährige Mittelwerte) mit Hauptphase der «Gletschermilch»
(Schweizer und Tiroler) Zentralalpen zusammenkommen. Dieser Ablauf entspricht auch dem normalen Jahresgang seiner Wasserführung, die im Winter auf ein Zehntel der durchschnittlichen sommerlichen Höchstwerte zurückgeht (Abb. 12). Für die Verdopplung der durchschnittlich pro Jahr mit dem Innwasser transportierten Schwebstoffe seit 1943 gibt es gute Gründe. Erstens transportiert der Inn von Natur aus ein Vielfaches an Schwebstoffen im Vergleich zu anderen Flüssen, die aus den Alpen kommen, denn er durchquert diese der Länge nach vom Schweizer Oberengadin im Westen bis zum Austritt aus dem Gebirge bei Kufstein. Ein Großteil des Wassers, das dem Inn zuströmt, kommt daher aus den alpinen Hochlagen und Gletscherbereichen. Andere Alpenflüsse, wie Lech und Isar, entspringen am Rand der Alpen. Sie werden hauptsächlich von der Schneeschmelze getrübt und diese fällt in den Vorfrühling oder Frühling. Entsprechendes gilt für alle anderen größeren Alpenflüsse. Keiner hat ein so großes inneralpines Einzugsgebiet wie der Inn. Der Rhein aber, der in gewisser Hinsicht vergleichbar wäre und auch gar nicht weit entfernt von den Innquellen entspringt, fließt in den Bodensee. Dabei verliert er nahezu die gesamte Fracht an Schwebstoffen. Sein weitaus kleineres alpines Einzugsgebiet reichte bei weitem nicht aus, den Bodensee mit
75 Abb. 13: Die Menge der durchschnittlich pro Jahr mit dem Innwasser transportierten Schwebstoffe (nur auf das Sommerhalbjahr bezogen, also doppelt so viel) hat seit der Zeit vor der Einstauung (1943) zugenommen und sich im Vergleich von 1938–1943 und 1991–1995 fast genau verdoppelt.
Geschiebe und Schwebstoffen aufzufüllen. Dies aber hatte der Inn nach der letzten Eiszeit mit dem «Rosenheimer Becken» gemacht, das in ein paar Jahrtausenden aufgefüllt worden war. Eine Million Tonnen pro Jahr ohne das Geschiebe am Boden des Flusses sind auch gegenwärtig eine gewaltige Menge an Material. Sie kann bei Hochwasser auf das Drei- oder Fünffache ansteigen. Daher verlandeten auch die Stauseen sehr schnell, die am Inn gebaut worden waren und ihn seit einem Vierteljahrhundert von seinem Austritt aus den Alpen bis zum Zusammenfluss mit der Donau in eine lückenlose Kette von Laufstauseen aufgegliedert haben. Selbst große Rückstaubereiche mit 30 bis 40 Millionen Kubikmeter Fassungsraum füllten sich in nur gut einem Jahrzehnt mit den Schwebstoffmengen so weit auf, dass sich Ablagerung (Sedimentation) und Abtragung (Erosion) im Jahreslauf und über die Jahre ausglichen. Die Beckengröße innerhalb der Staue entspricht dann in Breite, Fließgeschwindigkeit und Tiefe in etwa den früheren Verhältnissen vor der Regulierung. Was bei geringerer Wasserführung und niedrigeren Geschwindigkeiten der Strömung abgelagert wird, reißen Hochwasser mit ihrer stärkeren Strömung wieder mit sich fort. Der aufgestaute Fluss, so muss man es bezeichnen, auch wenn die Vorstellung gar nicht so recht ins Denkschema passen will,
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fließt mit nahezu natürlicher Geschwindigkeit durch die aufgelandeten Staubecken; langsamer als vor dem Aufstau zwar, aber da war er durch die Begradigung beschleunigt worden, doch keineswegs langsamer als in den Jahrhunderten davor im Zustand des Wildflusses ohne regulierende Flussbaumaßnahmen. Wenn sich aber die durchschnittliche Menge der Schwebstoffe seit dem Bau der Staustufen erhöht und nicht verringert hat (kurzfristig war das durchaus der Fall, wie Abb. 13 zeigt), so liegt das daran, dass im 20. Jahrhundert viele, ja die meisten Wildbäche, die dem Inn in den Alpen das Wasser zuführen, verbaut worden sind. Schmelzwasser gelangt immer schneller und immer direkter in den Hauptlauf und dieser bringt entsprechend mehr Schwebstoffe mit (Abb. 13). Der Inn war daher von vornherein zur Brutzeit für Gänsesäger nicht geeignet. Erst im Herbst und Winter konnten die Fischjäger unter Wasser erfolgreich werden, weil nun die Sicht gut genug war. Genau dies spiegelt sich im ursprünglichen Muster des jahreszeitlichen Vorkommens der Gänsesäger am unteren Inn (Reichholf 1994) und gerade so verhält es sich mit den Kormoranen. Ihre Zeit beginnt im Spätsommer und endet im Frühjahr. Dann wird der Fluss zu trübe. Ähnlich ergeht es den Eisvögeln. Auch für sie ist das Innwasser die Brutzeit über fast überall zu trübe, um mit ausreichendem Erfolg kleine Fische fangen zu können. Sie brüten an den Bächen und kleinen Flüssen des Vorlandes, mitunter unter sehr ungünstigen Umständen, und ziehen dann im August/September an die Stauseen, an deren Ufern das nun klare Wasser die Sicht auf die Massen von Kleinfischen freigibt. Reiher am Ufer haben es leichter, vor allem an sumpfigen, von Röhricht durchsetzten Bereichen, weil sich dort die Trübe schnell genug absetzt. Dort können auch Großlibellen in großer Zahl leben, deren Larven unter Wasser gleichfalls «Sicht» brauchen, um erfolgreich mit ihrer Fangmaske Beute schnappen zu können. Ausschlaggebend sind die Verhältnisse zur Brutzeit und nicht die Jahresdurchschnittswerte. Von Mai bis Juli liegen aber die Schwebstoffmengen im Innwasser mehr als doppelt so hoch, meistens bei mehr als 500 Milligramm pro Liter, wie in den Jahresdurchschnittswerten angegeben. In dieser «Milch» sehen Unterwasserjäger in der Tat nichts mehr. Die Trübung durch die «Gletscher-
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milch» erklärt als ökologische Besonderheit also ohne weiteres das Fehlen von Gänsesägerbruten am Inn. Hätte es nur eine «Inn-Lücke» gegeben, wären die Zusammenhänge nicht so deutlich geworden, weil der Inn einfach «ausgeklammert» worden wäre. Doch die Salzach entspringt der Isar vergleichbar im randalpinen Bereich. Sie führt keine «Gletschermilch». Dennoch blieben die wenigen Brutversuche der Gänsesäger an diesem Fluss, der durchaus auch im Hinblick auf Länge, Einzugsgebiet und Wasserführung mit Isar und Lech zu vergleichen ist, Ausnahmen. Zu dauerhafter Ansiedlung kam es bisher nicht. Dieser Befund lenkt die Betrachtung zurück an Isar und Lech und den Beginn der dortigen Ansiedlung und Ausbreitung der Gänsesäger. Warum kamen die Gänsesäger zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, nämlich in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, dort zur Ansiedlung und nicht schon früher? Warum breiteten sie sich von «oben nach unten» aus und nicht ausgehend von den Vogelschutzgebieten an den mittleren und unteren Abschnitten dieser beiden Flüsse? Auch an der Isar spielte das herausragende Wasservogelreservat des Ismaninger Speichersees für den Gänsesäger keine Rolle bei der Entwicklung eines Brutbestandes und Gleiches gilt für das Feuchtgebiet «Lech-Donau-Winkel» an der Lechmündung mit dem Naturschutzgebiet Lechstausee Feldheim. Es sieht gerade so wie am Inn aus: Die Vogelschutzgebiete blieben anscheinend bedeutungslos für die Wiederkehr des Gänsesägers. Eine denkbare Erklärung wäre, dass die Gänsesäger, insbesondere die Jungen, nicht nur klares, sondern auch flaches Wasser benötigen, um dort mit Erfolg kleine Fische und große Wasserinsekten fangen zu können. Diese Kombination findet sich an den Flüssen weit ausgeprägter in den Ober- und Mittellaufabschnitten als am Unterlauf oder an Stauseen. Dann aber hätten Hier, Lech, Isar und Salzach von Anfang an Gänsesäger zur Brutzeit haben müssen und nicht erst ab einer bestimmten Zeit mit Beginn des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts. Die besonderen Lebensraumansprüche erklären noch nicht den Zeitpunkt der Wiederansiedelung. Rätselhaft bliebe zudem das Verschwinden der Gänsesäger Ende des 19. Jahrhunderts. Wiederum ist die Lösung ganz einfach. Sie steht auch in engem Zusammenhang mit der Wassertrübung und sie betrifft
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direkt die Salzach in der «Inn-Salzach-Lücke». Lech und Isar bekamen mit dem Forggensee bei Füssen und mit dem Sylvensteinstausee an der oberen Isar so genannte Kopfstufen, in denen das aus dem Einzugsgebiet beider Flüsse kommende Gebirgswasser ganz ähnlich aufgenommen und die Schwebstoffe darin abgefangen werden, wie das mit dem Rhein durch den Bodensee geschieht. Ziel dieser Stauseen war und ist die Regulierung des Wasserabflusses. Der Lech wurde dazu, fast dem Inn vergleichbar, in eine ganze Kette von Staustufen aufgeteilt, während der Isar Wasser abgezapft und über Ausleitungsstrecken der Energiegewinnung zugeführt wird. Viel weniger Wasser als früher im Wildflusszustand und geklärtes Wasser, das schon durch den Sylvensteinstausee geflossen ist, führt nun die Isar seit 1959. Die Trübung im Frühjahr, wenn die Gänsesäger ihre Brutplätze wählen, ging stark zurück. So schufen der Stausee kurz vor dem Austritt der Isar aus den Alpen und die Verminderung der Wasserführung durch die Ableitung die neuen, geeigneten Bedingungen für die Besiedlung der Isar durch den Gänsesäger. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Lech und dem Forggensee (1954). Auch an der Hier wurden Rückhaltebecken zu Hilfen für den Gänsesäger. An der Salzach, dem «letzten unverbauten Alpenfluss», gibt es sie nicht. Diese Einstufung trifft zwar nur hinsichtlich des Querverbaus mit Staustufen oder Rückhaltebecken zu, nicht aber für den Längsverbau, denn die Salzach ist bis zur Mündung in den Inn komplett begradigt und «kanalisiert». Genau das war aber aller Wahrscheinlichkeit nach der Hauptgrund für das weitgehende Verschwinden des Gänsesägers im späten 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Begradigung aller größeren Flüsse hatte dazu geführt, dass sie sich eintieften und Flachwasserbereiche verloren. Wo das Wasser zu schnell fließt, können sich die Gänsesäger nicht halten. Für die Jungen wird die Strömung zu stark. Dieser Vorgang der Begradigung mit Eintiefung (und Beschleunigung der Fließgeschwindigkeit) hatte sich ein halbes Jahrhundert lang hingezogen, bis die Auswirkungen der Eintiefungen als gefährlich für Grundwasser und für die Festigkeit von Brückenbauten erkannt wurden. Mit Buhnen, Sohlschwellen und schließlich in Kombination mit der Erzeugung von elektrischer Energie mit Aufstau wurde der Tiefenerosion entgegengewirkt. Das freie
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Fließen eines Flusses durfte, wenn begradigt, auch nicht zu frei sein. So verursachten Wasserbaumaßnahmen zuerst den Niedergang der randalpinen Brutvorkommen des Gänsesägers und späteren Wasserbauten verdankt er sein Comeback. Die Schwebstoffmessungen, die für die Isar aus der Zeit vor dem Bau des Sylvensteinspeichers vorliegen, zeigen, dass sie damals mehr als dreimal so viele Schwebstoffe führte wie danach. Die Mengen liegen mit 100 bis 150 Milligramm pro Liter etwa im Bereich der Salzach und so gab es ganz folgerichtig vor dem Bau des Sylvensteinspeichers nur einzelne Brutversuche wie gegenwärtig noch immer an der Salzach. Fügt man diese Bausteine zusammen, wird auch klar, warum ausgerechnet der wasserärmste Isarabschnitt südlich von München den besten Brutbestand an Gänsesägern aufweist. Hier gibt es gerade in der Zeit, in der die Gänsesäger ihre Jungen führen, die ausgedehntesten Flachwasserbereiche. Und anders als an Inn und Salzach wird das Wasser im Frühsommer mitunter schon recht warm. Im Hochsommer steigt die Wassertemperatur regelmäßig auf 20°C oder darüber an, während der Inn ein «sommerkalter Fluss» bleibt mit Höchstwerten, die kaum über 15°C hinausgehen. Verringerte Wasserführung und Vorwärmung durch den Sylvensteinspeicher wandelten die Isar fast zum Typ des sommerwarmen Flusses im zudem durch Föhnwärme begünstigten Tal um. Das kommt auch der Entwicklung von Wasserinsekten zugute, die in manchen Frühsommern, so um die Zeit der Sommersonnenwende, in eindrucksvollen Mengen abends flussaufwärts ziehen. Wie ein Fluss über dem Fluss schwärmen vor allem Eintagsfliegen in stetem Strom zu Millionen in Baumhöhe über dem Wasser gegen die Fließrichtung. Damit gleichen sie die von der Strömung unweigerlich erzeugte Abdrift aus. Hochwässer geben mehr oder weniger regelmäßig Impulse. Fallen sie stark aus, geht die Häufigkeit der Wasseramseln am Fluss zurück und Eisvögel lassen sich kaum noch sehen. Aber bald gleichen die Wasserinsekten die Verluste wieder aus. So pendeln auch die Brutvorkommen der Eisvögel mit dem Verlauf der Jahre ohne Tendenz zu Zu- oder Abnahme. Doch mit der Erhöhung der Restwassermenge, die der Isar zugeführt wird (und «zugute kommen» soll), werden sich auch diese Gegebenheiten erneut ändern. Es wird Gewinner und Ver-
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lierer geben. Zu den Verlierern gehören sicherlich so extrem seltene und für diese zumeist nicht sonderlich geschätzte Tiergruppe als sehr eindrucksvoll zu bezeichnende Spinnen wie die Steingraue Wolfspinne (Arctosa cinerea) auf den Kiesbänken. Sie lebt nur dort, wo es mehr als faustgroße Steine gibt, die nur kurzzeitig überflutet werden, und sie gehört zu den besonderen Seltenheiten der Tierwelt dieser alpinen Kies- und Schotterbänke. Auch Wasseramseln und Gebirgsstelzen werden mit der Erhöhung der Wasserführung Randzonen verlieren, von denen sie leben. Ob Fische, wie die Äschen, zu den Gewinnern gehören werden, muss die Zukunft zeigen. Ihren Rückgang hat die Fischerei zwar den Gänsesägern angelastet (Baars, Mathes, Stein & Steinhörster 2001), aber man blieb den Nachweis dafür schuldig. Im Gegenteil: Die oben angeführte Untersuchung zeigte, dass die Äschenfänge wie auch die Brutbestände der Gänsesäger gemeinsam ein Jahrzehnt lang zunahmen. Bei nicht einmal einem Gänsesäger-Brutpaar auf zwei Flusskilometern wäre es ohnehin ziemlich unwahrscheinlich, dass die Säger den Niedergang der Äschen verursacht haben könnten. Ihr Bestand wäre dann auch nicht seit nunmehr zwei Jahrzehnten auf annähernd gleichem Niveau geblieben, hätten die Äschen einen nennenswerten Anteil an ihrer Nahrung gestellt. Eher sollte das Augenmerk der Fischerei auf die insbesondere im Herbst und im Frühjahr auftretenden, sehr auffälligen Beläge grüner Algen gerichtet werden. Die Veralgung weist darauf hin, dass die so sauber aussehende Isar offenbar doch einiges zu viel an unsichtbar im Wasser gelösten Nitraten abbekommt, die den Lebewesen am Flussgrund nicht gut tun. Viele Abläufe in so veränderlicher Natur, wie es die Flüsse sind, erweisen sich bei näherer Betrachtung oftmals als zu komplex, um sie mit einem Blick von außen beurteilen zu können. Wir wissen so gut wie nichts darüber, in welcher Weise sich eingesetzte Huchen (Hucho hucho) als Raubfische auf die übrige Fischwelt und auf die Häufigkeit von Wasserinsekten auswirken. Die Fischerei hält den Huchen für «richtig» und in den Fluss gehörig, weil es ihn früher gegeben hat. Doch auch Gänsesäger hatte es früher gegeben. Huchen leben von Fischen, Gänsesäger auch. Warum sollen sie als Vögel nicht (mehr) «richtig» sein? Weitaus umfassendere Ereignisse, wie «Hochwasserim-
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pulse», finden dagegen kaum Beachtung, weil man sich auf sie nicht mit einem wohl vorbereiteten und entsprechend rechtzeitig (d. h. mindestens ein Jahr vorher!) beantragten Forschungsprojekt einstellen kann. Im Falle eines starken Hochwassers drängen sich Ermittlung und Behebung der Schäden zwangsläufig in den Vordergrund. Hochwasser gelten daher von vornherein als Katastrophen (für die Menschen), obgleich sie das für die Flussnatur überhaupt nicht sein müssen (Bayerische Akademie der Wissenschaften 2002). Niedrigwasser, wie es im Hitzesommer 2003 weithin in Mitteleuropa aufgetreten ist, hält man ebenfalls von vornherein für eine Katastrophe, denn ein Fluss gilt nur dann als Fluss, wenn er frei fließt und genug Wasser hat – im Idealfall eines stabilen Mittelwasserzustandes also! So lautet die vorherrschende Meinung unter Naturschützern und in der Öffentlichkeit. Hat er wenig Wasser, beklagt man ihn als Flussleiche; hat er zu viel, bedroht er Hab und Gut. Austrocknende Uferzonen und extremes Niedrigwasser passen nicht zum Bild des wohl regulierten, glatt dahinströmenden Flusses. Dem Vorurteil entspricht der kanalisierte, wohl dosiert mit Wasser aus einem Speicher versorgte Fluss am besten. Er scheint auch am sichersten zu sein, weil der Eindruck erweckt wird, er befände sich unter Kontrolle. Umso großartiger ist es, dass sich eine Weltstadt wie München «ihren Fluss», die Isar, als «Wildfluss» bis in die Stadt hinein (wieder) holt, obgleich auch sie in den Jahrhunderten ihres Bestehens immer wieder einmal von den Verheerungen eines Hochwassers heimgesucht worden ist. Beim «Pfingsthochwasser 1999» bewährte sich Münchens Absicherung, der Sylvensteinstausee. Die Renaturierung der Isar zum Wildfluss wurde von diesem Hochwasser, wie auch von den Fluten im August 2002, nicht gefährdet. Und die Gänsesäger fühlen sich wohl in München, wie auch viele andere Wasservögel und die Natur insgesamt in ihrem Neben- und Miteinander von Tieren und Pflanzen der unterschiedlichsten Arten und Herkunft. Großstädte sind zu Inseln des Schutzes für sie geworden.
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Pflanzenwelt in Bewegung
Den Münchner Landschaftsmalern des frühen 19. Jahrhunderts verdanken wir eine ganze Reihe von eindrucksvollen Bildern des Isartals und der Münchner Umgebung. Vergleicht man sie mit dem heutigen Zustand, fällt nicht nur auf, dass viel zugebaut worden ist, sondern auch, wie stark die dargestellten Landschaften zugewachsen sind. Von Oberföhring etwa aus betrachtet, dehnte sich das Isartal weithin offen bis zum fernen München aus. Es gab nur wenige Bäume an der Hochuferkante sowie vereinzelt Gebüsch unten im Überschwemmungsbett der Isar. Von dichtem Bewuchs oder gar von Wald keine Spur. Knapp 200 Jahre später, in unserer Gegenwart, bildet Oberföhring zwar einen Teil des Münchner Stadtgebiets, aber der Isarbereich ist zum Wald aufgewachsen. Der Stadt- und südwärts anschließende «Englische Garten» muss mit ziemlichem Aufwand an Arbeit und Kosten «freigehalten» werden, damit Bäume und Büsche nicht alle Flächen zuwachsen, die nicht intensiv begangen werden. Ähnlich verhält es sich landauf, landab. Bei Wolfratshausen, wo die Loisach in die Isar mündet, dehnten sich weite offene Kiesflächen ohne erkennbaren Bewuchs. Handlichen Isarschotter aus Kalkstein sammelten Frauen in große Tragkörbe und schleppten ihn zu den Stellen, an denen Kalk gebrannt wurde. Auch solche Szenen hielten die Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts fest (Joseph Wenglein, 1883, Neue Pinakothek München). Heute bedeckt dichter, hoher Weidenauwald die ehemaligen Kiesbänke. Nach und nach werden sie verschwinden, heißt es, weil es keine richtigen Hochwasser mehr gibt. Diese Ansicht trifft natürlich nicht zu. Nicht zuletzt die großen Hochwasser von 1999 und 2002 haben das Gegenteil bewiesen. Es kommt zu wenig Geschiebe aus den Bergen nach, erklären die Wasserbauer, um die Flusssohle zu stabilisieren. Damit sich die Isar nicht noch tiefer in ihr eingeengtes
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Bett gräbt, werden ihr an einigen Stellen per Lastwagen große Mengen an Kies zugeführt. Ziemlich aufwändig ist so eine Versorgung, was Material- und Arbeitskosten sowie den Energieverbrauch betrifft. Die Maßnahmen sind der Preis dafür, dass der Isar Wasser abgezapft wird und dass die normalen kleinen bis mittleren Hochwasser im großen Speicherbecken des Sylvensteinstausees zurückgehalten werden. Das bannt die Gefahr für München und für die Städte an der Isar hinauf bis zum Alpenrand. Doch erklärt das Geschiebe wirklich die gewaltigen Veränderungen, die sich aus dem Vergleich der Bilder ergeben? Würde die Isar im ganzen Lauf vom Alpenrand oberhalb von Lenggries bis hinunter nach Freising, wo in früheren Zeiten das große Moor der Münchner Schotterebene zu Ende war, nahezu frei von Bewuchs sein und voller offener Schotterflächen? Ganz sicher nicht. Ebenso sicher würden die Flusslandschaften überall in Mitteleuropa nicht so kahl aussehen wie vor eineinhalb oder zwei Jahrhunderten, hätte es lediglich kleine Eingriffe durch den Wasserbau gegeben. Wachsende Städte und Siedlungen vernichteten zwar dort, wo unmittelbar gebaut wurde, den Bewuchs, verdichteten ihn aber gleich nebenan so sehr, dass sie vielfach weit ausgeprägter als die Dörfer draußen auf dem Land von Wald umgeben sind. Würden wir nicht glauben, es besser zu wissen, könnten wir meinen, die Vegetation sei auf dem Vormarsch und dabei, alles zuzuwuchern, was nicht bebaut ist oder mit ziemlichem Aufwand freigehalten wird. Doch was «glauben wir zu wissen», wenn wir über das Pflanzenkleid der Landschaften nachdenken? Dass wir die Pflanzen wie die Tiere zurückdrängen, dass viele Arten selten geworden sind, dass der Wald im Sterben liegt und dass nur dank der Baumschutzverordnungen in den Städten überhaupt noch etwas wächst, was wie ein Baum aussieht! So ähnlich ließen sich die Meinungen und Annahmen oder – besser – die Vorurteile vielleicht zusammenfassen. Nicht allzu viel davon trifft in Wirklichkeit zu. Die alten Bilder aus dem noch gar nicht so «alten», weil nur rund zwei volle Menschenalter zurückliegenden 19. Jahrhundert drücken ganz anderes aus. Damals gab es offenbar viel weniger Bäume und dichten Bewuchs, aber weit mehr offenes Land, auf dem fast nichts an Pflanzen erkennbar dargestellt worden ist, was wir
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heute von offenen Flächen erwarten. In München glich der Englische Garten tatsächlich weitaus mehr einem Garten als gegenwärtig, die Moore und Sumpflandschaften um Dachau, Erding und andernorts im Alpenvorland waren wie auch das richtige Kulturland mit Äckern und Weiden ungleich offener als heute. Weithin fehlten Bäume fast völlig. Lichter waren auch die Wälder. Die Bäume wuchsen nicht dicht an dicht zum «Stangenholz» auf, sondern locker mit Freiraum darunter. Nicht einmal die Gebirgsbilder zeigen den dichten Wald, in dem sich die Wilderer bestens hätten verbergen können. Es gab viele freie Stellen, wo Auerhähne oder Gruppen von Birkhähnen balzten oder im Herbst die Hirsche röhrend ihre Weibchenrudel um sich scharten. Und ganz anders sahen die Auwälder aus. Weit entfernt von dichtem Hochwald aus den Weichholzbäumen wie Weiden, Schwarzpappeln und Erlen oder den Harthölzern wie Eschen, Ulmen und Eichen, bildeten sie Buschwerk aus Stockausschlägen, weil sie meistens als Niederwald bewirtschaftet wurden. Wenn es überhaupt Auwald gab! Denn in die Flussniederungen wurde das Vieh getrieben, um darin zu weiden. Kühe vor allem, aber gebietsweise auch Schweine und dazu durchziehende Herden von Schafen oder Gruppen von Ziegen, die arme Leute, die Häusler, darin weiden lassen durften. Die Niederwaldbewirtschaftung hatte das Brennholz zu liefern. Die Bäume der Hochwälder waren zu schade dafür. Zum Heizen wurde vornehmlich ihr Abfall, bestehend aus dürren Ästen, anderem Totholz sowie den Zapfen von Fichten und Kiefern und den Samenhüllen der Bucheckern genutzt. Totholz kann es nicht viel gegeben haben in jenen Zeiten, die zum Teil bis in die 1950er Jahre andauerten. Damals gab der Forst noch «Bezugsscheine» zum Sammeln von Kiefern- und Fichtenzapfen aus. Das große Zuwachsen begann nach der Mitte des 20. Jahrhunderts. Hauptverursacher waren die niedrigen Kosten für Heizöl und die Verfügbarkeit von Kunstdünger. Das Vieh wurde von der Weide genommen und kam in die Ställe. Das auf dem eigenen Land wachsende Futter wurde immer weniger bedeutsam in der Kosten-Ertrags-Rechnung für die Tierproduktion. Und während die Flur immer stärker gedüngt und zu immer neuen Höchstleistungen weiterentwickelt wurde, nahm die Intensität der Nutzung in den Randbereichen fast unbemerkt
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ab. Spätestens seit den 1970er Jahren lässt sich das Land in fast ganz Mitteleuropa in drei ökologische Hauptbereiche aufteilen: das intensiv genutzte, flurbereinigte Hochleistungs-Agrarland (etwa 55 % der Landfläche Deutschlands), das dicht bebaute Siedlungs-, Industrie- und Verkehrsgelände (etwa 12 %) und der wenig oder gar nicht mehr genutzte große Rest, der auch die Wälder mit einschließt. Lassen wir zunächst die Tatsache beiseite, dass von den «bebauten Flächen» sicherlich weniger als die Hälfte wirklich bebaut ist, weil Städte wie auch Industrieanlagen große offene «Grünflächen» beinhalten, die weder einer landwirtschaftlichen noch einer forstlichen Nutzung unterliegen, und betrachten wir nur jenen zweitgrößten Teil der Landschaft, der im weitesten Sinne «Wald» ist, so gilt für dieses Drittel auf jeden Fall, dass es regelrecht zuwächst. Die ökologische wie auch die ökonomische Betrachtung kommen im Hinblick auf den Wald in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum selben Ergebnis: Es wird weit weniger entnommen, als nachwächst. Bildvergleiche zu Großstädten legen dieselbe Annahme nahe. Die Parks sind fast immer dichter geworden. Wenn nicht städtische Pflegetrupps kommen, schneidet niemand mehr das Buschwerk zurück oder lichtet es aus. Triften und Hängen ergeht es genauso. Wo weite Ausblicke möglich waren, ist jetzt die Sicht versperrt. Die dichten Weidenbestände auf den Kiesbänken der Isar in ihrem Wildflussbereich bilden keine Ausnahme. Vielmehr drücken sie die allgemein verbreiteten Entwicklungen aus. Seit Jahrzehnten kämpft der praktische Naturschutz vielerorts mit so genannten Pflegemaßnahmen dagegen an. Moore drohen zuzuwachsen. Heimische Birken werden für die Schönheit und für die Offenheit von Mooren ebenso zum Problem wie an anderen Stellen fremde Arten, die sich mit schier nicht zu bändigender Wuchskraft ausbreiten und von immer größeren Flächen Besitz ergreifen. Was ist geschehen, was geht hier vor? Die Pflanzenwelt scheint wie eine zähe Flutwelle in Bewegung geraten. Geht es ihr besser als angenommen, weil sie so «wüchsig» geworden ist? Oder steht es schlecht um die Pflanzenwelt in ihrer Fülle und Vielfalt, weil einige wenige Arten sich auf Kosten der vielen anderen ausbreiten? Für Naturschützer liegt die Sache klar: Die große Mehrzahl der Arten geht unter
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oder wird bedroht, weil einige wenige, zumeist fremde Arten so massiv vordringen. Selbst wenn das so stimmen sollte, wäre dies kaum mehr als eine Feststellung, aber keine Erklärung, warum es so (gekommen) ist. Die Stadt mit ihrem Mix aus «Heimischem» und «Fremdem» gibt hierfür keine gute Leitlinie ab, wie sich zeigen wird. Denn die großen Veränderungen in der Pflanzenwelt fanden nicht in den Städten oder im verdichteten Siedlungsraum der Menschen statt, sondern «draußen auf dem Land». Einige zunächst reichlich rätselhafte Entwicklungen werden verdeutlichen, was vor sich ging. Zurück zur Isar: Die Algenbeläge auf den Steinen, die in manchen Zeiten des Jahres sichtbar werden, behindern vielleicht die Versorgung der Bodenoberfläche des Flussgrundes mit Sauerstoff, obwohl die Isar auf ihren «Wildflussstrecken» so sehr ihr Wasser durchwirbelt, dass es fast immer mit Sauerstoff bestens gesättigt ist. Mit mehreren Metern pro Sekunde Strömungsgeschwindigkeit reißt das Wasser zu groß gewordene Beläge mit sich fort. Nur geschützte, von der Hauptströmung abgeschnittene Flachwasserstellen bekommen einen geschlossenen grünen Bodenbelag. Geht die Wasserführung zurück, trocknen sie zu bräunlichen, nicht gerade gut riechenden «Häuten» aus. Für die Wasserwirtschaft, die sich um die Sauberkeit eines Flusses ganz besonders zu kümmern hat, der mit wunderschöner Szenerie mitten durch die Millionenstadt fließt und an seinen Ufern eines der größten und attraktivsten Naherholungsgebiete bildet, sind die Algen irritierend. Das Grundwasser und die Bäche, die zur Isar hin fließen, tragen offenbar zu viele Nitrate und andere gelöste Nährstoffe für die Algen ein. Doch dass in der heutigen Zeit schon solch vergleichsweise geringe Belastungen Beachtung finden, verweist auf die enormen (und höchst kostspieligen) Anstrengungen der Wasserwirtschaft, die Gewässer insgesamt wieder sauberer zu machen. Das ist inzwischen fast überall gelungen. Aber nur was den Bereich der «organischen Belastungen» betrifft. Organische Abfallstoffe, den «Detritus», entfernen die modernen Kläranlagen praktisch perfekt. Vielerorts würde es genügen, das aus den Klärwerken kommende Abwasser mit Ultraviolettlicht zu bestrahlen, um eventuell noch vorhandene Keime bakterieller Art, die einer Gesundheitsgefährdung darstellen könnten, abzutöten. An der
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Kläranlage von Bad Tölz wird das auch gemacht, um die Isar für München «keimfrei» zu halten. Doch was bei Kläranlagen zur Perfektion gediehen ist, «versalzen» und belasten die Abwässer aus der Landwirtschaft. Allein in Deutschland erzeugt die landwirtschaftliche Nutztierhaltung, wie im vorausgegangenen Kapitel dargelegt, das Drei- bis Fünffache der Abwassermenge, die von den 82 Millionen Menschen direkt abgegeben wird. So gut wie alles davon wird ungeklärt auf Feld und Flur ausgebracht. Gasförmiges aus Mist und Gülle, wie Ammoniak und Lachgas, entweicht in die Luft und wird unter Umständen weitab vom Ausbringungsort mit dem Niederschlag in die Böden eingetragen. Flüssiges versickert im Boden und düngt diesen – fast stets im Übermaß, weil die Gülle zu den für das Wachstum der Nutzpflanzen falschen Zeit ausgebracht wird: im Herbst vor Winterbeginn, wieder im Frühjahr nach dem Auftauen des Bodens, nicht selten schon auf noch vorhandener Schneedecke, und schließlich im Hochsommer, wenn die Getreidefelder abgeerntet sind. Auf diese Weise gelangt viel zu viel Nitrat ins Grundwasser und über dieses in die Flüsse und Seen (Reichholf 2004). Waren die mitteleuropäischen Gewässer jahrhundertelang mit organischen Abwässern belastet und streckenweise auch überdüngt, so sind sie das gegenwärtig mit gelösten Pflanzennährstoffen (und Rückständen). Allen voran ist das Nitrat zu nennen. Wie man aus der Landwirtschaft weiß, begünstigt Nitrat das Wachstum der Pflanzen. Kommt noch Phosphat hinzu und stimmt das Mengenverhältnis zueinander, wird optimales Wachstum erzielt. Doch genau an diesem entscheidenden Punkt scheiden sich die beiden Hauptkanäle der biologischen Produktion im Wasser. Was die Algen und am Ufer die höheren Wasserpflanzen machen, bedarf keines «organischen Kohlenstoffs». Denn wie die Landpflanzen auch bedienen sie sich am Kohlendioxid (CO2), das im Wasser gelöst vorkommt (als so genanntes Hydrogenkarbonat oder «Kohlensäure»). Überreiche Verfügbarkeit von Stickstoff (Nitrat- oder Ammonium-Stickstoff) und ausreichend Phosphat erzeugen schon bei den kleinsten pflanzenartigen Lebewesen, die noch gar keine richtigen Pflanzen sind, nämlich bei den Blaugrünalgen (Cyanobakterien), Bedingungen, die ihre Vermehrung geradezu zum Explodieren bringen. «Wasserblüte» werden solche Massenvermeh-
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rungen von Blau(grün)algen genannt und die Suppe, die sie erzeugen, gilt als mehr als nur bedenklich. Nicht selten sondern diese Blaugrünalgen auch Giftstoffe ab, die von anderen Lebewesen nicht vertragen werden. Organischer Kohlenstoff hingegen steht am Beginn einer ganz anderen, für die Kleinlebewesen im Wasser ungleich wichtigeren Nahrungskette. Diese nimmt ihren Anfang mit der Zersetzung der organischen Reststoffe durch Bakterien und Pilze. An Land, in den Böden, bauen sie aus diesem organischen Abfall den Humus auf. «Humus» im Wasser, organischer Bodenschlamm, wird von der Wasserwirtschaft möglichst nicht geduldet, weil die Abbautätigkeit der Mikroben darin Sauerstoff verbraucht. Wo die Gewässer begradigt oder gestaut sind, kann sich schnell Faulschlamm entwickeln, wenn dem Zuviel an organischen Stoffen zu wenig Sauerstoff gegenübersteht. Wo Algen und Wasserpflanzen wuchern, ist die Gefahr von Faulschlammbildung gegeben. Dass es diesen in der jüngeren Vergangenheit so überreich gab, dass Gewässer, wie man zu sagen pflegte, «kippten», weil ihr SauerstoffVorrat aufgebraucht worden war und sie sich in eine stinkende Brühe verwandelten, liegt allerdings weniger an der Natur der Gewässer, sondern mehr daran, was der Wasserbau aus ihnen gemacht hatte: träge fließende Kanäle oder Ketten von Staubecken mit ausgedehnten Stillwasserzonen. Am natürlichen, nicht «regulierten» Fluss würden die ziemlich regelmäßig vorkommenden Hochwasser entweder immer wieder ausräumen und dadurch «säubern» oder bei Niedrigwasser die verschlammten Ufer frei und für den Luftsauerstoff zugänglich machen. Den regulierten Fließgewässern fehlt diese Dynamik. Niedrigwasser mit Trockenfallen weiter Bereiche sollte es möglichst gar nicht geben – auch das ist eine der Zielsetzungen der Wasserwirtschaft. Hochwasser räumt aber nicht nur aus, sondern es verfrachtet auch die abgelagerten, humusartigen Massen sowie Sand und Schlick in die Aue hinaus. Diese wird mit gedüngt. Natürliche Flussauen gehörten ursprünglich zur produktivsten Natur. Die ersten leistungsfähigen Hochkulturen der menschlichen Geschichte entstanden deshalb im Zweistromland (Euphrat und Tigris), am unteren Nil und am Indus sowie an den beiden großen Strömen Chinas, also entlang von Flüssen, die regelmäßig Überschwemmungen
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brachten. Im Kleinen geschieht das an Bächen, wie im Großen an Flüssen und Strömen. Denn die Fließgewässer sammeln Nährstoffe (aber auch Schadstoffe!) aus ihrem gesamten Einzugsgebiet. Die Dynamik des Flusses, sein Auf und Ab in der Wasserführung, verhinderte größtenteils die Anhäufung von Faulschlamm. Das änderte sich mit Begradigung und Einstau. Staubecken wurden zu Fallen für das Übermaß an Nährstoffen. Flüsse wurden, selbst wenn sie viel Wasser führten, zu Kloaken, weil das zu gleichmäßige Strömen über lange Strecken zu wenig Sauerstoff ins Wasser brachte. Den Gipfel der praktisch in jeder Hinsicht unguten Entwicklung brachten die beiden Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Wäsche «nicht nur sauber, sondern rein» gewaschen werden sollte und die Waschmittel Riesenwaschkraft verhießen. Sie enthielten zu viel Phosphat. Zusammen mit den «Waschmitteln» im engeren Sinne, deren Aufgabe darin bestand, die Oberflächenspannung zu vermindern und damit den Schmutz angreifbar zu machen, kam es zu bemerkenswerten Auswirkungen auf die Bäche und Flüsse. Manche schäumten regelrecht auf. Im Sommer schienen sich Eisberge zu bilden, die aber aus dem Schaum von Waschmittelrückständen hervorgingen. Natürlich hielten das die Fische nicht aus. Immer häufiger gab es immer massiveres Fischsterben. Ziemlich rasch wurden sodann die Phosphate weitgehend aus den Waschmitteln verbannt («phosphatfrei»!) und auch die Schaumbildner, die Tenside, wurden mengenmäßig zurückgenommen. Bessere Waschmaschinen kamen auch mit weniger (starken) Waschmitteln gut zurecht. In dieser Zeit erfasste die erste große Umwälzung unsere Pflanzenwelt wie eine Welle. Verschiebungen und Veränderungen, Einwanderungen und Verschwinden hatte es immer schon gegeben. Aber die Waschmittelzeit ließ eine allgemein sichtbare große Welle auflaufen und zur «Pest» geraten. Denn jetzt vermehrten sich nicht nur die Pflanzen am Ufer dank des so stark gedüngten Wassers, sondern die Flüsse selbst verwandelten sich in «grüne Adern» überquellenden Pflanzenlebens. Eine Art, aus Nordamerika eingeschleppt und unabsichtlich in die mitteleuropäischen Gewässer geraten, bekam
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stellvertretend für alle anderen, deren Wachstum anscheinend nicht mehr zu bändigen war, den Namen Wasserpest (Elodea canadensis). Ihr wissenschaftlicher Gattungsname war dem griechischen Wort für Sumpf «helodes» entnommen und gar nicht böse gemeint. Canadensis beschreibt die Herkunft. Für Pflanzenkenner schien eine Eigenschaft besonders bedenklich, nämlich dass es nur weibliche Pflanzen gewesen waren, die in Mitteleuropa in Freiheit gelangten. Zwar blühten diese durchaus auch, aber stets ohne Erfolg, weil männliche Pflanzen nicht vorkamen. Dennoch breitete sich die Wasserpest durch bloßes Weiterwachsen und durch abgebrochene oder abgerissene Pflanzenteile so rasch und so stark aus, dass sie Schifffahrtskanäle verstopfte, Schleusentore blockierte und den Wasserabfluss stark behinderte. Bis in die jüngste Vergangenheit galt sie als Musterbeispiel dafür, was passieren kann, wenn eine fremdländische Art in einen für sie neuen Lebensraum kommt. Sie kann wie die Wasserpest zur «Pest» werden, enorme Schäden und Kosten verursachen und heimische Arten verdrängen. Wer immer diese Befürchtungen gehegt und die Wasserpest als warnendes Beispiel zum Besten gegeben hat, sieht sich nun einer gänzlich veränderten Situation gegenüber. Die Pflanze, die mit ihrem Gehalt von 18 % Eiweiß, 42 % Stärke und 2,5 % Fett in der Trockensubstanz sogar als Viehfutter (Wendelberger 1986) empfohlen worden war, weil sie anders als viele Pflanzen keinerlei Giftstoffe enthält, findet man inzwischen kaum noch. Sie ist zur Rarität geworden und in nicht wenigen Fließgewässern dabei auszusterben. Das mag man für gut und richtig halten, weil die Wasserpest hierzulande als Fremdling nichts zu suchen hat. Diese Ansicht vertreten sehr viele im Naturschutz. Dass sie auf einer beliebigen Abgrenzung von «heimischen» und «fremden» Arten beruht, die sachlich-ökologisch nicht zu begründen ist, wird weiter unten näher ausgeführt. Hier geht es zunächst nur um den Vorgang als solchen, dass eine Art, die nicht einmal in der Lage war, in pflanzenüblicher Weise Samen auszubilden, über rund ein Vierteljahrhundert Massenvermehrungen durchmachte, als Plage galt und kaum (mehr) auszurotten schien, unvermittelt aber wieder selten geworden ist und verschwindet. Die Wasserpest ist kein Einzelfall. Besonders hervorgehoben
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wurde sie lediglich als Fremdling und in nicht wenigen Fällen ist mit Sicherheit anzunehmen, dass die verstopfenden Massenvermehrungen gar nicht von der Wasserpest ausgegangen waren, sondern von gewöhnlichen heimischen Wasserpflanzen wie Tausendblatt (Myriophyllum-Arten) oder Laichkräutern (Potamogeton-Arten). Am unteren Inn entwickelten sie in den großflächigen Buchten Unterwasserwiesen mit einer Produktion von 2 mehreren Kilogramm Pflanzenmasse (frisch/m ). Zu Tausenden beweideten im Herbst und im Winter bis zum Beginn der Vereisung Wasservögel verschiedenster Arten, allen voran Blässhühner (Fulica atra), Höckerschwäne (Cygnus olor) und Schnatterenten (Anas strepera), diese Pflanzenmassen (Reichholf 1993). Die Wasserpest war nur mit weniger als 5 % an dieser Massenentwicklung beteiligt und Anfang der 1980er Jahre gab es dort sogar weit größere Bestände des vorwiegend an den Meeresküsten vorkommenden Großen Nixenkrauts (Najas marina), von dem die Botanikerin Elfrune Wendelberger (1986) in ihrem Buch über die «Pflanzen der Feuchtgebiete» schrieb: «Selten; in stehenden oder langsam fließenden Gewässern (Altwasser) bis zu einer Wassertiefe von drei Metern; auch in Brackwasser. Fehlt in Deutschland auf weiten Strecken ... Als wärmeliebende Art war sie in der Zwischeneiszeit und in der warmen Nacheiszeit wesentlich weiterverbreitet als heute.» Diese sicher ganz zutreffenden Angaben geben einen Eindruck davon, wie rasch sich die Verhältnisse ändern können. Die Veränderungen selbst aber liefern die entscheidenden Hinweise auf die Ursachen. Die Wasserpest war nicht einfach so, weil sie angekommen war, zur «Pest» geworden und das Nixenkraut machte nicht ohne Grund Massenvermehrungen durch. Es lag an der Überdüngung der Gewässer mit den Rückständen der Waschmittel, vor allem am Phosphat. Für das Wachstum der Wasserpflanzen bildet die Verfügbarkeit von Phosphat in der Regel den so genannten Minimalfaktor. Von der Phosphatmenge hängt es ab, ob überhaupt und, wenn ja, wie üppig Wasserpflanzen gedeihen können. Die Waschmittelrückstände wirkten in den Gewässern wie die Mineraldüngung auf den Äckern. Die weiße Wäsche erzeugte grüne Flüsse! Und Faulschlamm, weil die abgestorbenen Pflanzenmassen nicht mehr schnell genug zersetzt werden konnten. Nur dort, wo im Herbst große Men-
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gen an Wasservögeln die Unterwasserwiesen abweideten, unterblieb die Entstehung von Faulschlamm (Reichholf 1993). Wie gedüngte Felder hätten die Gewässer abgeerntet werden müssen, um die Überproduktion zu entfernen und um zu verhindern, dass sie den Sauerstoff in tieferen Schichten verlieren und «umkippen». Ein so aufwändiges Vorgehen erübrigte sich schließlich, als die Waschmittel weitgehend phosphatfrei wurden und in den Kläranlagen auch die Ausfällung von Phosphat eingebaut worden war. Nun gingen die Wasserpflanzenbestände rasch zurück. Das Problem war beseitigt und die fremde Wasserpest keine Bedrohung mehr. Wo sie auftritt und vielleicht sogar erneut größere Unterwasserwiesen ausbildet, ist das ein sicheres Zeichen für Überdüngung des Gewässers. Aus der «Pest» wurde ein «Bio-Indikator»! Der Rückgang der Massenentwicklung von Unterwasserpflanzen setzte in den 1970er Jahren ein. Ein Beispiel bieten die Buchten in den Stauseen am unteren Inn, wo es 1971/72 noch 1,2 bis 3 kg (Frischgewicht) pro Quadratmeter gegeben hatte. 2 1976 war die Menge auf 0,5 bis 0,9 kg/m zurückgegangen und 1984 gab es im Wesentlichen nur noch in zwei großen Buchten 2 ausgedehnte Unterwasserwiesen mit weniger als 0,5 kg/m . 1989 entwickelten sich keine geschlossenen Bestände mehr und nach 1990 nur noch Horste oder ringförmige Bestände mit größeren Lücken dazwischen. Ihr Frischgewicht (Biomasse) hatte durchschnittlich um 90 bis 95 % abgenommen. Die herbstlichen Mengen der Blässhühner, (Fulica atra) wie auch der noch leichter zu zählenden Höckerschwäne drückten diesen Rückgang des Nahrungsangebots in aller Deutlichkeit aus (Reichholf 1994). Dass die Höckerschwäne weniger davon betroffen waren als die Blässhühner, liegt daran, dass die rund zehnfach größeren Schwäne auch härtere Uferpflanzen verwerten können und zum Weiden auf die Fluren auswichen, wo sie wochenlang wie unzeitgemäße Schneehaufen zu Dutzenden auf Saatfeldern und Wiesen lagerten. Noch ein Jahrzehnt zuvor hatte die Fischerei erwogen, zur Bekämpfung der Wasserpflanzen Graskarpfen (Ctenopharyngodon idella) einzuführen, was in einigen größeren Baggerseen auch geschah. Eine fremde Fischart sollte die fremde Wasserpflanze in Schach halten! Sie wäre inzwischen verhungert.
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In den Binnengewässern ist diese Zeit weitgehend vorüber. Nur an wenigen Stellen verursachen Massenentwicklungen von Wasserpflanzen noch Probleme. An den meisten Seen wird geradezu in Umkehrung der früheren Entwicklungen der mehr oder weniger starke Rückgang des Schilfröhrichts beklagt. Das Schilf (Phragmites communis) schützt die Ufer vor Wellenschlag. Es bietet Lebensraum für Kleinfische und Vögel und gilt, obgleich es wie eine Monokultur ausgebildet ist, als besonders schützenswertes Biotop. Verschilfen Moore, wird das Schilf nicht mehr so geschätzt und durchaus auch bekämpft, verlieren Ufer ihren Schilfgürtel, wird sogar versucht, es wieder nachzupflanzen. Doch ein idealer Zwischenzustand zwischen Überhandnehmen und Abnahme lässt sich kaum irgendwo finden und noch viel schwieriger aufrechterhalten. Die Veränderungen der Pflanzenwelt «an Land» zeigen dies gegenwärtig in aller Deutlichkeit. Dennoch werden sie kaum bemerkt, weil sie langsamer verlaufen als in den Gewässern. Die Vorgänge gleichen einander jedoch bis ins Detail. Bemerkt hat man sie nach demselben Schema wie bei der Wasserpest. Neue Arten wurden auffällig, vermehrten sich an Ort und Stelle in Massen und breiteten sich immer stärker über die Landschaft aus. Zwei Pflanzenarten werden in diesem Zusammenhang vor allem genannt: Riesenbärenklau (Heracleum mantegazzianum) und Drüsiges oder Balsaminen-Springkraut (Impatiens glandulifera), dazu ein Vorläufer, die Kanadische Goldrute (Solidago canadensis). Nichts Gutes scheint aus Kanada zu uns zu kommen, könnte man meinen, denn Kanadische Wasserpest, Kanadische Hybridpappeln und Kanadische Goldrute gehören in der Tat zu den besonderen Problempflanzen, wie auch die Bisamratte (Ondatra zibethica). Sie gilt als Inbegriff der schädlichen, expansiven Tierart und auch sie war aus Kanada nach Mitteleuropa eingeführt worden. Doch die Kanadische Goldrute, die schon 1648 nach Europa gebracht worden war, machte sich lange nicht bemerkbar. Auffälliger wurde sie erst, als sie den vom Zweiten Weltkrieg hinterlassenen Schutt und die Trümmergrundstücke im Spätsommer und Herbst der Nachkriegszeit vergoldete. Ihre anschließende Ausbreitung entlang der Bahntrassen mag für die Bahn lästig gewesen sein, war aber nicht sonderlich von Belang, weil andere Pflanzen
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dort auch nicht in Mengen aufwachsen sollten. Mit Giftspritzen kam man dem Übel bei. Wucherte die Goldrute in den Städten auf brach liegenden Flächen, schien das vielen Menschen immer noch ein angenehmerer Anblick als der rohe Baustellenzustand. «Explosionsartig», wie Ludwig et al. (2000) es ausdrückten, «breiten sie sich seit 1950 aus.» Beteiligt ist dabei auch ihre größere Verwandte, die Späte Goldrute (Solidago giganthea), die 1758 ebenfalls aus dem östlichen Nordamerika eingeführt und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts unauffällig geblieben war. Honigbienen suchen im Spätsommer die Goldrutenbestände bevorzugt auf, weil sie in einer Zeit, in der sonstige Blüten schon rar werden, noch reichlich Tracht liefern. Dass am Bienengesumme mindestens so viele, wenn nicht sogar mehr der so genannten Mistbienen beteiligt waren, bemerkten ohnehin nur Imker und Kenner. Diese falschen Bienen ahmen als Fliegen die echten nach. Ihre Larven leben im übelsten Dreck und verschaffen sich in einer stinkenden Brühe, in der es Millimeter unter der Oberfläche so gut wie keinen Sauerstoff mehr gibt, diesen über ein teleskopartig ausfahrbares Atemrohr. «Rattenschwanzlarven» werden sie genannt. Wo die Mistbienen (Eristalomyia tenax) in Massen vorkommen, sind Jauchegruben und dergleichen nicht weit. Die Ähnlichkeit mit den Bienen schützt sie beim offenen und auffälligen Blütenbesuch. Sicher sind sie oft mit Bienen verwechselt worden und die Gartenbesitzer oder die Betrachter umsummter Goldrutenbestände freuten sich über die vielen nützlichen Bienen. Das bekräftigte die verbreitete Ansicht, die Goldruten seien ein vielleicht sogar noch größerer Gewinn für die Honigbienen als das etwas abweisender aussehende, als Viehfutter und «Bienenweide» angebaute, blau blühende Kraut aus Kalifornien, der Bienenfreund oder die Phacelie. Die feldmäßig angebaute Phacelie (Phacelia tanacetifolia) gehört zu den Boretschgewächsen. Unter den einheimischen Pflanzen hat sie keine engeren Verwandten. Stellenweise verwilderte sie aus den Anpflanzungen, die den Landwirten häufig als Gründüngung dienen. Bienen nehmen vielfach eine Sonderstellung ein. Bienenweide genießt Schutz. Eine Pflanze namens Bienenfreund erweckt sogleich entsprechend positive Assoziationen. Als Problemart in der Pflanzenwelt taucht sie kaum irgendwo einmal
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auf. Daher blickten an der Pflanzenwelt interessierte Menschen auch gnädiger auf die Kanadischen Goldruten, weil Bienen diese so gerne mögen. Was nützlich ist, entzieht sich fast zwangsläufig der üblich gewordenen «ökologischen Betrachtung», zumal wenn Schäden nicht allzu offensichtlich auftreten. In Naturschutzgebieten wollte man die Kanadischen Goldruten natürlich nicht, zumindest nicht in größeren Mengen, haben. Auf Ruderalflächen im Siedlungsbereich mochten sie für das Auge eines auf heimische Arten bedachten Pflanzenschützers ärgerliche Fremdlinge sein, nicht anders als die Blaufichten, die Thujen, die Ahorne aus Ostasien oder Nordamerika mit ihren fein ziselierten Blättern. Solange sie nicht die «unberührte Natur» überwucherten, konnten Goldruten geduldet werden. Dass sie eine Art Vorspiel für das waren, was in den 1980er Jahren kommen sollte, hatte wohl kaum jemand erwarten können. Denn in der Goldrutenzeit tauchten da und dort unvermittelt auch größere Flecken einer Pflanze auf, die durch die Schönheit ihrer Blüten besticht. In England nannte man sie früher, als sie noch ausschließlich in Gärten gepflanzt wuchs, die Orchidee des kleinen Mannes. Ihre zartweißen, rosa überhauchten oder kräftiger hellrot gefärbten Blüten können wirklich begeistern, wenn sie im Detail betrachtet werden. Sie sind mehrere Zentimeter groß und bilden im Zentrum eine Höhlung aus, in welche die dicken Hummeln hineinpassen. Am Ende dieser stumpf kegelförmigen Röhre dreht sich wie ein Wurmfortsatz ein kleiner, nur wenige Millimeter langer Sporn nach hinten. Dieser sondert den Nektar ab, der diese Blüten für die Hummeln und auch für Honigbienen sehr begehrt macht. Die vorn einladend aufgeklappten Blütenblätter verstärken die Anlockwirkung der großen, an einem kurzen dünnen Stiel sitzenden und baumelnden Blüten. Schon nach einem ersten Blick ist man sicher, dass sie geradezu perfekt auf den Besuch von Hummeln und großen Bienen eingerichtet sind. In gewisser Weise erinnern die prächtigen Blüten tatsächlich an Orchideen, auch wenn sie gar nichts mit diesen zu tun haben, weil sie aus ganz anderer Pflanzenverwandtschaft stammen. Das zeigen die in lang gestreckten, gelbgrünen Kapseln heranreifenden Samen. Ist es damit so weit, genügt eine schwache Berührung, um sie zum Aufplatzen zu bringen. Die Außenteile rollen sich dabei
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blitzschnell nach außen auf. Mehrere Meter weit werden die ein paar Millimeter großen Samen dabei weggeschleudert, und zwar mit solcher Wucht, dass man sie auf der Haut wie kleine Steinchen zu spüren bekommt. Springkräuter heißen sie und ihre Verwandtschaft daher ganz zutreffend und der Volksmund nennt sie «Rühr-mich-nicht-an». Eine solche Bezeichnung gibt es schon deswegen, weil eine kleinere, leuchtend gelb blühende Art in Mitteleuropa heimisch ist und in Auen und feuchten Waldrändern vorkommt. Sogar ihr wissenschaftlicher Artname bezieht sich auf Ungeduld und Nichtberühren: Impatiens noli-tangere. Diese auch Großes Springkraut genannte Pflanze hatte vor rund einem Jahrhundert mit dem Kleinblütigen Springkraut (Impatiens parviflora) aus Mittelasien bereits Gesellschaft aus der eigenen Gattung bekommen. Rasch wucherte es in Auwäldern, blieb jedoch der kleinen gelben Blüten wegen eher unauffällig. Dagegen ließ sich das neue, ganz große Springkraut, das weiß, rosa oder rot blühende Drüsige, Indische oder Balsaminen-Springkraut (Impatiens glandulifera), nicht übersehen. Aus dem westlichen Himalaja, wo dieses Springkraut in Höhen von 1800 bis 3000 Meter wild wächst, brachten es die Briten 1839 nach England. Dort wurde es bald zu einer beliebten Zierpflanze. Wahrscheinlich über Basel und Breisach breitete es sich ab 1927 ganz langsam in Mitteleuropa aus. Am unteren Inn bei Braunau blühten 1963 ein paar Dutzend Drüsige Springkräuter nahe der Mündung des Flüsschens Mattig in den Inn. An mehreren Stellen entstanden kleine Ansiedlungen. Sie blieben nicht von Dauer und schienen es nicht wert, immer wieder einzeln notiert zu werden. Zu übersehen waren sie nicht. Bei der Vielzahl örtlicher Vorkommen dürfte es kaum noch möglich sein, den Verlauf der Ausbreitung zu rekonstruieren. Wo immer ein «Erstfund» gemacht oder gemeldet wurde, konnte man fast sicher sein, dass es einen noch früheren geben würde. Inzwischen kommt das Drüsige Springkraut fast überall im klimatisch gemäßigten Mitteleuropa vor. Die Hauptwege der Ausbreitung ließen sich leicht erkennen und nachvollziehen: entlang der Flussläufe durch Hochwasser. Die Samen des Drüsigen Springkrauts schwimmen zwar nicht, halten den Transport aber lange Zeit aus, bis sie irgendwo am Ufer angeschwemmt werden
Abb. 14: Verlauf der Ansiedlung des Drüsigen Springkrautsam unteren Inn (Zahlen, schwarze Säulen und punktierte Kurve = Zahl der Fundorte)
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und keimen können. Die Samenproduktion einer einzigen Pflanze fällt recht gut aus. Ludwig et al. (2000) geben 1600 bis 4300 Samen an und errechnen für Reinbestände dieser Art pro Quadratmeter 32 000 Samen. Die bloße Zahl drückt zwar nicht aus, ob das viel oder wenig ist, aber wenn ein 10x10 Meter großer Bestand am Flussufer mehr als drei Millionen Samen dieser Art hervorbringt, verwundert eine schnelle Ausbreitung flussabwärts nicht. Weniger klar ist hingegen, wie es zur «Aufwärtswanderung» oder zum Transport über Land kommt. Sicher leisten bis heute die Menschen mit Anpflanzungen in Gärten eine wichtige Hilfestellung, weil die Pflanze so schön blüht und so leicht zu ziehen ist. Auch sie wird als Bienenweide geschätzt und manches Vorkommen an einem feuchten Waldrand weitab vom nächsten Bach oder Fluss dürfte von Imkern «gepflanzt» (angesalbt) worden sein. Die Entwicklung am unteren Inn (Abb. 14) kennzeichnet wohl ganz gut den allgemeinen Verlauf regionaler Ansiedlungen des Drüsigen Springkrauts und seines vielerorts nun schon feststellbaren, deutlichen Rückgangs.
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Die größten Vorkommen entwickelten sich 1988 und 1989 im Auwald am unteren Inn an Einmündungen von Bächen aus dem Vorland. Ein nahezu geschlossener Bestand bedeckte eine Fläche von 230 Meter Länge und 35 Meter Breite. Bei durchschnittlich 22 Pflanzen pro Quadratmeter errechnet sich eine Bestandsgröße von allein rund 177 000 blühenden Drüsigen Springkräutern in diesem Vorkommen. Das zweite, sehr umfangreiche Vorkommen ließ sich auf wenigstens 90 000 Pflanzen schätzen. Doch sieben Jahre danach war der Bestand hier auf unter 30 000 zurückgegangen, die zudem auf anderen Stellen wuchsen. Offenbar werden dicht besiedelte Flächen nicht sehr lange gehalten. Andere Pflanzen gewinnen die Oberhand. Mit bis über 2,5 Meter Wuchshöhe im Extremfall und durchschnittlich um die zwei Meter gehört das Drüsige Springkraut zu den größten einjährigen Pflanzen, die es in Mitteleuropa frei wachsend gibt. Denn es wird kein ausdauernder Wurzelstock entwickelt. Ihr Wurzelwerk erweist sich, wenn man die etwa fünf Zentimeter dicken «Stämme» an der Bodenoberfläche näher untersucht, als recht schwach ausgebildet. In wenigen Monaten, von Mai bis August, wächst aus einem erfolgreich gekeimten Samenkorn die ganze Pflanze heran. 1500 bis 3500 Keimlinge beginnen die Konkurrenz mit den Artgenossen pro Quadratmeter im Frühjahr, wenn die Sämlinge sprießen. Die ersten Blättchen, die sie entfalten, decken die Oberfläche so gut wie vollständig ab. Unter ihnen keimt nichts weiter und auch ausdauernde Pflanzen, die aus ihren Wurzelstöcken wieder austreiben, tun sich schwer, durch die dichte Matte von jungem Grün hindurchzukommen. Aber nur jede Hundertste bleibt im Durchschnitt übrig, so dass im Spätsommer, wenn sie in voller Blüte stehen, nur noch knapp 20 bis 30 Einzelpflanzen zu zählen sind. Auch dann bilden sie einen geschlossenen Bestand ohne Beimischung anderer Arten. Um aus einem gekeimten, nur wenige Millimeter kleinen Samen in vier Monaten Wachstumszeit über zwei Meter Wuchshöhe, Dutzende von Blüten und einen saftstrotzenden Stamm von 3 bis 3,5 Zentimeter Durchmesser (eine Handbreit über dem Boden) ausbilden zu können, braucht so eine Pflanze außerordentlich viele Nährstoffe. Vor allem Stickstoffverbindungen «verschlingt» sie regelrecht mit ihrem Wachstum. In der
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Landwirtschaft könnte man sie mit dem Mais vergleichen, der gleichfalls aus einem allerdings weitaus größeren Samenkorn in fünf bis sechs Monaten eine über zwei Meter hohe Pflanze ausbildet, die noch kompakter heranwächst und pro Quadratmeter eine größere Pflanzenmasse aufbaut. Doch wie sehr werden Maisfelder gedüngt, um diese Wachstumsleistungen zu ermöglichen! Würde dieses Springkraut nicht unangenehm riechen und hätte es einen guten Futterwert für das Vieh, wäre es womöglich bei diesen Wachstumsleistungen in Kultur genommen worden. So aber wird es bekämpft, weil angeblich sein zu schwaches, im Spätherbst und Winter wieder absterbendes Wurzelwerk den Boden am Gewässerufer nicht gut genug hält. Dazu muss dieser aber vorher wohl entsprechend von anderen Pflanzen wurzelfrei gemacht worden sein. Kein halbwegs natürlicher Bach- oder Flusslauf weist ohne Zutun von Menschen oder Vieh auf nennenswerten Strecken ein Ufer auf, das nicht stabilisierend durchwurzelt ist. Mag sein, dass im Hinblick auf die Ufersicherung ein Massenbestand von Brennnesseln etwas günstiger wäre, aber eine gute Lösung stellt er sicherlich auch nicht dar. Da Bienen und vor allem die ebenfalls unter Schutz stehenden Hummeln die Blüten des Drüsigen Springkrauts sehr eifrig in großer Zahl und Artenvielfalt aufsuchen, bleibt nur das Argument, dass es sich um eine fremde, sich «invasiv» ausbreitende Pflanze handelt. Es ist stark anzunehmen, dass sich mit der Zeit die Bevölkerung und die Bekämpfer seitens des Naturschutzes in ähnlicher Weise an das Drüsige Springkraut wie an die Ackerunkräuter gewöhnt haben werden. Diese waren allesamt vor Jahrhunderten invasive Pflanzen und sind bis in genau jene Zeit, in der die Massenvermehrung von Goldruten, Springkraut und einigen anderen Pflanzenarten in Schwung kam, als unerwünschte Pflanzen («Un-Kräuter») bekämpft worden. Mit den neuen chemischen Hilfsstoffen in der Landwirtschaft ging das so wirkungsvoll vor sich, dass die meisten Arten rasch sehr selten wurden und auszusterben drohten. Also drehten sich Sichtweise und Beurteilung im Naturschutz schnell um. Die Unkräuter wurden zu «Ackerwildkräutern» umbenannt. Eine ganze Reihe von Arten aus ihrem Spektrum wurde unter Schutz gestellt. Millionenbeträge fließen in landwirtschaftliche Erhaltungsprogramme hinein.
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Doch nicht um die Merkwürdigkeiten und Irrationalitäten im Naturschutz soll es hier gehen, sondern um die Hintergründe für das Geschehen an sich. Wie beim Gänsesäger ist zu fragen, warum gerade diese Arten von Pflanzen sich zu genau diesen Zeiten in Bewegung gesetzt und so stark vermehrt haben. Seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten waren sie schon im Land, waren in Gärten angepflanzt worden, hatten Samen in großer Zahl entwickelt und sind dennoch nicht in der freien Natur «invasiv» geworden. Und warum zeigen sich augenscheinlich Rückgänge an Stellen, wo sie nicht bekämpft worden sind? Aus guten Gründen konnte und wollte der Naturschutz Gift nicht zu Hilfe nehmen, um sich und die Natur von den aggressiven Fremdlingen zu befreien. Was geht vor in der Natur, wenn sich diese selbst der Massenvermehrung der Fremdlinge erwehrt? Eine etwas genauere Betrachtung bringt erste Aufschlüsse. Es bedarf nur einiger Jahre Geduld. Irgendwo entsteht ein neuer Bestand des Drüsigen Springkrauts, wie zum Beispiel an der Isar südlich von München nach dem starken Hochwasser vom Mai 1999. Anhaltend starke Regenfälle ließen einen winzigen Bach zu einem kleinen Fluss anschwellen. Wo dieser die Isar erreichte, schüttete er mit der Masse an lehmigem Boden, die er als braune Brühe transportierte, ein kleines Mündungsdelta auf. Auf dem Schwemmkegel keimten rasch Pflanzen. Im Sommer 2000 gab es einzelne blühende Drüsige Springkräuter, die noch kaum auffielen. Im nächsten Jahr hatte sich ein lockerer Bestand von etwa sieben Meter Länge entlang des Baches und gut drei Meter Breite gebildet. Alle etwa 500 Pflanzen gehörten zur rot blühenden Form. Rohrglanzgras (Phalaris arundinacea) und Brennnesseln (Urtica dioica) umschlossen die SpringkrautGruppe. Im Frühjahr 2002 schoben sich schon auf einer Fläche von 17 mal 5 Meter die Keimlinge des Springkrauts durch die hellbraune, noch genügend lichte Matte des abgestorbenen Rohrglanzgrases. An mehreren weiteren Stellen keimten einzelne Pflanzen und auch auf den Kiesbänken im Fluss gab es erste Anzeichen für Ansiedlungen des Drüsigen Springkrautes. Das Augusthochwasser 2002 beeinträchtigte beim Großteil des Bestandes die Endphase des Wachstums und das Blühen, sodass kein guter Vergleich mit den genaueren Untersuchungen möglich ist, die im Hitzesommer 2003 unternommen wurden. Der
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Bestand hatte sich nun auf 500 Quadratmeter ausgedehnt und eine sehr hohe Dichte angenommen (gedüngt durch das Augusthochwasser 2002). Pro Quadratmeter wuchsen zwischen 20 und 41 Springkräuter, im Mittel also 30. Damit ließ sich ein Gesamtbestand von bereits etwa 15 000 Pflanzen errechnen. Doch die Überprüfung der Samenbildung ergab, dass nur zwischen 7 und 9,2 Samen ausgebildet wurden, was bei 12 bis 22 Blüten pro Pflanze gut 80 bis 200 ergibt. Dieser Wert liegt weit unter der Menge von 1600 bis 4300 Samen/Pflanze, die Ludwig et al. (2000) angeben. Entsprechend wurden auch nicht bis zu 32 000 Samen pro Quadratmeter in diesem Bestand entwickelt, sondern nur 2400 bis 6000. Das mag immer noch mehr als genug erscheinen, drückt jedoch aus, dass die Produktivität des Bestandes offenbar auf ein Fünftel bis weniger als ein Zehntel zurückgegangen war. Hinzuzufügen ist, dass – wohl als Wirkung von Hitze und Trockenheit im Sommer 2003 – nur zwischen 14,3 und 53,6 % der Samen reiften, je nach Farbtyp und Wuchsort. Die meisten reifen Samen entwickelten die rosa blühenden Formen (53,6 %), gefolgt von den roten (31,2%), während die weißblütigen mit 14,3 % am schlechtesten abschnitten, aber die deutlich größten Samen gebildet hatten. Sie wachsen am besten in schattiger Lage, während die rot blühenden frei am Wasser und auf der Uferbank dominierten. Den Zwischenbereich nahmen die mengenmäßig schließlich am häufigsten vertretenen rosa blühenden Formen ein. Diese Farbpalette deutet zusammen mit der Wuchshöhe der Pflanzen und mit unterschiedlich großen Nektarspornen auf eine beträchtliche genetische Vielfalt in dieser Art hin. Wahrscheinlich verdankt sie dieser Vielfalt auch ihre Anpassungsfähigkeit und einen Teil ihres Erfolgs. 2004 hatte sich der Bestand nochmals stark ausgebreitet auf nunmehr 680 Quadratmeter, aber trotz feuchtwarmer Frühjahrsund Frühsommerwitterung wuchs der Bestand nicht mehr auf die frühere Höhe von fast 2,5 Meter heran und dünnte im zentralen Teil stark aus. Die Samenproduktion war in den «wüchsigen Bereichen» auch nur auf 7,2 bis 8,2 pro Kapsel gekommen und hatte damit nicht einmal die Höchstwerte des Hitzesommers 2003 erreicht. Mit 11 bis 16 Pflanzen pro Quadratmeter kam trotz größerer Fläche keine weitere Bestandszunahme
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mehr zustande (7500 bis 9500 Pflanzen anstatt ca. 15 000 im Vorjahr). Inmitten des Springkrautbestandes breiten sich nun Disteln aus. Aus einer geschlossenen Fläche hat sich eine ringartig sich ausbreitende Front gebildet, die an Konkurrenzkraft verliert. Der Vorgang zeigt, dass die Ansiedlung auf Samen zurückzuführen ist, die vom Hochwasser eingeschwemmt wurden, und auf Nährstoffe, die gleichfalls mit dem Hochwasser eingetragen worden waren. Sie wurden nach wenigen Jahren schon so weit aufgebraucht, dass die Vitalität des Springkrautbestandes sichtlich schwindet. Mit dauerhaften Ansiedlungen auf denselben Flächen ist daher nicht zu rechnen. Wo es Jahr für Jahr an fast den gleichen Stellen große, kräftige Bestände des Drüsigen Springkrauts gibt, erhalten diese regelmäßig Nachschub von Nährstoffen, speziell von Nitraten und Phosphaten. Auf dieser Überdüngung beruht ihr Erfolg. Daher verdrängen sie auch keine seltenen Pflanzenarten, weil diese fast ausnahmslos auf nährstoffarmen Standorten vorkommen. Denn das Land wird seit gut drei Jahrzehnten überdüngt. Der weitaus größte Teil der Pflanzenarten, die in den Roten Listen stehen, war selten geworden, weil ihre Lebensräume zu viele Nährstoffe erhielten: direkt über die landwirtschaftliche Düngung und indirekt über den Luftweg, der im mitteleuropäischen Durchschnitt zwischen 30 und 50 Kilogramm Stickstoff pro Hektar und Jahr übers Land verteilt. Dieser Stickstoff stammt aus den Verbrennungsmotoren der Kraftfahrzeuge und aus den (Heiz-)Kraftwerken, die Energie über Verbrennungsprozesse erzeugen. Dabei wird Luftstickstoff mit verbrannt. Die dadurch entstehenden Stickstoff-) oxide, so genannte NOx-Verbindungen, kommen mit dem Niederschlag zu Boden und düngen. Der Stickstoff, an dem es jahrhundertelang mangelte, steht dem Pflanzenwuchs seit etwa den 1970er Jahren im Überfluss zur Verfügung. Die Ernte entzieht den Fluren weniger, als direkt gedüngt wird oder über die «Luftdüngung» in die Böden gerät. Daher bringt auch jeder Starkregen eine Nährstoffschwemme in die Bäche und Flüsse, das Grundwasser enthält weithin zu viel Nitrat und auch der Wind verweht mit dem Staub stickstoffhaltiges Material. Aus dem Mangelstoff Stickstoff wurde in einer kurzen Übergangsphase, die kaum länger als ein Jahrzehnt andauerte, ein allge-
103 Abb. 15: Einsatz von Stickstoffdünger (Mist, Gülle und Mineraldünger) in der deutschen Landwirtschaft (nach Daten des Bundesamtes für Naturschutz und Plachtenggi)
meiner Überfluss und die größte Bedrohung für die pflanzliche Artenvielfalt (Abb. 15). Aus diesem Grund geriet die Pflanzenwelt an Land in den 1970er Jahren, der Übergangszeit in die Überdüngung, so sehr in Bewegung. Die auf magere, nährstoffarme Standorte eingestellten Arten gingen zurück und wurden selten, während die wenigen, die viel Nährstoffe benötigen oder vertragen, an Häufigkeit stark zunahmen. Sie wachsen nun viel früher viel dichter auf als vor dieser Zeit. Deswegen erlebten wir in den letzten 30 Jahren einen Wandel in der Pflanzenwelt, wie er in diesem Ausmaß und in dieser Geschwindigkeit wohl niemals seit den großen frühmittelalterlichen Rodungen der Wälder stattgefunden hat. Das hat vielfältige Folgen für die Tierwelt, insbesondere für die Kleintiere, die auf offenem Gelände leben und bodennahe Wärme benötigen. Deswegen sind es auch nur einige wenige Pflanzenarten, die sich in den letzten Jahrzehnten invasiv ausbreiteten und mancherorts regelrecht wucherten. Zu den bereits genannten kommen insbesondere noch zwei ganz andere Vertreter hinzu, die als invasiv bekämpft werden. Den einen Vertreter stellen die
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einander recht ähnlichen ostasiatischen Riesenknöteriche (Reynoutria-Arten), der andere ist der Riesenbärenklau (Heracleum mantegazzianum). Dieser geriet vielerorts in die Schlagzeilen. Das Drüsige Springkraut übertrifft er sogar noch an Masse, wenn er im Hochsommer voll ausgewachsen ist und seine mehr als küchentellergroßen, gelblich weißen Blütenstände entfaltet. Aber im Gegensatz zum Springkraut ist der Riesenbärenklau mehrjährig. Aus einem unterirdischen Wurzelstock, der Reservestoffe speichert, treibt er im Frühjahr rasch große Blätter aus. Mit bis zu drei, unter günstigsten Bedingungen sogar bis zu fünf Meter Wuchshöhe und Blättern, die man kaum mit ausgestreckten Armen umgreifen kann, sieht die Herkulesstaude, wie der Riesenbärenklau auch genannt wird, in der Tat sehr imposant aus. Daher hatte man ihn als «ornamentale Pflanze» auch schon lange in Gärten und Anlagen angepflanzt. Im 19. Jahrhundert kam die Art aus dem Kaukasus nach Mitteleuropa, wo sie zum Beispiel in Genf um 1890 angebaut und dann bis in die 1980er Jahre vielerorts von Imkern an Waldrändern und in Bachtälern ausgesät wurde, weil die riesigen Blüten gleichfalls eine gute Bienenweide abgeben. Ähnlich wie beim viel kleineren, mit ihm nahe verwandten heimischen Wiesen-Bärenklau (Heracleum sphondylium) gehen die Blüten im Hochsommer auf und werden von vielen Insekten, darunter eben auch von Bienen, intensiv besucht. Der Riesenbärenklau gilt jedoch aus einem verständlichen Grund als besonders gefährliche Pflanze, weil sein Saft bei Menschen mit empfindlicher Haut heftige verbrennungsartige oder allergische Reaktionen hervorruft. Verursacher sind phototoxische Furanocumarine, die besonders in direktem Sonnenlicht wirken. Im Riesenbärenklau gibt es sie in erheblich größeren Mengen als im kleineren Wiesenbärenklau, der allerdings ähnliche Reaktionen hervorrufen kann. Wenn an großen Pflanzen dieser Art die Stängel armdick gewachsen sind, benötigt man lange Buschmesser und am besten auch eine Schutzkleidung, um sie abzuschlagen. Beim Riesenbärenklau handelt es sich also um keine harmlose Pflanze, gleichwohl muss auch festgehalten werden, dass es die Überdüngung war und ist, die ihm den Boden buchstäblich bereitet hat. Besonders gut ist das an manchen Autobahntrassen zu sehen, wo sich große Bestände vornehmlich dort entwickeln, wo schnell gefahren und dement-
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sprechend auch viel Luftstickstoff verbrannt wird. Doch anstatt die Seitenbereiche als möglichst magere, offene Flächen zu erhalten, hat man sie «zur raschen Begrünung» mit Rindenmulch und anderen Materialien beschickt, die den Riesenbärenklau fördern. Graben- und Bachränder aus landwirtschaftlichen Intensivkulturen sowie Waldränder, wohin die vorherrschenden Winde überdüngten Boden verwehen können, bilden die Hauptvorkommen des Riesenbärenklaus. Sein Kommen, seine Ausbreitung und sein Wuchern drücken höchst augenfällig aus, wie mit Natur und Landschaft umgegangen wird. Nicht der Riesenbärenklau ist der gefährliche Fremde, der bekämpft werden muss, sondern er zeigt nur, dass an die Stelle organischer Kloaken inzwischen eine Mineralstoff-Kloakenwirtschaft getreten ist. Mit der Bekämpfung des Riesenbärenklaus beseitigt man nicht die Ursachen und mindert man nicht die Belastungen der Landschaft, sondern entfernt lediglich ein sichtbares Warnzeichen. Die Zeichen zu beseitigen löst das Problem nicht. Wenn es nicht gelingt, das Übermaß an Nährstoffen auf dem Land ähnlich zu verringern wie in den Gewässern, wird sich keine Besserung einstellen. Der Riesenbärenklau würde wie die Wasserpestverschwinden, entzöge man ihm den Stickstoff, von dem er lebt. In der Gesamtbilanz hat dies alles zur Folge, dass sich die Häufigkeiten der Pflanzen und die Zusammensetzung ihrer Artenspektren in wenigen Jahrzehnten sehr stark verschoben haben. Rund zwei Drittel bis drei Viertel der Landpflanzen nahmen ab und wurden selten bis sehr selten – also «bedroht». Etwa ein Zehntel kann zu den echten Gewinnern gerechnet werden und nur beim Rest, den vor allem die langlebigen Arten der Vegetation, die Bäume und Sträucher, stellen, ergaben sich kaum erkennbare Veränderungen. Holzgewächse mit «Lebenszeiten» von 100 bis 1000 Jahren ertragen die vom Menschen gemachten Veränderungen eher als die kurzlebigen Kräuter mit nur einem Jahr oder wenigen Jahren individueller Lebenszeit. Ihr Artenumsatz beläuft sich auf nur einzelne Baumarten Austausch pro Jahrzehnt, während die kleinen, kurzlebigen Pflanzen einen 10- bis 30fach höheren turnover haben können. Daher verändert sich scheinbar das Pflanzenkleid der Landschaften in unserem menschlichen Zeitmaß von Jahren und Jahrzehnten
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kaum, weil das «Bild», das wir unbewusst aufnehmen, von den Wäldern und Feldern sowie von Wiesen und Gärten bestimmt ist. Dass es auf den Wiesen kaum noch bunte Blumen gibt, fiel allmählich doch auf und wurde bedauert. Aber die Ursachen dafür blieben meistens verborgen. Vor allem randliche Flächen werden gar nicht mehr bewirtschaftet. Sie können so zuwachsen, wie es die Pflanzenwelt gleichsam selbst will. Prozesse laufen zu lassen, so wie sie von Natur aus laufen, propagierte der Naturschutz seit Jahrzehnten als Ziel. «Prozessschutz» heißt das hierzu eingesetzte Schlagwort. Welcher Prozess gemeint ist, bleibt offen, es sei denn, es handelt sich um die Waldentwicklung in einem Nationalpark. Längst erkannten die praktizierenden Naturschützer, dass der Prozessschutz kein Zauberer ist, sondern das große Risiko beinhaltet, Artenvielfalt zu verlieren. Mit Pflegemaßnahmen wirken sie ihm entgegen. Zuwachsen mag da und dort gut sein, aber sicher nicht überall. Die gesamte Pflanzendecke ist inzwischen viel zu wüchsig geworden, um sie einfach sich selbst überlassen zu können. Permanente Düngung erzwingt Ernte. Ohne Entnahme füllen sich Boden und Pflanzendecke auf, bis nur noch wenige Arten damit zu Rande kommen. Diese vermehren sich aber massenhaft. Wenn sie die Vielfalt erdrücken und wir dies nicht möchten, müssen wir die Ursachen bekämpfen und nicht den Wuchs an sich. Die «Wasserpestzeit» ist vorüber. Es wird sich zeigen, wie lange wir noch «Riesenwuchszeit» an Land haben werden. Einen Vorteil hat die Entwicklung in der Pflanzenwelt jedoch gebracht: Je stärker die Pflanzen wuchern, desto besser kühlen sie mit ihrer Verdunstung und wirken so der Klimaerwärmung entgegen. Die heißen Sommer der letzten beiden Jahrzehnte kamen deshalb bei weitem nicht so zur Wirkung, wie vielfach geglaubt wird. Im Gegenteil: Es wurde kühler und feuchter in Mitteleuropa während der Klimaerwärmung. Wärme liebende Arten verabschiedeten sich. Darum geht es im nächsten Kapitel.
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Sieben warme Jahre – und noch mehr?
Der wärmste im ganzen letzten Jahrtausend sei er gewesen, der Hitzesommer 2003. Zu dieser Einschätzung kamen mehrere Klimaforscher. So anhaltend hohe, erheblich zu hohe Temperaturen, gemessen am langjährigen Durchschnitt, habe es zwischen Ende April und Ende September in keinem anderen Sommer seit dem Jahr 1000 unserer Zeitrechnung gegeben. Nun mag das eine etwas kühne Behauptung sein, denn Messungen der Lufttemperatur in standardisierter Form gibt es erst seit zweieinhalb Jahrhunderten. Drei Viertel des «Jahrtausends» mussten daher aus indirekten Befunden, den so genannten Proxy-Daten, erschlossen werden. Wie zuverlässig für den Temperaturvergleich diese sind, stellt eines der Kernprobleme für Klimavorhersagen wie auch für den Rückblick auf vergangene Zeiten dar. Außerdem geht es um die räumliche Ausdehnung eines lokalen Wetterphänomens und seine Einordnung in die Zeitserien. Wie gewichtig ein Sommer, wie der von 2003 in Mitteleuropa, sein kann oder auch nicht, ergibt sich schon aus seiner Auswirkung auf den Jahresdurchschnitt. Für das ganze Jahr 2003 aber brachte der «Jahrtausendsommer» keinen Rekord! Die Monate davor und die auf ihn folgenden Herbst- und Wintermonate, von denen einzelne um mehr als 5°C kälter als der langjährige Durchschnitt ausfielen, haben seine Einmaligkeit stark geschmälert. Einige der 1990er Jahre gelten global als die bislang wärmsten. 2003 gehört als Jahr nicht dazu. Kein Wunder eigentlich, denn die Wochen und Monate mit Mittelmeerklima in Deutschland hatten dem Mittelmeerraum keineswegs die Über-Hitze gebracht. Als außergewöhnliches Wetterphänomen betraf der «Sommer 2003» insgesamt eine Fläche von gut einer Million Quadratkilometer. Das klingt nach «viel», stellt im globalen Maßstab aber nur ein Zehntel der Fläche Europas und ein Fünfhundertstel der Erdoberfläche dar. Allein
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die Tatsache, dass es rund um das Mittelmeer häufig kühler als in Mitteleuropa war, erzeugt schon einen innereuropäischen Ausgleichseffekt. Klimamodellierer gehen gleichwohl davon aus, dass sich als Folge der allgemeinen globalen Klimaerwärmung solche Extreme in Zukunft häufen werden. Da diese für die letzten 20 bis 25 Jahre festgestellte und für «so gut wie sicher auf den Menschen zurückzuführende» Klimaerwärmung jedoch bisher fast ausschließlich in polaren Breiten und stellenweise in den Tropen zu spüren war, nicht aber in den gemäßigten, von Menschen besonders dicht besiedelten Breiten, kam der Hitzesommer 2003 geradezu wie gerufen. Brachte er doch einen Vorgeschmack auf das, was uns in naher Zukunft erwartet. Nun lässt sich bekanntlich über Geschmack streiten. Mit «Vorgeschmack» verhält es sich nicht anders. Da waren, allen voran, die Betreiber von Biergärten hoch zufrieden mit diesem Sommer, der ihnen mehr Umsatz gebracht hat als die letzten drei Sommer zusammen. Alle am Bade- und Naherholungsbetrieb Beteiligten schlossen sich insgeheim der Meinung an, solche Sommer seien wünschenswert. In einschlägigen Kreisen konnte man regelrecht spüren, wie sich Vorstellungen und Wunschbilder aufbauten, die Mitteleuropäer müssten nicht mehr ans Mittelmeer fahren, weil es hierzulande ähnlich warm und sonnig ist und das Wetter zuverlässig genug dazu. Unsere Strände an Seen und Baggerseen seien zudem sauberer und hygienischer. Das eingesparte Benzin kommt der Umwelt (und der Urlaubskasse) zugute. Und so fort! Vorteile über Vorteile würden Serien solch herrlicher Sommer bringen. Ganz von selbst würden sie die landwirtschaftliche Überproduktion vermindern und damit Kosten senken, gleichzeitig aber die Qualität des heimischen Weines verbessern. Sind solche Überlegungen zu verdammen, wenn sie während eines so großartigen Sommers in den Köpfen der Menschen auftauchen? Man musste ihn schon mit zusätzlichen Todesfällen in französischen Krankenhäusern (nicht deutschen, wo die Hitze weitaus ungewöhnlicher als in Frankreich war!) statistisch in Misskredit bringen, weil ihn sonst viel zu wenige Menschen für ein schlimmes Omen gehalten hätten. Gewiss, manche Flüsse schrumpften so sehr, dass man, wie am Rhein, in den trocken gefallenen Teilen des Flussbettes auf Schatzsuche gehen
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konnte. Dennoch trat die gefürchtete Wasserknappheit nicht ein – noch nicht, wie zu vernehmen war, weil es im Winter und in den Jahren davor so viel geregnet hatte. So viel, dass der Regen im Sommer davor ein ganz schlimmes Hochwasser im Einzugsbereich der Elbe mit großen Schäden verursachte. Die Extreme werden zunehmen, so die Prognose, die sich im konkreten Detail jedoch gleich wieder als falsch herausstellte. Denn der Sommer 2003 brachte keineswegs eine gewaltige Steigerung der Gewittertätigkeit – im Gegenteil. Er war, was Stürme und Gewitterschäden betrifft, so ruhig und unbedeutend wie kaum ein anderer. Kurz und gut, das Wetter passt, so wie es ist, kaum jemals allen. Drei Tage Sommer und die Boulevardblätter versteigen sich zu den Schlagzeilen über die fürchterliche Hitze; drei Tage Regen hingegen und es wird die nahende Sintflut vermutet. Natürlich ließ der Hitzesommer 2003 die Gletscher noch stärker schwinden als bisher schon, und dass es im darauf folgenden Dezember am Nordrand der Alpen kaum schneite, traf den Wintersportbetrieb hart. Als Schnee reichlich fiel, war Weihnachten schon vorbei und Ostern als «bewegliches Fest» zu fern. Anschließend brauchte der Sommer 2004 beinahe bis zu seinem meteorologischen Ende, bis er in Schwung kam, so regnerisch und kühl verliefen der Frühling und der ganze Frühsommer. Beide zusammen, der Sommer 2003 und 2004, ergeben einen ziemlich normalen Mittelwert. Also warum die ganze Aufregung? Ärgert uns nur, dass das Wetter wieder einmal nicht so geraten ist, wie wir es gern gehabt hätten? Wie aber sieht es in der Natur selbst aus? Wie reagierte sie auf den Jahrtausendsommer? Es ist wohl bezeichnend, dass gerade diese letzten Fragen am wenigsten behandelt worden sind. Natürlich war man vom Sommer 2003 überrascht. Wie sollte es auch anders ein, wenn doch alles langfristig vorgeplant sein muss, damit überhaupt eine Untersuchung in Gang kommt. Kein Meteorologe, kein Klimamodellierer hatte ihn konkret vorhergesagt. Daher war «die Forschung» auch nicht darauf eingestellt. Es liefen einfach die bisherigen Messungen weiter. Doch die Temperatur an sich besagt recht wenig über die Wirkungen auf die Natur. Voller Aufregung wurden «Rekordtemperaturen» unserer Flüsse ge-
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meldet, aber was diese bei Fisch und Frosch, Insekten und Schnecken in den Gewässern verursachten, gelangte nicht in die Nachrichten. Wenig scheint man, verglichen mit der Einzigartigkeit dieses Sommers, direkt draußen in der Natur untersucht zu haben. Auszunehmen sind vermutlich nur die Forstbehörden, denn diese sind darauf eingestellt, die Wirkungen von Hitzesommern und Trockenjahren, von Extremwintern und Feuchtperioden auf das Wachsen und Gedeihen der Bäume mitzuverfolgen, weil sie sich auf den Holzertrag der Wälder auswirken. Nun sind Bäume aber recht wenig geeignet, kurzfristige Veränderungen zum Ausdruck zu bringen. Ein Sommer bedeutet für die Nutzholzarten gerade einmal einige Tausendstel ihrer Lebenszeit, die sie ohne Einwirkung des Menschen erreichen könnten. Für Eichen und Linden, für Eschen und Buchen zählt die Lebenszeit nach Jahrhunderten. Sie würde durchschnittlich wenigstens fünf- bis zehnmal so lange währen wie die Lebenszeit des Menschen. Folgerichtig zeichnen sich sehr trockene, heiße Sommer in ihrem jährlichen Zuwachs in der Regel nur als enge Jahresringe ab, während wachstumsgünstige warme und feuchte entsprechend breitere Ringe ergeben. Es muss schon sehr schlimm kommen, dass ein richtiger Baum, der an der richtigen, also seinen Lebensansprüchen gemäßen Stelle wächst, durch einen heißen Sommer tödlich geschädigt wird. Wie sonst hätten wir die Möglichkeit, anhand der Jahresringe von Bäumen, die viele Jahrhunderte alt geworden sind, die Klimageschichte zu rekonstruieren (Pfister 1990)? Sie durchlebten Zeiten, die wie die «Kleine Eiszeit» zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert durch extrem kalte Winter gekennzeichnet waren oder in denen, wie im Mittelalter, die anhaltende Wärme und Trockenheit die Flüsse so weit schrumpfen ließ, dass etwa in Regensburg die berühmte «steinerne Brücke» über die Donau im Trockenbauverfahren errichtet werden konnte. Bäume sind hart im Nehmen, kann man daraus nur schließen. Sie sind keineswegs so sensibel, dass ein heißer Sommer Einfluss auf Verbreitung und Häufigkeit nehmen könnte. Wir müssen uns sogar damit vertraut machen, dass sie in der für uns kaum vorstellbar langen Zeit von 10 000 Jahren seit Ende der letzten Eiszeit bei uns hier in Mitteleuropa noch längst nicht ihre passende Artenzusammensetzung «auf Dauer» gefunden
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hatten, bevor die Forstwirtschaft anfing, sie zu pflanzen. Sicherlich mehr als 90 % aller heute stehenden Bäume wachsen an den Orten, an denen sie sind, nicht weil sie von selbst dorthin gekommen sind, sondern weil Menschen sie gepflanzt haben. Und wäre das nicht geschehen, hätte die bloße Tatsache, dass Menschen Wälder rodeten und in Ackerland überführten, Haustiere in die Wälder ließen oder trieben, die Einfluss auf die Verjüngung der Baumbestände nahmen, völlig ausgereicht, eine langfristig «von Natur aus stabile» Waldzusammensetzung zuzulassen. Wälder sind in Europa mit Ausnahme des hohen Nordens und einiger Hochregionen im Gebirge Menschenwerk (Küster 1999). Folgerichtig sollten sie als Forste bezeichnet werden, um gepflanzten Wald von Naturwald zu unterscheiden. Dennoch reagieren selbst Forstbäume recht wenig auf Witterungsänderungen, weil solche einfach zum normalen Ablauf in ihrem langen Baumleben gehören. Allein die ganz normalen jährlichen Temperaturschwankungen, die sie auszuhalten haben, reichen von hochwinterlichen Frösten mit –20°C und darunter bis zu sommerlichen Höchsttemperaturen von 30–35°C, also über eine Spanne von mehr als 50 Celsiusgrade. Bei direkter Sonneneinstrahlung können die örtlichen Temperaturen noch höher ansteigen. Bei Bäumen an geteerten Parkplätzen tritt daher nicht selten echter «Rindenbrand» auf. Die Borke, die äußere, tote Schicht der Baumrinde, wird so schwarz, als ob sie ein Buschfeuer versengt hätte. Baumarten mit dünner Borke vertragen daher nicht allzu viel direkte Sonneneinstrahlung. Sie müssen sich selbst beschatten können. Am besten gedeihen sie beim Aufwachsen in dicht geschlossener Gruppe, in die sich keine andere Baumart mischt. Ein gutes Beispiel dafür sind unsere Buchen (Fagus sylvatica), wegen ihrer Holztönung auch Rotbuchen genannt. Andere, wie die Eichen oder die Kiefern, sind in dieser Hinsicht außerordentlich robust, weil ihre Borke sehr dick entwickelt ist. Bei Vorkommen, die sich bei den Hauptbaumarten über Tausende von Quadratkilometern von Westeuropa bis in den Fernen Osten und vom Rand des Mittelmeerklimas bis unter Umständen hinauf an die Baumgrenze im Norden oder im Hochgebirge erstrecken, ist es nur zu verständlich, dass sie nicht allzu eng von den Temperaturen abhängen können. Wie sonst hätten sie so große Verbreitungsgebiete er-
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langen und die Witterungsschwankungen der Jahrhunderte überstehen können. Wälder eignen sich daher höchstens in den Grenzregionen ihres Vorkommens als Indikatoren für großklimatische Veränderungen. Solche mussten sie in den zehn Jahrtausenden seit dem Ende der letzten Eiszeit mehrfach über sich ergehen lassen. Da gab es Warmzeiten mit weitaus höheren Temperaturen als in der Gegenwart und Kälterückschläge, die wohl ganz treffend als «Kleine Eiszeiten» bezeichnet werden. In solchen Zeiten, von denen die letzte nur etwa zweihundert Jahre zurückliegt (und daher von vielen heute noch wachsenden Bäumen erlebt worden ist!), wurde es in manchen Wintern so kalt, dass das im Stamm vorhandene Wasser gefror und die Bäume wie mit Kanonendonner explodierten. Für Basel sind solche Ereignisse berichtet worden (Pfister 1990), obgleich diese Stadt aus heutiger Sicht in einer klimatisch begünstigten Region in Mitteleuropa liegt. Noch weniger als der Frost brachte die Sommerhitze von 2003 zustande. Das erste Drittel der so überdurchschnittlich warmen Schönwetterperiode hatte von Ende April bis Anfang Juli zwar recht hohe Temperaturen, aber doch auch immer wieder Niederschläge gebracht, sodass die eigentliche Hitze- und Trockenperiode nicht mit Wassermangel begann. Als dann im Juli stellenweise fast 40°C erreicht wurden und auch der August nahezu ungebrochen heiß und trocken blieb, reagierten vor allem die Bäume auf ihre Weise: Ihr Blattwerk fing an, mehr oder weniger stark zu verdorren und abzufallen. Welche Art wie stark reagierte, passte sehr gut zu ihrer natürlichen Herkunft. Bäume, die in der Stadt gepflanzt worden waren, wo es besonders trocken wurde in der Hitze, die auch nachts kaum noch Abkühlung brachte, verloren weit höhere Anteile an ihrem Blattwerk, wenn sie aus feuchten Au- oder Bergwäldern stammten. Solche hingegen, die von Natur aus auf trockeneren Standorten wachsen, hielten dieses Sommerwetter ganz gut aus, wie Abb. 16 a und b zeigen. Im folgenden Jahr 2004 hatten sich jedoch alle Bäume wieder erholt bis auf eine Zitterpappel, die teilweise, und eine Birke, die ganz abgestorben war. Somit hatte die anhaltende Hitze und Trockenheit nicht einmal an den für die meisten Baumarten «fremden» Wuchsorten in der Stadt allzu viel ausrichten können.
Abb. 16 b
Abb. 16 a und b: Vorzeitige Blattverluste von Bäumen im westlichen Stadtgebiet von München im August 2003 als Auswirkung von Hitze und Trockenheit
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Abb. 16a
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Auf jeden Fall veränderte aber die Klimaerwärmung in den 150 Jahren seit Mitte des 19. Jahrhunderts weitaus weniger in unseren Wäldern als die Forstwirtschaft. Wo noch so etwas wie Naturwald wächst, gibt es kaum Spuren in der Artenzusammensetzung, diie auf klimatische Veränderungen hinweisen. Kleine, nicht verholzte und kurzlebige Pflanzen reagieren wohl empfindlicher als die robusten Bäume. Noch stärker sollten sich die Wirkungen klimatischer Veränderungen in der Tierwelt zeigen, weil ihre Beweglichkeit auch die Möglichkeit zu raschen Ortsveränderungen schafft. Darin liegt ja auch einer der ganz großen Vorteile der Tiere im Vergleich zu den ortsgebundenen Pflanzen. Wie also sieht es bei ihnen aus? Was bewirken der Jahrtausendsommer 2003 und die vorausgegangenen (zu) warmen Jahrzehnte von 1980 bis 2000?
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Comeback der Insekten?
Nun weiß man seit langem, dass kein Jahr dem anderen gleicht. Gute Vergleiche setzen zudem eine zuverlässig gleichartige Methode der Erfassung voraus. Langfristig und kontinuierlich sollte sie sein; am besten auch unabhängig von einer bestimmten Person mit ihren vielleicht spezifischen Fähigkeiten. Es gibt wenige Freilandmethoden zur Erfassung von Vorkommen und Häufigkeit beweglicher Tiere, die diese Anforderungen erfüllen. Eine der besten in dieser Hinsicht, wenn nicht die beste überhaupt, ist der Lichtfang von nachtaktiven Insekten mit UVFallen. Die Geräte arbeiten absolut automatisch, und wenn es sich um Fallentypen handelt, in denen die Insekten nicht getötet, sondern nach der Fangauswertung wieder freigelassen werden können, bleibt auch die mögliche Beeinflussung durch den Fallenfang gering. Markierungsversuche an Schmetterlingen haben gezeigt, dass sich die in solchen Lichtfallen gefangenen hinsichtlich ihrer Lebenserwartung nicht erkennbar von anderen unterscheiden, die etwa mit Lockstoffen gefangen und anschließend markiert worden sind. Eigene Lichtfallenfänge zwischen 1981 und 1985 in einem allseits abgeschlossenen, etwa 6000 Quadratmeter großen Innenhof der Anlage von Schloss Nymphenburg in München zeigten zudem, dass erstens durch den Fang in Abständen von einigen Tagen die vorkommenden Schmetterlingsbestände nicht beeinträchtigt werden und dass sie zweitens in ihrer jahrweise unterschiedlichen Häufigkeit genau dem draußen ermittelten Auf und Ab folgen. Sogar für Florfliegen und Käfer ließ sich das feststellen. Im Frühjahr 2002 wurde Lichtfang auf dem Gelände der Zoologischen Staatssammlung in München wieder möglich und so lag für den Sommer 2003 wenigstens ein komplettes Jahr als Vergleichswert vor. Das anschließende Jahr 2004 konnte anschließend dazu benutzt werden, das Ausmaß der Veränderung
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in 2003 abzuschätzen. Der Befund fiel ausgesprochen eindeutig aus: Der Jahrtausendsommer 2003 war auch ein Super-Sommer für nachtaktive Insekten, insbesondere für Schmetterlinge, geworden. Ihre Häufigkeit übertraf das Vorjahr insgesamt um das mehr als Zweieinhalbfache. 2004 «normalisierte» sich das Fangergebnis wieder – dem Verlauf der Witterung entsprechend – auf fast genau die Menge von 2002 (Abb. 17). Also können auch die Ergebnisse der vergangenen Jahrzehnte in diesem Sinne vergleichend betrachtet und auf Auswirkungen des Klimawandels hin untersucht werden. Die Nachtschmetterlinge hatten im Sommer 2003 deutlich genug reagiert. Ihre gesteigerte Häufigkeit bekräftigte den Eindruck, dass es auch draußen in Wald und Flur in diesem Ausnahmesommer weit mehr Tagschmetterlinge (Tagfalter und andere am Tag fliegende Arten) als in den Jahren davor gegeben hat. Die Freilandzählungen, die selbstverständlich weit weniger «mechanisch» und zuverlässig Daten liefern können als der Lichtfang, erhielten auf diese Weise Unterstützung. Die außerordentlich große Ähnlichkeit der Fangkurven von 2002 und 2004 hebt 2003 als Ausnahmejahr umso deutlicher heraus. Gleichzeitig zeigen die Kurven aber auch, wie schnell sich bei normalem Witterungsverlauf die Verhältnisse wieder normalisieren. Noch deutlicher drücken dies die Fangergeb-
Abb. 17: Aufbau der Fangmengen von Schmetterlingen an der Zoologischen Staatssammlung in München (Lichtfang, kumulativ) in den Jahren 2002, 2003 und 2004
117 Abb. 18: Häufigkeit von Kleininsekten (Zuckmücken und andere) in den Lichtfallenfängen an der Zoologischen Staatssammlung in München (Menge pro Halbmonat)
nisse an «Mücken» aus, von denen es im Sommer 2003 sehr viel mehr als in den anderen Sommern gegeben hat. Allerdings sind damit nicht die Stechmücken gemeint, denn diese beeinträchtigte die Trockenheit so sehr, dass es weithin beinahe überhaupt keine gab. Sogar im folgenden Frühsommer 2004 machten sich die Ausfälle bemerkbar und Stechmücken blieben bis in den August hinein rar. Ähnlich verhielt es sich mit den Bremsen. Auch sie waren im Sommer 2003 vielerorts wenig aufgefallen oder fehlten so gut wie ganz. Die Mengen von 2004 blieben weit hinter den normalen Verhältnissen anderer Jahre zurück, weil sich die Bestände nicht so schnell wieder erholen können. Die «Mücken» aber, um die es nun geht, stechen nicht. Ihr zoologischer Name lautet Zuckmücken (Chironomiden). Ihre Larven (Kap. 3) leben in Gewässern aller Art und sie schwärmten, zusammen mit anderen Kleininsekten, im Sommer 2003 vier- bis fünfmal so häufig wie im Sommer davor (Abb. 18). Als Nahrungsquelle für Vögel und andere Tiere sind diese Mücken oft viel wichtiger als die Schmetterlinge bzw. deren Raupen. Ihre Häufigkeit verrät noch mehr über die Qualität eines Frühsommers für Tiere, die von Insekten leben, als die der herum-
118 Abb. 19: Jahressumme der Kleininsektenfänge zur Charakterisierung der verschiedenen Fangjahre (vgl. Abb. 18)
gaukelnden Tagfalter. Normalerweise bekommt man aber kaum mit, wie gut oder wie schwach das Angebot solcher Kleininsekten von Jahr zu Jahr ausgefallen ist. Diese Insekten konnten wie auch die Schmetterlinge sehr rasch reagieren; von Dauer blieb ihre Reaktion aber nicht. Das zeigen die beiden Abbildungen 18 und 19. Der so günstige Insektensommer 2003 wirkte 2004 anfangs noch nach, doch dann «normalisierten» sich die Verhältnisse wieder und in der Gesamtbilanz fiel 2004 kaum besser als 2002 aus (Faktor 1,4), während der Vergleich von 2002 zu 2003 eine Steigerung um das 4,3fache bei den Fangzahlen pro Halbmonat und um das 4,7fache in der Jahressumme ergeben hat. Hohe Flexibilität drückte auch eine ganz andere Tiergruppe in diesem Hitzesommer aus, die wegen ihrer Bodengebundenheit keine Möglichkeiten hat, schnell in geeignete andere Gebiete auszuweichen: Eidechsen im Wald an der Isar südlich von München. Ihre Aktivität entsprach im Hitzesommer 2003 dem typischen Verhalten der Artgenossen im Mittelmeerklima. Gleich nach Ende der Überwinterung Anfang April wurden sie rasch munter und nutzten die Wärme im Mai für Paarung und Fortpflanzung. Danach wichen sie der Hitze durch eine Art von
119 Abb. 20: Aktivität der Zauneidechsen im Wald an der Isar südlich von München. Die Sommer von 1997 bis 2002 geben den Durchschnittswert mit den typischen beiden Gipfeln im Mai und August. Der Hitzesommer 2003 verschob die Aktivität ähnlich wie im Mittelmeerraum nach vorne, der zu kühle und nasse Frühsommer 2004 nach hinten. Die Häufigkeit 2004 beweist, dass die Hitze von 2003 den Eidechsen nicht geschadet hatte.
«Sommerruhe» aus, wie das im Mittelmeerraum typisch ist. Die ungewöhnliche Wärme tat ihnen offenbar recht gut, denn 2004 gab es um gut 30 % mehr Eidechsen als 2003, aber so richtig aktiv wurden sie zwei Monate später als 2003. Zum Höchstwert kam es sogar erst im September 2004, nachdem der Sommer Ende Juli und im August «in Schwung» gekommen war. Im Vergleich zu den fünf Vorjahren (1997–2002) verdoppelte sich die Häufigkeit der Zauneidechsen. Sie sind wie fast alle Reptilien wärmebedürftig. Der Insektenreichtum des Sommers von 2003 war ihnen offensichtlich zugute gekommen. Umgekehrt vertrockneten im selben Gebiet alle Kleingewässer, in denen Erdkröten abgelaicht hatten. Keine einzige Jungkröte kam hoch und ein ganzer «Jahrgang» fiel aus. Für Erdkröten ist das nicht allzu ungewöhnlich. Einmal groß genug geworden, können sie jahrelang leben und gleichsam auf ein günstiges Jahr warten. Viel bedeutender als solche Witterungsschwankungen war für die Kröten, Molche und Frösche das Verschwinden ihrer Laichgewässer, weil Tümpel, kleine Gruben und Teiche zugeschüttet wurden, verlandeten oder zu stark mit Nutzfischen besetzt wor-
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den waren. Da der Naturschutz in den 1970er Jahren erreichte, dass praktisch keine kleinen Abgrabungsstellen mehr gemacht werden dürfen, setzte der Niedergang der Amphibien in dieser Zeit – vor den beiden warmen Jahrzehnten (!) – ein. Die da und dort gezielt wieder angelegten Amphibienteiche bringen, da nicht flächendeckend verfügbar, nur unzureichend Ersatz. Viele beeinträchtigt die aus der Landwirtschaft stammende Überdüngung mit Nitraten und vielleicht auch anderen Stoffen, sodass sie zu schnell veraigen und als Laichgewässer nicht mehr geeignet sind. Entsprechendes gilt für die Libellen und die anderen Wasserinsekten sowie für selten gewordene Kleinfischarten, denen es gleichfalls an geeigneten, immer wieder neu entstehenden Kleingewässern mangelt. Der sehr trockene Hitzesommer 2003 brachte die Problematik in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Sie ist nicht vom «Klima» gemacht, sondern vom Menschen. Nun wird man einwenden, ein Ausnahmejahr ist eben eine Ausnahme. Viel entscheidender wirkt der Trend. Sieben warme Jahre und noch mehr werden die Wirkungen erzeugen. In aller Regel wird es sich um unerwünschte Änderungen handeln. Dagegen ließe sich formal-ironisch einwenden: So wie das Wetter ist, passt es nicht, und wenn es sich ändert, schon gar nicht. Die Vergangenheit, die man dann doch ganz gut geschafft hatte, gerät auf diese Weise zum idealen Zustand und jede Abweichung davon wird negativ beurteilt (Reichholf 2002). Nun gab es aber in der jüngeren Vergangenheit eine globale Zunahme der Durchschnittstemperatur von 1970 bis 2000 um ein halbes Grad Celsius und «die sieben wärmsten Jahre seit Beginn der globalen Temperaturaufzeichnung in 1860 wurden in den letzten zehn Jahren beobachtet, wobei 1998 das wärmste und 2002 das zweitwärmste Jahr in dieser Zeitperiode war» (Seiler 2004). Für die nächsten 30 Jahre wird eine weitere globale Temperaturzunahme von ca. 1,0 bis 1,5°C vorhergesagt. Für unseren Bereich in Mitteleuropa sollten es sogar 2,5°C werden (Seiler l.c.). Also geht es weniger um das extreme Einzeljahr als um den Durchschnitt. Und da «die stärkste Erwärmung zwischen 30° und 70° Nord, also in unseren Breiten, stattgefunden hat» (Seiler l.c.) sollten sich hier in der Natur auch die Auswirkungen am deutlichsten zu erkennen geben. Gemeint sind nun aber nicht solche Auswirkungen wie das hinlänglich bekannte Abschmelzen
121 Abb. 21: Entwicklung der Häufigkeit nachtaktiver Schmetterlinge im niederbayerischen Inntal von 1969 bis 1995 (standardisierte Lichtfallenfänge; Monatsmittel der Hauptflugzeit von Mai bis August)
der Gletscher, das es über die letzten beiden Jahrtausende hinweg mehrfach gegeben hat (Pfister 1991), sondern auf die lebendige Natur, also die Pflanzen und Tiere. Zu ihren klimatisch bedingten Rückgängen ist allerdings in den Veröffentlichungen zum Klimawandel für Mitteleuropa so gut wie nichts zu finden (Schönwiese 1995, Seiler 2004) und scheinbar spezielle Untersuchungen enthalten, genauer betrachtet, mehr Annahmen und Vermutungen als konkrete Daten und Befunde (Burton 1995). Wie aber nachfolgend gezeigt wird, nahmen die meisten Wärme liebenden Arten ab und nicht etwa zu. So etwa viele Arten der Schmetterlinge (Abb. 3), die sonnenliebenden Tagfalter prozentual fast doppelt so stark wie die in der feuchteren Kühle der Nacht fliegenden «Nachtfalter» (Abb. 21). Ganz besonders stark verlief der Rückgang bei den Schwärmern (Abb. 22). Die Zunahme im Ausnahmesommer 2003 glich daher gerade die Abnahme seit Anfang der 1980er Jahre aus (Abb. 23), erreichte jedoch keineswegs das frühere Niveau der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Die ein halbes Jahr andauernde mediterrane Wärme reichte bei weitem nicht aus, die Rückgänge von dreieinhalb Jahrzehnten seit der Überdüngung des Landes auszugleichen.
122 Abb. 22: Rückgang der Weinschwärmer im niederbayerischen Inntal (Lichtfänge)
Abb. 23: Vergleich der Lichtfangergebnisse von Anfang dengSoer Jahre mit 2002 und 2003 (ZSM = Zoologische Staatssammlung München)
Die in den Abbildungen 21 bis 23 dargestellten Entwicklungen spiegeln die Befunde in den Roten Listen (vgl. Kap. 2). Auch auf die absoluten Monatshöchstwerte bezogen erreichte der Sommer 2003 mit 136 Schmetterlingen pro Fangnacht (Juni) nicht das Maximum von 1982 mit 180 im Juli. Doch da die «Eindrücke» bekanntlich verblassen, erinnert man sich nicht mehr genau genug an die Verhältnisse von vor 20 Jahren.
123 Abb. 24: Regelmäßige Häufigkeitszyklen derWespen in München. Eine Zunahmefand im letzten Jahrzehnt nicht statt.
Diese menschliche Eigenschaft kommt insbesondere dann zum Ausdruck, wenn es sich um längerfristige periodische Vorgänge handelt, deren Stärke durch die Jahre dazwischen in Vergessenheit gerät. Wie zum Beispiel bei «Wespensommern». Solche gibt es im südlichen Bayern in Abständen von drei Jahren («kleine Wespenjahre») und9bis 12Jahren («Große Wespenjahre»). Abb. 24 & 25 zeigen die Abfolge solcher Wespenjahre für das südliche Bayern zwischen München und Passau sowie einen möglichen Trend. Der Trend verweist also eher auf eine Abnahme der Wespen in den besonders ausgeprägten Flugjahren und von 1986 bis 2000 gab es in 9 von 15 Jahren sehr schwachen Wespenflug, während es in den 12 Jahren von 1974 bis 1985 nur drei gegeben hatte. Ohne Datengrundlage wird die Erinnerung schnell trügerisch. Die momentanen Eindrücke gewinnen ein weitaus höheres Gewicht, als ihnen tatsächlich zukommt. Daher verwundert es nicht, dass sich im Sommer 2003 kaum jemand daran erinnerte, dass es vor genau 2ojahren im nördlichen Alpenvorland einen ähnlich heißen und auch fast so langen Sommer gegeben hat. Doch die Häufung warmer Sommer in der ersten Hälfte der 1980er und dann wieder in den 1990er Jahren brachte nicht
124 Abb. 25: Große Wespenjahre in Südbayern und möglicher Trend (statistisch nicht signifikant)
die aus den Prognosen der Klimaforscher abzuleitenden Großverschiebungen bei den Wärme liebenden Tier- und Pflanzenarten. Offenbar nahmen nicht einmal die in Gärten häufig an den Blumen und blühenden Sträuchern («Schmetterlingsflieder» Buddleid) zu beobachtenden Tagpfauenaugen (Inachis io) und Kleinen Füchse (Aglais urticae) zu, wie die langjährigen Daten (Abb. 26 und 27) zeigen. Eher trifft das Gegenteil zu: Seit Mitte der 1980er Jahre ging auch ihre Häufigkeit mehr oder weniger ausgeprägt zurück. Die Ansammlungen an den blühenden Sträuchern in den Gärten vermitteln kein zutreffendes Bild zu den tatsächlichen Bestandsentwicklungen, wie sie sich aus langjährigen Zählungen an festgelegten Strecken (so genannten Linientaxierungen) ergeben. Dabei handelt es sich bei beiden Arten nicht nur um allgemein häufige Tagfalter, sondern gerade auch um solche, deren Raupen an Brennnesseln leben und daher als «stickstofftolerant» gelten. Wenn selbst solche Arten ab- und nicht zunehmen, obgleich scheinbar günstigere klimatische Verhältnisse für sie eingetreten sind, bekräftigen diese Befunde die Skepsis, ob überhaupt mit so gravierenden Auswirkungen zu rechnen ist, wie sie angenommen werden. Der Umgang mit der Natur, die Art und die Intensität der Nutzung bestimmen weit mehr als Wetter und Klima, welche Arten wo, wie und in welchen Mengen vorkommen können.
Abb. 27
Abb. 26 und 27: Häufigkeit von Tagpfauenauge und Kleinem Fuchs im niederbayerischen Inntal von 1971 bis 1996. Während bis 1986 keine Tendenzen zu erkennen sind, sondern lediglich Fluktuationen von Jahr zu Jahr, nahmen beide Arten seither stark und statistisch signifikant ab.
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Abb. 26
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Mehr als fraglich ist daher auch, ob «die Zugvögel», wie es heißt, tatsächlich früher ankommen als in der Vergangenheit. Mit «tatsächlich» soll ausgedrückt werden, was der Volksmund längst kennt, nämlich dass eine Schwalbe noch keinen Sommer macht. Nicht die Daten für die allerersten Ankömmlinge sind für das erfolgreiche Brüten der Zugvögel und für den saisonalen Verlauf ihrer Brutzeit von Bedeutung, sondern das, was die Hauptmenge des Bestandes macht. Doch diese wird kaum jemals erfasst. Die allermeisten Vogelkundler begnügen sich mit «Erstankunftsdaten» oder mit ein paar ergänzenden Notizen in der unmittelbar folgenden Zeit. Den Aufbau der zurückgekommenen Brutpopulation lassen diese Daten nicht erkennen. Allzu viel bleibt daher höchst spekulativ, wie eine genauere Betrachtung der Angaben und der diesen zugrunde liegenden Literaturangaben für die Klimaänderung der Gegenwart zeigt. Nachhaltige Veränderungen in den Verbreitungsgebieten der Arten, den Arealen, vollziehen sich nämlich in aller Regel nicht in wenigen Jahrzehnten, sondern in erheblich längeren Zeiträumen (Burton 1995). Erweitern wir daher die Zeitskala von Jahren und Jahrzehnten auf die letzten beiden Jahrhunderte. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es nämlich ganz zuverlässige Angaben über Vorkommen, Verbreitung und Häufigkeit von Vogelarten in Mitteleuropa. Die heutigen Einstufungen von Zuund Abnahmen in der Vogelwelt beruhen für viele Arten auf den Verhältnissen, wie sie vor 100 oder 150 Jahren geherrscht haben. Waren das die «gute alte Zeit» der Vögel und der «richtige Zustand der Natur»?
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Der «Gießvogel» und das 19. Jahrhundert
Vom «Gießvogel» sprachen alte Leute draußen auf dem Land im südlichen Bayern noch in den 1950er Jahren. Wenn er schreit, wird es Regen geben, meinten sie. Außerdem umgab diesen mysteriösen Vogel etwas Anrüchiges, Teuflisches. Auch wenn man es nur so leichthin sagte, es sei «der Teufel nicht weit, wenn der Gießvogel schreit», steckt mehr als nur ein Wortspiel in dieser Ausdrucksweise. Worum es sich handelt, wusste man allerdings nicht mehr. Die Vermutung, es könnte sich um den Grün- oder den Grauspecht gehandelt haben, erwies sich als unzutreffend. Beide Spechte gab es vor einem halben Jahrhundert noch häufig genug. Vor allem der Grünspecht (Picus viridis) suchte die oftmals mit alten Obstbäumen bestandenen Dorfgärten auf und war allgemein bekannt. Um eine Verwechslung mit dem hauptsächlich in den Auwäldern vorkommenden Grauspecht (Picus canus) konnte es sich nicht gehandelt haben, denn damals waren die Auen noch als Niederwald bewirtschaftet. Viele Dorfbewohner «machten noch Holz» in den Auen im Frühjahr, wenn der Grauspecht rief. Die beiden Arten unterschied man meistens nicht. Es hätte auch kaum einen Anlass dafür gegeben. Sie hießen einfach «Grünspecht», manchmal auch «Wieherspecht», was für den Grünspecht mit seinem entfernt an ein Wiehern erinnernden Balzruf ganz gut passte. Dass es Regen geben würde, wenn der «Gießvogel» schreit, schien den Leuten jedoch nicht sonderlich wichtig. Die Schwalben galten als zuverlässigere Wetterpropheten: Fliegen sie tief, kommt Regen, fliegen sie hoch, wird es schön. Schwalben gab es noch überall in den Dörfern ländlich-bäuerlicher Regionen; sie eigneten sich den Sommer über fast immer als Wetterpropheten. Flogen sie nicht mehr, weil es Abend wurde, achteten die Leute auf die Rufe oder Chöre der Frösche. Man interessierte sich ohnehin eigentlich nur für das Wetter, das noch am
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selben Tag oder morgen kommen würde. Über Wochenvorhersagen hätte man nur gelacht, und wenn man längerfristig in die Wetterzukunft schauen wollte, holte man den «Hundertjährigen Kalender» hervor. Stimmte dessen Vorhersage («der Mai wird 1958 schöner als der August» oder Ähnliches) doch nicht, war es auch egal. Es galt ja nicht, Ferien für den August zu planen, denn da würde auf jeden Fall Erntezeit sein. Aber dass das Wetter so Unglaubliches bringen kann wie «Froschregen» oder «Schwefelregen», stand außer Frage. Gar mancher hatte so etwas selbst gesehen und bestaunt. Und wenn wir Kinder oder Jugendliche klagten, weil das Wasser draußen am Fluss noch zu kalt zum Baden sei, hieß es nur, ja früher, da waren die Sommer noch richtige Sommer. Da gingen wir von Ostern bis Kirchweih barfuß. Und in kurzen Hosen natürlich auch. So viele Gewitter gab es, dass in der Gegend oft Bauernhöfe durch Blitzschläge abbrannten oder auch deshalb Feuer fingen, weil das Heu zu feucht gewesen war, als es eingefahren wurde, und es sich im Heustock selbst entzündet hat. Von Wintern wussten die Alten zu berichten, die so bitterkalt waren, dass das Eis von den Fensterscheiben der Häuser monatelang nicht taute. Schnee gab es immer mehr als genug, zu Weihnachten sowieso und überhaupt. Was mag das für eine Zeit gewesen sein, von der so gesprochen wurde? Waren lange heiße Sommer auch nur Wunschbilder, wie sie das zumeist in unserer Zeit sind? Mussten die Kinder deswegen barfuß gehen, weil sie zu arm waren, um im Sommer Schuhe tragen zu können? Dass es regelmäßig recht kalte Winter gegeben hat, geht aus den Eiskellern der Gastwirtschaften hervor, in denen das Bier mit Eisblöcken, die aus den Dorfteichen stammten, bis in den Sommer hinein kühl gehalten wurde. Eis, das 20 oder 30 Zentimeter dick war oder noch mächtiger, transportierten Pferdegespanne im Spätwinter zu den Eiskellern. Seit Jahrzehnten ließe sich das Bier auf diese Weise mangels Eis nicht mehr kühl halten. Es scheint «früher» also doch manches anders gewesen zu sein als heute. Und zwar nicht nur manchmal, sondern im Durchschnitt, was immer damit gemeint sein mag. Denn Durchschnittswerte hängen stets davon ab, was zu ihrer Festlegung einbezogen wird. Die gegenwärtige Klimaänderung «läuft» seit
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rund einem Vierteljahrhundert den natürlichen Schwankungen davon (Seiler 2004). Ist dies ein für die Natur bedeutungsvoller Zeitraum? Sind 20 oder 30 Jahre schon genug, um nachhaltige Veränderungen nach sich zu ziehen, wenn innerhalb dieser wenigen Jahrzehnte starke Schwankungen von Jahr zu Jahr auftreten, wie von 2002 auf 2003 und wieder auf 2004? Einblicke in die Vergangenheit könnten da vielleicht Klarheit schaffen und Aufschluss auch darüber geben, wie sehr sich die Menschen selbst täuschen, «wie es früher war». Wetteraufzeichnungen allein reichen dafür allerdings nicht aus. Temperatur und Niederschläge wirken im Umfeld, in der wirklichen Natur nämlich, und nicht als bloße statistische Mittelwerte. Kälte, Wärme, Wind, Wasser und Dürre erlangen ihre Bedeutungen erst in der Landschaft. Sie kommen zur Wirkung über die Böden und die Pflanzendecke. Für kaum ein Lebewesen, uns Menschen eingeschlossen, sind sie als «Umweltfaktoren» direkt von Belang. Genau genommen gibt es sie gar nicht einmal, denn Temperaturen und Feuchtigkeit ändern sich beständig. Die Messwerte stellen örtliche Momentaufnahmen dar, nicht mehr und nicht weniger. Die Mittelwerte sind auf jeden Fall weniger als die tatsächlichen Werte, aus denen sie «gemittelt» worden sind. So kann eine durchschnittliche Jahrestemperatur sowohl durch einen kalten Winter und einen heißen Sommer zustande kommen wie auch durch ein anhaltendes Mischwetter ohne Kälte und Hitze. Für viele Arten können heiße Sommer ungleich bedeutungsvoller als kalte Winter sein, weil sie in wärmere Winterquartiere ausweichen oder ihnen die Kälte in ihrem Winterschlaf oder in ihrer Winterstarre nichts ausmacht. Trockene Kälte schützt sogar besser vor gefährlichen Pilzen als die mildere, aber nasskalte Witterung. Ein «heißer Sommer» kann für Vögel oder Schmetterlinge sehr schlecht gewesen sein, wenn er zu spät anfing, im Juli vielleicht erst, wenn die Fortpflanzungszeit vorüber ist. Ein «verregneter» war hingegen vielleicht ein ganz guter, weil das Frühjahr früh kam und der Frühsommer bestens verlaufen ist. «Kühler Mai bringt Gras und Heu», heißt es auch heute noch bei Landwirten, die Grünlandwirtschaft betreiben. Schmetterlinge und gute Brutergebnisse bei den kleinen Singvögeln bringt ein kühler Mai dagegen nicht. Bei nur einem nasskalten Frühjahr mag das ohne nennenswerte Auswir-
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kung bleiben, aber wenn es über mehrere Jahre anhaltend im Frühjahr und Frühsommer zu feucht und zu kühl ist, zeitigt dies weitaus größere Folgen für die Tiere und Pflanzen der freien Natur als vergleichbar schlechtes Wetter im Hochsommer. Jahresmittel taugen aus diesen Gründen nicht viel für den Rückblick in vergangene Jahrzehnte und Jahrhunderte. Zudem fallen die «meteorologischen Zeiten» des Jahres auch nicht gerade passend aus. Denn sie orientieren sich an solchen planetarischen Daten wie den Tagundnachtgleichen im Frühjahr und Herbst und nicht am tatsächlichen Werden und Vergehen in der Natur. Dennoch sind Aufgliederungen nach meteorologischem «Frühjahr» und «Sommer» allemal passender als die Durchschnittswerte für jeweils ein ganzes Jahr. Da es nichts Besseres gibt, muss man mit solchen Werten zurechtzukommen versuchen. Oder man wählt einen ganz anderen Zugang zur Vergangenheit und versucht, aus dem Vorkommen und der Häufigkeit bestimmter Tier- und Pflanzenarten abzuleiten, wie es früher gewesen ist. Sofern Befunde und Aufzeichnungen hierzu vorliegen, die gut genug sind, nützen sie für Betrachtung und Bewertung von Naturvorgängen weit mehr als die üblichen Wetter- und Klimadaten. Denn wenn es diese oder jene Arten gegeben hat, müssen auch die Umweltbedingungen entsprechend gewesen sein. Mit einem solchen Einstieg in die Vergangenheit kommt Erstaunliches zutage. Denn die Tiere und die Pflanzen, die als Weiser in die Vergangenheit benutzt werden können, geben im Großen und Ganzen den Alten Recht: Früher waren die Sommer offenbar schöner. «Im Märzen» konnte «der Bauer sein Rösslein anspannen». Der Mai muss oft ein wahrer Wonnemonat gewesen sein, wie auch der Juni ein Rosenmonat, in dem die «Königinnen der Blumenwelt» nicht im Dauerregen verfaulten. Auch «Goldene Oktober» sollte es reichlich – und nicht ausnahmsweise – gegeben haben. Die kalten Winter mit dickem Eis ebenfalls! Warum sich solche Einstufungen mehr von Tieren und Pflanzen ableiten lassen als von Wettermessungen, liegt daran, dass vor allem die Temperaturen genormt in Brusthöhe an «Wetterstationen» erfasst werden. Und nicht dort, wo sich das Leben der Tiere und der Pflanzen abspielt! 20°C Lufttemperatur Mitte Mai in eineinhalb Meter Höhe über dem Boden an einer Messstation bedeuten aber
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nicht dieselbe Wärme am Boden einer üppig wachsenden, weil gut gedüngten Mähwiese. Dort hat es vielleicht gerade einmal 10°C bei fast 100 % Luftfeuchte, weil das dichte, kniehoch aufgewachsene Gras so viel Wasser verdunstet. Ein Jahrhundert früher würde dieselbe Lufttemperatur auf den damals mageren Wiesen, auf denen das Vieh weidete, aber eine Bodenoberflächentemperatur von über 30°C ergeben haben. 20°C oder mehr Unterschied sind sehr viel in dem Bereich, in dem sich das Leben der Pflanzen und der Kleintiere abspielt! Damit kommen wir zurück zum «Gießvogel» und zur Vogelwelt des 19. Jahrhunderts, die uns in vieler Hinsicht als Leitbild für die Veränderungen in der Natur dient. Weil es über die Vögel die besten und verlässlichsten Angaben aus früheren Zeiten gibt. Beim «Gießvogel» der niederbayerischen Landbevölkerung handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um jenen merkwürdigen Verwandten der Spechte, der gar nicht spechtartig aussieht und auch vieles nicht macht, was für Spechte typisch ist, nämlich um den Wendehals (Jynx torquilla). Sein Rufen klingt wie ein hämisches Lachen, und da der rindenfarben gefiederte Vogel bestens getarnt ist, lässt sich der Rufer schwer ausmachen. Ein Unsichtbarer scheint zu rufen – und wird er doch entdeckt, streckt er die Zunge heraus und dreht den Kopf beliebig herum. Im antiken Griechenland kannte man den Wendehals und es wurde ihm damals, vor zweieinhalb Jahrtausenden, viel Dämonisches angedichtet. Er lebte dort, wo es giftige Schlangen gibt, und hielt sich an besonders schönen und sonnigen Plätzen auf. Aus gutem Grund, denn Ameisen sind seine Hauptnahrung. Sein Gefieder tarnt ihn am besten auf «dürrem» Untergrund; im grünen Gras würde er auffallen. Doch im hohen, feuchten Gras gibt es ohnehin kaum Ameisen. Für gute Entwicklung ihrer Völker benötigen diese viel Sonnenwärme auf trockenem Boden. Früher gab es solche Lebensbedingungen überall an Rainen und Heckenrändern, in Streuobstwiesen und an Hängen, vor allem aber in den «Gießen», den Trockenflussbetten, durch die starke Gewitterregen plötzliche Fluten schießen ließen. Den größten Teil des Jahres blieben sie aber trocken. Und voller Ameisen. Auf diese Weise verknüpften die Leute draußen auf dem Land den merkwürdigen Vogel mit seinem Lebensraum
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und den kurzen Fluten in den «Gießen» nach Platzregen im Frühjahr. Die uralten Überlieferungen taten ein Übriges, um den Wendehals in den christlichen Jahrhunderten mit dem Teufel in Verbindung zu bringen. Bei den alten Griechen hatte es sich lediglich um einen Waldgeist (um Pan) gehandelt, vor dem manche «panische Angst» bekamen, die sich überrascht oder ertappt fühlten, wenn das hämische Lachen hinter ihnen erklang und ihnen scheinbar eine Schlange die Zunge herausstreckte. Der Wendehals ist im 20. Jahrhundert recht selten geworden. Selbst Vogelkundler bekommen ihn kaum mehr zu Gesicht. Mit seinem alten Volksnamen «Gießvogel» kann längst so gut wie niemand mehr etwas anfangen. Er teilt dieses Schicksal mit einer ganzen Reihe weiterer Vogelarten, wie dem Triel (Burhinus oedicnemus), dem Wiedehopf (Upupa epops), der Blauracke (Coracias garrulus), dem Rotkopf- (Lanius Senator) und dem Schwarzstirnwürger (Lanius minor), der Lachseeschwalbe (Gelochelidon nilotica), dem Ziegenmelker (Caprimulgus europaeus), der Heidelerche (Lullula arborea), dem Schlangenadler (Circaetus gallicus) und weiteren, ihren Namen nach weniger bekannten Arten. Sie alle haben zwei grundlegende Gemeinsamkeiten: Sie brauchen warme, sonnige Lebensräume und sie wurden seltener oder verschwanden ganz aus weiten Teilen Mitteleuropas im 20. Jahrhundert, der Zeit der Klimaerwärmung! Viel seltener als früher kommen auch so bekannte Arten des Niederwilds wie das Rebhuhn (Perdix perdix) und der Feldhase (Lepus europaeus) vor. Mancher Jäger träumt noch von «alten Zeiten» oder blickt erstaunt auf die Jagdstrecken des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Kaum mehr 10 oder höchstens 20 % davon erzielten sie in den besten Jahren zwischen 1975 und 2000. Rebhühner sind weithin verschwunden oder unbejagbar selten geworden. In jüngster Zeit wird sogar das Verschwinden der Spatzen beklagt. Nur an wenigen Orten gibt es beide Arten noch in Schwärmen, den Feldsperling (Passer montanus) und den Haussperling (Passer domesticus). Ganz ausgestorben ist nördlich der Alpen die dritte Sperlingsart, der Steinsperling (Petronia petronia). All diese Vögel können gut fliegen. Sie sollten daher in der Lage gewesen sein, auf die Klimaerwärmung rascher zu reagieren als etwa Schlangen und Eidechsen.
Abb. 28: Langzeitentwicklung der Frühjahrs- und Sommerwitterung (meteorologische Fünf-Jahres-Mittel) nach Daten für den Raum Regensburg und Südostbayern. Herausragende Einzeljahre, wie der Sommer 2003, werden bereits für so kurze Zeitspannen herausgemittelt. Skala in Stufen: o = durchschnittlich, 3, 6, 9 = wärmer, sehr warm, sehr warm und trocken; entsprechend in den «Minus-Werten». Summenbildung für die jeweiligen Fünf-Jahres-Perioden.
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Die Vorstöße manch anderer Vogelarten in für sie günstigen Jahren zeigen das. So brüten die aus den sommerwarmen Regionen Südosteuropas und Vorderasiens stammenden, tropisch bunten Bienenfresser seit den 1990er Jahren schon in zahlreichen Kolonien mit zusammen mehreren hundert Brutpaaren in Deutschland. Die Vorkommen reichen bis Nordrhein-Westfalen und Dänemark. «Der südlich verbreitete Bienenfresser hat in günstigen Klimaphasen sein Areal mehrfach nach Norden ausgeweitet, so Mitte des 19. Jahrhunderts und nach starkem Rückgang um 1880 erneut ab den 1920er und 1930er Jahren. In Mitteleuropa kam es bis in die 1960er Jahre nur zu kurzfristig bestehenden Kolonien und nie zu stabilen Ansiedlungen. Anfang der 1990er Jahre waren in vielen Regionen wieder die alten Höchststände erreicht. Zudem kam es zu einer sprunghaften Zunahme der Kolonieneubildungen in Baden-Württemberg und Bayern.» (Bauer & Berthold 1996) Diese Entwicklung übertreffen die gegenwärtigen Ansiedlungen seit der Jahrtausendwende bei weitem. In bezeichnender Weise erfolgten die Vorstöße der Bienenfresser also in Wellen zu bestimmten Zeiten und nicht kontinu-
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ierlich (wie die Klimakurven). Offenbar waren es stets die Serien warmer (Früh-)Sommer, in denen es zu den Vorstößen dieser «subtropischen Vögel» kam. Diese gruppierten sich in der Tat in Wellen mit Abständen von etwa zehn Jahren und mit besonderen Höhepunkten alle rund 30 Jahre, wenn der mitteleuropäische Großraum (Utrecht-Potsdam-Wien-Basel) zugrunde gelegt wird (Rocznik 1982). Die folgenden beiden Jahrzehnte mit besonders warmen Sommern Anfang der 1990 er Jahre und dann der wärmste von allen, der Sommer 2003, passen zu dieser Abfolge (Abb. 28). Doch insgesamt waren, nach den Durchschnittswerten für ganze Jahrzehnte, Frühling und Sommer im 20. Jahrhundert entgegen den weit verbreiteten Annahmen nicht wärmer als im 19. Jahrhundert. Von 1900 bis 1940 verlief nur das Frühjahr überdurchschnittlich, die Sommer hingegen waren, vor allem bis 1930, weit unterdurchschnittlich. Von 1830 bis 1900 lagen die Sommer gut im Durchschnitt, aber die Frühlingswitterung schwankte anscheinend recht stark. Richtig gut, nämlich deutlich über den Werten der nachfolgenden eineinhalb Jahrhunderte, hatten sich hingegen Frühling und Sommer zwischen 1760 und 1800 entwickelt. Nun ist ein Raum von rund einer Million Quadratkilometer vielleicht zu groß, um über die Bildung von Mittelwerten die Veränderungen in einer für die Natur relevanten Weise wiedergeben zu können. Wir wissen aus Erfahrung, dass «das Jahr» im Süden dieses Gebiets, zwischen Basel und Wien, günstig verlaufen konnte, während es nördlich der Mittelgebirge nicht so gut aussah – und umgekehrt. Der atlantische Einfluss kann in manchen Jahren weiter nach Osten reichen, der kontinentale entsprechend zurückweichen oder wieder vorstoßen. Mitteleuropa nimmt eine Mittellage zwischen vier großen Klimazonen ein, nämlich der atlantischgemäßigten mit Wetterlagen von West und Nordwest, der borealen von Nordost, der kontinentalen von Ost und Südost sowie dem mediterranen Subtropenrand von Süd und Südwest. Die relative Stärke der klimatischen Einflüsse schwankt von Jahr zu Jahr und nicht selten auch innerhalb einer Saison beträchtlich. Gerade für derartige «Mischgebiete» lassen sich auch – der tägliche Wetterbericht mit seiner rasch abnehmenden Vorhersagegenauigkeit nach wenigen Tagen beweist das immer wieder – die
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Wetterverhältnisse schlecht fassen. Ein trockenwarmes Frühjahr in Wien und Umgebung kann in München bereits mit nasskaltem Witterungsverlauf kombiniert sein. Ausbreitungen von Tieren, wie die oben geschilderte Dynamik des Brutareals der Bienenfresser an der Nordwestgrenze ihres normalen Vorkommens, können daher nicht so ohne weiteres mit den meteorologischen Messungen in Beziehung gesetzt werden. Die Wirkungen der aktuellen Witterung sind viel komplexer als die Mittelwerte für «Sommer». Nur in Einzelfällen lässt sich vielleicht ein direkter Zusammenhang konstruieren, wie etwa beim von Bauer und Berthold (1996) angeführten starken Rückgang der Bienenfresser um 1880. Damals waren die Maitemperaturen am stärksten seit 1760 (bis 1980 gerechnet) abgefallen und einen vergleichbar starken Einbruch gab es bei den Juni-Temperaturen zwischen 1920 und 1930, dem zweiten Zeitraum mit starker Abnahme der Bienenfresser. Doch was für so eine besondere Vogelart eine Erklärungsmöglichkeit für die großen Rückschläge in der Ausbreitung eröffnet, hilft kaum weiter bei der Betrachtung des Gesamtbefundes: Warum gab es im 19. Jahrhundert und zum Teil noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bei vielen Wärme liebenden Vogelarten größere Bestände als in der Gegenwart? Warum nahmen so viele markante Arten ab, die nicht verfolgt worden sind? Und warum stießen sie in neuerer Zeit nicht auch in ähnlicher Weise wieder vor wie die Bienenfresser, der Wendehals etwa, der gewiss keiner nennenswerten Verfolgung ausgesetzt war, oder der Ortolan, die Gartenammer (Emberiza hortulana), für den «dramatische Verluste» und in Nordwest- und Mitteleuropa ein «katastrophaler Bestandsrückgang» festgestellt worden sind (Bauer & Berthold 1996)? Andere Arten, wie der kleine Girlitz (Serinus serinus), hatten noch bis gegen 1970 zugenommen, wurden seither aber wieder selten oder verschwanden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Girlitz eine noch fast ausschließlich mediterran verbreitete Vogelart. In der Folgezeit breitete er sich aber kontinuierlich nach Norden aus und erreichte Schleswig-Holstein und Nordpolen um 1920. Bis in die 1950er Jahre dauerte seine Ausbreitung fort und der Girlitz gelangte bis in die baltischen Staaten und nach Südfinnland. Bayern wurde erst in den 1960er und 1970er Jahren von diesem kleinsten unserer Finkenvögel besie-
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delt. Doch kam es nach 1970 vielerorts schon wieder zu starken Verlusten und zum Verschwinden der Ansiedlungen. Wo der Girlitz bis Mitte der 1980er Jahre in Dörfern oder Städten durchaus häufig vorkam, fehlt er inzwischen vielfach vollständig. Seine speziellen Lebensraumansprüche – «außerhalb von Ortschaften vor allem in klimatisch günstigen, sonnenexponierten Lagen» (Bauer & Berthold 1996) – sollten ihn geradezu zur Indikatorart für die Klimaerwärmung prädestinieren. Doch fast genau das Gegenteil geschah: Der Girlitz wurde nicht nur nicht häufiger, sondern stellenweise erheblich seltener im überdurchschnittlich warmen letzten Vierteljahrhundert! Irgendwie scheint sein Rückgang eher zur Abnahme der Spatzenhäufigkeit als zur Klimaerwärmung zu passen. Die Verhältnisse sind also – wie fast immer – weitaus verwickelter, als in der üblichen, schlagwortartigen Weise angenommen wird. Die größeren Arten, wie Wiedehopf und Blauracke, Schlangenadler und Lachseeschwalbe, können daher mehr zum Verständnis der Vorgänge beitragen, die den gegenwärtigen Zustand unserer Vogelwelt und ihre Entwicklung in den letzten beiden Jahrhunderten maßgeblich beeinflusst hatten. Das Klima allein kann es sicherlich nicht gewesen sein. Daher zurück zum Wendehals, dem Gießvogel von früher, und den anderen, bekannteren Vogelarten, die im 19. Jahrhundert weit verbreitet und zumeist auch häufig waren. Am wichtigsten in seinem Lebensraum sind Ameisen, denn davon lebt der Wendehals hauptsächlich. Rasen- und Wiesenameisen entwickeln sich am besten, wo der Boden offen und sonnig ist. Ganz besonders gut geht es den Ameisen, wo sie Kolonien von Blattläusen nutzen («melken») können. Der von diesen Pflanzensaugern ausgeschiedene Zuckersaft bildet für sie eine ganz wichtige Energiequelle. Im Hitzesommer 2003 gab es zwar vielerorts wenig oder keine Stechmücken, jedoch sehr viele Ameisen. Gärten und Parkanlagen in Großstädten erweisen sich in unserer Zeit vielfach als ameisenreich, reicher jedenfalls als die Flur und auch als viele Wälder. Ein anderer Ameisenspezialist, der Grünspecht, kommt daher vergleichsweise häufig im Siedlungsraum der Menschen vor. So stark angewiesen auf Ameisen wie der Wendehals ist er allerdings nicht. Trocken, sonnig und warm waren auch die vielen Raine und Triften, die früher die
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Landschaften strukturierten. Die Flurbereinigungen verminderten diese in der Fachsprache von Landschaftsökologie und Naturschutz so genannten Strukturelemente auf geringe Reste oder entfernten sie ganz. Flurbereinigungshecken verdienen oft nicht einmal den Namen Hecke, wenn sie überhaupt überlebten. Nahezu zeitgleich mit dieser strukturellen Verarmung der landwirtschaftlich genutzten Kulturlandschaft kam die schon angeführte Überdüngung in Gang. Sie hält bis heute an und überfrachtet die freie Landschaft Jahr für Jahr mit Stoffen, die nicht nur das Wachstum der Kulturpflanzen fördern, sondern auch der wenigen anderen Wildpflanzen, die hohe Stickstoffmengen in den Böden vertragen und in rasches Wachstum umsetzen können. Bei den problematischen Pflanzen, die sich (zu) stark ausbreiten und als «aggressive Invasoren» eingestuft werden, handelt es sich um solche Pflanzen (siehe Seite 93ff.). Immer schneller wächst in unserer Zeit die Pflanzendecke im Frühjahr auf und immer dichter wird sie. Das bodennahe Kleinklima wird dadurch von trocken und warm auf kühl und feucht verändert. Für die Ameisen ist das kein gutes Mikroklima, doch wer schätzt schon Ameisen? Höchstens in der so genannten Waldhygiene wird den Großen Roten Waldameisen (Formicarufa-Gruppe) Beachtung zuteil, weil sie die Raupen von Forstschädlingen mehr oder minder gut vernichten und über die Betreuung bestimmter Blattläuse, der Lachniden, den Imkern für die Erzeugung von «Waldhonig» willkommene Hilfen sind. Die große Mehrheit der Bevölkerung betrachtet die Ameisen eher ablehnend oder günstigstenfalls gleichgültig. Beim Picknick im Grünen stören sie und manche Arten wie die kleinen gelbroten Wiesenameisen (Lasius flavus) verursachen ein schmerzhaftes Brennen an empfindlicheren Stellen. Dass man in der neuen Roten Liste der gefährdeten Tiere Bayerns rund zwei Drittel der im Lande vorkommenden Ameisenarten findet, wird nicht allzu viel Besorgnis in der Bevölkerung hervorrufen. Doch der Befund als solcher ist bezeichnend, erklärt er doch auf Anhieb, warum «Ameisenspezialisten» wie der Wendehals so selten geworden sind. Entsprechend verhält es sich mit der Nahrung von Wiedehopf und Blauracke, von Ziegenmelker und Rotkopf- oder Schwarzstirnwürger. Sie leben von Großinsekten wie Käfern,
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langsam fliegenden, ungiftigen Schmetterlingen oder großen Heuschrecken. Es sind genau die Gruppen von Insekten mit hohen Anteilen gefährdeter Arten, welche die wichtigsten Anteile an der Nahrung dieser Vögel bilden. Wie sehr nachtaktive Schmetterlinge, die ja in Artenzahl und Häufigkeit die am Tage fliegenden um das Zehn- bis Zwanzigfache übertreffen, seit den 1970er Jahren abgenommen haben, war den Abb. 21 und 22 zu entnehmen. Die entscheidende Abnahme fiel in die Zeit des raschen Übergangs von der Unterversorgung mit Pflanzennährstoffen zum Überangebot, zur Eutrophierung. Die generelle Wirkung kann durch das Zusammenspiel beider Hauptfaktoren gekennzeichnet werden: Überdüngung verdrängt die Vielfalt, weil sie wenige Pflanzenarten begünstigt, und sie verstärkt das Pflanzenwachstum so sehr, dass aus mageren, warmen und bodennah trockenen Verhältnissen «fette», kühle und feuchte geworden sind. Zu rasch wird die Pflanzendecke zu dicht und zu feuchtkalt. Daher reagierten die «Steppenarten» schon frühzeitig, doch ihr Schwinden versuchte man auf andere Ursachen zurückzuführen, wie zum Beispiel den Rückgang der Feldhasen (Lepus europaeus) auf die unter Schutz gestellten Greifvögel, auf zunehmende Fuchsbestände und die streunenden und jagenden Hauskatzen. Ihr massenhafter Abschuss zu Hunderttausenden verhalf den Hasenbeständen jedoch zu keinem Comeback, ebenso wenig wie die Wiedereinführung einer Schusszeit auf Mäusebussarde und Habichte nach Jahren der Vollschonung der Greifvögel, zunächst getarnt als «Einzelabschussgenehmigung», und der regelmäßige Abschuss der nach der EU-Vogelschutzrichtlinie als Singvögel eigentlich vollständig geschützten Rabenvögel (Krähen und Elstern) durch umfassende Ausnahmegenehmigungen. Allein in Bayern wurden Ende des so.Jahrhunderts auf diese Weise pro Jahr zwischen 80 000 und 100 000 «Rabenvögel» erlegt (Mäck & Jürgens 1999), ohne dass eine positive Wirkung damit erzielt werden konnte (abgesehen davon, dass die Jäger, die sich an diesen Abschüssen beteiligten, überzeugt waren, nun etwas «für das Niederwild getan zu haben»). Im Saarland wollte man es genau wissen und führte sechs Jahre lang einen «Totalabschuss» aller Beutegreifer in einem etwa 700 Hektar großen Revier durch (Müller 1996). Zur Strecke kamen 939 Rabenkrähen
139 Abb. 29: «Totalabschuss der Füchse» und Entwicklung der Hasenbestände im Versuchsrevier Wahlen/Saarland (nach Daten von P. Müller 1996)
Abb. 30: DieTrendlinien von Fuchsabschüssen und Hasenzuwachs ergeben keinen statistisch signifikanten Zusammenhang (vgl. Abb. 29).
(Corvus corone), 394 Elstern (Picapica), 909 Eichelhäher (Garrulusglandarius), 579 Füchse (Vulpes vulpes), 8 Dachse (Meles meles), 146 Stein- und Baummarder (Martes foina & M. martes), 15 Iltisse (Putorius putorius) und 174 Hermeline (Mustela erminea). Die «Niederwildstrecke» ergab aber nur insgesamt 93 Fasane und 46 Feldhasen. Zu einer Steigerung der Bestände kam es dennoch nicht, obwohl pro Fasan 24 Rabenvögel und pro Hase 20 Raubtiere abgeschossen worden waren. Abb. 29 und 30 zeigen, dass
140 Abb. 31: Die gleich laufenden Trends von Fasanbestand im Saarland und Straßenverkehrsverlusten beim Fasan in Südostbayern verweisen auf einen Zusammenhang mit dem Witterungsverlauf.
der Hasenbestand nicht auf die drastische Erhöhung des Fuchsabschusses reagiert hatte und der Zunahmetrend beim Fasan offenbar von der Witterung bedingt war, weil auch in den warmen Sommern Anfang der 1990er Jahre im rund 500 km von diesem Versuchsrevier entfernten Südostbayern derselbe Trend auszumachen war. Die starken Rückgänge der Arten, welche die Fluren besiedeln, lassen sich daher nicht auf die Überhand nehmenden Feinde abschieben. Deren massenhafte Tötung brachte keine entsprechenden Verbesserungen. Doch auch Jahre mit günstiger Witterung zeitigten keine den früheren Verhältnissen entsprechenden Wiedererholungen der Bestände. Besonders deutlich kommt dies beim «Steppentier» Feldhase zum Ausdruck (s. Seite 143 ff.). Auf die starke Verminderung der Hecken und Raine wurde bereits hingewiesen. Im Naturschutz beklagt man dies seitjahrzehnten. Erfolge, die zu Neuanpflanzungen führten, blieben gering. Denn die Hecken sollten an den richtigen Stellen sein; vor allem «quer zur Sonne» sollten sie wachsen oder den natürlichen Geländestrukturen (Hängen, Kanten, Triften) folgen. Die präzise Nord-Süd ausgerichtete Windschutzhecke mag für den
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einen Zweck, Windböen zu brechen, ganz tauglich sein, aber sie wirft zu wenig Schatten und hat damit auch zu wenig Sonnenseite. Schatten aber darf es möglichst nicht geben, denn dieser könnte die Produktivität der direkt angrenzenden Flur ein wenig schmälern. Vielleicht werden Schattenlagen bald wieder geschätzt sein, wenn sich die Vorhersagen zunehmend trockener und heißer Sommer bewahrheiten und der Mais in «produktiver Sonnenlage» frühzeitig vertrocknet. Auf die Verminderung der strukturellen Vielfalt der Fluren und auf ihre Überdüngung lassen sich zwar die mit Abstand meisten Rückgänge an Arten beziehen, aber nicht alle. Manche Arten, die nicht in der offenen Flur leben, begannen schon früher zu verschwinden, wie zum Beispiel die Blauracke, der Wiedehopf, der Ziegenmelker oder die Heidelerche. Beim Wiedehopf verlief der Niedergang ziemlich ähnlich wie der Rückgang der Weißstörche. Ihre Verbreitung stimmte im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in weiten Bereichen nördlich von Alpen und Karpaten überein. Der Name Wiedehopf bedeutet «Hopf der Weide» und in hohem Maße ist dieser merkwürdige Vogel auch von Viehweiden abhängig. Dort hatten vor allem die Rinder schon im Frühsommer das Gras kurz und die Bodenoberfläche zugänglich gehalten. Mit ihrem Dung versorgten sie zahlreiche darauf spezialisierte Käfer und andere Insekten, von denen und deren Larven der Wiedehopf lebt. Vielfach boten regelmäßig geschnittene Kopfweiden oder Strohlager und Heustadel draußen auf der Flur dem Wiedehopf auch geeignete Nistplätze. Mit der weitgehenden Umstellung auf Stallviehhaltung wurde der Wiedehopf zur Rarität, weil selbst dann, wenn Frühjahrs- und Sommerwitterung für ihn günstig verlaufen, die Wiesen untauglich sind. Das Gras ist zu hoch und zu dicht aufgewachsen. Großflächige Kiesgruben mit ihren «wilden Ablagerungen», in die früher die Wiedehopfe auswichen, gibt es nicht mehr. Noch krasser erging es dem früher üblichen, gelegentlichen Abflämmen von Böschungen und Triften. Es wurde gänzlich verboten, weil es Rauch erzeugt und die Kleinlebewelt schädigt. Beides trifft zwar zu, ist aber zu kurz gegriffen. Die abgeflämmten Stellen werden sehr schnell wieder besiedelt, behalten über diese Maßnahme aber ihren offenen, mageren Landschaftscha-
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rakter sowie die zugehörige Tier- und Pflanzenwelt. So wuchsen, wo sie überleben durften, diese wenigen Hecken und Triften in oft schon weniger als einem Jahrzehnt so dicht zu, dass sie ihre früher bewunderte und als so erhaltenswert eingestufte Vielfalt wegen dieser «Schutzmaßnahme» verloren. Noch weit stärkere Nachwirkungen zeitigte die Verbannung des Feuers für viele Wälder, die ihrem «Typ» gemäß auf mehr oder weniger unregelmäßige Brände durchaus eingestellt wären. Doch davon mehr im Kapitel über den Wald und wie die Aufgabe alter Waldbewirtschaftungsformen besondere Arten unserer Tier- und Pflanzenwelt rar werden ließ oder zum Verschwinden brachte. Bei Schlangenadler und Blauracke war das so, bei Heidelerche und Ziegenmelker, aber auch bei Birk- und Auerhühnern spielen Waldstrukturen und Waldbewirtschaftungsformen eine ganz wesentliche Rolle. Bei vielen Schmetterlingen, Käfern und anderen Insekten sowie bei Pflanzungen, die zwar in Wäldern wachsen, aber Licht und Wärme brauchen, verhält es sich ebenso. Hier geht es darum festzuhalten, dass Veränderungen in der Art der Bewirtschaftung des Landes gleichsam die Rahmenbedingungen für die Wirkung von Wetter und Klima so nachhaltig veränderten, dass wir ausgerechnet in der Zeit der Klimaerwärmung bei vielen Wärme liebenden Arten starke Rückgänge und in den entsprechenden Tier- und Pflanzengruppen hohe Gefährdungsgrade zu verzeichnen haben. Die Entwicklungen bei Rebhuhn und Feldhase drücken diese Zusammenhänge besonders deutlich aus. Aus den kontinentalen Steppen des (Süd-) Ostens war der Hase einst in die neuen offenen Lebensräume der Fluren nach Mittel- und Westeuropa eingewandert. Nasse Kälte ist ihm abträglich, trockenwarme (heiße) Sommer begünstigen ihn. Seine Fortpflanzungsleistung ist sprichwörtlich hoch, ähnlich wie bei den Kaninchen. Verluste durch ungünstige Witterung und die so genannten natürlichen Feinde, von denen es viele gibt, gleichen produktive Hasenbestände rasch wieder aus. Rückschläge, wie sie extrem nasse Winter oder feuchtkalte Frühsommer nach sich ziehen, sollten bei ansonsten normal günstigen Verhältnissen in einem Jahr oder in zweien schon wieder verkraftet sein. So war es auch bis in die 1970er, zum Teil auch noch bis in die 1980er Jahre mit ihren besonders günstigen Frühsommern, wie die Häufigkeitsschwankungen der Ha-
143 Abb. 32: Rückgang der Häufigkeit von Feldhasen im niederbayerischen Inntal mit Trendlinie und statistischer Signifikanz (R2)
sen im niederbayerischen Inntal zeigen. Doch die Tendenz ging stark abwärts und die kurzfristigen Zunahmen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre führten nicht mehr zu den früheren Häufigkeiten (Abb.32). Die gesamte Entwicklung über mehr als drei volle Jahrzehnte hinweg lässt ganz ähnliche Zyklen erkennen, wie sie bei zahlreichen anderen Tieren, die Wärme brauchen, aufgetreten sind. Ihre Häufigkeiten schwankten im Wechsel von ungefähr einem Jahrzehnt. Hohe Bestände gab es jeweils in den frühen 1970er Jahren, Anfang der 1980er, der 1990er Jahre und schließlich wieder 2002 und 2003 (mit dem besonders warmen Sommer!). Doch die absoluten Zahlen der Zyklen nehmen ab und der Feldhase ist ein gutes Beispiel dafür. Im mehrjährigen Mittel gingen auch die Straßenverkehrsverluste entlang eines 150 Kilometer durchmessenden Teils der Bundesstraße 12 in Südostbayern kontinuierlich zurück (Abb. 33). Diese Entwicklungen passen nicht zu den tatsächlich gemessenen Klimawerten. Im durchschnittlich noch kälteren ig.Jahrhundert hatte es viel mehr Hasen und Rebhühner als in den so warmen lggoer Jahren gegeben! Damals lebten die große Insekten fangenden, aus den Heimatbereichen der Feldhasen stammenden Rotkopf- und Schwarzstirnwürger noch verbreitet
144 Abb. 33: Rückgang der auf der Bundesstraße 12 (Ost) überfahren aufgefundenen Feldhasen in Fünf-Jahres-Gruppen. Die Abnahmetrends sind jeweils statistisch signifikant.
in Mitteleuropa. Lerchen gab es in so großer Zahl, dass der Himmel von ihren Gesängen erfüllt war, wenn im Frühjahr die «verrückten Märzhasen», ohne auf Menschen und andere Lebewesen zu achten, hinter den Häsinnen herliefen. An den Flussufern war das Land weithin offen und reich an größeren Insekten, von denen die Lachseeschwalben (Sterna nilotica) lebten, die damit ihre Jungen auf den Kiesbänken fütterten. Dort gab es den scheuen Triel (Burhinus oedicnemus) und eine Fülle von Schmetterlingen, wo inzwischen alles dicht zugewachsen ist. Wie schon bei den Rebhühnern betont, herrscht in der Frühjahrswelt der Feldhasen nun feuchte Kühle oder Kälte in den hoch aufgeschossen grünenden Wiesen oder im dichten Getreidewuchs der Äcker, auch wenn es darüber sonnig und warm ist. Gleichzeitig hat die Welt der Wildpflanzen einen Großteil ihrer Vielfalt eingebüßt, weil auf den überdüngten Fluren nur noch wenige Pflanzenarten gedeihen können, diese aber in großer Dichte und mit üppigem Wachstum. So passt der Rückgang der Feldhasenbestände genau in die Zeit der Überdüngung und «gute Hasenjahre» oder «gute Hasenreviere» zeichnen sich durch trockene Wärme im Frühjahr und magere, sandige Böden aus. Schwere, lehmreiche Böden halten Wasser und Nährstoffe ungleich besser als die durchlässigen Sandböden, sodass es gute Hasenreviere durchaus in Regionen mit feuchterer Witterung gibt. Die große Umstellung seit dem
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19. Jahrhundert lässt sich somit kennzeichnen als ein fortschreitendes Zuwachsen des «offenen Landes», verstärkt durch die Überdüngung und begünstigt durch die Verluste an Strukturen, die einst die Landschaften gliederten. Die Jäger sollten es wissen. Im 19. Jahrhundert waren Rebhuhn und Hase so häufig, dass große Treibjagden mit Dutzenden oder Hunderten von Jagdteilnehmern veranstaltet werden konnten. Die Dreifelderwirtschaft mit einem Teil brachliegender Felder, die sich erholen sollten bis zum Beginn der nächsten Nutzung, begünstigte das Niederwild und machte die herbstlichen Treibjagden zu einem gesellschaftlichen Ereignis. Ganze Wagenladungen von Hasen und Feldhühnern wurden zur Strecke gebracht. Seit den 1970er Jahren schwanden aber, aller Hege mit Winterfütterungen und Abschuss der Greifvögel zum Trotz, die Rebhuhnbestände weithin so stark, dass aus Schutzgründen ein vollständiges Abschussverbot gefordert wurde. Viele Revierinhaber stellten von sich aus die Bejagung der Rebhühner ein, um die letzten kleinen Völker nicht auch noch auszurotten. Mit ein bis zwei Jahrzehnten Verzögerung wurden auch die Hasenbestände so schwach, dass eine Bejagung vielfach nicht mehr zu rechtfertigen war. Viel wurde geforscht und geschrieben über den Niedergang des Niederwilds. Krankheiten dezimierten, wie die Kokkzidiose die Hasenbestände, Kleininsekten fehlten den frisch geschlüpften Küken der Rebhühner und Fasane und schließlich war nicht mehr zu übersehen, dass die anhaltenden Niedergänge weniger von Witterung, Feinden und Krankheiten verursacht werden als vielmehr von der Art der Landbewirtschaftung. Wo kleinräumig strukturierte Landwirtschaft bäuerlicher Prägung durch großflächige, maschinengerechte und in intensivster Weise bewirtschaftete Monokulturen ersetzt wurde, gingen die Jagdstrecken an Hasen, Rebhühnern und bald auch an Fasanen alarmierend zurück. Gleichlaufend beklagte der Vogelschutz das Verschwinden der «Wiesenbrüter», wie Brachvogel (Numenius arquata), Uferschnepfe (Limosa litnosa) und Rotschenkel (Tringa totanus) sowie von Wachteln (Coturnix coturnix) und dem Wachtelkönig (Wiesenralle, Crex crex). Wiesenbrüterprogramme, die den Landwirten Ausgleichs-
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zahlungen zukommen lassen, wenn sie mit der Mahd der Wiesen warten, bis die Gelege geschlüpft sind, wurden zu einer zusätzlichen Einkommensquelle für die Landwirtschaft. Auch die häufigste von all diesen Vogelarten, der Kiebitz (Vanellus vanellus), geriet in den starken Abwärtstrend und musste mit berücksichtigt werden, obwohl ein knappes Jahrhundert früher noch Kiebitzeier als Delikatessen gesammelt und auf öffentlichen Märkten verkauft wurden. Das «Klingeln» der Grauammern (Miliaria calandra) verklang und wurde nicht mehr gehört; das Verschwinden der weniger auffälligen Braun- (Saxicola rubetra) und Schwarzkehlchen (Saxicola torquata) fiel den Vogelkundlern mit Verspätung auf, und es dauerte viel zu lang, bis ihnen klar wurde, dass der Maienhimmel nicht mehr voller jubilierender Lerchen hängt. Die Feldlerche war weithin so rar geworden, dass sie in die «Vorwarnlisten» aufgenommen werden musste. Das nützt ihr zwar nichts, beunruhigt aber wenigstens Teile der Bevölkerung. In manchen Gebieten, wie im südlichen Bayern, hört man inzwischen viel intensiveren Lerchengesang in den kurzen Pausen zwischen dem Dröhnen startender und landender Jets auf großen Verkehrsflughäfen als über den Fluren im niederbayerischen Inntal mit den weitflächigen, übermannshohen Maisfeldern. Feldlerche, Feldhase, Feldhamster, Feldgrille und viele andere Arten der Fluren, die wir als kennzeichnend empfinden (und nicht verlieren möchten), wurden seit dem 19. Jahrhundert in den Strudel des Niedergangs hineingezogen. «Technische Flächen», wie das ganz kurzrasig gehaltene Gelände neben den Start- und Landebahnen hochfrequentierter Verkehrsflughäfen, Autobahn- und Straßenböschungen oder Industriegelände, haben mehr zu bieten als das «grüne Land», das zu grün geworden ist. Sie liefern die besten Beweise für die wirklichen Ursachen der Rückgänge so vieler Arten. Die meisten Tiere und Pflanzen, die wir als typisch für die Fluren betrachten, stammen aus den östlichen und südöstlichen Steppengebieten. In den Steppen gibt es von Natur aus viel Sonne, wenig oder kaum Schatten, austrocknenden Wind, der mit dem Staub von irgendwoher frische Nährstoffe bringt, und tiefe, stabile Böden, in die sich Tiere und Pflanzen zur Überwinterung zurückziehen können oder wo manches Tier Schutz vor Feinden findet. Steppenbrände können vorkommen, zumal wenn
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sich zu viel verfilzter, noch nicht verrotteter Bodenbelag aus dürrem Gras gebildet hat. Das Feuer mineralisiert dann schneller als die Zersetzung in Humus, erzeugt aber grundsätzlich die Ausgangsstoffe wieder: Mineralsalze (Asche), Kohlendioxid und Wasser sowie je nach Art der Feuer mehr oder weniger Ruß. Eine zusätzliche Düngung gibt es nicht. Mineralstoffe sind rar und der Überschuss an organischem Material, den die Pflanzen erzeugen, wird zu Humus. Entsprechend viele Tiere gibt es, die im und vom Humus leben oder von den Wurzeln und Knollen, in denen die Pflanzen ihre Reserven für den nächsten Wachstumsschub speichern. Gräser sind, meistens durch Einlagerungen von Silikaten, hart und schwer zu verdauen. In den Wiederkäuermägen von Wildtieren, wie Hirschen, Wildschafen und Wildziegen, verarbeiten Mikroben das Gras und wandeln es in «wertvolleres» Mikrobeneiweiß um. Viele Insekten oder ihre Larven, die im Boden von Mulm oder Wurzeln leben, setzten gleichfalls Mikroben, zumeist Bakterien, ein, um diese Stoffe verwertbar zu machen. «Organische Düngung» ist im Wesentlichen auf solche Vorgänge ausgerichtet. Die große Umstellung in der Landwirtschaft änderte die grundlegenden Vorgänge im Boden und in den Pflanzen von langsamer Freigabe von Mineralstoffen aus organischem Dünger (Humus) zu schneller Verfügbarkeit über den Mineraldünger. Die Humusbildung wurde nicht nur nicht mehr gefördert, sondern die Humusverluste durch Zersetzung nicht ausgeglichen. Das ganze Geschehen ist viel zu komplex, um es auf knappe Weise zusammenfassen zu können. Die Verlagerung der Pflanzenproduktion auf möglichst viele direkt von Mensch und Vieh verwertbare Produkte stellt ein vernünftiges und legitimes Ziel der Landwirtschaft dar. Produktion einheitlicher Massen vereinfacht und verbilligt die Weiterverarbeitung. Diese Rationalisierung kostete Artenvielfalt. Sie nahm den früheren bäuerlichen Kulturlandschaften viel von ihrer Schönheit. Es geht hier nicht darum, dies zu beklagen, sondern es geht um die Ursachen für das Seltenwerden und Verschwinden von Arten. In der landwirtschaftlich genutzten Kulturlandschaft sind die Rückgänge und Verluste zu weit über 90 % diesem Zusammenwirken von Strukturverlust und Überdüngung zuzuschreiben (Reichholf 2004). Mit Wetter und Klima haben diese Entwicklungen wenig zu tun. Güns-
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tige Jahre verursachen kurzfristige Erholungen der Bestände und nähren bei den Naturfreunden Hoffnungen, die sich jedoch nicht erfüllen. Das 19. Jahrhundert war eine Zeit, in der die Böden praktisch ausnahmslos extrem übernutzt wurden. Auch die letzten Ecken und Winkel waren in irgendwelche Nutzungen einbezogen. Sogar steile Hänge und schmale Raine wurden beweidet; mit Ziegen in kleinem Maßstab und mit Schafherden, die durchgetrieben wurden, in mehr oder weniger regelmäßigem Turnus. Das Vieh führte man noch im Spätherbst aufwiesen und Weiden hinaus, damit es das letzte Grün, das die Sense nicht mehr hätte fassen können, abgraste, bevor der Winter kam. Die in Kapitel 5 beschriebenen Landschaftsbilder des frühen 19. Jahrhunderts entstanden unter solchen Verhältnissen. Beim Artenschutz wie auch beim Schutz von Landschaftsteilen wird heute immer noch dieser Zustand zugrunde gelegt. Ist das richtig? War die Zeit des großen Mangels die gute Zeit? Für wen war sie das? Für viele Tier- und Pflanzenarten zweifellos! Denn in der Natur gilt, dass Mangel und Vielfalt zusammengehören. Im kulturellen Bereich des Menschen sowie in seiner Technik und Wirtschaft scheint es sich nicht wesentlich anders zu verhalten. Fülle ist instabil. Sie kann schnell zur Neige gehen. Was bleibt und sich immer wieder als überlebensfähig erweist, ist der Mangel. Er tritt immer und überall irgendwie zutage. In der Pflanzendüngung wie auch in der Chemie kennt man dieses Prinzip als das «Minimumgesetz». Aufgestellt hat es der deutsche Chemiker Justus von Liebig, der «Erfinder» der künstlichen Düngung in der Landwirtschaft. Doch der «Minimalfaktor», an dem die Produktion hängt, steht in diesem System natürlich nicht allein. Er ist eingebunden in das Zusammenspiel mit vielen anderen Faktoren. Wärme kann nur mit Wasser Wachstum bewirken, doch dieses wird (ver)kümmern, wenn es nicht genug Mineralstoffe dazu gibt oder wenn diesen ein entscheidendes Spurenelement fehlt. Daher wird «die Klimaerwärmung» so gut wie nirgends einfach durch mehr Wärme in den Lebensvorgängen wirken können. Eine Steigerung um 10°C, so lernt man in der Chemie, beschleunigt eine organisch-chemische Reaktion auf die doppelte Geschwindigkeit. Ein halbes Grad Anstieg, wie es derzeit gemessen wird, kann somit unter ansonsten güns-
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tigen Bedingungen gerade einmal 5 % «Zulage» bringen. Ob dies im allgemeinen Schwanken der wirklichen Lebensbedingungen von Bedeutung ist, sei dahingestellt. Jedenfalls geben die Befunde zum 19. und 20. Jahrhundert nicht gerade reichlich Aufschluss über anhaltende Auswirkungen der Klimaerwärmung in der lebendigen Natur. Schmelzende Gletscher in den Alpen sind jedoch etwas anderes als höchst verwickelte Lebensgemeinschaften von Mikroben, Pflanzen, Tieren und dem Einwirken des Menschen. Die Rückblicke in das 19. Jahrhundert sagen daher weit mehr über die Bedeutung und Wirkung von Kulturmaßnahmen des Menschen oder deren Aufgabe und Umwandlung in andere Formen der Bewirtschaftung, als sie Aufschluss über drohende Gefahren aus der Klimaerwärmung geben können. Zumindest auf der «regionalen Skala» der einen Million Quadratkilometer, die als «Mitteleuropa» charakterisiert werden kann. Über die Abbremsung des Klimawandels oder gar seine Rückführung auf die «früheren Verhältnisse» (welche eigentlich?) werden wir die Vielfalt der Arten in Mitteleuropa nicht erhalten können. Bis überhaupt irgendwelche Maßnahmen zur Stabilisierung des Klimas, was immer das bedeuten mag, irgendwann in der Zukunft greifen werden, ist der größte Teil der Artenvielfalt verloren gegangen. Dies sagen die Entwicklungen in den Roten Listen der letzten 30 Jahre sicherlich deutlicher und verlässlicher als die Prognosen zur Klimaentwicklung aus.
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Kuckucksrufe
Was also soll es bedeuten, wenn festgestellt oder einfach nur behauptet wird, die Zugvögel kämen jetzt wegen der Klimaerwärmung früher an? Für wen wäre so ein Befund wichtig, sollte die frühere Ankunft tatsächlich zutreffen? Ist eine frühere Ankunft «gut» oder «schlecht» für die betreffende Vogelart und was besagt sie für den Menschen? Müssen wir eine frühere Rückkehr als ein Menetekel betrachten? Und wenn ja, wovor warnen diese «Zeichen an der Kalenderwand»? Frühe Geburten bei Wildtieren, so weiß man aus der Wildbiologie, sind günstig, weil die Jungtiere dann den ersten, für sie meist besonders kritischen Winter eher überleben. Mit den Erstbruten erzielen viele Vogelarten in der Regel bessere Erfolge als mit den später im Jahr liegenden Zweitbruten. Manche Arten können sich wegen der Enge ihres Zeitbudgets gar keine zweite Brut mehr leisten. Ein früherer Beginn der Brutzeit sollte also die Fortpflanzungschancen eher vergrößern als verschlechtern. Frühe Ankunft sichert die besten Brutreviere. Vogelschutzverbände pflegen immer wieder davor zu warnen, die Vögel außer in echten Notzeiten zu füttern, weil die «Standvögel» damit zu große Vorteile gegenüber den Zugvögeln bekämen. Kommen diese aus den Winterquartieren zurück, finden sie die Standvögel in höheren, also für sie ungünstigen Beständen vor. Die Verspäteten sollten somit in jeder Hinsicht die Benachteiligten sein! Eine genauere Begründung fehlt in aller Regel, warum eine frühere Rückkehr der Zugvögel so schädlich und schlecht sei. Es wird auch überhaupt nicht Bezug genommen auf das Ausmaß der ganz natürlichen Fluktuation von Jahr zu Jahr, die ganz erhebliche Unterschiede schon bei den Erstankunftsdaten beinhalten kann. Der tatsächliche Einzug des Bestandes wird dann ohnehin kaum mehr verfolgt, von Nestbau und Eiablage, Schlüpfen der Jungen und Erfolg der Brüten ganz zu schweigen. Dazu gibt es nur
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für wenige Arten und einzelne Gebiete Untersuchungen aus in aller Regel zu wenigen Jahren, um langfristige und überregionale Trends beurteilen zu können. Denn solche Untersuchungen sind viel zu aufwändig und würden nur in Ausnahmefällen überhaupt von den Naturschutzbehörden «genehmigt». Die Artenschutzverordnungen der letzten Jahrzehnte stellen das weitaus größte Hemmnis für solche Forschungen dar, die seitens der Naturschutzbehörden gerade im Interesse der Ziele dieses Artenschutzes am intensivsten gefördert werden müssten und für die es die geringsten juristischen Hürden geben sollte. So aber geben die massiven Einschränkungen umso größeren «Freiraum» für Spekulationen. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass dies durchaus auch gewollt ist, denn so kommen kaum Befunde zustande, die zur gewünschten Richtung vielleicht nicht so recht passen würden oder gar ihr widersprechen könnten. Der weitaus größte Teil des «Artenschutzes» würde sich womöglich gar nicht mehr aufrechterhalten lassen, wenn bekannt würde, dass er nicht nur nichts gebracht hat, weil die Bestimmungen die Falschen treffen, sondern selbst mit zum Verursacher von Artenrückgängen geworden ist. Doch dies soll in der abschließenden Betrachtung ausführlicher behandelt werden. Solange in einer früheren Ankunft der Zugvögel oder im Auftreten «südlicher Arten» in entsprechenden Kreisen des Vogel- und Naturschutzes nur «warnende Zeichen für den drohenden Klimawandel» gesehen werden, betrifft das wenigstens die Vögel und all die anderen Arten nicht unmittelbar. Die Meinungen und Einschätzungen mancher Menschen können und werden ihnen gleichgültig sein. Sie hatten sich immer schon mit einer variablen Natur und mit unterschiedlichen Verläufen der Witterung auseinander zu setzen. Das Ausmaß dieser natürlichen Variabilität kennen wir zumeist gar nicht – und heutzutage wollen es manche Natur- und Umweltschützer offenbar auch gar nicht wissen. Der «Fall» des Kuckucks, eines tropischen Fernziehers und unverkennbaren Zugvogels, soll nun einige Aspekte dieses Bereichs verdeutlichen. Als Vogelart bringt der Kuckuck zwei ganz entscheidende Vorteile zur Behandlung der Fragen zu Erstankunft, jahreszeitlicher Einteilung des Fortpflanzungsgeschehens und Abhängigkeit von den Umweltbedingungen und ihrer Variabilität mit sich. Erstens
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wurden seine Rufe seit langen Zeiten schon beachtet und wohl niemals verwechselt. Zweitens verbindet ihn sein Brutparasitismus mit ganz unterschiedlichen Vogelarten. So ist der Kuckuck Indikator für sich selbst und für andere Vögel. Außerdem verblüfft seine Lebensweise immer wieder und längst ist noch nicht «alles» über den Kuckuck bekannt, auch wenn es umfangreiche Monographien (Makatsch 1955, Wyllie 1981 und Davies 2000) und umfassende Artbearbeitungen in vogelkundlichen Zeitschriften (Löhrl 1979, Reichholf 1983) und Handbüchern (Glutz von Blotzheim 1980) gibt. Das Brutparasit-WirtsvogelSystem des europäischen Kuckucks (Cuculus canorus) bietet geradezu Lehrstücke zur Ökologie und zur Evolution. Der Ruf des Kuckucks ist unverkennbar und allgemein bekannt. Aber handelt es sich um eine Täuschung, dass der Kuckuck früher häufiger war? Wer sich gut genug erinnert oder wer gar Aufzeichnungen dazu gemacht haben sollte, wird nicht umhinkommen festzustellen, dass man seit Jahren schon den Kuckucksruf immer seltener zu hören bekommt. Vielleicht überraschte der Kuckuck auch manche Menschen in der Stadt, wenn sein Ruf plötzlich aus den Bäumen in der Nachbarschaft ertönte. «Am 14. kann er kommen, am 15. soll er kommen und am 16. muss er da sein», so lautete die Volksmeinung zur Ankunft des Kuckucks im niederbayerischen Inntal, meiner Heimat, und nicht nur dort war auch die Verknüpfung mit dem Geld, das man in der Tasche haben sollte, wenn der erste Ruf des Kuckucks erklang, allgemein verbreitet. Es rührte von der früher üblichen Praxis, zu «Lichtmess» den Arbeitgeber, falls nötig, zu wechseln. Wer bis zum Eintreffen des Kuckucks noch kein Geld in der Tasche hatte, dem fehlte noch der Arbeitsplatz – eine hintersinnige Ironie bei den damaligen Verhältnissen und der Unsicherheit der Arbeitsplätze. Wie sehr sich doch mitunter die Zeiten auch wieder ähneln! «Zum Kuckuck» geschickt zu werden war auch nicht gerade freundlich gemeint, und wenn «der Kuckuck» an die Tür zur Wohnung geklebt worden sein sollte, war man hinausgeschmissen. Der Kuckuck galt als unsteter Bursche, der mal hier, mal dort auftaucht und sich eins lacht, weil man ihn zwar immer hört, aber fast nie zu Gesicht bekommt. Tatsächlich stammt das «Lachen» aber vom Kuckucksweibchen; ein mit guter Nachahmung seines Rufes gereizter
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Kuckuck verdoppelt vor Aufregung seinen Ruf und scheint sich dabei regelrecht zu überschlagen, weil er den vermeintlichen Nebenbuhler nicht ausmachen kann. Es war leicht in früheren Zeiten, einen Kuckuck bis auf ein paar Meter in den Baum zu locken, in dem man sich versteckt hielt und seinen Ruf mit Blasen in die hohl zusammengefalteten Hände imitierte. Vor 30 Jahren und früher waren Kuckucke tatsächlich beträchtlich häufiger als jetzt. Wie groß der Unterschied geworden ist, lässt sich nur recht unvollständig ermitteln, weil eben früher kaum jemand Kuckucksrufe zählte. Wofür hätte man ihn denn auch gehalten?! Vogelkundler und manch andere Leute registrierten vielleicht die ersten Kuckucksrufe als «Erstankunft» und es war klar, dass die Ankunft umso früher stattfand, je schöner das Wetter im April war – und umgekehrt. Kuckucksrufe und schöne Tage im Frühling gehörten zusammen. Zuerst waren sie auch tagsüber zu hören, später, in der zweiten Maihälfte etwa, vornehmlich am Morgen und Abend. Schließlich wurden sie seltener. Im Juni musste man schon sehr früh nach draußen, um im ersten Morgenlicht im vielstimmigen Chor der Singvögel auch den Kuckuck zu vernehmen. Im Laufe des Sommers verschwanden die Rufe schließlich ganz. Kundige konnten aber den wie eine grobe Mischung zwischen Sperber und Falke aussehenden und eigenartig fliegenden Kuckuck durchaus im Hochsommer beobachten, wenn dieser über Waldwege oder Lichtungen flog. Was besagen nun aber solche Erinnerungen an Eindrücke aus früheren Jahrzehnten? Speicherten wir sie in gleichsam komprimierter Form im Gedächtnis? Ziehen wir womöglich falsche Schlüsse aus der Erinnerung, die bekanntlich allzu schnell zur Einbildung werden kann? Gerade auch deshalb, weil der Kuckuck so ein «volkstümlicher Vogel» ist, braucht die Erinnerung sichere Stützen. Was seine Ankunft im Frühjahr und seine Häufigkeit betrifft, wird bei keinem Menschen die Erinnerung allein ausreichen, um aus der Vergangenheit für die Gegenwart Schlüsse ziehen zu können. Das ist nicht nur beim Kuckuck so. Wir vergessen zu leicht und holen zu leichtfertig aus dem Gedächtnis, was zur gerade vorhandenen Meinung passt. Niemand ist dagegen gefeit; Sicherheit geben nur die Notizen und Befunde, die damals gemacht wurden, ohne dass erkennbar gewesen ist, welchem Zweck sie (viel) spä-
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ter einmal dienen könnten. Wo das Vorhaben bereits gefasst ist, besteht die Gefahr, dass die Datenerhebung «selektiv» erfolgt. Besonders so genannte Freilanduntersuchungen unterliegen dieser Gefahr, zumal wenn sie mit einem «Forschungsauftrag» verbunden sind. In diesem Sinne sind Kuckucksrufe auch «Warnrufe», und zwar bessere als das Unken der Unken, das man hört, aber nicht so recht orten kann. Der Kuckucksruf ist klar, unverwechselbar, und um den «Erstruf des Jahres» zu registrieren, sind keine besonderen Kenntnisse vonnöten. Deshalb sind sie früher genau so richtig festgestellt worden wie in unserer Zeit mit so vielen perfekten Ornithologen. Verbesserung der Kenntnisse und der Technik, wie bei den Ferngläsern und Vogelbestimmungsbüchern, spielen für die Feststellungen zum Kuckuck, zu seiner Erstankunft und zu seinem Vorkommen sicherlich keine Rolle. Deswegen können wir auch die «modernen Daten» mit den alten Befunden bis weit zurück ins 19. Jahrhundert ohne weiteres zusammenbringen. So wird im ersten Band der Bavaria von 1860, der «Landes- und Volkskunde des Königreichs Bayern» zum Kukuk auf Seite 197 festgestellt, «er ist von Mitte oder Ende April bis zum August in unseren Waldungen gemein, und seinem Rufe, weniger seiner Gestalt nach, Jedermann bekannt». Genauso verhielt es sich ein Jahrhundert später (Wüst 1986) und gegenwärtig ist es nicht anders (Abb. 34).
Abb. 34: Jahreszeitliche Verteilung der Rufaktivität des Kuckucks in den Innauen von 1998 bis 2003 (Ornithologische Datenbank Unterer Inn, K. Billinger)
Abb. 35: Trend der mittleren Erstfeststellungen des Kuckucks am unteren Inn vom Ende der 1950er Jahre bis 2003 (Durchschnittswerte)
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Wenige Kuckucke rufen schon in der ersten Aprilhälfte. Ab Mitte April steigt die Rufaktivität stark an und erreicht (tagsüber) in der ersten Maihälfte ihren Höhepunkt, um danach kontinuierlich bis in den Juli hinein auszuklingen. Die Daten zur «Erstankunft», also zu den ersten Kuckucksrufen, die bemerkt worden sind, stellen somit typische Randdaten dar, die ähnlich wenig bedeuten wie etwa Angaben zur ersten Schwalbe des Jahres oder zum ersten Gewitter. Dennoch werden zumeist nur die Erstankunftsdaten registriert und für vermeintliche (oder tatsächliche) Veränderungen weiterverwendet. Dass die Erstankunftsdaten mit der Witterung schwanken, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Beim Mauersegler (Kap. 3) wurde bereits darauf hingewiesen. Wie verhält es sich aber nun beim Kuckuck? Abb. 35 enthält die Erstankunftsdaten für eines der Hauptvorkommen der Art im nördlichen Alpenvorland, in den Auen am unteren Inn, für die Zeitspanne von rund einem halben Jahrhundert. Eine frühere Ankunft gab es demnach tendenziell nicht. Eher könnte eine leichte «Verspätung» im Vergleich zu den früheren Jahrzehnten daraus abgelesen werden, doch erweist sich die Abweichung als statistisch bedeutungslos. Die Verteilung der Erstankunftsdaten gruppiert sich hingegen langfristig ganz
156 Abb. 36: Verteilung der Erstfeststellungsdaten des Kuckucks in den Auen amunteren Inn. Die Werte streuen um die mittlere Ankunftszeit zwischen 11. und 15. April.
normal um den mittleren Ankunftstermin der ununterbrochenen Serie von 1971 bis 1995. Der «passende» Randwert kommt sogar noch mit hinzu, wenn Angaben aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einbezogen werden (Abb. 36). Sehr frühe Erstankunftsdaten lassen sich der vogelkundlichen Literatur entnehmen. So schrieb Wüst (1986) ganz bezeichnend und zutreffend: «Zum Ein- und Wegzug des Kuckucks in Bayern sind in fast hundert Jahren Bände von Aufzeichnungen gesammelt worden, die im Wesentlichen bestätigen, was schon Jäckel (1891, S. 81) wusste. Sicher erscheint uns aber nun, dass einzelne Ausreißer schon im März eintreffen, sogar bereits gegen Mitte dieses Monats.» Fünf diesbezügliche Daten führt er für die Zeit vom 11. bis 22. März an. «Regulär ziehen die Kuckucke jährlich je nach Witterung schwankend im Lauf des mittleren und späten Aprils ein, in milden Tallagen früher, im Mittelgebirge später, zuletzt, bis Ende Mai, im Hochgebirge.» Der letzte Teil dieser Feststellung, welche die vogelkundlichen Befunde aus mehr als einem Jahrhundert zusammenfasst und mit den oben zitierten Angaben aus der Mitte des 19. Jahrhunderts inhaltlich übereinstimmt, sollte eigentlich
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überraschen. Denn der Kuckuck kommt als Zugvogel aus dem zentralafrikanischen Winterquartier zurück. Er ist also ein «Fernzieher» mit einem angeborenen «Zeitprogramm» für seinen Zug. Die flügge gewordenen Jungvögel ziehen einzeln und ohne Begleitung erfahrener Altvögel diesem Programm folgend ins afrikanische Winterquartier und kehren im nächsten Frühjahr von dort auch wieder zurück. Ein Zielgebiet wie Bayern dürfte so gut wie keine Zeitunterschiede in der Ankunft aus Afrika erkennen lassen, sind die Flugstrecken für die Kuckucke doch gleich weit, egal ob sie zum unteren Inn, in den Münchner Raum im Alpenvorland oder auch nach Nordbayern kommen. 200 Kilometer Unterschied im Zielgebiet können bei einer Entfernung vom Überwinterungsgebiet von 6000 bis 8000 Kilometern keine nennenswerte Verzögerung ergeben. Vom unteren Inn bis Nordbayern sollte der Kuckuck in wenigen Flugstunden, also leicht in einer Nacht, kommen. Ein bis zwei Wochen Unterschied in der Erstankunft sind da viel zu lange; im Dauerflug bei Nacht würden sie ohne weiteres für die gesamte Strecke des Zuges vom afrikanischen Winterquartier bis Nordbayern ausreichen. Natürlich sind die Kuckucke längst eingetroffen, bevor sie aus den Flusstälern mit ihren Auen in die höheren Lagen weiterwandern. Sicherlich tun sie auch nicht gleich ihre Ankunft mit Rufen kund. Dazu gibt es genügend Einzelbeobachtungen oder Fänglinge, wie sie bei der wissenschaftlichen Vogelberingung auftreten. In den Flussniederungen beginnt die Entwicklung der Vegetation früher als im angrenzenden, höher gelegenen Gelände. Die Kuckucke finden dort erste Raupen an den Blättern, Nahrung also, die ihre Verluste an Energiereserven ausgleichen muss, welche sie der lange Zug aus dem Winterquartier gekostet hat. Doch das ist nicht der alleinige, in manchen Fällen auch gar nicht einmal der Hauptgrund für die so unterschiedlichen «Ankunftszeiten» im gleichen geografischen Raum. So sind etwa die Verhältnisse in der Entwicklung der Vegetation im Frühjahr an Isar und unterem Inn gar nicht so verschieden, denn die höhere Lage des Isartals gleichen die häufigen und im Vergleich zum unteren Inn auch weitaus stärkeren Föhnlagen durchaus aus. In Jahren mit viel Föhn kann die Vegetationsentwicklung im Isartal bei München sogar weiter vorangekommen sein als am unteren Inn. Dennoch kommen dort
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die Kuckucke im Durchschnitt erheblich früher an. Der Unterschied machte von 1995 bis 2003 im Durchschnitt 20 Tage aus (Minimum 5 und Maximum 53 Tage). Zudem schwankten die Erstankunftsdaten für das Isargebiet auch weit stärker als am unteren Inn, nämlich um mehr als 15 Tage um den 7. Mai, während es im selben Zeitraum am unteren Inn nur knapp 7 Tage Schwankung um den 17. April gab. Mit der Witterung kann man so große Abweichungen für zwei auf fast gleicher geografischer Breite nur 150 Kilometer auseinander liegende Gebiete gewiss nicht erklären. Die Gründe für diesen Unterschied zeigen, in welch großem Umfang die zurückkehrenden Zugvögel von den örtlichen Lebensbedingungen abhängen. Betrachten wir dazu zunächst – ausgehend vom Brutparasitismus des Kuckucks – sein Leben in den Auen am unteren Inn. Seine Fortpflanzung verläuft in groben Zügen folgendermaßen: Mit den markanten Rufen tun die Männchen den Weibchen kund, wo sie sich aufhalten, während sie gleichzeitig ihre männliche Konkurrenz auf Distanz zu halten versuchen. Die Kuckucksrufe insgesamt drücken daher beides aus, die Aktivität der einzelnen Kuckucksmännchen und die Häufigkeit der Kuckucke im Gebiet. Viel schwieriger ist es, die Weibchen festzustellen, weil sie sehr vorsichtig sind und das auch sein müssen. Ihr «Lachen» reicht nicht aus, um die Zahl der Weibchen in einem Gebiet zu ermitteln. Das extrem «heimliche» Verhalten der Kuckucksweibchen ist deswegen notwendig, weil sie verschiedene Wirtsvögel, möglichst von derselben Art, bei der sie selbst aufgewachsen und auf die sie damit geprägt sind, beim Nestbau und bei der Eiablage beobachten müssen, um im rechten Moment ihr eigenes Ei in ein Nest legen zu können, dessen Gelege vollständig genug, aber noch nicht richtig bebrütet ist. Das Weibchen entnimmt diesem Nest ein Ei und verzehrt es. Dann dreht es sich blitzschnell um und legt ein eigenes Ei dazu. Dieses stimmt in Form und Größe einigermaßen, aber nicht unerkennbar täuschend, mit den Wirtsvogeleiern überein. Kontrolliert man die Nester, etwa von Rohrsängern, die sich leicht finden lassen, und enthalten sie ein Kuckucksei, so fällt dieses in aller Regel sofort auf. Es gibt, wie die vielfältigen Forschungen gezeigt haben, so genannte Wirtsvogel-Rassen beim Kuckuck, also zum Beispiel «Rohrsänger-Kuckucke», «Hecken-
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braunellen-Kuckucke» oder «Rotkehlchen-Kuckucke». Das Spektrum der festgestellten Wirtsvögel ist weit. Es umfasst Dutzende von Singvogelarten. Intensiver genutzt werden aber stets nur einige wenige Arten. Welche Vorbedingungen diese zu erfüllen haben (aus der Sicht des Kuckucks) oder welche Abwehrmaßnahmen sie aus ihrer Lage heraus ergreifen, wird später noch behandelt. Denn die Kuckucke können nicht einfach ihre Eier «streuen», also sie, sobald das Weibchen wieder ein Ei fertig im Eileiter hat, in das nächste «passend erscheinende» Nest ablegen. Eine ganze Anzahl von Kleinvögeln erkennt das falsche Ei und gibt das Gelege auf. Nur für einen mehr oder minder kleinen Teil der eigenen Eier kann das Kuckucksweibchen das Risiko eingehen, ein Ei in das Nest einer anderen Vogelart zu legen als der, von der es selbst großgezogen worden ist. Der eigene Erfolg stellt gleichsam die Garantie für den möglichen Erfolg der nun abzugebenden Eier dar! Allein aus diesem Grund wird klar, warum die Kuckucksweibchen solche Stellen aufsuchen, an denen die Wirtsvogelart, aus der sie stammen, in möglichst großer Anzahl auf möglichst engem («überschaubarem») Raum nistet. Entdeckt sollten sie bei ihrer Nestkontrolle nicht werden, denn die Singvögel beginnen sogleich, auf sie zu «hassen». Da diese ihre Gelege in vergleichsweise kurzer Zeit vervollständigen – üblicherweise jeden Tag ein Ei – und ihr Nisten zeitlich auch nicht allzu weit auseinander gezogen verläuft, müssen die Kuckucksweibchen buchstäblich zur richtigen Zeit am rechten Ort sein. Die rufenden und erheblich auffälliger in «Sperbertracht» herumfliegenden Männchen lenken dann oftmals die Angriffe der Singvögel auf sich. Das kommt den beobachtenden Weibchen zugute. Gelingt den Kuckucksweibchen dann die erfolgreiche Ablage ihrer Eier in Nestern der passenden Wirtsvögel, verlagert sich der zweite, der aufwändigere Teil der Fortpflanzung nun auf diese. Das fremde Ei wird mitbebrütet. Aus ihm schlüpft der Jungkuckuck oft schon, bevor die Eier der Wirtseltern so weit sind. Er praktiziert von diesen dann Ei für Ei auf eine Nische seines Rückens und stemmt sich, halb rückwärts, halb aufwärts kriechend, bis zum Nestrand hoch und kippt nach und nach alle Eier oder kleine Junge der Wirtsvögel, so diese schon geschlüpft sein sollten, hinaus. Der Brutparasit verbleibt alleine im Nest. Von nun an haben die Wirtseltern keine Chance
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mehr, sich seiner «Wirkung» zu entziehen. Er bettelt intensiv mit hoher Stimme, welche die Bettelrufe der Wirtsvogeljungen nicht nur nachahmt, sondern noch stärker als diese zusammen auf die Eltern wirkt, und zeigt dabei bei jedem Kommen der Zieheltern einen leuchtend gelbroten bis roten Sperrrachen. Eine Hemmung verhindert, dass er diesen schließt, bevor sich der fütternde Wirtsvogel zurückgezogen hat. Bei sehr kleinen Wirten, wie dem Zaunkönig oder vielleicht auch bei einem Zilpzalp (Weidenlaubsänger, Phylloscopus collybita), bestünde ansonsten die Gefahr, vom groß gewordenen Jungkuckuck, dem sie zum Füttern mitunter sogar auf den Kopf fliegen müssen, verschluckt zu werden. Imitation der nur im Nahbereich zu hörenden Bettelrufe und leuchtend roter Rachen, der strotzende Gesundheit verheißt, weil die Färbung (gelbrot bis blutrot) nicht vom Blut, sondern von den im Rachenbereich gespeicherten, für die Gesundheit der Jungvögel sehr wichtigen Karotinoiden stammt, zwingen die Wirtseltern regelrecht, den Brutparasiten unter Aufbietung aller Kräfte großzuziehen. Sie müssen ihn sogar noch viel länger versorgen, als das bei den eigenen Jungen der Fall wäre, denn diese sind nach einer Nestlingszeit von etwa zwei Wochen flügge, während der Jungkuckuck gut drei Wochen braucht, um so weit zu sein. Danach wird er weitere zwei bis drei Wochen gefüttert. Das ergibt für die betroffenen Wirtsvögel in etwa eine Verdopplung der Fütterungszeit bei mindestens dreifacher Futtermenge, wie sie für die eigene Brut nötig gewesen wäre. Ende Juli spätestens sollten die Jungkuckucke sodann flügge und in guter Kondition sein, um eigenständig und ohne Führung durch die Altvögel den ersten Flug in das Tausende von Kilometern entfernte Winterquartier in den inneren Tropen Afrikas zu schaffen. Für diese Flugleistung benötigen sie einen entsprechenden Vorrat an Fett. Anfang bis Mitte Juli flügge gewordene Jungkuckucke liegen zeitlich günstig; später ausgeflogene schaffen es oft nicht mehr, rechtzeitig in die richtige Kondition zu kommen. Die Abhängigkeit von den Wirtsvögeln stellt also für den Kuckuck durchaus auch eine Einschränkung dar. Er muss mit dem Grad seiner Parasitierung in der Wirtsvogelpopulation selten genug bleiben, um bei diesen keine allzu heftigen Abwehrreaktionen hervorzurufen. Deren Fortpflanzungszyklus und Ernäh-
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rungsweise müssen zudem zu den eigenen Bedürfnissen passen. Arten, die ihre Jungen zu bald mit Körnern oder anderen Pflanzenstoffen füttern, kommen nicht in Frage; Brüten, die zu spät im Jahr begonnen werden, auch nicht. Und besonders früh brütende? Auch sie sind nicht geeignet, da der Kuckuck noch früher aus dem Winterquartier zurücksein müsste, um die Weibchen bei Nestbau und Eiablage beobachten zu können. Seine Rückkehr um die Aprilmitte schließt ohnehin das Risiko mit ein, von unzeitgemäßem Schneefall und Spätfrost getroffen zu werden. Für einen Tropenvogel stellt dies in doppelter Weise eine lebensgefährliche Bedrohung dar. Erstens ist sein Organismus nicht auf Kälte, auf Temperaturen unter null, eingestellt und zweitens gibt es dann für ihn keine Nahrung mehr, von der er als reiner Insektenfresser leben könnte. Der Kuckuck hat es nicht leicht. Dennoch muss sich sein Brutparasitismus in der Vergangenheit «gelohnt» haben, sonst wäre er nicht zustande gekommen und er hätte sich auch nicht in dieser Form einer vollständigen Abhängigkeit von den Wirtsvögeln erhalten können. Die mit dem Brutparasitismus verbundene Fortpflanzungsleistung der Kuckucksweibchen darf, nach allem was wir aus der Evolutionsbiologie wissen, nicht schwächer geworden sein. Sie muss zumindest dasselbe Leistungsniveau sichern können wie bei eigenständigem Brüten, sollte aber aller Wahrscheinlichkeit nach mehr gebracht haben als die Beibehaltung des normalen Brütens. Tatsächlich legen die Kuckucksweibchen auch rund doppelt so viele Eier wie ihrer Größe (ihrer Körpermasse) entsprechende andere Vögel mit selbständigem Brüten. Drei bis vier flügge Junge, die von einem Kuckucksweibchen stammen, mitunter aber auch durchaus mehr, scheinen den durchschnittlichen Fortpflanzungserfolg auszumachen. Wenn der Wirtsvogelpartner «mitspielt», d. h. keine entsprechende Abwehr von seiner Seite kommt. Abwehrstrategien gegen den Brutparasitismus des Kuckucks sind jedoch von zahlreichen «möglichen» Wirtsvögeln entwickelt worden. Der Brutparasitismus des Kuckucks ist keine Neuentwicklung. Seine Ursprünge reichen weit zurück in die Jahrmillionen der großen Entfaltung der kleinen Singvögel im Tertiär. Neueren Schätzungen zufolge wird ein Alter dieses brutparasitischen Verhaltens von mehr als zehn Millionen Jahren angenommen
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(Davies 2000). Die Anfänge und allmählichen Übergänge zur Extremform, wie sie beim europäisch-nordasiatischen Kuckuck (Cuculus canorus) zustande kam, reichen sicher noch viel weiter zurück. Denn die Kuckucksvögel sind eine stammesgeschichtlich sehr alte Vogelfamilie. Es gab sie schon, lange bevor die Singvögel entstanden. Knapp die Hälfte ihrer 135 Arten, nämlich etwa 50, sind Brutparasiten. Aber nur wenige parasitieren ihre Wirtsvögel so extrem und in so vollständiger Abhängigkeit wie unser Kuckuck und einige seiner engeren Verwandten. Die betroffenen Wirtsvögel hätten also genug Zeit gehabt, um entsprechende Gegenstrategien zu entwickeln. Manche Arten lassen sich auch nicht (mehr?) täuschen. Warum ist das aber nicht bei allen so? Die nähere Betrachtung der Wirtsvögel vermittelt Ansätze zum Verständnis dieser merkwürdigen Gegebenheiten. Gleichzeitig führt sie wieder zurück zur Ausgangsfrage, in welcher Beziehung denn eigentlich die Erstankunftszeiten zu dem stehen, was für die Vögel im Frühjahr wirklich wichtig ist, nämlich zu ihrer Fortpflanzung. Wer sind nun die Wirtsvögel des Kuckucks, die sich ohne allzu große «Gegenwehr» parasitieren lassen? Eine bedeutende, in Flussauen, an Stauseen und an Seeufern zumeist sogar die weitaus wichtigste Art ist der Teichrohrsänger (Acrocephalus scirpaceus) (Davies 2000, Glutz von Blotzheim 1980). Wüst (1986) hält ihn in Bayern für «den bevorzugten Kuckuckswirt». Auch am unteren Inn ist er der Hauptwirt (Erlinger 1986). Zusammen mit dem erheblich größeren, aber viel selteneren Drosselrohrsänger (Acrocephalus arundinaceus) trifft er Ende April/Anfang Mai aus dem afrikanischen Winterquartier in den Brutgebieten in Mitteleuropa ein. Beide Rohrsänger nisten so gut wie ausschließlich im Röhricht an den Ufern von Seen, Stauseen, Altwassern und Flüssen oder in Sumpfgebieten mit größeren Schilfbeständen. Sie sind insbesondere in der Bauweise ihrer Füße auf das Leben im Röhricht, an ziemlich senkrechten und schwankenden Rohrhalmen spezialisiert. Mit beiden Füßen denselben Schilfhalm umklammernd, können sie daran aufrecht sitzen, singen oder Insekten fangen. Ihre tiefen Napfnester flechten sie so zwischen mehrere Schilfstängel in ausreichender Höhe über dem Wasser, dass auch bei starkem Wind und großen Schwankungen des Röhrichts die Eier oder
Abb. 37: Schwärmen der Zuckmücken, Aktivität des Kuckucks und Brutzeit der Rohrsängeram unteren Inn
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die Jungen nicht herauskippen. Beide Arten beginnen die Brutzeit etwa im letzten Maidrittel, also drei bis vier Wochen nach ihrer Erstankunft. Dann ist auch das junge Schilf hoch genug aufgewachsen. Wichtiger aber ist, dass um diese Zeit das Schlüpfen der Wasserinsekten beginnt und im Juni den Höhepunkt erreicht, wenn die Rohrsänger ihre Jungen zu füttern haben. Was für die Mauersegler gilt (Abb. 5), trifft in gleicher Weise auch für die Rohrsänger zu (Abb. 37). Diese leben von den gleichen Insekten im Schilf, die von Mauerseglern über dem Wasser gefangen werden. Im Röhricht, insbesondere an seiner Wasserfront, konzentriert sich das Schlüpfen der Wasserinsekten. Bei schmalen Schilfgürteln oder wenn einzelne Büsche und Bäume im Röhricht stehen, haben es die Kuckucksweibchen leicht, die Aktivität der Rohrsänger zu beobachten. In großen, tiefen Schilfwäldern geht das nur an den landseitigen Randzonen, weiter draußen kaum noch oder gar nicht mehr. Wo Schilfsäume, die von Rohrsängern bewohnt werden, an die Auwälder grenzen, herrschen beste Bedingungen für den Kuckuck, aber auch für die Rohrsänger, weil diese Randzonen zu den an ungiftigen Kleininsekten produktivsten Lebensräumen überhaupt gehören. Entsprechend klein können die Reviere der Rohrsänger werden. Am Ismaninger Speichersee bei München, der jahrzehntelang durch die Abwässer der Millionenstadt München organisch überreich gedüngt wor-
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den war, stellte der Ornithologe Heinrich Springer (1960) mit nur noch 60 bis 80 Quadratmetern die bislang kleinsten bekannten Singvogelreviere überhaupt fest. Entsprechend dicht war die Rohrsängerbesiedelung. Revier grenzte an Revier, bestens einsehbar vom Damm auch für den Vogelkundler, der sich gleichsam in der Beobachterrolle eines Kuckucksweibchens befand. Dennoch blieb der Grad der Parasitierung dieses Rohrsängerbestandes unter 5 % (52 Reviere vom Teichrohrsänger mit zwei Kuckuckseiern im Nest). An schmaleren Schilfufern der Amper bei München stellte Diesselhorst (1955) in 177 Teichrohrsängernestern 16 Kuckuckseier (9 %) fest. Am unteren Inn fand Erlinger (1984) in 19 von 521 Teichrohrsängernestern ein Ei oder einen Jungkuckuck (< 4 %). Die Parasitierung durch den Kuckuck tritt also selbst dort ziemlich selten auf, wo es große Bestände von Rohrsängern gibt. Der Verlust, den der Kuckuck seinen Wirten zufügt, ist somit zwar, auf das einzelne Rohrsängerweibchen bezogen, beträchtlich, weil vielleicht ihre halbe mögliche Fortpflanzungsleistung dadurch verloren geht, im Bestand aber zumeist unter der Schwelle, bei der wirkungsvolle Gegenmaßnahmen, wie Aufgabe des Nestes und Neubeginn einer Brut, vorteilhaft würden. Die anderen Nestverluste, wie sie vor allem durch Gewitterstürme und heftigen Wellenschlag im Röhricht auftreten können, wiegen in aller Regel schwerer. In dichten Rohrsängerbeständen kommt es zudem ziemlich häufig zu Umpaarungen während der Brutzeit und zu Zweitgelegen, wenn der Lebensraum entsprechend produktiv ist. Springer (1960) hielt daher Zweitbruten beim Teichrohrsänger für normal, was an anderen Stellen aber nicht der Fall ist. Der Ismaninger Speichersee war damals, wie im Kapitel über den Mauersegler dargelegt, ganz außerordentlich produktiv an Zuckmücken und anderen Kleininsekten. Dementsprechend ging auch die Häufigkeit der Kuckucke am unteren Inn stark zurück, als die Rohrsängerbestände schrumpften (Abb. 38), weil sich die Wasserqualität verbesserte und die Insektenlarven im Flachwasser immer weniger organische Abfallstoffe als Nahrung eingeschwemmt bekamen (Kap. 3). Die weit weniger produktiven Altwasser konnten den Rückgang der Rohrsänger an den Stauseen nicht ausgleichen.
165 Abb. 38: Rückgang von Teichrohrsänger (T) und Kuckuck (K) am unteren Inn mit Trendlinie bei den Teichrohrsängern
Die dortige Häufigkeit der Rohrsänger betrug nicht einmal ein Zehntel der Vorkommen an den Stauseen. Doch warum wechselten die Kuckucke dann nicht einfach auf andere Singvogelarten im Auwald? Die Spezialisierung auf bestimmte Wirtsvogelarten kann als alleinige Erklärung nicht zufrieden stellen, denn eine entsprechende Flexibilität muss gewährleistet sein. Sonst wäre der Kuckuck längst ausgestorben. Der andere Teil der Antwort ergibt sich aus der Häufigkeit geeigneter Singvögel. Sie liegt, dem viel geringeren Insektenangebot in den Auen entsprechend, insgesamt auch nur bei einem Zehntel der Siedlungsdichte der Rohrsänger in den Röhrichten der Stauseen. Zilpzalpe, die sich so ähnlich wie Teichrohrsänger ernähren, sogar noch kleiner als diese sind und zu den häufigsten Singvögeln in den Auwäldern gehören, haben Reviere von rund der hundertfachen Größe eines Rohrsängerreviers. Ein Dutzend Zilpzalpe in der entscheidenden Zeit von Nestbau und Eiablage zu überwachen, fällt sicher auch Kuckucksweibchen ungleich schwerer als die Rohrsängerbeobachtung. Entsprechendes gilt für die erheblich selteneren Grasmücken und die Rotkehlchen oder für den Zaunkönig; alles potenzielle Kuckuckswirte, aber alle auch in sehr viel geringerer Häufigkeit im Streifgebiet eines Kuckucksweibchens vorhanden.
166 Abb. 39: Unterschiedliche Häufigkeit des Kuckucks in den verschiedenen Lebensräumen (Murn. Moos = Murnauer Moos, Isar s. M. = südlich München)
Andernorts sind sie aber, zusammen mit Heckenbraunelle (Prunella modularis) oder Bachstelze (Motacilla alba), Hauptwirte des Kuckucks. Dies ist kein Widerspruch, sondern lediglich die Erklärung, warum Teichrohrsänger mit ihrer oft sehr hohen Siedlungsdichte vom Kuckuck so bevorzugt sind. Wo dieser auf andere Hauptwirtsarten angewiesen ist, kommt er auch viel seltener vor. Auch das ist den vogelkundlichen Handbüchern, wie Wüst (1986) für Bayern, zu entnehmen. Sofern es überhaupt Häufigkeitsangaben für den Kuckuck gibt, so liegen diese in ihren Zahlenwerten oftmals weit auseinander. Doch sie lassen sich klar nach Typen von Lebensräumen, und damit verbundenen Wirtsvogelarten, gliedern (Abb. 39). Während am Ismaninger Speichersee und am Inn die Rohrsänger Hauptwirte des Kuckucks sind, der in solchen Gebieten besonders hohe Häufigkeit erreichte, folgt in dieser Reihung (Abb. 3g) überraschend bereits das weite, übersichtliche Murnauer Moos mit dem Wiesenpieper (Anthuspratensis) als Hauptwirt. Die Pieper bauen offene Nester, die dank der guten Beobachtungsmöglichkeiten für die Kuckucke von Heustadeln und einzelnen Bäumen aus bestens zu kontrollieren sind. Ihre Siedlungsdichte lag mit 240 Brutpaaren auf gut 40 Quadratkilometern und lokalen Häufungen von 30 Brutpaaren pro Quadratkilometer sehr hoch (Wüst 1986). Die gute Überschaubarkeit
167 Abb. 40: Korrelation der Häufigkeiten von Rotkehlchen und Kuckuck im Wald an der Isar südlich von München
der Vorkommen passender Wirtsvogelarten ist somit wichtiger für den Kuckuck als die allgemeine Häufigkeit von Singvögeln. Denn diese liegt in den Auwäldern und in städtischen Parkanlagen am höchsten. Nun erklärt dies alles aber noch nicht, weshalb es so starke Unterschiede in den Ankunftsdaten der Kuckucke in benachbarten Gebieten gibt und warum manche Vogelarten den Kuckuck mit hoher Sicherheit «ablehnen», andere ihn aber zu tolerieren scheinen. Mehr ist im Spiel, als nur eine «passende Art» zu sein. Die unterschiedlichen Ankunftsdaten drücken tatsächlich einiges mehr aus. So kommt an der Isar südlich von München der Teichrohrsänger als Kuckuckswirt deshalb nicht in Frage, weil es dort von ihm so gut wie keine Brutvorkommen gibt. Der Kuckuck kann also auf diesen Vogel nicht eingestellt sein. Auf welche Art aber dann? Von den in Frage kommenden Hauptwirtsarten rückt eine ganz klar in den Vordergrund, das Rotkehlchen (Erithacus rubecula). Als Bodenbrüter mit versteckten, «backofenförmigen Nestern» lässt es sich zwar schwerer beobachten als Rohrsänger im Schilf oder Wiesenpieper im Moor, aber dafür sind Rotkehlchen zumeist auch viel weniger scheu und störungsanfällig. Im Wald entlang der Isar südlich von München sind sie häufig, doch schwanken die Bestände von Jahr zu Jahr mitunter recht kräftig, weil manche Rotkehlchen zum Überwintern hier blei-
168 Abb. 41: Die «Verspätung des Kuckucks» südlich von München hängt von der Häufigkeit der Rotkehlchen ab (Trendlinie und Korrelationskoeffizient).
ben, andere aber in den Mittelmeerraum ziehen. Die Verluste fallen unterschiedlich stark aus. Es hängt natürlich von den Witterungsverhältnissen nördlich und südlich der Alpen ab, welche der beiden Strategien die bessere ist und geringere Verluste verursacht. Im Wald an der Isar waren die Unterschiede im letzten Jahrzehnt recht ausgeprägt (Abb. 40). Die Häufigkeit des Kuckucks schwankte dort mit der Rotkehlchenhäufigkeit. Das legt einen Zusammenhang nahe, da das Rotkehlchen weitverbreitet Hauptwirt des Kuckucks ist. Verstärkt wird diese Annahme, wenn die «Verspätung» des Kuckucks mit der Häufigkeit der Rotkehlchen in Beziehung gesetzt wird: Je geringer der Wirtsvogelbestand, desto später kam der Kuckuck ins Gebiet, bezogen auf die Erstankunft im Inntal (also im Großraum, Abb. 41). Zusammengenommen lassen beide Befunde den Schluss zu, dass die Wirtsvogelart in großem Umfang Vorkommen, Häufigkeit und Ankunftszeit des Kuckucks bestimmt, weitaus stärker jedenfalls als «das Wetter». Doch warum kommt es überhaupt zu einer «Verspätung» des Kuckucks? Warum sucht er nicht überall etwa zur selben Zeit nach der Wirtsvogelart und ihren Nestern, auf welche die Kuckucksweibchen geprägt worden sind? Die Kuckucksmännchen
Abb. 42: Erste und zweite Brut beim Rotkehlchen und zeitliche Zuordnung der Aktivität des Kuckucks südlich von München
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können ohnehin nicht «wissen», nach welcher Art ein Weibchen sucht, in dessen Streifgebiet sie sich aufhalten und mit ihren Rufen die Anwesenheit kundtun. Die Beantwortung dieser Frage eröffnet einen entscheidenden Einblick in das Verhältnis des Kuckucks als Brutparasit zu seinen verschiedenen Wirtsvogelarten. Deren Brutzeit liegt verschieden! Rotkehlchen sind bereits mit ihrer ersten Brut beschäftigt, wenn die Kuckucke ankommen. Wollten sie diese parasitieren, kämen sie zu spät. Nur die frühesten Rückkehrer könnten in manchen Jahren die Möglichkeit nutzen, an die erste Brut der Rotkehlchen heranzukommen. Doch beginnen auch diese umso früher mit der Brut, je besser die Frühjahrswitterung gerät. Die jahreszeitliche Verteilung der Gesänge und ihr Vergleich mit der Häufigkeit der Kuckucksrufe drückt diesen Zusammenhang klar ersichtlich aus: Es ist die zweite Brut der Rotkehlchen, die für den Kuckuck in Frage kommt (Abb. 42) und nicht die erste! Ebenso verhält es sich mit anderen wichtigen Wirtsvogelarten des Kuckucks wie den Bachstelzen und den Heckenbraunellen, dem Zaunkönig und dem Zilpzalp. Selbst für die Erstbrut der Mönchsgrasmücke (Sylvia atricapilla) dürfte es für den Kuckuck oft schon zu spät sein. Der Teichrohrsänger passt hingegen bestens und er ist daher auch aus diesem Grund die bevor-
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zugte Wirtsvogelart. Seine Zweitbrut, so eine solche dank des günstigen Nahrungsangebots zustande kommt, folgt sehr rasch auf die erste und es kommt dabei auch oft zu Umpaarungen. Vermutlich ist dies der Grund, weshalb es beim Teichrohrsänger keine wirkungsvolle Abwehr gegen den Kuckuck gibt, außer dass er direkt angegriffen wird (ins Schilf gesetzte Präparate von Kuckucken werden regelrecht zerfetzt!), so sie ihn entdecken. Die zweite Brut dagegen hat vielfach eine nachrangige Bedeutung für den Fortpflanzungserfolg. Fällt sie in einem geringen Prozentsatz im Bestand wegen der Parasitierung durch den Kuckuck (zumeist weniger als 5 %) aus, kommt kein entsprechend starker Selektionsdruck dagegen zustande. Zudem sind manche Arten wie das Rotkehlchen, die Bachstelze und der Zaunkönig sogar im Stande, eine dritte Brut zu machen, wenn die erste früh im Jahr gelungen ist. All dies bedeutet, dass der Kuckuck im Frühjahr so früh wie möglich aus dem Winterquartier zurückkehrt, dann aber ziemlich viel «Zwischenzeit» benötigt, bis die richtigen Wirtsarten im passenden Zustand ihrer Brüten angekommen sind. «Rotkehlchen-Kuckucke» haben in der Regel mehr Zeit als «Rohrsänger-Kuckucke». Und so streuen die Daten ihrer «aktiven Ankunft» (so wie sie sich durch die Häufigkeit der Rufe ermitteln lässt) auch doppelt so stark wie die der Rohrsänger-Kuckucke. Deren Hauptwirt hängt nun seinerseits von der Entwicklung von Schilf und Wasserinsekten ab. Beide, die Schilfpflanze wie das Schlüpfen der Wasserinsekten, werden von der Entwicklung der Temperaturen im Frühjahr beeinflusst. Diese «dämpft» das Wasser jedoch sehr stark, sodass eine Reihe besonders schöner Tage oder gar Wochen verfrühten Frühlingswetters lediglich geringfügige Verfrühungen in der Schilfentwicklung und im Schlüpftermin der Insekten mit sich bringen. Feuchtgebiete brauchen im Frühjahr ganz allgemein länger mit der Entfaltung ihres Lebens als trockene (und sonnige) Biotope. Dafür halten sie im Herbst die aufgenommene Wärme länger – am auffälligsten in den Hochmooren, aber auch an Seen, die noch im Winter temperaturausgleichend wirken. Ganz folgerichtig veränderte sich daher die Erstankunft des Kuckucks seit Anfang des 19. Jahrhunderts nicht wirklich, auch wenn es immer wieder, mitunter auch mehrere Jahre in der Art
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von Zyklen anhaltend, zu früherem oder späterem «Ankunftstermin» gekommen ist. Es gab Jahre und Zeiten mit sehr frühen Kuckucken, aber immer wieder auch solche mit später Ankunft. Die für die geschlossene Zeitreihe von 1971 bis 2004 festgestellten Rückkehrdaten am unteren Inn, einem Häufigkeitszentrum des Kuckucks in Mitteleuropa nördlich der Alpen, ergeben in der Tat auch keinen statistisch gesicherten Trend – weder für eine frühere noch für eine spätere Ankunft, wie sie der Trendlinie zufolge scheinbar zustande gekommen ist. Die Ankunft fluktuiert mit der Frühjahrswitterung; eine nachhaltige Veränderung kann von den Daten aus mehr als eineinhalb Jahrhunderten nicht abgeleitet werden. So zeigt der Fall des Kuckucks einmal mehr, dass Verschiebungen von Mittelwerten, sei es in den Jahresdurchschnitts temperaturen global (die für Fernzieher in die Tropen wie Mauersegler, Rohrsänger und Kuckuck bedeutsam sein müssten) oder regional (Zaunkönig, Bachstelze, Rotkehlchen und andere Kurzstreckenzieher unter unseren Vögeln), ziemlich nichtssagend sind. Wer klimatische Veränderungen, die tatsächlich auftreten und von den meteorologischen Messungen hinreichend bestätigt werden, auf die Vogelwelt, auf die Insekten oder gar auf die «gesamte Natur» (was für ein überhebliches Ansinnen!) beziehen möchte, kommt nicht umhin, die für die verschiedenen Arten und ihren komplexen Lebensablauf jeweils relevanten Zeitabschnitte der Jahre gründlich und vergleichend zu analysieren. Ein Blick in die Tabellenwerte von Rocznik (1982) zeigt aber, wie variabel die letzten beiden Jahrhunderte gewesen sind. Dennoch besagen selbst auf «Jahreszeiten» bezogene Feststellungen wie «Frühjahrs-» oder «Sommerwitterung» nicht genug, weil die Messwerte von Wetterstationen und nicht aus dem wirklichen Gelände stammen, in dem sich das Leben abspielt. Die Bioklimatologie dieser umfassenden, nicht allein auf die Wetterfühligkeit des Menschen bezogenen Art, die über Ereignisse des Aufgehens, Wachsens und Gedeihens die Vorgänge zu erfassen versucht hatte, Phänologie genannt, war längst ins Abseits geraten und vielfach aufgegeben worden, ehe die Problematik einer Klimaveränderung und ihrer Folgen akut wurde. Doch im Gegensatz zu den technisch-wissenschaftlichen Messungen von Temperatur, Luftfeuchte, Niederschlag und Wind-
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stärke, die als Einzeldaten erhoben und über aberwitzig umfangreiche Rechenprogramme zu Mittelwerten (wovon, worüber in Zeit und Raum?) zusammengefasst werden, drücken die Lebewesen mit ihrem Kommen, Wachsen und Gedeihen ungleich besser die wirklichen Abläufe aus. Sie «integrieren» vor Ort, weil sie an Ort und Stelle leben müssen, wie bei manchen Arten (den «ziehenden» oder wandernden Vögeln und Insekten) auch über größere Räume (Winterquartier, Sommerlebensräume, Durchzugsgebiete) hinweg und über die Zeit, weil langjährig lebende Organismen, wie die Bäume, nicht vom Wetter eines Jahres abhängen. Manche überdauerten Jahrhunderte und zeigen in ihren Jahresringen die «guten und die schlechten Zeiten» gleichfalls «integriert» an. Diese Integration als zusammenfassende Wirkung der unterschiedlichen, von der Messtechnik künstlich aufgeteilten Faktoren gehört zum Leben ebenso wie seine Veränderlichkeit. Selbst oberflächliche Blicke in die Geschichte lehren, wie abwegig es ist, Stabilität anzunehmen oder gar erzeugen zu wollen. Vor mindestens zweieinhalb Jahrtausenden wusste man um diese Naturgegebenheit, aber die Erkenntnis des «panta rhei» (alles fließt) wird verdrängt. Am meisten widersetzen sich dieser dynamischen Natursicht offenbar gerade jene, die sie «schützen» wollen. Sie soll so bleiben, wie sie ist, die Natur, die wir kennen. Und dort, wo sie verändert wurde, muss sie wiederhergestellt werden. Sonst ist der Naturhaushalt nicht in Ordnung. Zeigt sie sich schließlich doch, allen Befürchtungen und Fluktuationen zum Trotz, tatsächlich als längerfristig «beständig», will man dies nicht wahrhaben, weil es den festgesetzten Meinungen und Vorurteilen widerspricht. Nichts passt zu dieser Einstellung so gut wie «das Wetter ist heutzutage auch nicht mehr so wie früher». Was man mit «früher» meint, wird in aller Regel gar nicht mehr hinterfragt, und wenn doch, so wird es beliebig festgelegt. Wie es eben passt! Besonders verdächtig werden schließlich solche Fälle, in denen einzelne Arten «vordringen», häufiger werden oder sich «breit machen», wo doch alles schlechter werden sollte. Problemarten sind sie dann, wie in Kapitel 5 ausgeführt, oder – schlimmer noch – Vorboten! Zwei Vögel bieten Musterbeispiele hierzu und beider Name kann oder muss so verstanden werden: Vorboten, die vordringen. Warum kommen sie und was bringen sie?
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Pestvögel
Im Dezember 2004 kamen sie schon wieder in Schwärmen. Sie tauchten in Stadtgärten und an Waldrändern auf, wurden aus Nord- und Süddeutschland gemeldet und von vielen anderen Orten in Mitteleuropa auch. Andere, wichtigere Nachrichten hatten die Medien in dieser Zeit zu verbreiten und so blieben die Beobachtungen zu ihrer Invasion weitgehend auf Kreise von Vogelkundlern und anderen Naturfreunden beschränkt. Im März und April 2001 war das anders. Als riesige Schwärme dieser Vögel gesichtet wurden, die Tausende umfassen konnten, kamen die Nachrichten darüber in die Tagespresse. Pestvögel seien aufgetaucht, und das in besonders großer Zahl. Letzteres war richtig. Die «Invasion» um Ostern 2001 gehörte zu den ausgeprägtesten seit vielen Jahrzehnten im nördlichen Alpenvorland zwischen Niederösterreich und dem Bodensee. Ein einzelner Schwarm, der im Münchner Stadtbezirk Obermenzing zum Nymphenburger Schlosspark flog, bestand aus wenigstens 2200 dieser Vögel. «Pestvögel» werden sie seit einem halben Jahrtausend von der Bevölkerung genannt. Um Seidenschwänze (Bombycilla garrulus) handelt es sich. Scheinbar unvorhersagbar kommen sie zu Beginn des Winters plötzlich in großer Zahl aus dem «hohen Norden». Sie sind wenig scheu. In den Gärten und Parks fallen sie über Beeren und letzte Früchte aller Art mit einer Gier her, als ob sie am Verhungern wären. In nordöstlichen Regionen Mitteleuropas kommen sie öfter vor als im Süden und Westen. In manchen Wintern stoßen sie bis zum Mittelmeerraum vor, aber in vielen fehlen sie ganz. Manche ihrer Invasionen fallen schwach aus. Es streifen nur kleine Gruppen herum, werden kurz gesichtet und verschwinden wieder. In anderen Jahren sind sie überall. Ihre klingelnden Flugrufe fallen auf, auch wenn der Lärm des Straßenverkehrs ansonsten alles überdeckt. Viele werden tot gefunden, weil sie gegen
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Fensterscheiben oder Autos geflogen sind. Solche Gebilde sind ihnen völlig fremd, denn sie kommen, wie man längst weiß, aus menschenleeren Gegenden entlang der Flüsse, die ins Eismeer münden, und aus den Wäldern an der Baumgrenze im hohen Norden, wo diese in die Tundra übergehen. Starengroß und auch im Flug den Staren recht ähnlich, verwechselt man sie sicherlich oft zu Zeiten, in denen die Stare noch im Lande sind. Bekommt man sie nahe genug zu sehen, fallen ihre in Erregung aufgerichtete Federhaube und ihr zart getöntes, ins Altrosa spielendes Gefieder auf. Der Schwanz trägt am Ende eine leuchtend gelbe Binde und solches Gelb gibt es auch an den Flügeln. Selten wird man sie aber ohne Fernglas so gut sehen können, dass man die einzigartigen, wie aus rotem Nagellack gefertigt wirkenden, schmalen Plättchen an den Spitzen der Armschwingen erkennt. Jungvögel haben sie noch nicht, die erwachsenen alten Seidenschwänze aber in beiden Geschlechtern. Als elastisch-harte Gebilde passen sie nicht so recht zum ansonsten so seidig-feinen Gefieder dieser Vögel, die seit jeher für höchst geheimnisvoll gehalten werden. Im Spätmittelalter und bis weit in die Neuzeit hinein galten ihre Invasionen als Vorboten von Übeln wie Hunger, Krankheiten und Krieg. Seit die Pest in Europa zu wüten begann, brachten die verängstigten Menschen diese so plötzlich auftauchenden Vögel mit dem Schwarzen Tod in Verbindung. Denn niemand wusste, wo sie herkamen und wohin sie wieder ziehen würden, wenn sie verschwanden. Höchst verdächtig war ihre Ernährung. Diese Vögel fraßen gierig Beeren in großen Mengen, von denen man wusste, dass sie giftig sind. Andere Vögel hatten sie nicht angerührt und deshalb waren diese roten, schwarzblauen oder weißen Beeren auch noch an den Sträuchern verblieben, bis die Pestvögel kamen. Sie entzogen sich in der spätmittelalterlichen Welt einer normalen Einordnung – und sie kamen immer häufiger, je schlechter die Zeiten im 16. und 17. Jahrhundert wurden. Später, im 18. und 19. Jahrhundert, als die großen Seuchenzüge weitgehend überstanden waren, befassten sich einige Naturforscher genauer mit diesen merkwürdigen Vögeln. Sie stellten einige Absonderlichkeiten fest. So etwa, dass sich ihr sehr kurzer, nur 25 bis 30 cm langer Darm gegen das Ende hin (zur Kloake) nicht verengt, wie das bei allen anderen Vögeln
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der Fall ist, und dass er vor der Mündung in die Kloake zwei kurze Blinddärme hat (Brehm 1820). Diese rund zwei Jahrhunderte alten Beschreibungen sind genauer als die Angaben in modernen Handbüchern und voller Befunde, über die sich die frühen Vogelforscher wie Christian Ludwig Brehm wunderten («Der Darm des röthlichgrauen Seidenschwanzes ist, wie Mayer richtig bemerkt, nur 11 Zoll lang, und sehr merkwürdig»). Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts war offenbar auch bekannt, wo der Seidenschwanz lebt. Brehm schreibt dazu: «Er bewohnt im Sommer die nördlichen Länder von Europa, Asien und Amerika, und kommt zuweilen im November, Dezember, Januar und Februar nach Deutschland, und dann gewöhnlich in kleinen Heerden. Es vergehen oft mehrere Jahre, ohne dass man einen einzigen zu sehen bekommt. Der gemeine Glaube lässt ihn alle sieben Jahre bei uns erscheinen, und allerdings vergehen gewöhnlich so viele Jahre, ehe er wieder zu uns kommt.» Tatsächlich stimmt dies für die 200 Jahre von Anfang 1800 bis 2004 recht genau mit 28 registrierten Großinvasionen in Mitteleuropa. Sie ergeben einen durchschnittlichen Abstand von 7,1 Jahren. Die letzte derartige Invasion von Seidenschwänzen fand, wie oben bereits angemerkt, im Frühling 2001 statt. Tatsächlich kommen mit echten Winterinvasionen keineswegs immer die größten Einflüge zustande. Denn die Seidenschwänze streifen weit herum und ernten Gebiet für Gebiet, vornehmlich den Flusstälern folgend, in wenigen Tagen oder Wochen ab. Dann ziehen sie weiter. Im Großen und Ganzen bilden ihre Einflüge mehr oder minder ausgeprägte Schleifen, wie etwa 2001, als sich sehr gut nachvollziehen ließ, dass die Scharen im März von Österreich her nach Süddeutschland kamen und nach Nordosten, in Richtung Brutgebiete, wieder abwanderten. Gerade zu dieser Zeit, im Frühjahr, ernähren sie sich von den nun voll reifen Mistelbeeren. Misteln gelten jedoch seit der Zeit der keltischen Druiden als Pflanzen mit besonders geheimnisvollen, nur den Eingeweihten bekannten Wirkkräften. Fielen nun die Seidenschwänze in riesigen Schwärmen an den Mistelbüschen ein, um diese in kürzester Zeit so leer zu fressen, dass danach nicht nur keine Beeren mehr daran zu finden waren, sondern auch keine männlichen Blüten mehr, so musste dies im ausgehenden Mittelalter zwangsläufig Anlass zu Spekulationen
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geben. Dann, mit der Wärme des Frühlings, als die Vögel fortgeflogen waren, brach in jener Zeit die Pest aus (Vasold 2005). Der erste große Seuchenzug suchte Europa unmittelbar nach dem spätmittelalterlichen Kälteschock von 1345 bis 1347 heim. Aber die Seuche flackerte mehrfach auf – und stets nach sehr kalten Wintern und «schlechten Jahren». Bei den Sommern von 1346 und 1347 hatte es sich den alten Aufzeichnungen in Klöstern und Stadtarchiven zufolge um die kältesten der letzten 700 Jahre gehandelt, vielleicht des ganzen zweiten Jahrtausends. Denn am Bodensee standen am 2. August 1346 die Rebstöcke noch in Blüte und im Jahr darauf waren sie Anfang September noch nicht verblüht (Pfister 1990). Nie lagen die Weinlesetermine in der Schweiz so spät wie in dieser Zeit, als die Pest nach Mittel- und Nordwesteuropa kam. Im 16. und 17. Jahrhundert folgten zahlreiche Winter mit extremer Kälte. Damals explodierten bis zum Kernholz durchgefrorene Bäume in der Kälte mit einem Knall, der wie Kanonendonner geklungen haben soll (vgl. S. 112). Es ist den vom Klima der «Kleinen Eiszeit» so geplagten Menschen nicht zu verdenken, dass sie diese seltsamen Vögel mit der Pest und anderen Seuchen in Verbindung brachten. Indirekt lagen sie wahrscheinlich auch gar nicht so falsch. Denn die Invasionsjahre der Seidenschwänze entsprechen der Überlagerung von «El-Niño-Zyklen» mit dem 10- bis 11-jährigen Sonnenfleckenzyklus. Drei + vier Jahre ergeben den Abstand von sieben, zwei Vierjahresabstände und ein Dreijahresabstand die elfjährigen Großinvasionen. Wie erst allmählich in den letzten Jahrzehnten klar wurde, schwankt das Klima global mit den Austauschvorgängen von Warmwasser im Pazifik, den so genannten «ENSO»-Zyklen (El Niño Southern Oscillations). Die Auswirkungen reichen bis Australien und Europa. In früheren Jahrhunderten, als die Menschen so gut wie vollständig von den Erträgen ihrer eigenen Landwirtschaft abhängig waren, bedeuteten solche klimatischen Schwankungen ganz unmittelbar gute und schlechte Zeiten. Die biblischen «sieben fetten und sieben mageren Jahre» gehen auf einen offenbar entsprechenden Zyklus zurück, der nicht nur um der magischen Zahl 7 willen so formuliert worden ist. Überlagerten nun aber andere Ursachen, die zur anhaltenden Verschlechterung des Klimas führten, diese natürlichen Zyklen, wirkten sich ihre
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Tiefpunkte immer verheerender auf die Menschen aus, während die guten Jahre nicht mehr genug Ausgleich zu den schlechten leisten konnten. «Ernteglück und Hungersnot» sind historisch umfangreich dokumentiert worden (DüwelHösselbarth 2000). Doch warum sollten ausgerechnet die so merkwürdigen Seidenschwänze auf solche klimatischen Kurzzyklen reagiert haben und warum so besonders stark in den schlimmen Jahren des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit? Warum stießen sie zu Beginn des Winters oder in dessen Verlauf nicht einfach in derselben Weise südwestwärts in mildere Gebiete vor wie zahlreiche andere Vögel auch? Was zwingt ihnen den Zyklus auf, der in diesen drei-, vier- und vor allem siebenjährigen Abständen ihre Invasionen auslöst und sie in den früheren Jahrhunderten zu Vorboten des Unheils abstempelte? Nahrungsmangel wird wohl fast immer der Auslöser für die Abwanderung aus den normalen Überwinterungsgebieten sein. Warum kommt dieser aber nicht unregelmäßig oder zufallsverteilt zustande? Man weiß es bis heute offenbar noch nicht wirklich. Es lassen sich lediglich einige Verbindungen zu Vorgängen herstellen, die mit der periodischen Schwankung der Umweltbedingungen in den hohen nördlichen Breiten zusammenhängen. Als «Lemming- und Schneehasenzyklen» sind diese regelmäßigen Schwankungen schon lange bekannt. Doch über die Ursache herrscht keine Einigkeit (Remmert 1980). Manche Wissenschaftler gehen von äußeren Zeitgebern aus, wie den Sonnenfleckenzyklen, andere von internen Gründen, wie Aufbau und Zusammenbruch hoher Siedlungsdichte bei Wühlmäusen (Lemmingen), die Stress verursachen und andere Arten in ihrem Auf und Ab mitreißen. Trifft diese «interne Sicht» im Wesentlichen zu, sollte die gegenwärtige Erwärmung des Klimas keine oder nur eine geringfügige Rolle im Weiterlaufen der Zyklen spielen. Müssten sie andernfalls aber häufiger und in größerer Zahl kommen oder seltener? Die historischen Berichte über Großinvasionen erweisen sich zwar einerseits als sehr ergiebig (Kinzelbach 1995), sind aber andererseits nicht so direkt mit der Witterung in Beziehung zu bringen. Denn woran kann es liegen, dass viele Seidenschwänze in Gebiete vorstoßen, in denen sie in den meisten Wintern nicht oder nur in
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unauffälliger Zahl vorkommen? Verschiedene Möglichkeiten sind in Betracht zu ziehen. Hohe Bruterfolge durch günstiges Wetter zur Brutzeit erzeugen «Überschüsse», für die nicht genug Winternahrung im normalen Überwinterungsbereich der Flussniederungen nordischer Wälder vorhanden ist, oder schlechte Beerentracht, insbesondere an Ebereschen (Sorbus aucuparia), veranlasst das weitere Abwandern ganz normal großer Bestände. Die jeweils entgegengesetzten Möglichkeiten kommen hinzu und können sich für die nächste Fortpflanzungsperiode aufschaukeln. Treffen hoher Bruterfolg und sehr gutes Beerenangebot zusammen, wird keine auffällige Abwanderung zustande kommen, wie bei schlechtem Bruterfolg und geringer Beerenernte auch. Normaler Bruterfolg und schlechte Beerenernte hingegen werden Invasionen in entferntere Gebiete, jedoch wohl in geringeren Mengen der beteiligten Vögel auslösen, während die größten Invasionen in Mitteleuropa durch hohe Bruterfolge und sehr schlechtes Angebot an Winternahrung verursacht werden sollten. Nun sind aber bei der Nutzung der Beeren keineswegs die Seidenschwänze allein beteiligt. Ein Großteil, vor allem wiederum die Früchte der Ebereschen, die sich allein schon aufgrund ihrer weithin leuchtenden Färbung als «Vogelbeeren» zu erkennen geben, wird auch von anderen Vogelarten mehr oder weniger intensiv genutzt: von verschiedenen Arten von Drosseln etwa, aber auch von Hühnervögeln wie Schnee- und Birkhühnern. Deren Häufigkeit wirkt daher in das System der Beerennutzung mit hinein; diese anderen Vögel stellen Konkurrenten für die Seidenschwänze dar. Jede der beteiligten Arten hat ihre eigenen Besonderheiten, ihre Vorzüge und Nachteile. So können die Hühner nicht über weite Strecken fliegen, dafür aber gut geschützt in beinahe angenehm temperierten Schneehöhlen die Nächte mit scharfen Frösten überdauern. Drosseln leben in erheblichem Umfang von Würmern und anderen Kleintieren am Boden. Sie ziehen regelmäßig und weit aus den nordischen Wäldern in mildere Gebiete, manche bis ans Mittelmeer. Im Flug sind sie eher langsam, auf dem Zug gesellig in lockeren Schwärmen, die Monate früher eintreffen (z. B. die Wacholderdrosseln [Turdus pilaris] aus dem Nordosten) als die Seidenschwänze. Diese fliegen zwar schnell, sind aber wenig wendig
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und können Feinden nicht so leicht ausweichen. In einer Hinsicht unterscheiden sie sich aber ganz besonders stark von den anderen Vögeln, die im Herbst und Winter von Beeren leben. Sie ernähren sich selbst zur Brutzeit in großem Umfang von Mücken und füttern ihre Jungen anfänglich so gut wie ausschließlich damit. Diese Eigenheit, die sie im Hinblick auf die Ernährung gleichsam zu Fliegenschnäppern macht, fanden die Vogelkundler des 18. und frühen 19. Jahrhunderts im überraschend kurzen Darm ausgedrückt. Einen auf die Körpergröße bezogen so kurzen Darm haben nur Vögel, die von leicht verdaulichen Insekten leben. Tatsächlich kann man nicht selten beobachten, wie Seidenschwänze, die noch im Frühling, Ende März oder im April, hier sind, nach Art der Fliegenschnäpper in die Luft aufsteigen und nach zumeist nicht Sichtbarem schnappen. Was sie erbeuten, sind kleine Fliegen oder frühe Mücken über Bäumen wie Pappeln in den Auwäldern. Ihre zuckrigen, zur Öffnung bereiten Knospen locken diese zarten Insekten an, die später, im Brutgebiet, die Hauptnahrung sein werden. Die in der Waldtundra in riesigen Mengen schwärmenden Stechmücken fangen die Seidenschwänze mit dieser Flugtechnik. Vielleicht helfen die außerordentlich elastischen, lackartigen Spitzenplättchen an den Armschwingen, bei aufsteilendem Flug den Moment des Zuschnappens lange genug zu stabilisieren, damit die winzige Beute auch mit dem Schnabel gefasst werden kann. So sieht es zumindest aus, wenn im April die Seidenschwänze solche Schnappflüge machen. Den leichteren Jungvögeln fällt dies zunächst nicht so schwer wie den mehr als doppelt so schweren Altvögeln. Für diese ergibt sich eine höchst unterschiedliche Zusatzbelastung aus der Menge der gerade vorher aufgenommenen Beeren. Kurzzeitig vergrößert ein vollständig mit Beeren gefüllter Verdauungstrakt das Gewicht eines Seidenschwanzes beträchtlich. So kurz der Darm ist, so schnell passieren ihn die Beeren aber auch. Die chemisch komplexer gebauten, für andere Tiere oder für den Menschen giftigen Stoffe werden dadurch gar nicht erst gelöst und aufgenommen. Nur die leicht herauslösbaren Zucker verwerten die Seidenschwänze bei ihrer winterlichen Beerennutzung und lagern den Zuckerüberschuss als Fett unter der Haut ein. Dieses dient ihnen zunächst als Heizungsreserve für die kalten Winternächte,
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dann aber auch für die Langstreckenflüge und als gute Startbedingung zu Beginn der Brutzeit. Gibt es an einem Überwinterungsplatz reichlich Beeren, fressen die Seidenschwänze unter Umständen nur gut zwei Stunden davon, bis sie ganz voll sind, und fliegen dann zu ihren Ruheplätzen in Wäldern oder Parkanlagen. Meistens finden sich diese im Geäst hoher Bäume oft in unmittelbarer Nähe von Mistelbüschen, die ihnen Deckung und Mistelbeeren zugleich bieten. Ihre Verdauung als «schnelles Durchlaufsystem» zu bezeichnen passt nun bestens zu den «Interessen» der Bäume und Sträucher, die Beeren hervorbringen. Denn es soll nicht mehr als das Fruchtfleisch genutzt werden. Die Kerne darin oder in den Kerngehäusen stellen die Samen für die Fortpflanzung des Baumes dar. Seidenschwänze oder Drosseln, die nur – und sehr schnell – das Fruchtfleisch zum Teil nutzen, bewirken daher die Samenverbreitung. Besonders gut ist dies bei den Misteln zu sehen, denn die Kerne verlassen den Darm noch umhüllt mit zähem Schleim, der an der Luft Fäden zieht und so die Möglichkeit schafft, dass der Kern auf dem Ast oder am Zweig keimen kann, an dem er klebt. Zwar geschieht dies auch bei Drosseln, wie etwa bei der Misteldrossel (Turdus viscivarus), aber da diese nur in lockeren Gruppen im Winter leben, können sie die Misteln nicht annähernd so flächig ausbreiten. Vor allem transportieren sie Mistelsamen wohl nur ausnahmsweise über größere Strecken. Daher dürften die meisten, dort oft gerade besonders zahlreich auftretenden Misteln im Siedlungsbereich, also in den Gärten und Parks von Städten und Dörfern, gar nicht von den Misteldrosseln stammen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass die Samen anfänglich von den Schwärmen der Seidenschwänze verschleppt wurden, weil diese schnell über kilometerweit entfernte Strecken fliegen und nach neuen Nahrungsgründen suchen, wo sie Beeren finden können. Unterschiedslos nehmen sie Ebereschen und Sauerdorn, Feuerdorn oder letzte Äpfel in Dorfgärten und, wo immer das geht, Misteln, wenn die Beeren schon reif sind. Die ausgesprochen unregelmäßige, den Flusstälern folgende und in den Städten besonders stark konzentrierte Verbreitung der Laubholzmistel (Viscum album) im Gegensatz zu den beiden anderen Mistelarten, der Tannenmistel (Viscum abietis) und der Kiefernmistel Viscum laxum (Schönfelder und Bresinsky 1992,
181 Abb. 43: Wintervorkommen und Rückzug im Frühjahr gehen in Bayern ineinander über. Aber der Frühjahrszug hebt sich besonders stark daraus hervor. Es ist dies die Zeit, in der die Mistelbeeren reifen und für die Seidenschwänze eine sehr gut geeignete Nahrungsquelle abgeben.
Haeupler & Bresinsky 1995), wird aus diesem Zusammenhang mit den Seidenschwänzen verständlich. Die beiden Nadelwaldarten oder -formen der Mistel hingegen passen mit ihren erheblich gleichmäßigeren Verteilungsbildern zur Misteldrossel als Hauptverbreiterin. Vielfach ist auch zu beobachten, dass die Misteln stark gehäuft auf Pappeln (wo Misteldrosseln ursprünglich gar keine Veranlassung gehabt hätten, zu deren steilen, kahlen Ästen hinzufliegen) oder Apfelbäumen vorkommen. Mistelbüsche («Kugeln») gleichen Durchmessers sind gleichen Alters. Wo sich verschiedene Mistelgenerationen nebeneinander finden, treten sie oftmals (meistens?) in der Größe klar voneinander abgesetzt auf. Es liegen eben im Durchschnitt sieben Jahre zwischen der früheren und der späteren Ansiedlung durch die ausgeschiedenen Mistelsamen. Die als Brutvögel recht gleichmäßig über die Wälder und großen Parks verteilten Misteldrosseln hätten entsprechend gleichmäßige Verbreitung, Häufigkeitsverteilung und Mistelkugeln aller Größen erzeugen sollen. Es lohnt daher, im Zusammenhang mit der Nahrung der Seidenschwänze nochmals auf die Misteln zurückzukommen.
182 Abb. 44: Das Muster des Vorkommens von Seidenschwänzen in München weicht stark vom allgemeinen Typ eines invasionsartig auftretenden Wintergasts ab. Die größten Mengen traten von 1970 bis 2005 im März und April auf, wenn im Nymphenburger Park und den angrenzenden Anlagen die dort in großer Zahl vorhandenen Misteln reiften. Der Vergleich der beiden Abbildungen verdeutlicht, wie unterschiedlich die Muster von Vorkommen und Häufigkeit nahrungsbedingt ausfallen können, auch wenn es sich um denselben Großraum handelt.
An dieser Stelle ist aber festzuhalten, dass weder das Beerenangebot im Winter im Zielgebiet der Invasionen noch dessen Schwankungen von Jahr zu Jahr die Ursachen für die ziemlich regelmäßige Abfolge der Seidenschwanzeinflüge sein können. Von ihnen hängt kaum mehr ab als die Dauer des Aufenthalts der herumstreifenden Schwärme und das jahreszeitliche Muster ihres Auftretens. In Gebieten mit sehr vielen Misteln überwiegen der Menge und der Frequenz des Auftretens nach die Seidenschwänze im Frühjahr, wie zum Beispiel in München (Wüst 1986). Einzelne Großinvasionen können mit besonders hohen Anzahlen als so genannte Singularitäten (Einzelereignisse) diese Muster zwar verzerren, aber nicht grundsätzlich verändern. Die Zusammenstellungen der Daten für Bayern und speziell für München aus Wüst (1986) und den eigenen Feststellungen seither zeigen dies (Abb. 43). Vielleicht konzentrierte in neuerer Zeit das ungleich bessere
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Angebot von Beerensträuchern und Misteln in Gärten und Parks als draußen in den Wäldern die Seidenschwanzinvasionen auf diesen Bereich. In früheren Zeiten dürfte es umgekehrt gewesen sein, als die Städte sehr dicht bebaut und fast frei von Gärten und innerstädtischen Parkanlagen waren, aber dafür die Wälder buschwerkreich und niedrig. Hochwälder vom Typ der Fichten- und Buchenforste sind ein Ergebnis der Forstwirtschaft der letzten beiden Jahrhunderte. Davor dominierte der Buschwaldtyp und es gab zahlreiche Feldgehölze. Doch davon mehr im 12. Kapitel. Nun brüten die Seidenschwänze aber, wie schon ausgeführt, in den nordischen Wäldern und der Waldtundra. Die Zeit für die Fortpflanzung ist kurz, aber dafür sind die Tage in der entscheidenden Zeit um die Sommersonnenwende sehr lang. Mücken scheint es alljährlich in Massen zu geben. Ob das, was wir Menschen aber als «Massen» (und schlimme Plage) empfinden, auch für die Seidenschwänze stets gleiche, überreiche Massen sind, weiß man offenbar nicht. Über Schwankungen des Nahrungsangebots und seinen Einfluss auf den Bruterfolg lassen sich demzufolge ebenso wenig Aussagen machen wie über Veränderungen, die durch die Klimaerwärmung verursacht worden sein könnten oder das tatsächlich schon sind. Die Erwärmung betrifft nach Feststellungen der Meteorologen die subarktischen und arktischen Regionen weitaus stärker als die gemäßigten Breiten (wo krampfhaft nach Auswirkungen der Klimaveränderung gesucht wird). Solange wir aber die Zyklen nicht verstehen, die dort in der nahezu gesamten lebendigen Natur ablaufen, können wir auch schwerlich Schlussfolgerungen aus klimatischen Veränderungen ziehen. Höchst aufschlussreich wären gute, gesicherte Befunde zu den Lebensbedingungen in den borealen Wäldern und der Tundra zur Zeit des mittelalterlichen Klimaoptimums. Damals, um das Jahr 1000, als die Wikinger Island (nicht «Eisland», sondern das Land der «reißenden Wasser») und Grönland («Grünland») besiedelten und später der einsetzenden Klimaverschlechterung wieder weichen mussten und ihr zum Opfer fielen, herrschten offenbar wärmere Verhältnisse als in der Gegenwart. Wie erging es damals den Eisbären, den Robben der Packeiszone und den anderen Meerestieren, die am Rand des arktischen Eises leben? Überlebten sie, weil es
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damals noch keine Gewehre gab und die Jagd mit Wurfspießen ihnen nicht gefährlich werden konnte? Und wie verhielt es sich mit den Eisbären und dem kalten Großlebensraum der Arktis in der unmittelbar nacheiszeitlichen Wärmezeit, dem Eem, als es noch viel wärmer als im «Klimaoptimum» des Mittelalters war? Die Temperatur war sehr rasch sehr stark angestiegen und hatte die riesigen Eispanzer der letzten Eiszeit (Wurm- bzw. Weichselglazial) zum Abschmelzen gebracht. Der Meeresspiegel stieg um über 100 Meter an (Kahlke 1986). Wieso konnten Eisbär & Co. diese Wärmezeit überleben, sollten aber die gegenwärtig viel schwächere Erwärmung nicht überstehen können? Liegt das nicht doch viel mehr am Menschen und seinen Gewehren als an der Temperatur und der sich verändernden Natur? Wie mag es sich mit den Wildgänsen der Tundra und mit den Seidenschwänzen der mückenreichen nordischen Wälder vor einem knappen Jahrtausend verhalten haben? Warum konnten gerade in jener Zeit die Basken den Walfang entwickeln? Woher wussten sie, dass es oben bei Island und Grönland die «richtigen Wale» (englisch: right whales), also die Glattwale, gibt, die schon mit ziemlich einfachen Harpunen und kleinen Booten erlegt werden konnten? Und das in der Wärmezeit! Fast ausgerottet hat man die großen Wale mit den Harpunenkanonen der Walfangflotten im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Natur war da nicht mit im Spiel. Fragen über Fragen häufen sich, sobald man zur wirklich lebendigen Natur vorzudringen versucht. Die Seidenschwänze sind nur ein kleines Teilstück in den höchst komplexen Veränderungen, die schon seit Jahrhunderten ablaufen. Klimatische Veränderungen sind nichts Neues und Reaktionen der Arten darauf etwas ganz Natürliches. Stillstand mit «fest gefügten Verhältnissen» gab es niemals wirklich. Wir sind es, die, wie Goethe es so meisterhaft ausdrückte, «dem Augenblick Dauer verleihen» möchten. Vielleicht fielen die Seidenschwänze in der Wärmezeit des Hochmittelalters auch nicht sonderlich auf. Die Menschen waren mit anderem als mit der Beobachtung der Natur befasst. Sie hatten vielleicht auch gar keine Veranlassung, in diesen guten Zeiten schlimme Vorzeichen aus den Einflügen ungewöhnlicher Vögel abzuleiten. Der Adel und die Menschen, die «Zeit» hatten und sich dafür interessierten, beschäftigten sich lieber
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«mit der Kunst, mit den Vögeln zu jagen». Das «Lehrbuch» der Falknerei hatte ihnen der Stauferkaiser Friedrich II. in seinem großartigen, auch heute noch lesenswerten Werk De arte venandi cum avibus geschrieben. Dies mag als kurzer Hinweis darauf genügen, wie sehr die Betrachtung von Tieren, Pflanzen und der Natur als Ganzem von der Zeit und den Kulturen abhängt. Und so, wie sich die Zeiten ändern, gerät manches in Vergessenheit oder wird unverständlich, weil man den Zusammenhang nicht mehr kennt. Auch hierzu liefern die Seidenschwänze und die Misteln ein gutes Beispiel. So ist das, was wir heute unter Mistel(n) verstehen, ziemlich sicher im Mittelalter und gewiss auch schon zur Keltenzeit, als die Druiden um die Heilkräfte der Misteln wussten, etwas anderes gewesen. Es gibt nämlich eine ganz andere «Mistel», die «Riemenblume» oder Eichenmistel (Loranthus europaeus). Sie wächst vornehmlich auf Eichen und aus ihren Beeren hatte man den richtigen Vogelleim hergestellt, mit dem früher die Leimruten bestrichen und Drosseln und andere Singvögel gefangen wurden. Auch erhielt die Misteldrossel ihren wissenschaftlichen Artnamen viscivorus vom Begründer der Systematik der Tiere und Pflanzen, Carl von Linné, in seinem System der Natur von 1789 nicht von «unserer Mistel», sondern wurde nach der im östlichen Mittelmeerraum auf Ölbäumen lebenden rotbeerigen Mistel Viscum cruciatum benannt. Denn der Name «Mistel» leitet sich vom Altgriechischen «ixos» ab, von dem auch «Zecke» (Ixodes) stammt. Aristoteles hatte nämlich schon diese Drossel «Mistelfresser» (ixoboros) genannt und von Linné war seine Bezeichnung als «ixovoros» übernommen und zum Lateinischen viscivorus abgewandelt worden. Die früher gemeinten und die heutigen Misteln stimmen daher nicht wirklich überein. Doch bis in die Gegenwart bilden die roten Beeren dieser östlichen Mistelart die Hauptnahrung für die aus Nordasien stammenden und in Palästina überwinternden Misteldrosseln. Die weißen Beeren der europäischen Laubholzmistel reifen erst so richtig im Frühjahr, von Ende März bis Anfang April, je nach Verlauf der Spätwinter- und Frühjahrswitterung. Für die Misteldrosseln ist das zu spät. Zu diesem Zeitpunkt sind die meisten schon wieder in ihre Brutgebiete gezogen. Für die zurückwandernden Seidenschwänze hingegen liegen sie genau
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richtig. Sie brauchen für den 1000 und mehr Kilometer langen Flug in ihre Brutgebiete eine Nahrung, die sowohl reich an Energie ist, um die Kraft für die Rückwanderung zu liefern, als auch hinreichend Eiweiß enthält, damit die Weibchen schnell ihre Eier heranreifen lassen und zur richtigen Zeit legen können. Die Mistelbeeren erfüllen diese beiden Voraussetzungen. Sie enthalten im Trockengewicht 34 % Zucker, 1,1% Fett und immerhin 6,2 % Rohprotein. Ein Seidenschwanz benötigt pro Tag bei einem Körpergewicht von etwa 60 Gramm und einer Ausnutzung der Nahrung von 60 % rund 100 Gramm Mistelbeeren. Sie liefern nicht nur die benötigte Energie, sondern darüber hinaus auch noch einen Überschuss von zwei Gramm Kohlenhydrate und Fett. Das reicht, um Reserven anzulegen. Etwa 250 reife Mistelbeeren sind dazu vonnöten und das entsprach im April 2001 der Menge, die ein Mistelbusch durchschnittlicher Größe getragen hat. Das heißt, dass pro Seidenschwanz damit mehr als das eigene Körpergewicht pro Tag an Mistelbeeren durch den Körper geschleust werden musste. Die Seidenschwänze verzehren Beeren in ein oder zwei Schüben am Tag, und zwar jedes Mal so viel, wie sie aufzunehmen imstande sind. Hauptaktivität ist der späte Vormittag mit einer Ruhepause um die Mittagszeit. Dann tritt ein neuer Schub am frühen Nachmittag auf, dem die lange Rast vom frühen Abend bis zum späten Morgen folgt. In dieser Zeit verdauen sie und scheiden insgesamt in einem 24-Stunden-Zyklus wieder mehr als das eigene Körpergewicht aus. Die Verdauung hat aus den Beeren nur die leicht verwertbaren und in Fett umzuwandelnden Zucker sowie einen Teil der Proteine herausgeholt. Die Samenkörner und den klebrige Schleim der Mistelbeeren scheiden sie aus. Diese Ausscheidungen können auf einem Ast hängen bleiben. Manchmal schwingen sie tagelang im Wind, bis sie entweder zu Boden fallen und zugrunde gehen oder aber dann doch wie ein Pendel, das sich überschlägt, hochgeschleudert werden und auf der Rinde zum Keimen landen. Für die Seidenschwänze ist nur wichtig, dass es reichlich tragende Misteln gibt, von denen sie nicht nur satt werden, sondern auch Reserven anlegen können. In München-Nymphenburg und Umgebung war es bei der Großinvasion von 2001 möglich, eine ungefähre Abschätzung vorzunehmen. Es waren etwa 10 000 bis 12 000 Mistelbüsche
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mit reifen Beeren und entsprechender Größe vorhanden. Die Hauptmasse der Seidenschwänze traf am 5. April ein. Am 10. April ergab eine ziemlich genaue Zählung insgesamt 2484 Seidenschwänze. Bei einer Anwesenheitsdauer von sieben Tagen und ausschließlicher Ernährung von Mistelbeeren hätten diese rund zweieinhalbtausend Vögel etwa 14 000 Mistelbüsche benötigt. Tatsächlich verließ die Masse der Seidenschwänze das Gebiet vom 10. auf den 11. April. Zurück blieben nur kleine, unstet herumfliegende Gruppen. An den Mistelbüschen ließen sich nach dem 10. April praktisch keine Beeren mehr feststellen. Auch der weitaus größte Teil der männlichen Blüten war abgezwickt und große Mengen davon lagen unter den Bäumen. Da sicherlich nicht alle Mistelvorkommen erfasst werden konnten und die Seidenschwänze wohl auch weiter als nur in einem Umkreis von einem Kilometer um den Nymphenburger Park herumflogen, passen Angebot und Bedarf recht gut zusammen. Wie später auch die neue Generation kleiner Misteln, die seit dem Masseneinflug von April 2001 heranwächst. Sie werden wohl erst in etwa sieben Jahren groß genug sein, um reichlich Beeren zu tragen. Was sich hier als kleiner Ausschnitt aus dem Lebenszyklus der Seidenschwänze darstellt, muss das gesamte Jahr über und über die Jahre hinweg funktionieren. Sind deswegen die Befürchtungen mancher Naturschützer berechtigt, schon geringfügige Veränderungen in den Temperaturverhältnissen könnten solch «fein abgestimmte Verhältnisse» durcheinander bringen oder zusammenbrechen lassen? Ich meine, gerade das Gegenteil geht aus solchen Befunden hervor. Sie zeigen nämlich, wie «opportunistisch», also sich bietende Gelegenheiten nutzend, ein Spezialist wie der Seidenschwanz reagiert. Die große Menge an Misteln in München (und ihr weitgehendes Fehlen im nahen Augsburg; vgl. Schönfelder und Bresinski 1992) hat überhaupt nichts mit Wetter und Klima, sehr viel aber mit Kulturgeschichte zu tun. Der Nymphenburger Park ist schon seit Ende des 19. Jahrhunderts Zentrum der bekannten Münchner Mistelvorkommen. Entstanden war es selbstverständlich nicht aus ökologischen Erwägungen oder Notwendigkeiten heraus. Das bayerische Königshaus hatte ihn errichten lassen und später zu festgelegten Öffnungszeiten der Bevölkerung zugänglich gemacht. Eben-
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so wenig haben die Beerensträucher in den Gärten mit Wetter, Klima oder natürlichen ökologischen Verhältnissen mitteleuropäischer Landschaften zu tun. Auch heute wird bei der Bepflanzung der Gärten nur ausnahmsweise darauf geachtet. Worauf sollte auch geachtet werden? Reicht es, «standortheimische Gehölze» zu verwenden? Die Seidenschwänze nutzen Beerensträucher wie auch viele andere Vogelarten, weil es sie gibt und weil sie hier und jetzt verfügbar sind. Wer die Sträucher aufmerksam betrachtet, weiß, dass sie in manchen Jahren sehr reichlich, in anderen wenig oder fast gar keine Frucht tragen. Ein verlässliches oder gar natürlicherweise konstantes Nahrungsangebot gibt es nicht. Ohne eine massive und andauernde Unterstützung der landwirtschaftlichen Produktion gäbe es die regelmäßig guten Ernten nicht, wie wir sie aus unserer Zeit kennen. Ohne das Wirtschaften der Menschen gäbe es so gut wie keine «Kulturfolge» bei Tieren und Pflanzen. Für die Mauersegler wurde dies schon in Kapitel 3 ausgeführt, aber noch enger mit dem Menschen und seinen Ansiedlungen sind die Schwalben verbunden. Wenn gegenwärtig immer noch Millionen von Rauchschwalben (Hirundo rustica) in den Mittelmeerraum und nach Afrika zum Überwintern fliegen, so ist dies Ergebnis ihrer Kulturfolge und nicht Spiegel der natürlichen Notwendigkeiten in Europa, im Brutgebiet, und in den Winterquartieren. Wir pflegen dabei nicht einmal ernsthaft die Frage in Erwägung zu ziehen, wie die von der europäischen Kulturlandschaft so begünstigten Vogelarten in den Gebieten, in denen sie überwintern, auf die dortige Vogelwelt wirken. Machen sie anderen Arten Konkurrenz? Wenn ja, ist diese bedeutsam? Haben sich die dortigen Artenspektren verändert? Wenn ja, wie stark? Umgekehrt ist auch die Frage zu stellen: Was bedeuten die geringeren Winterverluste von Zugvögeln, die bei uns in Mitteleuropa überwintern und hier reichlich Futter vorfinden, für ihre nordischen, menschenfernen Brutgebiete? Verschärfen sie den Konkurrenzdruck auf die dort gebliebenen Vögel und andere Tiere? Womit sich die Schleife wieder zurückdreht zu der noch immer nicht gelösten Frage, warum die Seidenschwänze etwa alle sieben Jahre in größeren oder großen Invasionen kommen. Zwingt sie die Konkurrenz dazu, die in den normalen Überwinterungsgebieten zu wenige Beeren an Büschen und Bäumen
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übrig lässt, zu den invasionsartigen Flügen in fernere Winterquartiere? Haben sie etwa alle sieben Jahre überdurchschnittlich gute Bruterfolge? Wirken die Sonnenflecken, die Lemminge, die Schneehasen oder noch unbekannte Faktoren? Wird eine zunehmende Erwärmung der Waldtundra, wie schon befürchtet wird, die Mückenplage – und damit das Nahrungsangebot für die Seidenschwänze – vergrößern? Ist das, was für die Seidenschwänze möglicherweise gut ist, doch nicht gut, weil es für andere Arten schlecht ist? Welche Arten aber wollen und sollen wir dann vorziehen? Die Eisbären, weil sie lange erbarmungslos gejagt und dezimiert worden sind und weil man sie in die unwirtlichsten Gebiete zurückdrängte? Oder wäre es nicht doch besser, sie nicht mehr zu bejagen und die Eisbären, wie nahe der kleinen Stadt Churchill an der großen Hudson Bay in Kanada, zu wunderbaren Naturerlebnissen für Touristen werden zu lassen? Sind Schwarz-und Grizzlybären in Nordamerika «schlecht», wenn sie den Abfall der Menschen als ihnen nützliche Nahrungsquelle entdecken und nutzen, extrem scheue Braunbären in den Alpen aber «gut», weil sie ansonsten von Jägern in Notwehr erschossen werden? Vielleicht hätten die Menschen im Spätmittelalter die Pestvögel am liebsten ausgerottet, wenn sie das gekonnt hätten. Um sich vor der Pest zu schützen, schien jedes Mittel recht und jeder Hoffnungsschimmer eine Verheißung. Zum Glück ging das damals nicht und heute wissen wir, dass die «Pestvögel» mit der Pest nichts zu tun haben. Wohl aber hing ihr Erscheinen mit der Klimaverschlechterung zusammen, die das Vordringen der großen Seuchen begünstigte und im Gegensatz zum so warmen Mittelalter die allgemeine Lage der Menschen verschlechterte. Und sie anfällig machte für die Seuchen, deren genaue Natur immer noch reichlich rätselhaft ist (Vasold 2005). War es die «schlechte Zeit» der «Kleinen Eiszeit», die Einflüge von Seidenschwänzen verstärkte und die Wärme liebende Eichenmistel zugunsten «unserer» Mistel zurückdrängte? Es liegt nahe anzunehmen, dass die extrem harten Winter des 16. bis 18.Jahrhunderts, denen auch im 19. und 20. noch einige folgten, «nordische Arten» einfach weiter nach Süden getrieben haben. Wie die Wölfe, die in jener Zeit von Nordwestrussland und Polen bis tief nach Frankreich vordrangen. Damals entstanden die «Märchen» von den Wölfen und
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unser bis heute in der Bevölkerung geprägtes Wolfsbild als einer heimtückischen, reißenden Bestie. Ob Wolf oder Werwolf, ob Pestvogel oder Seidenschwanz, es sind die Erfahrungen, Volksmeinungen und der Aberglaube vergangener Jahrhunderte, die bis in unsere Zeit auf höchst zähe und hinterhältige Weise fortwirken. Auch zu Beginn des dritten Jahrtausends, im April 2001, wurden die Seidenschwänze von der Boulevardpresse «Pestvögel» genannt. Wölfe und Hunde, die so ähnlich aussahen, wurden erlegt, um die Wolfsgefahr in Ostdeutschland zu bannen. Daher hängt die Zukunft vieler Arten weit mehr von den schier unausrottbaren, «mittelalterlichen Vorurteilen» in der Bevölkerung und den anscheinend noch tiefer verwurzelten Emotionen vieler Jäger ab als von der großen, demokratisch betrachtet eigentlich erdrückenden Mehrheit der wohlmeinenden Bevölkerung oder gar von wissenschaftlichen Erkenntnissen, an denen nach wie vor nur eine viel zu kleine Minderheit interessiert ist.
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Türkentaube und Türkenkorn
Eine der ersten Eintragungen in mein «Ornithologisches Notizbuch» vom 23. Februar 1959 betrifft fünf Tauben, die ich am Bahnhof von Pocking in Niederbayern auf dem Weg zur Schule sah, aber zunächst nicht bestimmen konnte. Die kleinen grauen Tauben mit dem schwarzen Halbmond am Hals sahen der in einem Buch über Ziervögel abgebildeten Lachtaube recht ähnlich und so meinte ich, es wären entflogene Exemplare eines Taubenzüchters gewesen. Möglich wäre dies durchaus gewesen, denn die domestizierte Form der Lachtaube (Streptopelia risoria) aus Nordostafrika gerät immer wieder einmal in Freiheit und kann ihrem Aussehen zufolge leicht mit der Taubenart verwechselt werden, um die es tatsächlich geht, nämlich die Türkentaube (Streptopelia decaocto). Wüst (1986) stellte so eine HausLachtaube im Juni 1967 im Nymphenburger Park in München fest. Der Balzgesang der Lachtaube klingt jedoch anders und so fand ich mit Hilfe der Naturzeitschrift Kosmos heraus, dass die fremden Tauben am Bahnhof von Pocking keine entflogenen Lachtauben, sondern Türkentauben waren. Sie blieben auch nicht die einzigen. Im selben Jahr entdeckte ich sie in meinem Heimatdorf Aigen am Inn und in anderen Dörfern des niederbayerischen Inntals. Und es waren auch nicht die ersten Türkentauben in Deutschland, auch wenn die Ansiedlungen am unteren Inn zu den frühen Schwerpunkten der Ausbreitung dieser Taube gehörten. Doch das wurde erst Jahre später deutlich. 1943 wurde sie in Wien, 1946 in Augsburg festgestellt und schon in den späten 1950er Jahren erreichten die Vorstöße der Türkentaube Nordwestdeutschland. Als sie Aufnahme in die Bestimmungsbücher für Vögel gefunden hatte, stieg die Zahl ihrer Feststellungen sprunghaft an. Davor war sie sicherlich nicht erkannt und wie von mir zunächst für eine Lachtaube gehalten worden. Doch ihr unverkennbar dreisilbiges «Guhguuh-
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guck» ertönte schon in den 1970er Jahren in nahezu jeder Stadt und in jedem mitteleuropäischen Dorf mit landwirtschaftlich genutzter Umgebung. Die Ausbreitung dieser zarten Taube ergoss sich wie eine nicht zu bremsende Flut über nahezu ganz Europa. Im Südwesten gelangte sie über die Iberische Halbinsel nach Nordafrika, im Osten weit nach Nordasien hinein. Nach China hatte man sie wohl früher schon verfrachtet. Ihre genaue Herkunft blieb umstritten, da es bereits im 18. und 19. Jahrhundert einen ersten Ausbreitungsschub gegeben hatte. Mit diesem war die Türkentaube nach Südosteuropa gekommen, und zwar praktisch genau bis an die Grenzen des Osmanischen Reiches. Der deutsche Name Türkentaube passte daher für das westliche Verbreitungsgebiet durchaus ganz gut, nicht aber für das zentrale und östliche, denn wahrscheinlich stammt die Art aus Nordwestindien oder den angrenzenden Regionen Vorderasiens. Ihre Urheimat war die Türkei sicherlich nicht, aber sie verdankt ihr viel und wahrscheinlich hängt ihr Ausbreitungserfolg sehr eng mit der Kultur der Osmanen zusammen. «Einzigartig», wie vielfach behauptet, ist ihre Ausbreitung jedoch nicht. Es gibt mehrere durchaus vergleichbare Fälle und sie werden gleichsam zu Testfällen, ob die Deutungen für die Türkentaube plausibel sind oder bloße Vermutungen bleiben. Wie bei allen anderen Arten auch, die sich «plötzlich» stark ausbreiten und ganz neue Gebiete besiedeln, stellen sich der Frage nach den Ursachen zwei Grundprobleme: (1) Warum erfolgte die Ausbreitung in ein bestimmtes Gebiet hinein und (2) warum zu einer bestimmten Zeit? Es geht also um eine «Raumfrage», um das Areal nämlich, aus dem die Taube stammte, und um den neuen Teil, in den sie sich ausbreitete, und um die «Zeitfrage», weshalb das nicht schon früher, sondern zu ebendieser Zeit erfolgte. Wäre die Ursache ein Klimawandel, hätte zahlreiche andere Arten in ähnlicher oder gleicher Weise reagieren müssen. Das war jedoch ganz offensichtlich nicht der Fall. Aber dass die kleine, nur 28 Zentimeter lange und etwa 200 Gramm leichte Taube in wenigen
(3) Warum konnte sie so häufig werden? Für eine große Häufigkeit muss es die entsprechenden Lebensgrundlagen gegeben haben. War also die «ökologische Nische» der Türkentaube frei? Besetzte sie eine «freie Planstelle»? Sollte dies der Fall gewesen sein, mahnt die «Zeitfrage»: Warum dann erst jetzt und nicht schon früher? Und warum nutzen die anderen Taubenarten den Freiraum nicht, wo es doch vier weitere davon in Mitteleuropa gibt: eine kleinere, die Turteltaube (Streptopelia turtur), sogar aus derselben Gattung und drei größere, von denen eine allgemein bekannt ist, die Stadt- oder Straßentaube (Columba livia forma domestica). Diese von vielen Menschen gefütterte, aber vielen auch verhasste Taube kommt sogar fast ausschließlich in jenem Bereich vor, den die Türkentaube in gleicher Weise zur Fortpflanzung besiedelte, nämlich in den größeren Siedlungen und den Städten, an Straßen und in Industriegebieten. Den anderen Taubenarten kommt sie weit weniger nahe, weil die Hohltaube (Columba oenas) in lichten Wäldern in Baumhöhlen (Spechthöhlen) nistet und vergleichsweise selten ist sowie weniger als ein Zehntel der Brutpaarzahl der Türkentauben erreicht. Weder sie noch die etwas häufigeren Turteltauben und die häufigste von allen, die große Ringeltaube, ließen auch während des Vordringens der Türkentaube Bestandsrückgänge erkennen. Anscheinend machte die Neue den alteingesessenen Tauben nichts aus. Dabei wäre eine Häufigkeitsabnahme bei den Stadttauben sogar weithin begrüßt und nicht als Verlust eingestuft worden. Kein Wunder, dass die Türkentaube auch für Ökologen ein ziemliches Rätsel blieb, schien sie sich doch überhaupt nicht an die Konzepte von «ökologischer Nische» und «Konkurrenz» zu halten. Sie folgte mit ihrer Ausbreitung vom Balkan her zunächst einer Nordwestrichtung, breitete sich jedoch, nachdem sie die Britischen Inseln erreicht und nahezu auf ganzer Fläche besiedelt hatte,
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Jahrzehnten mit wahrscheinlich erheblich über einer Million Brutpaaren zur zweithäufigsten, wenn nicht gar häufigsten Taube in Mitteleuropa werden konnte (Bauer & Berthold 1996), fügt zwangsläufig eine dritte Kernfrage, die «Häufigkeitsfrage», hinzu:
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sowohl nach Südwesten (Frankreich, Iberische Halbinsel) als auch nach Nordosten bis Südschweden und Nordwestrussland aus. Die Karten im Handbuch der Vögel Mitteleuropas (Glutz von Blotzheim 1980) hätten auch einen Dammbruch symbolisieren können, der seine Flut in Nordwestrichtung über Europa hinweg ergoss. Für manche schien da eine «Mutation» die einzige Erklärung. Doch wie sollte man sich ein Gen vorstellen, das einer Türkentaube urplötzlich sagt, «go northwest (!)» – und dies zudem in zwei großen Etappen mit mehr als einem halben Jahrhundert Pause dazwischen. Eine solche Mutation hätte sich über sicherlich lange Zeit (wie lange, darüber lässt sich nicht einmal spekulieren) in der Ausgangspopulation als recht vorteilhaft erweisen müssen, ohne aber den «Befehl», nach Nordwesten abzuwandern, auszuführen. Erst wenn sich große Schwärme aus Trägern dieser Mutation zusammengefunden hätten, wäre ein anfänglicher Ausbreitungserfolg möglich geworden. Dagegen spricht allein schon die Geschwindigkeit, mit der die Türkentaube nach der Mitte des 20. Jahrhunderts vorangekommen ist. Das war kein langsames, kontinuierliches Vorankommen einer Ausbreitungsfront, sondern eine buchstäblich stürmische Eroberung eines halben Kontinents. Die Ruhepause dazwischen, nach dem Beginn der Ausbreitung im späten 18. oder im 19. Jahrhundert, bliebe gleichfalls höchst rätselhaft. Warum hätte die Taube bis zu den beiden großen Weltkriegen an den Grenzen des Osmanischen Reiches verharren sollen? Den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches mit einer «Befreiung» der Türkentauben in Verbindung bringen zu wollen dürfte kaum mehr als ein amüsantes Gedankenspiel sein. Möchte man meinen, aber Meinungen sind bekanntlich so eine Sache. Es gibt da doch ganz Erstaunliches, das mit Ökologie unmittelbar gar nichts zu tun hat, aber dennoch große Wirkungen entfalten kann. Einer der wenigen Menschen, die als Zeitzeugen sowohl an der Vogelkunde als auch an der Kultur interessiert (und nicht nur in einem Bereich spezialisiert) waren und diese Übergangszeit erlebten, ist der Berliner Wolfgang Baumgart. In einer unauffälligen, jedoch höchst gehaltvollen Studie deckte er Zusammenhänge auf, die bisher Unverstandenes zur Türkentaube plötzlich verständlich machen (Baumgart 1994). Sie entlassen die Ökologie aus ihrem konzeptuellen Dilemma und
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stellen in der Tat eine enge Verbindung zum Osmanenreich her. Sogar neue «Wege» zeigt Baumgart auf, mit deren Hilfe die Türkentaube aus ihrem «türkischen Serail» herausgekommen sein könnte. Sie führen genau dorthin, wo ich im niederbayerischen Inntal die ersten Türkentauben sah, an den Bahnhof von Pocking nämlich. Die näheren Nachforschungen ergaben, dass ein paar Jahre früher schon in Schärding, auf der österreichischen Seite am Inn südlich von Passau gelegen, und weiter flussaufwärts am weitflächigen Bahnhofsgelände von BraunauSimbach Türkentauben festgestellt worden waren. Wie Baumgart sehr überzeugend darlegt, folgte diese Taube offenbar im Wesentlichen den Bahnlinien. Diese bildeten so etwas wie die großen Leitlinien für ihre Ausbreitung, nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen, wie ich selbst im niederbayerischen Inntal dann in den 1960er Jahren mitverfolgen konnte. Alle Bahnstationen wurden nach und nach besiedelt, außer es handelte sich um Haltestellen ohne Gebäude. Ein Jahrzehnt später, Anfang der 1970er Jahre, war das ganze niederbayerische und oberösterreichische Inntal von der Türkentaube besiedelt, und zwar mit umso größerer Zahl von Brutpaaren je Ort, je mehr Einwohner dieser hatte. Die Geschichte schien nun aber noch rätselhafter zu werden. Betätigten sich die Tauben als «blinde Passagiere» der Eisenbahn? Hat der größere Brutbestand in größeren Ortschaften mit der Einwohnerzahl oder mit der Größe der Bahnanlagen zu tun? Was soll das überhaupt für ein Zusammenhang sein? Die Verknüpfung mit der Eisenbahn passt zwar in die Zeit der zweiten Ausbreitung der Türkentaube, sie taugt aber nicht für die erste. Denn da gab es gerade auch in der Türkei, in Syrien und den angrenzenden Regionen noch keine Eisenbahn. Dafür aber umso mehr Taubenhäuser und eine außerordentliche Beliebtheit der kleinen Türkentauben. Wie Baumgart nach umfangreichen eigenen Erfahrungen und Beobachtungen darlegt, erfreute sich die Türkentaube im Osmanischen Reich einer ganz besonderen Wertschätzung, und zwar in ähnlicher Weise wie die so nahe verwandte nordafrikanische Lachtaube. Die Türkentauben wurden gefüttert und geschützt. Sie werden als Verkörperung der Liebes- wie der Friedenstaube angesehen. Ihre entferntere Verwandte, die orientalische Felsentaube, war als
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Stammform der Haustauben schon zwei Jahrtausende früher in ähnlicher Weise geschätzt und noch viel stärker auch gezüchtet worden. Bis heute dürfen ihre Nachfahren Fassaden und Plätze verschmutzen und werden dennoch in überschwänglicher Weise gefüttert, auch hierzulande, fern der osmanischen Welt, aber in Fortsetzung der orientalischen «Taubentradition». Aus diesen Befunden ließe sich zwar durchaus erklären, warum es der Türkentaube in der Türkei und ihren Ablegern auf dem südosteuropäischen Festland bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein ganz gut ging und warum sie sich den Menschen gegenüber ähnlich vertraut verhält wie die verwilderten Stadttauben, aber eine Begründung für den Aufbruch nach Nordwesten ergibt sich daraus nicht. Tatsächlich bedeutete der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg zunächst sogar einen Rückschlag für sie und nicht etwa eine Entlassung in die Freiheit. Diese hatte sie in kaum eingeschränkter Form genießen können. Also hätten die Türkentauben, einmal über den Bosporus nach Europa gekommen, sich von dort schon im 19. Jahrhundert gerade so ausbreiten können wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Am Fehlen der Eisenbahn kann das wohl auch nicht gelegen haben. Größere Mengen Türkentauben als blinde Passagiere wären auch später aufgefallen. Es hat sie sicherlich nie gegeben – und das meint auch Wolfgang Baumgart natürlich nicht. Vielmehr sieht er in den Getreidetransporten, die an den Bahnhöfen mit den damals neu gebauten Lagerhäusern umgeschlagen wurden, den Anreiz. Und diese gingen von den Grenzen des vorigen Verbreitungsgebietes, von Ungarn und Serbien aus nach Nordwesten! Aus den Kornkammern des (Süd-) Ostens kam damals viel Getreide nach Mitteleuropa. Das ist richtig und als Zwischenstück gewiss auch wichtig. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg, gerade als die ganz große Ausbreitung in Schwung gekommen war, gab es keine umfangreichen Getreidelieferungen von Osten mehr. Der «Eiserne Vorhang» war geschlossen worden. Also müssten die gerade noch rechtzeitig während des Zweiten Weltkriegs und kurz danach «nach Westen» gelangten Türkentauben von sich aus die weitere Massenausbreitung vollbracht haben. Womit aber? Auf welche neue, ganz anders geartete Lebensgrundlage hätten sie sich dabei stützen können? Getreide war auch vorher da – und die ande-
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ren Taubenarten. Damit wird die Ökologie aufs Neue gefordert. Osmanische Kultur und Eisenbahn reichen nicht, auch wenn sie mit umfassendem Schutz vor Verfolgung in der Menschenwelt und Leitlinien für die Ausbreitung sicherlich sehr wichtige Rahmenbedingungen abgegeben haben. Die Behebung der Zeitstufe zwischen dem 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Eisenbahn liefert für einen gut flugfähigen Vogel, der nicht nur in Städten lebt, sondern auch draußen viel herumfliegt, doch nicht genügend Begründung. Vielleicht kamen zwei weitere Effekte hinzu, die heute kaum mehr bedacht werden. In den sechs langen Kriegsjahren und in den Jahren danach fand so gut wie keine (geregelte) Jagd statt. Also blieb möglicherweise den Pionieren der Türkentauben, die in dieser Zeit westwärts vordrangen, das ansonsten übliche Schicksal erspart, abgeschossen zu werden. Eine menschengewöhnte, wie alle Tauben sicherlich auch essbare Art, die zudem den damals weithin als Jagdwild sehr beliebten Turteltauben entspricht, wäre in Friedenszeiten ziemlich sicher gescheitert. Auch heute noch droht vielen Vögeln und Säugetieren, die in andere Gebiete vorstoßen, die vorzeitige Ausrottung, wenngleich nicht mehr im früheren Umfang, was die Vogelwelt betrifft. Aber im selben Tal des unteren Inns, in dem sich die ersten Türkentauben gezeigt hatten, scheiterten noch in den 1970er Jahren Ansiedlungsversuche des kleinen und natürlich auch damals schon geschützten Seidenreihers (Egretta garzetta). Die prächtigen, schneeweißen Vögel mit den seidigen Schmuckfedern wurden geschossen und präpariert. Erst 30 Jahre später glückte ihnen im selben Gebiet ein neuerlicher Brutversuch. Ob er von Dauer sein wird? Nun gab es im Zweiten Weltkrieg und danach nicht nur für rund ein Jahrzehnt keine Jagd, sondern auch große, vom Krieg zerstörte Flächen mit Trümmergrundstücken, aufgegebenem, brachliegendem Gelände und dergleichen. Man weiß, dass dieser Ruinenzustand die beste Zeit für den Hausrotschwanz (Phoenicurus ochruros) war, ohne damit etwa zu bedauern, dass dieser kleine Vogel nun schon ein halbes Jahrhundert lang keine so günstigen Lebensbedingungen mehr hat. Das mag, wie die fehlende Bejagung, für die Türkentauben zwischen 1944 und 1949 durchaus günstig gewesen sein, aber sicherlich auch nicht ent-
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scheidend für den so einzigartigen Erfolg. Geschossen wurden diese Tauben auch später kaum, weil sie sich fast ausschließlich im besiedelten, jagdlich befriedeten Bereich aufhalten. Trümmergrundstücke und Ruderalflächen gehören offensichtlich auch nicht zu den bevorzugten Stellen, an denen sie nisten. Wohl aber waren sie von Anfang an im Winter an Futterstellen für Singvögel zu finden. Sie zwängen sich notfalls sogar in enge Futterhäuschen, um an die Körner zu kommen. Dies lenkt die Betrachtung zurück in die Zeit des Osmanischen Reiches und hin auf das Futter, das sie damals erhielten und das sie ganz klar bevorzugen, wo immer sie es bekommen. Baumgart (1996) hat auch hierzu sehr aufschlussreiche Befunde veröffentlicht. Die Türkentauben wurden mit Getreide gefüttert, aber nicht mit irgendeinem, sondern mit dem, was den Hühnern gegeben wird, nämlich gebrochenem Mais. Sein in Österreich noch gebräuchlicher, aus dem Südslawischen oder Türkischen stammender Name «Kukuruz» beinhaltet den arabischen Namen für Reis «uruz» und gleichsam den Ruf der Taube, das «kuk». Nun stammt der Mais zwar bekanntlich aus Mittelamerika, wo er schon zur Zeit der Mayas und Azteken sowie von mehreren anderen indianischen Kulturen genutzt wurde – und dort wahrscheinlich auch durch Kreuzung von Wildpflanzen, von denen eine, Teosinte genannt, bekannt ist, entstand. Aber schon vor 500 Jahren, 1493 nämlich, wurde Mais nach Spanien gebracht. Dort fand er kein allzu großes Interesse, ganz im Gegensatz zur Türkei, zu Vorder-, Südasien und China, wohin Maispflanzen 1521 bis 1525 gelangten und sehr bald schon eine wichtige Nahrungsgrundlage wurden. Es kann daher durchaus sein, dass das Türkenkorn, wie der Mais vielfach noch bis ins frühe 20. Jahrhundert in Deutschland genannt wurde, schon die Ursache für die erste Ausbreitung der Türkentaube aus Nordwestindien gewesen ist. Zweifellos war sie aber dann in der Türkei, im Osmanischen Reich, eng mit diesem Korn verbunden. Fast zeitgleich offenbar gelangte sie damit auch auf europäischen Boden, als das Osmanenreich dort wieder Fuß fassen konnte. Im Gebiet des heutigen Albanien etwa gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen isolierten Vorposten. Die erfolgreiche Ausbreitung (oder Einführung) nach China dürfte, wäre sie genauer dokumentiert, gleichfalls damit in Verbindung stehen. Schließlich
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wurden auch weiter westlich gelegene Gebiete des Balkans Maisland und als Kukuruz kam er nach Ungarn und bis vor die Tore Wiens. Die Ausgangslage in der Türkei und ihrer östlichen und südöstlichen Umgebung sowie die Zeitstufe von rund einem halben Jahrhundert ohne weiteres Vordringen nach Westen lassen sich nun mit den Befunden von Wolfgang Baumgart problemlos zusammenfügen. Das Verhalten der Menschen zu dieser Taube und das Verhalten der Taube in der Menschenwelt, die Zeit und der räumliche Verlauf der Ausbreitung stimmen überein. Nur der letzte Abschnitt, die ganz große Ausbreitung, fehlt noch. Sie ergibt sich nun zwangsläufig. Die neuen HybridmaisZüchtungen, die diese Kulturpflanze schon ein halbes Jahrhundert vor den Experimenten mit «Gen-Mais» grundlegend verändert hatten, erlaubten den Anbau in Klimagebieten mit weit kühleren Sommern, wo vorher Körnermais praktisch in keinem Jahr reif geworden wäre. Sogar in der Oberrheinebene waren die ersten Versuche mit Maisanbau zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder aufgegeben worden (Handbuch Mais). Die neuen Sorten lieferten aber Körnermais und das in hohen Hektarerträgen. Mais wurde zu einem «Renner» in der Nachkriegslandwirtschaft in Deutschland und darüber hinaus. Die Anbauflächen stiegen von den 1960er Jahren an steil bis 1990 an. Im selben Umfang gingen der Anbau von Roggen, Sommerweizen und Hafer zurück. Die Flächen waren ja nicht vermehrbar; es musste umgeschichtet werden. Mit über einer Million Hektar Maisfläche war in weniger als drei Jahrzehnten Deutschland ein Maisland geworden. 1968 hatte die Anbaufläche in Westdeutschland (frühere BRD) 180 000 Hektar betragen, zwanzig Jahre danach lag sie bei 1 130 000 Hektar. Das entspricht rund zwei Drittel der Weizenanbaufläche. Doch noch während des stürmischen Ausbaus der Maisflächen kam es zu einer weiteren Veränderung, die für die Türkentaube nachteilig werden musste. Vom anfänglichen Anbau von Körnermais wurde immer mehr auf Silomais umgestellt. Davon können die Tauben nun nicht mehr leben. So gingen ihre Bestände tatsächlich auch bereits ab etwa Mitte der 1980er Jahre wieder zurück. Gegenwärtig liegt der Türkentaubenbestand insgesamt in Deutschland bei bestenfalls noch der Hälfte des Höchstwerts. Im niederbayerischen Inntal hatte sich all das gleichsam im
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günstigsten und besonders typischen Beispielsfall mit vollziehen lassen. Die Orte, an denen die ersten Türkentauben beobachtet worden waren, befinden sich genau im Kerngebiet des neuen Maisanbaus. Von hier aus setzte die große Ausbreitung des Maises in Bayern und in Deutschland ein. Hier, kurz vor dem Zusammenfluss von Donau und Inn, liegt die Pforte nach Südosten und hier gibt es aus diesem geografischen Grund auch eines der Vorkommen der wärmebedürftigen Äskulapnatter (Elaphe longissima), der Mauereidechse (Podarcis muralis) und die ersten Brüten des südöstlich (pontisch) und mediterran verbreiteten Seidenreihers. Im niederbayerischen Inntal gedieh – und gedeiht – der Mais in seinen neuen Sorten bis zur Körnerreife. Dort sammelten sich im Herbst an den Maisaufbereitungsanlagen die Türkentauben zu Hunderten, bevor sie in ganzen Schwärmen irgendwohin weiterzogen – nicht einzeln, sondern ebenfalls zu Hunderten, was die Chancen für erfolgreiche Ansiedlungen fern des Ursprungsorts stark erhöht und gleichzeitig auch die so schnellen und so erfolgreichen Vorstöße verständlich macht. Einzelne Paare wären nie in der Lage, Nachkommen zu erzeugen, die in wenigen Jahren von Wien bis an die Nordsee vorstoßen, ohne gleich wieder zugrunde zu gehen. Die Umstellung auf Silomais für die Schweinehaltung entzog den Türkentauben schon in den 1980er Jahren ihre so wichtige Herbst- und Winternahrung. Die Ansammlungen in den «Maisdörfern» wurden immer kleiner und längst sind die Türkentauben dort eher unauffällige Bewohner in wenigen Brutpaaren. Ihre Häufigkeit stimmt bestens mit dem Angebot überein, wie das von der dritten Hauptfrage gefordert wird. So fügen sich die Teile des Puzzles zu einem zeitlich, kulturhistorisch wie auch ökologisch schlüssigen Gesamtbild. Der Mais bereitete als Kulturpflanze aus dem fernen Amerika den Boden für die erste Ausbreitung in Asien im 17. oder 18. Jahrhundert, für die zweite mit den Türken in den äußersten Südosten von Europa Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts und schließlich in dessen zweiter Hälfte für die Großinvasion, die fast das gesamte Europa erfasste. Daher war auch die «ökologische Nische» frei und keine erkennbare Konkurrenz zu den anderen, längst vorhandenen Taubenarten aufgetreten. Die enge Anbindung an den menschlichen Siedlungsraum erklärt der
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kulturgeschichtliche Zusammenhang. Sie war und ist selbstverständlich ein wesentlicher Teil des Erfolgs. Dass es gebietsweise unterschiedliche Spezialbedingungen gegeben hat und dass sich Türkentauben auch dort mit Erfolg, zumindest bis jetzt, ansiedelten, wo es wenig oder keinen Mais gibt, stellt keinen Widerspruch zur großen Linie dar. Denn wir wissen aus vielen ökologischen Untersuchungen, dass es gerade bei großflächig verbreiteten Arten Teilbereiche ihrer Vorkommen gibt, die Überschuss produzieren (im englischsprachigen ökologischen Fachjargon sources genannt), und andere, die davon erhalten werden, obwohl sie eigentlich Verluste machen (die sinks). Wo die Türkentauben, ähnlich wie die Stadttauben ja auch, unter günstigen Ernährungsbedingungen nicht nur zwei, sondern sogar drei Brüten im Jahr schaffen, reichen auch ihre taubentypisch sehr geringen Jungenzahlen von ein bis zwei pro Brut aus, um Überschüsse zu erzeugen. Sie füttern diese nach Taubenart mit Kropfmilch und müssen daher nicht wie viele andere Vögel zur Versorgung der Jungen ein besonderes Futter suchen. Bei den Haussperlingen ist das nicht so. Ihre Nestlinge brauchen Insekten, während sie selbst im Wesentlichen vom gleichen Futter wie die Türkentauben leben können. Diese Übereinstimmung mit wichtigem Unterschied führt zum letzten Punkt in der Erörterung der Ausbreitung der Türkentaube. Kann es nicht sein, dass bei der Suche nach Konkurrenzwirkung bei den Falschen geforscht worden war? Wolfgang Baumgart hat nämlich auch auf eine weitere Eigenart der Türkentaube hingewiesen, die nähere Beachtung verdient. Sie entspricht in vieler Hinsicht ökologisch mehr dem Haussperling (Passer domesticus) als den anderen Tauben. Auch dieser ist Kulturfolger und weltweit sogar der Prototyp dafür in der Vogelwelt. Außerhalb seines ursprünglichen, kaum noch einigermaßen vollständig zu rekonstruierenden Verbreitungsgebietes (Artareals) hängt er fast überall mehr oder weniger vollständig vom Menschen ab. Wo Dörfer verlassen werden, verschwinden auch die Spatzen! Sein Anschluss an den Menschen reicht aller Wahrscheinlichkeit zurück bis in die frühen Zeiten des Getreideanbaus. Sein «Getreide» ist das Brotgetreide der Menschen, das wohl sehr früh schon zur Fütterung von Hühnern verwendet worden ist, um es gleichsam «zu Fleisch zu veredeln». Ge-
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treideanbau und Futtergetreide für die Pferde (Hafer) bestimmen im Wesentlichen die Verbreitung des Haussperlings in Eurasien und in den Ablegern Europas in Amerika, Australien und manchen Gebieten Afrikas. Was die Türkentaube in unserer Zeit vorgemacht hat, dürfte in ganz ähnlicher Weise in viel früheren Zeiten mit dem Haussperling abgelaufen sein. Wenn diese Annahme stimmt, eröffnet sie die Möglichkeit zu einer kritischen Überprüfung des Geschehens bei der Türkentaube. Diese sollte nämlich dann tatsächlich eine Konkurrenz für die Spatzen geworden sein. Leider erfassten offenbar nirgendwo die Vogelkundler von Anfang an die Häufigkeit der Haussperlinge und der Türkentauben in einem größeren Gebiet über längere Zeit nach dem Eintreffen der neuen Tauben. Aber vielleicht ist es möglich, aus noch nicht ausgewerteten Aufzeichnungen darin schlummernde Vergleiche hervorzuholen. Für Winterbeobachtungen an Vogelfutterhäuschen im niederbayerischen Inntal ergibt diese Rückschau nämlich einen ganz eindeutigen Befund: Die Spatzen nahmen ab, als die Türkentauben häufiger wurden, und zwar ziemlich genau gegenläufig, wenn diese ihrer Körpergröße entsprechend gegenüber den Spatzen gewichtet werden. Und es haben nicht nur die Haussperlinge, sondern auch die Feldsperlinge (Passer montanus) und die Grünlinge (Carduelis chloris) abgenommen (Abb. 45).
Abb. 45: Rückgang der Häufigkeit von Sperlingen und Grünling mit Zunahme der Häufigkeit der Türkentauben im niederbayerischen Inntal. Winterzählungen von 1971 bis 1985 in Aigen am Inn
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Waren also die Türkentauben (Mit-)Verursacher des seit geraumer Zeit beobachteten Rückgangs der Haussperlinge? Wie so oft werfen Zwischenergebnisse neue Fragen auf. Vieles bleibt offen, und wie fast immer fehlen Aufzeichnungen zu den «gewöhnlichen Arten», weil das Gewöhnliche uninteressant erscheint und für unveränderlich gehalten wird.
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Wald im Wandel
Wälder bedecken rund ein Drittel der Landfläche von Mitteleuropa. Flächenmäßig wie auch für die Artenvielfalt sind sie damit der zweitwichtigste Lebensraum, für große Arten von Tieren und Pflanzen aber zweifellos der wichtigste. Denn frei lebende größere und große Landtiere können fast nur noch in Wäldern bestehen. Fast alle größeren Säugetiere von mehr als etwa fünf Kilogramm Gewicht und der weitaus größte Teil der Vögel, die über zwei Kilogramm schwer werden, wurden in die Wälder zurückgedrängt oder überlebten bis in unsere Zeit dank der Rückzugsmöglichkeiten, die sie in den Wäldern fanden. Eine besondere Rolle als Rückzugsraum kommt dabei wegen ihrer schwierigeren Zugänglichkeit für Menschen den Bergwäldern zu. Die artenreichsten Wälder aber waren die Auwälder, als es sie noch als mehr oder weniger geschlossene Bänder von dschungelartigem Wuchs entlang der Flüsse gab. Schon kleine Waldstücke bereichern die Kulturlandschaft, nicht nur im Landschaftsbild, sondern über die Artenvielfalt, denn diese ist besonders groß, wo sich Wald und Flur mosaikartig miteinander verzahnen. Viele Gegenden Mitteleuropas sehen aus der Luft betrachtet wie ein riesiges Inselgebiet aus, das aus den dunklen Flecken der Wälder und der hellen Umgebung der Fluren besteht. Wie richtige Inseln, die nahe beieinander liegen und eine «Inselwelt» bilden, erweisen sich solche Waldinseln in der Kulturlandschaft als Zentren der Artenvielfalt: in den Mittelgebirgen, im an Wäldern und Seen so reichen Nordosten und im Voralpenbereich. Die Gesamtfläche des mitteleuropäischen Waldes hat im Verlauf des 20. Jahrhunderts auch nicht abgenommen. Die Wälder wuchsen, allen Widrigkeiten zum Trotz, kontinuierlich heran und ihr Holzvorrat, wie es die Forstwirtschaft nennt, stieg an. Die Phase des «Waldsterbens» ging offenbar vorüber, ohne den Wäldern den Tod gebracht zu haben. Orkane der 1990er
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Jahre, wie Vivian, Wiebke und Lothar, richteten zwar schwere Schäden für die Forstwirtschaft an, aber nicht für die Natur des Waldes, die von Natur aus mit Sturm und Feuer, mit Frost und Dürre zurechtkommt. Das muss auch so sein, wie sonst hätten Wälder wachsen und gedeihen können, die den Kräften der Natur voll ausgesetzt waren, bevor ihnen der Mensch seinen Schutz und seine Pflege angedeihen ließ? Aus sehr eigennützigen Gründen geschah dies zwar, aber dennoch recht wirkungsvoll. Große Waldbrände gibt es in Mitteleuropa seit vielen Jahrzehnten – anders als rund ums Mittelmeer – so gut wie überhaupt nicht mehr. Selbst so außerordentliche Hitzesommer wie der von 2003 brachten den mitteleuropäischen Wäldern keine großen Feuer. Früher wäre dies anders gewesen. Die Kiefernaufforstungen in Nordostdeutschland, die heute prächtige Wälder darstellen, von denen große Flächen unter Schutz stehen, waren in den heißen, trockenen Sommern zu Beginn und um die Mitte des 20. Jahrhunderts akut von Waldbränden bedroht. Feuerschutzschneisen durchziehen sie noch heute und das ist aus der Sicht der Forstwirtschaft auch gut so. Es könnte ja doch sein, dass es wieder einmal zu einem großen Waldbrand kommt wie in der Taiga, den nordischen Nadelwäldern, die sich von Nordwesteuropa in einem breiten Band quer über Nordasien und das nördliche Nordamerika hinziehen. Diese Wälder übertreffen den tropischen Regenwald bei weitem an Fläche. Sie sind die Heimat der meisten «Waldarten» an Pflanzen und Tieren, die auch in unseren Wäldern leben. Auch der andere Typ von Wald, der europäische Laubwald, ist in unseren Wäldern gut vertreten, wenngleich nicht mehr in den früheren natürlichen Anteilen, weil vielfach dort, wo von Natur aus Laubwald wachsen würde, der ertragreichere Nadelwald gepflanzt worden ist (Küster 1990). Gepflanzt wurden allerdings alle unsere Wälder. Es gibt nur verschwindend geringe Anteile natürlich gewachsener Wälder weit verteilt in extremen Lagen. Zusammen machen sie nicht einmal 1 % der Waldflächen Mitteleuropas aus. Über 99 % sind Kulturwälder, also Forste. Doch anders als im landwirtschaftlichen Kulturland, wo es fast ausnahmslos Pflanzenarten fremder Herkunft sind, die das Land bedecken und mit denen gewirtschaftet wird, bestehen die Wälder nur zu einem sehr geringen Anteil aus nichtheimi-
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schen Baumarten. Sogar die forstlich sehr geschätzte Douglasie (Pseudotsuga menziesii) aus Nordamerika wird nur örtlich mit bis zu 10 % den heimischen Fichtenaufforstungen beigemischt. Weitere exotische Baumarten kommen in den Wäldern nur selten vor – im Gegensatz zu Parks und Gärten, wo sie oftmals in größerer Häufigkeit und Artenvielfalt als die heimischen Arten vertreten sind. Seit mehreren Jahrzehnten rückt die Forstwirtschaft von Bäumen fremder Herkunft auch eher wieder ab. Standortgerechte heimische Arten sollen die Wälder der Zukunft aufbauen und stabil machen gegen die vielfältigen Gefahren, die ihnen drohen. Naturnaher Waldbau wurde vielfach zum erklärten Ziel der Staatsforstverwaltungen. Für das Waldgebiet passende Mischwälder sollen die früheren Monokulturen, vor allem die eintönigen Fichtenforste, nach und nach ersetzen. Also sollte eigentlich alles zum Besten stehen in unseren Wäldern. Sogar das Waldsterben hätte der Naturschutz gar nicht als so schlimm und bedrohlich einstufen müssen, erzeugen doch abgestorbene Bäume genau das, wofür jahrzehntelang gekämpft wurde: Totholz! Viele der seltenen, in ihrem Fortbestehen in Mitteleuropa gefährdeten Käfer leben davon, aber auch Spechte und rare Pilze sowie zahllose andere Tiere, die nur Spezialisten kennen. Durch Steigerung des Totholzanteils sollte die Artenvielfalt in den Wäldern gefördert oder zumindest stabilisiert werden. Reichte das Waldsterben hierfür etwa nicht aus? Die genauere Betrachtung der «Roten Listen gefährdeter Arten» (Kap. 2) zeigt eine merkwürdige Diskrepanz: Es sind sehr viele Waldarten enthalten, obgleich sich an Waldfläche und Artenspektrum der Bäume seit den ersten Roten Listen von 1974 eigentlich überhaupt nichts verändert hat. Wenigstens von der zweiten Erhebung 1986 an hätte es eine ganz erhebliche Verbesserung geben müssen, weil das doch die Zeit des Waldsterbens war. Den Erhebungen zufolge waren es die Hauptbaumarten Fichte, Eiche und Rotbuche sowie die viel seltenere Tanne, die von den Schäden betroffen waren, und nicht die Dutzende anderer Arten, auch nicht die artenreichen Auwälder. Doch bei den als «ausgestorben oder verschollen» sowie «vom Aussterben bedroht» aufgeführten handelt es sich in den allermeisten Fällen um Waldarten. Wären es «Feldarten», ließe sich das alles bestens verstehen. Die Monokulturen von Fremdpflanzen aus
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Weizen, Mais, Raps, Kartoffeln und das Hochleistungsgrün der Mähwiesen lassen der Artenvielfalt auf den Fluren keinen Raum mehr. Das ist unübersehbar geworden. Warum aber der in Deutschland so geschätzte Wald? Wie kann es sein, dass so viele Arten seiner Natur gefährdet sind? Für viele größere Wildtiere ist er Zufluchtsort, aber weitaus mehr Kleintiere und Pflanzen verschwinden aus den Wäldern. Das scheint nicht zusammenzupassen, doch es stimmt. Die vielen gefährdeten Arten sind keine Erfindung und gewiss auch nicht Ausdruck unzureichender Kenntnisse oder zu oberflächlicher Untersuchungen. Wir unterliegen einer Täuschung, die von den Wäldern selbst ausgeht. Sie wachsen und entwickeln sich nach unserem Zeitempfinden sehr langsam. Zu langsam, um die Veränderungen zu bemerken. Das Zeitmaß der Wälder sind Jahrhunderte und nicht Jahre und Jahrzehnte, wie wir das von uns selbst gewöhnt sind. Es fällt uns weitaus leichter, die zeitrafferartige Hektik schneller Entwicklungen zu begreifen als das träge Geschehen einer scheinbar stark gedehnten Zeit. Deshalb übertragen die wenigsten Menschen ihre Erfahrungen mit den Gärten auf die «gärtnerische Tätigkeit» der Forstleute. Was diese pflanzen, lässt sich fast ohne Ausnahme zu ihren Lebzeiten noch nicht ernten. Waldbauliche Nutzungsformen wirken (sehr) lange nach. Entsprechend lang brauchen auch neue Maßnahmen, bis sie Früchte tragen. Von den meisten Verbesserungen in der Waldnutzung aus den vergangenen Jahrzehnten werden erst die Enkel profitieren. Damit müssen wir uns zufrieden geben und zuwarten. Doch verhält es sich wirklich immer und überall in den Wäldern so? Der Hinweis auf den Garten und seine Pflege soll gewisse Zweifel wecken. Denn jeder Mensch, der einen Garten pflegt, weiß, wie schnell dieser zuwachsen und «verwildern» würde, wenn die Pflege aufhört. Na und, könnte man sagen; verwildern heißt doch, dass die Natur wieder Einzug hält und das Künstliche zurückdrängt, bis genau das wächst und gedeiht, was eben von Natur aus dorthin gehört. «Verwildern» ist also ganz klar «gut», weil natürlich, während die Pflege «künstlich» etwas anderes herstellt, als sich von Natur aus einstellen würde. Nach den strengen Regeln der Logik wie auch bei distanzierter, «rein wissenschaftlich-ökologischer Betrachtung» wird man
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diesem Argument folgen müssen. Der Vorgang als solcher trägt auch einen wissenschaftlichen Namen, Sukzession, und die zugehörige Richtung im Naturschutz wird Prozessschutz genannt. Sukzession meint die mehr oder minder regelhafte Abfolge von Entwicklungsstadien in der Natur, die eine «stabile Endgesellschaft» (Klimax) ergeben werden. Das Klimaxstadium ist gleichsam das Ziel der Entwicklungen. Auf den Wald bezogen, hieße das, mit Beendigung aller Nutzungen und Eingriffe es dem Wald zu ermöglichen, von selbst zu seinem stabilen Endzustand zu gelangen. In manchen Waldschutzgebieten, wie etwa im Nationalpark «Bayerischer Wald», steckt dieses Ziel im Schutzkonzept und teilweise auch in den dazugehörigen Schutzbestimmungen. Es wird bei einem Hochwald, zumal wenn es sich in der Ausgangslage um weitgehend gepflanzte Fichtenforste handelt, lange dauern, bis solche Wälder schließlich als richtige Urwälder angesehen werden können. Jahrhunderte werden vergehen müssen, bis es so weit ist. Für den Forstmann sind das keine illusorischen Zeitspannen; im Waldbau ist man gewöhnt, langfristig zu denken. Das gegenwärtig so moderne Konzept der «Nachhaltigkeit» ging aus dem forstlichen Denken des 18. und 19. Jahrhunderts hervor. Damals tat langfristige Planung bitter Not, denn die Wälder Mitteleuropas waren (aus forstlicher Sicht) ruiniert. Sie bestanden im Wesentlichen aus Buschwerk, Dickicht und überalterten Einzelbäumen. Die Jahrhunderte der Kleinen Eiszeit mit ihren fürchterlich kalten Wintern und der Bauholzbedarf für die beginnende Industrialisierung hatten sie weithin aufgezehrt. Akuter Holzmangel war absehbar – und er wäre durch die damals eingeführte «nachhaltige Forstwirtschaft» auch sicherlich nicht behoben worden, hätten die Menschen nicht für das Heizmaterial Ersatz in der Steinkohle und für das Baumaterial in Stahl und Zement (Beton) bekommen. So verdanken wir Art und Zustand der heutigen Wälder der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts. So wie damals im industriellen Bereich die Fabrik mit der Fließbandproduktion den Zug der Zeit als Fortschritt verstand, so wurden auch «Holzfabriken» in der Landschaft aufgestellt: Dichter Busch und lichter Wald mussten der Plantage aus altersgleichen Bäumen weichen, die wie Soldaten aufgestellt nur noch ein Ziel zu erreichen hatten: Holz in gleichartigen Stämmen zu
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einem vorausberechenbaren Zeitpunkt (Hiebreife genannt) zu erzeugen. Geerntet sollten sie werden, diese Forste, und wie bei einem Kapital, das sich verzinst, wurden Wertzuwachs und Entwicklung des Holzvorrats vorab tabellarisch festgelegt. Forste dieser Art gleichen grundsätzlich solchen Monokulturen, wie es heute die Maisfelder sind. Eine Art in einer Altersklasse bildet den Bestand. Maximales Wachstum soll erzielt werden und wichtig ist allein der «Ertrag». Manche Nadelbäume eignen sich bestens für solche gleichaltrigen Monokulturen, weil sie von Natur aus auch oft (und auf großen Flächen) in ähnlicher Weise aufwachsen. Die beste von allen ist die Fichte, doch auf den trockenen, sehr mageren Sandböden ist ihr die Kiefer überlegen. Beide wachsen umso schneller, je günstiger für sie die Lebensbedingungen sind und je besser sie vor der Konkurrenz durch andere Baumarten geschützt werden. Wo Klima und Böden nicht rau genug sind für diese Nadelbäume, lassen sich BuchenBallen-)Wälder ähnlich heranziehen, doch meist nicht auf so großen, geschlossenen Flächen wie bei den Kiefern. Die Eichen brauchen viel mehr Zeit für ihr Wachstum und eignen sich deshalb nicht für Holzfabriken. Die Fichte, die unter günstigen Bedingungen schon mit 70 bis 100 Jahren gute Holzerträge liefert, rückte vor auf Kosten der Laub- und der Laubmischwälder (mit Lärchen). Sie wurde zum «Brotbaum» der Forstwirtschaft, im Staatswald wie in den Bauernwäldern. Die skizzenhafte Darlegung von Entstehung und Art der Forste muss im Rahmen dieses Buches genügen, denn die Waldentwicklung in Mitteleuropa ist vielfach umfassend beschrieben worden, z. B. von Küster (1990). Hier geht es um andere Gesichtspunkte, vor allem um die Artenvielfalt an Pflanzen und Tieren und um deren Zukunft. Daher nochmals ein kurzer Rückgriff auf den Garten, der nicht mehr gepflegt wird und verwildert. Es geschieht dabei nämlich Merkwürdiges: In den ersten Jahren nach Beendigung der Pflege nimmt die Artenvielfalt sichtlich zu. Wildpflanzen siedeln sich an, noch während die Kulturpflanzen gedeihen. Das Insektenleben nimmt zu und wenn der Garten groß genug ist, werden auch mehr Vögel kommen. Doch nach wenigen Jahren setzt ein rascher Rückgang ein. Immer mehr Arten verschwinden, während sich einige wenige stark ausbreiten und
210 Abb. 46: Allgemeiner Verlauf von Anstieg und Abnahme der Artenvielfalt nach Beendigung von Eingriffen
«dominant» werden. Wuchert der Garten zu, verarmt er an Blüten und Insekten. Sogar die Vögel werden seltener, obgleich sie im dicht gewordenen Buschwerk vermeintlich bessere und sicherere Brutplätze hätten. Wo es vorher trocken, warm und sonnig war, ist es nun schattig, feucht und kalt. Die Masse der Pflanzen, pro Quadratmeter oder in größeren Einheiten gemessen, steigt stark an, während die Vielfalt entsprechend abnimmt. Je länger sich nichts mehr tut im Garten, desto ärmer wird er an Arten. Irgendwann würde er unter mitteleuropäischen Normalbedingungen gleichsam ganz verschwunden und zu Wald geworden sein. Der Vorgang ist so grundlegend und typisch, dass das Muster praktisch unbeschränkt – auch und gerade für Wälder – gilt (Abb. 46). Das Sichselbstüberlassen führt fast unausweichlich nach anfänglich erfreulicher Zunahme der Vielfalt zu ganz erheblichen Verlusten. «Verwildern» heißt oft auch Verschwinden gerade von solchen Arten, die geschätzt werden. Nun sind Schönheit und Wertschätzung von Arten zwar keine ökologischen Kriterien, dafür aber umso bedeutendere für die Menschen, die sich an der Vielfalt der Natur erfreuen und diese erhalten möchten. Die Roten Listen sagen nämlich im Grunde
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genommen gar nichts über die (wissenschaftliche) Ökologie aus. Sie sind ein Konzept des Naturschutzes. Der Ökologie wird sich der Schutz erst dann bedienen müssen, wenn die Lage für die bedrohten Arten konkret verbessert werden soll. Zunächst wird für die Tausende von Pflanzen- und Tierarten, die in den Roten Listen geführt werden, lediglich zum Ausdruck gebracht, dass sie (so) selten (geworden) sind, dass sie vielleicht schon bald verschwinden (werden). Es handelt sich bei diesen Einstufungen also um Wertungen und nicht um ökologische Befunde, die für den Haushalt der Natur bedeutsam wären. Die Arten der Roten Liste säubern weder unser Trinkwasser, noch beteiligen sie sich in unentbehrlicher Weise an den großen, für den Menschen lebenswichtigen und für die land- oder forstwirtschaftliche Produktion unabdingbaren Kreisläufen der Natur. Wenn überhaupt, so sind sie Spieler am Rande des Geschehens. Sonst könnten sie auch nicht (so) selten sein. Der See braucht für seinen Naturhaushalt den Seeadler nicht und der Wald nicht den Luchs. Die Äcker werden mit oder ohne Hasen produzieren, wie sie sollen, und auch ohne roten Mohn und blaue Kornblumen. Wenn sie sehr anfällig für Schädlinge sind, so bedeutet dies nicht nur keinen Gegensatz, sondern die ganz klare Folge aus dem Massenangebot, das sie bieten: die Äcker wie die Forstplantagen! Alles eine Art in gleichem Wachstumszustand – das ist die günstigste Form für den Zugriff der unerbetenen Nutzer. Höchstens in Ausnahmefällen (die dann, genauer betrachtet, auch keine mehr sind) werden die «Rote-Liste-Arten» solche Schädlinge sein oder werden können. Sie wären es längst. Und wiederum offenbar nur in Ausnahmefällen gelingt es, ein großflächig «serviertes Massenangebot» (an Kulturpflanzen) durch natürliche Feinde und Gegenspieler vor dem Zugriff durch spezialisierte Nutzer («Schädlinge») zu bewahren. Die so genannte biologische Schädlingsbekämpfung funktioniert dort am besten, wo die Vielfalt schon groß ist und Massenangebote nicht vorhanden sind. Als in den warmen 20er Jahren des 20. Jahrhunderts die großen Monokulturen von Kiefern in Nord- und Nordostdeutschland so richtig gut herangewachsen waren, brachen die größten Kalamitäten von Forstschädlingen aus. Die Raupen von Nonne (Lymantria monacha), Kiefernspinner (Dendrolimus pini) und Kie-
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fernspanner (Bupalus piniarius), manchmal sogar vom viel größeren Kieferschwärmer (Sphinx pinastri, damals auch «Tannenpfeil» genannt) fraßen die Kiefernschonungen kahl. Schäden verursachten auch viele andere Insektenarten und bis in die 1980er Jahre hinein, stellenweise jetzt wieder aufflackernd, gab es die berüchtigten Massenflüge der Maikäfer (Melolontha melolontha) im Abstand von drei (in wärmeren Gebieten) oder vier Jahren. Ein eigener Forstbereich und eigene Sektionen in der Forstwissenschaft mussten sich mit den «Forstinsekten» befassen. Gemeint waren die Forstschädlinge (Brauns 1991, Schwenke 1986, Schwertfeger 1981). Artenvielfalt brachten diese in Monokulturen angebauten Altersklassenwälder nicht (Scherzinger 1996). Nicht nur von Naturschützern, sondern auch von vielen anderen Menschen, die in Wäldern mehr sehen und erleben wollten als heranwachsende Holzfabriken, war diese Plantagenwirtschaft sehr früh schon heftig kritisiert worden. Insbesondere für den Staatswald, der eigentlich allen gehört und nicht der Staatsforstverwaltung, wollte man nicht verstehen, dass die Holzproduktion ein so dominantes Ziel bleiben musste. Die «Wohlfahrtsfunktionen» der Wälder gerieten mehr und mehr in den Blickpunkt des Interesses und erzwangen nach dem Europäischen Naturschutzjahr von 1970 einen deutlichen Kurswechsel in den Staatsforstverwaltungen. Nationalparks und Naturwaldreservate wurden eingerichtet. Nach jahrzehntelangem Zögern und Sichverweigern wurde sogar die staatliche Biotopkartierung im Staatswald zugelassen. Gesunde Mischwälder rückten zum Oberziel des (staatlichen) Waldbaus auf. Die seltenen Arten honorierten dies bei weitem nicht so wie erhofft. Ein geringerer Teil der vorher in den Roten Listen erfassten Waldarten konnte aus diesen gestrichen oder «spürbar» zurückgestuft werden, als vordem nicht bedrohte aufgenommen wurden. Die schlimmste Zeit der weitgehenden Plantagenwirtschaft ist vorüber. Die Pflanzungen der Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert und aus den beiden Jahrzehnten danach sind in die Jahre gekommen. Sie sind hiebreif, eingeschlagen und an ihrer Stelle wächst neuer Wald auf. Also bleibt doch nichts anderes übrig, als mit diesen neuen Wäldern Geduld zu haben, bis etwas Gutes aus ihnen geworden ist. Viele der heute bedrohten Waldarten werden dennoch nicht wieder häufiger werden und die verschwun-
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denen werden nicht wiederkommen. Denn all diese, auch in der Diskussion des Naturschutzes im Vordergrund stehenden Waldprobleme, das Wald-Wild-Problem mit eingeschlossen, werden sich keineswegs von selbst lösen, wenn aus den Forsten mit der Zeit stabile Mischwälder geworden sind. Auch der bestens wachsende Mischwald wird die frühere Artenvielfalt nicht wiederbringen, denn er ist nicht ihr Lebensraum! Die Betrachtung des Gartens könnte bereits den entscheidenden Hinweis gegeben haben, woran es liegt: Nicht günstige Bedingungen fördern Vielfalt, sondern der Mangel. Vielfalt hat auch mit Eingriffen, mit «Störungen», zu tun. Wo diese unterbleiben und wo es keinen Mangel mehr gibt, nimmt die Vielfalt ab. Sie schwindet ganz besonders stark, wo zu sehr «geschützt» wird! Die Waldnatur liefert eine erdrückende Fülle von Beispielen, aus denen diese beiden Grundprinzipien deutlich werden. Sie lassen sich an der nachfolgenden Reihe von Fällen aufzeigen. Es soll dabei jedoch nicht um die Rolle natürlicher Störungen wie Sturmwurf, Waldbrand oder «Insektenkalamitäten» gehen, sondern um die früheren Formen der Waldnutzung, nämlich als Nieder- und Mittelwälder, um Waldweide und Kahlschläge und auch um das Wald-Wild-Problem. In einem groben Durchgang erfasst dies die meisten Arten und Artengruppen, die mit dem Wald verbunden und in den Roten Listen gelandet sind. Sie werden den Bogen zurück schlagen zu den Eingangskapiteln über den Artenschutz und den Blick schärfen für eine Wertung der Verhältnisse im Hinblick auf die Zukunft der Arten. Wiederum eignen sich die Vögel besonders gut, um die Veränderungen deutlich werden zu lassen. In der neuen bayerischen Roten Liste (Kap. 2) machen Waldarten mehr als ein Viertel aus, obgleich Bayern nicht nur über große, sondern auch über recht vielfältige Waldungen verfügt. Unter den Ausgestorbenen befinden sich vier bzw. fünf Vogelarten, die auf Wälder angewiesen sind. Freilich nicht auf solche von heute, sondern auf weithin lichte, offene Wälder früherer Zeiten mit freien Bodenstellen. Es handelt sich um den Schlangenadler (Cicraetus gallicus), der in der Roten Liste gar nicht mehr geführt wird, weil seine letzten Vorkommen bereits im 19. Jahrhundert erloschen sind, und um die seither gleichfalls als Brutvögel ausge-
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storbenen Schreiadler (Aquila pomarina), Blauracken (Coracia garrulus), die Zwergohreule (Otusscops) und den Triel (Burhinus oedicnemus). Weitere 15 Vogelarten, die mehr oder weniger akut vom Aussterben bedroht sind oder deren Häufigkeit stark abgenommen hat, lassen sich anschließen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie nicht die dichten, «finsteren» Wälder brauchen, sondern die lichten, übersichtlichen. Weil sie auf den Lichtungen ihre Nahrung finden oder dort sogar, wie der Triel, der Ziegenmelker, die Heidelerche, der Baumpieper, die Birk- und Auerhühner und zahlreiche weitere Arten brüten. Die Lichtungen aller Größen, die Schonungen und auch – ganz besonders auch (!) – die großen Kahlschläge waren ihr Lebensraum. Eine der ersten Arten, die verschwand, weil diese zuwuchsen, war der Schlangenadler aus dem Spessart. Wo der Pflanzenwuchs am Boden zu dicht wird, nimmt die Häufigkeit von Schlangen und Eidechsen ab. Auch Frösche auf den Waldwiesen und -mooren werden weniger, wenn diese verbuschen und zuwuchern, sodass das Nahrungsangebot für den Schreiadler deutlich schwindet. Die wie Bienenfresser (S. 133) und Eisvogel tropisch-bunt wirkende Blauracke oder Mandelkrähe gehörte gleichfalls zu den frühen Verlusten. Sie war auf die so genannten Mittelwälder spezialisiert, in denen locker stehende Einzelbäume über den niedrig gehaltenen, oft zurückgeschlagenen Stockausschlägen hochragten. Hatte dort der große Schwarzspecht Höhlen in die frei stehenden Bäume geschlagen, waren sie der geeignete Brutplatz für die Blauracke. Der umliegende, oft bodennah zurückgeschlagene Niederwald lieferte in großer Menge die Insekten, von denen die Mandelkrähe lebt. Mit der Einstellung der Mittelwaldbewirtschaftung, deren Zeit noch vor dem Ende der Niederwälder entlang der Flüsse zu Ende ging, verschwand die erste Gruppe von Arten, für die solche Vogelarten stellvertretend aufgeführt worden sind. Der nächste Schub kam mit dem Ende der Kahlschlagwirtschaft. Einer der Haupteffekte der Kahlschläge bestand im großflächigen Angebot von «Lichtungen», die an Hochwälder grenzten. Auf diesen Kahlschlägen ist es für einige Jahre, bis die nächste Baumgeneration mannshoch aufgewachsen ist, sehr viel wärmer und trockener als in den späteren Stadien der Waldentwicklung. Dass es im Winter kälter wurde, kam vielen Arten durchaus zugute, weil trockene Kälte
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und geschlossene Schneedecke weit besser schützen als offener Boden mit nasser Kälte. Winterruhe und Winterschlaf werden nicht unterbrochen, wenn die Temperaturen anhaltend unter null bleiben. Das Wachstum der Pilze wird gehemmt. Daher leben in sommerwarmen, aber winterkalten Gebieten durchaus mehr Wärme liebende Arten als in nach Jahresdurchschnittswerten milderen («wärmeren») Regionen. Wieder ist das ein wichtiger Hinweis darauf, dass die meteorologischen Durchschnittswerte in ökologischer Hinsicht nicht vorbehaltlos übernommen werden sollten. Ein Temperaturanstieg um zwei Grad kann in der Wirklichkeit der Natur draußen kältere Lebensbedingungen bedeuten, wenn milde Winter mit nasser Kälte und «temperierte Sommer» ohne anhaltend trockenheißes Wetter die Mittelwerterhöhung mit sich bringen. Tiere und Pflanzen sind daher im Hinblick auf die Wirkungen klimatischer Veränderungen in der Natur weitaus bessere «Messinstrumente» (Indikatoren) als die Thermometer der Wetterstationen. Auf den Lichtungen kam dieser Zusammenhang bei einer Tiergruppe besonders deutlich zum Ausdruck, auf die bereits Bezug genommen worden ist: den Ameisen. Ihre schwindenden Bestände rissen zahlreiche bekannte und unbekannte Arten mit, wie die Birkhühner und fast alle Spechte, den Buntspecht ausgenommen, oder Ameisenkäfer und andere Kleininsekten, die nur Spezialisten kennen. Als geschätzte Raupenvertilger wurden insbesondere die Großen Roten Waldameisen frühzeitig geschützt; auch gegen die geschützten Spechte! Auf die vielen anderen Insekten der Lichtungen und der Kahlschläge achtete man jedoch kaum. Viele wurden rar, auch so besonders schöne wie die beiden Arten der Schillerfalter, der Trauermantel, Ordensbänder und so fort. Ähnlich erging es zahlreichen Käfern, die an der Bodenoberfläche leben, und den Waldeidechsen, den Blindschleichen und den Schlangen. Die Stellen, an denen die seltenste Schlange Deutschlands, die große und ungiftige Äskulapnatter (Elaphe longissima), vorkommt, sind weit weniger durch Schlangenfänger bedroht als durch das Zuwachsen. Vielerorts, wo sie früher durchaus häufig vorkam, verschwand die von Eidechsen lebende Schlingnatter (Coronella austriaca). Auch ihr wachsen die Lebensräume der Waldlichtungen und Schneisen zu. Ersatz boten für einige Jahrzehnte
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die Dämme entlang von Flüssen und Stauseen, aber auch diese mussten, wie schon dargelegt, nach Art von «Wunden in der Landschaft» geheilt, also bepflanzt werden, damit sie so schnell wie möglich zuwachsen und das Auge als Eingriff des Menschen in die Natur nicht länger beleidigen. Nahezu völlig aufgegeben wurde die eigentlich typisch nachhaltige Bewirtschaftung von Auwäldern als Niederwälder zur Gewinnung von Brennholz. Die Schläge, die im Turnus von etwa 15 bis 25 Jahren darin angelegt worden waren, bildeten nebeneinander entlang der Flüsse ein Mosaik der unterschiedlichsten Entwicklungsstadien. Selbst als die Hochwasser gebannt und ausräumende Fluten gebändigt waren, blieb ihre Artenvielfalt sehr hoch, weil der Ausfall der einen regelmäßig unregelmäßigen Störung, die Verwüstungen der Hochwasser, durch andere Störungen, die Schläge, ersetzt worden war. Viele Arten der Auwälder verschwinden gegenwärtig, weil diese «durchwachsen» zu artenärmeren Waldtypen. Zu den Verlierern gehören solche Besonderheiten wie der Schlagschwirl (Locustella fluviatilis) und die Pappelglucke (Gastropacha populifolia), aber auch (noch) so verbreitete und häufige Arten wie das Rotkehlchen (Erithacus rubecula). Aus der Nutzung genommene und unter Schutz gestellte Auwälder gewinnen daher nicht etwa mehr Arten, sondern sie werden mit der Zeit immer mehr verlieren. Wie die Frühlingsblumen, deren Vorkommen und Häufigkeit sehr stark von der Streunutzung gefördert worden waren, weil die Entfernung der herbstlichen und winterlichen Decke aus abgestorbenen Pflanzen, vor allem von Rohrglanzgras (Phalaris arundinacea), ihnen im Spätwinter und Frühjahr das Licht gegeben hatte, das sie brauchen. Vor einem halben Jahrhundert waren die Auwälder besonders entlang der Alpenflüsse ins Vorland hinaus voll von Buschwindröschen (Anemone nemorosa), Gelben Windröschen (Anemone lutea), Blausternen (Scilla bifolia) und Schlüsselblumen (Primula elatior). An den Rändern wuchsen Duftende Veilchen (Viola odorata) in großer Zahl. Stellenweise gab es vorher schon, im Spätwinter und Vorfrühling, Schneeglöckchen (Galanthus nivalis) und Frühlingsknotenblumen (Märzenbecher, Leucojum vernum) zu Millionen. Die Streu hat sie zugedeckt; die Wälder sind nicht mehr licht genug, weil zu dicht aufgewachsen. Nicht das Pflücken der Blu-
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mensträußchen bedrohte ihre Bestände, sondern das Nichtsmehr-Tun. Wo es keine Schläge mehr gibt, wo keine Lichtungen immer wieder neu entstehen, gibt es auch keine Ausweichmöglichkeiten für diese Pflanzen, die von vielen Menschen sehr geschätzt werden. Auch Seltenheiten wie die Türkenbundlilie (Lilium martagon) erdrückt der aufwachsende Wald. Die Kahlschläge waren nicht grundsätzlich schlecht, die Waldnutzung früherer Zeiten nicht primitiv ohne Nachhaltigkeit. Sie hatten unter den gegebenen Umständen ihren Nutzwert und sie brachten viel mehr für die Artenvielfalt, als der gesamte Naturschutz seit 1970 für die Artenvielfalt in unseren Wäldern hat erreichen können. Eine Wertung von Wäldern und Waldnutzungsformen aus der Sicht des Naturschutzes sollte nicht allein auf das Ziel eines naturnahen Mischwalds fixiert sein. Sie muss auch die Folgen mit berücksichtigen, die solche grundsätzlichen Veränderungen nach sich ziehen. In der Artenbilanz stehen dabei auch große Verluste zu Buche! Ganz besonders deutlich kommt dies in der seit Jahrzehnten laufenden Auseinandersetzung um Wald und Wild zum Ausdruck. Denn all die vorher genannten Arten, ihre Rückgänge und die Problematik ihrer Erhaltung stehen mit einer noch weiter zurückliegenden und tiefer greifenden Veränderung in Zusammenhang. Das war die so genannte Waldweide. Um aus Buschwäldern mit geringem Holzertrag und krumm wachsenden Bäumen Forste mit kerzengeraden Stämmen astreinen Holzes machen zu können, musste der Hauptfeind der Waldentwicklung und der natürlichen Waldverjüngung aus den Wäldern verbannt werden. Das war das Vieh. Zu Zeiten, in denen wenig Holz gebraucht wurde oder die Vorräte in den Bergwäldern noch groß genug waren, sollte sich das Vieh in den Wäldern ernähren, um das gute Ackerland nicht als Viehweide in Anspruch nehmen zu müssen. Die Waldweide lieferte auch keine schlechten Erträge. Qualitativ besonders hochwertiger Schinken, wie der spanische Serrano-Schinken, kommt dadurch zustande, dass Schweine nach alter Sitte, die einst auch in Deutschland weit verbreitet war, zur «Mast» in die Eichenwälder getrieben werden. Der besondere Geschmack des SerranoSchinkens und ähnlicher Produkte rührt davon. Doch unbeschadet der Tatsache, dass Beweidung die Wälder beeinflusst, muss dazu festgehalten werden, dass in noch früheren Zeiten auch
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Großwild in den Wäldern und von ihnen lebte. So unnatürlich ist das nicht, wenn Rudel von Hirschen im Wald leben, und wo es genügend Lichtungen und Kahlschläge gibt, haben die Hirsche auch gar keine Veranlassung, auf die Felder hinauszuziehen, wo sie Schäden anrichten könnten. Große Wildtiere, die von Pflanzen leben, prägten aller Wahrscheinlichkeit nach in früheren Zeiten, in den «Naturzeiten», auch die mitteleuropäischen Wälder aller Art. Wisent (Bison bonasus) und Auerochs (Bos primigenius) lebten als Wildrinder natürlicherweise in den europäischen Waldungen. Auch Wildpferde, Tarpane (Waldwildpferd) genannt, gab es, so dass nicht einmal Pferde in heutigen Wäldern von Natur aus fehl am Platze wären. Reh und Hirsch, Wildschwein und Wildschafe oder Wildziegen lebten ebenfalls von Natur aus in den Wäldern Europas und Vorderasiens. Eine ausgeprägte Trennung von Wald und Wild entspricht daher nicht der Waldnatur, wohl aber kommt sie forstlichen Interessen entgegen. Die großen Wildtiere hielten Lichtungen offen oder schufen in Verbindung mit Verbiss, Insekten und Sturmschäden oder Waldbränden immer wieder neue. Germaniens Wälder mögen die schwer gepanzerten und bewaffneten Legionäre der Römer für undurchdringlich gehalten haben. Wären sie das gewesen, was Tacitus dazu geschrieben hat, hätten die Römer keine Mühe gehabt, nicht vorhandene Germanen von ihren Gebieten fern zu halten. Die Stämme jenseits des Limes brauchten wie alle Menschen Ländereien, die ihnen Getreide, Wild und Früchte als Nahrung boten. Je weniger es davon in einer Region gab, desto geringer musste auch die Zahl der dauerhaft ansässigen Menschen bleiben – und umgekehrt. Ein dicht geschlossenes Waldland war Mitteleuropa also wahrscheinlich nie gewesen. Von Anfang an wuchsen nach dem Ende der letzten Eiszeit die Wälder eher mosaikartig auf. Von Anfang an bildete sich die Dreiergruppierung von Wald-Weide-Wild heraus, in der später das Wild zum Teil durch das Vieh ersetzt und große Teile des Weidelandes in Äcker umgewandelt wurden. Als die Bevölkerung anwuchs, musste der Anteil an produktivem Offenland, an Fluren also, auf Kosten des Waldes vergrößert werden. Doch mit fast einem Drittel Waldbedeckung ist Mitteleuropa gegenwärtig gar nicht so weit von den früheren Zuständen vor Jahrtausenden entfernt: rein flächenmäßig, aber nicht
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in der Art und Weise der früheren «integrierten» Nutzungen. Denn längst wurde das sinnvolle Neben- und Miteinander von Wald, Wiese und Acker durch die mehr oder minder vollständige Trennung abgelöst. Daher richtet seit rund 200 Jahren das Wild auf den Fluren und in den Forsten Schaden an, das Vieh darf nicht mehr in den Wald hinein und das künstlich in die größeren Wälder zurückgedrängte Rotwild verursacht darin gewaltige Schäden sowie hohe Kosten für das Volk, das die Tausende von Kilometer langen Zäunungen gegen das Wild aus Steuermitteln bezahlen muss. Inzwischen wurde auch das Vieh weitgehend von den Weiden genommen und in Ställe gesteckt. Also steht zu befürchten, dass in logischer Konsequenz bald das Trennsystem auch im Wald umgekehrt wird und das Wild ins Dauergatter kommt, damit der stabile Mischwald unangetastet vom Wild aufwachsen kann. Frei lebende Tiere dürfen schließlich nur noch in dem Maße frei leben, wie ihr Schaden gering bleibt. Das ist keine bittere Ironie, ausgelöst von Zukunftsahnungen, sondern längst eingetretene Wirklichkeit in Form von Schadenersatzforderungen, weil ein paar Biber ein paar Bäume gefällt oder ein paar Dutzend Futterrüben gefressen haben. Folglich sollen sie «entfernt» und wieder in die Gehege zurückgebracht werden, aus denen sie gar nicht entkommen waren. Hinter dieser Art zu denken verbergen sich weit größere Gefahren, als den meisten Naturschützern und Naturfreunden offenbar bewusst ist. Deshalb soll nochmals in aller Deutlichkeit gefragt werden: Warum sollen Kahlschläge so ganz falsch sein? Wo sind die Bilanzen, die zu den angeblichen oder tatsächlich nachweisbaren Nachteilen auch die Verluste an Artenvielfalt und an Lebensräumen für das Wild in einem Zeitmosaik mit in Rechnung stellen? Warum müssen im Staatswald, der allen gehört (!), die Bewertungen allein auf den Holzwert bezogen werden? Hat nicht auch das Wild seinen Wert? Sind die «Stangen» auf dem Kopf eines starken Hirsches nicht vielleicht mehr wert als die Holzstangen, die dürr wurden, weil er an ihrer Rinde gefressen hat? Eine «ökologische Betrachtung», so wie sie seit geraumer Zeit Mode geworden, aber nur höchst selten einmal wirklich durchgeführt worden ist, müsste von ganz anderen Rahmenbedingungen als einem getrennten Nebeneinander von Wald und
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Wild, von Flur und Wild, von Stadt und Land ausgehen. Eine «ökologische Bewertung» der Roten Listen aber auch. Dann würde sich in beiden Fällen offenbaren, wie einseitig und voreingenommen gearbeitet und gewertet worden ist. Wie kann aber gerade ein Naturschutz beklagen, dass so viele Arten so selten geworden sind oder dass mit ihrem baldigen Verschwinden gerechnet werden müsse, wenn ebendieser Naturschutz in vielfacher Weise die Weichen so mitgestellt hat, dass diese Arten selten werden und verschwinden mussten? Es steckt allzu viel «Heile-Welt-Sehnsucht» in den Zielen des Naturschutzes, Zielen, die sich zwar in der Artenvielfalt und ihrer Bewertung an der Vergangenheit des 19. Jahrhunderts orientieren, nicht aber an den damaligen Einstellungen zur und am Umgang mit der Natur. Was Wunder also, dass der Naturschutz in den dreißig Jahren seiner bisher besten Zeit so wenig erreichte? Doch warum sollen dafür die Naturfreunde büßen und von der Natur fern gehalten werden? Mit welcher Berechtigung lassen sich Artenschutzbestimmungen und Einschränkungen des Naturschutzes weiter aufrechterhalten, wenn sie den Nachweis ihrer Wirksamkeit schuldig geblieben sind? Das ist das Dilemma des Naturschutzes. Ist es auch eine düstere Aussicht auf die Zukunft der Arten?
221 Epilog
Die Zukunft der Arten
Viele Arten von Pflanzen und Tieren, die früher häufiger waren, kommen gegenwärtig nur noch selten vor. Rund die Hälfte der mitteleuropäischen Artenvielfalt gilt als gefährdet. Manche Arten verschwanden im Verlauf des 20. Jahrhunderts ganz aus Deutschland oder den Nachbarländern. Andere nehmen in ihren Beständen stark ab, gelten aber noch nicht als akut gefährdet. Wieder andere wurden häufiger und neue Arten wanderten ein oder konnten sich ansiedeln, nachdem sie jahrzehnte- oder jahrhundertelang nur in Gärten oder Parkanlagen vorgekommen waren. Die Natur ist von Natur aus veränderlich, dynamisch. Ein fester Zustand oder gar ein Stillstand von Entwicklungen wäre unnatürlicher als jede Form von Veränderung. Wie kann man da werten und Entwicklungsziele vorgeben? Was kann Artenschutz bewirken? Was soll er leisten? Solche Fragen ziehen sich, zumeist mehr im Hintergrund, durch die Kapitel dieses Buches. Manchem mag es im Aufbau reichlich chaotisch erscheinen. Wer das so empfindet, hat durchaus Recht. Zu einem ganz wesentlichen Teil liegt das daran, dass die Natur, auch die heimische mitteleuropäische Natur, viel zu vielfältig ist, als dass man sie mit einer geradlinigen Einbahnstraße erschließen könnte. Sie lässt sich auch nicht in ein vorgegebenes Schema pressen, auch wenn Gesetzgeber und Verwaltungen dies gerne hätten. Sie wird sich ihren Zuordnungen immer wieder entziehen, ihre Kategorien unbrauchbar werden lassen und zu dem führen, was in der neuen «Roten Liste gefährdeter Tiere Bayerns» ganz offen zugegeben wird: Man kann sie nicht mit ihrer Vorgängerin vergleichen! Wozu also überhaupt Rote Listen dieser Art? Nun, in einer Hinsicht sind sie ausgesprochen wichtig. Aus ihnen geht hervor, dass der Artenschutz in den letzten 30 Jahren zum allergrößten Teil ohne Er-
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folg geblieben ist. Viel zu wenige Arten erholten sich in dieser Zeit und wiederum bei den wenigsten von ihnen lag dies an den bloßen Inschutznahmen. Erfolge zeigten sich nur dort, wo frühere Verfolgungen eingestellt oder unterbunden werden konnten. Schwarzstorch und Silberreiher nahmen ungleich stärker zu als die so intensiv geschützten und betreuten Weißstörche. Die Wiederkehr des Bibers verdanken wir seiner aktiven Wiedereinbürgerung und dem Schutz vor Verfolgung. Artenvielfalt und Bestandsgrößen von frei lebenden Säugetieren und Vögeln in den Städten spiegeln die Bedeutung des Schutzes vor Verfolgung. Jeder kann dies an der ungleich geringeren Scheu der in den Städten lebenden Tiere im Vergleich zum freien Land draußen direkt feststellen. Bei den meisten der größeren und großen Arten hängt die Zukunft nicht am Klimawandel oder an den Störungen durch Spaziergänger und Naturfreunde, sondern an den Gewehrläufen der Jäger. Die Jagd erzeugt künstlich Scheuheit und schränkt damit die Lebensmöglichkeiten der bejagten Arten sehr stark ein. Andere Jagdformen, die eine größere Vertrautheit des Wildes ermöglichen, könnten da viel verbessern – auch im Interesse der Jagd! Ob das eine realistische Hoffnung sein kann oder nicht, muss vorerst offen bleiben. Zu spät ist es jedenfalls nicht, zumal großartige Tiere an den Grenzen stehen, bereit zum Einwandern, wenn man sie nur ließe. Wie etwa der Elch, der von Tschechien her Österreich erreicht hat, oder der Braunbär, dem vielleicht doch in den österreichischen Bergen eine Zukunft beschieden sein wird. Angesiedelt haben sich in unserer Zeit mehrere Arten größerer und großer Vögel fernab ihrer bisherigen Brutgebiete, weil sie nicht mehr geschossen werden. Eingewandert sind weitere, wie die ausführlich behandelte Türkentaube oder der außer in Kreisen von Vogelkundlern so gut wie unbekannte Karmingimpel (Carpodacus erythrinus). Eine ehrliche Bilanz ergibt wohl für die meisten Regionen Mitteleuropas Ähnliches wie für Bayern: Die Zahl der Arten hat bei Säugetieren und vor allem bei den Vögeln seit dem Jahr 1900 zu- und nicht etwa abgenommen. Für die Vogelwelt Bayerns machen die Zugänge, je nachdem, wie gerechnet wird, zwischen 10 und 20 % aus. Im Naturschutz neigt man freilich dazu, Arten, die sich neu angesiedelt haben, zu ignorieren, bis sie so allgemein bekannt sind, dass sie schließ-
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lieh doch akzeptiert werden. Sollten sie dann gar wieder seltener werden oder zu verschwinden drohen, werden sie unter Schutz gestellt, und wenn sie Glück haben, wird ihnen sogar ein eigenes Schutzprogramm zuteil, das viel Geld kostet. Wie zum Beispiel den Ackerwildkräutern, von denen die meisten frühere Unkräuter waren, die nicht zur heimischen Flora gehörten. Zu den Betroffenen zählen auch der Klatschmohn und die Kornblume. Wenn sie in unserer Zeit im Hochsommer in Massen (wieder) in einem Feld blühen, darf man inzwischen die Schönheit dieser Blumen genießen, weil sie nicht mehr als schädliche Ackerunkräuter eingestuft sind. Zuneigung und Hilfe wird so ausgeprägten und praktisch ausschließlichen Kulturfolgern wie den Schwalben (Rauch- und Mehlschwalbe) zuteil. Vielleicht erhalten die Halsbandsittiche (Psittacula kramen), die seit Jahrzehnten in Stuttgart und in Städten am Rhein in den Stadtparks völlig frei leben, oder die begeisternd schönen Mandarinenten (Aix galericulatd) irgendwann in absehbarer Zukunft auch den Schutz wie die Schwalben als fremde Arten früherer Zeiten. Bei der vom südöstlichen Balkan stammenden Kastanie ist es schon so weit. Sie wird jetzt gegen den spezifischen Schädling, der erst 1992 vom Linzer Raum her nach Deutschland eingedrungen ist, gegen die Kastanienminiermotte (Cameraria ohridella), «verteidigt». Entdeckt hatte man die winzige Miniermotte erst einige Jahre vorher am Ohrid-See in Makedonien, also im Nahbereich der Heimat der Rosskastanie. Hierzulande ist die Motte nun der invasive Schädling, der die längst als heimisch erachtete Kastanie bedroht, auch wenn bisher wohl nicht eine einzige daran umgekommen ist. Die herrlich blutrot gefärbte Feuerlibelle wird irgendwann, sollte sie sich etablieren können, sicherlich auch akzeptiert werden und die tropisch anmutende, bizarre amerikanische Büffelzirpe (Stictocephala bisonia) wohl auch. Hieraus ergibt sich, dass ein zentraler Punkt der Kritik an der Einseitigkeit der Roten Listen und des Artenschutzes anzusetzen hat. Die Lebewesen werden gänzlich unabhängig davon, wie sie aussehen und wie sie leben, geschweige denn welche «Rolle» sie im so genannten, reichlich fiktiven Naturhaushalt spielen (könnten), vorab in ganz unterschiedliche Wertsysteme eingeordnet. «Heimisch» ist gut, und wenn abnehmend, selten oder gar gefährdet, dann ist die Art «sehr gut» und besonders
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wichtig. Auf sie muss unter allen Umständen Rücksicht genommen werden. Genau umgekehrt verhält sich der Artenschutz zu den «neuen Arten», zu denen, die sich ausbreiten oder aufgrund irgendwelcher Vorgänge ansiedeln konnten. Man verfolgt sie mit Argwohn, stuft sie ab, soweit das geht, und wo sie vorkommen, muss die «heimische Natur» gestört sein. Sonst ließe sie dies doch gar nicht zu. Dass ein solches Bewertungssystem sehr viel mit Vorurteilen, aber sehr wenig mit Ökologie zu tun hat, liegt auf der Hand. Doch das Offensichtliche will man nicht sehen, weil es der längst fest vorgefassten Meinung widerspricht. Daher wird, sicherlich nicht immer, aber doch oft genug, der Öffentlichkeit vorgemacht, die Artenvielfalt sei durch diese Fremdlinge bedroht. Die emotionale Begründung reicht; nach Beweisen wird gar nicht mehr gefragt. Daher ist der Blick zurück in die Vergangenheit so wichtig: Was wäre unsere heutige Natur, was wäre der Bezug, den der Artenschutz mit etwa dem Jahre 1900 gewählt hat, ohne die vielen gebietsfremden Arten, die in den Jahrhunderten davor nach Mitteleuropa gekommen sind? Sie machen in den meisten Lebensräumen mehr als die Hälfte der Artenspektren von Pflanzen und Tieren aus. Lediglich im Hochgebirge gibt es vergleichsweise weniger Zuwanderer aus früheren Zeiten. Die «Kulturlandschaft» aber, die heile Welt des Naturschutzes, die wie die Blaue Blume der Romantik in jener Vergangenheit gesucht wird, aus der es keine überlebenden Zeitzeugen mehr gibt, verdankt gerade ihren Reiz und Reichtum an Arten dem bunten Mix aus Heimischem und Zugewandertem. Und wie nicht anders zu erwarten, weil sich die Zeiten geändert haben und weiter ändern werden, verschieben sich die Vorkommen und die Häufigkeiten dieser Arten am meisten mit den Veränderungen in der Kulturlandschaft. Sie gab und sie nimmt, aber immer mit direktem Zutun und indirektem Einfluss der Menschen, die darin wirtschaften. So gesehen sind die Roten Listen kaum mehr als ein Spiegel der Entwicklungen in der Kulturlandschaft. Nur wo diese Entwicklungen in größerem Umfang beeinflusst werden können, bestehen Aussichten auf Verwirklichung der Ziele des Artenschutzes. Wird es wieder mehr magere Flächen und offenes Gelände geben, werden manche, vielleicht sogar die meisten der heute besonders bedrohten Arten dieser Lebensraum-
Der Artenschwund geht daher mit weitem Abstand vor allen anderen Wirkgrößen auf das Konto der modernen Landwirtschaft. Denn Überdüngung, Strukturverarmung und Vereinheitlichung der Lebensbedingungen (möglichst gleichartige Produktionsverhältnisse zu haben oder zu schaffen) sind ihre Auswirkungen. Der Stickstoff wurde zum «Erstick-Stoff» für die Artenvielfalt. Überdüngung, speziell auch mit Gülle, belastet Böden, Grundwasser, Oberflächengewässer und die Luft. Doch an zweiter Stelle nach der Landwirtschaft folgt bereits der Naturschutz selbst. Die Unterbindung der vielen kleinen Eingriffe, der «Störungen», brachte genau das Gegenteil von Förderung der Artenvielfalt und Schutz der seltenen Arten. Seit keine kleinen Abgrabungen und solche mittlerer Größe mehr gemacht werden können, keine Kleingewässer in der Landschaft entstehen, kein Abflämmen von Böschungen und Triften mehr erlaubt und Kahlschläge verdammt sind, fehlt es an den jungen Stadien von Entwicklungen, mangelt es an Stellen ohne intensive landwirtschaftliche Nutzung und wächst alles zu, was nicht direkt in die Nutzungen einbezogen ist. So entfällt der zweitgrößte Teil der Artenrückgänge auf die Umsetzung von Naturschutzzielen. Das gut Gemeinte wurde zu gut und kehrte sich in sein Gegenteil um. Doch wie immer, zumal wenn dazu erst einmal Gesetze und Verordnungen erlassen sind, fällt die Korrektur schwer. Sie ist meistens unmöglich, solange die anfangs Beteiligten noch das Sagen haben. Denn sie dürfen sich ja nicht geirrt haben, schon gar nicht im administrativen Bereich, wo Natur verwaltet wird, ohne Kontakt mit ihr zu haben. Wo die
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typen wiederkommen. Der Hitzesommer von 2003 hat die Ansätze dazu gezeigt. Dass er nicht nennenswert nachwirkte, lag am zu raschen Wechsel zur Normalität. Die großen «Feinde» der Artenvielfalt sind längst erkannt, aber sie zu bekämpfen, sieht sich der Naturschutz so gut wie außer Stande. Es sind dies, der Rangfolge ihrer Wirkung nach, – die Überdüngung – die Strukturverarmung – die Vereinheitlichung der Lebensbedingungen (Biotope) – die Unterbindung kleiner Eingriffe (Störungen) – die Verfolgung/Bekämpfung.
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Liste entscheidet und nicht das Leben, das geschützt werden soll. Auch wenn dieses dabei zu Tode kommt. An dritter Stelle stehen die Verfolgungen. Kaum jemand fällt noch auf, obgleich viele Menschen die Erfahrungen in Nationalparks und Schutzgebieten in aller Welt gemacht haben, wie extrem scheu hierzulande die größeren Tiere, vor allem Vögel und Säugetiere, sind. Sie bestaunen dieselben Arten, die es auch hierzulande gibt, in fernen Schutzgebieten ganz aus der Nähe (und machen wunderbare Fotos davon!). Wären dieselben Tiere bei uns so vertraut, würde diese Vertrauensseligkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit krankhaft sein. Ein Tier, das sich nicht «wild» gebärdet, gilt als «entartet». Das liegt nicht an der großen Zahl von Menschen in unserem Lande. Es gibt weit dichter besiedelte Länder mit vertrauten Tieren und wir kennen dies auch aus den Millionenstädten, wo Vögel zu Millionen leben und fast alle Säugetiere frei vorkommen, die es in Mitteleuropa überhaupt gibt. Es liegt an der Verfolgung durch eine kleine Minderheit. Der Rest der in üblicherweise als die Natur schädigend eingestuften Bereiche und Tätigkeiten fällt hinsichtlich der Tierund Pflanzenarten in die Bedeutungslosigkeit zurück: Bau- und Siedlungstätigkeit, Industrie und Verkehr. Nicht einmal dem Verkehr kann eine massivere Dezimierung von Vögeln und Säugetieren angelastet werden als der Jagd. Das ergibt sich aus den Jagdstatistiken in aller Deutlichkeit. Nach wie vor werden weitaus mehr, in der Größenordnung etwa das Zehnfache, an Hasen geschossen, als die Autos auf den Straßen «erlegen». Bei Greifvögeln, wie Mäusebussard und Habicht, die mit Ausnahmegenehmigungen geschossen werden, liegt das Verhältnis noch viel krasser, ganz zu schweigen von den Krähen. An die 100 000 werden allein in Bayern pro Jahr geschossen. Nicht einmal ein Hundertstel davon fällt dem Straßenverkehr zum Opfer. Ähnlich verhält es sich mit Seuchen und Krankheiten. Bei Ausbrüchen von Enten-Botulismus, hervorgerufen durch einen Erreger, welcher der «Wurstvergiftung» nahe verwandt ist (Clostridium botulinum Typ C), kamen in manchen Sommern bis zu 30 000, im Extremfall 50 000 Enten ums Leben. Das waren nicht einmal 10 % der Jagdstrecken im betreffenden Jahr in Deutschland. Wenn Tausende von Erdkröten auf ihrem Weg
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zum Laichplatz überfahren werden, fällt dieser Massentod auf der Straße auf. Amphibien-Leitplanken und Tunnels zur Unterquerung wurden mit viel Einsatz von Helfern und auch von Geld gebaut. Doch was nützt es den Kröten, wenn ihre Teiche von der Landwirtschaft zugedüngt und für ihre Kaulquappen untauglich werden oder wenn Fische eingesetzt worden sind, weil auch noch die kleinsten Wasserlöcher «ordentlich befischt» werden müssen? Die Unterbindung des regelmäßig-unregelmäßigen Entstehens von Kleingewässern schädigte die Bestände von Fröschen, Kröten und Molchen weitaus mehr, als die Amphibienschutzzäune wieder gutmachen konnten. Der Straßenverkehr ist jedenfalls nicht schuld an ihrem Rückgang. Noch weniger sind es die Naturfreunde oder gar die Sammler. Die Einschränkungen und Betretungsverbote für Naturschutzgebiete brachten keineswegs die erhofften Besserungen. Sie trafen die Falschen. Der Beweis ihrer Notwendigkeit steht nach wie vor aus. Die Hoffnung, dass zugunsten der zu schützenden Arten entsprechend positive Wirkungen erzielt worden sind, hat sich nicht erfüllt. Wo in der Tat Störungen auftreten, weil die Arten, um die es geht, scheu sind, liegt die Scheuheit nicht an den Naturfreunden und Besuchern, sondern an der Verfolgung, der diese Arten ausgesetzt sind. Sie muss unterbunden werden, nicht das Interesse der Besucher! Solange in Schutzgebieten, wie «Europareservaten für Wasservögel» und «Feuchtgebieten von internationaler Bedeutung» oder in so genannten, jedoch meistens nicht wirklichen «Nationalparks» gejagt werden darf, werden die attraktiven Arten scheu bleiben. Und störungsanfällig. Noch weniger begründet sind die Ge- und Verbote in Schutzgebieten, in denen es um Pflanzen oder um Insekten oder andere Kleintiere geht, die von vornherein nicht «störungsanfällig» sind. Die Hauptwirkung der Inschutznahme besteht dann in der Abwehr von interessierten Menschen, die mehr oder minder direkt zum Feind des Naturschutzes gemacht werden, weil sie an der Natur interessiert sind. Einen größeren Fehler hätte der Naturschutz kaum machen können. Auf diese Weise verliert er seine besten Verbündeten. Sie wurden systematisch der Natur entfremdet. Sogar in der Stadt werden die Tendenzen unübersehbar, die «Biotope» mit hohen Zäunen abzusper-
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ren. Die Menschen sollen auf den sauber gepflegten, kurz geschorenen Liegewiesen bleiben und an den dafür vorgesehenen Stellen ins Wasser der Badeseen steigen. Wenn sie «in die Natur» wollen, sollen sie das doch bitte irgendwo anders machen, auf dem Balkan zum Beispiel, wenn sie das Risiko eingehen. Kinder und Jugendliche dürfen keine Insekten mehr sammeln, weil alle Arten, die schön und interessant aussehen, unter Schutz stehen. So wird ihnen auch im Biologieunterricht kaum noch etwas Lebendiges gezeigt, weil die Fachlehrer nicht mehr wissen, was sie noch ohne besondere (und langwierige) Genehmigung zeigen dürfen. Der tote Vogel, der am Schulfenster verunglückte, muss im «Kreislauf der Natur» (des Schulhofs!) gemäß der Vogelschutzverordnung verbleiben, weil es sich um eine Meise, um einen Gimpel oder um einen Buchfinken handelt (alles geschützte Arten!). Der Kadaver wird dann heimlich in die Mülltonne entsorgt. Umso mehr beklagt «der Naturschutz» den Rückgang des Interesses an der Natur. Neueste Erhebungen zeigen erschreckende Tendenzen. Die vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in Auftrag gegebene und von U. Kuckartz & A. Rheingans-Heintze (2004) erarbeitete Studie Umweltbewusstsein in Deutschland 2004 weist einen eklatanten Abfall in der Bewertung der Wichtigkeit in den beiden Altersgruppen unter 20 und 20–24 Jahre aus. Fast zwei Drittel aller Befragten sahen keine wesentlichen Fortschritte im Naturschutz. Abgesehen von den verbandsinternen Blättern der Naturschutzverbände gibt es kaum noch Naturzeitschriften; der diesbezügliche Büchermarkt ist stark geschrumpft. Das Schwinden des Interesses ist unübersehbar geworden. Die Fachverbände wie etwa Gesellschaften von Insektenforschern (Entomologen) beklagen, dass der Nachwuchs an Interessierten ausbleibt. Der Schwund hat System: Die Artenschutzbestimmungen verhindern die Anlage privater Sammlungen weitestgehend. Welcher Jugendliche würde aber gleich mit nicht geschützten, äußerst schwer zu bestimmenden Zuckmücken beginnen wollen? Eine Sammlung zu dieser Gruppe kann man nicht einmal «vorzeigen». Die massiven Einschränkungen des Sammelns betreffen sogar die staatlichen wissenschaftlichen Sammlungen. Das andere Ministerium erschwert ihnen, was das eigene als
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Dienstaufgabe vorgegeben hat. So darf der Staat paradoxerweise nicht einmal richtig für sich selbst sammeln, um die wissenschaftlichen Grundlagen für seine Beurteilungen und Entscheidungen verfügbar zu haben. Im Computer gespeicherte «Daten» werden als ausreichend erachtet, obgleich gerade diejenigen Personen, die damit zu arbeiten haben, Qualität und Ursprung der Daten im Gelände sowie die Arten selbst meist überhaupt nicht kennen. Staatliche Naturschutzbehörden wie private Naturschutzverbände, die Arten schützen wollen, entziehen auf diese Weise dem Naturschutz die Grundlagen an Menschen und Wissen. Sehenden Auges, weil das System es so will und weil nicht geändert werden kann, was seit Jahrzehnten so läuft. Bis zum bitteren Ende wahrscheinlich. In diesem Befund verdichtet sich die pessimistische Sicht zur Zukunft der Arten. Es sieht nicht gut aus, gar nicht gut! Die Natur wird zunehmend tabuisiert. Nach der Trennung von Wald und Weide und Wald und Wild soll schließlich auch der Mensch nach Möglichkeit vollends von der Natur getrennt werden. Er wird umso naturverträglicher, je weniger er sich in die Natur hinausbegibt. Naturersatz flimmert ja über die Bildschirme. Sein «ökologischer Fußabdruck» belastet längst die ganze Erde bis zum Übermaß. Also soll er wenigstens seinen Fuß nicht direkt in die Natur setzen. Dann sieht auch die große Mehrheit nicht mehr, was draußen in der Natur wirklich vorgeht. Unbefugte werden sich keine Gedanken machen. Dazu darf es nicht kommen. Dafür ist die Natur zu schön, zu wertvoll und auch zu wichtig für die Menschen jeden Alters. Schutz und Erhaltung werden nur gelingen, wenn die Menschen, wenn möglichst viele Menschen, wieder an die Natur herangeführt werden. Die Verbote müssen fallen, die nichts genützt haben. Wo der Nachweis fehlt, dass die Beschränkungen gewirkt haben, sollten sie auch schleunigst aufgehoben werden. Das gilt in ganz besonderem Maße für die Artenschutzbestimmungen. Der weitaus größte Teil ist überflüssig, weil er die Falschen trifft, in Wirklichkeit aber nichts bewirkt. Solange frei lebende Tiere einfach mit der überkommenen Zuordnung «jagdbar» verurteilt bleiben, dürfen die anderen Tiere und Pflanzen nicht in vergleichbarer Weise mit «unter Naturschutz» abgeurteilt werden. Schutzmaßnahmen sind sinnvoll, wo sie
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nötig sind. Die Notwendigkeit muss der Erfolg beweisen. Das gilt für nichtjagdbare Arten, die geschützt werden, gerade so wie für jagdbare, die zugunsten jagdlich interessanter Arten bekämpft werden (sollen). Nur wenn es gelingt, für den Umgang mit den Arten frei lebender Tiere und Pflanzen gleiche Regeln für alle zu finden, werden sie auch von allen angenommen werden. Dann sieht die Zukunft der Arten nicht mehr so schlecht aus. Wo die Mähmaschine abrasieren darf, was wächst und blüht, hat der Artenschutz offensichtlich keinen Sinn. Wo im Naturschutzgebiet Jäger jagen und Angler fischen dürfen, darf auch den anderen Besuchern keine nennenswerte Einschränkung auferlegt werden. Die Ausnahmen entwerten die Regel und verhindern das Erreichen des Ziels. Es ist besser, die Naturfreunde sehen und erleben das selbst in großer Zahl. Ziele des Naturschutzes werden sich dann eher und mit größeren Mehrheiten erreichen lassen. Daher sollte ernstlich erwogen werden, staatliche Naturschutzgebiete zur Betreuung und Öffnung für die Bevölkerung in die Hände privater Naturschutzorganisationen zu geben. Die besten Schutzgebiete und die besten Schutzerfolge international verzeichnen solche Länder, in denen dies der Fall ist oder wo ein Netzwerk erstklassiger privater Schutzgebiete mit den staatlichen konkurriert. Die Natur muss für den Menschen wieder attraktiv gemacht werden. Dann wird man sie auch erhalten wollen. Die Ziele des Naturschutzes waren gut und richtig. Sie sind es grundsätzlich immer noch: Die Artenvielfalt soll erhalten bleiben; die Schönheiten der Natur auch! Doch es waren offensichtlich nicht die geeigneten Methoden und die richtigen Wege, die gewählt und eingeschlagen worden sind. Das lässt sich aber korrigieren. Noch ist es bei aller Untergangsstimmung, die über die Natur verbreitet wird, nicht zu spät. Die Gesellschaft als Ganzes hat sogar ein Recht darauf, dass die nötigen Korrekturen vorgenommen werden. Denn die Natur gehört allen. Der staatliche Naturschutz hat als Treuhänder zu wirken. Im besten Sinne für die Menschen und für die Natur, nicht gegen beide. Diese Forderungen gelten somit der Zukunft der Arten wie auch den Interessen der Menschen, welche die Tiere und Pflanzen als Wert an sich betrachten und ihre Erhaltung für die Zukunft sicherstellen wollen. Sie richten sich keineswegs gegen
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den Naturschutz. Sehr viele Naturschützer haben sehr viel für die Natur getan und ihre Leistungen sind gerade im Artenschutz ganz hervorragend. Doch ihre Bemühungen verdienen bessere Früchte. Die Tier- und Pflanzenarten sind es auf jeden Fall auch wert. Um ihre Zukunft geht es; hierzulande, nicht irgendwo! Der Wolf auf dem Umschlag soll stellvertretend für alle Arten nicht vergebens in die Zukunft blicken. «Die Zeiten sind schlechter, als man denkt», schrieb Goethe vor mehr als 200 Jahren. Wir können sie wieder besser machen.
233 Literatur
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Josef H. Reichholf leitet die Abteilung Wirbeltiere der Zoologischen Staatssammlung München und lehrt als Professor an beiden Münchner Universitäten Biologie und Naturschutz. Bei C.H.Beck erschien von ihm «Comeback der Biber» (1993).
Umschlaggestaltung: Atelier 59, München Umschlagabbildung: Arktischer Wolf (Canis lupus arctos), Nordwestterritorien Kanada • gettyimages inc., The Image Bank
Verlag C.H.Beck München