Verfeinert, ökonomisiert, scheinbar humanisiert hat der Marsmensch seine Methoden seit der ersten, blutigen Invasion, d...
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Verfeinert, ökonomisiert, scheinbar humanisiert hat der Marsmensch seine Methoden seit der ersten, blutigen Invasion, die der Engländer Herbert Wells 1898 beschrieb. Keine Vernichtung der Erdenmenschheit mehr, sondern Unterwerfung und Nutzanwendung als – Lieferant von Magensaft! Bei höchst amüsantem Augenmerk aufs Detail beobachten die Strugazkis, wie eine Spießergesellschaft auf die außerirdische Erschütterung ihres Daseins reagiert, wie sie schwankt zwischen zielloser Opposition, passivem Abwarten und kläglichem Anpassertum, wie sie sich alsbald wieder „einrichtet“ und das gewohnte Leben zwischen Haus, Garten, Kneipe, Briefmarkenalbum und Sorge um die Rente fortsetzt, wie sie Scheinzustände und Scheinaktivitäten zur Rechtfertigung vor sich selbst und nach außen hin benutzt ... Gewiß geht es den Autoren nicht einfach um eine neuerliche Entlarvung der bourgeoisen, genauer, der kleinbürgerlichen Gesellschaft, sie geißeln überhaupt Erscheinungsformen von Engstirnigkeit, Beschränktheit, Egoismus und Selbstbetrug. Die Brüder Arkadi und Boris Strugazki gehören zu den Spitzenautoren der sowjetischen wissenschaftlichen Phan– tastik. Bisher erschienen in der DDR: „Atomvulkan Gol– konda“, „Der ferne Regenbogen“, „Hotel ,Zum Verunglückten Bergsteiger'“, „Ein Gott zu sein ist schwer“, „Die dritte Zivilisation“, außerdem zahlreiche Erzählungen in Sammelbänden.
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›Volk und Welt Spektrum‹ 90 Phantastische Erzählung
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Arkadi und Boris Strugazki Die zweite Invasion der Marsmenschen Aufzeichnungen eines Mannes mit gesundem Menschenverstand
Verlag Volk und Welt Berlin
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Titel der Originalausgabe: ВТОРОЕ НΑШЕСТВИЕ МАРСИАН erschienen bei MOJIOДAЯ ГBAPДИЯ, MOCKBA 1968 Aus dem Russischen von Thomas Reschke
Gescannt von c0y0te.
―――――――――――――――――――――――――――――――― Dieses e-Buch ist eine Privatkopie und nicht zum Verkauf bestimmt!
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1. Auflage © Verlag Volk und Welt, Berlin 1976 (deutschsprachige Ausgabe) L. N. 302, 410/20/76 Printed in the German Democratic Republic Alle Rechte vorbehalten Redakteur: Kristiane Lichtenfeld Einbandentwurf: Lothar Reher Satz, Druck Einband: Karl–Marx–Werk Pößneck V 15/30 LSV 7204 Bestell–Nr. 647 022 7 EVP 2.40 Dieser Scan ist nicht seitenkonkordant Nachwort von c0y0te
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Oh, diese verfluchte konformistische Welt! 1. Juni (drei Stunden nach Mitternacht). Du meine Güte, jetzt auch noch Artemis! Hat sie sich also doch mit diesem Nicostratus eingelassen. Und das nennt sich nun Tochter ... Na schön. Gegen ein Uhr nachts riß mich ein heftiges, wenn auch weit entferntes Poltern aus dem Schlaf, und ein unheildrohendes rotes Lichterspiel an den Schlafzimmerwänden verblüffte mich. Das Poltern klang grollend und kollernd, wie es bei Erdbeben zu sein pflegt, so daß denn auch das ganze Haus schütterte, die Scheiben klirrten und die Arzneifläschchen auf dem Nachttisch hüpften. Erschrocken stürzte ich ans Fenster. Im Norden loderte der Himmel, als klaffte dort hinter dem fernen Horizont die Erde auseinander und schleuderte bunte Feuerfontänen bis hinauf zu den Sternen. Die beiden aber sahen und hörten nichts; von dem höllischen Wetterleuchten angestrahlt und von den Erdstößen geschüttelt, umarmten sie sich auf der Bank vor meinem Fenster und küßten sich in einem Dauerbrenner. Ich erkannte Artemis sofort und wähnte schon, Charon wäre zurückgekehrt und sie darüber so beglückt, daß sie sich mit ihm küßte wie eine Braut, anstatt ihn einfach ins Schlafzimmer zu führen. Gleich darauf jedoch erkannte ich in dem Flackerlicht die berühmte Importjacke des Herrn Nicostratus, und da sackte mir das Herz in die Hose. In solchen Momenten büßt der Mensch seine Gesundheit ein. Dabei konnte ich nicht mal sagen, es käme für mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Gerüchte hatte es schon gegeben, auch Anspielungen und mancherlei Witze. Trotzdem war ich wie erschlagen. Mein Herz festhaltend, ahnungslos, was ich zu unternehmen hätte, tappte ich, barfuß, wie ich war, in den Salon und 5
wollte die Polizei anrufen. Aber versuchen Sie mal, die Polizei zu kriegen, wenn Sie sie brauchen! Zuerst war dauernd besetzt, und dann hatte ausgerechnet Pandareus Dienst. Ich fragte ihn, was das da am Horizont für ein Phänomen sei. Er wußte nicht, was das ist, ein Phänomen. Ich fragte ihn: „Kannst du mir sagen, was da eigentlich am nördlichen Horizont vorgeht?“ Er erkundigte sich, wo das sei, und ich wußte schon nicht mehr, wie ich es ihm erklären sollte, aber da fiel bei ihm der Groschen. „Aaach, den Brand meinst du?“ fragte er und teilte mir mit, daß tatsächlich irgendein Feuer zu beobachten sei, doch was da brenne und wieso, habe man noch nicht festgestellt. Das Haus wackelte, knarrte, draußen auf der Straße schrie jemand gellend etwas vom Krieg, und dieser alte Esel erzählte mir lang und breit, man habe ihm eben den Minotaurus aufs Revier gebracht: stockbesoffen habe der eine Ecke von Herrn Laomedons Villa besudelt, könne nicht auf eigenen Beinen stehen und nicht einmal sich prügeln. „Wirst du nun Maßnahmen ergreifen oder nicht?“ unterbrach ich ihn. „Das sage ich dir doch gerade, Apollo“, entgegnete dieser Esel beleidigt. „Ich muß ein Protokoll aufsetzen, und ihr nagelt mich hier am Telefon fest. Wenn ihr euch alle so über diesen Brand aufregt...“ – „Und wenn das Krieg ist?“ fragte ich. „Nein, das ist kein Krieg“, versicherte er. „Das müßte ich wissen.“ – „Vielleicht eine Eruption?“ fragte ich. Er wußte nicht, was das ist, eine Eruption, da konnte ich nicht mehr und legte den Hörer auf. Schweißgebadet kehrte ich ins Schlafzimmer zurück und schlüpfte in Hausmantel und Pantoffeln. Das Poltern war nahezu verstummt, aber das Wetterleuchten flackerte fort. Die beiden küßten sich nicht mehr, saßen auch nicht mehr umschlungen. Hand in Hand standen sie da, für jedermann sichtbar, denn das Feuer am Horizont verbrei6
tete Taghelle, nur war das Licht nicht weiß, sondern orangerot, und am Himmel krochen Rauchschwaden hin, braun mit einer Tönung von Blümchenkaffee. Nachbarn rannten auf der Straße umher, bekleidet, wie es gerade kam, Frau Eurydice griff jeden beim Pyjama und verlangte gerettet zu werden, nur Myrtilus fuhr sachlich seinen Lastwagen aus der Garage und trug mit Frau und Söhnen seine Habe aus dem Haus. Es war eine richtige Panik wie in der guten alten Zeit, so eine hatte ich lange nicht gesehen. Dabei wußte ich: Wenn wirklich der Atomkrieg begonnen hatte, so war in der ganzen Gegend kein besserer Platz zu finden als unser Städtchen, um sich zu verstecken, stillzusitzen, abzuwarten. Wenn es eine Eruption war, spielte sie sich in weiter Ferne ab, und unser Städtchen hatte wiederum nichts zu fürchten. Das war auch recht zweifelhaft: Wie sollte es bei uns zu einer Eruption kommen! Ich stieg die Treppe hinauf, um Hermione zu wecken. Nun, es war wie immer: „Laß mich in Ruhe, du Säufer; hättest nicht trinken sollen auf die Nacht, jetzt will ich nicht“ und so fort. Da erzählte ich ihr laut und eindringlich vom Atomkrieg und von der Eruption und trug ein bißchen dick auf, sonst hätte es keinen Zweck gehabt. Es ging ihr dann auch durch und durch, sie sprang vom Bett auf, stieß mich weg und eilte ins Eßzimmer, wobei sie murmelte: „Gleich seh ich nach, und dann paß mir auf...“ Nachdem sie das Büfett aufgeschlossen hatte, untersuchte sie die Kognakflasche. Ich war ruhig. „Wieso bist du in diesem Zustand?“ fragte sie und schnupperte argwöhnisch. „Aus welcher Nachtkaschemme kommst du?“ Aber als ihr Blick zum Fenster hinausfiel und sie draußen die spärlich bekleideten Nachbarn erblickte, als sie gar Myrtilus entdeckte, der nur in Unterhose auf seinem Dach stand und durch einen Feldstecher gen Norden spähte, verlor sie das Interesse an mir. Zwar war der nördliche 7
Horizont bereits in Stille und Dunkelheit zurückgesunken, doch man konnte noch eine Rauchwolke ausmachen, die die Sterne gänzlich verhüllte. Was soll ich viel reden, meine Hermione ist keine Frau Eurydice. Ist nicht mehr in dem Alter, hat auch eine andere Erziehung gehabt. Ich war noch nicht dazu gekommen, ein Glas Kognak zu kippen, da schleppte sie schon Koffer an und rief aus vollem Halse nach Artemis. Ruf nur, ruf nur, dachte ich kummervoll, die wird dich grade hören! Doch da erschien Artemis in der Tür ihres Zimmers. Du meine Güte, bleich wie der Tod, zitterte am ganzen Leibe, war aber schon im Pyjama und hatte Lokkenwickler in den Haaren baumeln. „Was ist los?“ fragte sie. „Was habt ihr bloß alle?“ Das zeugt von Charakter, wenn Sie so wollen. Ohne dieses Phänomen hätte ich nie etwas erfahren, und Charon schon gar nicht. Unsere Blicke trafen sich, sie lächelte mir mit bebenden Lippen zärtlich zu, und da konnte ich mich nicht entschließen, die Worte auszusprechen, die mir auf der Zunge lagen. Um mich zu beruhigen, ging ich in mein Zimmer und packte meine Briefmarken ein. Du zitterst, sprach ich in Gedanken zu ihr, du bebst! Du fühlst dich einsam, du fürchtest dich, bist schutzlos. Und er hat dir nicht zur Seite gestanden, dich nicht beschützt. Er hat die Blume des Vergnügens gepflückt und ist seiner Wege gegangen. Ja, meine Liebe, wenn ein Mann ehrlos ist, dann ist er es ganz und gar. Inzwischen war die Panik, wie ich vorausgesehen, rasch abgeebbt. Es wurde eine gewöhnliche Nacht, die Erde wackelte nicht mehr, die Häuser hatten aufgehört zu knarren. Frau Eurydice ging mit einem Mann mit. Niemand schrie mehr von Krieg, überhaupt gab es kein Geschrei mehr. Ein Blick aus dem Fenster zeigte mir, daß die Straße leer war, nur in den Häusern brannte da und dort noch 8
Licht, und Myrtilus' Unterhose schimmerte weiß auf seinem Dach inmitten der Sterne. Ich rief ihn an und fragte, was er sehe. „Schon gut, nichts weiter“, antwortete er gereizt. „Legen Sie sich hin, schnarchen Sie. Sie werden schnarchen, aber die werden's Ihnen schon geben...“ Ich fragte, was er mit „die“ meine. „Schon gut, nichts weiter“, antwortete Myrtilus. „Da haben sich Schlauberger gefunden. Mitsamt ihrem Pandareus. Ein Esel ist er, Ihr Pandareus, nichts weiter.“ Als ich ihn von Pandareus reden hörte, beschloß ich, nochmals bei der Polizei anzurufen. Ich mußte immer wieder wählen, und als ich endlich durchkam, teilte Pandareus mir mit, daß es keine besonderen Neuigkeiten gebe, daß jedoch im übrigen alles in Ordnung sei; dem betrunkenen Minotaurus habe man eine Beruhigungsspritze verpaßt und den Magen ausgepumpt, und jetzt sei er still geworden; was den Brand betreffe, so habe er längst aufgehört, zumal das kein Brand gewesen sei, sondern ein großes festliches Feuerwerk. Während ich noch nachsann, was für ein Feiertag vor der Tür stand, legte Pandareus auf. Er war ja doch dumm und scheußlich schlecht erzogen, und das seit eh und je. Seltsam, solche Leute in unserer Polizei. Unsere Polizisten sollten intelligent, sollten Vorbilder für die Jugend sein, Helden, denen man nacheifern möchte, denen man ohne Befürchtung nicht nur Waffe und Macht anvertrauen konnte, sondern auch Erziehungsarbeit. Charon aber nannte eine solche Polizei „Gesellschaft von Brillenträgern“ und meinte, wenn die Polizei so wäre, wie ich es mir wünschte, könnte keine Regierung sie gebrauchen, denn dann würde sie die für den Staat nützlichsten Leute ergreifen und umerziehen, angefangen beim Premierminister und beim Polizeipräsidenten. Wie dem auch sei, aber daß ein Oberpolizist nicht weiß, was ein Phänomen ist, und einem im Dienst flegelig kommt, finde ich hanebüchen. 9
Über Koffer stolpernd, drang ich zum Büfett vor und goß mir ein Glas Kognak ein, genau in dem Moment, als Hermione ins Eßzimmer zurückkehrte. Sie sagte, dies wäre ein Irrenhaus, man könne sich auf keinen verlassen und die Männer hier wären keine Männer und die Frauen keine Frauen. Ich wäre ein kompletter Alkoholiker, Charon ein Reisenarr, Artemis ein Zierpüppchen und absolut lebensuntüchtig. Und so weiter. Vielleicht könne ihr jemand erklären, weshalb sie mitten in der Nacht hochgescheucht und genötigt worden war, ihre Koffer zu packen? Ich antwortete ihr, so gut ich konnte, und verkroch mich dann in meinem Schlafzimmer. Jetzt tut mir alles weh, und ich weiß genau, daß sich mein Ekzem morgen verschlimmern wird. Schon jetzt möchte ich am liebsten kratzen, halte mich aber noch zurück. Gegen drei erbebte die Erde aufs neue. Ich hörte das Brummen vieler Motoren und Eisenklirren. Eine Kolonne von Militärlastern und gepanzerten Mannschaftswagen voller Soldaten fuhr am Hause vorbei, langsam, mit abgeblendeten Scheinwerfern. Myrtilus trippelte neben einem der Panzerfahrzeuge her, klammerte sich an den Lukenrand und schrie etwas. Ich weiß nicht, was ihm geantwortet wurde, doch als die Kolonne vorüber war und er allein auf der Straße stand, rief ich ihn an und fragte, was es Neues gebe. „Schon gut, nichts weiter“, sagte er. „Solche Manöver kennen wir. Da fahren diese Schlauberger für mein Geld spazieren.“ Und jetzt ging mir ein großes Licht auf. Da fanden ausgedehnte Manöver statt, möglicherweise mit Anwendung von Atomwaffen. Wozu dieser Blödsinn! Du meine Güte, jetzt ruhig einschlafen können!
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2. Juni Ich kratze mich ununterbrochen. Das schlimmste, ich kann mich nicht entschließen, mit Artemis zu reden. Solche durch und durch persönlichen, intimen Gespräche mag ich nicht leiden. Außerdem, woher soll ich wissen, was sie mir antwortet? Weiß der Teufel, was man mit solchen Töchtern macht. Wüßte ich wenigstens, was ihr fehlt! Sie hat einen Ehemann, keinen krummrückigen Schwächling, sondern einen kräftigen Kerl im besten Alter, keine Mißgeburt, keinen Krüppel und trotzdem keinen Rumtreiber. An Gelegenheiten fehlte es ihm nicht: Die Nichte des Stadtkämmerers wirft ihm lockende Blicke zu, und Thyone macht ihm schöne Augen, das weiß jeder, ganz zu schweigen von den Gymnasiastinnen, Sommerfrischlerinnen oder Madame Persephone, die von allen Katzen die größte Streunerin ist, kein Kater kann ihr widerstehen. Aber nun weiß ich doch, was Artemis mir antworten würde. Es ist langweilig, Pappi, würde sie sagen, tödlich trist ist es hier bei uns. Was kann ich darauf erwidern? Eine junge, schöne Frau, keine Kinder, beneidenswertes Temperament, sie müßte in einem Wirbel von Vergnügungen, Tanz, Flirt und so weiter dahinjagen. Charon aber ist bedauerlicherweise so ein Philosophist. Ein Denker. Totalitarismus, Faschismus, Managerismus, Kommunismus. Tanzen ist für ihn ein sexuelles Narkotikum; Gäste hält er für Idioten, einer immer schlimmer als der andere. Mal Wint spielen oder Vier Könige – kein Gedanke. Dabei hat er nichts dagegen, kräftig einen zu heben! Dann setzt er fünf von seinen Schlaubergern rund um den Tisch, stellt fünf Flaschen Kognak darauf, und die Diskussion zieht sich bis zum Morgen. Das Mädchen gähnt und gähnt, knallt hinter sich die Tür zu und geht schlafen. Ist das ein Leben? Ich verstehe ja, ein Mann braucht das Seine, 11
andererseits braucht eine Frau das Ihre! Nein, ich mag meinen Schwiegersohn, er ist mein Schwiegersohn, und ich mag ihn. Aber wie lange kann man diskutieren? Und was ändert sich durch diese Diskussionen? Klar ist doch: Wieviel man über den Faschismus auch diskutieren mag, dem Faschismus wird davon weder wohl noch wehe, du kannst keinen Mucks sagen, schon stülpen sie dir einen Stahlhelm auf den Kopf, und dann vorwärts marsch, Heil dem Führer! Wenn du deiner jungen Frau keine Beachtung mehr schenkst, zahlt sie es dir mit gleicher Münze heim. Und da hilft keine Philosophiererei. Ich begreife, daß ein gebildeter Mann ab und zu abstrakte Themen erörtern muß, aber man muß doch die Proportionen wahren, Herrschaften! Zauberhafter Morgen heute. (Temperatur plus neunzehn Grad, schwache Bewölkung, Südwind, ein halber Meter pro Sekunde. Ich müßte mal bei der Wetterwarte vorbeischauen und das Anemometer prüfen lassen, es ist mir schon wieder runtergefallen.) Nach dem Frühstück sagte ich mir, von nichts kommt nichts, und machte mich wegen meiner Rente auf zur Bürgermeisterei. Ich ging und genoß die Ruhe. Plötzlich entdeckte ich an der Freiheits-, Ecke Heidekrautstraße einen Menschenauflauf. Es stellte sich heraus, daß Minotaurus mit seinem Jauchewagen in ein Juwelierschaufenster gefahren war, und die Leute strömten zusammen, um mitzuerleben, wie er, dreckig, gedunsen und am frühen Morgen schon wieder blau, dem Verkehrsinspektor seine Aussagen machte. Er bildete zu dem strahlenden Morgen einen derartigen Gegensatz, daß mir sogleich die Laune verdorben war. Natürlich hätte ihn die Polizei nicht so früh entlassen dürfen, man wußte doch, daß er sich mit Sicherheit wieder vollpumpen würde, wenn er einmal seine Sauftour hatte. Andererseits, wie konnte man ihn festhalten, wo er doch der einzige Goldgräber in der Stadt ist? Man 12
hatte die Wahl: Minotaurus umzuerziehen und im Dreck zu ersticken oder aber um der Hygiene willen einen Kompromiß einzugehen. Wegen Minotaurus verlor ich Zeit, und als ich auf den Platz kam, waren die Freunde bereits versammelt. Ich bezahlte meine Strafe, dann schenkte mir der einbeinige Polyphem eine ausgezeichnete Zigarre in Aluminiumhülle. Sein Ältester, Polykarp, Leutnant bei der Handelsmarine, hatte sie ihm für mich geschickt. Dieser Polykarp war ein paar Jahre lang mein Schüler gewesen, bis er davonlief, um Schiffsjunge zu werden. Er war ein flinker Bengel und ein großer Wildfang. Als er aus der Stadt verschwand, hätte Polyphem mich beinahe bei Gericht verklagt mit der Begründung, ich als Lehrer hätte den Bengel mit meinen Vorträgen über die Buntheit der Welt verdorben. Polyphem selbst ist bis auf den heutigen Tag überzeugt, der Himmel wäre fest und die Sputniks rollten so ähnlich darüber wie Motorräder im Zirkus. Meine Argumente über den Nutzen der Astronomie sind ihm zu hoch, damals ebenso wie heute. Die Freunde unterhielten sich darüber, daß der Stadtkämmerer wieder einmal das für den Stadionbau bewilligte Geld veruntreut habe, zum siebzehntenmal schon. Zuerst sprachen wir über Sühnemaßnahmen. Silen behauptete achselzuckend, nur eine Gerichtsverhandlung komme in Frage. „Schluß mit den halben Maßnahmen“, sagte er. „Öffentliche Verhandlung. Die ganze Stadt versammelt sich auf dem Stadionbauplatz und nagelt den Defraudanten am Ort seines Verbrechens an den Schandpfahl. Gott sei Dank“, wiederholte er, „unser Gesetz ist biegsam genug, um die Strafe genau der Schwere des Verbrechens anzumessen.“ – „Ich würde sogar sagen, unser Gesetzt ist zu biegsam“, bemerkte der gallige Paralus. „Der Kämmerer hat schon zweimal vor Gericht gestanden, und unser biegsames Gesetz hat beide 13
Male einen Bogen um ihn gemacht. Du glaubst doch nicht etwa, das liegt daran, daß die Verhandlung nicht auf dem Bauplatz, sondern im Rathaus stattfand?“ Morpheus überlegte lange, dann sagte er, er werde vom heutigen Tage an den Kämmerer nicht mehr scheren noch rasieren. Möge er langhaarig herumlaufen. „Armlöcher seid ihr alle“, sagte Polyphem. „Ihr könnt nicht kapieren, daß wir ihm völlig schnuppe sind. Er hat seine eigene Gesellschaft.“ – „Stimmt genau“, pflichtete ihm der gallige Paralus bei und erinnerte uns daran, daß außer dem Stadtkämmerer auch noch ein Stadtarchitekt lebe und wirke, welcher das Stadion nach Maßgabe seiner Fähigkeiten projektiert habe und jetzt natürlich interessiert sei, daß es, Gott behüte, nicht gebaut werde. Der Stotterer Kalaidas zischte und zuckte, und nachdem er damit die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, erinnerte er daran, daß er, Kalaides, sich voriges Jahr beim Blumenfest ums Haar mit dem Architekten geschlagen hätte. Diese Äußerung verlieh dem Gespräch eine neue, energischere Tendenz. Der einbeinige Polyphem als Veteran und als Mensch, der Blut sehen konnte, machte den Vorschlag, den beiden im Hausflur der Madame Persephone aufzulauern und ihnen die Hörner zu knicken. In solch energischen Momenten hat Polyphem seine Zunge nicht im Zaum, da bricht der Kommiß bei ihm durch. „Man muß diesen Stinktieren die Hörner knicken“, dröhnte er. „Geben wir dem Pack Saures, polieren wir diesen Dreckskerlen die Fresse!“ Geradezu erstaunlich, wie solche Reden die Freunde erregten. Alle ereiferten sich, fuchtelten mit den Armen, Kalaides zischte und zuckte noch heftiger als sonst, war jedoch vor Erregung außerstande, auch nur ein Wort hervorzubringen. Aber da bemerkte der gallige Paralus, der einzige von uns, der ruhig blieb, außer Kämmerer und Architekt lebe in seiner Sommerresidenz 14
auch noch deren oberster Kumpan, ein gewisser Herr Laomedon, und da verstummten alle und zündeten ihre während des Gesprächs ausgegangenen Zigarren und Zigaretten wieder an, denn dem Herrn Laomedon konnte man nicht gut die Hörner knicken und erst recht nicht die Fresse polieren. Und als in der eingetretenen Stille der Stotterer Kalaides schon ganz unkontrolliert in seine Lieblingsdrohung „A-auf die Rotzrinne hauen!“ ausbrach, sahen alle ihn mißbilligend an. Mir fiel ein, daß es für mich höchste Zeit war, die Bürgermeisterei aufzusuchen. Ich versorgte die nur halb aufgerauchte Zigarre zurück in die Aluminiumhülle und stieg hinauf zum Sprechzimmer des Herrn Bürgermeisters im ersten Stock. Das ungewöhnlich lebhafte Treiben in der Behörde wunderte mich. Selbst der Herr Sekretär, statt sich wie gewohnt der Betrachtung seiner Fingernägel zu widmen, versiegelte große Umschläge, übrigens mit höchst angewiderter und herablassender Miene. Äußerst befangen näherte ich mich dem nach der neuesten Mode geschniegelten Schönling. Du lieber Gott, ich hätte alles darum gegeben, nichts mit ihm zu tun zu haben, nichts von ihm zu hören noch zu sehen. Ich hatte diesen Nicostratus noch nie gemocht, wie übrigens all die jungen Gecken in unserer Stadt, ehrlich gesagt, auch damals nicht, als er noch mein Schüler war, seiner Faulheit und seiner dreisten Unarten wegen, und seit gestern wurde mir schon bei seinem Anblick übel. Ich hatte keine Vorstellung, wie ich es mit ihm halten sollte. Aber es gab keinen anderen Ausweg, darum entschloß ich mich endlich zu den Worten: „Herr Nicostratus, hört man etwas Neues über meinen Vorgang?“ Er sah mich nicht an, würdigte mich sozusagen keines Blickes. „Entschuldigen Sie, Herr Apollo, aber die Antwort vom Ministerium ist noch nicht da“, sagte er und siegelte 15
dabei weiter. Ich trat von einem Fuß auf den anderen und wich zur Tür, denn ich fühlte mich scheußlich wie immer, wenn ich bei amtlichen Stellen zu tun hatte. Doch da hielt er mich überraschend mit einer erstaunlichen Mitteilung zurück. Er sagte, seit gestern sei die Verbindung mit Marathen unterbrochen. „Was Sie sagen!“ antwortete ich. „Sind denn die Manöver noch nicht zu Ende? – „Welche Manöver?“ fragte er verwundert. Da explodierte ich. Bis heute weiß ich nicht, ob das zweckmäßig war, doch ich sah ihm direkt ins Gesicht und sagte: „Welche Manöver? Dieselben, die Sie letzte Nacht zu beobachten geruhten.“ – „Manöver?“ sagte er beneidenswert kaltblütig und beugte sich wieder über seine Briefumschläge. „Das war doch ein Feuerwerk. Lesen Sie die Morgenzeitungen.“ Ich hätte ihm wirklich ein paar Takte sagen müssen, zumal wir in diesem Moment allein im Zimmer waren. Aber konnte ich das tun? Als ich auf den Platz zurückkehrte, ging der Streit bereits um das nächtliche Phänomen. Inzwischen waren Myrtilus und Pandareus dazugekommen. Pandareus trug den Waffenrock offen, er war unrasiert und sah müde aus nach dem Nachtdienst. Myrtilus war nicht schöner, denn er hatte die ganze Nacht rund um sein Haus patrouilliert in Erwartung eines Unheils. Sie alle hielten die Morgenzeitungen in der Hand und erörterten die Notiz „Unseres Beobachters“ unter der Überschrift „Der Feiertag steht vor der Tür“. „Unser Beobachter“ teilte mit, Marathen bereite sich auf seine Hundertdreiundfünfzig-Jahr-Feier vor, und wie er aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen erfahren habe, sei in der letzten Nacht ein Übungsfeuerwerk abgebrannt worden, dessen Anblick die Bewohner der benachbarten Städte und Ortschaften im Umkreis von zweihundert Kilometern hätten genießen können. Charon braucht bloß mal auf Dienstreise zu sein, schon verdummt unsere Zeitung in katastrophaler 16
Weise. Hätten sie sich wenigstens die Mühe gemacht, einmal zu überschlagen, wie ein Feuerwerk aus zweihundert Kilometer Entfernung auszusehen hat! Hätten sie wenigstens daran gedacht, seit wann Feuerwerke von Erdstößen begleitet werden! All das legte ich ungesäumt den Freunden dar, aber sie antworteten mir, sie wüßten selber, was für ein Jahr wir jetzt hätten, und empfahlen mir, den „Mileser Boten“ zu lesen. Im „Boten“ stehe schwarz auf weiß, die Einwohner von Miles hätten letzte Nacht das eindrucksvolle Schauspiel von militärischen Manövern unter Anwendung neuester technischer Kampfmittel genießen können. „Was hab ich euch gesagt?“ wollte ich rufen, aber Myrtilus kam mir zuvor. Er erzählte, frühmorgens sei ein ihm unbekannter Fahrer von der Firma „Ferntransporte“ bei seiner Tankstelle tanken gekommen, habe hundertfünfzig Liter Benzin, zwei Büchsen Autol und eine Kiste Marmelade gekauft und unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt, letzte Nacht seien aus unbekannter Ursache die unterirdischen Werke für Raketentreibstoff in die Luft geflogen. Dabei seien dreiundzwanzig Mann vom Betriebsschutz und die gesamte Nachtschicht ums Leben gekommen, überdies würden hundertneunundsiebzig Personen vermißt. Wir alle waren entsetzt, doch der gallige Paralus erkundigte sich aggressiv: „Wozu mag er die Marmelade gebraucht haben?“ Diese Frage brachte Myrtilus in Druck. „Schon gut, nichts weiter“, sagte er. „Das kennen wir. Mir reicht's“ Wir wußten auch nichts zu sagen. Tatsächlich, wozu die Marmelade? Kalaides zischte und spritzte, sagte aber nichts. Da schob sich Pandareus, dieser alte Esel, nach vorn. „Hört mal, alte Freunde“, sagte er. „Das waren nie und nimmer Treibstoffwerke. Die Marmeladenfabriken waren das, klar? So, jetzt könnt ihr euch festhalten.“ Wir setzten uns hin. „Unterirdische Marmeladenfabriken?“ sagte 17
Paralus. „Na, Alter, du bist ja heute prima in Form.“ Wir klopften Pandareus auf die Schulter und sagten: „Ja, Pan, man sieht gleich, du hast heute schlecht geschlafen, Alterchen. Hast dich abgeplagt mit diesem Minotaurus, Pan, um dich steht's schlimm. Höchste Zeit, daß du in Rente gehst, Pan, alter Freund!“ – „Polizist ist er und stiftet hier Panik“, sagte beleidigt Myrtilus, der einzige, der Pandareus' Worte ernst genommen hatte. „Ist doch klar, daß Pan Panik stiftet“, witzelte Dymas. Auch Polyphem ließ einen gelungenen, wenn auch höchst unanständigen Witz vom Stapel. Wahrend wir uns so amüsierten, stand Pandareus stocksteif da, schwoll vor unsern Augen an und bewegte den Kopf wie ein Stier, dem die Matadoren zusetzen. Endlich schloß er sämtliche Knöpfe seines Waffenrocks, blickte über die Köpfe hinweg und kläffte: „Wir haben uns unterhalten, nun ist Schluß! Auseinandergehen! Im Namen des Gesetzes.“ Myrtilus ging zu seiner Tankstelle, und wir übrigen begaben uns in die Kneipe. In der Kneipe bestellten wir erst mal Bier. Dieses Vergnügens war ich vor der Rente beraubt. In einer Kleinstadt wie der unseren kennt jeder den Lehrer. Die Eltern der Schüler bilden sich aus irgendwelchen Gründen ein, er wäre ein Wundertäter und befähigt, durch persönliches Beispiel ihre Kinder davon abzuhalten, in die Fußstapfen der Eltern zu treten. In der Kneipe wimmelt es von früh bis spät in die Nacht buchstäblich von solchen Eltern, und erlaubte man sich ein harmloses Bierchen, so gab es tags darauf mit Sicherheit ein demütigendes Gespräch beim Direktor. Dabei liebe ich die Kneipe! Ich sitze gern in guter Männergesellschaft, unterhalte mich bedächtig und ernsthaft über alles mögliche, lausche zerstreut auf das Stimmengewirr und das Gläserklingen, erzähle selbst oder höre einen saftigen Witz oder spiele Vier Könige, mit kleinem Einsatz, 18
doch würdevoll, und schmeiße eine Lage, wenn ich gewinne. Nun gut. Japetus brachte uns Bier, und wir kamen auf das Thema Krieg zu sprechen. Der einbeinige Polyphem versicherte, wenn dies ein Krieg wäre, hätten wir bereits Mobilmachung, doch der gallige Paralus widersprach, wenn dies ein Krieg wäre, wüßten wir schon überhaupt nichts. Ich mag keine Gespräche über den Krieg und hätte gern die Unterhaltung auf die Renten gebracht, doch wie sollte ich damit durchkommen ... Polyphem legte seine Krücke quer auf den Tisch und fragte Paralus, was der sich eigentlich unter einem Krieg vorstelle. „Weißt du zum Beispiel, was eine Bazooka ist?“ fragte er drohend. „Weißt du, was das heißt, im Graben sitzen, Panzer brausen auf dich zu, und du hast noch gar nicht gemerkt, daß du die Hosen voll hast?“ Paralus entgegnete, von Panzern und vollen Hosen wisse er nichts, wolle er auch nichts wissen, doch über den Atomkrieg wüßten wir alle gleichermaßen Bescheid. „Da mußt du dich mit den Füßen in Richtung der Explosion hinlegen und zum nächsten Friedhof robben“, sagte er. „Du hast als Zivilist gelebt, und als Zivilist stirbst du auch“, sagte der einbeinige Polyphem. „Atomkrieg, das ist Nervenkrieg, verstanden? Sie uns, und wir sie, und wer sich als erster in die Hosen macht, der hat verloren.“ Paralus zuckte nur die Achseln, und Polyphem kam nun vollends in Rage. „Bazookas!“ brüllte er. „Rrrums – schon sind die Hosen voll! Stimmt's, Apollo?“ Nachdem er genug herumgeschrieen hatte, verlor er sich in Erinnerungen, wie wir beide im Schnee einen Panzerangriff abgeschlagen hatten. Ich kann solche Erinnerungen nicht leiden. Immer nur volle Hosen. Ich weiß nicht, vielleicht war es so, hab's vergessen. Mag auch nicht mehr darauf zurückkommen. Polyphem aber war schon immer ein Kom19
mißhengst und ist es geblieben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was einem Menschen noch abgerissen werden muß, damit er ein für allemal aufhört, ein Unteroffizier zu sein. Vielleicht lag es nur daran, daß er nie in einem Kessel war, im Gegensatz zu mir. Oder ist es eine Frage des Charakters? Wir hatten uns festgesetzt, und ich beschloß, gleich Mittag zu essen. Normalerweise gibt es bei Japetus gutes Essen, aber diesmal schmeckte seine Grießklößchensuppe nach Art des Hauses stark nach Terpentin, und ich sagte es ihm. Da erfuhr ich, daß Japetus schon seit vorgestern solch unerträgliche Zahnschmerzen hatte, daß er nichts gehörig abschmecken konnte. „Weißt du noch, Phöbus, wie ich dir einen Zahn ausgeschlagen habe?“ fragte er traurig. Und ob ich das noch wußte! Es war in der siebenten Klasse, wir waren beide scharf auf Iphigenie und prügelten uns jeden Tag. Mein Gott, ist das lange her, daß ich mich noch schlagen konnte! Iphigenie ist übrigens im Süden mit einem Ingenieur verheiratet, sie hat bereits Enkel und Angina pectoris. Als ich zu Achilles ging, stand vor dem Hause des Herrn Laomedon das gräßliche rote Auto mit dem Panzerglas, und am Steuer saß rauchend dieser widerliche Bursche, der sich immer über mich lustig macht. Auch jetzt pflaumte er mich an, so daß ich lieber mit Würde die Straßenseite wechselte. Achilles thronte hinter der Kasse und blätterte in seinem Briefmarkenalbum. Seit er die blaue Dreiecksmarke mit dem silbernen Aufdruck erwischt hat, holt er jedesmal, wenn ich komme, das Album hervor, als wäre es Zufall. Ich durchschaue ihn jedoch und lasse mir nichts anmerken. Allerdings, um die Wahrheit zu sagen, mir blutet dabei das Herz. Mein einziger Trost ist, daß das Dreieck den Aufkleber hat. Das sagte ich ihm jetzt. „Ja“, sagte ich, 20
„wirklich, Achilles, ein schönes Stück. Bloß schade, daß es den Aufkleber hat.“ Sein Gesicht verzerrte sich, und er knurrte etwas von sauren Trauben. „Was willst du“, antwortete ich ihm ruhig. „Aufkleber ist Aufkleber, da kannst du nichts machen. Ich persönlich hätte die Marke für den Preis nicht genommen. Was habe ich davon, wenn sie den Aufkleber hat? Manche haben da großzügigere Ansichten“, sagte ich, „die nehmen sie auch gestempelt und mit Aufkleber, aber davon halte ich nichts, das ist unseriös. Die nehme ich allenfalls zum Tauschen. Es findet sich immer ein Einfaltspinsel, dem es schnuppe ist, ob sie den Aufkleber hat oder nicht.“ Ich will dich schon lehren, mir deinen silbernen Aufdruck so einfach unter die Nase zu halten! Aber eigentlich vertrieben wir uns angenehm die Zeit. Er wollte mir einreden, das gestrige Feuerwerk sei ein Nordlicht seltener Art gewesen, das zufällig mit einem Erdbeben besonderer Art zusammenfiel, und ich setzte ihm das von den Manövern auseinander und von der in die Luft geflogenen Marmeladenfabrik. Mit Achilles zu streiten ist unmöglich. Ich sah, der Mann glaubte selbst nicht an seine Worte, aber er stritt starrköpfig. Hockte da wie ein mongolischer Götze, guckte zum Fenster hinaus und behauptete immer wieder, ich sei in dieser Stadt nicht der einzige, der mit Naturphänomenen Bescheid wisse. Man könnte fast denken, daß er sich auf dem pharmazeutischen Institut tatsächlich in exakten Wissenschaften geübt hatte. Nein, es ist keiner unter uns, mit dem man einen Streit bis zum vernünftigen Ende führen kann. Zum Beispiel Polyphem. Er diskutiert nie zur Sache. Die Wahrheit interessiert ihn nicht, ihm ist nur eines wichtig: den Opponenten zu blamieren. So geht der Streit etwa um die Form unseres Planeten. Mit ganz genauen, jedem gebildeten 21
Menschen wohlbekannten Argumenten setze ich ihm auseinander, daß die Erde, grob gesprochen, eine Kugel ist. Er aber attackiert erbittert und erfolglos jedes Argument, und wenn wir bei der Form des Erdschattens bei Mondfinsternissen angekommen sind, gibt er plötzlich so etwas von sich wie: „Schatten, Schatten ... Jetzt wirfst du Schatten auf den schönen Tag. Laß dir erst mal die Warze unter der Nase wegmachen und Haare auf der Glatze wachsen, dann kannst du diskutieren.“ Oder nehmen wir Paralus. Eines Tages stritt ich mit ihm über Methoden zur Heilung von Alkoholismus. Sehr schnell waren wir bei der Außenpolitik des damaligen Präsidenten und von da beim Problem der Panspermie. Und das komischste – ich hatte für Panspermie und Außenpolitik damals und heute nicht das geringste Interesse, an Alkoholismus aber litt, qualvoll für seine Umgebung, Hermiones Großneffe. Gegenwärtig ist er bei der Armee als Sanitäter, doch davor war mein Leben ein einziger Alptraum. Ja, der Alkoholismus ist die Geißel der Menschheit. Unser Streit endete damit, daß Achilles das wohlgehütete Fläschchen hervorholte und wir jeder ein Glas Gin tranken. Das Geschäft geht bei ihm nicht besonders. Ich habe den Eindruck, daß es bei ihm ohne Madame Persephone auch für ein Glas Gin nicht reichen würde. Auch heute wieder kam jemand von ihr gelaufen. „Ich kann Antigest empfehlen“, sagte Achilles delikat flüsternd. „Nein“, antwortete die Botin, „sie möchte bitte was Sicheres.“ Was Sicheres möchte sie also. Dann kam der Küchenjunge von Japetus nach Zahntropfen, und danach hatten wir Ruhe und konnten plaudern nach Herzenslust. Ich tauschte für eine rosa „Monument“ den Satz „Rotes Kreuz“ ein. Ich brauchte ihn eigentlich gar nicht, aber Charon hatte mir vorgestern erzählt, bei ihm in der Redaktion sei eine Annonce 22
aufgegeben worden: „Suche ,Rotes Kreuz', biete beliebigen Fehldruck aus der Normalserie.“ Ich muß zugeben, daß Charon seltsamerweise der einzige Mensch in unserm Hause ist, der nicht über mich kichert. Überhaupt, wenn man's recht bedenkt, er ist keineswegs ein schlechter Mensch, und Artemis handelt nicht nur unmoralisch, sondern auch unfein. Und Nicostratus erst! Um neun Uhr abends kehrte ich nach Hause zurück und sah sie wieder in meinem Garten im Schatten sitzen. Zwar küßten sie sich nicht, aber man muß doch wissen, was sich gehört. Ich ging in den Garten, nahm Artemis beim Arm und sagte zu diesem Gecken: „Auf Wiedersehen, Herr Nicostratus, gute Nacht.“ Artemis riß sich von mir los und ging ohne ein Wort. Der Wüstling versuchte recht plump, die Peinlichkeit zu überspielen, und knüpfte mit mir ein Gespräch über Führungszeugnisse an, welche dem Rentenantrag beizufügen seien. Ich stand da und hörte ihm zu. Statt ihn mit dem Knüppel aus dem Garten zu jagen, hörte ich ihm zu. Mein verdammtes Feingefühl! Und die Unsicherheit! Der reinste Minderwertigkeitskomplex. Plötzlich steckte er ein widerliches breites Grinsen auf und sagte: „Wie geht es denn der bezaubernden Frau Hermione? Sie sind kein Kostverächter, Herr Apollo. Zu so einer Haushälterin würde ich auch nicht nein sagen.“ Mir sank das Herz in die Hosen, ich war wie benommen. Er aber, ohne auf Antwort zu warten – wozu brauchte er die? –, entfernte sich und lachte, daß es die Straße entlangschallte. Ich blieb im dunklen Garten allein. Ja, ich komme nicht drum herum. Ich muß meine Beziehungen zu Hermione in Ordnung bringen. Ich weiß ja, daß mir das nichts nützt, aber Seelenruhe verlangt Opfer.
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3. Juni Manchmal packt mich richtiges Entsetzen bei dem Gedanken, daß es mit meiner Rente nicht klappt. Mein Inneres verkrampft sich in Ängstlichkeit, und mir fällt alles aus der Hand. Dabei, wenn ich es logisch überlege, muß die Sache aufs beste enden. Erstens habe ich dreißig Jahre als Lehrer gearbeitet, die Unterbrechung während des Krieges nicht mitgerechnet. Exakt sogar dreißig Jahre und zwei Monate. Zweitens habe ich niemals die Arbeitsstelle gewechselt und auch den Arbeitsablauf nicht durch Umzüge oder sonstige Ablenkungen unterbrochen, nur ein einziges Mal vor sieben Jahren einen kurzen unbezahlten Urlaub genommen. Und der Kriegsdienst kann nicht als Arbeitsunterbrechung gelten, das ist ja klar. Durch meine Klassen sind grob geschätzt viertausend Schüler gegangen, das entspricht etwa der heutigen Bevölkerung unserer Stadt. Drittens habe ich in den letzten Jahren ständig in der Öffentlichkeit gestanden und dreimal unsern Gymnasialdirektor während seines Urlaubs vertreten. Viertens habe ich tadelsfrei gearbeitet und besitze sechzehn Dankurkunden des Ministeriums, ein Handschreiben des verstorbenen Ministers zu meinem fünfzigsten Geburtstag und auch die Bronzemedaille „Für gute Arbeit auf dem Gebiet der Volksbildung“. Eine ganze Schreibtischschublade ist voll von Dankbriefen von Eltern. Fünftens mein Fach. Gegenwärtig hat alle Welt den Kosmosfimmel, folglich ist Astronomie ein aktueller Gegenstand. Ich halte das auch für ein Argument. Wenn ich all das überschaue, möchte ich doch sagen: Was kann es eigentlich für Zweifel geben? Ich anstelle des Ministers würde mich ohne Zögern für die Höchstrente einstufen. Oje, dann hätte ich endlich Ruhe. Soviel brauche ich doch eigentlich nicht mehr im Leben. Drei, vier Zigaretten, ein 24
Gläschen Kognak, ein bißchen Kleingeld für das Kartenspiel, das ist alles. Na, und natürlich die Briefmarken. Die Rente Stufe eins, das wären hundertfünfzig im Monat. Hundert würde ich Hermione für die Wirtschaft geben, zwanzig aufs Sparbuch einzahlen für Notzeiten, und der Rest würde mir gehören, er würde für die Briefmarken reichen und für alles übrige. Hatte ich das etwa nicht verdient? Schlimm ist, daß niemand den alten Menschen braucht. Man wird ausgequetscht wie eine Zitrone, und dann sieh zu, daß du abkratzt. Dankurkunden, Anerkennungsschreiben? Wen interessiert das noch? Die Medaille? Wer hätte keine? Und irgendwer nimmt bestimmt Anstoß daran, daß ich in Gefangenschaft war. War ich in Gefangenschaft? Ich war. Drei Jahre? Drei Jahre. Bitte. Demnach war die Dienstzeit drei Jahre unterbrochen. Sie kriegen Stufe drei. Blähen sie unsern Papierkrieg nicht auf. Ja, wenn ich Beziehungen hätte! Aber ja, mein ehemaliger Schüler, General Alcimus, sitzt doch im Unteren Kongreß. Ob ich dem mal schreibe? Er muß sich doch an mich erinnern, zwischen uns gab es viele jener kleinen Konflikte, an die sich Schüler, wenn sie erwachsen geworden sind, so gern erinnern. Weiß Gott, dem schreib ich mal. Ich fang direkt so an: „Grüß dich, mein Junge. Ich bin jetzt schon ein alter Mann ...“ Ein bißchen warte ich noch, dann schreib ich ihm. Heute habe ich den ganzen Tag zu Hause gesessen: Hermione war gestern ihre Tante besuchen und brachte von dort eine große Tüte mit alten Briefmarken mit. Das Sortieren bereitete mir großes Vergnügen. Das ist mit nichts zu vergleichen. Das ist wie ewige Flitterwochen. Ein paar sehr schöne Exemplare sind darunter, freilich mit Aufkleber, die muß ich restaurieren. Myrtilus hat bei sich 25
draußen ein Zelt aufgeschlagen, darin wohnt er mit seiner Familie. Er spuckt große Töne, daß er binnen zehn Minuten packen und abfahren kann. Er erzählte, nach Marathen gebe es noch immer keine Verbindung. Das ist bestimmt gelogen. Der betrunkene Minotaurus hat mit seinem dreckigen Jauchewagen das rote Automobil des Herrn Laomedon angefahren und sich mit dem Chauffeur geprügelt. Beide sind aufs Revier gebracht worden. Minotaurus wurde zur Ausnüchterung eingebuchtet, während der Chauffeur, wie es hieß, ins Krankenhaus kam. Es gibt doch noch Gerechtigkeit auf der Welt. Artemis verhält sich mucksmäuschenstill, denn Charon muß jeden Moment zurückkommen. Ich erzähle Hermione nichts. Vielleicht geht das Ganze irgendwie vorüber. Ach, wenn ich doch die Stufe eins bekäme! 4. Juni Soeben habe ich die Lektüre der Abendzeitungen beendet, aber ich kapiere noch immer nichts. Zweifellos haben sich irgendwelche Veränderungen vollzogen. Aber was für welche? Und was ging dem voraus? Bei uns übertreibt man gern, Am Morgen nach dem Kaffeetrinken wollte ich zum Platz gehen. Es war ein schöner, warmer Morgen. (Temperatur plus achtzehn, Himmel wolkenlos, Südwind, ein Meter pro Sekunde nach einem Anemometer.) Als ich aus der Pforte trat, sah ich Myrtilus an seinem abgebauten Zelt am Boden wirtschaften. Ich fragte ihn, was er mache. „Schon gut, nichts weiter“, antwortete er sehr gereizt. „Da haben sich Schlauberger gefunden. Sitzt nur, wartet nur, bis sie euch alle abmurksen.“ Ich glaube Myrtilus überhaupt nichts, aber bei solchen Gesprächen läuft es mir immer kalt den Rücken hinunter. „Was ist denn schon wieder passiert?“ 26
fragte ich. „Marsmenschen“, antwortete er kurz und quetschte mit dem Knie die Luft aus dem zusammengelegten Zelt. Ich verstand ihn nicht gleich, und vielleicht dieses seltsamen Wortes wegen kam mir die Empfindung, als rücke etwas Furchtbares und Unbezwingliches auf mich zu. Die Beine wurden mir schwach, und ich setzte mich auf die Stoßstange des Lastwagens. Myrtilus schwieg, er keuchte und schnaufte nur. „Was hast du gesagt?“ fragte ich. Er packte das Zelt ein, warf es in den Lastwagen und zündete sich eine Zigarette an. „Marsmenschen sind gelandet“, raunte er. „Jetzt hat unser letztes Stündlein geschlagen. Marathen soll niedergebrannt sein, völlig, zehn Millionen Tote in einer Nacht. Kannst du dir das vorstellen? Und heute waren sie bei uns in der Bürgermeisterei. Sie haben jetzt die Macht, es ist aus. Das Säen haben sie schon verboten. Und jetzt, heißt es, werden sie allen den Magen herausschneiden. Sie brauchen die Mägen zu irgendwas, kannst du dir das vorstellen? Aber ich werde nicht darauf warten, ich brauch meinen Magen selber. Wie ich von alldem hörte, hab ich gleich beschlossen: Diese schöne neue Ordnung ist nichts für mich, soll doch hier alles zum Teufel gehen, ich fahr zu meinem Bruder aufs Land. Meine Alte und die Kinder hab ich schon mit dem Bus vorausgeschickt. Da werden wir still sitzen und die Augen offenhalten, und dann sehen wir weiter.“ – „Moment mal“, sagte ich, denn ich merkte deutlich, daß alles gelogen war, fühlte mich aber doch immer schwächer. „Moment mal, Myrtilus, was sagst du da? Wer ist gelandet? Wer hat Marathen niedergebrannt? Mein Schwiegersohn ist gerade dort!“ – „Hin ist dein Schwiegersohn“, sagte Myrtilus mitfühlend und warf die Kippe weg. „Du kannst deine Tochter getrost als Witwe betrachten. Da hat der Sekretär jetzt freie Bahn ... Na, ich fahr los. Leb wohl, Apollo. Wir beide haben uns immer gut 27
verstanden. Ich habe dir nichts nachzutragen. Behalt auch du mich in guter Erinnerung.“ – „Du meine Güte!“ schrie ich verzweifelt und schon ganz schwach. „Wer ist gelandet?“ – „Marsmenschen, Marsmenschen! sagte er, und seine Stimme sank wieder zum Raunen herab. „Von dort!“ Er hob den Finger gen Himmel. „Mit einem Kometen.“ Er stieg ins Fahrerhaus. „Du bist doch Pauker, du mußt Bescheid wissen. Mir jedenfalls ist es nicht schnuppe, wenn sie mir die Därme rausleiern wollen ...“ – „Du meine Güte, Myrtilus“, sagte ich, vollends überzeugt, daß alles gelogen war. „Das kannst du nicht machen. Du bist doch ein betagter Mann, hast schon Enkel. Wie soll es Marsmenschen geben, wo doch der Mars ein unbelebter Planet ist? Dort gibt es kein Leben, das ist wissenschaftlich erwiesen.“ – „Schon gut, nichts weiter“, knurrte Myrtilus, doch ich sah, daß er schwankend wurde. „Erwiesen, von wegen.“ – „Doch, es ist wirklich so“, sagte ich. „Da kannst du jeden Wissenschaftler fragen. Was red ich, Wissenschaftler, jedes Schulkind weiß das!“ Myrtilus stieg ächzend aus dem Fahrerhaus. „Soll doch alles zum Teufel gehen!“ sagte er und kratzte sich mit allen fünf Fingern den Nacken. „Auf wen soll ich hören? Auf dich? Oder auf Pandareus? Ich kapier gar nichts.“ Er spuckte aus und ging ins Haus. Ich entschloß mich gleichfalls, nach Hause zu gehen und die Polizei anzurufen. Pandareus hatte, wie er mir sagte, alle Hände voll zu tun, denn Minotaurus hatte das Gitter vor seinem Zellenfenster durchbrochen und war getürmt, so daß Pandareus jetzt die Fahndung einleiten mußte. Ja, es stimmte, vor anderthalb Stuaden war jemand in die Bürgermeisterei gekommen, irgendwelche Vorgesetzten, vielleicht sogar Marsmenschen, es gingen Gerüchte, daß es Marsmenschen seien, doch was das Herausschneiden der Mägen be28
treffe, so lägen noch keine Weisungen vor, und überhaupt habe er andere Sorgen, denn Minotaurus für sich sei seiner Ansicht nach schlimmer als sämtliche Marsmenschen. Ich eilte zum Platz. Die Freunde standen vollzählig vor dem Eingang der Bürgermeisterei gedrängt und stritten erbittert über ein paar seltsame Spuren im Staub. Diese Spuren habe der zugereiste Marsmensch hinterlassen, das wüßten sie ganz genau. Morpheus versicherte, solche Ungeheuer habe selbst er, ein alter Friseur und Masseur, noch niemals gesehen. „Spinnen“, sagte er, „riesige, zottige Spinnen. Das heißt, die Männchen sind zottig, die Weibchen nackt. Sie laufen auf den Hinterpfoten, mit den Vorderpfoten greifen sie. Seht ihr die Spuren? Grauslich! Richtige Löcher. Das war er, hier ist er langgegangen.“ – „Darum geht es nicht“, sagte Silen bedächtig. „Bei uns auf der Erde ist die Anziehungskraft größer, stimmt's, Apollo? Deshalb können sie nicht auf ihren eigenen Beinen laufen. Dazu haben sie spezielle gefederte Stelzen, und die hinterlassen solche Löcher im Staub.“ – „Richtig, Stelzen“, bestätigte Japetus, mit seiner verbundenen Backe nuschelnd. „Bloß, das sind keine Stelzen. Die haben so ein Fahrzeug, ich hab das mal im Kino gesehen. Es läuft nicht auf Rädern, sondern auf stelzenartigen Hebeln.“ – „Unser Kämmerer zieht sich mal wieder aus der Affäre“, sagte der gallige Paralus. „Voriges Mal fiel ganz ungewöhnlich heftiger Hagel, vorvoriges Mal war es ein Heuschreckenschwarm, und jetzt sind die Marsmenschen dran. Er ist auf der Höhe seiner Zeit, bezieht die Eroberung des kosmischen Raumes mit ein.“ – „Ich kann nicht gleichgültig auf diese Spuren sehen“, versicherte Morpheus. „Grauslich. Kommt, alte Freunde, trinken wir einen, wie?“ Kalaides, der schon lange zappelte, zischte und zuckte, brachte endlich hervor: „Sch-sch-schönes Wetter, 29
heute, alte Freunde! Habt ihr gut ge-ge-geschlafen?“ Infolge seines Sprachfehlers kommt er immer ein bißchen aus dem Mustopf. Dabei ist er Veterinär, könnte sich sachkundig zu den Spuren äußern. „Myrtilus hat schon die Kurve gekratzt.“ Dymas kicherte dumpf. „Leb wohl, Dymas, hat er gesagt, wir haben uns doch beide immer gut verstanden. Paß auf deine Tankstelle auf, hat er gesagt, und wenn was ist, zünde sie an, überlasse sie nicht dem Feind.“ Ich erkundigte mich vorsichtig, was man über Marathen höre. „Marathen soll niedergebrannt sein“, antwortete Dymas bereitwillig. „Sie sollen von dort angerufen und zur Ruhe gemahnt haben.“ Ich war nun sicher, daß das alles sinnlose Gerüchte waren, und wollte eben dagegen auftreten, da heulte eine Polizeisirene los, und wir drehten uns um. Quer über den Platz lief im Hasenzickzack taumelig der verwahrloste und gedunsene Minotaurus, verfolgt von Pandareus im Polizeijeep. Dieser stand im Wagen und hielt sich an der Windschutzscheibe fest, stieß Rufe aus und fuchtelte mit Handschellen. „Schluß, diesmal schnappt er ihn“, sagte Morpheus. „Abwarten“, entgegnete Dymas. „Seht ihr, was er macht?“ Minotaurus rannte auf einen Telegrafenmast zu, umklammerte ihn mit Armen und Beinen und klomm hinauf. Aber Pandareus war schon vom Jeep herunter und krallte sich an seiner Hose fest. Er und der andere Polizist rissen den Goldgräber vom Mast los, warfen ihn in den Jeep und legten ihm Handschellen an. Der andere Polizist fuhr mit ihm davon, Pandareus wischte sich mit dem Taschentuch das Gesicht und kam, im Gehen den Waffenrock aufknöpfend, auf uns zu. „Er hat ihn“, sagte Morpheus zu Dymas. „Du mußt auch immer streiten.“ Pandareus trat herzu und erkundigte sich, was es Neues gebe. Wir erzählten ihm von den Spuren des Marsmenschen. Da ging er in die Hocke und vertiefte sich ins Studium der Löcher. Ich 30
fühlte Respekt in mir aufsteigen, denn die Berufsroutine fiel sofort ins Auge: Er betrachtete die Spuren irgendwie von der Seite her und berührte nichts mit der Hand. Ich hatte so eine Vorahnung, als würde sich jetzt alles aufklären. Pandareus watschelte wie eine Ente neben der Spur her, wobei sein straff umspanntes Hinterteil hin und her wackelte, und sagte immer wieder: „Aha ... Alles klar ... Aha ... Klar ...“ Wir warteten ungeduldig und bewahrten tiefes Schweigen, nur Kalaides mühte sich zischend, etwas zu sagen. Endlich richtete sich Pandareus ächzend auf, ließ den Blick über den Platz schweifen, als rechne er darauf, jemand zu entdecken, und sagte abgerissen: „Es waren zwei. Sie haben das Geld in einem Sack getragen. Der eine hatte einen Stockdegen dabei, der andere raucht ,Astra’.“ – “,Astra’ rauche ich auch“, sagte der gallige Paralus, und Pandareus richtete den Blick auf ihn. „Was heißt, es waren zwei?“ fragte Dymas. „Marsmenschen?“ – „Anfangs habe ich auch geglaubt, es wären keine Unsrigen“, sagte Pandareus langsam und ließ keine Augen von Paralus. „Anfangs habe ich geglaubt, es wären Jungs aus Miles, die kenne ich.“ Da entlud sich Kalaides. „N-n-nein, mit dem Jeep holt er ihn nie ein“, erklärte er. „Und wie ist das nun mit den Marsmenschen?“ sagte Dymas. „Ich versteh das nicht.“ Pandareus, der wie immer direkte Fragen ignorierte, musterte Paralus. „Gib mal deine Zigarette her, Alterchen, sagte er. „Wozu denn das?“ fragte Paralus. „Ich will deine Bißmarke anschauen“, erklärte Pandareus. „Außerdem möchte ich wissen, wo du heute morgen zwischen sechs und sieben warst.“ Wir sahen Paralus an, und Paralus sagte, nach seiner Meinung sei Pandareus der größte Idiot der Welt mit Ausnahme des Kretins, der ihn bei der Polizei eingestellt habe. Wir waren genötigt, ihm beizupflichten, klopften Pandareus auf den Rücken und sagten zu ihm: „Ja, Pandareus, da hast du einen Bock 31
geschossen, Alter. Hast nicht begriffen, alter Pan, daß das die Spuren eines Marsmenschen sind. Wiederum, woher solltest du wissen, altes Haus, was ein Marsmensch ist? Das ist was anderes als dein Goldgräber, Pan!“ Pandareus schwoll ein wenig an, aber da kam aus der Bürgermeisterei der einbeinige Polyphem und schloß sich alsbald unsern Zerstreuungen an. „Großer Mist, alte Freunde!“ sagte er besorgt. „Die Marsmenschen rücken vor, sie haben Miles genommen! Die Unseren gehen zurück, verbrennen die Saaten, sprengen hinter sich die Brücken!“ Mir wurden die Beine so schwach, daß ich nicht mal die Kraft hatte, mich zu der Bank durchzudrängen und mich hinzusetzen. „Sie haben im Süden zwei Divisionen Luftlandetruppen abgesetzt“, krächzte Polyphem. „Bald werden sie hiersein.“ – „Sie waren schon hier“, sagte Silen. „Auf Stelzen sind sie gegangen. Da, die Spuren ...“ Polyphem warf einen Blick hin und sagte verdrossen, das seien seine eigenen Spuren, und alle begriffen sofort – ja, das stimmte. Es waren die Spuren seiner Krücke. Für mich war das eine große Erleichterung. Pandareus aber, kaum war der Groschen gefallen, schloß sämtliche Knöpfe seines Waffenrocks, blickte über unsere Köpfe hinweg und kläffte: „Unterhaltung beendet! Auseinandergehn! Im Namen des Gesetzes.“ Ich ging in die Bürgermeisterei. Sie war mit flachen Säcken vollgestopft, die längs der Wände in den Korridoren, auf Treppenabsätzen und sogar im Sprechzimmer standen. Sie verströmten einen Geruch, den ich nicht kannte, und die Fenster waren überall weit aufgerissen, ansonsten war alles wie gewöhnlich. Herr Nicostratus saß an seinem Schreibtisch und polierte sich die Fingernägel. Verschwommen grienend und mit sehr unklarer Intonation gab er mir zu verstehen, daß seine dienstliche Pflicht es ihm verbiete, sich 32
über die Marsmenschen auszulassen, doch könne er mit Sicherheit behaupten, daß all das mit meinem Rentenproblem kaum etwas zu tun habe. Glaubhaft sei nur eines: Weizen anzubauen sei fortan in unserer Gegend ungünstig, besser wäre, ein gewisses neues Nährgras mit, wie er sich ausdrückte, universellen Eigenschaften zu säen. Diese Säcke hier enthielten das Saatgut, das von heute an auf die Farmen der Gegend verteilt würde. „Wo stammen die Säcke her?“ fragte ich. „Sie sind gebracht worden“, antwortete er gewichtig. Ich überwand meine Zaghaftigkeit und fragte, wer sie gebracht habe. „Offizielle Personen“, sagte er, kam hinterm Schreibtisch hervor, bat um Entschuldigung und entfernte sich beschwingten Schrittes ins Arbeitszimmer des Bürgermeisters. Ich ging auf einen Sprung ins Schreibzimmer und schwatzte mit den Tippfräuleins und mit dem Wächter. Merkwürdigerweise bestätigten sie fast durchweg die Gerüchte über die Marsmenschen, machten mir aber doch nicht den Eindruck wirklicher Informiertheit. Oh, diese verdammten Gerüchte! Niemand glaubt an sie, doch jeder quatscht sie nach. Das geht bis zur Verzerrung einfachster Tatsachen. Zum Beispiel Polyphem und seine gesprengten Brücken. Was war wirklich gewesen? Polyphem hatte sich als erster auf dem Platz eingefunden. Sie hatten ihn vom Fenster aus gesehen und ihn gebeten hereinzukommen, um eine Schreibmaschine zu reparieren. Während er arbeitete und die Tippfräuleins unterhielt, indem er ihnen erzählte, wie er sein Bein verloren hatte, kam der Herr Bürgermeister ins Schreibzimmer, stand da, hörte nachdenklich zu, sprach den rätselhaften Satz „Ja, Herrschaften, es scheint, die Brücken sind abgebrochen“ und kehrte zurück in sein Arbeitszimmer, von wo dann sofort seine Forderung kam, ihm Sardinensandwiches und eine Flasche Phargosbier zu bringen. Polyphem unterdes 33
setzte den Tippfräuleins auseinander, daß man die Brücken beim Rückzug hinter sich zu zerstören pflege, um den Vormarsch des Gegners zu behindern. Alles übrige ist bekannt. So ein Blödsinn! Ich fühlte mich verpflichtet, den Angestellten der Bürgermeisterei zu erklären, daß der geheimnisvolle Satz nichts weiter bedeute als: Der Entschluß ist unwiderruflich gefaßt. Natürlich malte sich auf allen Gesichtern Erleichterung, gepaart übrigens mit einer gewissen Enttäuschung. Auf dem Platz war niemand, Pandareus hatte alle auseinandergejagt. Schon fast ganz beruhigt, begab ich mich zu Achilles, um ihm von meinen Neuerwerbungen zu berichten und wegen des Architektursatzes vorzufühlen: Vielleicht nahm er ihn gestempelt, wo er postfrisch doch nicht zu haben war. Er nahm ja auch Marken mit Aufkleber. Aber Achilles stand gleichfalls unter dem Druck der sich ausbreitenden Gerüchte. Auf mein Angebot antwortete er zerstreut, er werde es sich überlegen, und dann brachte er mich, ohne es zu bemerken, auf eine glänzende Idee. „Die Marsmenschen“, sagte er, „sind die neue Macht. Und du weißt, Phöbus, neue Macht – neue Marken.“ Ich war verblüfft, daß ich nicht selber auf diesen einfachen Gedanken gekommen war. Wirklich, wenn an den Gerüchten überhaupt etwas dran war, dann mußte die erste vernünftige Aktion dieser sagenumwobenen Marsmenschen die Herausgabe neuer, eigener Briefmarken sein oder zumindest ein Aufdruck auf die alten. Ich verabschiedete mich hastig von Achilles und eilte spornstreichs zur Post. Aber natürlich trafen noch keine Briefe mit neuen Marken ein, und überhaupt gab es nichts Neues auf der Post. Wann gewöhnen wir es uns endlich ab, Gerüchten zu glauben? Es ist doch wohlbekannt, daß der Mars nur eine außerordentlich dünne Atmosphäre hat, sein Klima über die Maßen rauh ist und 34
Wasser, die Grundlage jeglichen Lebens, fast gänzlich fehlt. Die Märchen von den Kanälen sind seit langem entthront, denn die Kanäle haben sich als optische Täuschung herausgestellt. Kurz und gut, die Geschichte erinnerte mich an die Panik im vorletzten Jahr, als der einbeinige Polyphem mit einer Schrotbüchse durch die Stadt lief und schrie, aus dem hauptstädtischen Zoo sei ein gigantischer menschenfressender Triton entflohen. Myrtilus hatte es damals fertiggebracht, sein ganzes Haus zu evakuieren, er konnte sich erst vierzehn Tage später entschließen, in die Stadt zurückzuziehen. Der dämmerige Verstand meiner ungebildeten Mitbürger, genährt von dem monotonen Leben, gebiert bei den kleinsten Schwankungen wahrhaft phantastische Gespenster. Unsere Welt gleicht einem in nächtlichen Schlaf versunkenen Hühnerstall, in dem man nur unversehens die Federn eines Huhns, das auf der Stange schlummert, zu berühren braucht, und schon kommt es zu einem unbeschreiblichen Aufruhr, alles flattert und kakelt und spritzt Kot um sich. Ich finde, das Leben ist auch ohne das unruhig genug. Wir alle müßten unsere Nerven schonen. Ich habe gelesen, daß Gerüchte viel gesundheitsschädlicher sind als selbst das Rauchen. Der Autor des Artikels bewies das anhand von Zahlen. Ferner hieß es dort, die Wirkungskraft eines panischen Gerüchts sei der Unwissenheit der Massen direkt proportional, und das stimmt, obwohl ich zugeben muß, daß selbst die Gebildetsten von uns erstaunlich leicht der allgemeinen Stimmung erliegen und bereit sind, mit der rasenden Menge blindlings davonzustürmen. All das wollte ich den Freunden erzählen, da bemerkte ich auf dem Weg zur Kneipe, daß sich auf dem Platz wieder Menschen ansammelten. Ich wandte mich dorthin und überzeugte mich, daß die Gerüchte bereits ihre zerstörende Wir35
kung ausübten. Niemand wollte meine Überlegungen hören. Alle waren über die Maßen erregt, und die Veteranen schüttelten ihre Waffen, die sie noch nicht vom Schmierfett hatten befreien können. Ich erfuhr, daß aus den Kasernen des achtundzwanzigsten Infanterieregiments Soldaten entlassen worden waren. Sie erzählten Unvorstellbares. In der vorletzten Nacht war das Regiment alarmiert worden und hatte eine Zeitlang, bis zum Morgen nämlich, in voller Kampfbereitschaft in gepanzerten Mannschaftswagen und Lastautos auf dem Paradeplatz gesessen. Am Morgen war der Alarm aufgehoben worden, und der gestrige Tag war ganz normal verlaufen. In der letzten Nacht hatte sich das Ganze wiederholt, jedoch mit dem Unterschied, daß am Morgen ein Oberst vom Generalstab mit einem Hubschrauber im Kasernement landete, das Regiment im Karree antreten ließ und, ohne aus dem Hubschrauber zu steigen, eine lange, total unverständliche Rede hielt, wonach er wieder davonflog, und danach wurde das Regiment fast vollzählig entlassen. Ich muß erwähnen, daß die Soldaten, die bei Japetus bereits tüchtig getankt hatten, nur noch lallten und immer wieder das allbekannte Lied „Niobe, Niobe, die lüftet ihre Robe ...“ anstimmten. Fest stand jedoch, daß der Oberst vom Generalstab in seiner Rede kein Wort von den Marsmenschen gesagt hatte. Er sprach eigentlich nur von zwei Dingen – der patriotischen Pflicht des Soldaten und seinem Magensaft, wobei diese beiden Begriffe auf eine geheimnisvolle Weise miteinander verschmolzen. Die Soldaten selbst fanden sich in all diesen Feinheiten nicht zurecht, doch sie begriffen, daß von heute an jeder, den der Oberfeldwebel mit Kaugummi „Narko“ oder mit einer Zigarette „Opi“ erwischte, sofort zehn Tage und Nächte im Karzer schmoren würde. Gleich nach dem Abflug des Obersten hatte der Regimentskommandeur, ohne das Karree 36
wegtreten zu lassen, den Offizieren und Unteroffizieren befohlen, in den Kasernen sorgfältige Durchsuchungen vorzunehmen zwecks Konfiszierung aller Zigaretten und Kaugummis, die tonisierende Stoffe enthielten. Mehr wußten die Soldaten nicht, wollten sie auch nicht wissen. Einander die Arme um die Schultern legend, schmetterten sie ihr „Niobe, Niobe, stell mich mal auf die Probe“ mit solch drohender Miene, daß wir eilig auseinandertraten und sie durchließen. Dann sprang Polyphem mit seiner Krücke und der Schrot-büchse in voller Größe auf eine Bank und brüllte, die Generale hätten uns verraten, wir wären von Spionen umgeben und wirkliche Patrioten müßten sich jetzt um die Fahne zusammenschließen, von wegen Patriotismus und so weiter. Dieser Polyphem kann ohne Patriotismus nicht leben. Ohne Bein kann er leben, aber ohne Patriotismus nicht. Als er heiser war und verstummte, um eine Zigarette zu rauchen, machte ich doch noch einen Versuch, die Freunde zur Vernunft zu bringen, und erzählte ihnen, daß es kein Leben auf dem Mars gebe und auch nicht geben könne und daß all das erfunden sei. Aber sie ließen mich wieder nicht ausreden. Als erstes hielt mir Morpheus die hauptstädtische Morgenzeitung unter die Nase, in der ein langer Artikel, „Gibt es Leben auf dem Mars?“, stand. Dieser Artikel zog die früheren wissenschaftlichen Ergebnisse ironisch in Zweifel, und als ich unbeirrt zu diskutieren versuchte, drängte sich Polyphem zu mir durch, packte mich am Kragen und knirschte drohend: „Willst wohl die Wachsamkeit einschläfern, du Mistkerl? Marsspion, glatzköpfiger Halunke! An die Wand mit dir!“ Ich kann es nicht ausstehen, wenn man so mit mir spricht. Ich bekam Herzklopfen und rief nach der Polizei. So was von Rowdytum! Das verzeihe ich Polyphem nie im Leben. Was der für 37
Vorstellungen hat! Ich riß mich los, nannte ihn einbeiniges Schwein und ging in die Kneipe. Zu meiner Freude war Polyphems patriotisches Geheul nicht nur mir zuwider. In der Kneipe saßen schon ein paar von uns. Sie drängten sich um den Archivar Cronides, spendierten ihm Bier um Bier und quetschten ihn über den morgendlichen Besuch der Marsmenschen aus. „Was soll sein“, sagte Cronides und rollte mühsam die Augäpfel. „Ganz gewöhnliche Marsmenschen. Der eine heißt Calchandes, der andere Eleus, beide kommen aus dem Süden und haben sooolche Nasen ...“ – „Na, und die Maschine?“ fragten wir. „Eine ganz normale, schwarze, fliegen tut sie ... Nein, kein Hubschrauber. Sie fliegt, und basta. Bin ich Flieger? Woher soll ich wissen, wie sie fliegt?“ Ich aß zu Mittag, wartete, bis sie von ihm abließen, holte zwei Portionen Gin und setzte mich zu ihm. „Was hört man denn Neues von den Renten?“ fragte ich. Aber Cronides schaltete nicht mehr. Seine Augen tränten, er kippte sich nur noch automatisch Glas um Glas in den Hals und lallte: „Ganz gewöhnliche Marsmenschen, der eine Calchandes, der andere Eleus... Schwarz, können fliegen ... Nein, kein Luftschiff ... Ebeus, sag ich ... Nicht ich, der Flieger ...“ Dann schlief er ein. Als Polyphem mit seiner Bande in die Kneipe stürmte, ging ich demonstrativ nach Hause. Myrtilus war noch da. Er hatte sein Zeit wieder aufgeschlagen und bereitete sich auf einem Kocher sein Abendbrot. Artemis war nicht zu Hause, sie war weggegangen, ohne sich abzumelden, und Hermione säuberte Teppiche. Um mich zu beruhigen, ging ich daran, Briefmarken zu restaurieren. Immerhin eine Freude, zu sehen, zu welcher Meisterschaft ich es gebracht habe. Ich weiß nicht, ob jemand den von mir aufgetragenen Kleister von echtem unterscheiden könnte. Achilles jedenfalls nicht. Nun zu den heutigen Zeitungen. Man kann sich nur wun 38
dern. Fast sämtliche Spalten sind voll von den Auslassungen diverser Mediziner über gesunde Ernährung. Mit welch unnatürlichem Zorn geht es da über Medikamente her, die Opium, Morphium oder Koffein enthalten. Was denn, wenn ich es jetzt an der Leber kriege, soll ich wohl die Schmerzen ertragen? In keiner einzigen Zeitung etwas über die Philatelie, von Fußball kein Wort, dafür drucken alle Zeitungen einen endlosen, gänzlich inhaltslosen Artikel über die Bedeutung des Magensafts nach. Als ob ich nicht auch so wüßte, welche Bedeutung der Magensaft hat. Kein einziges Auslandstelegramm, kein Wort über die Folgen des Embargos – statt dessen eine dumme Diskussion über Weizen, der angeblich keine Vitamine enthalte, dazu leicht von Schädlingen befallen werde. Ein gewisser Marsius, Magister der Landwirtschaftswissenschaften, versteigt sich zu der Behauptung, die tausendjährige Geschichte des Anbaus von Weizen und anderer Arten von Nutzgetreide (Hafer, Mais, Kukuruz) wäre ein weltweiter Irrtum der Menschheit, den zu korrigieren freilich noch nicht zu spät sei. Ich verstehe nichts von Weizen, die Fachleute müssen das besser wissen, aber der Artikel ist in unzulässig nörgelndem, ich möchte sagen, zersetzendem Ton geschrieben. Man merkt sofort, daß dieser Marsius ein typischer Südler, Nihilist und Schreihals ist. Schon ist Mitternacht, Artemis aber noch immer nicht da. Sie ist nicht nach Hause gekommen, ist auch im Garten nicht zu sehen, und die Straßen wimmeln von betrunkenen Soldaten. Hätte sie wenigstens angerufen, wo sie steckt. Jeden Moment kann Hermione reinkommen und fragen, was mit Artemis los sei. Was soll ich ihr antworten? Keine Ahnung. Ich mag solche Gespräche nicht, kann sie nicht ertragen. So was von Tochter, von wem hat sie das bloß? Meine verstorbene Frau war ein bescheidener Mensch, hat 39
sich nur ein einziges Mal verschossen, in den Stadtarchitekten, aber die ganze Leidenschaft bestand aus zwei oder drei Zetteln und einem Brief. Ich selbst bin niemals fremdgegangen, wie Polyphem sagen würde. Noch heute denke ich voller Entsetzen an meinen Besuch bei Madame Persephone. Nein, diese Art Zeitvertreib ist nichts für einen zivilisierten Menschen. Die Liebe, so fleischlich sie sein mag, ist trotz allem ein Geheimnis, und sich ihr in Gesellschaft selbst guter Bekannter und freundschaftlich Gesonnener zu widmen ist keineswegs so unterhaltsam, wie manche Bücher glauben machen wollen. Gott behüte, ich denke natürlich nicht, daß meine Artemis jetzt inmitten von Flaschen bacchantische Tänze aufführt, aber sie hätte wenigstens anrufen können. Über die Dummheit meines Schwiegersohns kann ich mich nur wundern. Ich an seiner Stelle wäre längst nach Hause gekommen. Gerade wollte ich mein Tagebuch zuklappen und schlafen gehen, da kam mir folgender Gedanke. Charon sitzt doch offensichtlich nicht so lange in Marathen. Schrecklicher Gedanke, aber ich glaube, ich weiß jetzt, warum er ausbleibt. Haben sie sich etwa wirklich entschlossen? Ich erinnere mich an die vielen Zusammenkünfte unter meinem Dach mit seinen seltsamen Freunden, die so vulgäre Gewohnheiten und scheußliche Manieren hatten, irgendwelche Mechaniker mit grober Stimme, sie tranken Whisky ohne Soda und rauchten stinkende, billige Zigarren; es waren kahlgeschorene Schreihälse mit ungesunder Gesichtsfarbe, die in Jeans und bunten Hemden einherstolzierten und sich draußen nie die Füße abtraten; und dann diese Gespräche von einer Weltregierung, von einer Technokratie, von all den unvorstellbaren Ismen, grundsätzliche Ablehnung alles dessen, was einem friedlichen Menschen Ruhe und Sicherheit garantiert; ich erinnere mich 40
und weiß jetzt, was los ist. Ja, mein Schwiegersohn und seine Spießgesellen, diese Extremisten, sind jetzt an die Öffentlichkeit getreten. All das Gerede über die Marsmenschen ist nichts als ein verzerrtes Echo der wirklichen Ereignisse. Verschwörer liebten schon immer laute, geheimnisvoll klingende Wörter, und es ist nicht ausgeschlossen, daß sie sich jetzt „Marsmenschen“ nennen oder „Gesellschaft zur Neuordnung des Planeten Mars“ oder, sagen wir, „Wiedergeburt des Mars“. Sogar daß der Magister für Landwirtschaftswissenschaften Marsius heißt, kommt mir bezeichnend vor: Möglicherweise ist er der Chef des Umsturzes. Unbegreiflich bleibt die Feindschaft der Putschisten gegenüber dem Weizen und ihr blödsinniges Interesse für Magensaft. Doch das mögen Ablenkungsmanöver sein, um die Öffentlichkeit irrezuführen. Natürlich verstehe ich nicht viel von Putsch und Revolution und habe Mühe, eine Erklärung für all das zu finden, was gegenwärtig vorgeht, doch eines weiß ich. Als sie uns wie Schafe in die Schützengräben trieben, wo wir halb erfroren, als die Schwarzhemden in unseren Betten unsere Frauen betatschten, wo waren Sie da, meine Herren Extremisten? Damals haben Sie sich auch Abzeichen angesteckt und gebrüllt: „Heil dem Führer!“ Wenn Sie Umstürze so sehr mögen, warum machen Sie sie stets zu unpassender Zeit? Wer will Sie jetzt mit Ihren Umstürzen? Ich? Oder Myrtilus? Oder vielleicht Achilles? Warum lassen Sie uns nicht in Ruhe? Sie alle, meine Herren, sind Unteroffiziere und um keinen Deut besser als der dusselige Patriot Polyphem. Das verdammte Ekzem quält mich wieder. Ich kratze mich wie ein Affe auf dem Rummel, und keine Tropfen, keine Salben helfen. Die Apotheker sind Schwindler. Ich brauche keine Medikamente. Ruhe brauche ich, jawohl! 41
Wenn bei Charon der Verstand durchbricht und er sich nicht länger im Hintergrund herumdrückt, wäre mir die Rentenstufe eins sicher. 5. Juni Diese Nacht habe ich schlecht geschlafen. Zuerst weckte mich Artemis, die erst um ein Uhr nachts nach Hause kam. Ich war schon entschlossen, ein offenes Wort mit ihr zu reden, aber daraus wurde nichts, denn sie gab mir einen Kuß und riegelte sich in ihrem Zimmer ein. Ich mußte ein Schlafmittel nehmen, um Ruhe zu finden. Ich schlummerte auch ein und hatte einen blödsinnigen Traum. Um vier Uhr morgens wurde ich abermals geweckt, diesmal von Charon. Das ganze Haus schlief, aber er sprach so laut, als wäre er hier allein. Ich warf den Hausmantel über und ging in den Salon. O Gott, er sah fürchterlich aus. Ich begriff sofort, daß der Umsturz mißlungen war. Er saß am Tisch und verschlang, was die verschlafene Artemis ihm vorsetzte. Auf dem Tischtuch lagen die eingeölten Teile einer Feuerwaffe. Charon, unrasiert, die Augen rot entzündet, die Haare zerrauft, in klebenden Zotteln wegstarrend, schmatzte beim Essen wie die Schöpfkelle des Goldgräbers. Das Jackett fehlte, und ich mußte annehmen, daß er in diesem Aufzug ins Haus gekommen war. Er hatte nichts mehr von dem Chefredakteur einer kleinen, doch angesehenen Zeitung. Sein Hemd war zerrissen und erdfleckig, die Hände waren schmutzig und die Nägel abgebrochen, und die Brust zeigte schrecklich geschwollene Kratzer. Er dachte nicht daran, mich zu grüßen, sah mich nur mit irren Augen an und murmelte, an einem Happen würgend: „Nun haben sie's geschafft, die Saukerle!“ Ich ließ diesen irren Gruß an den Ohren vorbeirauschen, denn ich sah, daß der Mann nicht bei sich war, 42
doch das Herz sackte mir in die Hose, und die Beine wurden so schwach, daß ich mich auf den Sofarand setzen mußte. Auch Artemis war sehr verängstigt, obwohl sie es nach Kräften verbarg. Charon jedoch achtete gar nicht auf sie, er kläffte, daß es nur so schallte: „Brot!“ oder: „Brandy, verdammt noch mal!“ oder: „Wo ist der Senf, Artemis? Ich hab schon zwanzigmal darum gebeten!“ Ein Gespräch im üblichen Sinne des Wortes kam nicht zustande. Sorgfältig bemüht, mein Herzklopfen zu überwinden, fragte ich Charon, wie er gefahren sei. Als Antwort brüllte er völlig unverständlich, er sei übers Maul gefahren, aber offenbar dem Falschen. Ich versuchte, das Thema zu wechseln und das Gespräch in friedlichere Bahnen zu lenken, und erkundigte mich nach dem Wetter in Marathen. Er sah mich an, als hätte ich ihn tödlich beleidigt, und brüllte nur auf seinen Teller hinunter: „Hirnlose Idioten ...“ Es war schlicht unmöglich, mit ihm zu reden. Er fluchte dauernd in scheußlichen Ausdrücken, sowohl beim Abendessen als auch danach, als er mit dem Ellbogen die Teller wegschob und sich daranmachte, mit zerschürften Händen seine Waffe zusammenzusetzen. Ein Glück, daß Hermione solch tiefen Schlaf hat, darum wohnte sie dieser Szene nicht bei; sie erträgt keine Grobheiten. Er nannte alle Welt Saupack, und ich kam nicht dahinter, was passiert war. Ich erfuhr lediglich: „Das ganze Saupack hat es in seiner Sauerei so weit gebracht, daß jetzt jedes miese Saupack mit all diesem Saupack machen kann, was es will, und kein Saupack krümmt einen Finger, um das Saupack daran zu hindern, sich mit aller möglichen Scheiße zu befassen.“ Die arme Artemis stand händeringend hinter ihm, und die Tränen rannen ihr über die Wangen. Von Zeit zu Zeit sah sie mich flehend an, aber was konnte ich tun? Ich hatte selber Hilfe nötig, von nervlicher Anspannung schwebte es mir 43
wie ein Schleier vor den Augen. Ohne sein Fluchen auch nur einen Moment zu unterbrechen, setzte er die Waffe zusammen (es war eine moderne Armeemaschinenpistole), stieß ein Magazin hinein und stand schwerfällig auf, wobei er zwei Teller zu Boden fegte. Artemis, mein armes Töchterchen, strebte mit blutleerem Gesicht zu ihm hin, und das schien ihn ein wenig zu erweichen. „Nun, nun, mein Kleines“, sagte er, hörte auf zu fluchen und legte ihr ungeschickt den Arm um die Schultern, „ich könnte dich mitnehmen, doch das würde dir kaum Freude bereiten. Ich kenne dich doch in- und auswendig.“ Selbst ich spürte quälend, wie notwendig es war, daß Artemis jetzt die richtigen Worte fand. Das Mädchen, als habe es meine Empfindungen auf telepatischem Wege aufgefangen, brach in Tränen aus und stellte ihm die nach meiner Meinung wichtigste Frage: „Was soll jetzt mit uns werden?“ Ich erkannte sofort, daß dies nach Charons Standpunkt ganz und gar nicht die richtigen Worte waren. Er nahm die Maschinenpistole unter den Arm, gab Artemis einen Klaps auf den Popo und sagte mit unangenehmem Grinsen: „Keine Sorge, Kindchen, mit dir wird nichts Neues werden“, worauf er zur Tür steuerte. Doch ich konnte nicht dulden, daß er einfach so, ohne alle Erklärungen, wegging. „Einen Moment, Charon“, sagte ich, meine Schwäche überwindend. „Was wird denn jetzt? Was geschieht mit uns?“ Diese meine Frage versetzte ihn in unbeschreibliche Wut. Er blieb auf der Schwelle stehen, wandte sich halb um, sein Knie zuckte krankhaft, und er zischte folgende schreckliche Antwort durch die Zähne: „Wenn wenigstens ein Saukerl fragen würde, was er tun soll. Aber nein, jeder Saukerl fragt bloß, was mit ihm geschieht. Beruhigt euch, ihr werdet das Himmelreich auf Erden haben.“ Damit ging er hinaus und schrammte die Tür zu, und gleich darauf tönte 44
draußen, sich entfernend, das Motorgebrumm seines Autos. Die nun folgende Stunde war die reinste Hölle. Artemis verfiel in eine Art Hysterie, obwohl es eher an einen Anfall nicht zu bremsender Raserei erinnerte. Sie zertrümmerte das restliche Geschirr auf dem Tisch, riß das Tischtuch herunter und schmiß es nach dem Fernseher, hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür und schrie mit gepreßter Stimme Sätze wie: „Also eine dumme Gans bin ich für dich? Eine dumme Gans, ja? Und du? Und du ... Du bist mir schnurzegal. Mach, was du willst, und ich mach, was ich will! Kapiert? Kapiert? Kapiert? Du wirst noch auf Knien gerutscht kommen!“ Wahrscheinlich hätte ich ihr Wasser geben oder sie backpfeifen müssen oder so, aber ich lag selbst flach auf dem Sofa, und keiner brachte mir Herztabletten. Es endete damit, daß Artemis in ihr Zimmer rannte, ohne mich auch nur im geringsten zu beachten, und ich, nachdem ich noch ein Weilchen gelegen hatte, zu meinem Bett kroch und in einer Art Halbohnmacht Vergessen fand. Der Morgen ist trüb und regnerisch (Temperatur plus siebzehn, geschlossene Wolkendecke, windstill). Die Auseinandersetzung zwischen Artemis und Hermione anläßlich der Unordnung im Salon habe ich glücklicherweise verschlafen. Ich weiß nur, daß es Krach gab und beide miteinander schmollen. Als Hermione mir den Kaffee eingoß, zeigte ihre Miene deutlich die Ansicht, auch mir eine Rüge zu verpassen, aber sie schwieg. Wahrscheinlich sehe ich sehr schlecht aus, und sie ist ja doch eine gutmütige Frau, was ich an ihr schätze. Nach dem Kaffee wollte ich mich mühsam auf den Weg zum Platz machen, doch da erschien ein Botenjunge und brachte mir eine sogenannte Vorladung, unterschrieben von Polyphem. Ich erfuhr, daß ich einfaches Mitglied der „Freiwilligen Antimarsmenschenstadtwache“ sei und mir vorgeschrieben wäre, „um 45
zehn Uhr mich auf dem Platz der Eintracht einzufinden und eine Stich- oder Feuerwaffe sowie Lebensmittel für drei Tage mitzubringen“. Was glaubt der, was ich bin, ein Grünschnabel? Selbstverständlich gehe ich aus Prinzip nicht. Von Myrtilus, der noch immer im Zelt wohnt, erfuhr ich, daß seit dem frühen Morgen Farmer ins Bürgermeisteramt kämen, Säcke mit Saatgut für das neue Nährgras holten und auf ihre Felder fuhren. Die für die Vernichtung vorgesehene Weizenernte werde von der Regierung zu günstigen Bedingungen auf dem Halm gekauft, und die Farmer erhielten sogar eine Anzahlung auf die Ernte des neuen Getreides. Sie argwöhnten in alldem eine der üblichen Agraraffären, aber da ihnen weder Geld noch schriftliche Verpflichtungen abverlangt wurden, wußten sie nicht, was sie denken sollten. Myrtilus versicherte (mir!), es gebe keine Marsmenschen, da Leben auf dem Mars unmöglich sei, es handle sich schlicht um eine neue Agrarpolitik. Aber die Stadt zu verlassen, dazu sei er jeden Moment bereit, und er habe sich für alle Fälle auch einen Sack Saatgut geholt. Die Zeitungen schrieben wie schon gestern nur über Weizen und Magensaft. Wenn das so weitergeht, kündige ich mein Abonnement. Im Radio geht es auch nur um Weizen und Magensaft, ich schalte es schon gar nicht mehr ein, sehe nur noch fern, da ist alles wie vor dem Putsch. Herr Nicostratus ist mit seinem Wagen vorgefahren, Artemis ist ihm entgegengeeilt, dann sind sie abgedampft. Ich mag nicht daran denken. Vielleicht will das Schicksal es so. Da das Gerede von Weizen und Magensaft nicht aufhört, durfte der Putsch gelungen sein. Charon wird infolge seiner Unverträglichkeit nicht das bekommen haben, worauf er rechnete, er hat sich wohl mit allen zerstritten und steht nun in Opposition. Ich fürchte, wir werden seinetwegen noch 46
Unannehmlichkeiten haben. Wenn Verrückte wie Charon zur Maschinenpistole greifen, schießen sie auch. Mein Gott, ob ich irgendwann mal keine Unannehmlichkeiten habe? 6. Juni Temperatur plus sechzehn, fast geschlossene Wolkendecke, Südwestwind, sechs Meter in der Sekunde. Mein Anemometer ist wieder intakt. Das Ekzem macht mich verrückt, ich muß mir die Hände bewickeln. Obendrein schmerzen die erfrorenen Ohren, bestimmt ändert sich das Wetter. Nun haben wir eben die Marsmenschen. Ich mag nicht mehr darüber streiten. 7. Juni Mein Auge ist noch immer schmerzhaft geschwollen, und ich kann damit nichts sehen. Gut, das es das linke ist. Die Augenwasser von Achilles helfen nur teilweise. Er sagt, das Veilchen werde ich mindestens eine Woche behalten. Jetzt ist es blaurot, später soll es grün werden, danach gelb und dann ganz verschwinden. So was Grausames, Kulturloses, einen bejahrten Menschen, der nur eine harmlose Frage stellen wollte, zu schlagen! Wenn sich die Marsmenschen bei uns weiterhin so einführen, frage ich mich, wo das enden soll. Und beklagen kann ich mich bei keinem, ich kann nur abwarten, bis sich die Umstände geklärt haben. Das Auge schmerzt so sehr, daß ich gar nicht daran denken mag, wie ich mich heute früh über den ungetrübten Morgen gefreut habe. (Temperatur plus zwanzig Grad, wolkenloser Himmel, Südwind, ein Meter pro Sekunde.) Nachdem ich gefrühstückt hatte, stieg ich auf den Dachboden, um meteorologische Beobachtungen anzustellen und bemerkte mit einiger Verwunderung, daß die Felder vor der 47
Stadt eine bläuliche Färbung angenommen hatten. Von weitem gesehen, verflossen sie dermaßen mit dem Lasur des Himmels, daß die Horizontlinie als solche gänzlich verwischt war, trotz der sehr klaren, von keinerlei Dunst getrübten Luft. Diese neue Saat der Marsmenschen war überraschend schnell aufgegangen. Man durfte jedoch erwarten, daß sie nicht von heut auf morgen den Weizen verdrängen würde. Als ich auf den Platz kam, entdeckte ich, daß alle unsere Freunde, desgleichen eine gewaltige Menge sonstiger Einwohner, die jetzt eigentlich auf Arbeit hätten sein müssen, Farmer, aber auch Schüler, die jetzt eigentlich hätten spielen müssen, drei mit Planen überspannte Lastwagen umdrängten. Diese waren mit bunten Plakaten und Reklamebildern geschmückt. Ich dachte schon, es sei ein Wanderzirkus, zumal die Reklame einzigartige Seiltänzer und andere Helden der Manege anpries, aber Morpheus, der schon eine Weile hier stand, erklärte mir, daß dies eine fahrende Annahmestelle sei. Darin gebe es Pumpen mit Schläuchen, und an jeder Pumpe sitze ein Hüne von Kerl im Doktorkittel und biete jedem Interessenten an, ihm die Überschüsse abzupumpen, zahle auch einen erstaunlichen Preis: einen Fünfer je Glas. „Was für Überschüsse?“ fragte ich. Es handelte sich um überschüssigen Magensaft. Alle Welt hat den Magensaftfimmel. „Sind das etwa Marsmenschen?“ fragte ich. „Wieso denn Marsmenschen“, sagte Morpheus, „kräftige Kerle, langhaarig. Einer ist einäugig.“ – „Na und, was ist dabei?“ entgegnete ich natürlich. „Der Vertreter jeder Rasse, ob auf der Erde oder auf dem Mars, wird einäugig, wenn ein Auge beschädigt ist.“ Damals wußte ich noch nicht, daß diese meine Worte prophetisch waren. Ich hatte mich einfach über Morpheus' Überheblichkeit geärgert. „Ich habe noch 48
nie von einäugigen Marsmenschen gehört“, erklärte er. Das Publikum ringsum hörte unserem Gespräch zu. Morpheus erachtete es in einer Anwandlung von Eitelkeit für notwendig, seinen zweifelhaften Ruf als Diskutierkünstler aufzupolieren. Dabei hat er keine Ahnung von diesem Gegenstand! „Das sind überhaupt keine Marsmenschen“, erklärte er. „Es sind ganz gewöhnliche junge Leute aus den Vororten der Hauptstadt. Dort finden sie sich dutzendweise in jeder Kneipe.“ – „Unsere Informationen über den Mars sind so spärlich“, sagte ich gelassen, „daß die Vermutung, die Marsmenschen sähen so aus wie Burschen aus Vorstadtkneipen, jedenfalls keiner wissenschaftlichen Erkenntnis zuwiderläuft.“ – „Stimmt“, mischte sich ein neben uns stehender Farmer ein. „Das haben Sie sehr überzeugend gesagt, Herr Ich-weiß-nicht-wie-Sie-heißen. Der Einäugige hat die Arme bis zum Ellenbogen tätowiert, alles nackte Weiber. Wie der sich die Arme aufkrempelte und dann mit diesem Schlauch auf mich zukam – nein, hab ich mir gedacht, das ist nichts für uns.“ – „Was sagt denn die Wissenschaft über Tätowierung von Marsmenschen?“ fragte Morpheus giftig, um mir einen Stich zu versetzen. Billige Methode, riecht nur so nach Friseurladen. Mit solchen Späßen kommt er mir nicht bei. „Professor Zephir“, sagte ich und sah ihm direkt in die Augen, „der Chefastronom des Observatoriums zu Marathen, hat diese Gewohnheit der Marsmenschen in keinem seiner Artikel angezweifelt.“ – „Stimmt“, bestätigte der Farmer. „Er hat 'ne Brille auf, er weiß es besser.“ All das mußte Morpheus schlucken. Er wurde ganz klein und drängte sich mit den Worten „Ein Bierchen trinken ...“ durch die Menge, ich aber blieb und wartete auf die weiteren Dinge. Einige Zeit geschah gar nichts. Alle standen nur da, gafften und unterhielten sich leise. Farmer und Kaufleute 49
sind ein unentschlossenes Völkchen. Dann entstand in den vorderen Reihen Bewegung. Ein Dörfler riß sich plötzlich den Strohhut vom Kopf, warf ihn schwungvoll zu Boden und rief laut: „Verdammt, fünf Münzen sind doch auch Geld, oder etwa nicht?“ Mit diesen Worten stieg er entschlossen die Stufen des Holztreppchens hinauf und schlüpfte durch die Tür des Lastwagens, so daß wir nur noch die hintere Hälfte seines Rumpfes voller Staub und Kletten sehen konnten. Was er dort sagte und wonach er fragte, blieb wegen der Entfernung unbekannt. Ich sah nur, daß seine Haltung anfangs gespannt war und dann schlaff zu werden schien, er trat von einem Fuß auf den anderen, schob die Hände in die Taschen und wich kopfschüttelnd zurück. Vorsichtig, ohne jemand anzusehen, bückte er sich, hob seinen Hut auf, klopfte sorgsam den Staub ab und verschwand in der Menge. In der Tür des Lastwagens erschien ein Mann, der tatsächlich sehr groß gewachsen war und nur ein Auge hatte. Ohne den weißen Kittel hätte man ihn mit seiner schwarzen Augenklappe, den Bartstoppeln und den haarigen, tätowierten Armen für einen Ganoven aus den Slums halten können. Er warf einen finsteren Blick auf uns, rollte bedächtig die aufgekrempelten Ärmel herunter, holte eine Zigarette hervor, zündete sie an und sagte mit polteriger Stimme: „Nu kommt doch rein! Fünf Münzen gibt's. Für jedes Gläschen fünf Münzen. Das ist doch Geld, bares Geld. Wie lange müßt ihr dafür den Buckel krumm machen? Hier braucht ihr bloß den Schlauch zu schlucken, damit hat's sich. Na?“ Ich sah ihn an und konnte mich nicht genug über die Kurzsichtigkeit der Administration wundern. Wie hatte sie annehmen können, daß ein Bürger oder gar ein Farmer sich entschließen würde, seinen Organismus einem derartigen Schlägertyp anzuvertrauen? Ich drängte mich durch die 50
Menge und ging mit schnellen Schritten zum Platz. Die Freunde waren schon da, sämtlich mit Schrotgewehr, einige mit weißer Armbinde. Polyphem hatte sich eine alte Militärmütze aufgesetzt und hielt schweißtriefend eine Rede. Darin hieß es, die Untaten der Marsmenschen seien bereits ganz unerträglich geworden, alle Patrioten stöhnten und litten unter ihrem Joch und es sei endlich an der Zeit, jenen eine gehörige Abfuhr zu erteilen. Schuld an allem, so behauptete Polyphem, seien Deserteure und Verräter wie die dickärschigen, vollgefressenen Generäle, der Apotheker Achilles, der Feigling Myrtilus und der Abtrünnige Apollo. Bei diesen letzten Worten wurde mir schwarz vor den Augen. Ich brachte kein Wort heraus und kam erst wieder zu mir, als ich sah, daß außer mir niemand auf den einbeinigen Narren Polyphem hörte. Tatsächlich, die allgemeine Aufmerksamkeit galt Silen, der eben aus der Bürgermeisterei kam. Die Steuern, so erzählte er, würden künftig ausschließlich in Form von Magensaft eingezogen, und aus Marathen sei die Anweisung gekommen, den Magensaft mit sofortiger Wirkung dem gewöhnlichen Geld gleichzustellen. Er sollte jetzt ebenso in Umlauf kommen wie Geld, und alle Banken und Sparkassen seien bereit, ihn gegen Devisen anzukaufen. Worauf der gallige Paralus bemerkte: „So kommen wir total auf den Hund. Die Goldreserven haben sie total verpulvert, und jetzt wollen sie die Währung mit Magensaft decken.“ – „Wie denn das?“ sagte Dymas. „Versteh ich nicht. Dann soll man jetzt wohl eine Flasche bei sich haben, als Portemonnaie sozusagen? Und wenn ich denen nun statt Magensaft Wasser bring?“ – „Hör mal, Silen“, sagte Morpheus. „Du kriegst noch einen Zehner von mir. Kann ich dir den gleich in Saft geben?“ Er war sehr lebhaft geworden, denn er hatte nie Geld zum Trinken und zechte ewig auf fremde Kosten. „Gute Zeiten, alte 51
Freunde!“ rief er aus. „Wenn ich jetzt einen heben möchte, geh ich zur Bank, laß mir überschüssigen Saft abzapfen, krieg bares Geld und – ab in die Kneipe.“ Da brüllte Polyphem wieder los: „Gekauft haben sie euch! Ihr 'verkauft euch für Magensaft an die Marsmenschen! Ihr verkauft euch hier, und die kutschieren in der Stadt umher, als wären sie bei sich zu Hause auf dem Mars!“ Und wirklich, über den Platz bewegte sich langsam und ohne das leiseste Geräusch ein sehr sonderbares schwarzes Fahrzeug, anscheinend ohne Räder, ohne Fenster und Türen. Hinterher rannten pfeifend und johlend Bengels, einige versuchten sich hinten anzuhängen, aber da die Maschine so glatt war wie ein Konzertflügel, fanden sie keinen Halt. Es war ein sehr ungewöhnliches Fahrzeug. „Ob das wirklich den Marsmenschen gehört?“ fragte ich. „Wem denn sonst?“ sagte Polyphem gereizt. „Dir vielleicht?“ – „Das behauptet ja keiner“, entgegnete ich ihm. „Es gibt mancherlei Fahrzeuge auf der Welt, sollen die alle den Marsmenschen gehören?“ – „Das behaupte ich ja nicht, du altes Gekröse!“ brüllte Polyphem. „Ich sag, die Marsmenschen, dieses Pack, kutschieren durch die Stadt wie bei sich zu Hause! Und ihr verkauft euch hier!“ Ich zuckte nur die Achseln, mochte mich nicht mit ihm anlegen, und Silen antwortete ihm sehr vernünftig: „Entschuldige, Polyphem, aber dein Geschrei geht mir auf die Nerven. Und nicht bloß mir. Ich finde, wir haben alle unsere Pflicht getan. Wir sind in deine Wache eingetreten, wir haben die Waffen geputzt, was willst du noch?“ – „Patrouillen! Patrouillen sind notwendig!“ schrie er mit überkippender Stimme. „Wir müssen die Straßen sperren! Dürfen sie nicht in die Stadt lassen!“ – „Wie willst du das denn machen?“ – „Der Teufel soll dich holen, Silen! Wie ich das machen will? Ganz einfach! Halt, wer da? 52
Stehenbleiben, oder ich schieße! Und dann schieß ich auch!“ Ich konnte das nicht mehr hören, der Mann war der reinste Kasernenhof. „Vielleicht bilden wir wirklich Patrouillen?“ sagte Dymas. „Das soll uns nicht schwerfallen.“ – „Es ist nicht unsere Sache“, sagte ich entschieden. „Es ist sogar ungesetzlich, stimmt's, Silen? Dazu ist die Armee da. Soll die Patrouillen und Schießereien veranstalten!“ Ich kann solche Kriegsspiele nicht ausstehen, besonders dann nicht, wenn Polyphem sie kommandiert. Das ist der reinste Sadismus. Ich erinnere mich, da hatten wir in der Stadt Atomkriegsübungen, da warf er zwecks genauerer Imitation der angenommenen Lage überall Rauchkörper, damit niemand seine Gasmaske vernachlässigte. Viele zogen sich Vergiftungen zu, es war schrecklich. Er ist eben ein Unteroffizier, und man darf ihm nichts anvertrauen. Ein andermal drang er in der Schule in eine Turnstunde ein, schmähte den Turnlehrer mit schauderhaften Ausdrücken und fing an, den Kindern mit seinem einen Bein den Parademarsch vorzuführen. Wenn man ihn in eine Patrouille steckte, würde er mit seiner Schrotbüchse auf jeden feuern, bis kein Proviantnachschub mehr in die Stadt hereinkommt. Bestimmt würde er auch auf die Marsmenschen ballern, dann kriegten die es fertig und brannten die Stadt nieder. Unsere alten Leute sind wie Kinder, weiß Gott. Patrouillen! Ich spuckte demonstrativ aus und ging ins Bürgermeisteramt. Herr Nicostratus polierte sich die Nägel und beantwortete meine schüchterne Frage dahin gehend, daß sich die Finanzpolitik der Regierung unter den neuen Bedingungen ein wenig anders gestalten werde. Eine große Rolle werde fortan der sogenannte Magensaft spielen. Es sei zu erwarten, daß der Saft in nächster Zeit gleichberechtigt mit dem Geld umlaufen werde. Eine spezielle Verfügung über die 53
Renten stehe noch aus, doch da die Steuern in sogenanntem Magensaft eingezogen würden, gebe es triftige Gründe zu der Annahme, daß die Renten gleichfalls in sogenanntem Magensaft ausgezahlt würden. Das Herz sank mir in die Hose, doch ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und fragte den Herrn Nicostratus geradeheraus, ob ich seine Worte so auffassen solle, daß dieser sogenannte Magensaft nicht eigentlich Magensaft sei, sondern ein Symbol der neuen Finanzpolitik darstelle. Herr Nicostratus zuckte vage die Achseln und sagte, seine Nägel betrachtend: „Magensaft, Herr Apollo, ist Magensaft.“ – „Was soll ich mit Magensaft?“ fragte ich völlig verzweifelt. Er zuckte wieder die Achseln und versetzte: „Sie wissen doch genau, daß jeder Mensch Magensaft braucht.“ Mir war völlig klar, daß Herr Nicostratus entweder log oder mir etwas verschwieg. Ich war so niedergeschmettert, daß ich eine Audienz beim Herrn Bürgermeister verlangte. Aber das wurde mir verweigert. So verließ ich die Bürgermeisterei und trug mich in die Patrouillenliste ein. Wenn man einem Mann, der dreißig Jahre lang untadelig seinen Dienst in der Volksbildung verrichtet hat, als Belohnung ein Fläschchen Magensaft anbietet, so ist dieser Mann berechtigt, jeden beliebigen Grad von Zorn zu demonstrieren. Ob die Marsmenschen daran schuld sind oder nicht, bleibt dabei ohne Bedeutung. Ich kann anarchische Handlungen nicht ausstehen, doch für meine Rechte bin ich bereit, mit der Waffe in der Hand zu kämpfen. Und obwohl mein Protest natürlich nur rein symbolisch ist – sollen sie doch darüber nachdenken, sollen sie wissen, daß sie es nicht mit einer stummen Kreatur zu tun haben! Gewiß, wenn die Spendenannahmestellen bei uns zum System geworden wären und wenn Banken und Sparkassen für Devisen tatsächlich Magensaft in Zahlung nähmen, dann würde ich 54
dazu eine andere Einstellung finden. Aber das von den Banken und Sparkassen hat nur Silen erzählt, somit ist es lediglich ein unbestätigtes Gerücht. Was die Spendenannahmestellen betrifft, so gab sich Morpheus, nachdem er sich in die Patrouillenliste eingeschrieben und beschlossen hatte, dies sofort zu begießen, in die Hände des einäugigen Schlägertyps, kehrte mit geröteten, tränenden Augen zurück und zeigte uns einen nagelneuen, knisternden Fünferschein, berichtete auch, die Lastwagen würden gleich davonfahren. Also kann von keinem System die Rede sein: Sie waren gekommen und fuhren wieder weg. Hast du überschüssigen Magensaft abgeliefert, gut, hast du nicht, so bist du selber schuld. Ich finde das empörend. Polyphem setzte mich zusammen mit dem Stotterer ein. Wir sollten nachts von zwölf bis zwei auf dem Platz der Eintracht und durch die angrenzenden Straßen patrouillieren. Er händigte uns eine von Silen geschriebene Bescheinigung aus, klopfte mir gerührt auf die Schulter und sagte: „Alte Garde! Was würden diese Scheißzivilisten ohne uns machen, Phöbus? Ich habe gewußt, daß du in der entscheidenden Stunde an unserer Seite stehst.“ Beide zu Tränen gerührt, fielen wir uns in die Arme. Polyphem ist doch eigentlich kein übler Kerl, er sieht es nur gern, wenn man sich ihm widerspruchslos fügt. Ein durchaus verständlicher Wunsch. Ich bat ihn um Erlaubnis, mich zu entfernen, und begab mich zu Achilles. Patrouille hin, Patrouille her, aber ich mußte für alle Fälle ein paar Maßnahmen ergreifen. „Was ist das, Magensaft?“ fragte ich Achilles. „Wer kann ihn brauchen? Wozu ist er nütze?“ Achilles sagte, dieser Saft sei zur gründlichen Verdauung der Speisen erforderlich und sonst wahrscheinlich zu gar nichts. Das hatte ich auch selber gewußt. „Ich kann dir in Kürze einen größeren Posten sogenannten Magensaft anbieten“, sagte ich. „Viel55
leicht willst du ihn haben?“ Er antwortete, er werde es sich überlegen, und bot mir sogleich einen Tausch an: meinen unvollständigen Zoosatz gegen seine ungezahnte Luftpost aus dem Jahre achtundzwanzig. Diese Ungezahnte ist zwar einmalig, aber Achilles' Exemplar hat zwei Aufkleber und einen Fettfleck. Ich weiß nicht recht. Als ich aus der Apotheke trat, sah ich das Fahrzeug der Marsmenschen wieder. Vielleicht war es dieselbe Maschine, vielleicht auch eine andere. Sämtlichen Verkehrsregeln zuwider glitt sie mitten auf der Straße dahin, freilich im Schritttempo, so daß ich sie genau in Augenschein nehmen konnte –ich wollte zur Kneipe und hatte somit den gleichen Weg. Mein erster Eindruck war ganz richtig gewesen: Die Maschine erinnerte an einen sehr staubigen, stromlinienförmigen Konzertflügel. An der Unterkante blinkte von Zeit zu Zeit etwas auf, dann hüpfte das Ding ein wenig hoch, doch das schien kein Defekt zu sein, denn die Vorwärtsbewegung ging unaufhaltsam weiter. Selbst aus nächster Nähe waren keine Fenster und Türen zu sehen, doch am meisten verblüffte mich das Fehlen von Rädern. Meine Statur erlaubte mir zwar nicht, mich so tief zu bücken, daß ich einen Blick auf den Wagenboden hätte werfen können. Dort gab es sicherlich doch Räder; ohne ein einziges Rad, das kann doch gar nicht sein. Plötzlich blieb das Fahrzeug stehen. Natürlich genau vor der Villa des Herrn Laomedon. Ich weiß noch, wie ich mit Bitterkeit dachte: Es gibt wirklich Menschen auf der Welt, für die es überhaupt keinen Unterschied macht, ob da ein neuer Präsident regiert oder noch der alte, ob da Marsmenschen sind oder sonstwer. Jede Macht, so dachte ich, behandelt sie mit einer Achtung und Aufmerksamkeit, die sie keineswegs verdienen; was die Achtung angeht, sogar im Gegenteil. Doch etwas ganz Unerwartetes geschah. Da ich 56
zu Recht annahm, jetzt werde jemand aussteigen und ich bekäme endlich einen lebendigen Marsmenschen zu sehen, blieb ich zusammen mit anderen Einwohnern, die offenbar ähnlich kombinierten, etwas abseits stehen und beobachtete. Zu unserer Verblüffung und Enttäuschung entstiegen der Maschine jedoch nicht etwa Marsmenschen, sondern junge Männer in schmalem Mantel und einheitlicher Baskenmütze. Drei von ihnen gingen zur Haustür und läuteten, während zwei andere, in lässiger Haltung, die Hände tief in den Manteltaschen, sich bei dem Fahrzeug aufbauten und sich mit verschiedenen Körperteilen dagegenlehnten. Die Tür wurde geöffnet, die drei traten ein, und dann hörten wir von dort sonderbare, nicht sehr laute Geräusche, so als ob jemand ganz allein nachlässig Möbel verrückte und andere mit gemessenen Schlägen einen Teppich klopften. Die beiden bei dem Fahrzeug schenkten den Geräuschen keinerlei Beachtung. Sie änderten ihre Haltung nicht, der eine blickte zerstreut die Straße entlang, der andere schaute gähnend hinauf zum Obergeschoß der Villa. Gleich darauf trat aus der Tür, langsam und tappend wie ein Blinder, mein Beleidiger, der Chauffeur des Herrn Laomedon. Sein Gesicht war bleich, der Mund weit aufgerissen, die Augen quollen hervor und blickten glasig, und er preßte beide Hände an den Bauch. Auf dem Gehsteig machte er ein paar Schritte, setzte sich ächzend hin, saß ein Weilchen, sackte immer mehr in sich zusammen, fiel verkrümmt zur Seite, machte ein paar Beinbewegungen und blieb reglos liegen. Ich muß gestehen, daß ich zunächst überhaupt nichts begriff. Das Ganze geschah so gemächlich, so gelassen sachlich, inmitten des gewohnten Straßenlärms, daß ich alles irgendwie als völlig normal empfand. Ich spürte keinerlei Beunruhigung, suchte nicht nach Erklärungen. Solches Vertrauen hatte ich zu den jungen Männern, die so 57
anständig wirkten, so zurückhaltend ... Einer von ihnen warf einen zerstreuten Blick auf den daliegenden Chauffeur, brannte sich eine Zigarette an und betrachtete wieder das Obergeschoß. Ich hatte sogar den Eindruck, daß er lächelte. Dann hörte ich Schritte, und aus der Haustür traten nacheinander: ein junger Mann in schmalem Mantel, er tupfte sich mit einem Tüchlein die Lippen, Herr Laomedon in einem luxuriösen orientalischen Morgenrock, ohne Hut, mit Handschellen; der zweite junge Mann in schmalem Mantel, er zog sich im Gehen die Handschuhe aus; und endlich der dritte junge Mann in schmalem Mantel, mit Waffen beladen. Sein rechter Arm drückte drei oder vier Maschinenpistolen an die Brust, die Linke hielt, den Finger durch die Abzugsbügel geschoben, mehrerer Pistolen, außerdem hing auf jeder Schulter ein leichtes Maschinengewehr. Auf den Herrn Laomedon warf ich nur einen einzigen Blick, aber der genügte vollauf – bis jetzt hält sich in mir der Eindruck von etwas Rotem, Nassem, Klebrigem. Diese Kavalkade überquerte gemächlich den Gehsteig und verschwand im Innern des Fahrzeugs. Die draußen verbliebenen beiden jungen Männer wippten sich träge von der polierten Bordwand weg, traten zu dem liegenden Chauffeur, ergriffen ihn vorsichtig an Armen und Beinen, schwangen ihn sacht hin und her und schmissen ihn in die Haustür. Sodann entnahm der eine seiner Tasche ein Papier und klebte es sorgsam neben der Klingel an, worauf das Fahrzeug, ohne zu wenden, mit der gleichen Geschwindigkeit wie zuvor rückwärts fuhr. Die beiden jungen Männer schritten mit der allerbescheidensten Miene durch die auseinandertretende Menge und verschwanden um die Ecke. Als ich mich aus der Erstarrung, in die das überraschende und ungewöhnliche Geschehen mich versetzt hatte, löste und wieder denken konnte, spürte ich eine Art 58
psychische Erschütterung, als wäre ich Augenzeuge eines geschichtlichen Wendepunkts geworden. Ich bin überzeugt, daß die anderen Zuschauer ähnlich empfanden. Wir alle drängten uns vor der Haustür, aber keiner wagte hineinzugehen. Ich setzte die Brille auf und las über die Köpfe hinweg die Proklamation neben der Klingel. Sie lautete: „Narkotika sind das Gift und die Schande der Nation! Es ist an der Zeit, damit Schluß zu machen. Wir werden das tun, und ihr werdet uns dabei helfen. Wer Narkotika verbreitet, wird gnadenlos bestraft.“ Stammte dies von jemand anderem, so hätte es für zwei Stunden Gesprächsstoff geliefert, doch so tauschten alle nur Interjektionen, außerstande, ihre noch anhaltende Zaghaftigkeit zu überwinden: „Eijeijei.“ – „Sieh einer an!“ – „Hehe.“ – Ja, Herrschaften, schlimm!“ Jemand rief die Polizei und den Arzt. Der Arzt ging ins Haus und kümmerte sich um den Chauffeur. Dann traf Pandareus im Polizeijeep ein. Auf der Vortreppe trat er von einem Fuß auf den anderen, las ein paarmal die Proklamation, kratzte sich den Nacken und warf sogar einen Blick durch die Tür, hatte jedoch Angst hineinzugehen, obwohl der Arzt in höchst unehrerbietiger Ausdrucksweise nach ihm schrie. Breitbeinig stand Pandareus in der Tür, die flachen Hände hinterm Koppel, aufgeplustert wie ein Truthahn. Mit dem Eintreffen der Polizei war die Menge dreister geworden und sprach nun etwas deutlicher: „So läuft das also, wie?“ – „Ja, nun ist alles klar.“ – „Interessant, interessant, Herrschaften!“ – „Nie hätt ich so etwas geglaubt.“ Ich spürte beunruhigt, daß die Zungen sich lösten, und wollte schon gehen, obwohl die Neugier mich plagte, aber da sprach Silen den Pandareus direkt an: „Also triumphiert das Gesetz nun doch, Pan? Habt ihr euch endlich aufgerafft?“ Pandareus kniff bedeutsam die Lippen ein und sagte nach einigem Zögern: „Ich glaube, das haben 59
wir nicht beschlossen.“ – „Wieso nicht ihr? Wer denn sonst?“ – „Ich glaube, das war die Gendarmerie aus der Hauptstadt“, flüsterte Pandareus donnergleich und sah sich nach allen Seiten um. – „Wieso denn Gendarmerie?“ widersprach man aus der Menge. „Gendarmerie in einem Marsauto? Nein, das war keine Gendarmerie.“ – „Was war es denn eurer Meinung nach? Marsmenschen, was?“ Pandareus plusterte sich noch mehr auf und kläffte: „He, wer redet da von Marsmenschen? Seid mal vorsichtig!“ Doch man achtete nicht mehr auf ihn. Die Zungen hatten sich vollends gelöst. „Das Fahrzeug mag vielleicht vom Mars sein, aber Marsmenschen waren das nicht, soviel steht fest. Sie haben ein Benehmen wie wir Menschen.“ – „Richtig! Wozu sollten Marsmenschen sich um Narkotika kümmern?“ – „He, Alter, neue Besen kehren gut. Bloß, wieso kümmern sie sich um unseren Magensaft?“ – „Nein, Herrschaften, das waren keine von uns. Versteht mal, die waren viel zu still, viel zu schweigsam. Ich glaub, es waren doch Marsmenschen. Sie arbeiten wie Maschinen.“ – „Richtig, Maschinen! Roboter! Wozu sollen sich die Marsmenschen die Hände dreckig machen? Sie haben Roboter.“ Pandareus fühlte sich gedrängt, gleichfalls eine Mutmaßung anzubringen. „Nein, alte Freunde“, tönte er, „das waren keine Roboter. Das ist jetzt die neue Ordnung. In die Gendarmerie werden nur noch Taubstumme aufgenommen. Zwecks Wahrung der Staatsgeheimnisse.“ Diese Hypothese erzeugte zunächst Verblüffung, sodann aber giftige Repliken, zumeist sehr witzige, doch behalten hab ich nur die Bemerkung des galligen Paralus. Er äußerte sich in dem Sine, daß es nicht schlecht wäre, auch die Polizei nur noch mit Taubstummen zu besetzen, allerdings nicht zwecks Wahrung von Staatsgeheimnissen, sondern um unschuldige Menschen vor dem Blödsinn zu schützen, mit dem offizielle 60
Personen sie traktierten. Pandareus, der eben seinen Waffenrock öffnen wollte, blies sich gleich wieder auf, schloß die Knöpfe und brüllte: „Unterhaltung been-det!“ Wir mußten leider auseinandergehen, obwohl gerade in diesem Moment der Unfallwagen eintraf. Der alte Esel hatte solche Wut, daß wir nur von ferne beobachten konnten, wie der versehrte Chauffeur aus der Tür getragen wurde. Zu unserer Verwunderung brachte man dann noch zwei Körper heraus. Bis jetzt weiß ich nicht, wer das war. Wir begaben uns alle in die Kneipe. An der Theke standen ungezwungen die beiden jungen Leute im schmalen Mantel. Sie waren still und schweigsam wie zuvor, tranken Gin und blickten zerstreut über die Köpfe hinweg. Ich bestellte mir ein Mittagessen, und während ich mich sättigte, beobachtete ich, wie die Neugierigsten allmählich an die beiden jungen Männer heranrückten. Es war geradezu lächerlich, wie plump Morpheus ein Gespräch über das Wetter in Marathen anzuknüpfen versuchte und wie Paralus, um den Stier bei den Hörnern zu packen, ihnen etwas zu trinken spendierte. Die beiden jungen Männer, die niemanden zu kennen schienen, schluckten die ihnen zugeschobenen Getränke brav hinunter, wahrten jedoch gleichmütiges Schweigen. Scherze erheiterten sie nicht, Anspielungen ließen sie unberührt, direkte Fragen überhörten sie gänzlich. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Teils war ich begeistert von ihrer ungewöhnlichen Selbstbeherrschung und ihrer totalen Gleichgültigkeit gegenüber den lächerlichen Versuchen, sie ins Gespräch zu ziehen, teils begann ich zu glauben, daß es wirklich Roboter vom Mars waren und daß die Marsmenschen vielleicht scheußlich aussahen und deshalb nicht selbst vor uns treten mochten, teils argwöhnte ich, sie wären doch Marsmenschen, von denen wir ja bis heute nichts wissen. Unsere 61
Leute wurden immer frecher, sie umdrängten die beiden jungen Männer und sprachen bereits ohne Scheu über sie; einige erkühnten sich gar, ihren Mantelstoff zu befühlen. Nun glaubten alle, Roboter vor sich zu haben. Japetus wurde schon unruhig. Während er mir einen Brandy einschenkte, sagte er mißmutig: „Was denn, Roboter? Sie hatten jeder zwei Gin, zwei Brandy und zwei Schachteln Zigaretten. Wer bezahlt das nun?“ Ich erläuterte ihm, daß ein Roboter, der auf ein Bedürfnis nach Zigaretten und Getränken programmiert ist, zweifellos eine Methode kennt, das Verzehrte zu bezahlen. Japetus beruhigte sich, doch da begann an der Theke die Schlägerei. Wie sich später herausstellte, hatte der gallige Paralus mit dem dummen Dymas gewettet, daß nichts geschehen würde, wenn Dymas dem Roboter eine brennende Zigarette in die Hand steckte. Mit meinen eigenen Augen sah ich folgendes. Aus der aufgekratzten Menge kam plötzlich Dymas herausgeschossen wie ein Sektkorken. Rückwärts flog er, mit den Füßen schlenkernd, Tische und Menschen umrennend, quer durch den Saal und fiel in der Ecke zu Boden. Gleich darauf landete Paralus auf die gleiche Weise in einer anderen Ecke. Unsere Leute spritzten auseinander, und ich, der ich noch nicht begriff, sah die jungen Männer wie zuvor still an der Theke sitzen und nachdenklich, mit einheitlicher Bewegung Schnapsgläser zum Munde führen. Paralus und Dymas wurden aufgehoben und in die Kulissen geschleppt, um sie wieder zu sich zu bringen. Ich ergriff mein Glas und begab mich gleichfalls in die Kulissen. Ich wollte hören, was geschehen war. Als ich kam, war Dymas eben erwacht, er saß mit idiotischer Miene da und befühlte seine Brust. Paralus war noch nicht wieder bei sich, aber er schluckte bereits Gin und trank Sodawasser nach. Neben ihm stand eine Kellnerin, ein Handtuch bereithaltend, um 62
ihm den Kiefer zu verbinden, wenn er zu sich kam. Hier erfuhr ich die bereits beschriebene Version des Vorfalls und war mir mit den übrigen darin einig, daß Paralus ein Provokateur und Dymas ein Blödian sei, nicht besser als Pandareus. Diese vernünftigen Erwägungen stellten die Freunde jedoch nicht zufrieden, sie hatten sich in den Kopf gesetzt, dies nicht auf sich beruhen zu lassen. Polyphem, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, erklärte, dies werde die erste Kampfaktion unserer Stadtwache sein. Wir würden den beiden Burschen auflauern, wenn sie aus der Kneipe kämen, sagte er und traf bereits Anordnungen, wer von uns wo Posten zu fassen und wann er wohin zu schießen habe. Ich distanzierte mich sofort von dieser Idee. Erstens bin ich überhaupt ein Gegner von Gewalt und habe aber auch gar nichts von einem Unteroffizier an mir. Zweitens fand ich die beiden jungen Männer nicht besonders schuldig. Und schließlich wollte ich mich nicht mit ihnen schlagen, sondern über meine Angelegenheiten mit ihnen sprechen. So stahl ich mich aus den Kulissen, kehrte an meinen Tisch zurück, und dieses mein Verhalten bildete den Anfang des nun folgenden, für mich so betrüblichen Ereignisses. Übrigens, selbst jetzt noch, wo ich den gestrigen Tag von einer anderen Warte aus betrachte, muß ich konstatieren, daß mein Verhalten einwandfrei logisch war und bleibt. Die jungen Leute sind nicht aus unserer Gegend, überlegte ich. Die Tatsache, daß sie mit einem Marsfahrzeug angekommen sind, deutet eher darauf hin, daß sie aus der Hauptstadt stammen. Mehr noch, ihre Teilnahme an der Exekution des Herrn Laomedon bezeugt zweifelsfrei ihre Zugehörigkeit zu den Machthabern: Die hätten ja gegen den Herrn Laomedon kaum einfache Vollstrecker ausgesandt. Daraus ergab sich nach der Logik der Dinge, daß die jungen 63
Leute über die neuen Umstände gut unterrichtet sein mußten und mir vieles mitteilen konnten, was mich interessierte. Mir – dem kleinen Mann, über den sich der Chauffeur des Herrn Laomedon lustig machen und dem der Sekretär des Bürgermeisters die Information verweigern konnte – stand es nicht an, eine Gelegenheit zu wahrheitsgetreuer Information auszuschlagen. Andererseits weckten die jungen Leute keinerlei Befürchtungen in mir. Der Umstand, daß sie Herrn Laomedon und seine Gorillas ein wenig hart angepackt hatten, war nicht geeignet, mich zu warnen. So war eben ihr Dienst, und es handelte sich ja um den Herrn Laomedon, der so etwas längst verdient hatte. Was nun den Vorfall mit Paralus und Dymas betrifft – liebe Leute, Dymas ist dumm, das macht den Umgang mit ihm unmöglich, Paralus hingegen ist imstande, einen mit seinen galligen Witzen außer sich zu bringen. Ganz zu schweigen davon, daß auch ich keinem erlauben würde, mich Roboter zu nennen, geschweige denn, mir mit einer Zigarette die Hand anzukokeln. Deshalb war ich, als ich meinen Brandy austrank und auf die jungen Leute zuging, vom Erfolg meines Unternehmens fest überzeugt. Ich hatte den Plan des bevorstehenden Gesprächs in allen Einzelheiten durchdacht und dabei sowohl die Art ihrer Tätigkeit und ihre Stimmung infolge des soeben stattgefundenen Zwischenfalls als auch ihre offenbar angeborene Schweigsamkeit und Zurückhaltung berücksichtigt. Ich hatte vor, sie zunächst für das törichte Benehmen meiner Landsleute um Entschuldigung zu bitten. Sodann wollte ich mich vorstellen, die Hoffnung ausdrücken, daß meine Fragen sie nicht gar zu sehr belästigten, ferner die Qualität des Brandys beklagen, welchen Japetus recht oft mit billigen Sorten verschnitt, und ihnen welchen aus meiner persönlichen Flasche anbieten. Erst danach und 64
nach einem Abstecher zum Wetter in Marathen und in unserer Stadt gedachte ich, sacht und taktvoll auf die Hauptfrage zu kommen. Während ich auf sie zuging, vermerkte ich, daß einer der beiden sich eine Zigarette anzündete und der andere, von der Theke abgewandt, aufmerksam und, wie mir schien, interessiert meine Annäherung beobachtete. Darum beschloß ich, ihn anzusprechen. Näher tretend, zog ich den Hut und sagte: „Guten Abend.“ Doch da machte dieser junge Bursche eine träge Bewegung mit der Schulter, und sogleich war mir, als ob in meinem Kopf eine Handgranate barst. Ich kann mich an nichts erinnern, weiß nur noch, daß ich lange neben Paralus in den Kulissen lag, Gin schluckte und Soda nachtrank und jemand mir mit einer kalten Serviette das geschlagene Auge kühlte. Und jetzt frage ich mich: Was ist künftig zu erwarten? Niemand ist für mich eingetreten, niemand hat seine Stimme zum Protest erhoben. Alles kommt wieder. Wieder werden die jungen Kerle, Entsetzen verbreitend, Menschen auf der Straße verprügeln. Und als Polyphem mich mit seinem privaten Kleinauto nach Hause brachte, stand meine Tochter, gleichgültig wie alle übrigen, im Garten und küßte sich mit dem Herrn Sekretär. Nein, selbst wenn ich gewußt hätte, wie das endet, ich mußte trotzdem einen Versuch machen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ich war dazu verpflichtet. Gewiß wäre ich vorsichtiger gewesen und nicht so nahe herangegangen. Wer soll mir sonst Auskünfte geben? Ich mag nicht jede Kupfermünze dreimal umdrehen, noch länger zu unterrichten geht über meine Kraft, und ich will nicht mein Haus verkaufen, in dem ich so viele Jahre gelebt habe. Ich habe Angst davor, ich brauche Ruhe. 8. Juni Temperatur plus siebzehn, stark bewölkt, Südwind, drei 65
Meter pro Sekunde. Ich sitze zu Hause, gehe nicht aus, spreche mit keinem Menschen. Die Schwellung hat nachgelassen, die betroffene Stelle schmerzt fast gar nicht, doch ich sehe noch immer scheußlich aus. Den ganzen Tag über habe ich Briefmarken betrachtet und ferngesehen. In der Stadt ist alles beim alten. Letzte Nacht hat unsere blühende Jugend das von Soldaten besetzte Etablissement der Madame Persephone belagert. Es soll eine förmliche Schlacht gewesen sein. Die Armee konnte das Kampffeld behaupten. (Die besteht nicht aus Marsmenschen.) In den Zeitungen nichts Besonderes. Kein Wort über das Embargo, es scheint aufgehoben zu sein. Eine merkwürdige Rede des Kriegsministers, in Petit gedruckt, darin heißt es, unsere Mitgliedschaft in der „Kampfgemeinschaft“ sei eine Last für das Land und nicht so notwendig, wie es auf den ersten Blick scheine. Gott sei Dank ist er nach elf Jahren dahintergekommen! Hauptsächlich aber schreibt die Zeitung über einen Farmer namens Periphantes, der sich durch die Fähigkeit auszeichnet, in vierundzwanzig Stunden bis zu vier Liter Magensaft zu produzieren, ohne jeglichen Schaden für seinen Organismus. Da wird sein schwerer Lebenslauf abgedruckt, viele intime Einzelheiten, dann ein Interview mit ihm. Das Fernsehen sendet mehrmals am Tag Szenen aus seinem Leben. Ein dicker, derber Kerl, fünfundvierzig, ohne jeden Intellekt. Man schaut ihn an und käme nie auf den Gedanken, ein so erstaunliches Phänomen vor sich zu haben. Immer wieder verweist er auf seine Gewohnheit, jeden Morgen ein Stück Zucker zu lutschen. Man müßte es auch mal probieren. Ja! In unserer Zeitung steht ein Artikel des Tierarztes Kalaides über die Schädlichkeit von Narkotika. Darin schreibt er, daß der regelmäßige Gebrauch von Narkotika sich bei Großvieh negativ auf die Absonderung von Magen66
saft auswirke. Sogar ein Diagramm ist dabei. Interessante Beobachtung: Da steht es bei Kalaides schwarz auf weiß, und doch ist es unerträglich schwer zu lesen. Dauernd hat man das Gefühl, daß er beim Schreiben stottert. Ansonsten stellt sich heraus, daß Herr Laomedon dafür exekutiert wurde, daß er die Bürger daran hinderte, Magensaft abzusondern. Ich gewinne den Eindruck, daß der Magensaft Mittelpunkt der neuen Staatspolitik ist. Das war noch nie da. Aber wenn man es sich überlegt, warum eigentlich nicht? Hermione kam von einem Besuch zurück und erzählte, in der ehemaligen Villa des Herrn Laomedon werde eine ständige Annahmestelle für Magensaft eingerichtet. Wenn das stimmt, kann ich es nur gutheißen und unterstützen. Ich bin überhaupt für Beständigkeit und Dauerhaftigkeit. Ach, meine lieben Briefmarken! Ihr allein enttäuscht mich nie. 9. Juni Temperatur plus sechzehn, locker bewölkt, Sprühregen. Die Schwellung ist weg, aber wie Achilles voraussagte, ist es um das Auge herum scheußlich grün. Ich kann mich nicht auf der Straße sehen lassen, da bekäme ich nichts als dumme Scherze zu hören. Am Morgen habe ich in der Bürgermeisterei angerufen, aber der Herr Nicostratus geruhte, lustiger Laune zu sein, und konnte mir über meine Rente nichts Neues mitteilen. Natürlich war ich danach aufgeregt und wollte mich mit meinen Briefmarken beruhigen, doch selbst sie waren mir kein Trost. Da schickte ich Hermione nach einem Beruhigungsmittel in die Apotheke, aber sie kehrte mit leeren Händen zurück. Achilles hatte nämlich ein Rundschreiben erhalten, wonach er Beruhigungsmittel ausschließlich auf Rezept des Stadtarztes verabfolgen dürfe. Bitterböse rief ich ihn an und brach einen Streit vom Zaun, 67
doch um die Wahrheit zu sagen – was war bei ihm schon zu holen? Sämtliche Medikamente, die Narkotika enthielten, unterlagen strengster Kontrolle durch die Polizei und einen Sonderbevollmächtigten vom Bürgermeisteramt. Nun ja, wo gehobelt wird, fallen Späne. In Gegenwart von Hermione goß ich mir einen Kognak ein und trank ihn aus. Das half. Sogar besser. Hermione sagte keinen Mucks. Am Morgen kehrte Myrtilus' Familie zu ihm zurück, er wohnte noch immer im Zelt. Offen gestanden, ich freute mich. Es war das erste Anzeichen dafür, daß sich die Lage im Lande stabilisierte. Doch nach dem Mittagessen sah ich auf einmal, wie Myrtilus sie wieder alle in den Autobus verfrachtete. Was war los? „Schon gut, nichts weiter“, antwortete er mir in seiner gewohnten Weise. „Ihr alle seid Schlauberger, bloß ich bin ein Dummkopf ...“ Ansonsten begab er sich zum Platz und erfuhr dort, die Marsmenschen hätten vor, den Kämmerer und den Architekten wegen Veruntreuung und Machenschaften zur Verantwortung zu ziehen; beide seien sogar schon irgendwo vorgeladen worden. Ich versuchte, ihm zu erklären, daß das gut und gerecht sei, aber da kam ich schön an! „Schon gut, nichts weiter“, antwortete er. „Gerecht ... Heute Kämmerer und Architekt, morgen der Bürgermeister und übermorgen ich weiß nicht wer, vielleicht ich. Nichts da. Dir haben sie schon eins aufs Auge geballert, ist das etwa gerecht?“ Ich kann nicht mit ihm streiten. Hol ihn der ... Herr Corybantes rief an und stellte sich als Charons Vertreter bei der Zeitung vor. Seine Stimme klang kläglich und zitterig, sie hatten in der Zeitung Ärger mit den Behörden. Er flehte mich an, ihm mitzuteilen, ob Charon bald zurück sei. Ich sprach natürlich sehr mitfühlend, sagte aber kein Wort davon, daß Charon schon hiergewesen war. Intuitiv spürte ich, daß es nicht gut war, darüber zu reden. Weiß 68
Gott, wo Charon jetzt ist und was er macht. Politische Unannehmlichkeiten haben mir gerade noch gefehlt. Ich erzähle keinem von ihm und habe es auch Artemis und Hermione verboten. Hermione verstand mich sofort, aber Artemis machte mir eine Szene. 10. Juni Erst jetzt komme ich etwas zu mir, obwohl ich mich immer noch krank und zerschlagen fühle. Das Ekzem ist schlimmer als zuvor. Ich bin mit Wasserbläschen bedeckt und kratze mich ununterbrochen, obwohl ich weiß, daß ich das nicht darf. Und unablässig verfolgen mich unheimliche Phantome, deren ich mich gern entledigen würde, was ich jedoch nicht kann. Ich verstehe: Man tötet gezwungenermaßen, man tötet, damit man nicht getötet wird. Das ist häßlich und gemein, aber es ist zumindest natürlich. Dabei zwingt die keiner. Partisanen! Ich weiß ja, was das ist. Aber konnte ich erwarten, auf meine alten Tage noch einmal mit eigenen Augen Partisanen zu sehen? Es fing damit an, daß ich gestern früh gegen alle Erwartung einen höchst freundschaftlichen Antwortbrief von General Alcimus erhielt. Er schrieb, daß er sich wohl an mich erinnere, mir sehr zugetan sei und mir bestes Wohlergehen wünsche. Dieser Brief wühlte mich auf. Ich wußte nicht, wohin mit mir. Ich beriet mich mit Hermione, und sie mußte zugeben, daß man eine solche Gelegenheit nicht versäumen dürfe. Nur eines verunsicherte uns beide – die unruhigen Zeiten. Aber da sahen wir Myrtilus sein provisorisches Lager abbrechen und seine Sachen zurück ins Haus tragen. Das gab den Ausschlag. Hermione fertigte mir eine sehr elegante schwarze Augenklappe, ich nahm die Mappe mit meinen Papieren, stieg in mein Auto und fuhr nach Marathen. 69
Das Wetter war mir wohlgesonnen, gemächlich fuhr ich die leere Chaussee zwischen blauen Feldern entlang und überlegte mir mögliche Varianten meines Handelns je nach den Umständen. Aber wie immer trat bald etwas Unvorhergesehenes ein. Etwa vierzig Kilometer vor der Stadt begann der Motor zu spucken, der Wagen ruckte, zog nicht mehr und blieb dann ganz stehen. Das passierte auf dem Gipfel eines Hügels, und als ich ausstieg, tat sich eine friedliche ländliche Gegend vor mir auf, die freilich ein wenig ungewohnt aussah durch das Blau des reifenden Korns. Ich weiß noch, daß ich trotz der Verzögerung ganz ruhig war und ich mich nicht enthalten konnte, den Anblick der fernen, säuberlich weißen Farmerhäuser zu genießen. Das blaue Getreide stand hier sehr gut, stellenweise mannshoch. Noch nie hatte es in unserer Gegend eine so reiche Ernte gegeben. Die Chaussee lief pfeilgerade zum Horizont. Ich klappte die Motorhaube hoch und besichtigte einige Zeit den Motor, in der Hoffnung, den Defekt zu finden. Aber ich bin als Mechaniker nicht berühmt, daher verzweifelte ich bald, richtete den müden Rücken gerade und sah mich um, ob nicht von irgendwo Hilfe zu erwarten sei. Die nächste Farm lag jedoch zu weit weg, und auf der Chaussee war nur ein Fahrzeug zu sehen, das von Marathen her näher kam. Es fuhr mit hoher Geschwindigkeit. Anfangs freute ich mich, doch bald erkannte ich zu meinem größten Bedauern, daß es eines der schwarzen Marsautos war. Allerdings verlor ich nicht ganz die Hoffnung, denn ich erinnerte mich, daß in einem Marsauto auch irdische Menschen fahren konnten. Die Aussicht, den düsteren, schwarzen Mechanismus zu stoppen, beglückte mich nicht sehr, ich fürchtete, es könnten doch Marsmenschen darin sein, vor denen ich instinktive Angst hatte. Aber was blieb mir übrig? Ich streckte den Arm quer zur Chaussee aus und ging 70
dem Fahrzeug, das schon den Fuß des Hügels erreicht hatte, ein paar Schritte entgegen. Und da geschah das Entsetzliche. Das Fahrzeug war noch etwa fünfzig Meter von mir entfernt, da zuckte plötzlich eine gelbe Flamme auf, die Maschine tat einen Sprung und bäumte sich auf. Ein donnernder Schlag, eine Rauchwolke verhüllte die Chaussee. Dann sah ich, daß die Maschine aufsteigen wollte und schon fast die Wolken erreicht hatte, wobei sie jedoch stark zur Seite krängte, aber da zuckten abermals zwei Blitze neben ihr auf, der doppelte Schlag warf sie herum, und sie krachte mit voller Schwere auf den Asphalt, so daß ich mit meinen vor Entsetzen geschwächten Beinen die Erde unter mir zittern fühlte. Ein fürchterlicher Unfall, dachte ich zuerst. Die Maschine brannte, ihr entstiegen schwarze Gestalten, schon vom Feuer erfaßt. In diesem Moment ging die Schießerei los. Ich konnte nicht erkennen, wer da schoß und von wo, doch ich sah deutlich, auf wen geschossen wurde. Die schwarzen Figuren in Rauch und Feuer fielen zappelnd eine nach der anderen. Durch das Knattern der Schüsse hörte ich herzzerreißende Schreie, und nun lagen sie schon alle hingestreckt neben der umgestürzten Maschine und brannten weiter, doch das Schießen hörte nicht auf. Dann explodierte das Fahrzeug mit einem grauenhaften Donnerschlag, unirdisches Weißes Licht fuhr mir in die Augen, dichte Heißluft peitschte mir ins Gesicht. Ich kniff unwillkürlich die Augen zu, und als ich mit einem Auge blinzelte, sah ich zu meinem Entsetzen ein schwarzes Wesen, breitbeinig wie ein riesiger Affe, brennend und einen Rußschweif hinter sich herziehend, hügelan auf mich zulaufen. Im selben Moment sprang links von mir ein Mann in Militäruniform, die Maschinenpistole im Anschlag, aus dem blauen Getreide, blieb mit dem Rücken zu mir mitten auf 71
der Straße stehen, hockte sich rasch nieder und schoß aus kurzer Entfernung auf die lodernde schwarze Gestalt. Mein Grauen war so stark, daß die erste Erstarrung wich; ich fand die Kraft, mich umzudrehen, und stürzte zu meinem Auto. Wie ein Irrer drückte ich den Starter, sah nichts, hatte vergessen, daß der Motor streikte, und dann verließen mich die Kräfte, ich blieb im Auto sitzen, starrte sinnlos vor mich hin, passiver und betäubter Zeuge einer grausigen Tragödie. Gleichgültigkeit bemächtigte sich meiner. Wie im Traum sah ich Bewaffnete zur Chaussee laufen, sie umringten den Schauplatz der Katastrophe, beugten sich über die brennenden Leiber, drehten sie herum und wechselten kurze Ausrufe, die ich kaum hörte, da mir das Blut in den Schläfen hämmerte. Es waren vier, die am Fuß des Hügels beisammenstanden; der Mann in der Militäruniform, den Schulterklappen nach ein Offizier, stand am früheren Platz, ein paar Schritt von dem letzten Toten, und lud seine Maschinenpistole nach. Dann sah ich, wie er sich gemächlich dem Liegenden näherte, die Mündung der Maschinenpistole senkte und einen kurzen Feuerstoß abgab. Die Gestalt zukkte scheußlich, und da übergab ich mich direkt auf Lenkrad und Hose. Und nun begann das Schrecklichste. Der Offizier warf einen raschen Blick zum Himmel, wandte sich dann zu mir, guckte – diesen erbarmungslosen, kalten Blick vergesse ich nie – und kam, die Maschinenpistole am Griff haltend, auf meinen Wagen zu. Ich hörte, wie die von unten ihm etwas zuriefen, doch er drehte sich nicht um. Er kam auf mich zu. Wahrscheinlich fiel ich sekundenlang in Ohnmacht, denn meine Erinnerung hat eine Lücke bis zu dem Moment, wo ich neben meinem Auto stand, dem Offizier und zwei weiteren Insurgenten gegenüber. Mein Gott, wie sahen diese Leute aus! Alle drei waren seit langem unrasiert und schmutzig, ihre Sachen ver72
schmiert und zerfetzt, die Uniform des Offiziers war gleichfalls in gräßlichem Zustand. Er trug einen Helm, einer der beiden Zivilisten hatte eine schwarze Baskenmütze auf, der andere, Bebrillte, war barhäuptig. „Was ist, sind Sie taub?“ fragte der Offizier barsch und rüttelte mich an den Schultern, der Mann mit der Baskenmütze verzog das Gesicht und stieß durch die Zähne: „Lassen Sie ihn doch, warum machen Sie das?“ Ich raffte die Reste meiner schwachen Kräfte zusammen und zwang mich, ruhig zu sprechen, denn ich begriff, daß es um mein Leben ging. „Was möchten Sie?“ fragte ich. „Ein echter Einheimischer“, sagte der Mann mit der Baskenmütze. „Er weiß nichts und will nichts wissen!“ – „Warten Sie, Ingenieur“, sagte der Offizier gereizt. „Wer sind Sie?“ fragte er mich. „Was machen Sie hier?“ Ich erklärte ihm alles, ohne etwas zu verbergen, und während ich sprach, sah er sich dauernd um und blickte wieder zum Himmel, als fürchte er Regen. Der Mann mit der Baskenmütze unterbrach mich und rief: „Ich will nichts riskieren! Ich gehe. Machen Sie, was Sie wollen!“ Sprach's, drehte sich um und lief den Hügel hinunter. Die beiden anderen blieben und hörten mich bis zu Ende an. Ich versuchte, aus ihren Gesichtern zu lesen, welches mein Schicksal sein würde, fand jedoch nichts Gutes, und da kam mir der rettende Gedanke. Ich vergaß alles, was ich eben gesagt hatte, und platzte heraus: „Bedenken Sie, meine Herren, ich bin der Schwiegervater von Herrn Charon.“ – „Welchem Charon?“ fragte der bebrillte Insurgent. – „Er ist Chefredakteur der Kreiszeitung.“ – „Na und?“ fragte der Insurgent, während der Offizier den Himmel beobachtete. Ich war verwirrt, denn Charon war ihnen sichtlich unbekannt. Trotzdem sagte ich: „Mein Schwiegersohn hat gleich am ersten Tag die Maschinenpistole genommen und das Haus verlassen.“ – „So?“ sagte der Insurgent. „Das macht 73
ihm Ehre.“ – „Ist doch alles Quatsch“, sagte der Offizier. „Wie sieht es bei Ihnen in der Stadt aus? Was ist mit den Truppen?“ – „Weiß nicht“, sagte ich. „Bei uns in der Stadt ist alles still.“ – „Ist der Zugang zur Stadt frei?“ fragte der Offizier. – „Meiner Meinung nach ja“, sagte ich und fühlte mich verpflichtet hinzuzufügen: „Aber Sie könnten von Patrouillen der Antimarsmenschenstadtwache aufgehalten werden.“ – „Was?“ sagte der Offizier, und sein verbittertes Gesicht zeigte zum erstenmal etwas wie Verwunderung. Er löste sogar den Blick vom Himmel und sah mich an. „Was für eine Wache?“ – „Antimarsmenschenstadtwache“, sagte ich. „Mit Unteroffizier Polyphem an der Spitze. Vielleicht kennen Sie ihn? Er ist Invalide“. – „So ein Blödsinn“, sagte der Offizier. „Können Sie uns in die Stadt bringen?“ Mir sank das Herz in die Hosen. „Selbstverständlich“, sagte ich. „Aber mein Auto ...“ – „Ja“, sagte der Offizier. „Was ist damit?“ Ich nahm meine Entschlußkraft zusammen und log: „Wahrscheinlich sitzt der Kolben fest.“ Der Offizier stieß einen Pfiff aus, wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und verschwand im Getreide. Der bebrillte Insurgent sah mich weiter aufmerksam an, dann fragte er plötzlich: „Haben Sie Enkel?“ – „Ja!“ log ich total verzweifelt. „Zwei!“ Der eine ist noch ein Säugling.“ Er nickte mitfühlend. „Schrecklich“, sagte er. „Das ist es, was mich am meisten quält. Sie wissen nichts und werden es auch nie erfahren ...“ Ich verstand seine Worte nicht, wollte sie auch nicht verstehen, sondern flehte nur, er möge schnellstens gehen und mir nichts tun. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich plötzlich die Vorstellung, dieser stille Mann mit der Brille sei der Schlimmste. Sekundenlang wartete er auf Antwort von mir, dann warf er die Maschinenpistole über die Schulter und sagte: „Ich rate Ihnen, hier schleunigst zu verschwinden. 74
Auf Wiedersehen.“ Da wartete ich nicht einmal, bis er weg war, sondern ging rasch den Hügel hinunter in Richtung der Stadt. Ein Sturm schien mich auf seinen Flügeln zu tragen. Ich spürte meine Beine nicht, hatte keine Atemnot, glaubte ein mechanisches Krachen und Brummen hinter mir zu hören, drehte mich jedoch nicht um, sondern versuchte zu laufen. Aber ich war noch nicht weit gekommen, da bog von einem Feldweg ein kleiner Lastwagen auf die Chaussee ein, mir entgegen, mit Farmern vollgestopft. Ich war halb besinnungslos, fand aber die Kraft, mich ihnen in den Weg zu stellen. Ich fuchtelte mit den Armen und schrie: „Halt! Nicht dahin! Da sind Partisanen!“ Der Lastwagen stoppte, derbe, schlichte Männer umringten mich, mit Gewehren bewaffnet. Sie packten mich bei der Brust, schüttelten, beschimpften mich mit gemeinen Ausdrücken, ich verstand nichts, war entsetzt und erwog erst nach einiger Zeit, daß sie mich für einen Spießgesellen der Insurgenten hielten. Die Beine knickten mir ein, doch da kam der Chauffeur aus dem Fahrerhaus, und das war zum Glück ein ehemaliger Schüler von mir. „Was macht ihr da, Jungs!“ brüllte er und warf sich vor die ausholenden Arme. „Das ist doch Herr Apollo, der Lehrer aus der Stadt! Ich kenne ihn.“ Nicht sofort, aber dann doch beruhigten sich alle, und ich erzählte, was ich gesehen hatte. „Aha“, sagte der Chauffeur. „Das haben wir uns schon gedacht. Jetzt schnappen wir sie uns. Kommt, Jungs.“ Ich wollte meinen Weg in die Stadt fortsetzen, aber er überzeugte mich, daß ich bei ihnen sicherer war, und meinen Wagen werde er in aller Ruhe reparieren, während die Jungs die Banditen jagten. Ich bekam einen Platz im Fahrerhaus, und der Lastwagen rollte zum Schauplatz der Tragödie. Da war der Gipfel des Hügels, da stand mein Auto, aber ansonsten war die Straße völlig leer. Keine Leichen, keine Trümmer, nur Brandflecke 75
auf dem Asphalt und eine flache Eindellung am Ort der Explosion. „Verstehe“, sagte der Chauffeur und bremste. „Sie haben schon alles weggeräumt. Da fliegen sie...“ Alle redeten durcheinander und zeigten dabei auf den Horizont in Richtung Marathen, doch wie ich auch den wolkenlosen Himmel mit meinem heilen Auge absuchte, ich konnte nichts sehen. Dann teilten sich die Farmer mit einer Schnelligkeit, die auf gewisse Übung schließen ließ, ohne Hast und Streit in zwei Gruppen zu je zehn Mann. Diese Gruppen bildeten Ketten und gingen das Getreide durchkämmen, die eine rechts, die andere links der Straße. „Die haben Maschinenpistolen“, warnte ich. „Ich glaube, auch Handgranaten.“ – „Das wissen wir“, wurde mir geantwortet, und nach einiger Zeit hörte ich Rufe, die darauf hindeuteten, daß die Treibjäger eine Spur gefunden hatten. Der Fahrer widmete sich unterdes der Instandsetzung meines Wagens. Ich hatte mich auf den Rücksitz gehockt und mich wohlig zurückgelehnt, endlich ein wenig Entspannung für die Nerven! Der Fahrer beseitigte nicht nur den Defekt (eine Luftblase in der Benzinleitung), sondern säuberte auch Vordersitz, Lenkrad und Armaturenbrett. Tränen der Dankbarkeit traten mir in die Augen, ich drückte ihm die Hand und entlohnte ihn, so gut ich konnte. Er war zufrieden. Dieser einfache, gute Mann (seinen Namen habe ich nicht behalten) war überdies sehr gesprächig, im Unterschied zu den meisten Farmern, gleichfalls einfache, gute Männer, jedoch finster und verschlossen. Er erklärte mir vieles von dem, was vorging. Die Insurgenten, vom Volk schlicht Banditen genannt, waren schon am zweiten Tag nach der Ankunft der Marsmenschen im Kreis aufgetaucht. In der ersten Zeit hatten sie mit den Farmern freundschaftlich Umgang gepflogen, und dabei hatte sich gezeigt, daß die meisten von ihnen Einwohner von 76
Marathen waren, zumeist gebildete Männer und auf den ersten Blick harmlos, abgesehen von den Offizieren. Ihre Absichten waren den Farmern unverständlich. Sie riefen die Dorfbewohner auf, sich gegen die neue Welt zu erheben, erklärten jedoch die Notwendigkeit dazu sehr verworren – Untergang der Kultur, Degeneration und sonstige papierne Dinge, die die Interessen der Dörfler nicht berührten. Immerhin beköstigten die Farmer sie und gaben ihnen ein Nachtlager, da die Situation unklar blieb und noch niemand wußte, was von der neuen Ordnung zu erwarten sei. Als sich jedoch herausstellte, daß von der neuen Macht außer Gutem nichts Schlechtes ausging, als die Macht für einen schönen Preis die Ernte auf dem Halm kaufte (genauer gesagt, die Saat), als sie auf die Ernte des blauen Getreides einen großzügigen Vorschuß gewährte, als für den bislang nutzlosen Magensaft gleichsam Geld vom Himmel fiel, als sich andererseits herausstellte, daß die Banditen Vertretern der Administration, die Geld ins Dorf brachten, auflauerten, und als der Bevollmächtigte von Marathen deutlich zu verstehen gab, diese Schweinereien müßten um des Allgemeinwohls willen aufhören, da schlug die Stimmung gegenüber den Insurgenten um. Wir unterbrachen unsere Unterhaltung ein paarmal und horchten. In den Feldern knallten vereinzelte Schüsse, wir nickten jedesmal zufrieden und zwinkerten einander zu. Ich hatte mich gänzlich erholt und setzte mich ans Steuer, um den Wagen zu wenden (kein Gedanke mehr, die Fahrt nach Marathen fortzusetzen; was kümmerte mich Alcimus, wenn es auf den Straßen so zuging), da kehrten die Treibjäger auf die Chaussee zurück. Zuerst schleppten vier Farmer zwei reglose Körper zum Lastwagen. Den einen Toten kannte ich, es war der mit der Baskenmütze, den der Offizier mit Ingenieur angeredet hatte. Der andere, ein Jüngling, fast noch ein Knabe, war 77
mir unbekannt. Mit einiger Erleichterung sah ich, daß er glücklicherweise nicht tot, sondern nur schwer verwundet war. Dann kehrten auch die übrigen Teilnehmer der Treibjagd als fröhlich schwatzendes Häuflein zurück. Sie brachten einen Gefangenen mit gebundenen Händen, den ich ebenfalls erkannte, obwohl er jetzt ohne Brille war. Der Sieg war vollständig, keiner der Farmer zu Schaden gekommen. Ich empfand große moralische Genugtuung, als ich diese einfachen Männer, die eigentlich noch vom Kampf erhitzt sein mußten, trotzdem unstrittigen Edelmut zeigen sah, da sie den gefällten Gegner fast ritterlich behandelten. Der Verwundete wurde verbunden und bedachtsam auf den Lastwagen gelegt. Der Gefangene blieb zwar gefesselt, aber man gab ihm zu trinken und steckte ihm eine Zigarette in den Mund. „So, das wär's“, sagte mein Freund, der Chauffeur. „Jetzt wird es ruhiger in der Gegend.“ Ich hielt es für meine Pflicht, ihm mitzuteilen, daß es im ganzen mindestens fünf Insurgenten gewesen waren. „Macht nichts“, antwortete er. „Sind also zwei entwischt. Die kommen nicht weit. In unserem Kreis und im Nachbarkreis herrscht die gleiche Ordnung. Sie werden abgeknallt oder eingefangen.“ – „Und wo bringt ihr diese hin?“ fragte ich. – „Die fahren wir weg. Vierzig Kilometer von hier ist ein Posten der Marsmenschen. Dort nehmen sie sie, tot oder lebendig, wie du sie bringst.“ Ich dankte ihm noch einmal, drückte ihm die Hand, er ging zu seinem Lastwagen und sagte zu den übrigen: „Na, fahren wir?“ Sie führten den Gefangenen an mir vorbei, er blieb einen Moment stehen und sah mir mit seinen kurzsichtigen Augen direkt ins Gesicht. Vielleicht kam es mir auch nur so vor. Ich hoffe jetzt, daß es mir nur so vorgekommen ist. Aber in seinen Augen war etwas, wovon mir das Herz in die Hosen sank. Was ist die Welt doch dumm! 78
Nein, ich rechtfertige diesen Mann nicht. Er ist Extremist, er ist Partisan, aber er hat getötet und muß bestraft werden. Jedoch bin ich nicht blind. Ich habe sehr deutlich gesehen, daß er edel ist. Kein Schwarzhemd, kein Ignorant, sondern ein Mann mit Überzeugungen. Übrigens hoffe ich jetzt, mich zu irren. Mein Leben lang habe ich darunter zu leiden, daß ich zu gut von den Menschen denke. Der Lastwagen rollte in der einen Richtung davon, ich in der anderen, und eine Stunde später war ich wieder zu Hause, fürchterlich zerschlagen, abgekämpft und krank. Beiläufig sei erwähnt, daß Herr Nicostratus im Salon saß und sich von Artemis Tee einschenken ließ. Aber ich hatte mit den beiden jetzt nichts im Sinn. Hermione sorgte rührend für mich, machte mir das Bett, legte mir Eis aufs Herz, und bald darauf schlief ich ein, und als ich nachts aufwachte, hatte sich das Ekzem weiter verschlimmert. Es war eine qualvolle, entsetzliche Nacht. Temperatur plus siebzehn Grad, bedeckter Himmel, Dauerregen. Ja, sie sind Aufrührer, Menschen, die der allgemeinen Ruhe und Ordnung schaden. Trotzdem tun sie mir leid – so naß, dreckig, gehetzt wie wilde Tiere. Und wofür? Was ist das, Anarchismus? Protest gegen Ungerechtigkeit? Aber gegen welche? Ich verstehe die Leute nicht. Merkwürdig, erst jetzt fällt mir auf, daß ich während der Treibjagd kein Maschinenpistolengeknatter und keine Handgranatendetonationen gehört habe. Vielleicht war ihnen die Munition ausgegangen. 11. Juni (Mitternacht). Hermione wollte, daß ich heute im Bett bleibe, doch ich hörte nicht auf sie und tat gut daran. Mittags fühlte ich mich wieder wohlauf und beschloß, gleich 79
nach dem Essen in die Stadt zu gehen. Der Mensch ist schwach. Ich will nicht verhehlen, daß es mich drängte, den alten Freunden von den schrecklichen und tragischen Erlebnissen zu erzählen, deren Zeuge zu sein ich gestern das Unglück hatte. Beim Essen freilich kamen mir die Ereignisse nicht mehr so tragisch vor, eher romantisch verklärt. Mein Bericht auf dem Platz hatte enormen Erfolg, sie deckten mich mit Fragen ein, und meine kleine Eitelkeit wurde vollauf befriedigt. Lustig war es, Polyphem zu beobachten. (Er ist übrigens das einzige Mitglied der Antimarsmenschenstadtwache, das noch ein Schrotgewehr mit sich herumschleppt.) Als ich den Freunden mein Gespräch mit dem Offizier der Meuterer wiedergab, warf er sich in die Brust und gebärdete sich als Teilnehmer der tollkühnen und gefährlichen Insurgententätigkeit. Er ging so weit, daß er sie als tapfere Jungs bezeichnete, die freilich ungesetzlich handelten. Was er damit sagen wollte, verstanden weder ich noch die übrigen. Er erklärte auch, er anstelle der Insurgenten würde „diesem Bauernpack“ gezeigt haben, was eine Harke ist, und nun kam es fast zur Schlägerei, denn der Bruder von Myrtilus ist Farmer, und Myrtilus stammt ebenfalls aus einer Farmerfamilie. Ich mag keinen Streit, kann ihn nicht ertragen, und während man die Kampfhähne trennte, ging ich in die Bürgermeisterei. Herr Nicostratus behandelte mich ausgesucht liebenswürdig, erkundigte sich teilnahmsvoll nach meinem Befinden und hörte sich meinen Bericht von dem gestrigen Abenteuer voller Mitgefühl an. Nicht nur er, auch alle übrigen Angestellten ließen ihre Arbeit liegen und umdrängten mich, so daß ich auch hier vollen Erfolg hatte. Alle bestätigten mir, daß ich mannhaft gehandelt hätte und mein Verhalten mir Ehre machte. Ich mußte viele Hände drücken, und die reizende Thyone bat sogar, mich küssen zu dürfen, was 80
ich ihr natürlich mit Vergnügen gestattete. (Verdammt noch mal, wie lange hat mich kein junges Mädchen geküßt! Offen gestanden, hatte ich schon vergessen, wie schön das ist.) Hinsichtlich der Rente versicherte mir Herr Nicostratus, wahrscheinlich werde alles gut ausgehen, und teilte mir unterm Siegel der Verschwiegenheit mit, die Frage der Steuern sei endgültig entschieden: Sie würden ab Juli in Magensaft erhoben. Dieses unterhaltsame Gespräch wurde bedauerlicherweise von einem förmlichen Skandal unterbrochen. Die Tür des Bürgermeisterzimmers flog plötzlich auf, Herr Corybantes erschien und schrie mit dem Rücken zu uns auf den Bürgermeister ein, er lasse das nicht auf sich beruhen, das sei Verletzung der Pressefreiheit und Korruption, der Herr Bürgermeister möge an das traurige Schicksal des Herrn Laomedon denken und so weiter. Der Herr Bürgermeister sprach gleichfalls mit erhobener Stimme, dennoch leiser als Herr Corybantes, und so konnte ich nicht verstehen, was er sagte. Herr Corybantes entfernte sich schließlich und schrammte die Tür hinter sich zu, und nun erklärte mir Herr Nicostratus, worum es ging. Der Herr Bürgermeister hatte nämlich unsere Zeitung für eine Woche verboten, zur Strafe dafür, daß Herr Corybantes in der vorgestrigen Nummer das Gedicht eines gewissen XYZ abgedruckt hatte, worin die Zeile vorkam: „Und überm fernen Horizonte, da leuchtet rot der grimme Mars“. Herr Corybantes lehnte es ab, sich dem Beschluß des Bürgermeisters zu fügen, und nun bellten sie sich schon den zweiten Tag telefonisch und persönlich an. Nachdem Herr Nicostratus und ich den Vorfall erörtert hatten, waren wir einhellig der Auffassung, daß in diesem Streit beide Seiten auf ihre Art im Recht und auf ihre Art im Unrecht seien. Einerseits sei die vom Herrn Bürgermeister 81
über die Zeitung verhängte Strafe unmäßig hart, zumal das Gedicht im ganzen völlig harmlos war, da es lediglich von der ungeteilten Liebe des Autors zur Fee der Nacht erzählte. Andererseits aber sei die Situation so, daß es nicht dafür stehe, Staub aufzuwirbeln; man brauche bloß an Minotaurus zu denken, der sich vorgestern wieder hatte vollaufen lassen und mit seinem stinkenden Jauchewagen gegen ein Marsauto gefahren war. Auf den Platz zurückgekehrt, gesellte ich mich wieder zu den Freunden. Der Streit zwischen Polyphem und Myrtilus war beigelegt, und die Unterhaltung verlief in der gewohnten Atmosphäre freundschaftlicher Diskussion. Nicht ohne Vergnügen vermerkte ich, daß mein Bericht die Geister der Anwesenden in eine bestimmte Richtung gelenkt zu haben schien. Sie sprachen über die Insurgenten, über die Kampfmittel der Marsmenschen und ähnliche Themen. Morpheus erzählte, in der Nähe von Miles sei ein Flugapparat der Marsmenschen, der hatte notlanden müssen, weil der Pilot sich noch nicht an die stärkere irdische Anziehungskraft gewöhnt hatte, von einer Gruppe Übeltäter angegriffen worden, habe sie jedoch mit elektrischen Spezialgranaten bis auf den letzten Mann niedergemacht und sei dann selbst in die Luft geflogen unter Hinterlassung eines tiefen Kraters mit gläsernen Wänden. Ganz Miles sei jetzt auf den Beinen, um die Grube in Augenschein zu nehmen. Myrtilus gab einen Bericht seines Bruders, des Farmers, wieder, wonach eine unheimliche Bande von Amazonen Überfälle auf Marsmenschen verübte und sie entführte, um von ihnen Nachkommenschaft zu erhalten. Der einbeinige Polyphem seinerseits erzählte folgendes. Letzte Nacht, als er in der Parkstraße Patrouillendienst versah, hatten sich vier Marsfahrzeuge lautlos an ihn herangepirscht. Eine 82
fremde Stimme habe ihn gebrochen und ekelhaft zischend gefragt, wie man zur Kneipe fahren müsse, und obwohl die Kneipe kein staatlich wichtiges Objekt sei, habe er, Polyphem, aus Stolz und aus Verachtung für die Eroberer die Antwort verweigert, so daß die Marsmenschen das Nachsehen hatten. Polyphem versicherte uns, sein Leben habe an einem Haar gehangen und er habe lange schwarze Läufe auf sich gerichtet gesehen, jedoch aus Dickköpfigkeit keinen Moment geschwankt. „Wieso eigentlich, warum hast du es ihnen nicht gesagt?“ fragte Myrtilus, der die seiner Familie zugefügte Beleidigung noch nicht vergessen hatte. „Ich kenne solche Dreckskerle. Du kommst in eine fremde Stadt, willst was trinken, und kein Mensch sagt dir, wo die Kneipe ist.“ Sie waren schon wieder dicht vor einer Rauferei, doch da kam Pandareus hinzu und erzählte freudestrahlend, Mino– taurus sei endlich aus der Stadt verschwunden. Die Marsmenschen hätten ihn abgeholt, da sie ihn der Verbindung mit den Terroristen und der Sabotage verdächtigten. Wir alle waren empört: In der heißesten Jahreszeit die Stadt ohne Grubenräumer zu lassen war doch geradezu ein Verbrechen! „Jetzt reicht's!“ brüllte der einbeinige Polyphem. „Wir haben das verfluchte Joch lange genug geschleppt. Alle Patrioten hören auf mein Kommando! Antreten!“ Wir stellten uns schon auf, da beruhigte uns Pandareus, indem er sagte, die Marsmenschen hätten vor, schon in der nächsten Woche mit dem Bau einer Kanalisation zu beginnen, und bis dahin werde ein jüngerer Polizist Minotaurus ablösen. Alle sagten, das sei etwas anderes, und das Gespräch kehrte wieder zu den Terroristen zurück. Und dazu, daß es eine Gemeinheit sei, einen Hinterhalt zu legen. Dymas erzählte augenrollend eine gruselige Geschichte, 83
wonach schon seit drei Tagen Leute durch die Stadt gingen und den Passanten Bonbons anboten. „Wenn du so ein Bonbon ißt – zack! –, bist du hin.“ Sie hofften, auf diese Weise sämtliche Marsmenschen zu vergiften. Wir glaubten natürlich nicht an diese Geschichte, fühlten uns aber dennoch unbehaglich. In diesem Moment platzte Kalaides, der schon lange zuckte und speichelte, plötzlich heraus: „A-a-apollos Schwiegersohn ist ja auch Terrorist.“ Alle wichen von mir zurück, Pandareus schob das Kinn vor und erklärte gewichtig: „Stimmt. Wir haben auch solche Informationen.“ Ich war im höchsten Maße empört und erklärte allen, erstens sei der Schwiegervater für den Schwiegersohn nicht verantwortlich, zweitens sei Pandareus' Neffe voriges Jahr wegen Ausschweifungen für fünf Jahre eingebuchtet worden, drittens sei ich seit eh und je mit Charon zerstritten, das könne jeder bestätigen, und viertens wüßte ich nichts Derartiges von Charon – der sei auf Dienstreise und lasse keinen Mucks von sich hören. Es waren unangenehme Minuten, doch die Unsinnigkeit der Beschuldigung war so offensichtlich, daß alles gut ausging und die Unterhaltung sich wieder dem Magensaft zuwandte. Nun stellte sich heraus, daß die Freunde sämtlich schon den zweiten Tag Magensaft ablieferten und dafür bares Geld kassierten. Nur ich stand abseits. Unbegreiflicherweise stehe ich immer abseits von dem, was für mich günstig ist. Es gibt solche Pechvögel: In der Kaserne säubern sie ewig die Latrinen, an der Front geraten sie in den Kessel, alle Unannehmlichkeiten begegnen ihnen zuerst, alle Annehmlichkeiten zuletzt. So einer bin ich. Na schön. Die Freunde prahlten, wie zufrieden sie jetzt waren. Kunststück! Da kam ein Marsauto auf den Platz, und der einbeinige Polyphem sagte nachdenklich: „Was meint ihr, alte 84
Freunde, wenn ich dem jetzt eine Schrotladung verpasse, schlägt die durch oder nicht?“ – „Wenn es zum Beispiel eine Kugel ist, schlägt sie wahrscheinlich durch“, sagte Silen. „Je nachdem, wo sie trifft“, widersprach Myrtilus. „Trifft sie frontal oder von hinten, dann schlägt sie auf keinen Fall durch.“ – „Und wenn sie die Bordwand trifft?“ fragte Polyphem. „Dann schlägt sie bestimmt durch“, antwortete Myrtilus. Gerade wollte ich bemerken, daß nicht mal eine Handgranate durchschlagen würde, da kam Pandareus mir zuvor und sagte tiefsinnig: „Nein, alte Freunde, streitet euch nicht. Sie sind unverletzlich.“ – „Auch die Bordwand?“ fragte Morpheus giftig. „Das betrifft alles“, sagte Pandareus. „Was denn, auch gegenüber einer Kugel?“ fragte Myrtilus. „Und wenn du mit der Kanone schießt“, sagte Pandareus und machte sich ungeheuer wichtig. Da schüttelten alle den Kopf und klopften ihm auf die Schultern. „Na, Pan, bei dir piept's ja“, sagten sie. „Hast Bockmist geredet, alter Pan. Hast drauflosgeschwatzt, ohne zu überlegen, Alterchen.“ Und der gallige Paralus stichelte, wenn Pandareus mit einer Kanone das Heck träfe, bliebe vielleicht eine Beule zurück, träfe er jedoch frontal, so gäbe es einen Abpraller, und basta. Nun, Pandareus plusterte sich auf, schloß sämtliche Knöpfe seines Waffenrockes, rollte die Stielaugen und kläffte: „Unterhaltung been-det! Auseinandergehen! Im Namen des Gesetzes.“ Ohne Zeit zu verlieren, eilte ich zur Spendenannahmestelle. Natürlich erwartete mich wieder ein Fehlschlag. Man nahm mir keinen Magensaft ab und gab mir auch kein Geld. Bei denen ist es üblich, den Magensaft nur bei absoluter Nüchternheit abzupumpen, ich hatte erst vor zwei Stunden Mittag gegessen. Man händigte mir eine Spenderkarte aus und lud mich ein, am nächsten Morgen wiederzukommen. Im übrigen muß ich sagen, daß die Annahmestelle auf mich 85
den besten Eindruck machte. Modernste Ausstattung. Die Sonde wird mit feinster Vaseline eingeschmiert. Das Abziehen des Magensafts geschieht automatisch, doch unter Aufsicht eines erfahrenen Arztes und nicht irgendeines Schlägertyps. Das Personal ist ausgesucht höflich und freundlich, man merkt sofort, daß es gut bezahlt wird. Alles blitzt vor Sauberkeit, das Mobiliar ist nagelneu. Während man wartet, daß man an die Reihe kommt, kann man fernsehen oder die Tageszeitungen lesen. Und warten muß man weniger lange als in der Kneipe. Das Geld wird sofort ausgezahlt, direkt aus einem Automaten. Ja, man spürt an allem hohe Kultur, Humanität, Sorge um den Spender. Wenn man bedenkt, daß dieses Haus noch vor drei Tagen Schlupfwinkel eines Mannes wie Herr Laomedon war! Der Gedanke an meinen Schwiegersohn ließ mir keine Ruhe, und ich hielt es für notwendig, dieses neue ärgerliche Problem mit Achilles zu besprechen. Ich fand ihn wie immer an der Kasse beim Betrachten seines Briefmarkenalbums. Der Bericht über meine Abenteuer machte gewaltigen Eindruck auf ihn, und ich spürte, daß er mich jetzt mit ganz anderen Augen ansah. Als die Rede jedoch auf Charon kam, zuckte er nur die Achseln und sagte, meine Taten und die Gefahren, denen ich ausgesetzt war, rehabilitierten nicht nur mich vollständig, sondern möglicherweise auch Charon. Überdies bezweifelte er, daß Charon fähig sei, sich an etwas Ungebührlichem zu beteiligen. Charon, so erklärte er, halte sich jetzt höchstwahrscheinlich in Marathen auf und betätige sich bei der Wiederherstellung der Ordnung, bestrebt, etwas Nützliches für die Heimatstadt zu tun, wie es jedem kultivierten Bürger zieme, während die hiesigen Neider, alle diese Pandareusse und Kalaidesse, nur verantwortungslos quasselten und ihn verleumdeten. Was Charon betraf, so hatte ich meine leisen Zweifel, 86
aber ich schwieg natürlich und wunderte mich nur, wie schlecht wir Einwohner eines doch recht kleinen Städtchens einander kannten. Ich sah ein, daß es sinnlos war, mit Achilles über dieses Thema zu reden, tat, als ob seine Auslassungen mich gänzlich beruhigt hätten, und brachte das Gespräch auf die Briefmarken. Und da kam es zu diesem erstaunlichen Vorfall. Ich weiß noch, daß ich anfangs ein bißchen gezwungen sprach, denn mein wichtigstes Ziel war, Achilles von dem Thema Charon wegzulotsen. Die Rede kam auf einen sagenhaften Fehldruck. Ich hatte Achilles seinerzeit unwiderleglich nachgewiesen, daß er eine Fälschung war, und die Frage konnte als gelöst gelten. Achilles hatte jedoch am Vortag ein Büchlein gelesen und wähnte sich nunmehr befähigt, ein eigenes Urteil abzugeben. Das war in unseren Beziehungen noch nie da. Natürlich geriet ich in Wut und warf ihm ins Gesicht, er habe keine Ahnung von Philatelie und habe noch vor Jahresfrist eine Klemmappe von einem Steckalbum nicht unterscheiden können und nicht zufällig sei seine Sammlung voll von verhunzten Exemplaren. Achilles brauste gleichfalls auf, und nun begann eine selbstvergessene Schimpferei, wie ich sie nur mit Achilles fertigbringe und auch nur zum Thema Briefmarken. Wie im Nebel nahm ich wahr, daß während unseres Streits jemand die Apotheke betrat und Achilles über meine Schultern hinweg ein Papier reichte und wie Achilles für einen Moment verstummte, was ich ungesäumt ausnutzte, um seine dilettantischen Auslassungen zu zerkeilen. In Erinnerung blieb mir das ärgerliche Gefühl einer Störung, etwas Abseitiges drängte sich aufdringlich in mein Bewußtsein und hinderte mich, folgerichtig und logisch zu denken. Aber dann verflog das, und die nächste Etappe dieses vom psychologischen Standpunkt interessanten Vorfalls war der 87
Moment, in dem unser Streit zu Ende ging und wir still wurden, ermüdet und ein wenig böse aufeinander. Ich erinnere mich, daß ich genau in diesem Moment plötzlich das unabwendbare Bedürfnis spürte, den Blick durch den Raum gleiten zu lassen, und mich dunkel wunderte, keine Veränderungen zu bemerken. Dabei war mir deutlich bewußt, daß während unseres Streits irgend etwas vorgegangen sein mußte. Achilles schien sich ebenfalls unbehaglich zu fühlen. Auch er sah sich um, ging den Ladentisch entlang, spähte darunter. Endlich fragte er: „Sag mal, bitte, Phöbus, war nicht jemand hier?“ Offenkundig plagte ihn das gleiche wie mich. Seine Frage setzte den Punkt aufs i, und nun wußte ich, worauf meine Verständnislosigkeit zurückging. „Die blaue Hand!“ rief ich, von einer plötzlichen Erinnerung erleuchtet. Deutlich sah ich wieder die blauen Finger, die das Papier hielten, vor mir. „Nein, das war keine Hand!“ sagte Achilles hitzig. „Ein Fangarm! Wie bei einem Kraken!“ – „Aber ich erinnere mich genau an Finger ...“ – „Ein Fangarm wie bei einem Polypen!“ wiederholte Achilles und warf fieberhafte Blicke um sich. Dann schnappte er das Rezeptbuch vom Ladentisch und blätterte hastig. Alles in mir erstarrte in einem peinigenden Vorgefühl. Ein Blatt Papier in der Hand, hob er langsam die weit aufgerissenen Augen zu mir, und ich wußte schon, was jetzt kam. „Phöbus“, stieß er mit erstickter Stimme hervor. „Das war ein Marsmensch.“ Wir waren beide erschüttert, und Achilles als ein Mann, der doch der Medizin nahestand, erachtete es als notwendig, mich und sich mit einem Kognak zu stärken. Die Flasche entnahm er einem großen Pappkarton mit der Aufschrift „Norsulfasolum“. Ja, während wir uns über den unglückseligen Fehldruck stritten, hatte ein Marsmensch Achilles die schriftliche Anordnung einge88
händigt, dem Überbringer sämtliche Arzneimittel auszufolgen, die Narkotika enthielten, und Achilles hatte ihm völlig gedankenlos das bereitliegende Paket mit den Medikamenten gegeben, worauf der Marsmensch sich entfernt hatte, ohne in unserem Gedächtnis etwas anderes zu hinterlassen als Erinnerungsfetzen und eine nur mit halbem Auge wahrgenommene, verschwommene Gestalt. Die blaue Hand war mir deutlich in Erinnerung, mit spärlichen, kurzen Haaren bedeckt, die fleischigen Finger hatten keine Nägel, und ich war verblüfft, daß ein derartiger Anblick nicht schlagartig die Fähigkeit, abstrakte Streitgespräche zu führen, aus meinem Kopf vertrieben hatte. Achilles erinnerte sich an keine Hand, dafür an einen langen, unentwegt pulsierenden Fangarm, der sich ihm wie aus dem Nichts entgegenstreckte. Überdies wußte er noch, daß dieser Anblick ihn heftig gereizt hatte, da er ihn als ganz unangebrachten Scherz empfand. Auch wußte er noch, wie er das Paket mit den Medikamenten wütend auf den Ladentisch knallte, ohne hinzusehen, dafür war ihm gänzlich entfallen, ob er das Rezept gelesen und ins Registrierbuch getan hatte, dabei lag auf der Hand, daß er es gelesen (er hatte ja die Medikamente ausgefolgt) und ins Buch gelegt hatte (denn es lag ja darin). Wir tranken jeder noch einen Kognak, und Achilles meinte, der Marsmensch habe links von ihm gestanden und einen modischen Westover getragen. Ich wußte noch, daß an einem der blauen Finger ein funkelnder Ring aus weißem Metall mit einem Edelstein gesteckt hatte. Außerdem erinnerte ich mich an das Geräusch eines Automotors. Achilles rieb sich die Stirn und erklärte, der Anblick des Rezepts erinnere ihn an ein Gefühl der Unbehaglichkeit, hervorgerufen durch jemandes ungehörig aufdringliche Versuche, sich in unsern Streit einzumischen, und das von einem ganz 89
absurden Standpunkt zur Philatelie im allgemeinen und zu Fehldrucken im besonderen. Da fiel mir auch wieder ein, daß der Marsmensch gesprochen hatte, mit einer durchdringenden und unangenehmen Stimme. „Nein, sie war eher tief und herablassend“, widersprach Achilles. Ich blieb jedoch bei meiner Meinung, und Achilles, der schon wieder in Rage geriet, rief seinen jüngsten Provisor aus dem Labor und fragte ihn, was für Laute er in der letzten Stunde gehört habe. Der Provisor, ein selten unbedarfter Spund, klapperte mit seinen dummen Augen und stammelte, er habe die ganze Zeit über nur unsere Stimmen gehört und nur einmal scheine jemand das Radio eingeschaltet zu haben, doch darauf habe er nicht besonders geachtet. Wir schickten ihn weg und tranken jeder noch einen Tropfen Kognak. Unser Gedächtnis war nun vollends aufgehellt, und obwohl unsere Meinungen über das Aussehen des Marsmenschen noch immer auseinandergingen, waren wir uns einig bei der Rekapitulierung des Ereignisablaufs. Der Marsmensch war unstrittig mit dem Wagen bei der Apotheke vorgefahren, war, ohne den Motor abzuschalten, eingetreten, hatte einige Zeit unbeweglich links hinter mir gestanden, uns gemustert und unserem Gespräch gelauscht. (Eine Gänsehaut überlief mich, als ich mir meiner völligen Schutzlosigkeit in jenem schrecklichen Moment bewußt wurde.) Dann hatte er uns ein paar Bemerkungen gemacht, die sich wohl auf die Philatelie bezogen, aber von keiner Sachkenntnis getrübt waren, und Achilles das Rezept gereicht, welches dieser genommen, flüchtig gelesen und ins Registrierbuch geschoben hatte. Des weiteren hatte Achilles immer erbitterter über die Störung, das Paket mit den Medikamenten hingegeben, und der Marsmensch war gegangen, einsehend, daß wir ihn nicht ins Gespräch ziehen wollten. Auf diese Weise ent90
stand ohne Details das abstrakte Bild eines Wesens, das sich zwar in Fragen der Philatelie nicht auskannte, ansonsten jedoch nicht ohne Erziehung und eine gewisse Humanität war, wenn man bedenkt, daß er während seiner Anwesenheit mit uns hätte machen können, was er wollte. Wir leerten jeder noch ein Gläschen Kognak und fühlten uns nicht länger imstande, hierzubleiben und unsere Freunde in Unkenntnis über diesen Vorfall zu belassen. Achilles verwahrte die Flasche, übergab die Aufsicht dem Provisor, und wir eilten zur Kneipe. Unser Bericht über den Besuch des Marsmenschen wurde von den Freunden unterschiedlich aufgenommen. Der einbeinige Polyphem hielt ihn für glatt erlogen. „Schnuppert doch bloß mal, was die für eine Fahne haben“, sagte er. „Sie haben sich vollaufen lassen, daß sie schon blaue Gespenster sehen.“ Der bedächtige Silen mutmaßte, das sei kein Marsmensch gewesen, sondern ein Neger, die hätten manchmal eine bläuliche Schattierung. Nun, Paralus blieb natürlich Paralus. „Einen schönen Apotheker haben wir“, sagte er gallig. „Da kommt irgendwer von irgendwo, hält ihm einen Wisch unter die Nase, und schon rückt er alles raus, ohne zu mucksen. Nein, mit solchen Apothekern können wir keine vernünftige Gesellschaft aufbauen. Was ist das für ein Apotheker, der wegen seiner blöden Briefmarken nicht weiß, was er anrichtet?“ Aber alle übrigen waren auf unserer Seite, die ganze Kneipe umdrängte uns, selbst die blühende Jugend mit Herrn Nicostratus an der Spitze löste sich von der Theke, um zuzuhören. Wir mußten immer wieder erzählen, wo der Marsmensch gestanden, wie er seine Extremität ausgestreckt hatte und so weiter. Bald bemerkte ich, daß Achilles anfing, seinen Bericht mit zumeist haarsträubenden Details auszuschmücken. (Danach hatte der Marsmensch mit zwei Augen geklappert wie wir, 91
solange er schwieg, doch kaum hatte er den Mund aufgetan, da wären zwei zusätzliche Augen erschienen, das eine rot, das andere weiß.) Ich machte ihm Vorhaltungen, doch er entgegnete, daß Kognak und Brandy in erstaunlicher Weise auf das menschliche Gedächtnis wirkten, das sei medizinisch erwiesen. Ich entschied mich, nicht mit ihm zu streiten, bestellte bei Japetus ein Abendessen und beobachtete innerlich grinsend, wie Achilles sich zielstrebig kompromittierte. Knapp zehn Minuten später begriffen alle, daß er sich festgelogen hatte, und achteten nicht mehr auf ihn. Die blühende Jugend kehrte zur Theke zurück, und bald hörten wir von dort gewohnte Äußerungen: „Es hängt mir zum Halse heraus ... Langweilig ist es hier. Marsmenschen? Quatsch, Blödsinn ... Was könnten wir denn heute anstellen, Männer?“ An unserem Tisch wurde der alte Streit über den Magensaft wieder aufgewärmt. Was das sei, wozu das tauge, wozu die Marsmenschen ihn brauchten und wozu wir selbst. Achilles erklärte, der Mensch benötige den Magensaft, um seine Nahrung zu verdauen, dies sei ohne Magensaft unmöglich. Aber seine Autorität war bereits angeknackst, und niemand glaubte ihm. „Halt lieber den Rand, alte Klistierspritze“, sagte ihm Polyphem. „Das kann gar nicht sein. Schon seit drei Tagen liefere ich diesen Saft ab, und ich verdaue immer noch prächtig. So müßtest du mal verdauen.“ In unserer Not wandten wir uns um Rat an Kalaides, aber das führte wieder mal zu nichts. Nach langen Kämpfen, die in qualvoller Erwartung von der ganzen Kneipe beobachtet wurden, brachte er heraus: „Ei-ei-ein Gendarm ist mit dreißig Jahren schon ein alter Mann, wenn du's wissen willst.“ Diese Worte bezogen sich auf ein halbvergessenes Gespräch, das vor dem Mittagessen auf dem Platz stattgefunden hatte, und galten nicht uns, sondern Pandareus, der 92
längst zum Dienst gegangen war. Wir ließen von Kalaides ab, damit er eine Antwort auf unsere Frage gebären konnte, und verloren uns in Spekulationen. Silen mutmaßte, die Zivilisation des Mars sei in physiologischer Hinsicht in eine Sackgasse geraten, die Marsmenschen könnten selber keinen Magensaft mehr produzieren und seien genötigt, andere Quellen anzuzapfen. Japetus rief von der Theke her, die Marsmenschen benutzen den Magensaft als Gärmittel zur Erzeugung einer besonderen Form von Energie. „Ähnlich wie Atomenergie“, setzte er nach kurzem Überlegen hinzu. Der Esel Dymas, der sich noch nie durch kühnen Flug der Phantasie ausgezeichnet hat, behauptete, der menschliche Magensaft sei für die Marsmenschen dasselbe wie für uns Kognak oder Bier oder etwa Wacholderschnaps, und verdarb damit allen, die gerade aßen, den Appetit. Einer äußerte die Vermutung, die Marsmenschen gewännen daraus Gold oder seltene Metalle, und diese närrische Vermutung brachte Morpheus auf einen sehr richtigen Gedanken. „Leute“, sagte er, „ist ja wahr: Ob sie nun Gold daraus machen oder Energie, jedenfalls müssen wir begreifen, daß unser Magensaft für die Marsmenschen sehr wichtig ist. Für dumm können sie uns nicht verkaufen, was?“ Zuerst verstand ihn keiner, doch dann ging uns auf, daß ja niemand den Wert des Magensafts kannte; wer weiß, wonach sie ihren Preis festgesetzt hatten. Durchaus möglich, daß die Marsmenschen, gewiß praktische Leute, aus diesem Unternehmen unter Ausnutzung unserer Unwissenheit unverhältnismäßig hohen Gewinn schlugen. „Sie geben uns einen Pappenstiel dafür“, wütete der einbeinige Polyphem, „dann verscheuern sie ihn zum tatsächlichen Preis an irgendeinen Kometen.“ Ich wagte es, ihn zu korrigieren, daß er wohl keinen Kometen, sondern einen Planeten meine, worauf er mir mit der ihm eigenen Grobheit nahelegte, 93
zuerst mal mein Auge zu kurieren und mich dann in Streitigkeiten einzumischen. Aber darum ging's nicht. Morpheus' Vermutung hatte uns alle aufgeschreckt, und es wäre wohl zu einem inhaltsreichen und nützlichen Gespräch gekommen, doch da brachen Myrtilus und sein Bruder, der Farmer, in die Kneipe herein, beide stockbetrunken. Wir erfuhren, daß Myrtilus' Bruder schon seit ein paar Tagen damit herumexperimentierte, aus dem Blaukorn Schnaps zu brennen, und daß diese Versuche heute endlich von Erfolg gekrönt waren. Zwei tüchtige Flaschen mit dem blauen Gebräu wurden auf den Tisch gestellt. Schon waren alle abgelenkt und probierten, und ich muß sagen, der „Blaubrand“ machte großen Eindruck. Myrtilus bat zu seinem eigenen Schaden Japetus an den Tisch und ließ ihn kosten. Japetus leerte zwei Gläser, stand ein Weilchen mit geschlossenem linkem Auge da, als ob er überlegte, dann sagte er plötzlich: „So, nun raus hier, ich will euch hier nie wieder sehen.“ Das war in einem solchen Ton gesagt, daß Myrtilus ohne ein weiteres Wort die geleerten Flaschen und seinen eingeschlummerten Bruder griff und sich eiligst entfernte. Japetus ließ einen schweren Blick über uns gleiten, sagte: „Was sind das für Manieren, mit eigenem Gesöff in mein Etablissement zu kommen“ und kehrte hinter die Theke zurück. Um die Peinlichkeit aus der Welt zu schaffen, bestellten wir alle noch etwas zu trinken, doch die frühere Ungezwungenheit war dahin. Ich blieb noch eine halbe Stunde da, dann ging ich nach Hause. Im Salon saß Herr Nicostratus in Charons Sessel, Artemis gegenüber, und trank Tee mit Konfitüre. Ich mischte mich nicht ein. Erstens stand Charon doch wohl schon auf eigenen Füßen, und es war ungewiß, ob er überhaupt zurückkam, und zweitens mußte Hermione irgendwo in der Nähe sein, und ich hatte eine solche Fahne, daß ich es schon 94
selber roch. Darum zog ich es vor, leise in mein Zimmer zu schlüpfen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Ich bezwang mich und sah die Zeitungen durch. Höchst merkwürdig! Sechzehn Spalten und lauter Belanglosigkeiten – als ob man Watte kaute. Der Präsident hatte eine Pressekonferenz gegeben. Ich las zweimal, was er gesagt hatte, und begriff überhaupt nichts – nur Magensaft. Mal sehen, was Hermione so macht. 12. Juni Temperatur plus zwanzig Grad, keine Bewölkung, Windstille. Nach dem Blaubrand stoße ich scheußlich auf. Mir brummt der Schädel, und ich sitze den ganzen Tag zu Hause. Eine gastronomische Neuheit – blaues Brot. Hermione lobt es, Artemis schmeckt es auch, nur ich esse es ohne jeden Appetit. Ganz gewöhnliches Brot, bloß eben blau. 13.Juni Endlich scheint sich das Sommerwetter zu halten. Temperatur plus zweiundzwanzig Grad, keine Bewöl ... Man macht was mit! Ich weiß gar nicht, womit beginnen. Wegen der Rente ist noch nichts bekannt, aber darum geht's jetzt nicht. Ich hatte gerade mit der heutigen Niederschrift begonnen, da hörte ich einen Wagen vorfahren. Ich dachte schon, es wäre Myrtilus mit den versprochenen Flaschen Blaubrand von der Farm, und blickte hinaus. Gerade rechtzeitig. Zuerst entdeckte ich unter der Laterne einen unbekannten Personenwagen, ein prachtvolles Fahrzeug, und dann sah ich Charon entschlossen durch den Garten direkt auf die Bank zugehen, wo seit dem Abend Artemis und Herr Nicostratus saßen. Ich konnte nicht mal mit den Augen klappern, da flog der Herr Nicostratus schon achtkantig 95
über den Zaun. Schwungvoll schmiß Charon ihm Stock und Hut hinterher, doch Herr Nicostratus blieb nicht stehen, um sie aufzulesen, sondern beschleunigte nur seinen Galopp. Dann nahm Charon sich Artemis vor. Ich konnte schlecht sehen, was zwischen ihnen vorging, hatte jedoch den Eindruck, daß Artemis erst einmal versuchte, in Ohnmacht zu fallen, aber, nachdem Charon ihr eine Ohrfeige versetzt hatte, von diesem Vorhaben abstand und ihren berühmten Charakter einsetzte. Sie stieß ein langgedehntes, ohrenzerfetzendes Kreischen aus und zog Charon ihre Nägel durch die Physiognomie. Ich wiederhole, all das konnte ich nicht sehen. Doch als ich ein paar Minuten später in den Salon schaute, tigerte Charon, die Hände auf dem Rücken, von einer Ecke in die andere, und ein frischer roter Kratzer zierte seine Nase. Artemis deckte geschäftig den Tisch, und mir fiel auf, daß ihr Gesicht ein wenig asymmetrisch aussah. Ich kann Familienszenen nicht leiden, werde immer ganz schwach davon und möchte dann weggehen und nichts hören noch sehen. Aber Charon entdeckte mich, ehe ich wieder verschwinden konnte, und begrüßte mich. Ich war vor allem angenehm überrascht, daß Charon ganz anders aussah, als ich erwartet hatte. Er war keineswegs der unrasierte und abgerissene Vagabund, der hier vor einer Woche mit Waffen geklirrt und herumgeschimpft hatte. Ich nahm eigentlich an, er würde noch abgerissener und noch schmutziger aussehen. Aber vor mir saß der alte Charon aus Friedenszeiten, glatt rasiert, wohlgekämmt, elegant und geschmackvoll gekleidet. Nur der rote Schmiß auf seiner Nase minderte den Gesamteindruck, und die ungewohnt braune Gesichtsfarbe deutete darauf hin, daß dieser Stubenmensch die letzten Tage viel unter freiem Himmel geweilt hatte. Hermione kam mit Lockenwicklern herein, entschuldigte 96
sich für ihr Aussehen und setzte sich mit an den Tisch, und da aßen wir nun wie in alten Zeiten zu viert, eine einige, friedliche Familie. Bis die Frauen abräumten und sich entfernten, drehte sich das Gespräch um allgemeine Themen: Wetter, Gesundheit, das Aussehen jedes einzelnen. Als wir jedoch allein geblieben waren, zündete Charon sich eine Zigarre an und sagte mit einem seltsamen Blick auf mich: „Nun, Vater, ist unsere Sache verloren?“ Statt einer Antwort zuckte ich die Achseln, obwohl ich am liebsten gesagt hätte, wenn jemandes Sache verloren sei, so jedenfalls nicht unsere. Übrigens hatte Charon wohl auch keine Antwort erwartet. In Gegenwart der Frauen hatte er sich zurückgehalten, doch jetzt bemerkte ich, daß er sich in jenem fast krankhaften Erregungszustand befand, in dem der Mensch jäh von nervösem Lachen zu nervösem Weinen wechselt, innerlich kocht und das– unbezwingbare Verlangen hat, dieses Kochen in Worte zu fassen, deshalb redet, redet und redet. Und Charon redete. Die Menschheit habe keine Zukunft mehr, sagte er. Der Mensch habe aufgehört, Krone der Schöpfung zu sein. Von nun an und in alle Ewigkeit werde er eine beliebige Naturerscheinung sein wie ein Baum oder ein Pferd, mehr nicht. Kultur und Fortschritt hätten schlechthin jeden Sinn verloren. Die Menschheit bedürfe nicht mehr der Selbstentwicklung, man würde sie von außen weiterentwickeln, und dazu brauchte es keine Schulen mehr, keine Institute und Laboratorien, keine öffentliche Meinung, keine Philosophie und Literatur, kurzum, nichts von dem, was den Menschen vom Vieh unterscheide und was sich bis auf den heutigen Tag Zivilisation nenne. Als Magensaftfabrik, sagte er, wäre Albert Einstein nicht besser, eher schlechter als Pandareus, denn Pandareus sei von einmaliger Gefräßigkeit. Nicht im Donner einer kosmischen Katastrophe, nicht 97
im Lodern eines Atomkriegs und nicht einmal im Gedränge der Überbevölkerung, sondern in satter, ruhiger Stille gehe, bitte schön, die Geschichte der Menschheit zu Ende. „Man denke nur“, sagte er schluchzend und legte den Kopf in die Hände, „nicht ballistische Raketen, sondern eine Handvoll Kupfermünzen für ein Glas Magensaft haben die Zivilisation zugrunde gerichtet .. .“ Er sprach natürlich viel länger und effektvoller, doch ich nehme abstrakte Erörterungen schlecht auf und habe mir nur dies gemerkt. Ich gebe zu, anfangs gelang es ihm, auch mich schwermütig zu stimmen. Aber ich begriff recht bald, daß alles, was er sagte, schlicht der hysterische Wortschwall eines gebildeten Menschen war, der den Zusammenbruch seiner persönlichen Ideale erlebt hat. Und ich empfand das Bedürfnis, ihm zu widersprechen. Natürlich nicht, weil ich gehofft hätte, ihn umzustimmen, sondern weil seine Erörterungen mich tief betroffen machten, ich sie hochtrabend und unbescheiden fand und überdies den bedrückenden Eindruck loswerden wollte, den sein Lamento auf mich gemacht hatte. „Du hast es im Leben zu gut gehabt, mein Sohn“, sagte ich ihm ins Gesicht. „Du bist verwöhnt. Du weißt nichts vom Leben. Man merkt gleich, daß dir nie einer die Zähne eingeschlagen hat, daß du nie im Schützengraben gefroren und in Gefangenschaft Baumstämme verladen hast. Du hattest immer satt zu essen und genügend Geld. Nun hast du dir angewöhnt, die Welt mit den Augen eines Olympiers, eines Übermenschen anzusehen. Welcher Jammer – die Zivilisation für eine Handvoll Kupfermünzen verkauft! Sag lieber Dankeschön, daß man dir diese Kupfermünzen gibt! Dir bedeuten sie freilich nichts. Eine Witwe aber, die allein drei Kinder großzieht, die sie füttern, kleiden und unterrichten muß? Oder Polyphem, der Krüppel, der eine win98
zige Rente bekommt? Und der Farmer? Was habt ihr dem geboten? Fragwürdige soziale Ideen? Büchlein und Broschüren? Eure ästhetische Philosophie? Schnurzegal ist das alles dem Farmer! Er braucht Kleidung, Maschinen, Vertrauen in den nächsten Tag! Er braucht die beständige Möglichkeit, eine Ernte heranzuziehen und einen guten Preis dafür zu erzielen. Konntet ihr ihm das geben? Ihr mit eurer Zivilisation! Niemand konnte das in zehntausend Jahren, doch die Marsmenschen, die haben's ihm gegeben! Ihr braucht euch nicht zu wundern, wenn euch die Farmer jetzt hetzen wie wilde Tiere! Niemand kann euch gebrauchen mit euren Diskussionen, mit eurem Snobismus, euren abstrakten Predigten, die sehr leicht in MPi-Geballer umschlagen. Der Farmer braucht euch nicht, der Marsmensch braucht euch nicht. Ich bin sogar überzeugt, daß auch die vernünftige Mehrheit der Gebildeten euch nicht braucht. Ihr haltet euch für die Blüte der Zivilisation, doch in Wirklichkeit seid ihr Schimmel, der auf ihren Säften wächst. Ihr bildet euch viel zuviel ein und wähnt jetzt, euer Tod wäre der Tod der gesamten Menschheit.“ Ich hatte den Eindruck, ihn mit meiner Rede förmlich erschlagen zu haben. Er saß da, das Gesicht mit den Händen verdeckend, und zitterte am ganzen Leibe; er war so kläglich, daß mir das Herz blutete. „Charon“, sagte ich möglichst sanft, „mein Junge, versuch doch mal, wenigstens für eine Minute aus den Wolkensphären auf die sündige Erde herabzusteigen. Versuch zu begreifen, daß der Mensch auf der Welt vor allem Ruhe und Frieden und Vertrauen in den nächsten Tag braucht. Es ist doch gar nichts Schreckliches passiert. Ihr sagt, der Mensch sei jetzt zu einer Magensaftfabrik geworden. Das sind harte Worte, Charon. In Wirklichkeit ist es umgekehrt. Der Mensch ist unter neue Existenzbedingungen geraten 99
und hat eine vortreffliche Methode gefunden, seine physiologischen Ressourcen zur Stabilisierung seiner Stellung in dieser Welt zu nutzen. Du nennst das Sklaverei, doch jeder vernünftige Mensch sieht darin ein gewöhnliches Handelsgeschäft, das zum gegenseitigen Nutzen getätigt wird. Wie kann von Sklaverei die Rede sein, wenn der vernünftige Mensch schon jetzt überlegt, ob er betrogen wird? Und wenn er betrogen wird, dann, das versichere ich dir, wird er sich Gerechtigkeit zu verschaffen wissen. Du sprichst vom Ende der Kultur und Zivilisation, dabei stimmt das gar nicht! Man versteht nicht einmal, was du meinst. Täglich erscheinen Zeitungen, neue Bücher werden verlegt, neue Fernsehspiele geschrieben, die Industrieproduktion läuft... Was fehlt dir eigentlich, Charon? Dir ist alles geblieben, was du hattest: Freiheit des Wortes, Selbstverwaltung, Verfassung. Mehr noch, man hat dich gegen den Herrn Laomedon in Schutz genommen! Schließlich und endlich hat man dir eine ständige sichere Einkommensquelle gegeben, die von keiner Konjunktur abhängt.“ An dieser Stelle hielt ich inne, denn ich sah, daß Charon keineswegs erschlagen war noch schluchzte, wie ich geglaubt hatte, sondern aufs unanständigste kicherte. Ich fühlte mich zutiefst beleidigt, doch da sagte er: „Um Gottes willen, entschuldige, ich wollte dich nicht kränken. Mir ist nur eine komische Geschichte eingefallen.“ Charon hatte vor zwei Tagen an der Spitze einer fünfköpfigen Insurgentengruppe ein Marsauto gekapert. Wer beschreibt ihre Verwunderung, als dem Wagen der stocknüchterne Mino-taurus entstieg, eine tragbare Magensaftpumpe in der Hand. „Na, Jungs, wollt ihr einen heben?“ fragte er. „Na los, das läßt sich sofort einrichten. Wer will als erster?“ Die Insurgenten waren perplex. Als sie zur Besinnung kamen, verdroschen sie lautlos Minotaurus wegen seines Verrats und entließen 100
ihn dann mitsamt dem Fahrzeug. Sie hatten ein Auto kapern und die Steuerung kennenlernen wollen, um damit einen Posten der Marsmenschen zu überfallen und dort ein Gemetzel zu veranstalten, doch nach dieser Episode verfielen sie in totale Lustlosigkeit. Am Abend desselben Tages gingen zwei von ihnen nach Hause, und die übrigen wurden am nächsten Morgen von den Farmern erwischt. Ich begriff nicht ganz, was diese Geschichte mit unserem Gesprächsthema u tun hatte, aber mich verblüffte der Gedanke, Charon müsse folglich Gefangener der Marsmenschen gewesen sein. „Ja“, antwortete er auf meine Frage, „deshalb hab ich ja gelacht. Die Marsmenschen haben mir nämlich haargenau dasselbe erzählt wie du. Allerdings ein bißchen klarer. Besonderen Nachdruck legten sie darauf, daß ich zur Elite der Gesellschaft gehöre, daß sie größte Achtung vor mir hätten und nicht verstünden, warum ich und meinesgleichen Terrorakte veranstalteten, statt eine vernünftige Opposition zu gründen. Sie bieten uns an, mit legalen Mitteln gegen sie zu kämpfen, und garantieren völlige Presse- und Versammlungsfreiheit. Prächtige Burschen, die Marsmenschen, wie?“ Was konnte ich ihm antworten? Besonders als ich hörte, daß sie ihn sehr gut behandelt, ihm ein Bad, Kleidung und ärztliche Versorgung zugestanden und ihm sogar ein Auto gegeben hatten, das bei dem Besitzer einer Opiumhöhle beschlagnahmt worden war, worauf sie ihn in Frieden ziehen ließen. „Mir fehlen die Worte“, sagte ich und breitete die Arme aus. „Mir auch“, entgegnete Charon, der wieder finster wurde. „Leider fehlen mir vorerst auch die Worte, aber ich muß sie finden. Was sind wir alle wert, wenn wir keine Worte finden?“ Hier wünschte er mir unvermittelt eine gute 101
Nacht und ging in sein Zimmer, und ich blieb sitzen wie ein Idiot, von scheußlichen Vorgefühlen erfaßt. Oh, das würde noch Scherereien mit ihm geben! Ganz sicher! Und was war das für eine gräßliche Manier, zu gehen, ohne den Streit beendet zu haben? Schon ein Uhr nachts, und noch immer kein Auge voll Schlaf. Übrigens habe ich heute zum erstenmal Magensaft gespendet. Das ist nicht weiter schlimm, nur der Schlauch schluckt sich eklig, doch das wird sich bald geben. Wenn man täglich zweihundert Gramm spendet, macht das hundertfünfzig im Monat aus. Ganz schönes Sümmchen! 14. Juni Temperatur plus zweiundzwanzig Grad, keine Bewölkung, Windstille. Endlich sind die neuen Marken herausgekommen. Mein Gott, wie schön! Ich habe einen kompletten Satz in Viererblöcken gekauft, doch dann konnte ich's mir nicht verkneifen und kaufte ganze Bogen. Schluß mit der Knauserei. Jetzt kann ich mir schon einiges leisten. Hermione und ich waren Magensaft spenden, doch in Zukunft gehe ich allein. Man hört, ein Rundschreiben des Ministeriums für Volksbildung habe bekräftigt, daß sich an den Renten nichts ändere, doch Einzelheiten konnte ich noch nicht erfahren. Herr Nicostratus ist nicht im Dienst erschienen, er schickte seinen jüngeren Bruder und ließ ausrichten, er sei erkältet und habe Grippe. Es wird jedoch gemunkelt, er habe keineswegs Grippe, sondern sei unglücklich gefallen und habe innere Verletzungen davongetragen. Sieh an, der Charon! Artemis verhält sich mucksmäuschenstill. Ach ja, das habe ich ganz vergessen. Ich warf heute einen Blick in den Salon und sah Charon dasitzen in Gesellschaft eines netten Herrn mit großer Brille. Ich erkannte ihn sofort und erstarrte buchstäblich. Es war der Insurgent, den 102
die Farmer vor meinen Augen gefangengenommen hatten. Er erkannte mich auch und erstarrte seinerseits. Eine Zeitlang sahen wir einander an, dann faßte ich mich und entfernte mich mit einer Verbeugung. Ich weiß nicht, was er Charon über mich gesagt hat. Im übrigen ging er bald. Ich behaupte geradezu: Das gefällt mir nicht. Wenn sie sich dem legalen Kampf zuwenden, wie ihnen offiziell nahegelegt wurde, wenn sie sich mit Meetings, Broschürchen und Zeitungen befassen, dann bitte. Wenn ich aber noch einmal Maschinenpistolen und sonstiges Eisenzeug in meinem Haus sehe, dann muß ich passen, verehrter Herr Schwiegersohn. Dann trennen sich unsere Wege. Ich habe die Nase voll. Um mich zu beruhigen, überlas ich noch einmal die Niederschrift meines gestrigen Gesprächs mit Charon. Ich finde meine Logik makellos. Er wußte ja auch nichts zu erwidern. Schade nur, daß ich viel schlüssiger und überzeugender geschrieben als gesprochen habe. Ich kann überhaupt nicht reden, das ist mein wunder Punkt. Die Morgenzeitungen brachten eine interessante Nachricht: totale Demobilisierung und Entmilitarisierung des Landes. Gott sei Dank, endlich sind sie drauf gekommen! Offenbar haben die Marsmenschen die Verteidigung ganz in ihre Hände genommen. Uns wird sie keinen Pfennig mehr kosten, allenfalls Magensaft. In der Rede des Präsidenten steht darüber natürlich nichts, doch kann man es zwischen den Zeilen lesen. Die früheren Rüstungsausgaben, so sagte er, würden zur Erhöhung des Lebensstandards und zur Entwicklung des Schiffsbaus eingesetzt. Im Zusammenhang mit der Reduzierung der Kriegsindustrie stünden gewisse Schwierigkeiten bevor, doch nur vorübergehend. Der Präsident betonte mehrmals, die Reorganisierung werde niemandem zum Nachteil gereichen. Ich verstehe das so, 103
daß die Rüstungsindustriellen und die Generale eine gute Abfindung erhalten. Die Marsmenschen sind doch ein reiches Volk! Die Demobilisierung hat bereits begonnen. Paralus verbreitet das Gerücht, die Polizei solle gleichfalls aufgelöst werden. Pandareus wollte ihn einsperren, aber das verhinderten wir. Gerücht ist Gerücht, doch ich an Pandareus' Stelle wäre ein bißchen vorsichtiger. Nein, ich habe heute keine Lust zu schreiben. Ich nehme mir noch einmal meine gestrige Ansprache an Charon vor und schreibe sie ins reine. Es war eine gute Rede. 15. Juni Der Morgen ist hell und klar wie selten. (Temperatur plus einundzwanzig Grad, keine Bewölkung, Windstille.) Wie schön ist es, früh aufzustehen, wenn die Sonne den Morgennebel zerstreut hat, die Luft jedoch noch frisch und kühl ist und die nächtlichen Düfte bewahrt hat. Winzige Tautropfen zittern wie Myriaden von Regenbogen, sie funkeln wie Edelsteine an jedem Halm, auf jedem Blättchen, an jedem Spinnfaden, den eine fleißige Spinne nächtlicherweile von ihrer Heimstatt zum schwankenden Zweig gezogen hat. Nein, künstlerische Prosa gelingt mir nicht so. Einerseits scheint alles zu stimmen, alles steht am richtigen Platz und ist schön, doch ich weiß nicht, irgendwas fehlt. Nun gut. Schon den zweiten Tag haben wir alle einen fabelhaften Appetit. Das soll am blauen Brot liegen. Es ist wirklich eine vorzügliche Nahrung. Früher habe ich sehr wenig Brot und nur belegt gegessen, jetzt überfresse ich mich buchstäblich daran. Es zergeht auf der Zunge wie Kuchen und belastet nicht den Magen. Selbst Artemis, der die Erhaltung ihrer Figur stets mehr am Herzen lag als die Erhaltung der Familie, kann sich jetzt nicht mehr beherrschen und langt zu, wie es einer gesunden jungen Frau ihres Alters gebührt. Charon 104
ißt das Brot auch und lobt es. Auf meine Anspielungen und Sticheleien antwortet er nur: „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, Vater.“ Nach dem Frühstück begab ich mich in die Bürgermeisterei und kam zum Beginn der Sprechstunde zurecht. Die Freunde waren noch nicht auf dem Platz. Der Herr Nicostratus sieht nicht besonders aus. Bei jeder Bewegung verzieht er das Gesicht, greift sich an die Seite und läßt von Zeit zu Zeit ein leises Stöhnen hören. Sein Sprechen ist ein klägliches Flüstern, und den Fingernägeln schenkt er nicht die geringste Aufmerksamkeit. Während unseres Gesprächs sah er mich kein einziges Mal an, doch er redete höflich und respektvoll mit mir, ohne die leiseste Beimischung seiner üblichen Ironie. Tatsächlich, es sei ein Rundschreiben eingegangen, das die frühere Rentenordnung bestätige. Meine Papiere lägen wohl schon beim Minister. Man müsse annehmen, daß alles gut gehe und ich die Stufe eins erhielte, doch es könne nichts schaden, wenn ich den Herrn Bürgermeister bäte, dem Minister ein gesondertes Schreiben zu schicken, eine Bescheinigung über meine persönliche Beteiligung am bewaffneten Kampf gegen die Insurgenten. Dieser Gedanke gefiel mir sehr, und ich kam mit dem Herrn Nicostratus überein, daß ich einen Entwurf des Briefes aufsetzen, er ihn redigieren und dem Bürgermeister vorlegen würde. Inzwischen hatten sich die Freunde auf dem Platz versammelt. Als letzter kam Morpheus, er mußte Strafe zahlen. Schluß mit Liberalismus, wir haben unsere Klubangelegenheiten in letzter Zeit sträflich vernachlässigt. Alle brannten darauf, zu hören, ob die Angelegenheit zwischen Charon und dem Herrn Nicostratus beigelegt sei. Sie nötigten mich, ausführlich wiederzugeben, was ich gesehen hatte, und der einbeinige Polyphem stritt sich eine Weile mit Silen, was 105
beim Herrn Nicostratus verletzt sein möge. Er als erfahrener Mann und Unteroffizier behauptete, bei diesem Scharmützel mit dem Sekretär müsse das Steißbein angeknackst sein, denn nur ein wohlgezielter Stoß mit der Stiefelspitze an die entsprechende Stelle könne die von mir beschriebene Art und Weise des Verlassens des Schlachtfelds durch den Herrn Nicostratus bewirken. Silen hingegen als nicht minder erfahrener Mann und gewesener Jurist widersprach, die gleiche Wirkung erziele ein wohlgezielter Tritt in den Leib, und wenn man die Haltung bedenke, die der Herr Nicostratus beim Gehen gegenwärtig einnehme, so sei der Schluß unvermeidlich, daß ihm links eine Rippe angeknickt oder gar gebrochen sei. Beide waren sich übrigens darin einig, daß ein Ende der Angelegenheit noch nicht abzusehen sei und daß der Herr Nicostratus, ein temperamentvoller junger Sportsmann, nicht verfehlen werde, mit ein paar Freunden Charon in einem dunklen Winkel aufzulauern. Ich wurde überdies gefragt, ob Artemis weiterhin ihre Vorliebe für den Herrn Nicostratus nähre, und als ich mich strikt weigerte, diese taktlose Frage zu beantworten, wurde fast einstimmig der Schluß gezogen, jawohl, sie nähre sie weiter. „Frau ist Frau“, sagte der gallige Paralus. „An einem Mann hat sie nie genug, das liegt in ihrer biologischen Natur.“ Nun war ich vollends verärgert und entgegnete, diese Eigenschaft der Frauen liege eher in der Natur solcher Männer wie Paralus, und diesen meinen Scherz fanden alle sehr witzig, denn erstens mochten alle Paralus nicht wegen seiner Galligkeit, und zweitens wurde aufgewärmt, daß seine junge Frau ihm schon vor dem Krieg mit einem Handlungsgehilfen durchgegangen sei. Es war eine überaus günstige Gelegenheit, Paralus mit seinen ewigen quasiphilosophischen Sentenzen in die Schranken zu weisen. 106
Morpheus, der sich auch einen Witz ausgedacht hatte und schon im voraus vor Lachen erstickte, packte alle beim Arm und rief: „Nun hört doch mal zu!“ Doch da mischte sich, wie immer zur Unzeit, der alte Esel Pandareus ein und verkündete, ohne von dem Gesprächsgegenstand eine Ahnung zu haben, mit seiner Donnerstimme, derzeit komme aus dem Ausland die Mode, zu dreien, zu vieren mit einer Frau zu leben, wie das bei Katzen üblich sei. Was sagt man dazu! Man kann sich nur an die Stirn tippen. Paralus griff sofort ein und lenkte das Gespräch auf Pandareus' Person. „Ja, Pan“, sagte er. „Du bist heute schwer in Form, Alter, so was hab ich noch nicht mal von meinem jüngeren Schwiegersohn, dem Major, gehört.“ Paralus' zweiter Schwiegersohn war mehr als stadtbekannt, wir konnten uns nicht halten und wälzten uns vor Lachen, während Paralus mit kummervoller Miene hinzufügte: „Nein, Leute, es hat keinen Sinn, daß wir entmilitarisieren. Es wäre besser, wir würden entpolizeiisiert oder zur Not wenigstens entpandareuisiert.“ Pandareus blies sich auf wie ein Igelfisch, schloß den Waffenrock und kläffte: „Unterhaltung been-det!“ Es war noch zu früh, zur Spendenannahmestelle zu gehen, darum begab ich mich zu Achilles. Ich las ihm meine ins reine geschriebene Rede an Charon vor. Mit offenem Mund hörte er mir zu. Der Erfolg war komplett. Hier wörtlich seine Antwort, als ich fertig war: „Das hat ein wirklicher Tribun geschrieben, Phöbus! Wo hast du das bloß her?“ Ich zierte mich ein wenig, des besseren Effekts halber, dann erklärte ich, wie das gewesen war. Aber er glaubte mir nicht! Er erklärte, ein pensionierter Astronomielehrer habe einfach nicht das Zeug, die Gedanken und Gefühle des einfachen Volkes so treffend zu formulieren. „Das ist nur großen Schriftstellern gegeben“, sagte er, „oder großen Politikern. Aber ich kenne bei uns im Lande keine großen 107
Schriftsteller und auch keine großen Politiker. Phöbus, das hast du bei den Marsmenschen geklaut“, sagte er. „Gib's zu, Alter, ich erzähl's nicht weiter.“ Ich war verwirrt. Sein Unglauben schmeichelte mir und brachte mich zugleich auf. Nun zeigte er mir auch noch einen gestempelten Umschlag aus festem schwarzem Papier. „Was ist das?“ fragte ich betont nachlässig, doch mein Herz ahnte das Unglück voraus und scherzte in üblem Vorgefühl. „Briefmarken“, prahlte er. „Echte. Von dort!“ Ich weiß nicht mehr, wie ich mich beherrscht habe. Wie im Nebel lauschte ich seiner Begeisterung, die sich hinter gespielt mitfühlendem Ton versteckte. Er hielt mir das Kuvert vor die Nase und erzählte dauernd, welch eine Rarität das sei, wie schwer zu bekommen, welch sagenhafte Summe ihm Chthonius dafür geboten habe und wie schlau er, Achilles, gewesen sei, als er die Entschädigung für die beschlagnahmten Medikamente nicht in Geld, sondern in Briefmarken verlangte. Die Summen, die er nachlässig nannte, wirkten niederschmetternd auf mich. Ich erfuhr, die Marktpreise für Marsmarken lägen so hoch, daß keine Rentenstufe eins und kein Magensaft mir etwas nützen konnten. Schließlich aber riß ich mich zusammen, denn mir kam eine Erleuchtung, und ich bat Achilles, mir die Marken zu weisen. Nun war alles klar. Der Schlaukopf druckste und stotterte dann verlegen etwa in der Art, diese Marken, Marsmarken, scheuten das Licht wie Fotopapier und seien nur bei Spezialbeleuchtung zu betrachten und hier in der Apotheke sei er nicht darauf eingerichtet. Ich faßte mir ein Herz und bat, die Marken abends bei ihm zu Hause anschauen zu dürfen. Nicht sehr erbaut, lud er mich ein, sagte jedoch, er habe auch zu Hause keine Spezialgeräte, wolle sich aber bis morgen abend etwas einfallen lassen. Das glaubte ich ihm gern. Bestimmt läßt er sich was einfallen. Gewiß stellt sich dann heraus, daß 108
die Marken sich bei frischer Luft auflösen oder daß man sie überhaupt nicht betrachten, sondern sie nur befühlen dürfe. Im Eifer unseres Gesprächs hörte ich plötzlich hinter meinem linken Ohr jemand atmen und nahm mit dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sogleich dachte ich an den geheimnisvollen Besuch und fuhr herum, aber es war nur die Bedienerin von Madame Persephone, die um ein sicheres Mittel bitten wollte. Auf der Suche nach einem Präparat, welches Madame Persephone zufriedenstellen würde, entfernte sich Achilles ins Labor, offenkundig entschlossen, nicht eher zurückzukehren, als bis ich weg war. Ich ging, ohne meine Ironie zu verhehlen. In der Spendenannahmestelle wartete eine angenehme Überraschung auf mich: Analysen hatten ergeben, daß infolge einer chronischen inneren Erkrankung bei mir mein Magensaft der ersten Sorte zuzurechnen sei, so daß ich für hundert Gramm Saft nun vierzig Prozent mehr erhalten solle als üblich. Mehr noch, der diensttuende Feldscher gab mir den Tip, daß ich bei mäßigem, aber regelmäßigem Genuß von Blaubrand die Extrasorte erreichen und für hundert Gramm ein siebzig bis achtzig Prozent höheres Entgelt erhalten könnte. Ich will es nicht verreden, doch es scheint, als winke mir endlich im Leben ein bißchen das Glück. In rosigster Laune ging ich in die Kneipe und saß dort bis zum späten Abend. Es war sehr lustig. Erstens hatte Japetus jetzt reichlichen Blaubrand vorrätig, den ihm die Farmer aus der Umgebung en gros lieferten. Der Blaubrand bewirkt zwar ein scheußliches Aufstoßen, aber er ist billig, trinkt sich weg und spendet einen angenehmen, lustigen Rausch. Wir mußten sehr über einen der beiden jungen Männer im schmalen Mantel lachen. Ich hatte noch nicht gelernt, sie auseinanderzuhalten, und empfand gegen beide eine ganz natürliche Feindschaft, die von der Mehrzahl der Freunde 109
geteilt wurde. Diese drohenden Bezwinger des Herrn Laomedon verbrachten zusammen oder einzeln die ganze Zeit vom Mittagessen bis zur Polizeistunde in der Kneipe, saßen bei der Theke, tranken und schwiegen hartnäckig, als sähen sie ihre Umgebung nicht. Heute jedoch raffte sich der eine junge Mann plötzlich auf, kam an unsern Tisch, und als wir alle wachsam verstummten, bestellte er in der eintretenden Stille erst mal eine Runde für die ganze Gesellschaft. Dann setzte er sich zwischen Polyphem und Silen und sagte halblaut: „Äacus.“ Zuerst dachten wir, er hätte gerülpst, und Polyphem sagte gewohnheitsmäßig „Prost“. Aber der junge Mann erklärte ein wenig gekränkt, Äacus sei sein Name und er sei so genannt worden nach dem Sohne des Zeus und der Ägina, dem Vater des Telamon und des Peleus, dem Großvater Äantes' des Großen. Polyphem enschuldigte sich sogleich und schlug vor, auf die Gesundheit des Äacus zu trinken, so daß der Zwischenfall gänzlich beigelegt war. Wir stellten uns ebenfalls vor, und sehr bald fühlte sich Äacus unter uns wie zu Hause. Er entpuppte sich wirklich als großartiger Erzähler, und wir hielten uns alle den Bauch vor Lachen, während wir ihm zuhörten. Besonders amüsierte uns die Geschichte, wie sie den Fußboden im Salon eingeseift, die Fräuleins ausgezogen und Jagd auf sie gemacht hatten. Das nannte sich bei ihnen „Haschenspielen“, und er erzählte so, daß wir uns vor Lachen bogen. Ich muß gestehen, wir alle schämten uns ein wenig unseres Kaffs, wo wir noch nie von solcher Art Zerstreuung gehört hatten, daher kam uns eine witzige Eskapade unserer jungen Müßiggänger von der Kumpanei des Herrn Nicostratus sehr zupaß. Sie erschienen auf dem Platz und zogen einen großen, rotbunten Hahn an einer Leine hinter sich her. Mein Gott, war das komisch! Unter dem Abgesang des Liedes von der 110
schönen Niobe zogen sie quer über den Platz direkt in die Kneipe. Hier belagerten sie die Theke und verlangten für sich selbst Brandy, für den Hahn aber Blaubrand. Dabei verkündeten sie lauthals, sie feierten den Eintritt der Geschlechtsreife des Hahns, und luden alle Interessenten ein, daran teilzunehmen. Wir barsten fast vor Lachen. Äacus lachte mit, so daß unsere Stadt als Zentrum witziger Zerstreuung in den Augen dieses Hauptstädters ein wenig rehabilitiert war. Interessanterweise kam dann noch Achilles und berichtete, aus dem Sitzungssaal der Bürgermeisterei seien sechs Polsterstühle entwendet worden. Pandareus hatte den Tatort bereits in Augenschein genommen und behauptete, auf eine Spur gestoßen zu sein. Danach seien es zwei Diebe gewesen, von denen der eine einen Velourhut getragen und der andere am rechten Fuß sechs Zehen gehabt habe, aber alle waren überzeugt, die Stühle müsse der Stadtkämmerer gestohlen haben. Der gallige Paralus erklärte denn auch: „Nun ist er wieder fein heraus. Jetzt werden alle nur von den blöden Stühlen reden und die letzte Unterschlagung glatt vergessen.“ Als ich nach Hause kam, war Charon noch in der Redaktion, und wir aßen zu dritt Abendbrot. Eben habe ich zum Fenster hinausgesehen. Die herrliche Sommernacht hat den unendlichen Himmel mit Myriaden flimmernder Sterne über die Stadt gebreitet. Eine warme Brise weht berauschende Düfte heran und liebkost das Gezweig der schlafenden Bäume. Burrr, schwirrt ein verirrtes Glühwürmchen im Grase, es eilt zum Rendezvous mit der smaragdgrünen Geliebten. Wohliger Schlaf senkt sich auf das vom Tagewerk ermattete Städtchen hernieder. Und doch, irgendwas fehlt. Aber macht nichts. Ich meine, es war schön, als über der Stadt – ein Symbol für Frieden und 111
Sicherheit –hoch droben lautlos und in strahlendem Zauberlicht die riesigen Luftschiffe dahinglitten und man sogleich sah, daß es nicht unsere waren. Meine Rede werde ich „Ruhe und Sicherheit“ betiteln und Charon geben für seine Zeitung. Er soll nur mal versuchen, sie nicht zu drucken. Die ganze Stadt dafür, er allein dagegen, so geht's ja auch nicht! Daraus wird nichts, mein teurer Schwiegersohn! Ich geh mal runter und sehe nach, was Hermione macht.
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Nachwort Die Marsmenschen sind da! Na und ... Viel wichtiger ist doch, daß der Alltag wie gewohnt weitergehen kann, daß die Rente gezahlt wird, daß es vielleicht sogar neue Briefmarken gibt. Denn Ruhe ist die erste Bürgerpflicht und dafür glaubt man auch schon mal, daß nur die „unterirdischen Marmeladenfabriken“ in die Luft geflogen sind, wenn der Horizont in Flammen steht. Man paßt sich an. Was tut es, daß der Mensch seine Rolle als „Magensaft“-Lieferant gefunden hat: so wie die Kuh eben Milch liefert, so liefert der brave Bürger Steuern, und ob sie in Euro, Blut oder eben Magensaft geleistet werden, ist im Zeitalter der universellen Käuflichkeit ohnehin egal. Genauso gleichgültig ist es, welchen Namen die Viehtreiber tragen, ob sie als Globalisierer, Neokonservative, Oligarchen, bewaffnete Retter der Demokratie oder eben Marsmenschen firmieren; es sind immer dieselben und unter sich verwenden sie sogar ihr Wort für ‚Vieh‘. Es gibt nicht viel, was den Menschen vom Tier unterscheidet und zweifellos ist es nicht die Fähigkeit, einen Schalter zu bedienen, ein Kreuz zu malen oder den Weg zum Stall selbst zu finden. „Das grüne Weide-Glück der Herde“ wurde es einmal von Nietzsche genannt. Und wer an den Schlächter erinnert, ist ein Ketzer und Störenfried. c0y0te 113