Geister-
Krimi � Nr. 46 � 46
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Ein Irrer jagt Rick � Masters �
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Geister-
Krimi � Nr. 46 � 46
Andrew Hathaway �
Ein Irrer jagt Rick � Masters �
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Er wurde nicht umsonst ›Stein des Verderbens‹ genannt, dieser Diamant von ungeahnter Größe. Es, gab keinen zweiten auf der Welt, der sich mit ihm messen konnte. Kein Mensch könnte ihn bezahlen, auch der reichste nicht, es sei denn, er würde sein gesamtes Vermögen dafür opfern. Doch es gab viele, die ihr Leben für den ›Stein des Verderbens‹ wagten und es verloren. Alle starben, bis auf einen. Colonel Anthony Drusdale stellte das Tonbandgerät auf dem Schreibtisch seines Arbeitszimmers ab, aus dessen Lautsprecher er gerade die letzten Sätze seiner Memoiren gehört hatte, diktiert von seiner eigenen Stimme. Ein zufriedenes Lächeln umspielte die welken Lippen des alten Mannes. Stolz leuchtete in seinen Augen. Er war überzeugt, daß seine Memoiren, seine Erinnerungen an seinen Aufenthalt in Indien, ein Welterfolg würden. Indien, das Land der unermesslichen Schätze! Colonel Drusdale rief seine Gedanken zur Ordnung. Er kam schon wieder ins Träumen, aber er wollte arbeiten. Er schaltete das Tonbandgerät auf Aufnahme und rückte das Mikrofon vor sich auf dem Schreibtisch zurecht. »Alle starben, bis auf einen«, wiederholte er den letzten Satz seines Diktats. »Und dieser eine bin ich! Ich habe den ›Stein des Verderbens‹ an mich gebracht und nach Großbritannien…« Der alte Mann stockte. Er glaubte, hinter sich ein Geräusch gehört zu haben. Die Terrassentür stand weit offen, um die laue Abendluft in das düstere Arbeitszimmer zu lassen. Die Vorhänge blähten sich im Wind. Da war wieder dieses Scharren auf den Steinplatten. Colonel Drusdale drehte sich schwerfällig im Stuhl um. Die Lederpolsterung knirschte leise unter seinem Gewicht. »Ist da jemand?« rief er und wollte bereits aufstehen, als ein 3 �
langer Schatten in das Zimmer fiel. »Du?« fragte der Colonel überrascht und gleichzeitig unfreundlich. »Ich habe dir doch das Haus verboten, Derrick. Wie kommst du…« Colonel Drusdale brach mitten im Satz ab, als er die erhobene Hand des Mannes sah, der unaufhaltsam näher kam. Ein langes, schweres Messer mit einer blitzenden, geschwungenen Klinge zielte genau auf das Herz des alten Mannes. »Derrick, das kannst du nicht machen, du…«, keuchte Colonel Drusdale. »Ich kann nicht?« Der Eindringling lachte höhnisch. »Du wirst selbst sehen, wie ich kann, wenn du mir nicht sofort sagst, wo der ›Stein des Verderbens‹ ist. Aber wenn du dich weigerst, mir das Versteck zu verraten, dann ist es zu spät für dich, deinen Fehler einzusehen. Also, wo ist der Stein?« zischte er eiskalt. Die Hände des Colonels umkrampften die Schreibtischkante. »Das werde ich dir nie sagen, Derrick. Lieber sterbe ich, als…« Das Gesicht des vor ihm Stehenden verzerrte sich in wahnsinniger Wut. Wie ein tödlicher Blitz stieß das Messer zu. Die Klinge bohrte sich tief in die Brust des Colonels. Mit weit aufgerissenen Augen sackte die Gestalt des alten Mannes in sich zusammen. Auf seinem faltigen Gesicht erschien ein fassungsloser Ausdruck, als könnte er nicht begreifen, daß der Tod auch ihn, den letzten Besitzer des »Stein des Verderbens«, ereilte. Der Mörder starrte sekundenlang wie gelähmt auf sein Opfer hinunter. Dann zog er das Messer aus der Wunde, aber es entglitt seinen kraftlosen Händen und fiel auf den Teppich, der sich langsam mit dem Blut des Colonels tränkte. Der Mörder bückte sich und ließ das Messer unter seiner Jacke verschwinden. Sein Blick fiel auf das Tonbandgerät und die sich drehenden Spulen. Jeder Laut im Raum war registriert worden und festgehalten. Mit bebenden Fingern schaltete der Mörder das Gerät ab, 4 �
riß die Tonbandspulen herunter und steckte sie ein. Nach einem letzten Blick auf den leblosen Körper, der über die Schreibtischplatte gesackt war, floh der Täter über die Terrasse des Hauses. Im Arbeitszimmer aber geschah etwas Gräßliches, kaum daß der Mörder den Raum verlassen hatte… * Mit weit ausholenden Schritten stakste Mrs. Henrietta Plumberry, ganz in Schwarz gekleidet, über den Rasen vor dem Haus des Colonels. Einen missbilligenden Blick warf sie auf die Rosenbeete. Welcher ungezogene Flegel war denn da einfach durchgelaufen? Der Colonel wird schön toben, dachte sie, dann setzte sie ihren Weg auf die Haustür zu fort. Die hagere schwarze Frauengestalt gehörte zu dem altenglischen Landhaus ebenso wie die Rosenbeete und die knorrige Figur Drusdales. Seit zwanzig Jahren lebte Colonel Drusdale hier vor den Toren Londons in Ruhe und Frieden, und während dieser Zeit führte ihm Mrs. Henrietta Plumberry, Witwe, den Haushalt. Mit sanftem Spott meinten die Nachbarn, Mrs. Plumberry hätte sich wohl eher als der nachgiebige Colonel zur Befehligung einer Truppe geeignet. »Colonel Drusdale?« hallte die schrille Stimme von Mrs. Plumberry durch das Haus. »Colonel!« Als alles still blieb, ging sie zielstrebig auf das Arbeitszimmer zu. Wahrscheinlich war der alte Herr wieder einmal über seinen Memoiren eingeschlafen, dachte die resolute Witwe. Ihre knochige Hand drückte die Klinke, die Tür schwang zurück und gab den Blick auf das mit Chippendale-Möbeln eingerichtete Arbeitszimmer frei. Die Dämmerung wurde durch die Vorhänge 5 �
verstärkt, so daß im Raum nur mehr schattenhaft die einzelnen Gegenstände zu unterscheiden waren. Mrs. Plumberry tastete nach dem Lichtschalter. Mit einem leichten Klicken flammte Helligkeit auf und überflutete den Schreibtisch. Verwundert blickte sich die Haushälterin um. Wo steckte denn der Colonel? Es war längst Zeit zum Abendessen, und sie hatte sich verspätet. Ob er wütend auf sie war und deshalb in den »Goldenen Anker« gegangen war? Gelegentlich aß er dort. Die Haushälterin beschloß, in dem Restaurant anzurufen, und ging auf den Schreibtisch zu. Außerdem war auch möglich, daß ihr der Colonel eine Nachricht hinterlassen hatte. Sie griff zum Telefon und hob ab, aber dann legte sie den Hörer langsam und vorsichtig wieder auf, als könnte sie etwas zerstören. Mrs. Plumberry preßte die Hand vor den Mund. Mit aller Kraft versuchte sie, die Beherrschung nicht zu verlieren. Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Kopfschüttelnd starrte sie auf den leeren, blutbefleckten Schreibtischstuhl, auf den riesigen Blutfleck auf dem Teppich. Doch nicht nur das Blut flößte ihr solches Grauen ein. Sie fühlte, daß in diesem Zimmer außer ihr noch jemand war, obwohl sie niemanden sehen konnte. Entsetzt wirbelte Mrs. Plumberry herum, aber auch hinter ihr stand niemand. Sie torkelte zu den mächtigen Bücherschränken und riß die Türen auf. Außer Büchern sah sie nichts. Wankend lief sie zu den Vorhängen und fegte sie zur Seite. Niemand stand dahinter, und doch war Mrs. Plumberry sicher, daß sich der Colonel nicht weit von ihr befand. Die Terrassentür krachte gegen die Wand, als die Frau sie aufstieß. Die Steinplatten lagen sauber und leer vor ihr. Mrs. Plumberry fuhr zu dem Schreibtisch herum. Ihre Blicke ruhten gehetzt auf dem leeren, blutbefleckten Stuhl. 6 �
Der Colonel mußte hier sein. Sie fühlte es. Schließlich brach ein gellender Angstschrei aus der Kehle der Frau. Wie von allen Geistern gejagt, lief sie durch den Garten und über die Straße auf die nächsten Häuser zu. * »Hallo, Rick, wie geht es dir?« Rick Masters, der junge Londoner Privatdetektiv, wischte sich mit dem über seine Schultern gehängten Handtuch das Gesicht trocken und legte den Tennisschläger auf die Bank. »Dick! Ich habe dich eine Ewigkeit nicht gesehen!« Er ging mit ausgestrecktem Arm auf den etwa vierunddreißigjährigen Mann zu, der ihn so unerwartet angesprochen hatte und in lässiger Haltung an der Wand der Umkleidekabinen auf dem Tennisplatz lehnte. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.« Der Mann grinste und schüttelte kräftig Ricks Hand. »Ich meine, wie es dir geht.« »Da steckt etwas dahinter, Dick«, antwortete Rick Masters und musterte den fast gleich großen Mann in dem todschicken und teuren Maßanzug. »Du willst doch nur, daß ich dich frage, wie es mit dir steht, nicht wahr?« »Einem Detektiv kann man eben nichts vormachen«, seufzte Dick Foster. »Darf ich dich auf einen Drink einladen?« Rick Masters nickte. »Abgemacht! Ich muß mich nur noch umziehen. Im Tennisdreß können wir schlecht in eine Bar gehen.« Fünf Minuten später kam er in seiner üblichen saloppen Kleidung zurück und führte Foster zu seinem Wagen. »Bist du mit einem Taxi gekommen?« fragte der junge Privatdetektiv. Foster nickte. »Gut, dann nehmen wir meinen Schlit7 �
ten.« Der Morgan, ein offener Sportwagen im Oldtimerlook, fuhr zügig an und reihte sich in den Verkehr ein. »Morgens zwei Stunden Tennis sind genau richtig«, plauderte Rick Masters. »Wie hast du mich eigentlich gefunden, Dick? Wir haben doch seit über einem Jahr nicht mehr miteinander gesprochen.« »Dein automatischer Anrufbeantworter war so freundlich, mir zu verraten, wo ich dich erreiche.« Dick Foster deutete auf die andere Straßenseite. »Das Lokal sieht nett aus.« Rick Masters parkte seinen Wagen in einer Seitenstraße, dann gingen sie ein Stück zurück und betraten die Bar. Sie bestellten zwei Cola mit Rum, und während sie darauf warteten, daß die Kellnerin das Verlangte brachte, musterte Rick Masters aufmerksam seinen Freund. Dick Foster hatte sich in dem letzten Jahr kaum verändert. Er trug noch immer das gleiche unbeschwerte Benehmen zur Schau, als wäre er ein gelernter Playboy. Aber Rick meinte, einen leicht besorgten Ausdruck in dem Gesicht seines Freundes festzustellen. »Wie gehen die Geschäfte, Dick?« erkundigte er sich. »Verkaufst du deine Kriminalromane immer noch gut?« Dick Foster zuckte gleichmütig die Achseln. »Das Publikum interessiert sich immer für Krimis, da gibt es keine Schwierigkeiten. Ab und zu ein kleiner Ärger mit dem Verleger, aber sonst ist es ein angenehmes Leben.« »Was ist denn los?« klopfte Rick Masters auf den Busch. »Dich bedrückt doch etwas, und ich gehe jede Wette ein, daß dein Besuch bei mir damit zusammenhängt.« »Die Wette würdest du gewinnen«, antwortete Dick Foster. »Hast du in der Zeitung…« Foster unterbrach sich, weil die Kellnerin an ihren Tisch kam. 8 �
Sie stellte die Gläser ab und verschwand wieder. Rick und Foster prosteten einander zu, dann stellte Foster mit einem harten Ruck sein Glas auf die Marmorplatte. »Colonel Drusdale ist ermordet worden«, sagte errauh. »Aber seine Leiche ist verschwunden.« »Drusdale, Drusdale«, suchte Rick in seinem Gedächtnis nach. Dann hatte er es. »Natürlich, heute morgen in der Zeitung, der Mord ohne Leiche! Was hast du damit zu tun? Du beschäftigst dich normalerweise nur mit Morden, die aus deiner Phantasie stammen.« »Colonel Drusdale war mein Onkel«, sagte Dick Foster leise. Ricks Glas, das er gerade an den Mund geführt hatte, blieb in der Luft hängen. »Dein Onkel?« echote er. »Du hast nie davon gesprochen, daß du einen Onkel…« »Onkel Anthony, ich meine Colonel Drusdale, war auch kein Thema, über das man sich im Freundeskreis unterhält.« Um den Mund Fosters bildeten sich zwei scharfe Linien. »Er war ein schrulliger, alter Kauz, der manchmal sehr unleidlich sein konnte. Außer seiner Haushälterin hat wohl niemand seine Launen länger als ein paar Stunden ertragen.« Rick spielte nachdenklich an seinem mit Feuchtigkeit beschlagenen Glas. »Was habe ich jetzt mit der Sache zu tun?« fragte er nach einer kleinen Pause. »Kommst du zu mir als dem Freund oder dem Privatdetektiv?« »Ich komme zu beiden, Rick.« Dick Foster bot Rick eine Zigarette an und steckte sich selbst sehr nervös eine in Brand. »Ich bin in einer unangenehmen Lage«, fuhr er fort. »Jedermann weiß, daß Onkel Anthony und ich uns nicht vertrugen. Alle wissen auch, daß ich in Schulden stecke. Du siehst, Rick, ich spreche ganz offen zu dir. Ich hoffe, du berücksichtigst das.« 9 �
»Weiter«, drängte der junge Privatdetektiv mit ausdruckslosem Gesicht. »Was sonst noch?« »Die Polizei, die von der Haushälterin gerufen wurde, hat einwandfrei festgestellt, daß Onkel Anthony in seinem Arbeitszimmer überfallen wurde – gestern Abend. Sie hat auch ermittelt, daß er zumindest schwer verletzt wurde, so schwer, daß er unmöglich weit fliehen konnte. Trotzdem hat man ihn nicht gefunden, weder lebendig noch tot.« Rick Masters zuckte die Schultern, als Foster eine neuerliche Pause einlegte. »Du hast mir noch immer nicht verraten, was ich damit zu tun habe, Dick«, erinnerte er seinen Freund. »Du sollst den Fall übernehmen«, rückte Dick Foster endlich mit der Sprache heraus. »Ich möchte, daß du Colonel Drusdale findest, tot oder lebendig, wie es so schön heißt. Und seinen Mörder natürlich auch.« »Hast du kein Vertrauen zur Polizei?« erkundigte sich Rick Masters, dem man nicht anmerkte, ob er den Fall interessant genug fand, um sich darum zu kümmern. »Wer untersucht denn das vermutete Verbrechen?« »Irgend jemand von Scotland Yard.« Dick Foster zuckte die Schultern. »Ich kenne seinen Namen nicht. Was ist, nimmst du an?« Rick warf seinem Freund einen merkwürdigen Blick zu. »Dick!« Seine Stimme klang lauernd. »Da steckt doch mehr hinter, als du mir sagen willst. Warum soll gerade ich das Verschwinden deines Onkels klären?« Foster zögerte keine Sekunde mit der Antwort. »Weil du der einzige Privatdetektiv bist, den ich kenne, und man wendet sich doch lieber an Leute, denen man vertraut.« Foster hatte betont forsch gesprochen, doch jetzt sah er die hellbraunen Augen des Detektivs scharf auf sich gerichtet. Mit 10 �
einem resignierenden Achselzucken zeigte er ein verlegenes Lächeln. »Na schön, ich habe noch nicht mit der Polizei gesprochen. Ich will nicht, daß man mich in etwas hineinzieht, womit ich nichts zu tun habe. Daher möchte ich, daß du die Sache für mich in Ordnung bringst und herausfindest, was sich wirklich ereignet hat. Okay?« »Nicht okay!« entgegnete Rick Masters mit ungewohnter Schärfe. »Ich übernehme den Auftrag, gut, aber ich will, daß du dich mit der Polizei in Verbindung setzt. Wahrscheinlich sucht sie dich bereits, um dich zu vernehmen. Wenn du ausrückst, dann hole ich dich zurück. Ich will mich nicht an der Verhinderung von Ermittlungen mitschuldig machen, verstanden?« Dick Foster biss die Zähne zusammen, dann nickte er. »Einverstanden. Ich wollte nur vermeiden, daß es in den Zeitungen heißt, der Kriminalschriftsteller Dick Foster wurde im Zusammenhang mit dem Mord an seinem Onkel verhört.« »Das ist höchstens gute Reklame für deine miesen Bücher.« Rick Masters grinste breit über das ganze Gesicht. »So, und jetzt gibst du mir die Einzelheiten, Adressen und so weiter.« Als sie sich eine Stunde später trennten, glaubte Rick Masters, einen interessanten Kriminalfall übernommen zu haben, in dem er außerdem noch einem Freund helfen konnte. Er glaubte es so lange, bis ihm die Augen aufgingen, worauf er sich da eingelassen hatte. * Vor dem Lokal trennten sich Rick Masters und Dick Foster. Der Kriminalautor nahm, sich ein Taxi, während Rick mit seinem dunkelgrünen Sportwagen nach Buckhurst Hill fuhr, wo das Haus von Colonel Drusdale lag. Die Tennisschläger und die 11 �
Tasche mit dem Tennisanzug hatte er seufzend im Miniaturkofferraum verstaut. Aber was soll's, dachte Rick, man muß eben Geld verdienen. Und Dick Foster hatte einen angemessen dicken Scheck in Aussicht gestellt. Etwa zwei Meilen hinter der Stadtgrenze von London riß die geschlossene Baulinie auf. Nur mehr vereinzelte Häuser lagen neben der Straße, und eines davon mußte dem Colonel gehören. Rick suchte nicht lange. Ein Polizeiwagen half ihm dabei. Schon von weitem sah er das Blaulicht auf dem Dach der schwarzen Limousine. Rick hielt dahinter, stellte den Motor ab und stieg aus. Ein Rundblick zeigte ihm, daß es bis zu den nächsten Häusern so weit war, daß man einen unterdrückten Schrei dort nicht hören konnte. Dichte Hecken verwehrten einen Einblick in den Garten und die Zimmer des Hauses. My home is my Castle (mein Haus ist meine Burg)! Des Engländers liebstes Sprichwort. Dieses Haus hier war eine Burg. Rick ging über den sorgfältig gepflegten Kiesweg zum Haus und betätigte den schweren Türklopfer. Nach wenigen Sekunden riß eine große hagere Frau in schwarzen Kleidern die Tür auf, als hätte sie bereits dahinter gewartet. »Sie wünschen?« fragte sie im abweisendem Ton. »Sind Sie die Haushälterin?« wollte Rick Masters wissen. Er versuchte nicht erst ein freundliches Lächeln. Diesen Typ von Hausdrachen kannte er. Kein Lächeln konnte freundlich genug sein, um ihren Eispanzer zu schmelzen. »Ich bin Mrs. Henrietta Plumberry«, verkündete die Frau stolz. »Und wer sind Sie?« »Das ist Rick Masters, Schnüffler vom Dienst!« sagte eine tiefe Stimme hinter der Haushälterin. Mrs. Plumberry wurde zur Seite geschoben, und das kantige Gesicht eines alten Bekannten kam zum Vorschein. 12 �
»Kenneth!« rief Rick Masters überrascht aus. »Was machen Sie denn hier?« »Das gleiche kann ich Sie fragen, Rick«, erwiderte Chefinspektor Kenneth Hempshaw von Scotland Yard. Masters hatte mit dem Kriminalbeamten schon oft in schwierigen Fällen zusammengearbeitet. »Aber kommen Sie erst einmal herein.« Mrs. Plumberry sah ganz so aus, als wollte sie ein energisches Veto einlegen, aber gegen die staatliche Autorität des YardDetektivs lehnte sie sich schließlich doch nicht auf. Hempshaw führte den jungen Privatdetektiv in das Arbeitszimmer des Colonels. »Sie mischen also im Drusdale-Fall mit«, stellte Hempshaw fest. »Klingt das begeistert?« fragte Rick. »Oder haben Sie etwas dagegen, Kenneth, wenn ich mich um Colonel Drusdales Verschwinden kümmere.« »Dagegen habe ich nichts.« Hempshaw schüttelte den Kopf. »Ich möchte nur gern wissen, wieso Sie ausgerechnet hier aufkreuzen. Wie kommen Sie auf Colonel Drusdale?« »Sehr einfach.« Rick schaute sich genau um, während er sprach. »Dick Foster, Colonel Drusdales Neffe, ist ein alter Freund von mir. Er bat mich, das Verschwinden seines Onkels aufzuklären. Das ist alles.« »Wirklich alles?« fragte Chefinspektor Hempshaw mißtrauisch. Rick mußte lachen. »Ich hatte den Eindruck, als wäre der Junge ein wenig ängstlich. Fürchtet wohl, Sie könnten ihn als Mörder verdächtigen und so seinem guten Ruf schaden.« »Gar nicht so abwegig«, knurrte der Chefinspektor verdrossen. »Als wir heute Morgen bei Mr. Foster anrückten, um ihm einige Fragen zu stellen, suchte er das Weite. Dabei waren es ganz harmlose Fragen.« Rick Masters kaute an seiner Unterlippe. Auf seiner Stirn hat13 �
ten sich tiefe Unmutsfalten gebildet. »Davon hat mir Dick aber kein Wort verraten«, murmelte er. »Ich werde ihn mir hinterher vorknöpfen. Sie wissen ja, Kenneth, ich lasse mich nicht gern verschaukeln.« »Geben Sie den Auftrag zurück?« »Weiß ich noch nicht.« Rick zuckte unschlüssig die Schultern. »Einstweilen möchte ich gern wissen, was sich hier eigentlich ereignet hat. Schließlich will ich nicht den weiten Weg nach Buckhurst Hill umsonst gefahren sein. Wie steht es mit der Suche nach dem Colonel?« Hempshaw zog ein finsteres Gesicht. »Absolut ergebnislos. Dabei ist sicher, daß er schwer verletzt wurde. Das Blut hier auf dem Schreibtischstuhl und im Teppich stammt einwandfrei von Colonel Drusdale. Wir haben die genauen Angaben über seine Blutzusammensetzung noch aus seiner Militärzeit, auftreiben können. Wenn er nicht tot ist, schwebt er zumindest in Lebensgefahr.« »Also hat ihn der Mann oder haben ihn die Männer, die ihn verletzten, auch weggebracht«, folgerte Rick Masters. »Warum nur? Gibt es dafür einen Anhaltspunkt.« »Keinen!« Chefinspektor Hempshaw ging zur Terrassentür hinüber. »Vermutlich war es nur ein Mann, der hier über die Terrasse in das Arbeitszimmer eindrang. Er überraschte den Colonel, so daß es zu keinem Kampf kam.« Rick Masters nickte zustimmend. »Keine Kampfspuren, Sie haben recht, Kenneth. Das muß aber nicht bedeuten, daß Colonel Drusdale überrascht wurde. Nehmen wir an, er kannte den Mörder – Angreifer, sollten wir wohl besser sagen. Vielleicht hat er ihn sogar erwartet. War denn sonst niemand im Haus?« »Mrs. Plumberry, die Sie so freundlich empfangen hat, war gestern Abend für zwei Stunden nicht hier. In dieser Zeit muß 14 �
der Angriff auf den Colonel erfolgt sein.« »Ich werde hinterher die Haushälterin befragen, ob der Colonel sie wegschickte, weil er jemanden heimlich empfangen wollte«, bemerkte Rick Masters. »Schenken Sie sich die Mühe.« Der Chefinspektor winkte ab. »Habe ich schon getan. Sie ging aus eigenem Entschluß, um eine Bekannte zu besuchen. Als sie zurückkam, war der Colonel verschwunden. Sie entdeckte das Blut und lief schreiend aus dem Haus. Interessant wäre nur herauszufinden, was sie zehn Minuten lang hier drinnen gemacht hat. So lange dauerte es nämlich zwischen ihrem Eintreffen und ihrem ersten Hilferuf. Aber in diesem Punkt habe ich keine klare Antwort von ihr erhalten. Sie faselte immer etwas davon, sie hätte das Gefühl gehabt, nicht allein im Raum zu sein. Richtig hysterisch wurde die Frau.« »Hysterisch?« wiederholte Rick zweifelnd. »Mrs. Plumberry sieht mir nicht danach aus, als wäre sie eine Hysterikerin. Ganz im Gegenteil.« »Na, darüber können Sie sich später den Kopf zerbrechen, Rick. Was kann ich noch für Sie tun?« »Wovon lebte der Colonel eigentlich?« »Sie sprechen von ihm schon wie von einem Toten«, stellte der Chefinspektor verwundert fest. »Glauben Sie etwa nicht, daß er tot ist?« fragte Rick Masters zurück. »Ich halte mich an Tatsachen«, betonte Hempshaw. »Ja, also, der Colonel bezieht eine Pension. Davon kann er ganz gut leben.« »Und das hier?« Rick wies auf das Tonbandgerät auf dem Schreibtisch. »Was macht ein pensionierter Colonel damit?« »Richtig«, erinnerte sich der Chefinspektor. »Das hätte ich beinahe vergessen. Colonel Drusdale spricht seine Lebenserinnerungen auf Band. Als gestern Abend die Kollegen herkamen, 15 �
war das Gerät eingeschaltet, aber kein Band lag darauf.« »Auch die Leerspule fehlt.« Der Londoner Detektiv betrachtete das Mikrophon. »Es ist angeschlossen. Wäre doch möglich…« »Dass das Band lief, während das Verbrechen geschah«, vollendete Hempshaw Ricks Satz. »Der Mörder nahm es mit. Haben wir auch schon überlegt. Leider führt es uns im Moment nicht weiter.« »Hat man Blutspuren gefunden?« Rick deutete auf den Garten. »Allem Anschein nach hat Drusdale doch sehr viel Blut verloren. Wenn die Leiche nicht in einem geschlossenen, wasserdichten Behälter weggeschafft wurde, müßte es überall Spritzer geben.« »Leiche, Sie reden immer von Leiche!« seufzte der Chefinspektor .»Na schön, Blutspuren gab es keine. Sind Sie jetzt zufrieden?« »Nein«, gab der junge Privatdetektiv unverblümt zur Antwort. »Überhaupt nicht. Hier ist einiges faul im Staat, und ich werde herausfinden, was das ist.« »Dann mal viel Spaß«, wünschte ihm der Chefinspektor. »Ich kümmere mich jetzt weiter um die Untersuchung. Sie brauchen mich nicht mehr, oder?« »Nein, nein«, wehrte Rick Masters lachend ab. »Ich darf doch die Polizei nicht an ihrer Arbeit hindern. Sie könnte ja sogar mal ein Ergebnis erzielen.« »Ich sorge dafür, daß Sie die Lizenz loswerden!« schimpfte der Chefinspektor hinter seinem Freund her. Jeder wußte, wie er die Worte des anderen zu nehmen hatte und zerbrach sich daher nicht länger den Kopf darüber. Rick Masters wendete sich dem nächstliegenden Problem zu, und dieses Problem lief ihm schwarz gekleidet in der Gestalt der Mrs. Plumberry über den Weg. Rick folgte ihr in die Küche und machte sich durch diskretes Räuspern bemerkbar. 16 �
»Oh, ich habe Sie gar nicht gehört«, schnarrte die Haushälterin mit ihrer blechernen Stimme. »Sie haben mich erschreckt, junger Mann.« »Sie sehen gar nicht so schreckhaft aus, Mrs. Plumberry«, gab Masters zurück. Sie nahm es als Kompliment und zeigte ein knappes Lächeln. »Deshalb bewundere ich auch, daß sie es noch fast zehn Minuten hier im Haus aushielten, nachdem sie das Blut entdeckt hatten.« Ein scharfer, forschender Blick aus den wässrigen Augen der Haushälterin musterte den jungen Privatdetektiv. »Na, vielleicht glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß ich ein schreckliches Gefühl hatte.« »Was für ein Gefühl? Der Chefinspektor machte so eine Andeutung, aber ich verstand sie nicht.« »Er versteht mich ja auch nicht.« Mrs. Plumberry schüttelte missbilligend den Kopf. »Vernagelt ist dieser Kriminalist, weiter nichts. Ich habe ihm deutlich erklärt, daß ich das Gefühl hatte, der Colonel wäre ganz in meiner Nähe. Ich war nicht allein im Zimmer.« »Sie meinen, daß Sie beobachtet wurden?« half ihr Rick weiter. »Daß vielleicht jemand vom Garten aus durch die Fenster hereinschaute, um zu sehen, wie Sie reagieren würden?« »Nein, nein, das ist es nicht!« Die Haushälterin wurde ungeduldig. »Der Colonel war im Arbeitszimmer, während ich das Blut fand, darauf kann ich schwören.« »Sie haben doch nachgesehen und niemanden gefunden, oder?« Rick Masters kam flüchtig die Idee, daß übernatürliche Phänomene im Spiel sein könnten, aber er schob diesen Gedanken rasch wieder von sich. Hier handelte es sich offenbar um ein etwas mysteriöses Verbrechen, dessen Hintergründe noch nicht klar zu erkennen waren. Aber übernatürlich war daran nichts. 17 �
»Ich wurde nicht von draußen beobachtet, junger Mann, sondern im Arbeitszimmer war jemand. Ich weiß auch nicht, wie ich das erklären soll. Und im übrigen ist es mir auch schon egal. Mir glaubt keiner, also sollen sie machen, was sie wollen.« Sie war wütend, und das konnte Rick Masters auf keinen Fall brauchen. Er beeilte sich, seine Zeugin schnell wieder zu versöhnen. »Wann war Mr. Foster zuletzt hier, wissen Sie das noch, Mrs. Plumberry?« fragte er lauernd, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Es klappte. Sofort verlor ihr Gesicht den finsteren Ausdruck und machte einer verächtlichen Miene Platz. »Derrick?« Sie zog die Oberlippe hoch, um ihre Geringschätzung noch stärker auszudrücken. »Der Nichtsnutz kam seit einem halben Jahr nicht mehr, weil ihm sein Onkel das Haus verboten hat. Das beste, was er tun konnte.« »Derrick?« staunte Rick Masters. »Ich meine Dick Foster, den Neffen von Mr. Drusdale.« »Ja, Derrick. Sein voller Vorname ist Derrick, und der Colonel nannte ihn auch immer so. Nur in seinen Büchern nennt er sich Dick Foster.« »Wußte ich nicht«, gab Rick zu. »Wann war er hier?« »Das hat mich der Chefinspektor auch schon gefragt.« Mrs. Plumberry schaute demonstrativ auf die Küchenuhr. »Vor einem halben Jahr, wie ich schon sagte. Er hat sich an das Hausverbot gehalten, weil der Colonel in diesem Punkt keinen Spaß versteht. Und jetzt habe ich zu arbeiten.« Das war ein recht eleganter, wenn auch unmissverständlicher Rausschmiss. Rick Masters zog sich mit guter Miene zum bösen Spiel zurück, weil er die Haushälterin bei Laune halten wollte. Vielleicht würde er sich noch einmal mit ihr unterhalten müssen. Der junge Detektiv winkte Hempshaw kurz zu, während er 18 �
über den Kiesweg hinaus auf die Straße lief und in seinem Morgan stieg. Als der Sportwagen anfuhr, hatte sein Besitzer noch immer nicht die geringste Ahnung, was sich am Vorabend wirklich in dem hübschen Landhaus ereignet hatte. Er ließ es sich nicht einmal in seinen wildesten Phantasien träumen. * Je länger die Rückfahrt nach London dauerte, desto wütender wurde Rick Masters. Er fühlte sich verraten, weil ihm sein Freund Foster einige wichtige Punkte verschwiegen hatte. Daß er eigentlich Derrick und nicht Dick hieß, war bedeutungslos meinte Rick Masters wenigstens. Aber daß die Polizei bereits nach ihm gesucht hatte, weil er ausgerückt war, als Hempshaw ihn befragen wollte, das ging Rick nun doch zu weit. Als der junge Privatdetektiv schließlich in die Straße einbog, in der Derrick Foster ein Haus gemietet hatte, war er entschlossen, den Fall zurückzugeben. Wenn jemand gute Arbeit von ihm erwartete, dann verlangte Rick umgekehrt absolute Ehrlichkeit. Das war hier nicht gegeben, also standen die Konsequenzen für Rick fest. Er würde sich nicht weiter um Colonel Drusdale kümmern. Und Dick oder Derrick Foster war für ihn erledigt. Der Morgan kam ziemlich unsanft vor dem supermodernen Bungalow zum Stehen, in den Foster seine Honorare von den Kriminalromanen steckte. Kein Wunder, dachte Rick, daß Foster Schulden hat. Die Miete muß horrend sein, und auch sonst liebt Foster das Leben auf großem Fuß. Jedenfalls mußte er jetzt kein Geld mehr für Rick Masters' Dienste als Privatdetektiv ausgeben, das stand fest. Rick schellte, doch im Haus rührte sich nichts. Den Trick kenne 19 �
ich, dachte der junge Privatdetektiv grimmig. So hat es Foster wahrscheinlich auch mit Chefinspektor Hempshaw gemacht. Während der Yardmann vorne schellte, war der Schriftsteller hinten abgehauen. Nicht mit Rick Masters! Der junge Detektiv flankte über den niedrigen Gartenzaun und lief um den Bungalow herum. Von Derrick Foster weit und breit keine Spur. Die Stühle und der Tisch auf der Terrasse hinter dem Haus waren leer, nirgendwo standen Gläser oder Aschenbecher mit qualmenden Zigaretten herum, die auf einen hastigen Aufbruch hätten schließen lassen. Dennoch gab Rick Masters noch nicht auf. Er merkte nämlich, daß die gläserne Schiebetür zur Terrasse einen Spalt breit offen stand, gerade weit genug, um einen Mann seitlich durchzulassen. Ein leichter weißer Vorhang dahinter versperrte die Sicht. Vielleicht steckte Foster da drinnen und lachte sich ins Fäustchen, weil er seinen Freund an der Nase herumführte. Entschlossen schob Rick die Glastür weiter auf und zog den Vorhang zur Seite. Vor sich sah er ein Wohnzimmer, das zwar außergewöhnlich eingerichtet war und sicherlich bei jedem große Bewunderung erregte, in dem man sich aber nicht wohl fühlen konnte. Das Innere einer Raumkapsel mußte gemütlicher sein als diese sterile, unpersönliche Wohnlandschaft. Aber auch das konnte Rick Masters jetzt schon gleichgültig sein. Es interessierte ihn nicht einmal mehr, wie sein Freund Foster wohnte. Wenn Rick einmal mit jemandem Schluß machte, dann war das endgültig. Foster war auch hier nicht, und in dem Haus herrschte eine Todesstille, daß Rick sogar sicher war, sich allein in dem Raum zu befinden. Daß er sich irrte, merkte er gleich darauf. Er hatte beschlossen, hier auf Dick zu warten. Der junge Privat20 �
detektiv umrundete die hohen stahlblauen Stühle und ließ sich in eines dieser weich gepolsterten Ungetüme fallen. Rick erstarrte, als sein Blick den ihm gegenüberstehenden Sessel traf. Jemand saß darin, ein Mann! Masters hatte den Mann noch nie gesehen. Er hatte weißes Haar, war an die siebzig Jahre alt. Seine Augen waren geschlossen. Rick Masters zweifelte nicht daran, Colonel Anthony Drusdale vor sich zu sehen. Und der Colonel war tot, gestorben an der fürchterlichen Brustwunde, die von einem breiten Messer stammte. * Von Grauen geschüttelt, blickte Rick Masters in die offenen, toten Augen des Colonels, die trotz des erloschenen Lebens unglaublich ausdrucksvoll wirkten, als wollten sie Masters etwas sagen. Die wächsern bleiche Haut bekam durch die in Blau gehaltene Einrichtung des Wohnraums zusätzlich eine Blässe, als wäre sie durchsichtig. Der Mörder mußte mit unglaublicher Wucht zugestochen haben. Rick war überzeugt, daß der Colonel augenblicklich gestorben war. Aber wieso war seine Leiche aus dem Arbeitszimmer weggebracht worden? Und wie kam sie hierher, in Derrick Fosters Haus? Nur mit Mühe konnte sich der junge Privatdetektiv von dem Anblick des Toten lösen. Er schaute sich suchend um, entdeckte das Telefon und wählte die Nummer von Colonel Drusdale. Mrs. Plumberry meldete sich. »Ist der Chefinspektor noch bei Ihnen, Mrs. Plumberry?« fragte Rick und bemühte sich, seine Stimme nicht zittern zu lassen. »Ich muß ihn dringend sprechen.« 21 �
»Ich glaube, er fährt gerade ab. Moment!« Rick hörte, wie sie den Hörer neben den Apparat legte und offenbar aus dem Fenster den Namen des Chefinspektors rief. Dann war sie wieder in der Leitung. »Er kommt gleich.« Zwei Minuten später dröhnte Hempshaws Stimme aus dem Hörer. »Wo brennt's denn, Rick?« »Ich habe den Colonel gefunden tot«, meldete der junge Privatdetektiv leise, als könnte er durch ein lautes Wort den Toten stören. »Wo steckt er?« schrie der Chefinspektor. »Im Haus von Foster. Der Schriftsteller ist übrigens nicht hier. Der Tote sitzt in einem Polstersessel. Stellen Sie keine Fragen, ich kann sie doch nicht beantworten. Kommen Sie her!« »Wird gemacht!« Hempshaw knallte den Hörer auf den Apparat. Auch Rick Masters legte auf und drehte sich wieder zu Colonel Drusdale um. Die Leiche saß in unveränderter Haltung in dem breiten Sessel. Erst in diesem Moment fiel Rick ein Gegenstand auf, der in den erstarrten Händen steckte. Der Privatdetektiv trat näher und nahm zögernd die kleine Kassette an sich. Es war eine Tonbandspule in einer Kunststoffhülle. Schlagartig erinnerte sich Rick an das Tonbandgerät auf dem Schreibtisch des Colonels. Die Polizei hatte die Spulen nicht gefunden, weder die volle, noch die Leerspule. Wahrscheinlich hatte der Mörder sie mitgenommen. Wieder tauchte die Frage auf, warum jemand Leiche und Tonband hierher in dieses Haus geschafft hatte. Ging es darum, Derrick Foster des Mordes verdächtig zu machen? Wozu aber dann diese Umstände? Das ging doch viel leichter und auch ungefährlicher. Nach kurzem Suchen hatte Rick Masters ein Tonbandgerät gefunden, eingeschaltet und das Band aufgelegt, das er dem 22 �
Toten abgenommen hatte. Es knackte im Lautsprecher, dann vernahm er eine fremde Stimme, die wahrscheinlich dem Colonel gehörte. Nach wenigen Minuten hatte Rick Gewissheit, daß tatsächlich Drusdale das Band besprochen hatte. Er erzählte von einem »Stein des Verderbens«, einem Diamanten gigantischen Ausmaßes. Dann wurde es interessant. Ist da jemand? Der Colonel hatte sein Diktat unterbrochen. Du? Ich habe dir doch das Haus verboten, Derrick. Wie kommst du… Derrick, das kannst du nicht machen, du… Rick Masters war bei dem Namen Derrick entsetzt zurückgefahren. Ihm war, als hätte ihm der Lautsprecher einen Schlag versetzt. Foster hieß Derrick, der sich nur in seinen Büchern Dick nannte. Derrick! War er tatsächlich der Mörder, oder handelte es sich hier um eine raffinierte Falle für den Schriftsteller? Tonbandaufnahmen können gefälscht werden. Aber als das Band weiterlief, waren Ricks letzte Zweifel beseitigt. Deutlich erkannte er die Stimme seines Freundes. Ich kann nicht? Du wirst selbst sehen, wie ich kann, wenn… Rick Masters hörte atemlos zu. Er wußte, daß er vor sich den Schuldbeweis gegen Derrick »Dick« Foster hatte. Aber er konnte das Band nicht zu Ende hören. Vor dem Haus fuhr ein Wagen vor. Die Reifen knirschten auf Sand. Es konnte der Chefinspektor sein, aber dann hätte er schon wie ein Teufel fahren müssen. Es war aber auch möglich, daß Derrick Foster nach Hause kam. Auf jeden Fall schaltete Rick Masters das Gerät schnell aus und verwischte die Spuren seiner Anwesenheit. Die entsicherte 38er Automatik, die ihn meistens auf seinen beruflichen Gängen begleitete, lag ruhig in seiner Hand, als sich 23 �
der Hinterfront des Hauses schwere Schritte näherten… * Es war Chefinspektor Kenneth Hempshaw. Rick Masters rief ihn leise bei Namen, damit er sich nicht lange mit Vorsichtsmaßnahmen aufhalten mußte. Hempshaw betrat den Wohnraum. »Ich habe den Wagen weggeschickt«, sagte er zu Rick als Begrüßung. Wortlos deutete der junge Detektiv auf den Sessel mit der Leiche des Colonels. »Wollte nicht, daß Foster durch den Anblick eines Polizeiwagens verscheucht wird«, erklärte der Chefinspektor weiter, während er um den Sessel herumging. Er betrachtete den Toten mit einem langen Blick »Ich habe Dr. Sterling im Yard über Funk verständigt, damit er herkommt und sich die Leiche ansieht. Bin sehr neugierig, was er zu sagen hat, obwohl offensichtlich der Tod sofort eingetreten sein muß. Aus eigener Kraft ist der Colonel nicht hierher gegangen.« »Das Tollste wissen Sie noch gar nicht, Kenneth.« Rick ging zum Tonbandgerät und schaltete auf Wiedergabe. Gemeinsam hörten sie die Morddrohung und wurden dann akustisch Zeugen des Mordes. »Den Geräuschen nach zu schließen, ist Foster sofort nach, der Tat geflohen«, murmelte Chefinspektor Hempshaw, als das Band zu Ende war. »Seltsam, immer wieder stolpern wir über das Problem, wieso die Leiche verschwand.« »Und warum sie hier auftaucht«, ergänzte Rick. »Übrigens, Kenneth, können wir nicht überrascht werden?« Der Chefinspektor schüttelte den Kopf. »Ich habe einen Mann draußen aufgestellt, der…« In diesem Moment steckte ein Polizist den Kopf zur Tür herein. »Foster kommt!« rief er. »In Deckung mit Ihnen!« befahl Hempshaw. »Wenn er Sie 24 �
sieht, können wir mit ihm Haschen spielen.« Der Polizist verschwand zwischen den Büschen, und Rick und Hempshaw legten sich hinter den breiten Polstersesseln auf die Lauer. Minuten später betrat der Mörder Derrick Foster seinen Bungalow. Er konnte nicht sehen, wer sich alles in dem Wohnraum befand Rick und Hempshaw duckten sich ganz tief auf den Boden, und die Leiche des Colonels wurde durch die hohe Lehne des Sessels abgeschirmt. Von der Gefahr nichts ahnend, ging Derrick Foster zur Hausbar, klappte sie auf und schenkte sich einen Whisky ein. Das Glas in der Hand, drehte er sich wieder um – und stierte auf die Leiche. Aus seinem Gesicht wich das Blut, bis es fast so weiß war wie das des Toten. Die Hand mit dem Whiskyglas begann zu zittern, daß die Eiswürfel hell klirrten. Mit einem Aufschrei schleuderte Foster das Glas von sich. Es fiel lautlos auf den dicken, flauschigen Teppich, der sofort den Whisky aufsog. Er hat also nicht gewußt, daß die Leiche des Colonels hier ist, überlegte Rick Masters blitzschnell. Wie war sie aber dann hergekommen? Sein erster Gedanke war gewesen, Foster hätte den Toten, hier versteckt, um ihn später wegschaffen zu können, so unsinnig das auch war. Doch Mörder machen oft die unsinnigsten Dinge, das wußte der junge Privatdetektiv aus Erfahrung. Schritt um Schritt schwankte Derrick Foster auf die Leiche zu. Vollkommen willenlos ließ er sich auf denselben Sessel sinken, in dem zuvor Rick gesessen hatte. Dabei löste er den Blick keine Sekunde lang von dem Toten. »Wo ist der Diamant?« fragte Foster plötzlich mit schleppender Stimme. »Du mußt es mir sagen! Ich habe dich wegen dieses Steins getötet, und du hast dein Geheimnis mit dir genommen. Sag es mir wenigstens jetzt!« 25 �
Er neigte lauschend den Kopf. »Ich hasse dich!« zischte Foster und beugte sich vor, als wollte er die Leiche anspringen. »Ich habe dich immer gehasst, weil du so geizig warst. Aber du treibst dein Spiel zu weit. Du glaubst, daß ich dir jetzt wehrlos ausgeliefert bin, daß ich nicht mehr an dich herankomme.« Derrick Foster stand auf und streckte wie anklagend die Hand gegen den toten Colonel aus. »Ich schwöre dir, ich erfahre von dir noch, wo der Stein ist! Ein zweites Mal entwischst du mir nicht, Onkel Anthony. Du bist aus deinem Haus geflohen, aber diesmal…« »Das genügt!« Hempshaws Stimme unterbrach den Schriftsteller. Der Chefinspektor richtete sich hinter dem Sessel, der ihm bis dahin als Deckung gedient hatte, auf und trat auf den verdutzten Mann zu. »Derrick Foster, ich verhafte Sie wegen Mordes an Colonel Anthony Drusdale!« Der Schriftsteller hörte gar nicht hin, was ihm der Chefinspektor noch zu sagen hatte. Sein Blick war unverwandt auf den Toten gerichtet. »Hast du es also doch noch einmal geschafft!« keuchte er. Sein Gesicht lief rot an, er begann vor Wut zu zittern. »Aber ich komme wieder frei, und dann zwinge ich dich dazu, mir den Stein zu übergeben.« Es war schauderhaft, mit anzusehen und zu hören, wie Foster mit der Leiche des von ihm Getöteten sprach. Rick schüttelte sich. Er hätte Foster zwar nicht als seinen besten Freund bezeichnet, aber das Schicksal dieses Mannes ging ihm doch sehr nahe. Durch ständige Geldknappheit und aus Gier nach einem Diamanten zum Mörder geworden, hatte sein Geist alle diese Ereignisse nicht mehr verarbeiten können. Für Rick bestand kein Zweifel daran, daß Foster wahnsinnig geworden war. 26 �
»Rick«, riß ihn Chefinspektor Kenneth Hempshaw aus seinen Überlegungen. »Ich muß den Abtransport Fosters veranlassen. Können Sie solange auf ihn achten? Sie wissen, ich vertraue Ihnen.« »Ja, natürlich«, antwortete Rick Masters zerstreut. Zu viele Fragen waren noch unbeantwortet. »Aber seien Sie vorsichtig«, mahnte der Chefinspektor. »Er könnte unberechenbar sein.« Mit einer entsprechenden Handbewegung an die Stirn deutete er unmissverständlich an, was er meinte. »Ich werde achtgeben«, versprach Rick, dem es sehr angenehm war, daß er wenigstens einige Minuten mit seinem Freund allein sein konnte. Kaum hatte Hempshaw den Raum verlassen, als Rick sich einige Schritte von Foster zurückzog und sich auf die Lehne eines Sessels setzte. Er hielt die Hand so, daß er jederzeit nach seiner Pistole greifen konnte. »Dick!« rief er den Schriftsteller an, der noch immer auf die Leiche stierte, als gäbe es nichts anderes mehr auf der Welt. »Dick, warum hast du ihn getötet?« »Er besitzt den größten Diamanten der Welt«, antwortete Foster schleppend. »Ich werde der bedeutendste Mensch der Erde sein, sobald ich den Stein in meinen Händen habe.« Rick ging nicht weiter auf die Phantastereien eines Verrückten ein. »Was hast du mit der Leiche deines Onkels gemacht, Dick? Erinnere dich! Es kann sehr wichtig sein!« »Mit der Leiche?« Da drehte Dick Foster zum ersten Mal seinen Kopf in Ricks Richtung. »Was meinst du mit der Leiche? Ich habe nichts mit Onkel Anthony gemacht. Nachdem ich ihn erstochen hatte, lief ich weg.« Der junge Privatdetektiv kam aus dem Staunen nicht heraus. 27 �
Sein Freund wirkte plötzlich wieder so normal wie bei ihrem ersten Gespräch an diesem Morgen, als Rick den unseligen Auftrag angenommen hatte, das Verschwinden von Colonel Drusdale aufzuklären. »Du meinst doch nicht, Rick«, fuhr der Schriftsteller in nüchternem, sachlichen Ton fort, »daß ich so verrückt bin, die Leiche wegschaffen zu wollen. Ich schwöre dir, daß ich keine Ahnung habe, wie Onkel Anthony hierher kommt, aber ich weiß jetzt wenigstens, daß ich den Diamanten bekommen werde.« Wie Foster das so ruhig und überzeugt sagte, fiel es Rick schwer, an eine geistige Verwirrung seines Freundes zu glauben. Doch eine andere Möglichkeit gab es nicht. Oder doch? »Woher willst du denn das alles wissen, Dick?« forschte Masters. »Und vor allem, was sollte dein Gespräch vorhin mit der Leiche? Er konnte dir doch gar nicht antworten.« »Rick, begreife endlich!« Foster neigte sich beschwörend zu Masters. Der Detektiv glaubte schon, der Mörder wollte ihn anspringen, und zog sich ein Stück zurück. Aber Foster dachte gar nicht daran, sich an ihm zu vergreifen. »Rick, der Colonel weiß, wo der Diamant versteckt ist. Und ich habe mit ihm gesprochen, weil er es mir mitteilen kann. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber ich verstehe, ihn. Ich fühle, was er mir sagen will.« Also doch wahnsinnig! Rick Masters seufzte innerlich. Schade, daß ein hoffnungsvolles Leben so schrecklich enden mußte. Chefinspektor Kenneth Hempshaw kam zurück. Er nickte Rick zu. »Alles veranlasst, sie werden bald hier sein«, sagte er leise. Der Polizist, der Wache gestanden hatte, war mit dem Chefinspektor gekommen und baute sich neben der Terrassentür auf. 28 �
Offenbar befürchtete Hempshaw, daß der Mörder noch Schwierigkeiten machen würde. Aber Foster verhielt sich bis zum Eintreffen des Arztes und einiger kräftiger Männer, die Hempshaw aus dem Yard herbeordert hatte, ganz friedlich. Allerdings vermied er es, noch einen Blick auf seinen toten Onkel zu werfen. * Der Arzt verzichtete darauf, den Schriftsteller zu untersuchen. »Das kann ich im Krankenhaus viel besser«, erklärte er. »Solange der Patient nicht tobt, ist es mir lieber, ich habe hier nichts zu tun. Also, bringen wir ihn weg.« Dick Foster ließ sich anstandslos abführen. Er wirkte nicht im geringsten besorgt über sein weiteres Schicksal. Im Gegenteil, Rick kam es so vor, als freute er sich, daß man ihn entlarvt hatte. »Er sieht nicht aus, als wäre er verrückt«, raunte der Arzt dem Chefinspektor zu. »Seltsam, ich hatte mir den Patienten ganz anders vorgestellt.« »Hier läuft überhaupt einiges anders, als wir uns das vorgestellt haben«, bemerkte Rick Masters düster. »Einen Fall mit so vielen unklaren dunklen Punkten habe ich schon lange nicht mehr gehabt.« »Moment mal!« fuhr Chefinspektor Hempshaw auf. »Wieso haben Sie diesen Fall, Rick? Ihr Auftraggeber, dem Sie noch dazu den Fall zurückgeben wollten, ist als Mörder verhaftet. Was wollen Sie noch?« »Herausfinden, was sich wirklich abgespielt hat«, antwortete Rick entschlossen. »Ich muß fahren«, verkündete der Arzt. »Kommen Sie mit, Sir?« »Fahren Sie nur!« Der Chefinspektor beachtete den Arzt nicht 29 �
weiter, der sich achselzuckend abwendete. Hempshaw wartete, bis sie allein im Raum waren, dann drehte er sich zu Rick Masters um. »Hören Sie, Rick!« begann er eindringlich. »Wir haben ein paar Mal in Fällen zusammengearbeitet, in denen übernatürliche Erscheinungen eine Rolle spielten. Sie wollen doch nicht behaupten, daß hier kein normales Verbrechen vorliegt soweit man das überhaupt normal nennen kann?« Rick Masters zuckte die Schultern. »Ich habe nichts behauptet«, wich er aus. »Ich möchte nur an der Aufklärung des Mordes an dem Colonel mitarbeiten, das ist alles. Vergessen Sie nicht, Kenneth, daß Sie vor wenigen Minuten einen meiner Freunde als Mörder verhaftet haben. Da wird es Sie doch nicht wundern, wenn mich der Fall weiterhin interessiert.« Es war nicht zu erkennen, ob sich der Yard-Detektiv mit dieser Erklärung zufrieden gab, aber Rick befürchtete von ihm keine Schwierigkeiten. Dazu verstanden sie sich zu gut. »Das wird Dr. Sterling sein«, sagte Hempshaw, als ein Wagen vor dem Bungalow vorfuhr. »Sie wissen doch, ich wollte, daß er sich die Leiche des Colonels ansieht.« Rick streifte den Toten mit einem Blick, dann folgte er dem Chefinspektor hinaus in den Garten. Dabei hatte er das Gefühl, als beobachteten ihn die Augen des ermordeten Drusdale bei jedem Schritt. * Der Chefinspektor behielt mit seiner Vermutung recht. Dr. Sterling, der alte Arzt, der meistens für Hempshaws Mordkommission arbeitete, kam mit energischen Schritten auf den Bungalow zu. In der Hand hielt er die unvermeidliche schwarze Tasche, als würde er nur einen harmlosen Hausbesuch bei einem Patienten 30 �
machen. Und doch fuhr Dr. Sterling nunmehr seit über zwanzig Jahren zu den Schauplätzen der scheußlichsten Verbrechen. »Hallo, Rick! Kenneth!« Dr. Sterling wußte von dieser knappen Anweisung, worauf er besonders zu achten hatte. Es ging darum, nach Möglichkeit festzustellen, wie und worin die Leiche weggeschafft worden war. Lange Erklärungen waren zwischen diesen Angehörigen eines eingespielten Teams nicht nötig. Rick Masters bewunderte Hempshaw und dessen Mitarbeiter immer wieder für diese Routine, die nicht erstarrt war, sondern im Gegenteil zu einer lebhafteren Abwicklung der Aufklärung von Fällen führte. Rick selbst bildete nur ein Einmann-Team, aber auch das funktionierte sehr gut. Wie gut es funktionierte, sollte er gleich zeigen können. Dr. Sterling erschien nämlich wieder auf der Terrasse und blinzelte ein wenig ratlos durch seine dicken Brillengläser. »Ich dachte ich sollte hier eine Leiche untersuchen«, sagte er und blickte abwechselnd zwischen Rick Masters und Chefinspektor Hempshaw hin und her. »Aber hier ist keine Leiche!« * »Das darf doch nicht wahr sein!« riefen Rick und Hempshaw wie aus einem Mund. Sie liefen auch gleichzeitig los, nur war der junge Privatdetektiv sportlich besser trainiert als der Chefinspektor, weshalb er als erster in den Wohnraum des hypermodernen Bungalows stürmte und wie angewurzelt stehen blieb. Tatsächlich, die Leiche von Colonel Drusdale war verschwunden spurlos! Hinter sich hörte Rick Masters ein Fauchen wie von einem gereizten Tiger. Der Chefinspektor hatte die Situation mit einem Blick erfasst, rannte zum Telefon und gab Großalarm an Scot31 �
land Yard. Innerhalb weniger Minuten würde die ganze Gegend abgeriegelt sein, so daß nicht mal mehr eine Maus durch die Polizeisperren schlüpfen konnte. Und doch zweifelte Rick, daß die Aktion einen Erfolg bringen würde. Er hätte keinen stichhaltigen Grund angeben können, weshalb er seine Vermutung auch nicht aussprach, aber er wäre jede Wette eingegangen. »Wo ist das Tonband?« schrie Chefinspektor Hempshaw plötzlich. Er hatte seine Anweisungen über Telefon durchgegeben und sich dann an eine Durchsuchung des Wohnzimmers gemacht. Jetzt stand er vor dem Tonbandgerät, auf dem Rick den Schuldbeweis gegen Derrick Foster abgespielt hatte, und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die leeren Spulen. Rick trat neben den Yardmann. »Das Tonband ist ebenfalls weg«, stellte er trocken fest. »Wundert Sie das etwa, Kenneth?« »Ja, allerdings!« tobte der Chefinspektor, der in Fahrt gekommen war. »Vor dem Haus stehen Polizisten, im Garten sind wir, und Leiche und Schuldbeweis verschwinden, lösen sich einfach in Luft auf. Das geht nicht mit rechten Dingen zu.« »Eben«, bemerkte Rick gelassen. »Genau das habe ich vermutet.« Hempshaw starrte ihn an, als wollte er ihn mit seinen Blicken durchbohren, dann zuckte er die massigen Schultern, drehte sich um und stampfte hinaus, um draußen auf seine Leute von der Spurensicherung zu warten. Rick überlegte nicht lange. Hier war für ihn nichts mehr zu holen. Er wollte nur die weitere Entwicklung abwarten, und warum sollte er das unbequem tun. Also verabschiedete er sich von Dr. Sterling. »Ohne Leiche komme ich mir richtig unnütz und überflüssig vor«, beschwerte sich der alte Polizeiarzt. »Wie ein Jockey ohne 32 �
Pferd.« »Wenden Sie sich an den Chefinspektor, Doktor«, empfahl der junge Privatdetektiv. »Kenneth sieht ganz so aus, als wäre er in der richtigen Stimmung, um einen Mord zu begehen. Und wenn Sie ihn noch ein wenig reizen, sind Sie vielleicht sein Opfer. Wäre doch mal was Neues.« Dr. Sterling nahm seine Brille ab und blies ein unsichtbares Stäubchen weg. »Leider verfällt dann mein Pensionsanspruch«, sagte er kopfschüttelnd und funkelte Rick aus kurzsichtigen Augen an. »Und dem Staat schenke ich nur ungern Geld.« »Dann eben nicht, ich habe es gut gemeint.« Rick winkte ihm kurz zu, dann lief er zu seinem Wagen. Hempshaw suchte er nicht erst in dem Gewirr der inzwischen eingetroffenen Polizisten und Spurenleute. Erstens war der Chefinspektor mit dem Verteilen der Aufgaben beschäftigt, und außerdem hielt es Rick für besser, Hempshaw im Moment aus dem Weg zu gehen. Den Grund dafür hatte er Dr. Sterling sehr eindrucksvoll auseinandergesetzt. Unbehelligt passierte der dunkelgrüne Morgan die Polizeisperren und richtete seine lang gezogene Schnauze in Richtung City, wo der junge erfolgreiche Londoner Privatdetektiv sein Wohnbüro unterhielt. Wo befand sich die Leiche von Colonel Drusdale? Wieso war sie zweimal verschwunden? Wo war der »Stein des Verderbens« verborgen? Was wurde jetzt aus Derrick Foster, dem Kriminalautor? Alles Fragen, auf die es noch keine Antworten gab, die aber lebenswichtig waren für die Beteiligten und für Rick Masters. *
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Die Tür fiel hinter Rick Masters ins Schloß. Seufzend blickte er auf die in seinem Wohnbüro herrschende Unordnung, die irgendwann einmal beseitigt werden mußte. Dieses Irgendwann schob der junge Privatdetektiv gern hinaus, doch nun beschloß er, daß es höchste Zeit war, etwas für die häusliche Gemütlichkeit zu tun. Raumpflegerinnen liefen meistens schon nach vierzehn Tagen weg, weil ihnen die chronische Schlamperei Ricks auf die Nerven fiel, und Frauen, denen sich Rick auch privat widmete, hielten es meistens noch kürzer bei ihm aus. Sein Beruf war daran schuld, der keine geregelten Arbeitszeiten kannte. Mehr als drei geplatzte Verabredungen schluckte bisher noch keine von Ricks Freundinnen. Da er also auf Fremdhilfe verzichten mußte, machte sich der junge Privatdetektiv seufzend an die Arbeit. Er hasste Aufräumen fast genauso wie Leichen, die auf rätselhafte Weise verschwanden, wieder auftauchten und wieder verschwanden. Seine Gedanken kreisten die ganze Zeit über um die rätselhaften Umstände des Todes von Colonel Drusdale, so daß Rick nach mehreren Stunden Schufterei im Schweiße seines Angesichts feststellen mußte, daß er durch seine Zerstreutheit kaum eine Besserung des Durcheinanders in der Wohnung erzielt hatte. Er kapitulierte und ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen. Bei einer Zigarette und einem Glas Whisky, den er sich bitter verdient hatte, wollte er sich entspannen. Das Telefon stand in Griffweite, so daß seine Entspannung auch nicht durch das Klingeln unterbrochen wurde. »Hier Zwangsarbeitslager Masters«, meldete sich der junge Privatdetektiv mit einem erstickten Stöhnen. »Welcher Faulpelz spricht dort?« »Behaupten Sie bloß, daß Sie auch einmal etwas gearbeitet haben, Rick!« rief Chefinspektor Kenneth Hempshaw lachend. »Das paßt doch gar nicht zu Ihnen.« 34 �
»Erwarten Sie meinen Sekundanten noch heute Abend, Kenneth«, erwiderte Rick lachend. »Wir duellieren uns morgen um fünf Uhr früh auf der Tower Bridge. Was gibt es Neues?« »Derrick Foster wurde zur Beobachtung in eine Nervenklinik hier in London gebracht. War zu erwarten, finden Sie nicht?« »Das weiß ich noch nicht«, gebrauchte Rick schon wieder eine Ausrede. Er wußte noch zu wenig, um sich in diesem Fall auf eine Meinung festnageln zu lassen. »Sonst noch etwas?« »Ich habe vorhin lange mit dem Arzt telefoniert, der Foster beobachtet«, berichtete der Chefinspektor. »Foster benimmt sich ganz seltsam, aber es paßt in das Gesamtbild. Ein Mörder, der seine Tat geistig nicht verarbeiten kann, sozusagen die Schuld von sich abschieben will, indem er sich selbst vortäuscht, sein Opfer wäre noch am Leben.« »Und wie äußert sich das?« fragte Rick Masters interessiert und trocknete sich sein schweißnasses Gesicht. »Er spricht laut mit seinem Onkel. Und er hat eine Verabredung mit dem Colonel getroffen, für Mitternacht.« Rick Masters nahm einen Schluck Whisky, ehe er antwortete. »Geben Sie nur acht, Kenneth, daß Derrick Foster diese Verabredung nicht einhält!« »Eine Verabredung mit einem Toten? Rick, hören Sie auf, sonst muß ich Sie noch für übergeschnappt halten.« »Tun Sie das ruhig, ich tue es ja umgekehrt auch.« Rick warf den Hörer rasch zurück auf den Apparat, ehe Hempshaw überhaupt begriffen hatte, welche Bosheit in den Worten des Privatdetektivs steckte. Keine zwei Minuten später läutete erneut das Telefon. »Hier spricht der Vormund von Chefinspektor Hempshaw«, meldete sich Rick. »Tut mir leid, Sie können mit Hempshaw nicht sprechen, er wurde entmündigt.« »Ich nehme Ihre Forderung an«, hörte er Hempshaws Stimme 35 �
aus dem Hörer. »Um fünf Uhr auf der Tower Bridge!« Diesmal legte der Chefinspektor als erster auf. * Der Eisschrank war gut gefüllt, Rick Masters fühlte sich ein wenig müde und hatte keine Lust zum Ausgehen. Außerdem wußte er nicht, wohin er allein gehen sollte. Also blieb er zu Hause in der gewohnten Unordnung seines Wohnbüros und bereitete sich selbst das Abendessen. Im Fernsehen lief die Wiederholung eines Kriminalfilms von Agatha Christie, und Rick Masters nutzte ihn als Zeitvertreib während des Essens. Danach wanderte das schmutzige Geschirr, zu dem Berg in der Küche, der sich innerhalb der letzten Tage angesammelt hatte. In stiller Verzweiflung stellte Rick fest, daß innerhalb der nächsten Woche gespült werden mußte, sonst konnte er seine Küche nicht mehr betreten, und sein Geschirr reichte auch nicht mehr aus. Vor dem leidigen Abwasch rettete ihn das Telefon. In den letzten Stunden hatte es mildtätig geschwiegen, aber jetzt war es in voller Stärke da. Rick hatte seine Ausrede, weshalb er nicht zum zweiten Mal an diesem Tag Hausarbeiten verrichten mußte, und dankte im stillen für diesen Anruf. Die Freude über den späten Anrufer elf Uhr abends verging Rick allerdings schnellstens. Der Stimme von Chefinspektor Kenneth Hempshaw hörte er sofort an, daß etwas Wichtiges und gleichzeitig Unangenehmes geschehen sein mußte. »Reden Sie nicht lange um den heißen Brei herum, Kenneth!« forderte er den Yard-Detektiv auf. »Ich habe genug im Magen, um einen anständigen Schock zu vertragen.« »Foster ist ausgerückt!« »Foster?« Rick verschlug es die Sprache. »Er ist geflohen? Wie 36 �
ist das denn passiert? Wurde er nicht bewacht?« »Doch«, erwiderte Hempshaw lakonisch. »Sehr streng sogar, vom Anstaltspersonal und von einem Polizisten. Trotzdem ist er weg. Er sagte noch vorher einem Arzt, er hätte um Mitternacht eine Verabredung, die er unbedingt einhalten müsse. Es wäre für ihn lebenswichtig, daß er pünktlich sei.« »Sprach's, und hielt die Verabredung ein. Das heißt, Mitternacht ist erst in einer Stunde. Sagte er auch, wohin er wollte?« »Leider nein.« Das nervöse Trommeln der Finger Hempshaws auf seinem Schreibtisch hörte man sogar durch das Telefon. »Die Suche ist bisher ergebnislos verlaufen. Nur ein Glück, daß niemand verletzt wurde.« »Sagen Sie endlich, wie er aus der Anstalt herausgekommen ist, Kenneth!« Rick konnte es sich nicht vorstellen, daß ein Mörder so einfach aus einer geschlossenen Anstalt ausrückte, noch dazu, wenn er unter strenger Aufsicht stand. »Wir wissen es wirklich nicht, Rick«, sagte der Chefinspektor verzweifelt. »Keiner kann sich daran erinnern, gesehen zu haben, wie Derrick Foster sein versperrtes Zimmer und das Haus verließ. Es hat aber auch niemand die Tür aufgebrochen, keiner wurde niedergeschlagen oder sonst wie betäubt. Wir stehen vor einem Rätsel, zu dem es keine Lösung gibt.« »Unsinn!« fuhr Rick Masters dazwischen. »Zu jedem Rätsel gibt es eine Lösung. Man muß sie nur finden.« »Wollen Sie sie finden?« fauchte Hempshaw gereizt. »Der ganze Yard steht Kopf, und Sie behaupten in aller Ruhe…« »Ich habe nicht behauptet, daß ich die Lösung kenne, aber denken Sie an meine Vermutungen.« »Übernatürliches!« Hempshaw schnaufte durch die Nase. »Ich bin Kriminalist.« »Denken Sie an unsere gemeinsamen Fälle!« erinnerte Rick seinen Freund. »Da haben Sie auch oft vorher die Nase gerümpft 37 �
und mußten hinterher eingestehen…« »Ich gestehe nicht, ich bin dazu da, Geständnisse zu erhalten.« Rick Masters kannte den Chefinspektor. Trotz aller Beweise wurde er nicht gern mit übernatürlichen Phänomenen konfrontiert. Zumindest nach außen hin wehrte er sich immer bis zuletzt, daran zu glauben, daß ›nicht alles mit rechten Dingen zuging‹, wie er sich ausdrückte. Und Rick wußte auch, daß mit Hempshaw dann nicht zu reden war. »Na schön, Kenneth«, lenkte er ein. »Sie melden sich wieder bei mir, wenn Sie etwas Neues erfahren haben, ja?« »In Ordnung, Rick.« Nach diesem Gespräch überlegte Rick Masters, wie er sich an der Suche nach Derrick Foster beteiligen konnte, doch das Telefon störte ihn wiederum. Auch diese Stimme kannte der junge Privatdetektiv, und sie riß ihn fast vom Stuhl. »Dick?« keuchte er nach den ersten Worten. »Mann, Dick, was machst du für Unsinn? Warum bist du ausgerückt?« Derrick, genannt Dick, lachte leise. »Das müsstest du doch längst wissen«, sagte er tadelnd. »Warum glaubst du wohl, habe ich mich zu einem Mord entschlossen? Ich wollte den ›Stein des Verderbens‹, den größten Diamanten der Welt, und ich will ihn noch immer. Dafür würde ich alles tun, alles, hörst du?« »Ja, schon gut, du brauchst nicht gleich zu schreien!« Rick Masters überlegte fieberhaft, wie er den Aufenthaltsort des Schriftstellers herausfinden konnte. »Wo steckst du eigentlich?« fragte er in möglichst harmlosem Ton. Er hoffte, Derrick Foster würde sich verraten. »Das sage ich dir nicht«, kam die enttäuschende Antwort. »Aber ich möchte mich mit dir treffen, Rick. Du hast den Fall von mir angenommen, hast auch einen Vorschuss auf dein Honorar erhalten. Jetzt möchte ich, daß du Zeuge wirst, wie ich 38 �
den Diamanten an mich bringe.« »Einverstanden«, erklärte Rick sofort. »Wo treffen wir uns?« »Am Norwood-Friedhof. Kennst du ihn?« Rick bejahte, und Foster fuhr fort: »Aber lass dir eines gesagt sein, mein Freund: wenn du die Polizei mitbringst oder mir sonst eine Falle stellst, geht es dir schlecht. Die Polizei nützt dir nichts, und du kannst nichts gegen mich ausrichten. Also, sei vernünftig und komm allein.« »Ich werde allein sein, und ich werde den Mund halten«, versprach der junge Privatdetektiv. »Wann soll ich dort sein?« »Um Mitternacht vor dem Haupteingang. Wir werden einen lieben alten Bekannten zu sehen bekommen, Rick.« »Wer ist es?« In Masters dämmerte eine Ahnung auf, aber noch erschien ihm die Idee zu phantastisch. »Lass dich überraschen, Rick! Geduld! Um Mitternacht am Haupteingang. Und denke an dein Versprechen!« Es klickte. Foster hatte die Verbindung unterbrochen. Einem ersten Impuls folgend, wählte Rick Scotland Yard an, doch nach der dritten Ziffer legte er auf. Zum Teil hatte die Drohung Fosters mit seinem Entschluß zu tun, zum Teil aber auch seine persönliche Neugierde. Jedenfalls wollte Rick Masters wirklich allein auf den Friedhof fahren. Und er wollte vorher niemandem etwas davon verraten. Er war sich dessen bewußt, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach einem verrückten Mörder gegenüberstehen würde, aber, das Risiko nahm er auf sich. Die zweite Möglichkeit war so unglaublich, daß sich sogar Rick Masters erst eine Bestätigung seiner Theorie holen wollte, ehe er etwas anderes unternahm. Mitternacht, Norwood-Friedhof. War es eine Verabredung mit dem Tod?
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Dick Foster wartete bereits am Haupteingang des Friedhofs, als Rick seinen Morgan an der Mauer parkte. Irgendwie war es dem Kriminalautor gelungen, das Tor zu öffnen. Er drückte es gerade so weit auf, daß er durchschlüpfen konnte, und winkte Rick, ihm zu folgen. Mit sehr gemischten Gefühlen betrat Rick Masters das Friedhofsgelände. Er war nicht hergekommen, um einen wahnsinnigen Mörder zu stellen. Das hätte er der Polizei überlassen können. Er dachte an die angebliche Verabredung, die Foster mit seinem ermordeten Onkel nach eigenen Angaben getroffen hatte. Stimmte es? Hatte sich Colonel Drusdale tatsächlich mit seinem Mörder, seinem Neffen, in Verbindung gesetzt? Oder waren diese Behauptungen nur die Ausgeburt eines kranken Gehirns? Dick Foster blieb stehen und drehte sich zu Rick Masters um. Im hellen Mondschein war das Gesicht des Schriftstellers gut zu erkennen. Keine Spur von Wahnsinn. »Du bist wirklich allein gekommen«, sagte Foster. Es klang wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage. »Ich sehe es dir an, Rick, du hast dein Versprechen gehalten.« »Allerdings, das habe ich«, bestätigte Masters. »Und wie geht es jetzt weiter?« Foster setzte sich auf die Steineinfassung eines Grabes. In aller Gemütsruhe zog er eine Packung Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an. »Ich weiß, daß du mich verabscheust, Rick«, sagte er und blies den Rauch in den nächtlichen Himmel. »Ich habe meinen Onkel erstochen, und deshalb stempelst du mich zum Mörder.« »Du bist ein Mörder«, verbesserte Masters korrekt. 40 �
»Dem Gesetz nach.« Foster zuckte geringschätzig die Schultern. »Was kümmert mich das Gesetz, wenn es um den größten Diamanten der Welt geht.« »Auch er gibt dir nicht das Recht…« »Halte mir keine Predigt!« fuhr Foster den Privatdetektiv grob an. »Der Stein ist Milliarden wert. Wir beide können die reichsten Männer der Welt werden. Dann fragt auch niemand mehr nach dem Gesetz, das weißt du.« Rick blieb unbeweglich stehen. »Wieso wir beide?« Sein kalter Blick ruhte starr auf dem lächelnden Mörder. »Weil ich mit dir teilen werde, Rick.« Foster sah Masters erwartungsvoll an. Offenbar war er enttäuscht, daß sein Freund nicht in Begeisterung ausbrach. »Du hast den Diamanten doch gar nicht«, hielt ihm Rick vor. »Noch nicht«, wandte der Autor ein. »Aber in einer Stunde gehört er mir. Der Colonel wird mir das Versteck zeigen.« Rick Masters hielt den Atem an. Das war es, weshalb er persönlich hergekommen war und nicht die Polizei geschickt hatte. Der Colonel! Grausiges, übernatürliches Phänomen oder Wahnvorstellung eines Irren? »Du hältst mich für verrückt?« Foster lachte schallend. »In ein paar Minuten wirst du anders denken. Komm, ich zeige dir etwas, das dich interessieren wird!« Ohne auf eine Antwort zu warten, erhob sich der Schriftsteller von dem Steinrand des Grabes und schritt zwischen den Reihen hindurch. Rick folgte ihm in einem kleinen Sicherheitsabstand, damit er nicht von einem plötzlichen Angriff überrascht werden konnte. Nach ein paar Minuten blieb Foster stehen und deutete auf eine freie Wiesenfläche. »Was soll das sein?« erkundigte sich Rick, der sich größte Mühe gab, sich seine Erregung nicht anmerken zu lassen. »Ich 41 �
sehe nur Gras, sonst nichts.« Absichtlich versuchte er, Foster zu provozieren, damit er mehr erfuhr. »Hier ist die Stelle, die sich mein Onkel, der Colonel, für sein Grab ausgesucht hat, als er noch lebte«, erklärte Dick Foster. »Und hier werde ich mich mit ihm treffen. Vielleicht ist der Diamant sogar an dieser Stelle vergraben, wer weiß.« Rick Masters konnte keine Fragen mehr stellen, da sich von der anderen Seite des Friedhofs her eine Gestalt näherte. Wegen der großen Entfernung konnte Rick nicht erkennen, wer es war, doch für ihn stand ziemlich fest, den Colonel vor sich zu haben. »Versteck dich!« zischte Foster. »Ich will nicht, daß er dich sieht, sonst geht er vielleicht wieder.« »Warum hast du mich dann überhaupt mitgenommen?« fragte Rick Masters flüsternd. »Weil mir ein wenig unheimlich bei der Sache ist«, antwortete der Schriftsteller leise. »Du sollst mich schützen! Aber verschwinde doch endlich!« Rick tauchte zwischen den Grabsteinen unter und verfolgte angespannt das unfassbare Geschehen, das sich vor seinen Augen abspielte. Colonel Anthony Drusdale, bleich und wächsern, kam mit kurzen, abgehackten Schritten auf seinen Neffen zu, der ihn ermordet hatte. Welche unerklärliche Macht trieb den Leichnam des Mordopfers an, daß er sich über alle Naturgesetze hinwegsetzen konnte? Nicht einmal Rick Masters, der sich auf die Aufklärung übernatürlicher Phänomene spezialisiert hatte, wußte darauf eine Antwort. Der Colonel streckte den Arm aus und winkte Foster, ihm zu folgen. In Dicks Gesicht stritten die widersprüchlichsten Gefühle gegeneinander. Einerseits empfand er namenloses Grauen vor dem Mann, den er selbst erstochen hatte, aber andererseits fraß 42 �
die Gier in ihm, die Gier, den größten Diamanten der Welt zu besitzen und dadurch zum reichsten Mann zu werden. Er riß sich zusammen und folgte dem Leichnam seines Onkels… * Colonel Drusdale schlug den Weg zum Haupteingang ein. Er mußte ganz dicht an Rick Masters vorbeikommen, der sich so eng wie möglich an den Grabstein preßte, hinter dem er in Deckung gegangen war. Der junge Privatdetektiv verschmolz förmlich mit dem Stein, so daß ihn nur ein sehr scharfes Auge erkennen konnte. Der Colonel oder sein Leichnam oder was immer diese gräßliche Erscheinung sein mochte fühlte die Nähe eines Lebewesens. Er stockte mitten in der Bewegung und wendete Rick das bleiche Gesicht zu. Die erloschenen Augen richteten sich auf den Privatdetektiv, dem das Blut in den Adern zu erstarren schien. »Du hast dich nicht an meine Befehle gehalten«, tönte die hohle, gleichsam aus einem Grab dringende Stimme des Colonels seinem Neffen entgegen. »Du wolltest mich betrügen. Du wirst den Diamanten nicht bekommen!« Foster hob flehend die Hände. Unter der Enttäuschung brach er fast in die Knie. Er brachte kein Wort über die Lippen. Der Colonel entfernte sich mit unheimlicher Schnelligkeit. Er schien über den Boden zu schweben. Rick sprang auf und jagte hinter der Erscheinung her. Er wollte den Colonel einholen und versuchen, ihn unschädlich zu machen. Offenbar hatte er es mit einem Mann zu tun, der auch noch nach seinem Tod über besondere Fähigkeiten verfügte, die der Menschheit gefährlich werden konnten. Rick wollte verhindern, daß jemand Schaden erlitt. 43 �
Er konnte den Colonel nicht einholen. So sehr er sich auch bemühte, der Abstand zwischen ihm und dem Entfliehenden wurde nicht geringer. Und schlagartig war Drusdale verschwunden. Es gab nichts, wo er sich hätte verstecken können, aber er war nicht mehr zu sehen, auch wenn Rick das deutliche Gefühl hatte, Drusdale wäre noch immer in seiner Nähe. Die Worte der Haushälterin des Ermordeten fielen ihm ein, die behauptet hatte, die Anwesenheit des Colonels in seinem Arbeitszimmer gefühlt zu haben, obwohl niemand zu sehen gewesen war. Jetzt begriff Rick, was die Frau damit gemeint hatte. Der Privatdetektiv kehrte um. Eine weitere Suche nach Drusdale hatte keinen Sinn, und er wollte wenigstens seine Pflicht erfüllen und den Mörder wieder der Gerechtigkeit ausliefern. Derrick Foster hatte jedoch nicht auf ihn gewartet. Rick lief zwischen den Gräberreihen zurück zum Hauptausgang. Auch die Straße lag menschenleer vor ihm. Vor Wut hätte er sich am liebsten selbst geohrfeigt. Außer der Bestätigung seines Verdachtes, daß Übernatürliches hm Spiel war, hatte er nichts erreicht. Und wenn noch zusätzlich der Chefinspektor Wind davon bekam, daß sich Rick mit dem entflohenen Mörder Derrick Foster getroffen hatte, ohne vorher die Polizei zu verständigen, saß Rick gewaltig in der Tinte. Dann half ihm auch seine Freundschaft mit Hempshaw nichts mehr. Mit den bösesten Vorahnungen ging der Detektiv zu seinem geparkten Morgan zurück. Er wollte bereits einsteigen, als er die Gestalt sah. Ein Mann saß auf dem Fahrersitz und beugte sich tief hinunter. Er machte sich unter dem Armaturenbrett zu schaffen. »Du kannst den Wagen nicht so leicht kurzschließen, Dick«, sagte Rick Masters leise. 44 �
Foster fuhr wie von einer Schlange gebissen hoch. Er fing sich aber schnell und verzog sein Gesicht zu einem verzerrten Grinsen. »Keine Angst, Rick, ich will deinen Wagen nicht stehlen«, preßte er hervor. »Sieht aber ganz so aus, Dick«, entgegnete der junge Privatdetektiv eisig. »Rick, denke an den Diamanten! Ich beteilige dich, dabei bleibt es. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß ich den Colonel dazu bringe, mir das Versteck zu zeigen. Rick, Millionen warten auf uns beide!« Wortlos stieg Masters über die niedrige Seitentür des offenen Sportwagens und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Mit einem schnellen und geschickten Griff öffnete er den Geheimverschluß des Handschuhfachs und schaltete das darin verborgene Funkgerät ein, über das er sich direkt mit der Polizeifunkzentrale in Verbindung setzen konnte. »Rick Masters spricht«, sagte er in das Mikrofon. »NorwoodFriedhof. Ich habe Derrick Foster im Wagen.« Rick konnte nicht weitersprechen. Wie er erwartet hatte, griff Foster ihn an. Rick wehrte den Schlag mit einem gezielten Aufwärtshaken ab. Die Meldung an die Polizei hatte er durchgebracht, und das war im Augenblick das Wichtigste. Er hatte den Mörder überrumpelt. Jetzt ging es auf Leben und Tod. Derrick Foster hatte nichts zu verlieren. Er hatte ein Leben hinter Gittern vor sich, wobei es ihm gleichgültig war, ob die Gitter zu einem Gefängnis oder einer geschlossenen Irrenanstalt gehörten. Und er wurde von der Wahnidee aufgepeitscht, den größten Diamanten der Welt an sich zu bringen. Beides verlieh ihm fast übermenschliche Kräfte. 45 �
Rick hatte zwar den ersten Angriff abgefangen, doch Foster durchbrach mit Leichtigkeit seine Deckung. Die Hände des Mörders schlossen sich wie stählerne Klammern um den Hals des Privatdetektivs. Die beiden Männer wurden durch die engen Sitze in ihrer Bewegungsfreiheit behindert. Ihre Beine konnten sie überhaupt nicht einsetzen. Der Schriftsteller drückte immer fester zu, so daß Rick die Luft wegblieb. Sein rechter Arm wurde durch die Sitzlehne eingeklemmt. Er holte mit der Linken aus und ließ sie ein paar Mal in Fosters Gesicht krachen, doch der Schriftsteller zeigte kaum eine Wirkung. Dicht vor sich sah Rick das schweißüberströmte Gesicht des Mörders, der entschlossen war, auf seiner Jagd nach dem Diamanten ein zweites Todesopfer zurückzulassen. Menschenleben spielten für Foster keine Rolle mehr. Rick ließ scheinbar erschöpft seine Arme sinken, und Foster fiel auf die Täuschung herein. Kaum hatte Rick die Hände gesenkt, als er sie zu Fäusten ballte. Mit einer letzten Anstrengung rammte er sie vorwärts und traf genau in die Magengrube des Mörders. Der Schlag hatte nicht die gleiche Wirkung, die er gehabt hätte, wenn beide auf einem freien Platz gekämpft hätten, aber Rick legte genug Dampf dahinter, daß Foster sich nach vorne krümmte. Die Finger an Ricks Hals lösten sich. Der Mörder japste nach Luft und stöhnte schmerzlich. Trotz des geringen Spielraums im Wagen gelang es Rick, das rechte Knie an seinen Körper zu reißen. Beim Hochschnellen krachte die Kniescheibe gegen Fosters Kinn, der sich von dem Treffer im Magen noch nicht erholt hatte. Der Körper des Mörders wurde nach hinten geschleudert und 46 �
prallte gegen die Seitentür des Wagens. Sie war nicht fest eingeklinkt, sprang auf, und Foster rollte rücklings auf das Pflaster. Rick wußte nicht, ob sein Gegner ohnmächtig war. Er ließ sich auf kein Risiko ein, zog rasch seine Beine an und schnellte sich über den Fahrersitz ebenfalls hinaus aus dem Morgan. Der junge Privatdetektiv fiel direkt auf Foster. Der Mörder war noch nicht außer Gefecht gesetzt. Er hatte Ricks Aktion vorausgesehen und empfing ihn mit seiner vorschnellenden Faust. Es gelang Masters nicht mehr ganz, der Faust auszuweichen. Er riß zwar den Kopf zur Seite, doch die Knöchel von Fosters Hand schrammten über seine Wange und sein linkes Ohr, das sogleich wie Feuer zu brennen begann. Trotz des lädierten Ohres hörte Rick Masters das Schrillen der Alarmklingeln. Die ersten Streifenwagen rasten die stille Straße heran. Die Blaulichter zuckten nervös auf den Dächern der Autos. Das Auftauchen der Polizei verlieh beiden Kämpfern neue Kräfte. Rick wollte den Kampf schnell beenden, und Foster wußte, daß er seine Suche nach dem Diamanten nicht mehr fortsetzen konnte, sobald die Polizisten eingetroffen waren. Der Mörder drosch wild auf Rick Masters ein, aber gerade seine unüberlegten und heftigen Schläge waren ein Fehler. Rick wischte dessen Fäuste mit einem einzigen Schwinger zur Seite. Knallhart setzte er einen Aufwärtshaken gegen die Kinnspitze Fosters. Mit einem Seufzen streckte sich der Schriftsteller und bewegte sich nicht mehr. Keuchend erhob Rick sich, gerade als der erste Streifenwagen mit quietschenden Reifen neben dem Morgan des Privatdetektivs stoppte. Die Polizisten sprangen heraus, doch sie fanden die Arbeit bereits getan. Handschellen klickten, dann trugen zwei der Uniformierten den ohnmächtigen Mörder in den Streifenwagen. 47 �
»Vielen Dank, Sir«, sagte der Streifenführer. »Übrigens, Chefinspektor Hempshaw ist hierher unterwegs. Sie sollen auf ihn warten, läßt er Ihnen ausrichten.« »Fein, das freut mich«, log Rick Masters. In Wirklichkeit freute er sich nicht im geringsten auf das bevorstehende Gespräch mit dem Chefinspektor. Die Vorwürfe konnte er sich bereits ausmalen. Rick Masters mußte nicht lange auf Hempshaw warten. Fünf Minuten waren seit dem Abtransport des noch immer ohnmächtigen Fosters vergangen, und Rick hatte eine Zigarette zu zwei Dritteln geraucht, als der Dienstwagen von Scotland Yard neben ihm bremste. Die massige Gestalt des Chefinspektors schob sich ins Freie. »Hallo, Kenneth, das war ein Fang!« spielte Rick Masters Fröhlichkeit, die er nicht fühlte. Das schlechte Gewissen drückte ihn. »Ich halte mich an Abmachungen«, erklärte Hempshaw eisig. »Wenn ich jemandem verspreche, daß ich ihn auf dem laufenden halte, dann tue ich es auch.« »Kenneth, hören Sie zu, ich habe etwas Sensationelles entdeckt!« redete Rick Masters beschwörend auf Hempshaw ein. »Colonel Drusdale war hier auf dem Friedhof! Er kam, um seinem Neffen das Versteck des Diamanten zu zeigen!« »Und er saß beim Weihnachtsmann in einem von siebenundachtzig Rentieren gezogenen Schlitten und flog durch die Lüfte. Das wollten Sie doch sagen!« fauchte der Chefinspektor wütend. »Es hat keinen Sinn, wenn Sie mich ablenken wollen. Sehen Sie zu, wie Sie zurechtkommen, Rick! Ich lasse mich jedenfalls nicht mehr dazu ausnutzen, Ihnen Informationen zu liefern, während Sie sich heimlich mit Mördern treffen.« Damit drehte sich der Chefinspektor um und stieg in seinen Dienstwagen. Ehe Rick noch etwas einwenden konnte, fuhr die Limousine an. 48 �
Der junge Privatdetektiv starrte hinter den roten Schlusslichtern des Wagens her, bis sie verschwunden waren. Eigentlich hatte Hempshaw allen Grund auf ihn wütend zu sein, das mußte er zugeben. Es war nicht fair von ihm gewesen, Hempshaw nicht zum Norwood-Friedhof mitzunehmen. Aber andererseits… Rick entschied, daß er über sein Gewissensproblem am besten in seinem Bett nachdenken konnte. Der Kampf hatte ihn mitgenommen, und die Horizontale war im Augenblick die geeignetste Lage für ihn. Er setzte sich in seinen Morgan, genoß die erfrischende Nachtluft, die ihn umwehte, und befahl seinem schlechten Gewissen zu schweigen. Das Chronometer im Armaturenbrett des dunkelgrünen Morgan zeigte auf drei Uhr, als Rick Masters seinen Wagen vor dem ältesten Cafe der City von London anhielt und versperrte. Oberhalb des jetzt geschlossenen Lokals lag sein Wohnbüro, und in diesem Wohnbüro stand sein Bett. An etwas anderes dachte der junge Privatdetektiv nicht, als er sich die Treppe hinaufschleppte. Für diese Nacht war sein Bedarf an Aufregung gedeckt. Dachte er. * Die Ruhe war nur von kurzer Dauer. Rick Masters hatte sich nach dem Betreten seiner Wohnung die Kleider vom Leib gerissen und sie von sich geworfen. Nun markierten sie genau den Weg von der Tür bis zu seinem Bett, in dem er sich unruhig herumwälzte. Zwar war er sofort eingeschlafen, aber Alpträume quälten ihn. Das Telefon erlöste ihn aus diesen Angstvorstellungen. Ohne richtig zu wissen, was er tat, nahm Rick Masters den Hörer ans Ohr und warf dabei ganz automatisch einen Blick auf den Zeit49 �
geber neben seinem Bett. Vier Uhr morgens. Draußen war es noch dunkel. »Ich soll Ihnen etwas ausrichten«, sagte eine Rick völlig fremde Männerstimme. »Wer spricht denn überhaupt?« murmelte der Detektiv schlaftrunken. »Nicht wichtig. Hören Sie zu, ich habe eine Botschaft für Sie von Derrick Foster!« Mit einem Schlag war Rick Masters hellwach. »Ich höre!« rief er in das Telefon. »Derrick Foster läßt Ihnen bestellen, dass Sie von jetzt an jederzeit damit rechnen müssen, dass er Sie tötet. Und Sie können sich darauf verlassen, daß er sein Versprechen halten wird. Er wird Sie töten, Mr. Masters. Das hat er geschworen.« »Hallo, hallo, wer sind Sie?« Aber es hatte keinen Sinn mehr. Der Mann hatte schon aufgelegt. Rick Masters machte kein Licht. In der Dunkelheit tastete er nach Zigaretten und Feuerzeug. Nachdem er die Zigarette zur Hälfte geraucht hatte, zerstieß er sie im Aschenbecher und drückte den Schalter der Stehlampe neben dem Bett. Mit fliegenden Fingern suchte er die Nummer der Anstalt heraus, in die Derrick Foster beim ersten Mal eingeliefert worden war. Rick wußte nicht genau, wo Foster jetzt festgehalten wurde, aber er wollte es auf jeden Fall versuchen. Das Klingelzeichen ertönte zehnmal, ehe jemand abhob. Es war eine Nachtschwester, wie sich herausstellte. »Ja, Mr. Foster liegt bei uns in der geschlossenen Abteilung«, bestätigte sie. »Ist er noch in seinem Zimmer?« wollte Rick wissen. Es kostete ihn einige Mühe, der Schwester zu erklären, wer er war, wieso er anrief und was er wollte. Er gebrauchte sämtliche Ausreden, die 50 �
ihm einfielen. »Einen Moment«, sagte die Krankenschwester endlich. »Ich verbinde Sie mit dem für diese Station zuständigen Pfleger.« Es klickte ein paar Mal in der Leitung, dann meldete sich eine Männerstimme. Rick Masters zuckte zusammen. Sein Instinkt hatte ihn also doch nicht getäuscht. Dieser Mann hatte ihn vor wenigen Minuten angerufen und ihm die Morddrohungen Fosters übermittelt. »Hier spricht Rick Masters«, sagte der junge Privatdetektiv. »Sie haben vorhin mit mir telefoniert.« »Ich?« staunte der Mann. »Ich habe mich von meinem Posten nicht weggerührt bis eben. Wer sind Sie eigentlich? Und was wollen Sie von mir?« Das Erstaunen klang so echt, daß Rick fast glaubte, der Mann habe tatsächlich keine Ahnung von dem Telefongespräch. Andererseits war Rick davon überzeugt, daß der Pfleger der Anrufer war. »Ist Foster in seinem Zimmer?« fragte er. »Und wenn ja, gibt es Telefon in den Zimmern?« »Fragen stellen Sie!« rief der Krankenpfleger verblüfft. »Selbstverständlich sind alle unsere Patienten in ihren Zimmern. Und glauben Sie, daß wir Telefon in die Zimmer von diesen Leuten stellen? Das ganze kommt mir sehr seltsam vor, Ich werde die Polizei anrufen.« »Da wird sich die Polizei aber freuen«, murmelte Rick Masters und legte auf. Die Empörung zuletzt war absolut echt gewesen, das hätte Rick auf seinen Eid genommen. Der Krankenpfleger, der für Derrick Foster zuständig war, richtete Rick Masters um vier Uhr nachts eine Morddrohung des Schriftstellers aus und erinnerte sich hinterher an nichts mehr. Wäre Rick Masters munterer gewesen, hätte er entsprechende 51 �
Schlüsse daraus gezogen. So aber beschloß er, am nächsten Morgen der Sache nachzugehen, und legte sich wieder ins Bett. Noch wußte er nicht, daß sein Schlaf nur mehr zwei Stunden dauern und daß es ein unsanftes Erwachen geben würde. * Ein Mann beugte sich über Ricks Bett. In seiner Hand blitzte die lange Klinge eines breiten, scharfen Messers. Die Spitze zeigte genau auf Ricks Herz. Mit einem fürchterlichen Schrei stieß der Mörder zu… Rick setzte sich mit einem erstickten Stöhnen im Bett auf. Immer wieder träumte er diese schrecklichen Visionen. Und jedes Mal hatte der Mörder, der ihm das Messer ins Herz rammte, die Gesichtszüge von Derrick Foster, der einmal sein Freund gewesen war und ihm jetzt den Tod geschworen hatte. Rick schüttelte die Benommenheit von sich ab und merkte erst in diesem Augenblick, daß das Telefon klingelte. Er hatte es vor dem neuerlichen Einschlafen um vier Uhr mit einigen Kissen zugedeckt, weil er dringend Ruhe brauchte. Seither waren nur zwei Stunden vergangen, und der junge Privatdetektiv wunderte sich nicht darüber, daß er sich noch elender und zerschlagener fühlte als zuvor. Außerdem brannten seine linke Wange und das Ohr, wo ihn der Schlag Fosters getroffen hatte. Mit bebenden Fingern griff Rick nach dem Hörer und führte ihn ans Ohr. Immer wieder bekam er Gelegenheit, das Telefon als die erbärmlichste Erfindung aller Zeiten zu verfluchen. »Ich hoffe, du hast trotzdem gut geschlafen«, drang eine widerlich sanfte, ölige Stimme in Ricks Bewußtsein. Masters mußte sich mit aller Gewalt beherrschen, um nicht einen lauten Schreckensschrei auszustoßen. 52 �
Das war die Stimme von Derrick Foster! »Dick«, fragte er gepresst, »warum rufst du an?« »Aber, Rick!« Foster lachte leise und blechern. »Das weißt du doch sehr gut. Ich will dich nur daran erinnern, daß du nicht mehr lange zu leben hast.« »Damit kommst du nicht durch«, entgegnete Rick Masters laut, als müßte er sich selbst davon überzeugen, daß er auch wirklich glaubte, was er da behauptete. »Du wirst weder aus der Anstalt ausbrechen, noch wirst du mich töten können, Dick.« »Der Colonel hilft mir dabei, mein Freund«, antwortete ihm die schleimige Stimme Fosters, die von Hohn troff. »Du kannst inzwischen das Fürchten lernen.« Masters schüttelte wild den Kopf. »Das ist irgendein schmutziger Trick, mit dem du mich nervös machen willst, Dick. Das gelingt dir nicht.« »Abwarten, mein Freund, abwarten! Du hörst nicht zum letztenmal von mir. Ich melde mich immer wieder bei dir, und einmal, wenn du meine Stimme vernimmst, wirst du wissen, daß dein Leben zu Ende ist. Ich bin nicht verrückt, mein Freund. Du weißt das, ich weiß das. Doch alle anderen halten mich für wahnsinnig, und das ist mein Vorteil. Du hörst wieder von mir, Rick.« Den letzten Satz stieß Derrick Foster hastig hervor, als wäre er gestört worden. Kaum war die Verbindung unterbrochen, als Rick sofort die Nummer der Anstalt wählte. Dieselbe Nachtschwester versah noch Dienst, mit der Rick bereits einmal gesprochen hatte. Sie seufzte zwar, aber sie erklärte sich bereit nachzusehen, ob Foster noch in seinem Zimmer war. Zehn Minuten später war sie wieder in der Leitung. »Mr. Masters? Ich habe mich persönlich davon überzeugt, daß der Patient friedlich schläft.« »Haben Sie sein Gesicht gesehen?« erkundigte sich Rick, um 53 �
eine mögliche Täuschung auszuschalten. »Ja, ganz deutlich. Ich weiß nicht, wie Sie auf die Idee kommen, Mr. Foster wäre nicht mehr hier.« »Er hat mich vor einer Viertelstunde angerufen«, erklärte der junge Privatdetektiv bitter. Es paßte alles nicht zusammen. Irgendwo steckte in seinen Überlegungen ein Gedankenfehler, und er fand ihn nicht. »Angerufen hat er Sie? Ausgeschlossen! Da hätte er zu mir ins Büro kommen müssen. Vor etwa einer Stunde ist nämlich die Telefonzentrale hier im Haus ausgefallen. Man kann also gar nicht mehr von oben telefonieren, falls Sie meinen, der Pfleger hätte Mr. Foster ans Telefon gelassen. Und ich garantiere Ihnen, daß niemand hier im Büro war.« »Dann wird es wohl ein Irrtum sein«, lenkte Rick Masters ohne Überzeugung ein. Er wußte schließlich, daß es kein Irrtum sein konnte. »Vielen Dank.« Der Detektiv blieb noch eine Zigarettenlänge auf dem Bettrand sitzen, dann legte er sich wieder hin. Er war auf eine Idee gekommen, wie er vielleicht Licht in die Sache bringen konnte. Doch es hatte keinen Sinn, sofort an die Ausführung dieser Idee zu gehen. Dazu war es noch zu früh, und außerdem sagte er sich immer, daß auch der beste Privatdetektiv nichts wert war, wenn er nicht ausgeruht war. Um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, schaltete Rick kurzerhand auf automatischen Anrufbeantworter. Und wenn London in der Zwischenzeit abbrannte, einmal wollte auch er Ruhe haben. Rick schauderte bei dem Gedanken, daß er sehr bald die ewige Ruhe haben würde, falls alles nach Derrick Fosters Willen verlief. * 54 �
Als erstes nach dem Aufwachen hörte Rick Masters den automatischen Anrufbeantworter ab und mußte grinsen. Wenn er die Anlage nicht einschaltete, dann rief ständig jemand an. Setzte er sie aber einmal in Betrieb, schien Ricks Telefonnummer tabu zu sein. Jedenfalls hatte niemand Sehnsucht nach ihm gehabt, nicht einmal Chefinspektor Hempshaw. Er grollte Rick sicherlich noch, was dem jungen Privatdetektiv jedoch keine allzu argen Kopfschmerzen verursachte. Hempshaw neigte dazu, wütend zu werden, aber er war nicht nachtragend. Irgendwann in der nächsten Zeit würde er sich schon wieder melden. Rick wollte ihn erst aufsuchen, wenn er ihm ein neues Ermittlungsergebnis präsentieren konnte – sozusagen als Versöhnungsgeschenk. Dieses Versöhnungsgeschenk hoffte Masters in dem Haus von Colonel Drusdale in Buckhurst Hill zu finden. Das war auch die Idee gewesen, die ihm um sechs Uhr früh gekommen war. Sicherlich keine besonders tolle Idee, aber immerhin ein Anhaltspunkt. Irgendwo mußte Rick ja beginnen. Während der langen Fahrt nach Buckhurst Hill hatte Masters noch einmal ausreichend Zeit, alles in Ruhe durchzudenken, aber er kam nicht dahinter, durch welches Phänomen die Leiche von Colonel Drusdale immer wieder auftauchte und verschwand. Um das zu klären, wußte er noch zu wenig. Mrs. Henrietta Plumberry, die gestrenge Haushälterin des verschiedenen Colonels, arbeitete im Garten an den Rosensträuchern, als hätte sie die Aufgaben ihres Dienstherren übernommen. Als sie den Privatdetektiv auf sich zukommen sah, legte sie die Gartenschere zur Seite und richtete sich zu ihrer vollen Größe, auf, die so beachtlich war, daß sie Rick bis an die Augenbrauen reichte. »Guten Morgen, Mr. Masters«, grüßte sie und deutete durch Hochziehen ihrer Mundwinkel ein Lächeln an. »Ich habe bis 55 �
zum Ende dieses Monats mein Gehalt bereits bekommen. Daher kümmere ich mich um Haus und Garten. Es steht doch fest, daß Colonel Drusdale tot ist, nicht wahr?« »Leider ja«, mußte Rick Masters bestätigen. »Woher wissen Sie das?« »Heute Morgen war der Chefinspektor bei mir«, berichtete die Haushälterin und führte Rick auf die Terrasse. »Er hat erwähnt, daß man die«, sie stockte und wischte sich verstohlen über die Augen, »die Leiche des Colonels gefunden hat. Wo ist er, kann ich ihn sehen?« Rick rutschte unbehaglich auf dem Gartenstuhl herum, auf den er sich gesetzt hatte. Offenbar hatte Hempshaw der Frau verschwiegen, daß die Leiche wieder verschwunden war. »Am besten, Sie wenden sich direkt an Chefinspektor Hempshaw«, wich er einer Antwort aus. »Was sagen Sie eigentlich dazu, daß Mr. Foster seinen eigenen Onkel ermordet hat?« Mrs. Plumberry, die sich strikt weigerte, sich in Anwesenheit eines Besuchers zu setzen Überbleibsel ihrer Rolle als Haushälterin –, schüttelte missbilligend den Kopf. »Ich habe nichts anderes erwartet«, erklärte sie steif. »Ich will damit sagen, daß es mich nicht überrascht hat. Colonel Drusdale hat nie viel von seinem Neffen gehalten, die beiden Männer verstanden sich nicht gut.« »Hat der Colonel einmal eine Andeutung gemacht, daß er sich vor seinem Neffen fürchtet?« »Nicht direkt, Mr. Masters. Colonel Drusdale war ein eigenartiger Mensch, müssen Sie wissen. Er hatte eine blühende Phantasie und wäre ein ausgezeichneter Schriftsteller gewesen. Stellen Sie sich vor, einmal hat er sogar davon gesprochen, daß er vielleicht eines Tages ermordet werden könnte.« »Also doch!« fuhr Rick auf. »Er hat damit gerechnet, daß…« »Nein, Sie missverstehen mich«, unterbrach ihn die Haushälte56 �
rin hastig. »Er sagte ungefähr folgendes: es könnte doch sein, daß mich einmal jemand ermordet. Für diesen Fall wünsche ich meinem Mörder, daß er wahnsinnig wird und den Rest seines Lebens in einem Irrenhaus verbringen muß. Ja, so war es.« »Eigenartig«, murmelte Rick, maß dem aber keine weitere Bedeutung zu. »Ich hätte eine Bitte«, schwenkte er auf ein anderes Thema. »Ich würde gern die Tonbänder hören, die Colonel Drusdale vor seinem Tod besprochen hat. Die Bänder, auf die er seine Memoiren diktierte. Wäre das möglich?« Rick wußte selbst nicht genau, was er sich davon versprach, aber irgendwo mußte er seine Recherchen fortsetzen. Er hätte sich an Chefinspektor Hempshaw wegen der Bänder wenden können, aber in Anbetracht der herrschenden Krisensituation zwischen ihnen beiden zog er es doch vor, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen, die Frage war nur, ob Mrs. Plumberry Schwierigkeiten machen würde. »Natürlich können Sie das tun, Mr. Masters«, sagte die Haushälterin zu Ricks Freude. »Die Polizei hat sich nicht weiter um die Bänder gekümmert. Man hat sie zwar abgehört, aber nichts gefunden. Der Chefinspektor war enttäuscht und hat die Bänder an ihren Platz zurückgelegt. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen.« Sie führte Rick in das Arbeitszimmer des Toten, das nach den eingehenden polizeilichen Untersuchungen wieder freigegeben worden war. Man hatte auch alle Blutspuren beseitigt und den Teppich entfernt. Das Tonbandgerät des Colonels stand noch auf seinem Platz. Rick Masters setzte sich hinter den Schreibtisch und nickte Mrs. Plumberry dankend zu, die einen Stapel Tonbänder vor ihn legte. »Ich bin in der Küche«, sagte die Haushälterin, die Rick in ihr Herz geschlossen hatte. Zumindest war der junge Detektiv überzeugt, daß sie normalerweise nicht so freundlich war. »Wenn Sie mich brauchen, dann rufen Sie mich.« 57 �
»Nochmals vielen Dank!« Rick wartete, bis die Haushälterin das Arbeitszimmer verlassen hatte, dann legte er das erste Tonband auf und drückte die StartTaste. Die Stimme des Colonels, die er bereits von dem Band kannte, auf dem der Mord akustisch festgehalten war, begann, die Geschichte des Lebens eines britischen Offiziers zu erzählen. Rick Masters wußte nicht, ob es Leute gab, die sich dafür interessierten. Er jedenfalls langweilte sich tödlich dabei. Band um Band lief durch das Gerät, aber auf keinem gab es einen Hinweis, der Rick bei seinen Ermittlungen weitergeführt hätte. Nur mehr ein Band war übrig geblieben. Ricks Magen knurrte schon vor Hunger, es war längst Mittagszeit, aber der junge Detektiv legte auch noch das letzte Band auf. Danach kamen dann die Aufnahmen über den ›Stein des Verderbens‹, die Rick schon kannte. Immer enttäuschter schaute er auf die Spule, auf der das Band immer weniger wurde. Ricks Chancen, etwas zu erfahren, sanken zusehends. Und dann war das Band abgelaufen. Das Gerät schaltete sich automatisch aus. Wütend griff Rick nach seinen Zigaretten, doch er stockte mitten in der Bewegung. Die Stimme, des Colonels war bei dem automatischen Bandstop abgebrochen, doch nun hörte Rick sie wieder. Sie kam aus dem Nebenzimmer, einem Rauchsalon, soweit sich der junge Detektiv erinnern konnte. Er wurde nicht umsonst ›Stein des Verderbens‹ genannt, dieser Diamant von ungeahnter Größe. Es gab keinen zweiten auf der Welt, der sich… Das waren die Anfangsworte des letzten Bandes, nach denen sich der Mord ereignet hatte. Das Band war aber zugleich mit der Leiche des Colonels verschwunden. Rick schnellte hoch, daß der Stuhl nach hinten umkippte. Er 58 �
lief um den Schreibtisch herum und quer durch das Arbeitszimmer auf die Verbindungstür zum Nebenraum zu, in dem die Stimme des Colonels noch immer von dem Riesendiamanten erzählte. Rick stieß die Tür auf und blieb auf der Schwelle stehen. Das Zimmer war leer. Einen zweiten Ausgang hatte es nicht, die Fenster waren alle fest verschlossen, wie er sich kurz überzeugte. Sofort suchte er nach einem zweiten Tonbandgerät oder einem versteckt angebrachten Lautsprecher, konnte aber nichts finden. Rick Masters stellte seine vergebliche Suche ein: Er nahm wieder den Platz an der Tür des Rauchsalons ein und überschaute das Zimmer. Irgend etwas stimmte hier nicht im Gesamtbild zusammen, und er mußte darauf kommen, was es war. Gleichsam der fehlende Stein in einem Puzzle-Spiel, nur daß hier ein Stein zuviel war. Natürlich! Rick straffte sich. Auf dem kleinen Beistelltischchen neben einem alten Ohrenstuhl stand ein benutztes Glas. Mrs. Plumberry sah aber so aus, als würde sie ihre Pflichten als Haushälterin peinlich genau erfüllen. Ein benutztes und ungespültes Glas im Rauchsalon, das wäre ihren scharfen Augen nicht entgangen. Der junge Privatdetektiv trat näher an das Tischchen heran und beugte sich hinunter. Ohne das Glas zu berühren, roch er daran. Wenn er sich nicht irrte, dann war daraus irischer Whisky getrunken worden, und zwar erst vor sehr kurzer Zeit. Das Aroma wäre sonst längst Verflogen. Auf dem Boden des Glases fand sich noch ein Satz der gelblichen Flüssigkeit. Wer hatte in einem Zimmer, dessen einzigen Eingang Rick Masters seit nunmehr zwei Stunden im Auge hatte, vor wenigen Minuten irischen Whisky getrunken? Einer plötzlichen Eingebung folgend, holte Rick sein Taschentuch hervor, wickelte das Glas sorgfältig ein, damit er die Finger59 �
abdrucke darauf nicht verwischte, und ließ das Glas in seiner Jackentasche verschwinden. Mrs. Plumberry blickte vom Kartoffelschälen auf, als Rick Masters die Küche betrat. Sie war geräumig und noch ganz im alten Ländhausstil eingerichtet, mit einem riesigen holzbefeuerten Herd und an der Wand hängenden Töpfen und Pfannen. »Sind Sie fertig, Mr. Masters? Haben Sie gefunden, was Sie suchten? Ich hätte Ihnen ja gern geholfen, aber die Arbeit…« »Sie halten weiterhin das Haus sauber, Mrs. Plumberry?« »Selbstverständlich, das habe ich doch vorhin schon gesagt.« »Welche Getränke bevorzugte der Colonel eigentlich?« »Irischen Whisky«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Das war sein Lieblingsgetränk.« Noch ehe die Augen der Frau bei der Erinnerung feucht werden konnten, verabschiedete sich Rick Masters. Es ging ihm nicht darum, Sentimentalitäten auszuweichen, sondern seinen Fund so schnell wie möglich in den Yard zu bringen. Ob Hempshaw wütend auf ihn war oder nicht, Rick Masters mußte schnellstens ein Untersuchungsergebnis haben. Ihm dämmerte nämlich, daß hier vielleicht jemand einen sehr üblen Scherz mit allen Beteiligten trieb. Und dieser Jemand war… Doch das wollte Rick Masters zuerst von Chefinspektor Hempshaw bestätigt bekommen. * Während der Fahrt zu Scotland Yard bemerkte Rick Masters das Fehlen seines Zigarettenetuis. Er hielt an und suchte vergeblich. Sicherlich hatte er es im Haus des Colonels in Buckhurst Hill liegengelassen. Da er auch sonst keine Zigaretten mehr bei sich hatte, kaufte er unterwegs welche. 60 �
Mit einem ziemlich guten Gefühl betrat Rick Masters das nüchterne Bürohochhaus von New Scotland Yard, diesen Neubau aus Stein und Glas. Er brachte Chefinspektor Hempshaw sozusagen ein Versöhnungsgeschenk mit. Hempshaw schaute finster von seinem Schreibtisch hoch, als sich die Tür seines Büros nach kurzem Klopfen öffnete. Als er den jungen Privatdetektiv sah, bemühte er sich vergeblich, seine wütende Miene beizubehalten. »Na schön, Rick, begraben wir das Kriegsbeil«, sagte er lächelnd und hielt Masters die Rechte hin. »Außerdem können Sie ohne mich überhaupt nicht existieren und keinen einzigen Fall lösen.« »Sie erhalten von mir noch eine Klage wegen Verleumdung«, drohte Rick grinsend und schüttelte die Hand des Chefinspektors. »In einer Hinsicht haben Sie recht, ich brauche Ihre Hilfe. Ich biete Ihnen gleichzeitig jedoch auch ein Beweisstück an.« Damit wickelte er das Glas, das er auf Hempshaws Schreibtisch gestellt hatte, aus dem Taschentuch. Der Chefinspektor wußte sofort, worauf es ankam. Ohne das Glas anzugreifen, rief er im Labor an und bat, jemand solle zur Sicherung von Fingerabdrücken heraufkommen. Fünf Minuten später wurde das Glas abgeholt. »Es stammt aus dem Haus des Colonels«, erklärte Rick dem Chefinspektor. »Ich habe es in dem Rauchsalon neben dem Arbeitszimmer gefunden. Es war kurz vorher benutzt worden, obwohl ich zwei Stunden lang im Nebenraum saß und kein zweiter Eingang existiert.« »Die Fenster«, schlug Hempshaw vor. »Jemand hätte auf diesem Weg in das Zimmer gelangen können.« »Glaube ich nicht«, widersprach Rick. »Sie waren von innen verriegelt.« »Hat nichts zu sagen,« Der Chefinspektor winkte ab. »Man 61 �
kann Fensterriegel auch von außen schließen. Aber warten wir erst einmal ab, ob sich Fingerabdrücke finden und von wem.« Nach weiteren zehn Minuten wußten sie es. Hempshaw, der den vorläufigen Bericht aus dem Labor über Haustelefon entgegengenommen hatte, legte den Hörer mit einem sorgenvollen Gesicht auf. »Es sind Abdrücke von Colonel Drusdale«, sagte er. »Können Sie sich darauf einen Reim machen, Rick?« »Und ob!« Der junge Privatdetektiv nickte grimmig. »Ich glaube, daß uns hier eine ganz üble Komödie vorgespielt wird, auch wenn ich noch nicht ganz klar sehe.« »Und wer spielt die Komödie?« »Keine Ahnung!« Rick zuckte die Schultern. »Ehrlich, Kenneth, ich weiß es nicht. Fest steht nur, daß es eine Hauptperson gibt: Colonel Drusdale.« »Der ist doch tot!« rief der Chefinspektor heftig aus. »Was soll das nun schon wieder?« Tot ist er, das stimmt«, gab Rick zu. »Doch irgend jemand könnte doch ein Glas mit seinen Fingerabdrücken beiseite geschafft und in den Rauchsalon gestellt haben, während ich im Arbeitszimmer die Tonbänder abhörte.« »Warum sollte man das tun?« brummte Hempshaw. »Ich sehe keinen Sinn darin.« »Ich auch nicht. Aber ich werde nicht lockerlassen, ehe ich das schmutzige Spiel nicht aufgedeckt habe und auch weiß, wie Derrick Foster hineinpasst.« Hempshaw stand auf und drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch. »Ich fahre mit der ganzen Mannschaft von der Spurensicherung noch einmal hinaus nach Buckhurst Hill und stelle das Haus des Colonels auf den Kopf«, verkündete er. »Ich will auch endlich Klarheit haben. Was ist, Rick, kommen Sie mit?« 62 �
»Da fragen Sie noch, Kenneth?« Rick Masters grinste. »Habe ich schon einmal gefehlt, wenn es darum ging, einen interessanten Fall zu klären?« Gemeinsam betraten sie die Kabine des Fahrstuhls. Hempshaw sah Rick schief von der Seite her an. »Was ist denn jetzt wieder?« erkundigte sich der junge Privatdetektiv. »Wenn Sie diesen Blick einschalten, haben Sie etwas Bissiges auf Lager. Spucken Sie es schon aus, sonst ersticken Sie noch dran, Kenneth!« Hempshaw hob abwehrend die Hände. »Nichts Bissiges, Rick. Ich wollte nur wissen, ob Sie noch immer an übernatürliche Phänomene in diesem Fall glauben.« Rick überlegte einige Augenblicke, ehe er eine Antwort gab. »Mein Glaube an Übernatürliches kommt langsam ins Wanken«, gestand er ein. »Jetzt tippe ich eher auf eine Verschwörung gegen Derrick Foster, hinter der ein besonders gefährliches und abgefeimtes Gehirn steckt.« Chefinspektor Kenneth Hempshaw nickte zufrieden. »Dann sind wir uns ja ausnahmsweise einmal einig«, sagte er und bemerkte nicht, daß Rick Masters skeptisch das Gesicht verzog. * Auf ihr Klingeln meldete sich niemand, obwohl die Fenster des Hauses in Buckhurst Hill zum Teil offen standen. »Mrs. Plumberry muß daheim sein«, sagte Chefinspektor Hempshaw verwundert. »Es wird doch nichts passiert sein?« »Vielleicht ist sie schnell etwas besorgen gegangen«, erwiderte Rick Masters und drückte noch einmal den Klingelknopf. Als auch das kein Ergebnis zeitigte, öffnete er die Gartentür, ging auf das Haus zu und ließ den metallenen Türklopfer gegen das 63 �
Holz dröhnen. Nichts rührte sich in dem Haus, in dem sich so rätselhafte Vorfälle abgespielt hatten. Nun wurde es auch Rick Masters unheimlich. Er lief um das Haus herum, stieß die Hintertür auf und betrat die Küche. Mrs. Plumberry saß, wie immer ganz in Schwarz, am Küchentisch. Sie hielt sich krampfhaft aufrecht. Rick merkte, daß sie alle Selbstbeherrschung brauchte, um nicht zusammenzubrechen. Sie zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub, und ihre starren Augen blickten durch Rick Masters hindurch, als hätte sie sein Auftauchen nicht bemerkt. »Ich habe ihn gesehen«, hauchte sie tonlos und bewies damit, daß sie doch noch wahrnahm, was um sie herum vorging. »Ich habe ihn gesehen!« wiederholte sie schreiend. Rick trat schnell auf die plötzlich verzweifelt schluchzende Frau zu und faßte sie bei den Schultern. Sie drückte sich schutzsuchend wie ein kleines Kind an ihn. »Wen haben Sie gesehen, Mrs. Plumberry?« fragte er eindringlich, obwohl er die Antwort schon im vorhinein zu kennen glaubte. »Den Colonel«, keuchte sie, wie er erwartet hatte. »Der Colonel sitzt in seinem Arbeitszimmer hinter dem Schreibtisch und raucht! Ich habe es gesehen, ich habe es selbst…« Sie kippte ohnmächtig um. Der Schock war zu groß für sie gewesen. Rick ließ die Bewusstlose vorsichtig auf den Küchenboden gleiten. Chefinspektor Hempshaw war durch die Schreie der Haushälterin alarmiert worden und kam in die Küche gestürmt. »Ist sie verletzt?« fragte er in dienstlich knappem Ton. »Ohnmächtig von einem Schock«, antwortete Rick ebenso kurz und präzise. »Ich rufe einen Arzt!« Der Chefinspektor lief hinaus, was Rick 64 �
die Gelegenheit gab, als erster und somit ungestört im Arbeitszimmer nachzusehen, ob es noch Beweise dafür gab, daß Mrs. Plumberry nicht phantasierte. »Das Arbeitszimmer des Colonels war leer, genauso wie vor wenigen Stunden der Rauchsalon, aber auch diesmal gab es Anzeichen dafür, daß jemand vor kurzer Zeit hier gewesen war. Im Aschenbecher auf dem Schreibtisch verqualmte der Rest einer nicht ganz zu Ende gerauchten Zigarette. Daneben lag das aufgeklappte Zigarettenetui Ricks, das er liegengelassen hatte. Auf dem Tonbandgerät drehten sich frische Spulen. Das Band lief auf Aufnahme. Obwohl er gerade erst einen gewaltigen Krach mit dem Chefinspektor hinter sich hatte, verstieß Rick Masters schon wieder gegen ihre gegenseitige Abmachung der Unterstützung bei der Aufklärung dieses Falles. Mit zwei langen Schritten stand er neben dem Schreibtisch, ließ das Band zurücklaufen und in seiner Tasche verschwinden. Er schaffte es eben noch, das Gerät auszuschalten, als der Chefinspektor in das Arbeitszimmer polterte. »Sehen Sie hierhin, Kenneth!« forderte ihn Rick Masters mit der unschuldigsten Miene der Welt auf. »Diese Zigarette! Könnte eine von meinen sein. Jedenfalls ist es meine Marke. Das ist mein Etui. Ich wollte es schon einstecken, aber dann fiel mir ein, daß Sie es auf Fingerabdrücke untersuchen sollten. Wenn welche darauf sind, werden wir klarer sehen.« Sofort winkte Hempshaw seinen Spezialisten herein, der sich unverzüglich an die Untersuchung machte. Wenige Minuten später, die sie schweigend auf das Ergebnis gewartet hatten, wußten sie es. »Abdrücke von Colonel Drusdale«, lautete der Bescheid. Rick Masters und Chefinspektor Hempshaw sahen sich lange an. Endlich brach der junge Privatdetektiv das Schweigen. 65 �
»Das sollte eigentlich beweisen, daß der Colonel noch lebt«, sagte er leise. »Dieses Etui habe ich seit Wochen ständig bei mir getragen, und ich kannte den Colonel nicht. Er muß es berührt haben in der Zeit von meinem Aufbruch bis zu unserem Eintreffen in seinem Haus.« »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr.« Der Chefinspektor hatte keine Hemmungen, vor Rick seine Ratlosigkeit zuzugeben. »Das Blut, das wir hier fanden, stimmte in seiner Zusammensetzung genau mit dem des Colonels überein. Wir beide haben seine Leiche in Derrick Fosters Bungalow gesehen. Das gibt es doch einfach nicht, daß der Colonel munter herumläuft und seine Fingerabdrücke auf Gläsern und Zigarettenetuis hinterlässt.« »Er tut es aber.« Rick Masters steckte sich eine seiner eigenen Zigaretten an und vermied es, an das Tonband in seiner Jackentasche zu denken. Sein Gewissen drückte ihn, aber einstweilen konnte er den Druck noch ertragen. »Kenneth, meine Vermutung, daß hier ein sehr schmutziger Trick gespielt wird, festigt sich.« »Da werde ich einen ordentlichen Riegel vorschieben!« fauchte der Chefinspektor. »Übernehmen Sie sich nicht, Kenneth«, warnte Masters. »Wir haben es nicht mit gewöhnlichen Verbrechern zu tun. Wer immer sich diesen teuflischen Plan ausgedacht haben mag, er ist auf jeden Fall besonders schlau und gerissen.« »Wir von Scotland Yard sind auch nicht gerade auf den Kopf gefallen«, entgegnete Hempshaw, der sich in seiner Ehre als Kriminalist angegriffen fühlte. »Wir werden schon dahinter kommen, was in diesem Suppentopf kocht.« »Apropos Suppentopf!« Rick Masters deutete mit dem Daumen auf die Küchentür. »Vielleicht wäre es besser, wenn Mrs. Plumberry nicht hier bleibt. Man weiß ja nie, wie es weitergehen 66 �
wird.« »Gute Idee«, stimmte Hempshaw zu. »Ich werde gleich mit der Frau reden. Es könnte sonst gefährlich für sie werden.« Mrs. Plumberry hatte sich bereits etwas erholt, als die beiden Männer die Küche betraten. Ein Arzt hatte sich um sie gekümmert und bestätigte, daß es nur eine vorübergehende Ohnmacht infolge eines Schocks war, nichts Gravierendes. »Sie meinen wahrscheinlich, daß ich nur phantasiert habe«, sagte die Haushälterin leise aber scharf, als sie den Chefinspektor zu Gesicht bekam. Hempshaw nickte ihr grinsend zu. »Wenn Sie so bissig sein können, dann geht es Ihnen gut, Mrs. Plumberry. Aber Spaß beiseite, wir halten Sie nicht für eine Spinnerin, wenn Sie das meinen.« Der harte Ausdruck, den Hempshaw seelenruhig gebrauchte, nahm Mrs. Plumberry für einige Sekunden die Luft weg, und diese Sekunden nützte Hempshaw aus, um ihr klarzumachen, daß sie nicht mehr im Haus des Colonels bleiben sollte, bezahlter Lohn oder nicht bezahlter Lohn. »Wir sehen noch nicht klar, was wirklich hier geschehen ist«, schloß Hempshaw seine Ausführungen, »doch wir meinen, daß es für Sie zu gefährlich ist.« »Nicht mehr hier bleiben?« Mrs. Plumberry starrte den Chefinspektor entgeistert an. »Aber, ich wohne doch im Haus, ich bin immer hier.« »Verdammt, das auch noch!« fluchte Hempshaw. »Haben Sie denn niemanden, zu dem Sie für einige Tage ziehen könnten? Nur ein paar Tage, nicht länger.« »Meine Schwester«, sagte die Haushälterin nach einigem Zögern. »Sie hat ein freies Zimmer.« »Ich fahre Sie hin«, bot Chefinspektor Hempshaw an. »Packen Sie ein paar Sachen, bis dahin sind wir auch mit unseren Unter67 �
suchungen fertig! Rick, bleiben Sie noch so lange hier?« »Hat wohl keinen Sinn«, tat Rick Masters betont lässig. Er wollte nicht durch große Hast Verdacht erregen. Das Tonband »brannte« in seiner Tasche. »Ich fahre nach Hause.« »Das möchte ich auch«, seufzte Hempshaw, obwohl Rick ihm das nicht glaubte. Der ewige Junggeselle Hempshaw lebte doch nur für seine Arbeit. Im übrigen dachte Rick gar nicht an Ausruhen. Er versprach sich vielmehr von dem Tonband einige wichtige Aufschlüsse. Und er sollte sich wieder einmal nicht in seiner Vermutung geirrt haben. * Derrick wollte von mir das Geheimnis um den größten Diamanten der Welt erpressen, sprach die Stimme des Colonels aus dem Lautsprecher in Ricks Wohnung. Der junge Privatdetektiv hatte sofort nach seinem Eintreffen das Band aufgelegt, das er aus dem Haus in Buckhurst Hill mitgenommen hatte. Wie erwartet, hatte es Colonel Drusdale besprochen, aber erst vor wenigen Stunden. Ich blieb jedoch hart und verriet ihm nicht, wo ich den »Stein des Verderbens« versteckt habe. Auf diesem Stein lastet ein Fluch, so wurde behauptet. Ich habe nie daran geglaubt, zumindest gehofft, daß mich dieser Fluch nicht treffen würde. In der Zwischenzeit mußte ich einsehen, daß auch ich vom Unglück verfolgt werde, weil ich den »Stein des Verderbens« besitze. Mein eigener Neffe war bereit, mich dieses Diamanten wegen zu ermorden. Rick Masters lief unruhig in seinem Wohnbüro auf und ab, während er zuhörte, was Colonel Drusdale als Botschaft auf das Band gesprochen hatte. 68 �
Um Derrick für seine Tat zu bestrafen, habe ich beschlossen, ihm das Versteck des Steins zu zeigen. Der Fluch des Diamanten wird ihn dann vernichten. Rick Masters, Sie haben schon einmal verhindert, daß ich meinen Neffen an die richtige Stelle führe. Wenn Sie es noch einmal tun, werden Sie sterben – und zwar von meiner Hand. Das ist die letzte Warnung! An dieser Stelle brach das Tonband ab. Rick stellte das Gerät ab und warf sich auf die Couch. Unzweifelhaft hatte er soeben die Stimme von Colonel Anthony Drusdale gehört. War der Colonel ermordet worden? Wenn ja, wie konnte er dann immer wieder auftauchen und unzweideutige Spuren hinterlassen? War er nicht ermordet worden? Was bezweckte er dann mit seinem Doppelspiel? Wollte er seinem Neffen eine tödliche Falle stellen, um sich an ihm für etwas zu rächen? Wenn Rick dem Tonband Glauben schenkte, dann war es die Absicht des Colonels, tot oder lebendig, Derrick Foster dafür büßen zu lassen, daß er seinen Onkel hatte töten wollen. In diesem Fall konnte der Diamant vorgeschoben werden, das heißt, Colonel Drusdale selbst ermordete Derrick Foster, und jedermann sollte glauben, der Kriminalautor wäre von dem Fluch des Diamanten ereilt worden. Kopfschüttelnd seufzte Rick Masters. Es wurde immer komplizierter mit allen diesen Aber und Wenn, diesen ganzen, Vermutungen, die ihn nicht weiterführten. Er brauchte Tatsachen, greifbare Anhaltspunkte, doch alles zerfloss ihm wie Sand zwischen den Händen. Am besten wäre es gewesen, wenn Rick das Tonband Chefinspektor Hempshaw vorgespielt hätte, aber dazu besaß der junge Privatdetektiv nicht den Mut. Ein zweites Mal innerhalb so kurzer Zeit durfte ihn Hempshaw nicht dabei ertappen, daß er 69 �
wichtiges Beweismaterial unterschlagen hatte. Das hielt nicht einmal die endlose Geduld des Chefinspektors aus. Rick schloß daher das Band sorgfältig weg, damit es kein Unberufener so schnell entdecken konnte. Das war nun schon die zweite Morddrohung innerhalb kurzer Zeit, die gegen ihn ausgesprochen wurde. Zuerst hatte ihm Derrick Foster den Tod angekündigt, jetzt tat es Colonel Drusdale. Rick fühlte sich jedoch keineswegs geschmeichelt darüber, daß er im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stand, zumindest nicht in dieser Weise. Sicherheitshalber überprüfte er seine Pistole. Er hatte nicht die Absicht, diese Drohungen auf die leichte Schulter zu nehmen. * Obwohl bereits die Abenddämmerung hereinbrach, verließ Rick Masters noch einmal seine Wohnung oberhalb des ältesten Cafes der Londoner City, um etwas nachzuholen, wozu er den ganzen Tag über durch die dichte Aufeinanderfolge der Ereignisse nicht gekommen war. Er fuhr in die Anstalt, in der Derrick Foster unter strenger Bewachung stand. Die Nachtschwester hatte bereits ihren Dienst angetreten. Es war dieselbe, mit der Rick Masters in der vergangenen Nacht telefoniert hatte. »Ach, Sie sind Mr.. Masters«, stellte sie nüchtern fest, als sie den jungen Mann mit ,den etwas wirren blonden Haaren vor sich sah. »Sagen Sie bloß, daß Sie schon wieder glauben, unser Patient wäre geflohen.« Rick zwang sich zu einem fröhlichen Lachen. »Diesmal ist mein Besuch viel harmloser als meine Anrufe«, versicherte er. »Ich hätte gern mit dem Pfleger gesprochen, der in der letzten Nacht Dienst auf der Etage machte, in der Mr. Fos70 �
ter untergebracht ist. Läßt sich das machen?« »Weiß ich nicht«, antwortete die Nachtschwester mit einem Achselzucken. »Mr. Jordan hat heute Nacht frei.« »Können Sie mir wenigstens seine Adresse geben, damit ich es in seiner Wohnung versuche?« Die Nachtschwester zögerte, überlegte es sich dann und schrieb Rick die Adresse von Mr. Jordan auf. »Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen.« Rick strahlte. »Und jetzt habe ich noch eine unverschämte Bitte.« »Reiche jemandem den kleinen Finger…« »… und er nimmt den ganzen Oberkörper«, verfälschte Masters das Sprichwort. Die Nachtschwester war noch jung und trotz der schlichten Anstaltstracht sehr attraktiv, so daß er seinen selbst erfundenen Ausspruch gern in die Tat umgesetzt hätte. »Ich möchte Mr. Foster sehen, nur einen Augenblick.« Diesmal mußte er mehr Überredungskunst aufbieten, doch zuletzt hatte die Nachtschwester Erbarmen mit ihm, nachdem er ihr die schrecklichen Folgen in den düstersten Farben ausgemalt hatte, falls sie seine Bitte abschlug. Sie stieg vor Rick Masters die Treppe hinauf in den ersten Stock, was dem jungen Privatdetektiv ausreichend Gelegenheit gab, ihre Beine zu bewundern. Sie merkte es und störte sich nicht daran. Oben angekommen, sprach sie ein paar Worte mit einem bulligen Mann, der die Aufsicht über die Etage führte. Der Pfleger wuchtete seine Massen von dem Stuhl hoch, auf dem er es sich bequem gemacht hatte, und stampfte zu einer Tür. »Sie können durch das Guckloch schauen, Mr. Masters«, sagte die Nachtschwester. »Mehr dürfen wir nicht erlauben. Der Patient kann Sie nicht sehen. Von seiner Seite ist die Glasscheibe ein Spiegel.« Rick trat an die Öffnung in der massiven, durch zwei schwere Riegel und ein Schloß gesicherten Tür heran und blickte hin71 �
durch. Der Raum dahinter war nicht groß. Auf dem Bett lag Derrick Foster und schien zu schlafen. Als Rick sein Gesicht an die Tür preßte, richtete sich Foster plötzlich auf. »Kann er uns gehört haben?« fragte der junge Privatdetektiv den Pfleger. Der bullige Mann schüttelte entschieden den Kopf. »Ausgeschlossen«, behauptete er. »Die Türen hier sind alle schallsicher.« Rick richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Foster, dessen Blick starr auf die Tür gerichtet war. Auf einmal verzog sich das Gesicht des Kriminalautors zu einem bösartigen Grinsen. Er hob die Hand wie zum Gruß. Seine Lippen formten lautlos ein Wort. Tod. Schaudernd trat Rick Masters von der Tür zurück, hinter der sein Todfeind auf ihn lauerte, ein Feind, der über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügte. * »Haben Sie genug gesehen?« fragte die Nachtschwester nicht ohne Spott in der Stimme. »Sind Sie jetzt beruhigt, Mr. Masters?« »Ich bin sicher, daß Sie alles getan haben, was in Ihrer Macht steht«, antwortete Rick zweideutig. Denn beruhigt war er keineswegs. Schließlich war Derrick Foster schon einmal ausgebrochen, und man hatte noch immer nicht herausgefunden, wie er das angestellt hatte. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Hoffentlich muß ich nicht noch einmal beruflich herkommen.« Die Nachtschwester, die den Detektiv in das Erdgeschoß hinunter begleitete, warf ihm einen amüsierten Seitenblick zu. »Wieso betonen Sie das Wort ›beruflich‹ so stark?« fragte sie mit einem angedeuteten Lächeln. 72 �
»Auch ein Privatdetektiv hat einmal Freizeit, die er auf nette Weise verbringen will.« Rick Masters seufzte gespielt dramatisch. »Leider nur sehr selten.« »Sehr selten nett oder sehr selten Freizeit?« »Beides!« Rick schaute der hübschen jungen Krankenschwester mit einem treuen Hundeblick in die Augen. »Falls Sie bei der Gestaltung Ihrer Freizeit an mich gedacht haben sollten«, bremste ihn die Nachtschwester sofort, »ich bin verheiratet.« »Ach so, jetzt verstehe ich.« »Was verstehen Sie?« Die Frau war ein wenig verwirrt. »Mein Horoskop«, erklärte der Privatdetektiv. »Heute stand drinnen, ich sollte nichts Neues beginnen, es hätte keinen Sinn.« »Die Sterne lügen nicht.« Die Nachtschwester lachte. »Auf Wiedersehen, Mr. Masters!« »Auf bald«, verabschiedete sich Rick und wußte nicht, daß dieses Wiedersehen tatsächlich sehr bald erfolgen würde, wenn auch unter anderen Umständen, als ihm angenehm war. * Halb neun Uhr abends war eigentlich nicht die richtige Zeit, um bei wildfremden Leuten einen Besuch abzustatten, doch Rick Masters wollte damit nicht bis zum nächsten Tag warten. Wer weiß, sagte er sich, was sich in der Nacht alles ereignen kann. Der Krankenpfleger wohnte nur fünf Minuten mit dem Wagen von der Anstalt entfernt. Rick hielt vor einem alten Mietshaus und mußte bis unter das Dach klettern, ehe er den Namen Jordan an einer der Türen fand, von denen bereits die Farbe abblätterte. Im Treppenhaus brannten nur trübe Lichtfunzeln, dafür hielten sich die Kochdünste von den verschiedenen Abendessen 73 �
besonders lange. »Ja, was ist?« fragte der Mann im Unterhemd und mit Hosenträgern, der Rick öffnete, nachdem er dreimal geklingelt hatte. »Sind Sie Mr. Jordan?« fragte der junge Privatdetektiv. Der Mann im Unterhemd nickte. Er mochte an die vierzig Jahre alt sein und hatte schüttere blonde Haare »Mein Name ist Rick Masters.« Mr. Jordan mußte nur kurz überlegen. »Sind Sie nicht der Privatdetektiv, der vergangene Nacht angerufen und so komische Fragen wegen dieses Fosters gestellt hat?« »Allerdings«, sagte Rick, »der bin ich. Darf ich einen Moment hereinkommen?« »Meine Frau badet gerade die Kinder«, sagte der Pfleger zögernd. »Es ist ein heilloses Durcheinander. Mary! Mach die Tür vom Badezimmer zu! Besuch!« »Keine Umstände, bitte!« Rick betrat die Wohnung. Heilloses Durcheinander war ja noch milde ausgedrückt für das Chaos, das zwei Kinder angerichtet hatten, wie Mr. Jordan mit müdem Vaterstolz verkündete. Rick fühlte sich gleich wohler in seiner Haut. Gegen diesen Wirrwarr hier war seine Wohnung reif für den ersten Preis im Hausfrauenwettbewerb für Ordnungsliebe. »Sagen Sie, Mister, was meinten Sie eigentlich, ob Foster noch in seinem Zimmer ist?« Mr. Jordan stellte zwei Flaschen Bier auf den mit Spielzeug übersäten Tisch im Wohnzimmer. Rick mochte jetzt kein Bier, aber er trank gehorsam, um den Hausherrn nicht zu verstimmen. »War alles ruhig, die ganze Nacht, glauben Sie mir.« »Wissen Sie, Mr. Jordan«, versuchte Rick eine Erklärung zu finden, »da hat sich jemand einen Scherz mit mir erlaubt, bei mir angerufen und behauptet, er wäre der Pfleger Ihrer Anstalt und hätte mir etwas von Mr. Foster auszurichten.« »Na, so was!« empörte sich Mr. Jordan. »Das sollte man direkt 74 �
bei der Polizei anzeigen. Der Kerl kann sich doch nicht einfach für mich ausgeben.« Die Empörung und das Erstaunen schienen Rick nicht gespielt, wie er ja auch schon während der Nacht bei seinem Anruf in der Anstalt nicht den Eindruck gewonnen hatte, daß ihn der Pfleger belog. Dennoch wurde er immer sicherer, daß Mr. Jordan der nächtliche Anrufer gewesen war. Der Pfleger lispelte etwas und sprach »r« übertrieben hart aus. Eine Verwechslung war fast ausgeschlossen. »Und Foster konnte auch nicht selbst telefonieren?« fragte der junge Privatdetektiv sicherheitshalber, obwohl er die Antwort schon im vorhinein kannte. »Natürlich nicht. Aber das wissen Sie…« »Schon gut, schon gut«, beschwichtigte Rick Masters Mr. Jordan. »Ich habe ja eingesehen, daß es ein übler Scherz von irgendeinem Bekannten war. Ich werde den Kerl schon finden.« Hoffentlich!« bekräftigte Mr. Jordan. Ricks Behauptung. »Sagen Sie mir, wer es ist, sobald Sie es wissen. Mit dem Herrn möchte ich auch ein paar Worte sprechen.« »Hatten Sie eigentlich Dienst, als Derrick Foster ausbrach?« schwenkte Masters ab. »Nein, das war Harris. Wie kommen Sie darauf?« »War nur eine Frage.« Rick Masters stand auf. Er wollte dem Pfleger nicht sagen, daß er ihn im Verdacht gehabt hatte, von Foster bestochen zu sein. Mit der Unterstützung eines Angestellten der Anstalt wäre es für Derrick Foster nämlich verhältnismäßig einfach gewesen zu fliehen. Rick zweifelte jedoch nicht daran, daß ihm Mr. Jordan die Wahrheit sagte. Schließlich hätte er jederzeit überprüfen können, ob bei der Flucht Fosters dieser Harris Dienst hatte oder Jordan. Rick wollte es auch noch nachprüfen, aber erst am nächsten Tag. Er bedankte sich bei Mr. Jordan für die Auskünfte und verließ 75 �
das Schlachtfeld der beiden Kinder, die quietschend im Badewasser planschten. Auf dem langen Abstieg im dunklen Treppenhaus überlegte Rick Masters, daß es vielleicht doch ein Fehler gewesen war, dem Chefinspektor nichts von den nächtlichen Anrufen zu erzählen. Doch dann beruhigte er sich mit dem Gedanken, daß die Polizei auch nicht mehr als er selbst herausgefunden hätte. Sie hatte bisher ja nicht einmal klären können, wie Foster aus der Anstalt geflohen war. Wie konnte ein Eingeschlossener einfach aus einem bewachten Gebäude hinausspazieren? Warum rief ein Krankenpfleger nachts bei Rick an und übermittelte Morddrohungen, konnte sich hinterher jedoch an nichts mehr erinnern? Und wieso konnte Foster mit Rick telefonieren, obwohl er kein Telefon in Reichweite hatte? Der junge Privatdetektiv setzte sich hinter das Lenkrad seines Morgans und startete. Wenn er die Antwort auf alle diese Fragen fand, hatte er wahrscheinlich die Lösung des Falles in der Hand. Bis dahin war es jedoch noch ein weiter Weg. Ein sehr weiter Weg sogar. * Es war also alles in Ordnung soweit man das Wort Ordnung überhaupt noch gebrauchen konnte, wenn es um den Fall Colonel Drusdale ging. Rick Masters hätte beruhigt sein können. Derrick Foster war in einer geschlossenen Anstalt eingesperrt und konnte sie nach menschlichem Ermessen nicht verlassen. Aber… Da war es wieder, dieses große Aber. Schon einmal hatte man einen Ausbruch für unmöglich gehalten, und doch war Derrick Foster bis zum Norwood-Friedhof gelangt. Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen. 76 �
Rick hatte sich etwas zum Lesen genommen, gleich nachdem er zu Hause angekommen war. Er wollte sich ablenken, aber es gelang ihm nicht, sich zu zerstreuen. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu dem Haus des Colonels und zu dem Zimmer der Anstalt zurück, in dem Derrick Foster Mordpläne gegen ihn schmiedete. Nicht zu vergessen der Colonel, der über Tonband ebenfalls Morddrohungen gegen Masters ausgesprochen hatte. Um Mitternacht hielt es Rick nicht mehr aus. Wenn in der Anstalt alles stimmte, dann hatte er wenigstens einen guten Vorwand gehabt, um mit der netten Nachtschwester zu plaudern. Auch wenn sie verheiratet war, würde sie sich wenigstens mit ihm per Telefon unterhalten. Harmloser ging es wohl nicht mehr. Rick wählte die Nummer des Sanatoriums und wartete. Als sich niemand meldete, wählte er erneut, weil er dachte, daß er sich vielleicht beim ersten Mal geirrt hatte. Auch diesmal hatte er keinen Erfolg. Um seine Nervosität zu unterdrücken, holte sich Rick ein Bier aus dem Eisschrank, zündete sich eine Zigarette an und zwang sich dazu, solange zu warten, bis die Zigarette aufgeraucht war. Schließlich konnte es sein, daß die Nachtschwester zu einer dringenden Aufgabe ihren Posten verlassen hatte. Oder daß sie aus irgendeinem anderen harmlosen Grund nicht in ihrem Büro war. Etwa zehn Minuten später wählte Rick zum dritten Mal. Ganz sicher hatte er die richtige Nummer erwischt. Und wieder meldete sich kein Mensch. Da hielt den jungen Privatdetektiv nichts mehr. Vielleicht war wirklich nichts geschehen, aber er mußte sich auf jeden Fall Gewissheit verschaffen. Blitzartig steckte er die Wagenpapiere zu sich, riß die Schlüssel vom Haken und hastete aus der Wohnung hinunter auf die Straße. Seinen Morgan hatte er in der Nähe geparkt, was bei den Verhältnissen in der City ein wahrer 77 �
Glücksfall war. Dann jagte der dunkelgrüne Wagen auch schon durch London. Die Anstalt war bei normaler Fahrt in einer Viertelstunde zu erreichen. Rick Masters schaffte es in zehn Minuten, obwohl er auf das Blaulicht verzichtete, das er in dringenden Fällen verwenden durfte, eine Vergünstigung, die ihm Scotland Yard wegen seiner Verdienste verschafft hatte. Der Morgan hielt schleudernd vor dem Hauptportal. Von außen sah alles ganz unverdächtig aus. Im Erdgeschoß brannte Licht im Büro, oben in den einzelnen Etagen war die Nachtbeleuchtung auf den Korridoren eingeschaltet. Tiefe Stille herrschte auf dem Parkgelände rund um das Sanatorium. Fast wollte Rick schon wieder umkehren, weil er fürchtete, sich lächerlich zu machen mit seinen ständigen blinden Alarmen, doch dann erinnerte er sich an die Morddrohungen, die Derrick Foster und Colonel Drusdale gegen ihn ausgesprochen hatten Lieber sich lächerlich machen als tot sein. Das Eingangstor war nicht verschlossen, ein Umstand, der Rick stutzig machte. Zwar befanden sich die Eisengitter und die Sicherheitstüren der geschlossenen Abteilung erst oben im ersten Stock, so daß man nichts davon merkte, wenn man das Gebäude betrat, aber es war nicht normal, daß die Tür nicht versperrt war. Rick drückte sie auf und betrat die halbdunkle Vorhalle. Seine Hand schwebte in der Nähe des Schulterhalfters mit der 38er Automatik, die er ständig bei sich trug, seit er die Morddrohung des Colonels auf Tonband gehört hatte. Die Vorhalle wurde nur durch einen schmalen Lichtstreifen erhellt, der aus dem Büro fiel. Die Tür zu den Arbeitsräumen der Nachtschwester stand halb offen. Jeden Moment mit einem Angriff rechnend, ging Rick Masters Schritt für Schritt auf das Büro zu. Je näher er kam, desto deutli78 �
cher konnte er den Schreibtisch sehen. Und als er nur mehr wenige Schritte entfernt war, sah er auch die Beine, die hinter dem Schreibtisch hervorragten. Es waren die Beine der Nachtschwester, wie Rick an den Schuhen erkannte. Mit einem Satz sprang Rick in das Büro – und blieb wie erstarrt stehen. Die Krankenschwester lag auf dem Boden hinter dem Schreibtisch, verkrümmt, die Arme schützend vor das Gesicht gelegt. Der Detektiv bückte sich. »Ich bin es, Rick Masters«, sagte er beruhigend, doch gleich darauf erkannte er, daß es keinen Sinn hatte, mit der Krankenschwester zu sprechen. Sie war nicht bei Bewußtsein. Als Rick sie hochheben und auf einen der Sessel legen wollte, merkte er erst, daß ihr Körper ganz steif war. Die einzelnen Gliedmaßen ließen sich nicht bewegen. Dabei fühlte sich ihre Haut frisch und warm an. Sie war also nicht tot, obwohl ihr Zustand mit Leichenstarre zu vergleichen war. Hier konnte Rick Masters nichts tun, er brauchte schnellstens die Hilfe eines Arztes. In der Anstalt mußten sich Ärzte befinden, doch er wußte nicht, wo und wie er sie erreichen konnte. Vergeblich schaute er sich nach einem Notruf oder etwas ähnlichem um. In seiner Ratlosigkeit griff Rick zum Telefon. Die Leitung blieb tot. Mit einem wütenden Fluch feuerte der Privatdetektiv den Hörer zurück auf den Apparat und stürmte aus dem Büro. Hallend brach sich sein Ruf an den hohen Wänden der Vorhalle. Rick Masters schrie um Hilfe. Niemand antwortete. Im Haus echoten seine Schreie, wurden von Erkern und Säulen zurückgeworfen, doch außer Rick schien sich kein lebendes Wesen in diesem Gebäude zu befinden. 79 �
Die Krankenpfleger im ersten Stock, in der geschlossenen Abteilung! Rick lief auf die Treppe zu und hetzte hinauf, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Vor dem Gittertor, das den Zugang zu den Räumen mit gemeingefährlichen Kranken verschließen sollte, bremste er seinen Lauf. Das Gitter stand sperrangelweit offen! Dahinter erkannte Rick Masters in dem bläulichen Schein der Nachtbeleuchtung eine verkrümmte Gestalt. Es war einer der Krankenpfleger, wie Rick schnell feststellte. Er befühlte das Gesicht und die Hände des Mannes. Auch er lebte, sein Puls schlug regelmäßig, die Atmung ging flach, als schliefe er tief. Doch weder Arme noch Beine ließen sich bewegen, sie waren wie versteinert. Von bösen Vorahnungen getrieben, trat Rick Masters an die Tür von Derrick Fosters Zelle heran. Die Riegel waren zurückgeschoben, die Tür nur angelehnt, die Zelle leer. Es war also geschehen, was Rick befürchtet hatte. Derrick Foster befand sich in Freiheit. Doch wie hatte er es geschafft, auszubrechen? Die anderen Insassen der Anstalt waren alle noch da, lagen in ihren Zimmern und schliefen, wie sich der junge Privatdetektiv schnell vergewisserte. Nur das Aufsichtsund Pflegepersonal war von den eigenartigen Krampfzuständen befallen. Giftgas? Injektionen? Rick wußte es nicht. Obwohl er glaubte, daß für die Betroffenen keine Lebensgefahr bestand, mußte er für sie so rasch wie möglich Hilfe herbeiholen. Das ging am schnellsten über das Funkgerät in seinem Wagen. Rick Masters lief die Treppe wieder hinunter und aus dem Haus, setzte sich hinter das Lenkrad seines Morgan und klappte das Handschuhfach auf. Über den Polizeifunk wurde er schnell 80 �
mit Chefinspektor Hempshaw verbunden. Der Beamte in der Zentrale mußte dazu allerdings zu Hempshaw nach Hause durchstellen. Die Stimme des Chefinspektors klang verschlafen. Immerhin ging es auf ein Uhr nachts. Als er hörte, was Rick Masters zu melden hatte, war er sofort wach. »Ich komme«, sagte er nur. »Und ich veranlasse alles Nötige.« Dann war die Verbindung auch schon unterbrochen. Rick blieb abwartend in seinem Wagen sitzen und starrte auf das hohe, dunkle Gebäude, in dem sich Rätselhaftes ereignet hatte. Sollte er auf Hempshaw warten? Wozu? Er konnte hier nichts mehr tun, und wenn der Chefinspektor etwas herausfand, dann erfuhr Rick es sowieso früh genug. Weshalb also Zeit vergeuden? Rick Masters hatte nämlich eine Idee. Er dachte darüber nach, wo der Colonel wohl den Riesendiamanten vergraben hatte falls es diesen Stein überhaupt gab. Sicherlich an einem Ort, den er leicht unter Kontrolle halten konnte. Was bot sich da eher an als der Garten seines Hauses in Buckhurst Hill? Von den Fenstern aus konnte Colonel Drusdale ständig überwachen, was im Garten geschah, und der Stein lag trotzdem sicher in der Erde, denn kein Dieb hätte sich die Mühe gemacht, den gesamten Garten Zoll für Zoll umzugraben. Das Haus in Buckhurst Hill immer wieder kamen Ricks Überlegungen dorthin zurück. Der Schlüssel des Geheimnisses mußte in jenem Haus zu finden sein. Rick wollte ihn suchen. Mit einem satten Brummen sprang der Motor seines offenen Sportwagens an. Mit pfeifenden Reifen schlingerte er um die Kurve und richtete seine Scheinwerfer nach Norden. nach Buckhurst Hill. * 81 �
Um zwei Uhr morgens brannte in ganz Buckhurst Hill kein einziges Licht. Daß sich Rick Masters trotzdem nicht verfuhr und auf Anhieb das richtige Gebäude fand, war nur seinem außergewöhnlichen Orientierungssinn zu verdanken. Es gab dort nämlich auch keine Straßenbeleuchtung, und die einzelnen Fahrwege glichen einander wie ein Ei dem anderen. Irgendwo heulte ein Hund klagend und lang gezogen, als Rick Masters die Scheinwerfer löschte und den Motor abstellte. Nach Möglichkeit kein Geräusch verursachend, stieg der junge Privatdetektiv aus und prüfte kurz den Sitz seiner Pistole im Schulterhalfter. Erst als er sich davon überzeugt hatte, daß er sich jederzeit gegen einen Angriff verteidigen konnte, wagte er es, in den Garten des Landhauses vorzudringen. Der Wohnsitz von Colonel Drusdale erhob sich wuchtig und pechschwarz gegen den Nachthimmel. Rick hielt in der linken Hand eine Taschenlampe, die rechte ließ er lose am Körper herunterbaumeln, bereit zum Zuschlagen. Ohne das Gittertor zu öffnen, flankte Rick über den Zaun und duckte sich. So konnte er einen Menschen gegen den etwas helleren Himmel erkennen. In seiner Nähe war jedoch kein Anzeichen von Leben zu entdecken. Auch im Haus blieb alles dunkel. Kein Laut verriet die Anwesenheit eines anderen im Garten. Geduckt huschte Rick zwischen den Rosenbüschen vorwärts. Er wollte sich zuerst im Haus umsehen und dann erst den Garten durchkämmen, um einen Hinweis auf das Schatzversteck zu finden. Der junge Privatdetektiv beschrieb einen weiten Bogen um das Haus und wollte sich gerade der Hintertür nähern, als er mit dem rechten Fuß in ein Loch trat. Er stolperte und schlug der Länge nach hin. Der erwartete Angriff blieb aus. Rick hatte geglaubt, in eine 82 �
Falle geraten zu sein, doch das Loch hatte wahrscheinlich eine andere Bedeutung. Vielleicht hatte der Colonel dort einen neuen Rosenstock pflanzen wollen. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht, seine Anwesenheit im Garten nicht zu verraten, schaltete Rick die Taschenlampe ein. Er mußte doch sehen, was das für ein Loch war, das ihn zu Fall gebracht hatte. Es war erst vor kurzer Zeit ausgehoben worden. Die Erde, die neben der Vertiefung lag, schimmerte dunkel und feucht, war also noch nicht an der Luft getrocknet. Geregnet hatte es in den letzten Tagen auch nicht. Dann leuchtete Rick in die Tiefe. Er steckte fast bis zum Knie mit seinem rechten Bein in der Grube, und er konnte von Glück sagen, daß er sich nichts gebrochen hatte. Wäre er schneller gegangen, dann hätte seine Untersuchung des Drusdaleschen Besitzes hier geendet. Den Schuh voll von lockerer Erde, zog Rick sein Bein heraus und betrachtete die Wände des Loches. Es war mit einem Spaten ausgestochen worden. Das war nichts Besonderes. Nur der Boden interessierte Rick. Ganz unten zeichnete sich eine rechteckige Vertiefung ab mit senkrechten Wänden und einem ganz flachen, glatten Boden. So sauber konnte man nicht mit einem Spaten stechen. Also, folgerte Rick Masters, hatte sich dort unten ein rechteckiger Gegenstand befunden. Seine Gedanken überstürzten sich. Der Größe und der Form nach konnte dieser rechteckige Gegenstand sehr gut eine Metallkassette gewesen sein, die irgend jemand ausgegraben hatte. Eine Metallkassette führte aber logischerweise zu dem Riesendiamanten, den Colonel Drusdale angeblich in seinem Besitz hatte. Wenn sich dort unten tatsächlich das Versteck des Diamanten befunden hatte, dann war jemand Rick Masters zuvorgekom83 �
men. Rick tippte auf Derrick Foster, der aus der Anstalt ausgebrochen war, um den »Stein des Verderbens« an sich zu bringen. Masters richtete sich plötzlich ruckartig auf. Er glaubte ein Geräusch gehört zu haben, wie das Zuschlagen einer Tür. War Derrick Foster noch in der Nähe? Hielt er sich im Haus versteckt und lauerte auf Rick, um ihn in einem günstigen Augenblick zu töten? Ricks Hand glitt unter die Jacke zu der Pistole. Wie ein jagendes Raubtier schlich er sich zur Hintertür des Hauses von Colonel Drusdale. Ganz langsam drückte er die Klinke. Die Tür war unversperrt. Sie schwang knarrend nach außen auf. Vor Rick lag die undurchdringliche Dunkelheit der Küche. Durch die offen stehende Küchentür konnte Rick Masters in die kleine Halle des Hauses sehen, von der die Tür in das Arbeitszimmer des Colonels abzweigte. Unter der Tür des Arbeitszimmers erschien ein heller Streifen. Jemand hatte Licht im Arbeitszimmer gemacht. Und dann hörte Rick Masters das fürchterliche Aufstöhnen eines tödlich Verletzten. Alle Vorsicht vergessend, sprang Rick Masters mit zwei Sätzen zur Tür und stieß sie auf. Im Zimmer brannte nur eine Lampe, und zwar die auf dem Schreibtisch. Dahinter saß in dem Stuhl Colonel Drusdale! In seiner Brust klaffte eine tiefe Wunde, aus der unaufhörlich Blut sickerte. Rick wischte sich über die Augen. Das konnte nur ein Trugbild sein. Er erlebte die Mordszene an dem Colonel wieder, sofern der Colonel überhaupt ermordet worden war. Rick nahm nichts mehr als gegeben an, was er nicht mit eigenen Augen gesehen hatte. Das Bild des blutüberströmten Mannes war plötzlich wie weg84 �
gewischt. Das Licht verlosch. Das Arbeitszimmer lag wieder in vollkommener Dunkelheit vor Rick. Nur das hellere Rechteck des Fensters zeichnete sich scharf ab. Und vor diesem hellen Rechteck wuchs ein mächtiger Schatten auf, der sich rasend schnell auf Rick zubewegte. Colonel Drusdale! Der Privatdetektiv ließ sich instinktiv fallen, doch er konnte dem Schlag nicht mehr ausweichen. Er traf ihn an der Schulter und lähmte augenblicklich seinen rechten Arm. Hageldicht prasselten die Schläge auf den Wehrlosen am Boden nieder. Rick stöhnte und schrie, wälzte sich herum und trat um sich, aber er bekam seinen Gegner nicht zu fassen. Der Mann schien aus Luft zu bestehen. Dabei stieg Rick während des schrecklichen Kampfes gegen einen unsichtbaren Feind ein widerlicher, scharfer Modergeruch in die Nase, wie nach alten Kleidern, die lange in einem feuchten Raum gelagert gewesen waren. So unerwartet, wie die Schläge eingesetzt hatten, so schnell hörten sie auch auf. Rick stemmte sich ächzend auf die Knie, robbte in das Arbeitszimmer hinein und tastete nach dem Lichtschalter. Als die Deckenbeleuchtung aufflammte war niemand zu sehen. Weder im Arbeitszimmer noch in der Halle zeigte sich ein Mensch. Rick Masters klammerte sich am Türpfosten fest und zog sich hoch. Er schwankte so heftig, daß er sich festkrallen mußte, sonst wäre er zusammengebrochen. Übelkeit krampfte seinen Magen zusammen, und er schloß die Augen, weil sich das Zimmer drehte. Nach einigen Minuten hatte er sich soweit erholt, daß er ohne Stütze stehen konnte. Torkelnd wankte er auf den Schreibtisch zu und hielt sich am Rand der Platte fest. Der Stuhl war leer, und weder auf der Polsterung noch auf 85 �
dem Fußboden war auch nur der kleinste Blutspritzer zu sehen. War es eine Täuschung gewesen? Rick schüttelte vorsichtig den Kopf. Nein, er hatte wirklich den blutenden Colonel hinter seinem Schreibtisch gesehen. Die Schläge hatte er sich schließlich auch nicht eingebildet. Der Colonel hatte ihm eine letzte Warnung zukommen lassen, sich nicht weiter einzumischen! Rick Masters war fast schon überzeugt, daß Colonel Drusdale nicht von seinem Neffen ermordet worden war. Er glaubte vielmehr daran, daß die beiden ein abgekartetes Spiel miteinander spielten, dessen Sinn er nur noch nicht durchschaute. Sich Blut von den aufgeplatzten Lippen leckend, griff Rick zum Telefon und rief das Sanatorium an, aus dem Derrick Foster ausgebrochen war. Ein Mann von Hempshaws Truppe meldete sich und holte auf Ricks Bitte den Chefinspektor an den Apparat. »Das Pflegepersonal hat sich wieder erholt, ohne daß ein Arzt etwas hätte tun können«, berichtete Chefinspektor Hempshaw. »Die Ärzte wissen auch nicht, was mit den Leuten los war, und die Betroffenen können sich an nichts erinnern. Das ist aber noch nicht alles, Rick.« »Was haben Sie noch auf Lager?« fragte Masters keuchend. »He, Rick. Ihre Stimme hört sich an, als wären Sie durch einen Fleischwolf gedreht worden.« »So fühle ich mich auch«, stöhnte der Privatdetektiv und erzählte, was er im Haus des Colonels erlebt hatte. »Eines ist sicher, Rick«, sagte der Chefinspektor, als Masters mir seiner Erzählung fertig war. »Derrick Foster hat Sie nicht zusammengeschlagen.« »Woher wollen Sie das so genau wissen?« fragte Rick Masters verbittert. »Immerhin ist er auf freiem Fuß und hat mir den Tod geschworen.« »Eben nicht!« stieß Hempshaw hervor. »Ich meine, er ist eben 86 �
nicht auf freiem Fuß. Vor einer Viertelstunde kam er freiwillig zurück in die Anstalt. Er sitzt oben in seinem Zimmer und ist sicher eingesperrt. Was sagen Sie jetzt?« Rick Masters holte erst einmal tief Luft. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu!« entfuhr es ihm. »Haben Sie eine Leibesvisitation bei Foster gemacht?« »Nein. Warum?« Chefinspektor Hempshaw begriff nicht, was Masters meinte. »Ach so, Waffen oder Ausbruchswerkzeug. Daran habe ich gar nicht gedacht. Ein unverzeihlicher Fehler. Wird sofort korrigiert.« »Ich mache mich inzwischen auf den Weg, Kenneth.« Rick fühlte sich fit genug, um den Wagen zu fahren. »Ich komme in die Anstalt. Sie sind doch noch eine Weile dort, oder?« »Sicher, Rick. Entschuldigen Sie mich jetzt, ich werde gleich die Leibesvisitation durchführen.« »Dann durchsuchen Sie auch den Raum!« riet Rick Masters. »Wer weiß, was Foster inzwischen alles versteckt hat.« Rick beendete das Gespräch und ging langsam hinaus zu seinem Wagen, der unberührt an derselben Stelle stand. Der Fall wurde immer verrückter. Rick kannte sich überhaupt nicht mehr aus. Alle Anzeichen sprachen dafür, daß Colonel Drusdale lebte. Doch welchen Sinn hatte dieses Spiel? Warum wurde der Tod des Colonels vorgetäuscht? Die Nacht hielt noch eine Überraschung für Rick Masters bereit, und zwar in dem Sanatorium, zu dem er seinen Morgan steuerte. Eine sehr große Überraschung, und eine lebensgefährliche noch dazu. * Das Sanatorium glich einer belagerten Festung. Diesmal wollte � Chefinspektor Kenneth Hempshaw nicht das geringste Risiko � 87 �
eingehen. Der wegen Mordverdachtes verhaftete und zur Beobachtung eingewiesene Derrick Foster sollte nicht mehr ausbrechen können. Rings um das Gebäude standen in Rufweite Doppelposten der Polizei, jeder Posten noch dazu mit einem tragbaren Funkgerät ausgerüstet. Starke Handlampen konnten jederzeit das Gelände ausreichend erhellen, um einen Flüchtigen sofort zu erkennen. Auf den Korridoren brannte das normale Licht, nicht mehr die Nachtbeleuchtung. Ein Streifenwagen war ständig zum Einsatz bereit. Mehr konnte vorläufig an Sicherungen von außen nicht unternommen werden. Chefinspektor Hempshaw kam Rick Masters atemlos in der Eingangshalle entgegen. »Er hat ihn!« rief er schon von weitem. Rick sah ihn verständnislos an. »Wer hat wen?« fragte er kopfschüttelnd. Er konnte sich die Aufregung des Chefinspektors nicht erklären. »Foster!« Hempshaw hatte Rick erreicht und packte ihn aufgeregt am Arm. »Foster hat den Riesendiamanten!« Rick Masters kniff seine hellbraunen Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Er hat den ›Stein des Verderbens‹, der ursprünglich dem Colonel gehörte, bei sich in der Zelle?« »Ja!« Hempshaw nickte heftig. »Ich habe, ehe ich eine Leibesvisitation bei ihm vornahm, durch den Spion in seiner Tür geschaut und dabei gesehen, wie er den Diamanten in der Hand hielt. Er hat ihn betrachtet, und dabei zeigte sein Gesicht den reinsten Wahnsinn. Jetzt bin ich erst restlos überzeugt, daß Foster nicht mehr normal ist. Sie hätten sehen sollen, wie er vor Gier nach dem Stein gegeifert hat.« »Haben Sie ihm den Diamanten weggenommen?« wollte Rick wissen. Hempshaw schüttelte seinen kantigen Schädel. »Ich habe Fosters Zelle überhaupt noch nicht betreten. Erst wollte ich mich mit 88 �
Ihnen besprechen. Was meinen Sie, Rick, sollen wir rauf gehen und Foster einen Besuch abstatten?« Rick überlegte nicht lange. »Dazu bin ich ja hergekommen. Haben Sie neues Pflegepersonal eingesetzt, oder sind die Leute wieder soweit auf dem Damm, daß sie ihren Dienst tun können?« fragte er, während sie die Treppe hinauf in den ersten Stock stiegen. »Es geht mit dem alten Personal weiter«, erklärte Hempshaw. »Die Leute sind zuverlässig, davon bin ich überzeugt. Außerdem habe ich meine Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Foster rückt nicht mehr aus.« »Hoffentlich nicht.« Masters war nicht ganz so zuversichtlich wie der Chefinspektor. Sie hatten die Tür erreicht, hinter der Foster festgehalten wurde. Auf einen Wink des Kriminalisten schob der Pfleger die Riegel zurück. Es war derselbe Mann, den Rick Masters in verkrümmter Haltung auf dem Boden des Korridors gefunden hatte. Nun war ihm nichts mehr davon anzumerken. Der Pfleger und zwei kräftige Polizisten hielten sich bereit, um notfalls eingreifen zu können. Die Tür schwang zurück und gab den Blick auf das Bett frei, auf dem Derrick Foster saß. Rick erschrak bei seinem Anblick. Bisher war er überzeugt gewesen, daß sein ehemaliger Freund nicht wahnsinnig war. Doch Hempshaw hatte recht. Ein Blick in dieses glühende, verzerrte Gesicht mußte überzeugen, daß man es mit einem Irren zu tun hatte. Wodurch war Fosters Zustand innerhalb relativ kurzer Zeit so grundlegend verändert worden? Bestimmt hing es mit seinem Ausbruch aus der Anstalt zusammen und damit, was er dabei erlebt hatte. Ob die verderbliche Kraft des Diamanten, die angeblich von einem Fluch stammte, etwas damit zu tun hatte, konnte Rick nicht entscheiden. 89 �
Der Diamant! Ricks Blick wurde magisch von dem Stein angezogen, den Foster in seinen Händen hielt. Er war faustgroß, und er strahlte und funkelte in den feurigsten Farben. Colonel Drusdale hatte nicht übertrieben. Dieser Diamant stellte den größten Reichtum dar, den man sich vorstellen konnte. Als Derrick Foster sah, wer in sein Zimmer getreten war, überzog wächserne Blässe sein Gesicht. Der freudige und gierige Ausdruck wich den Anzeichen von Schrecken und Angst. Schützend warf er sich über den Diamanten und verbarg ihn unter seinem Körper. Noch ehe Rick Masters oder der Chefinspektor ein Wort sagen konnte, begann Foster zu schreien und zu toben. Der Pfleger stürmte ins Zimmer, eine aufgezogene Spritze in der Hand. Während die beiden Polizisten Foster festhielten, was sie bei seinen übermenschlichen Anstrengungen nur mühsam schafften, gab der Pfleger ihm die Injektion. »Wirkt fast sofort«, erklärte er Hempshaw. »Nicht loslassen!« befahl der Chefinspektor, der vorsichtig geworden war. »Wer weiß, wie Foster reagiert.« Das Toben hörte zwar auf, aber die weit aufgerissenen Augen des Irren waren starr auf die Männer gerichtet, die ihn überwältigt hatten. Aus seinem Mund kam ein Fauchen und Knurren, das an ein Raubtier erinnerte, das sich auf sein Opfer stürzt. »Eigentlich müßte er schon schlafen«, sagte der Pfleger verwundert. »Ich habe ihm eine besonders große Dosis gegeben.« Foster war sichtlich schlaff, aber als Rick Masters nach dem Diamanten griff, um ihn zu betrachten, bäumte er sich unter dem harten Griff der Polizisten auf. »Geben Sie ihm noch eine Spritze!« rief der Chefinspektor ungeduldig, doch der Pfleger hob abwehrend die Hände. »Ausgeschlossen! Das könnte für ihn gefährlich werden. Es 90 �
wird am besten sein, Sie lassen ihn jetzt in Ruhe.« »Na schön, wir haben erreicht, was wir wollten.« Chefinspektor Hempshaw winkte noch zwei seiner Leute in das Zimmer. »Alles durchsuchen!« befahl er. »Und wir sehen uns jetzt mal diesen sagenhaften Diamanten an.« Rick Masters hob den Stein vom Bett und hielt ihn gegen das Licht. »Wirklich ein herrliches Stück Kohlenstoff«, bemerkte er sarkastisch. »Und deshalb müssen Menschen sterben. Ich kann einfach nicht verstehen, wie man für dieses Ding zum Mörder wird.« Ein ächzendes Stöhnen vom Bett her unterbrach Masters. Derrick Foster hatte sich aufgerichtet und stierte mit fast aus den Höhlen tretenden Augen auf den Diamanten in der Hand des Detektivs. »Gib mir sofort meinen Stein zurück!« keuchte Foster. »Ich warne dich, gib ihn sofort her! Du büßt es sonst mit dem Leben!« »Ich werde den Stein lieber in den Yard bringen«, erklärte Chefinspektor Hempshaw. »Dort ist er sicherer.« Rick reichte ihm den Diamanten und warf Foster einen langen Blick zu. Für einen Moment sah es so aus, als wollte der Detektiv etwas sagen, doch dann zuckte er die Schultern, drehte sich um und verließ den Raum. Derrick Foster konnte ihn nicht mehr verstehen. Für ihn gab es nur mehr den Diamanten, sonst nichts. Ein schreckliches Ende für diesen Menschen, dachte Rick, während er langsam die Treppe hinunterstieg. Hempshaw holte ihn vor dem Anstaltsgebäude ein. »Werde froh sein, wenn ich den Stein los bin«, seufzte der Chefinspektor. »Soll ich Sie in den Yard begleiten?« schlug Rick Masters vor. »Zu zweit sind wir sicherer.« »Nicht nötig.« Der Chefinspektor winkte ab. »Es weiß ja niemand, welchen Schatz ich mit mir herumschleppe. Also dann, bis morgen!« 91 �
»Bis heute«, verbesserte ihn Rick Masters. »Es ist bereits halb sechs.« »Der Himmel ist schon grau«, knurrte Hempshaw. »Und ich hätte diese Nacht dienstfrei gehabt.« »Ich auch, Kenneth, falls Sie das tröstet, ich auch.« »Es tröstet mich nicht.« Der Kriminalist klemmte sich hinter das Lenkrad eines Polizeiwagens vom Yard, winkte Rick noch einmal zu und fuhr los. Er steuerte direkt in eine Katastrophe. * Rick Masters hatte geglaubt, daß er zumindest am Morgen einige Stunden zur Ruhe kommen würde. Es war ein Irrtum. Nach dem Kampf in dem Haus in Buckhurst Hill und den Ereignissen in der Anstalt hätte er seinen zerschundenen Körper dringend ein wenig pflegen müssen, doch als er gerade aus der Badewanne stieg, in der er ein heißes Bad genommen hatte, schrillte das Telefon. »Warum habe ich nicht abgestellt«, schimpfte Rick halblaut vor sich hin und tappte auf nackten Sohlen zu dem scheppernden Störenfried. Einer der Inspektoren, die in Hempshaws Abteilung arbeiteten, war in der Leitung. »Wir machen uns Sorgen um Mr. Hempshaw«, rief der Inspektor hastig. »Den Kollegen in der Anstalt sagte er, daß er hierher in den Yard fahren wolle. Aber er ist nicht eingetroffen, bis jetzt zumindest nicht. Sie haben doch zuletzt mit ihm gesprochen. Hat er zu Ihnen vielleicht gesagt, daß er vorher noch irgendwohin fahren möchte?« Rick vergaß plötzlich, daß er müde und von der Schlägerei lädiert war. Er vergaß auch, daß er nur mit Haut bekleidet war 92 �
und erbärmlich fror. Im Gegenteil, es wurde ihm sehr heiß bei dem Gedanken, was alles geschehen sein konnte. Immerhin trug Hempshaw den größten Diamanten der Welt bei sich. »Er hat auch mir gegenüber behauptet, daß er in den Yard will«, bestätigte Rick. »Haben Sie schon, die Suche nach ihm angekurbelt? Die Streifenwagen verständigt?« »Nein«, kam die zögernde Antwort. »Bis jetzt dachten wir uns nichts dabei, aber vor wenigen Minuten wollte der Leiter des Einsatzes in dem Sanatorium mit dem Chefinspektor sprechen. Da vermissten wir ihn erst.« »Wieso der Einsatzleiter?« fragte Rick aufhorchend. »Ist etwas nicht in Ordnung?« »Nein, nein«, beschwichtigte ihn der Inspektor »Derrick Foster ist nach wie vor hinter Schloß und Riegel. Aber Hempshaw… Wo könnte er stecken?« »Ich werde mich sofort darum kümmern«, versprach Rick. »Lassen Sie inzwischen die Suche anlaufen!« Er warf den Hörer auf den Apparat, daß das Gehäuse in allen Fugen knackte, und schlüpfte in Rekordzeit in seine Kleider. Der Krach der zuschlagenden Wohnungstür dröhnte durch das Haus. Dann röhrte der Morgan los. Was war mit Chefinspektor Hempshaw geschehen, der allein mit dem größten Diamanten der Welt durch das morgendliche London unterwegs war? * Diesmal verzichtete Rick Masters nicht auf sein besonderes Vorrecht, in Notfällen mit Blaulicht und Einsatzsignal zu fahren. Er brauchte beides, um in dem zähflüssigen Morgenverkehr zügig voranzukommen. Das Blaulicht hatte er auf ein schlankes Metallrohr neben der Windschutzscheibe aufgesteckt. Das hekti93 �
sche Blinken machte den Weg frei, und der dunkelgrüne Morgan brauste durch die entstandene Gasse zwischen den Fahrzeugen des Berufsverkehrs. In acht Minuten hatte Rick Masters das Sanatorium erreicht, doch vor dem Portal wendete er ohne anzuhalten. Er schlug die Straße ein, die seiner Meinung nach der Chefinspektor auf seinem Weg zum Yard gefahren war, weil sie die angenehmste und kürzeste war. Während der ganzen Zeit hörte Rick den Polizeifunk ab, in den er sich direkt eingeschaltet hatte. Die Londoner Polizei war in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden. Alle Streifenwagen-Mannschaften im gesamten Stadtgebiet und in der City hielten Ausschau nach dem Auto des Chefinspektors und nach ihm selbst. Nach menschlichem Ermessen mußten sie ihn bald gefunden haben. Trotzdem ließ Rick Masters in seiner Aufmerksamkeit nicht nach. Er setzte seinen persönlichen Ehrgeiz ein, seinen Freund aufzuspüren. Und er hatte Erfolg. Auf dieser Fahrt ließ er sich viel Zeit und schaute in jedes Auto auf der Fahrbahn, aber auch in jeden geparkten Wagen. Er warf einen kurzen Blick in die abzweigenden Seitenstraßen und die Hauseinfahrten. Dabei ließ er ständig das Blaulicht eingeschaltet, um die anderen Verkehrsteilnehmer vor überraschenden Fahrmanövern zu warnen. In diesem Punkt bewunderte er immer wieder die Disziplin der Londoner Autofahrer. Obwohl sein Wagen absolut keine Ähnlichkeit mit einem Einsatzfahrzeug der Polizei hatte, wurde er respektiert. Die peinlich genaue Suche lohnte sich. Rick Masters entdeckte die dunkle Dienstlimousine des Yard mit dem Blaulicht auf dem Dach in einer Grundstückseinfahrt. Die Bremsen des Morgan quietschten. Rick sprang über die geschlossene Seitentür aus dem offenen Sportwagen und rannte auf das Auto zu. Chefinspektor Kenneth Hempshaw saß vorn übergeneigt, die 94 �
Hände auf das Lenkrad gelegt. Er saß ganz still und aufrecht, den Kopf gerade nach vorne gerichtet. Seine Augen blickten starr ins Nichts. Rick Masters riß die rechte Seitentür auf. Ein eisiger Schauer lief über seinen Rücken. War Hempshaw vielleicht… »Kenneth!« stieß Rick besorgt hervor. »Um Himmels willen, Kenneth, sagen Sie etwas! Was ist passiert?« Doch Chefinspektor Hempshaw reagierte nicht. Rick packte ihn am Arm und wollte ihn rütteln. Der Arm ließ sich nicht bewegen. Rick konnte auch die Hände des Chefinspektors nicht vom Lenkrad lösen. Hempshaw war von der gleichen Starre erfasst wie das Pflegepersonal des Sanatoriums. Ein wenig beruhigt richtete sich Rick wieder auf. Auch die Nachtschwester und der Pfleger der Anstalt hatten diesen seltsamen und unerklärlichen Starr krampf ohne Schaden überstanden. Er konnte für Hempshaw im Moment nichts weiter tun. Dann fiel ihm ein, daß in diesem Augenblick Dutzende von Streifenwagen und Hunderte von Polizisten nach dem Chefinspektor suchten, während er ihn schon gefunden hatte. Rick beeilte sich, über Funk eine entsprechende Meldung an die Zentrale durchzugeben. »Schicken Sie mir den Arzt her, der auch im Sanatorium im Einsatz war!« verlangte er zum Schluß. »Und kein Wort an die Öffentlichkeit!« Als auch das geregelt war, ging Rick zu Hempshaws Wagen zurück, bis die ersten Polizeifahrzeuge eintrafen. Eine flüchtige Durchsuchung der Taschen von Hempshaws Anzug überzeugte Rick Masters davon, daß der Diamant verschwunden war. Etwas anderes hatte er gar nicht erwartet. Derrick Foster konnte diesen Anschlag nicht ausgeführt haben. Er war in der Anstalt eingeschlossen. Blieb also nur Colonel Drusdale, der angeblich Ermordete! Daß 95 �
noch jemand im Spiel war, schloß Rick aus. Doch wo war der Diamant, der »Stein des Verderbens«? Bevor Rick dieser Frage weiter nachging, suchte er erst einmal in der näheren Umgebung nach Zeugen, die vielleicht etwas gesehen hatten. Tatsächlich fand er in dem Haus, in dessen Einfahrt der Dienstwagen des Yard parkte, eine Hausfrau, die aus dem Fenster gesehen hatte, als Hempshaw in die Einfahrt gebogen war. »Ich habe gesehen, daß es ein Polizeiauto ist«, berichtete die Frau, die vor Neugierde zu platzen drohte, weil draußen auf ihrem Grundstück inzwischen zahlreiche uniformierte Polizisten versammelt waren. »Da war doch das Blaulicht auf dem Dach. Also habe ich nichts gesagt, daß der Mann hier parkt.« »Ist er denn freiwillig eingebogen, ich meine«, erklärte Rick seine Frage genauer, »saß noch jemand im Wagen?« »Nein, der Mann war ganz allein«, behauptete die Zeugin. »Aber kaum hat er den Motor abgestellt, da ist noch ein anderer Mann zu ihm hingegangen, hat die Tür aufgemacht und in den Wagen gegriffen.« »Konnten Sie erkennen, was dieser zweite Mann tat?« fragte Rick gespannt. Die Frau schüttelte bedauernd den Kopf. »Die Autotür war im Weg, aber viel hat er nicht gemacht. Nur hineingegriffen. Dann hat er die Tür wieder geschlossen und ist weggegangen.« »Beschreiben Sie den Mann!« forderte sie der junge Privatdetektiv auf. Zu seiner großen Überraschung konnte das die Zeugin sogar sehr gut, im Gegensatz zu den meisten Menschen, deren Beschreibung sich auf groß, dunkle Haare, weiße Haut beschränkte. Atemlos hörte Rick ihren Worten zu. Die Zeugin beschrieb haargenau Colonel Anthony Drusdale! *
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»Den Chefinspektor scheint es ärger erwischt zu haben als das Pflegepersonal in der Anstalt«, stellte der Arzt fest, nachdem er Hempshaw untersucht hatte. »Die Lähmungserscheinungen oder der Starrkrampf, wie immer man diesen eigenartigen Zustand nennen will, also, die Starre ist viel stärker ausgebildet.« »Sie können den Chefinspektor doch nicht in dem Wagen sitzen lassen«, sagte Rick Masters erschrocken. »Können Sie gar nichts für ihn tun?« »Nun, nicht viel«, erwiderte der Arzt achselzuckend. »Wir haben vorsichtig seine Finger vom Lenkrad gelöst und bringen ihn jetzt ins Krankenhaus. Dort bleibt er unter ständiger Aufsicht. Das ist alles. Vielleicht entdecken wir noch, was diesen Krampf hervorruft. Schmerzen hat er keine, aber er reagiert auf nichts.« Rick biss sich auf die Lippen, als Hempshaw in der Haltung, in der er hinter dem Lenkrad gesessen hatte, auf eine Bahre gelegt und in den Krankenwagen geschoben wurde, den der Arzt angefordert hatte. Es wurde Zeit, Colonel Drusdale das Handwerk zu legen, fand Rick. Dieser Mann hatte schon viel zuviel Unheil angerichtet. Denn daß der Colonel hinter allem steckte, schien mittlerweile klar auf der Hand zu liegen. Nach Aussagen der Zeugin hatte er Hempshaw den Diamanten abgenommen, nachdem der Chefinspektor in der Grundstückseinfahrt geparkt hatte. Doch sofort tauchte eine neue Frage auf. Warum hatte Hempshaw seine Fahrt überhaupt unterbrochen? Sobald der Chefinspektor aus seiner Erstarrung erwachte, würde er sich bestimmt nicht mehr daran erinnern können, was mit ihm geschehen war. Es gab also auf diese Frage keine Antwort. Daher konzentrierte sich Rick Masters wieder ganz auf Colonel 97 �
Drusdale. Er kam immer mehr zu der Überzeugung, daß dieses teuflische Spiel von dem Colonel aufgezogen worden war, um seinen Neffen in den Wahnsinn zu stürzen. Zuerst die vorgetäuschte Ermordung, der Trick mit dem Tonbandgerät. Dann der größte Diamant der Welt, den er seinem Neffen übergeben hatte. Infolge seiner krankhaften Gier nach Reichtum war Derrick Foster ein ideales Opfer für jemanden, der ihn zum Irrsinn treiben wollte. Während er zur Klinik fuhr, gestand sich Rick Masters ein, daß seine Theorie viele Lücken und Schwächen hatte. Sie barg auch Widersprüche in sich, die er nicht erklären konnte. Warum sollte der Colonel einerseits seine Ermordung vortäuschen, andererseits aber alles unternehmen, um zu beweisen, daß er noch lebte? Warum gestand Derrick Foster bereitwillig die Ermordung seines Onkels, zeigte sich andererseits aber nicht im geringsten darüber bestürzt, daß man ihn in ein Irrenhaus gesteckt hatte? Wieso brach Derrick Foster auf rätselhafte Weise aus diesem Irrenhaus aus und kehrte freiwillig wieder dorthin zurück? Rick Masters schlug wütend mit der Faust auf das Lenkrad seines Morgans. »Ich werde selbst noch verrückt, wenn das so weitergeht!« zischte er. Insgeheim war Rick bereits überzeugt, daß er etwas sehr Wichtiges übersehen hatte. Ein Glied in der Kette fehlte ihm, und deshalb paßte alles nicht zusammen. Als Rick Masters bei der Anstalt eintraf, war er mit seinen Kombinationen keinen Schritt weitergekommen. Er mußte sich darauf beschränken, neues Material zu sammeln. Inzwischen war das Personal der Anstalt im normalen Schichtwechsel ausgetauscht worden. Die zur Sicherung des Gefangenen aufgestellten Polizisten waren jedoch nicht abgezogen worden. Der Chefinspektor hatte angeordnet, daß sie vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr Wache halten mußten natürlich 98 �
turnusweise –, und bei dieser Regelung blieb es vorläufig. Derrick Foster war somit der am besten bewachte Kriminelle des Landes. Rick steuerte sein Ziel direkt an. Auf Feinheiten legte er keinen Wert mehr. »War vor etwa einer Stunde ein Besucher hier im Haus?« fragte er die Oberschwester, die tagsüber die Aufsicht führte. »Es war ein Mann hier«, bestätigte sie, nachdem sie genau Ricks Ausweis geprüft und sich von einem der Polizisten hatte bestätigen lassen, daß der junge Privatdetektiv mit Scotland Yard zusammenarbeitete. »Er wollte zu Mr. Foster, aber wir haben ihn natürlich abgewiesen.« Rick Masters beschrieb Colonel Drusdale so präzise wie möglich. Die Oberschwester nickte heftig. »Genauso hat der Mann ausgesehen. Er sagte, er müsse Mr. Foster etwas sehr Wichtiges geben.« »Ließ er sich abweisen?« wollte Masters wissen. »Es blieb ihm nichts anderes übrig.« Die Oberschwester lächelte säuerlich. »Wir werden mit unseren Patienten fertig, um so eher mit Außenstehenden.« »Davon bin ich überzeugt«, seufzte Rick gegen seine Überzeugung. »Vielen Dank jedenfalls. Und jetzt möchte ich Mr. Foster sehen.« Die Oberschwester schien nicht schlechte Lust zu haben, den Privatdetektiv ebenso wie den fremden Besucher abzuwimmeln, doch dann erinnerte sie sich offenbar an die Verbindungen Ricks zu Scotland Yard und fügte sich seufzend in ihr Schicksal. Mit klopfendem Herzen stieg Rick zum unzähligsten Mal die Treppe hinauf in den ersten Stock. * Ein einziger Blick durch den Einwegspiegel in der Tür genügte, � 99 �
um Ricks Vermutung zu bestätigen. »Der Besucher für Mr. Foster kam nicht hier herauf. Sind Sie sicher?« fragte er noch einmal die Oberschwester, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgte. »Das habe ich doch gesagt«, versetzte sie spitz. »Er hat nicht einmal das Haus betreten.« »Und die Fenster können nicht geöffnet werden«, murmelte Rick. »Merkwürdig!« Trotz aller Sperrgürtel, die von der Polizei gezogen worden waren, hielt Derrick Foster in seiner Zelle einen Gegenstand in der Hand, für den er jederzeit gemordet hatte: den »Stein des Verderbens«, den Riesendiamanten! Rick hätte die Wände hochgehen können. War das ein Zauberstein, der sich in Luft auflösen und an beliebiger Stelle wieder materialisieren konnte? »Ich muß den Stein haben!« erklärte er schroff, »öffnen Sie!« »Das ist gegen die Vorschrift!« protestierte die Oberschwester. »Es ist auch gegen die Vorschrift, daß Patienten Gegenstände in ihren Räumen haben, mit denen sie Schaden anrichten können. Sehen Sie selbst!« Die Oberschwester warf einen Blick durch das Glas und erbleichte. »Aber, wieso dehn…«, stammelte sie. Rick nützte die Schwäche aus. »Ich muß den Stein sicherstellen, ehe ein Unglück geschieht«, behauptete er in einem Ton, der keinen Widerspruch mehr duldete. Zwei Pfleger halfen, die Tür zu öffnen und Derrick Foster festzuhalten. Doch die nächste Überraschung ließ nicht lange auf sich warten. Foster ließ sich widerstandslos den Riesendiamanten von Rick Masters wegnehmen. Seine Augen waren mit einem höhnischen Funkeln auf den Privatdetektiv gerichtet. Ein siegessicheres Leuchten brannte in ihnen. 100 �
Rick verlor kein Wort an den Irren. Er ließ den Stein in seine Jackentasche gleiten, drehte sich um und verließ die Zelle. In seinem Rücken spürte er den durchdringenden Blick Fosters. Hallend fiel die Tür wieder zu, die Riegel klirrten. Zusätzlich drehte der Pfleger zweimal den Schlüssel im Schloß. »Der wäre sicher verwahrt«, sagte er. Rick mußte an sich halten, um nicht in wütendes Lachen auszubrechen. Sicher war in diesem Fall nur eines: irgendwo da draußen lauerte Colonel Drusdale, einer der abgefeimtesten Verbrecher, mit denen es Rick Masters jemals zu tun gehabt hatte. Der Diamant brannte dem Detektiv in der Tasche. Er wollte diesen Teufelsstein so schnell wie möglich loswerden. Die beste Möglichkeit war, er brachte ihn zu Scotland Yard, was ursprünglich Hempshaw hatte tun wollen. Er war unterwegs auf geheimnisvolle Art aufgehalten worden und lag jetzt mit Starrkrampf im Krankenhaus. Rick war gespannt, ob auch ihm etwas Ähnliches auf der Fahrt zustoßen würde. Doch er kam gar nicht so weit. Kaum hatte er die Nervenklinik, verlassen und war vor das Hauptportal getreten, als er wie unter einem Peitschenschlag zusammenzuckte. Plötzlich verstand er vieles, das ihm bisher wie ein unlösbares Rätsel erschienen war. Nun wußte er, wie Derrick Foster zweimal aus der Anstalt hatte ausbrechen können, ohne die geringsten Spuren zu hinterlassen. Und er verstand auch, woher diese starr krampfartigen Lähmungszustände kamen. Ohne daß etwas zu hören war, dröhnte eine Stimme durch Ricks Gehirn, die Stimme von Derrick Foster. Und sie erteilte tödliche Befehle. *
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Derrick Foster konzentrierte alle seine Geisteskräfte auf sein Ziel, den Diamanten wiederzuerlangen, den ›Stein des Verderbens‹. Für diesen Stein hatte er schon so viel auf sich genommen, so viel gewagt, daß er nicht mehr darauf verzichten wollte, solange er noch atmete. Mit Erstaunen hatte er in der Zelle seine Fähigkeiten entdeckt, anderen Menschen seinen Willen über größere Entfernungen aufzuzwingen. Er selbst hatte nichts davon geahnt, über welche Möglichkeiten er verfügte. Doch er schaffte es. Daher war er auch nicht mehr beunruhigt gewesen, als ihm Masters den Diamanten wegnahm. Stand es doch für Foster fest, daß er den Stein innerhalb weniger Minuten wieder in seinem Besitz haben würde. Er stellte sich die Krankenpfleger vor, die Schwestern, die Oberschwester. Und er befahl ihnen, sich nicht von der Stelle zu bewegen. Ohne daß er sie sehen konnte, wußte er, daß sie wie zu Stein erstarrten. Ein teuflisches, zufriedenes Grinsen huschte über sein Gesicht. Das hatte er erreicht. Jetzt mußte er nur noch wie bereits zweimal zuvor den Pfleger auf seiner Etage dazu zwingen, ihm die Tür zu öffnen, und er war frei. Derrick Foster merkte jedoch nicht, was mit ihm vorging. Während seine Gedanken den Befehl aussandten, die Riegel zurückzuschieben und das Schloß aufzusperren, brach seine Wildheit aus, die sich in körperlichen Veränderungen zeigte. Innerlich schon lange ein Raubtier, das nach Geld jagte, verwandelte er sich auch äußerlich. Die Riegel glitten zurück, der Schlüsselbund rasselte. Derrick Foster stieß die Tür auf. Mit einem triumphierenden Lachen entriss er dem Pfleger dessen schwarzes Halstuch, stach mit beiden Fingern zwei Löcher hinein und band sich das Tuch vor das Gesicht. Als er in einem fauchenden Grinsen die Lippen 102 �
zurückzog, entblößte er das scharfe Gebiss eines Panthers. Foster sprang noch einmal zurück in sein Zimmer und holte unter seinem Bett das schwere Messer hervor, das er in dem Haus seines Onkels bei sich gehabt hatte. Er überlegte nicht, wie es in die Zelle gekommen war. Er wußte nur, daß er damit den Mann töten wollte, der ihm den Riesendiamanten entwendet hatte und der vor dem Portal der Klinik auf ihn wartete. Rick Masters! * Die Gedanken des Irren konnten von jedem aufgefangen werden, der sich in der Anstalt und in ihrer Nähe befand, also auch von Rick Masters. Mit Grauen erkannte Rick, wie sich der Irre zweimal den Weg in die Freiheit gebahnt hatte, ohne Gewalt anwenden zu müssen und Spuren zu hinterlassen. Und er fühlte mit noch größerem Entsetzen, daß er selbst sich ebenfalls nicht von dem mörderischen Einfluß des Irren befreien konnte. Sein erster Impuls war gewesen, wegzulaufen und Verstärkung zu holen, damit Foster an seinem dritten Ausbruch gehindert wurde. Doch Rick konnte sich nicht von der Stelle rühren. Wie festgenagelt stand er vor dem Eingang der Nervenklinik und wartete auf seinen Mörder. Aus den Augenwinkeln heraus, weil er den Kopf nicht drehen konnte, warf Rick Masters verzweifelte Blicke zu den Polizisten, die einen Sperrring um die Klinik gelegt hatten. Auch sie verharrten an ihrem Platz, als wären sie Statuen und keine lebenden Menschen. Es schien aussichtslos zu sein, noch etwas gegen den Irren unternehmen zu wollen. Er war übermächtig. Ohne Foster sehen zu können, wußte Rick Masters stets, wo 103 �
sich sein Mörder jeweils aufhielt. Im Augenblick schlich er die Treppe vom ersten Stock herunter. Dann durchquerte er die Vorhalle. Und nun hatte er die Eingangstür erreicht. Rick vermochte die Tür eben noch zu sehen. Tatsächlich da tauchte Derrick Foster im Eingang auf, in einer seltsamen Verkleidung und mit einem riesigen Messer mit blutiger Spitze in der Hand. Der Farbe nach war es getrocknetes Blut. Rick wußte nicht, wie er sich das erklären sollte, doch er hatte auch keine Zeit mehr, sich weiterhin darüber Gedanken zu machen. Derrick Foster fletschte ein fürchterlich entstelltes Gebiss, daß Rick meinen konnte, ein Panther würde seinen Rachen zum tödlichen Biss aufreißen. Dann schnellte er sich von der untersten Stufe der Treppe ab und jagte in weiten Sprüngen auf den wehrlosen Detektiv zu. Rick Masters sah dieses menschliche Ungeheuer herankommen. Die unmittelbare Gefahr, die direkte Bedrohung seines Lebens mobilisierte alle seine Willenskraft. Innerhalb von Sekundenbruchteilen wehrte er sich gegen den Befehl des Irren, reglos stehenzubleiben. Er wollte und mußte sich bewegen, diesen Angriff abwehren, sonst wurde er von dem Wahnsinnigen in Stücke gehackt. Ricks ungeheure Anstrengung hatte Erfolg. Als hätte er eine innere Sperre ausgelöst, indem er seinen ganzen Willen darauf konzentrierte, konnte er plötzlich wieder Arme und Beine bewegen, war er wieder Herr seines Körpers. Als Foster ihn ansprang, duckte sich Rick Masters. Der Irre prallte gegen ihn, verlor das Gleichgewicht und stürzte nach vorn. Im selben Moment richtete sich der junge Privatdetektiv auf und versetzte Foster einen gewaltigen Stoß, der ihn in die angrenzende Wiese schleuderte. Benommen blieb der Mörder für eine Sekunde liegen, ohne das Messer loszulassen, das er bei, seinem Sturz nicht verloren hatte. 104 �
Aber er erholte sich blitzschnell, sprang auf und ging erneut mit einem gereizten Fauchen auf Masters los, in dem er seinen Todfeind sah. Rick sah ein, daß es keinen Sinn hatte, auf Foster beruhigend einzureden. Andererseits scheute er sich, ihn einfach mit seiner Pistole niederzuschießen. Er war nicht nur einmal sein Freund gewesen, sondern auch ein Mensch, der selbst Hilfe brauchte. Während Rick den auf ihn springenden Wahnsinnigen mit einem gezielten Faustschlag stoppte, registrierte er, daß die Polizisten ebenfalls wieder aus ihrer Erstarrung erwachten. Foster konnte seine Geisteskräfte nicht mehr dazu einsetzen, um sie auszuschalten. Der Faustschlag Ricks traf den Schriftsteller genau am Kinn. Jeder andere wäre augenblicklich betäubt worden, nicht aber dieser Mann. Auf ihn passten einfach keine normalen Maßstäbe mehr. Zwar wurde sein Angriff aufgehalten, doch Foster ließ nicht locker. Er schüttelte benommen den Kopf und holte mit dem Messer weit aus. Rick wich der breiten Klinge mit einem gewandten Seitschritt aus und ließ seine Handkante gegen den Unterarm des Tobenden krachen. Mit einem Schmerzensschrei öffnete Foster seine Hand. Das Messer flog in hohem Bogen durch die Luft. Der Irre sah sich seiner einzigen Waffe beraubt. Mit einem heiseren Wutschrei stürzte er sich darauf und bot Masters ungeschützt seinen Rücken. Rick hatte keine Skrupel, diesen Vorteil auf unfaire Weise auszunutzen. Hier ging es nicht darum, einen Kampf nach gewissen Regeln auszutragen, hier ging es ums nackte Überleben. Seine geballten Hände landeten treffsicher in Fosters Nacken. Mit einem schmerzlichen Aufschrei fiel der Wahnsinnige aufs 105 �
Gesicht und blieb reglos liegen. Inzwischen hatten sich auch die Polizisten restlos von ihrer Betäubung erholt. Sie wußten nicht, was mit ihnen vorgegangen war, aber sie sahen den Mann, den sie bewachen sollten, ohnmächtig auf dem Boden liegen. Sofort war Masters umringt und wurde mit Fragen bestürmt, die er jedoch alle mit einer ungeduldigen Handbewegung zur Seite wischte. »Wir haben jetzt keine Zeit, lange Reden zu halten!« rief er. »Foster muß schnellstens wieder in seine Zelle gebracht werden.« Zehn Hände packten zu und schleiften den Bewußtlosen nach oben. Rick Masters starrte den Männern verkniffen nach. Er wußte, wie wenig das nützen würde. Wenn Foster es darauf anlegte, wieder freizukommen, dann widerstand ihm nichts und niemand. Doch wenn Rick ihn nicht niederschoss, gab es keine andere Möglichkeit, um ihn festzuhalten. Und einen kaltblütigen Mord konnte Rick nicht begehen. Der junge Privatdetektiv kümmerte sich einstweilen nicht weiter um Fosters Schicksal. Er ging zu seinem Wagen, nachdem er sich überzeugt hatte, daß sich der Diamant noch immer in seiner Jackentasche befand. Über Funk rief er Scotland Yard, während er seinen Morgan startete und vom Klinikgelände herunter auf die Straße rollen ließ. Er wurde mit dem Inspektor verbunden, der schon einmal wegen Hempshaws Verschwinden mit ihm gesprochen hatte. »Mr. Hempshaw ist noch immer im Krankenhaus«, berichtete der Inspektor. »Es geht ihm aber wesentlich besser.« »Sehr gut«, freute sich Rick Masters. »Hören Sie zu! Ich komme gleich zu Ihnen in den Yard und bringe etwas mit. Ich möchte über Funk nicht sagen, worum es sich handelt. Holen Sie auf jeden Fall so schnell wie möglich Sir Brisby in den Yard!« »Sir Brisby?« staunte der Inspektor. »Aber, das ist doch der 106 �
berühmteste Juwelenhändler von London. Meinen Sie, Mr. Masters, daß er so einfach herkommt, wenn ich anrufe?« »Er wird, wenn Sie sich auf mich berufen. Sir Brisby und ich sind gute Bekannte. Also, beeilen Sie sich, die Zeit drängt!« »Gut, wird sofort erledigt«, versprach der Inspektor, und Rick Masters schaltete befriedigt sein Funkgerät wieder ab. Er erinnerte sich sehr gut daran, was Mrs. Plumberry, die Haushälterin des Colonels, zu ihm über ihren Dienstgeber gesagt hatte. Mrs. Plumberry hatte behauptet, Colonel Drusdale hätte über eine blühende Phantasie verfügt und einen ausgezeichneten Schriftsteller abgegeben. Um Schriftsteller zu sein, muß man auch Geschichten erfinden können. Und diese Gedankenverbindung brachte Rick Masters auf eine Idee, die er schnellstens nachprüfen wollte. Dazu brauchte er Sir Brisby als Sachverständigen. Rick Masters freute sich jetzt schon auf die verblüfften Gesichter aller Beteiligten, wenn sich seine Idee bestätigen sollte. * Jeden Moment erwartete Rick Masters, angehalten oder überfallen zu werden. Schließlich hatte der Chefinspektor auf derselben Strecke zwischen Nervenklinik und Scotland Yard den Diamanten an den Colonel verloren. Das war erst am Morgen geschehen, und inzwischen war es Mittag. Rick schien es jedoch schon eine Ewigkeit her zu sein. Das kam daher, daß sich die Ereignisse zu überstürzen begannen. Entgegen seinen Befürchtungen erreichte der junge Privatdetektiv den Yard unbehelligt, und auch der Riesendiamant hatte sich nicht in Luft aufgelöst. Im Büro von Chefinspektor Hempshaw warteten bereits Inspektor Barkslow, sein Stellvertreter, und Sir Brisby auf Mas107 �
ters. Rick begrüßte die beiden kurz, dann legte er den Riesendiamanten auf den Tisch. Den Beamten entfuhr ein Ausruf des Erstaunens. Inspektor Barkslow starrte fasziniert auf den Edelstein. »Etwas so Herrliches habe ich noch nie gesehen«, flüsterte er beinahe andächtig. »Warten Sie erst einmal ab, was Sir Brisby dazu sagt«, bremste Rick seine Begeisterung. »Sehen Sie sich doch sein Gesicht, an!« Nicht ohne Grund wies Rick auf das Gesicht des Sachverständigen für jede Art von Juwelen hin. Sir Brisby zog nämlich die Augenbrauen missbilligend hoch, klemmte sich eine Lupe ins Auge und betrachtete den Riesendiamanten eingehend. Schon nach einer halben Minute legte er den Stein auf den Schreibtisch und steckte die Lupe in die Tasche. »Meine Herren«, erklärte er beinahe feierlich, »dies hier ist ein wunderschöner Bergkristall.« »Bergkristall?« entfuhr es Inspektor Barkslow überrascht und enttäuscht. Rick Masters jedoch hätte vor Begeisterung am liebsten ein Indianergeheul ausgestoßen. Also hatte seine Vermutung gestimmt. Der Riesendiamant war ein Bluff, ein Schwindel, mit dem sich der Colonel nur interessant machen wollte. Oder glaubte der Colonel selbst daran, daß es ein Diamant war? Auch diese Möglichkeit ließ Rick offen. Er würde sich bald davon überzeugen, denn er hatte vor, mit dem seltsamen Gentleman persönlich zu sprechen. »Ich gebe zu«, setzte Sir Brisby inzwischen seine Erklärungen fort, »daß auch ein Bergkristall dieser Größe und dieses Schliffs einen beachtlichen finanziellen Wert darstellt, aber den Unterschied zu dem Wert eines echten Diamanten muß ich wohl nicht betonen. Das wäre doch alles, Mr. Masters? Ich habe es nämlich sehr eilig.« 108 �
»Vielen Dank, Sir Brisby!« Rick strahlte den Experten an, als wäre er der Weihnachtsmann persönlich. »Sie haben mir sehr geholfen.« Sir Brisby verließ das Büro. Rick wandte sich an Inspektor Barkslow. »Schließen Sie den Stein in einen Safe!« verlangte er. »Und sprechen Sie zu niemandem darüber, was Sie hier gesehen und gehört haben! Chefinspektor Hempshaw wird alles decken, verlassen Sie sich darauf.« Als auch das geregelt war, hielt Rick nichts mehr im Yard. Er fuhr mit seinem Morgan zu dem Krankenhaus, in dem man noch immer den Chefinspektor untersuchte. Hempshaw war schwärzester Laune, als Rick Masters in dem Krankenzimmer auftauchte. »Mir fehlt überhaupt nichts, aber diese Medizinmänner wollen mich nicht gehen lassen«, schimpfte er. »Die reden immer wieder von Untersuchungen und solchen Dingen.« »Ich werde den Ärzten sagen, daß ich Sie in eine geschlossene Anstalt für besonders gefährliche Verbrecher überführe«, schlug Rick grinsend vor. »Das wird man mir glauben, und ich bringe Sie wieder in Umlauf. Einverstanden?« »Ich werde gleich zum Verbrecher, wenn Sie weiterhin so unverschämt sind!« drohte der Chefinspektor lächelnd. Es gelang ihnen mit vereinten Kräften, ohne Tricks und Drohungen, den Chefinspektor aus dem Krankenhaus loszueisen, indem sie die Ärzte überzeugten, daß ihm tatsächlich nichts mehr fehlte. »Und jetzt habe ich eine Überraschung für Sie, Kenneth«, sagte Rick, während er Hempshaw mit seinem Wagen in den Yard brachte. »Ich werde Ihnen meine Theorie erklären.« »Da bin ich aber gespannt«, brummte der Chefinspektor, der sich darin gefiel, seine schlechte Laune noch eine Weile zu pfle109 �
gen. »Ausnahmsweise haben Sie recht, es handelt sich um einen ganz natürlichen Kriminalfall«, begann Rick Masters. »Derrick Foster unternimmt einen Mordanschlag auf seinen Onkel, den Colonel, Der Anschlag misslingt, doch Drusdale täuscht seinen Tod vor. Foster glaubt, seinen Onkel getötet zu haben. Der Colonel, der von der Bildfläche verschwunden ist, hilft seinem Neffen auszubrechen und übergibt ihm den sagenhaften Riesendiamanten, weswegen Foster ihn hatte töten wollen. Aber der Riesendiamant ist in Wirklichkeit ein Bergkristall.« »Das gibt es doch nicht!« fuhr Hempshaw auf. »Doch!« Rick nickte. »Ich habe es mir von Sir Brisby bestätigen lassen. Aber weiter im Text! Der Colonel inszenierte alles nur, um seinen Neffen systematisch zum Wahnsinn zu treiben. Dadurch wollte er ihn dafür bestrafen, daß er versucht hatte, ihn zu ermorden. Können Sie mir bisher folgen?« »Ich bin doch kein Vollidiot!« fauchte Hempshaw. »Niemand ist vollkommen, Kenneth.« »Ihre Theorie hat große Fehler und Lücken«, gab der Kriminalist zu bedenken, ohne weiter auf Ricks Unverschämtheit einzugehen. »Ich weiß«, mußte der junge Privatdetektiv eingestehen. »Doch ich hoffe, diese Lücken auch bald ausfüllen zu können.« »Und wie wollen Sie das machen?« forschte der Chefinspektor, der wieder einmal einen Alleingang Ricks vermutete. »Da sind wir«, lenkte Masters schnell ab, der tatsächlich einen Alleingang plante. »Sie werden schon sehnsüchtig in Ihrem Büro erwartet«, schwindelte er. Chefinspektor Hempshaw stieg vor dem Yard aus, beugte sich aber noch einmal zu Rick herunter. »Wenn Sie wieder eine Extratour reiten, Rick, loche ich Sie ein!« drohte er. 110 �
Seine Drohung ging im Brummen von Ricks Wagen unter. Der Privatdetektiv fuhr zügig an, ohne sich weiter um Hempshaw zu kümmern. Er wollte die letzten Beweise für seine Theorie einholen. Und die fand er seiner Meinung nach im Haus des Colonels in Buckhurst Hill. * Rick ließ sich diesmal viel Zeit während der Fahrt. Für den Fall, daß der Colonel ihn beschattete, sollte er es leicht haben. Und außerdem wollte Rick seine Theorie noch einmal überdenken. Zugegeben, sie hatte Fehler. Aber was hatte er zu Hempshaw gesagt? Nichts ist perfekt! Zwar konnte Rick Masters die ganze Zeit über nicht feststellen, daß ihm jemand folgte, aber er wurde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Irgendwie war es unheimlich, unsichtbare Augen auf sich gerichtet zu spüren, aber Rick wollte schließlich, daß der Colonel ihn fand. Wenn seine Theorie stimmte und er zweifelte nicht daran –, dann stellte er die einzige ernste Gefahr für den teuflischen Plan Drusdales dar. Der Colonel hatte zwar schon erreicht, daß sein Neffe wahnsinnig geworden war, doch Rick konnte das schmutzige Spiel des Mannes aufdecken und ihn hinter Gitter bringen. An dem Landhaus in Buckhurst Hill vor den Grenzen Londons hatte sich äußerlich nichts verändert. Und als Rick Masters den Garten betrat, bemerkte er, daß auch niemand die Grube zugeschüttet hatte, aus der die Kassette mit dem falschen Diamanten entnommen worden war. Auf dem selben Weg wie in der Nacht drang Rick in das Haus ein. Doch diesmal saß der Colonel nicht in seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch. Das Arbeitszimmer war genauso leer wie die 111 �
übrigen Räume des Hauses. Rick suchte alles sehr sorgfältig ab, weil er keine unliebsamen Überraschungen erleben wollte. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, daß er vorläufig noch allein im Haus war, setzte er sich in den Stuhl hinter Colonel Drusdales Schreibtisch und begann zu warten. Seine Geduld wurde auf eine sehr harte Probe gestellt. Die Sonne sank, und erst nachdem sich die Dämmerung über das Haus gelegt hatte, so daß man ohne künstliches Licht kaum mehr etwas erkennen konnte, sah Rick Masters durch die Fenster des Arbeitszimmers eine Gestalt herankommen. In dem Grau des Abends erkannte er den Mann. Es war Colonel Anthony Drusdale! * Rick hatte die Türen des Hauses nicht versperrt, aber wenigstens geschlossen. Obwohl absolute Stille ringsum herrschte, konnte der junge Privatdetektiv nicht hören, wie der Colonel das Haus betrat. Völlig überraschend öffnete sich die Tür des Arbeitszimmers. Anthony Drusdale stand im Raum. Rick Masters wurde von einer eisigen Kälte überschwemmt. Grauen packte ihn beim Anblick dieses Mannes. Auf den ersten Blick war nichts Außergewöhnliches an ihm zu erkennen, doch die Haut hatte eine unnatürliche Blässe, seine Gesichtszüge waren starr wie bei einer Totenmaske. Die Augen lagen tief in den Höhlen und waren erloschen, glanzlos. Der Colonel bewegte sich kaum sichtbar. Rick hatte das Gefühl, als würde er seine Beine gar nicht gebrauchen, und doch kam er immer näher an den Schreibtisch heran, bis nur mehr die Tischplatte die beiden Männer trennte. »Ich gratuliere, Colonel Drusdale«, sagte Rick Masters ruhig. Er 112 �
hatte sich lange überlegt, was er sagen würde. »Sie haben es geschafft. Ihr Neffe ist im Irrenhaus, und er ist tatsächlich wahnsinnig geworden. Das wollten Sie doch erreichen.« Rick fröstelte. Der Colonel zeigte nicht die geringste Reaktion auf seine Worte. Es war, als hätte er mit einem Toten gesprochen. »Nach dem Mordversuch durch Ihren Neffen sind Sie untergetaucht und haben alles getan, damit Ihr Neffe und die Polizei glaubten, Sie wären tot.« Rick konnte nicht sagen, ob ihn der Colonel anschaute oder nicht. Der Blick dieses Mannes war ins Nichts gerichtet. Die Umwelt schien für ihn nicht zu existieren. »Ich habe eine Nachricht für Sie, die Sie nicht erfreuen wird«, fuhr Masters fort. Doch er mußte sich bereits mit aller Kraft beherrschen, um nicht aufzuspringen und fluchtartig das Zimmer zu verlassen. Diese reglose Gestalt, die einer Leiche ähnelte, zerrte an seinen Nerven. Die Spannung im Raum wurde unerträglich. »Der angebliche Riesendiamant ist nur ein Bergkristall!« Enttäuscht und entsetzt gleichzeitig mußte Rick Masters einsehen, daß alle seine Erwartungen wie eine Seifenblase platzten. Er hatte geglaubt, der Colonel würde bei dieser Eröffnung zusammenbrechen und ein Geständnis ablegen, falls er nichts davon gewußt hatte, daß der Diamant falsch war. Oder er würde in höhnisches Gelächter ausbrechen, weil er alle getäuscht hatte. Doch nichts dergleichen geschah. Colonel Drusdale stand reglos vor Rick Masters, das eingefallene Gesicht einer Leiche dem jungen Privatdetektiv zugewandt. Diese starre Haltung wirkte bedrohlicher als jede auf Masters gerichtete Waffe. Aus schreckgeweiteten Augen starrte Rick auf dieses Bild des Grauens. Das war kein normaler lebender Mensch! Das war… Die Erkenntnis traf Rick Masters wie ein Schlag. Der Schock riß 113 �
ihn vom Stuhl hoch. Er wollte zurückspringen, wollte fliehen, weil er einsah, daß er machtlos und wehrlos war, doch es war bereits zu spät. Der Colonel hob langsam seine faltige Hand, bis die Fingerspitzen genau auf Masters zeigten. Die Augen blitzten kurz auf, diese erloschenen Pupillen. Rick Masters brach wie vom Blitz getroffen zusammen. * Das Klingeln eines Telefons hatte Rick Masters schon oft aufgeweckt. Auch diesmal drang es langsam in sein Bewußtsein. Zuerst hörte er wie aus weiter Ferne das vertraute Geräusch, dann begriff er, daß es ein Telefon war. Doch das genügte noch lange nicht, um ihn aus seiner Ohnmacht zu wecken. Im Augenblick erinnerte er sich nicht daran, was mit ihm geschehen war. Er fühlte nur, wie unendlich schwer es ihm fiel, den Anruf zu beantworten. Endlich gelang es ihm, sich hochzustemmen und um sich zu tasten. Seine Finger fuhren über eine glatte Fläche, in der er die Platte eines Schreibtisches erkannte. Es war nicht sein eigener Schreibtisch, also war er auch nicht zu Hause. Rings um ihn war alles dunkel, so daß er keine Gegenstände zu erkennen vermochte. Schließlich stießen seine Finger gegen einen Schalter, den er drückte. Die Helligkeit, die plötzlich durch den Raum flutete, blendete Rick. Als er wenigstens wieder blinzeln konnte, sah er das Telefon vor sich stehen, hob ab und führte den Hörer an sein Ohr. »Hallo!« lallte er mit schwerer Zunge. »Wer spricht denn?« bellte eine ihm bekannte Stimme. »Sagen Sie Ihren Namen!« »Rick Masters, wer soll sonst sprechen?« fragte Rick, ohne die 114 �
Unsinnigkeit seiner Frage zu erkennen. Er war nicht in seiner Wohnung, also war es gar nicht selbstverständlich, daß er sich meldete. »Um Himmels willen, Rick, was ist mit Ihnen geschehen?« rief der Mann am anderen Ende der Leitung besorgt. »Sind Sie verletzt?« »Verletzt? Nein. Wer spricht denn?« »Rick, ich bin es, Hempshaw!« Die Stimme steigerte sich noch in der Lautstärke. »Kommen Sie zu sich!« Diese scharfe Aufforderung, die der Chefinspektor im Befehlston brüllte, verfehlte ihre Wirkung auf den jungen Privatdetektiv nicht. Schlagartig kehrte Ricks volles Bewußtsein zurück. Und mit ihm die Angst! »Kenneth!« stieß er in den Hörer. »Mein Gott, wieso rufen Sie hier in Buckhurst Hill an?« »Ich versuche seit einer Stunde, Sie überall zu erreichen, aber Sie waren nicht zu finden. Da verfiel ich auf das Haus des Colonels. Rick, was ist los mit Ihnen?« »Das erzähle ich Ihnen später«, lehnte Rick eine sofortige Erklärung ab. »Sagen Sie mir lieber, warum Sie mich suchen! Ist etwas Wichtiges geschehen?« »Das kann man wohl sagen, allerdings!« Hempshaw sprach sehr aufgeregt. »Ich muß Sie dringend sprechen. Soll ich nach Buckhurst Hill hinauskommen?« »Nein«, antwortete der Privatdetektiv nach kurzem Überlegen. »Ich bin schon' wieder auf dem Damm und kann fahren. Wir treffen uns bei mir zu Hause, einverstanden?« »Gut«, stimmte der Chefinspektor zu. »Aber beeilen Sie sich!« »Ihretwegen breche ich mir nicht den Hals«, murrte Rick. »Verraten Sie mir wenigstens andeutungsweise, worum es geht.« »Einstweilen nur soviel«, rückte Hempshaw mit der Sprache heraus. »Derrick Foster ist schon wieder verschwunden!« 115 �
»Das wird ja zur Gewohnheit«, bemerkte Masters mit Galgenhumor. »Leider ja. Hören Sie, Rick, nehmen Sie es nicht auf die leichte Schulter! Sie werden von einem Irren gejagt!« »Nicht nur von einem Irren, Kenneth, aber das sage ich Ihnen auch lieber persönlich. Ich will sehen, daß ich so schnell wie möglich von hier verschwinde. Dieses Haus ist mir unheimlich geworden.« »In einer halben Stunde bei Ihnen.« Hempshaw legte als erster auf. Rick blieb noch eine Weile stehen und starrte auf das Telefon. Er hatte sich seinen Besuch in dem leerstehenden Haus in Buckhurst Hill anders vorgestellt. Und er hatte sich auch erhofft, daß seine Theorie bestätigt würde. Und statt dessen… Eine Gänsehaut kroch über seinen Rücken, wenn er daran dachte, was er vor seiner Ohnmacht erkannt hatte. Nur unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft konnte sich Rick Masters dazu zwingen, durch das dunkle Haus hinaus in den unbeleuchteten Garten zu gehen und sich den Weg zu seinem Wagen zu suchen. Bei dem leisesten Knacken zuckte er zusammen, weil er glaubte, dem Colonel in die Arme gelaufen zu sein. Wenn die Blätter der Sträucher rauschten, wirbelte er herum und erwartete, die starre Gestalt hinter sich zu sehen. Am nachtschwarzen Himmel trieben mächtige Wolken. Nur manchmal konnte man hinter einer bleichen Stelle den Mond vermuten. Aufseufzend ließ sich Rick hinter das Lenkrad seines Wagens gleiten, startete und schaltete die Scheinwerfer ein. Die beiden Lichtkegel trafen voll auf eine dunkle Masse, die sich aus der Schwärze der Nacht löste. Der Colonel stand hoch aufgerichtet im Licht der Scheinwerfer, das auf seinen matten 116 �
Augen schimmerte. Drohend hob er die knochige Faust und schüttelte sie gegen Rick Masters. * Der junge Detektiv verlor die Nerven. Brüllend heulte der Motor des starken Sportwagens auf. Rick Masters rammte den ersten Gang hinein und ließ die Kupplung kommen. Mit einem gewaltigen Ruck setzte sich der Wagen in Bewegung und raste direkt auf die drohende Gestalt zu. Kurz vor dem Zusammenprall schloß Rick unwillkürlich die Augen. Der dumpfe Schlag blieb aus. Rick hatte ihn gar nicht erwartet. Er wußte, daß es sinnlos war, was er tat. Gleichzeitig war er erleichtert, daß er sein Gewissen nicht mit einem Totschlag belastet hatte. Wie von Sinnen jagte Rick Masters seinen Morgan zurück nach London. Er mußte rasch helle, belebte Straßen erreichen, Menschen sehen, Betrieb um sich haben. Doch selbst als er sich bereits der City näherte, glaubte er noch immer, vor dem Kühler seines Wagens das bleiche Gesicht des Colonels zu sehen. * Chefinspektor Hempshaw war schon vor Rick eingetroffen. Er saß in seinem Dienstwagen vor dem Haus, in dem der junge Privatdetektiv sein Wohnbüro oberhalb des Cafés besaß. Als er den Morgan um die Ecke biegen sah, stieg er aus und verschloss den Polizeiwagen. »Sie wirken so verstört, Rick«, stellte Hempshaw mit einem kritischen Blick fest. »Da draußen in Buckhurst Hill müssen sich ja 117 �
tolle Dinge abgespielt haben. Ich…« »Sprechen wir oben bei mir darüber«, schnitt ihm Rick Masters das Wort ab. Er mußte sich erst ein wenig von dem Schock erholen, bevor er darüber sprechen konnte. Automatisch zeigte Rick hinauf zu den Fenstern, die zu seiner Wohnung gehörten, und die beiden Männer blickten gleichzeitig hoch. In der Wohnung brannte kein Licht, doch der Schein einer Straßenlampe reichte aus, um das blasse Gesicht zu erleuchten, das deutlich hinter dem Glas zu erkennen war. »Das ist doch…«, stieß Hempshaw hervor. Er reagierte geistesgegenwärtig. Sofort rannte er zu seinem Dienstwagen und hängte sich ans Funkgerät. »Derrick Foster ist in der Wohnung von Rick Masters!« meldete er an die Zentrale. »Den ganzen Block abriegeln!« Rick hörte nicht weiter zu. Er war sofort losgelaufen, stürmte die Treppe hoch und blieb am Eingang seiner Wohnung stehen. Es war eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme gewesen, daß er seine Pistole gezogen hatte. Die Wohnung war leer. Derrick Foster war hier gewesen, sie hatten ihn deutlich gesehen. Aber er hatte die kurze Zeit, die Rick brauchte, um in die Wohnung zu gelangen, zur Flucht genutzt. Rick kannte den Irrgarten von Hinterhöfen, der sich an sein Haus anschloss. Als einzelner hatte er keine Chance, den Wahnsinnigen einzufangen, der ihn jagte. Die einzige Möglichkeit war, daß die Streifenwagen der Polizei rechtzeitig eintrafen, um Foster den Weg abzuschneiden. Rick Masters hegte berechtigte Zweifel daran, daß sie es schafften. Hinter sich hörte er das schwere Schnaufen von Hempshaw, der die Treppe her aufgestampft kam. »Haben Sie ihn?« rief er schon von unten. 118 �
Rick schüttelte den Kopf. »Er ist getürmt, Kenneth. So leicht macht er es uns nicht.« Nebeneinander betraten sie die Wohnung. »Da!« rief Hempshaw und zeigte auf Ricks Bett. Der junge Detektiv schauderte. Derrick Foster hatte die Kissen so zusammengeschoben, daß sie täuschend ähnlich die Form eines menschlichen Körpers angenommen hatten. Und inmitten dieses künstlichen Körpers steckte ein langes Küchenmesser. »Schade um das Kissen«, bemerkte Rick Masters zynisch und zog das Messer heraus. »Und noch dazu gehört dieses Mordinstrument mir.« Unten auf der Straße brausten die Streifenwagen mit ihren schrillen Klingeln vorbei. Sie legten den Sperrring um den Häuserblock. »Hören Sie sich jetzt endlich meine Neuigkeit an, Rick!« drängte Chefinspektor Hempshaw. »Wir haben Colonel Drusdale gefunden.« Rick ließ vor Überraschung das zerstochene Kissen fallen. »Wo?« fragte er lauernd. »In der Leichenhalle von Abridge. Er ist tot.« Rick mußte diese Nachricht erst einmal verdauen. »Ich wußte, daß er nicht mehr lebt«, sagte er schließlich. »Ich habe es gemerkt, als er mir in seinem Arbeitszimmer gegenüberstand, vor wenigen Stunden. Da fühlte ich, daß das kein lebender Mensch ist. Darum fuhr ich auch auf ihn zu, als er mir mit der Faust drohte.« »Was soll das heißen?« fragte Hempshaw verständnislos. »Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie sprechen.« Schnell erklärte ihm Rick alles, was sich in Buckhurst Hill zugetragen hatte. »Und jetzt haben Sie seine Leiche also in Abridge gefunden.« 119 �
»Nicht jetzt«, verbesserte ihn der Chefinspektor. »Das ist ja das Tollste an der ganzen Sache. Ungefähr zu der Zeit, als die Haushälterin des Colonels bei der Polizei meldete, daß das Arbeitszimmer ihres Chefs in Blut schwimmt, wurde in die Leichenhalle von Abridge ein Toter eingeliefert. Abridge liegt übrigens nur etwa sieben Meilen von Buckhurst Hill entfernt.« »Was denn!« Rick verstand überhaupt nichts mehr. »Ich dachte, der Colonel wäre jetzt erst ums Leben gekommen.« »Lassen Sie mich ausreden!« fauchte Hempshaw, dessen Nerven auch nicht mehr die besten waren. »Alles hat sich so abgespielt: wie wir auf Tonband gehört haben, ermordete Derrick Foster seinen Onkel, indem er ihn in seinem Arbeitszimmer in dem Haus in Buckhurst Hill erstach. Danach floh Foster. Die Leiche des Colonels wurde etwa eine halbe Stunde später in der Nähe von Abridge von Spaziergängern gefunden und in die Leichenhalle des Ortes gebracht.« »Wie kam die Leiche nach Abridge?« wollte Rick wissen. Hempshaw zuckte ratlos die Schultern. »Keine Ahnung. Ich fürchte, daß wir das auch nie mehr herausfinden werden. Es wird ein Rätsel bleiben. Aber jetzt weiter! Die Leiche des Colonels liegt seither im Schauhaus von Abridge, das steht eindeutig fest. Dafür gibt es Beweise und Zeugen. Niemand kannte den Toten, und durch einen peinlichen Fehler der örtlichen Polizei erfuhren wir vom Yard auch nichts davon. Andererseits wußten die Konstabler von Abridge nichts von dem Mord in Buckhurst Hill. Unglaublich, aber wahr. Deshalb meldeten sie sich nicht bei uns.« »Aber wir haben den Colonel ein paar Mal gesehen!« stammelte Rick Masters. »Das kann Drusdale nicht gewesen sein.« Hempshaw schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ausnahmsweise haben Sie mit Ihrer ersten Vermutung recht gehabt, daß Übernatürliches im 120 �
Spiel ist.« »Wieso sind Sie so sicher, daß die Leiche in Abridge der Colonel ist? Haben Sie ihn gesehen?« »Nein, nicht ich. Mrs. Plumberry, die Haushälterin, hat ihn vor zwei Stunden identifiziert. Irrtum ausgeschlossen. Ich fahre jetzt nach Abridge und sehe mir die Leiche an. Kommen Sie mit?« »Fahren Sie schon vor«, entschied Rick Masters. »Ich komme mit meinem Wagen nach.« »Gut, einverstanden.« Der Chefinspektor nickte. Während sie die Treppe hinunterstiegen, sagte er: »Unfassbar! Ein Mann, dessen Körper in der Leichenhalle liegt, hinterlässt Fingerabdrücke. Hätte man mir das früher gesagt, ich hätte jeden ausgelacht, der so was behauptet.« »Ich auch, Kenneth, trösten Sie sich, ich auch.« Rick Masters betrat die Straße. Der Einsatzleiter kam auf Hempshaw zu. »Von dem Flüchtigen fehlt jede Spur«, meldete er. »Dachte ich es doch«, murmelte Rick. »Weitersuchen!« ordnete Hempshaw verbissen an. »Wir müssen Foster schnappen!« »Damit er wieder ausrückt.« Rick Masters winkte ab. »Kenneth, ich bin überzeugt, daß dieser Fall ein Ende nimmt, mit dem keiner von uns rechnet.« »Und zwar welches?« fragte Hempshaw gereizt. »Wenn ich das wüsste, wäre mir wohler.« Rick Masters stieg in seinen Morgan. »Fahren Sie schon, Kenneth!« rief er dem Chefinspektor zu. »Wir kommen sonst zu spät.« »Zu spät wozu?« kam. die Antwort zurück. Rick startete. »Zum letzten Akt des Dramas!« Der Morgan ruckte an und brauste hinter dem Polizeiwagen her. Rick hing verbissen über dem Lenkrad. 121 �
War überhaupt noch etwas zu retten? * Die Leichenhalle von Abridge verdiente diesen Namen nicht. Es war ein kleiner Kühlraum, den sich der Arzt des Dorfes eingerichtet hatte. »Wir hatten im Laufe der Jahre einige Tote, die wir nicht identifizieren konnten«, erklärte der Arzt, der einen verschlafenen Eindruck machte. Es ging auf Mitternacht zu, und er gähnte herzhaft. »Ich bin seit sechs Uhr morgens auf den Beinen«, entschuldigte er sich. »Ach so, ja, für diese Leichen brauchten wir einen Raum, und ich habe ihn bei mir eingerichtet, weil das wegen der Untersuchungen einfacher ist.« Rick Masters hörte nur mit einem halben Ohr zu. Im Wohnzimmer des Arztes hatte er kurz die völlig gebrochene Mrs. Plumberry, die Haushälterin des Colonels, begrüßt. Und nun stand er vor der Leiche des Mannes, den er für einen abgefeimten Verbrecher gehalten hatte. »Sie können wirklich bestätigen, daß die Leiche die ganze Zeit über hier lag?« fragte Masters den Arzt. »Selbstverständlich, das nehme ich auf meinen Eid!« versicherte der Mediziner. »Übrigens kann es auch meine Frau bezeugen. Und auch meine Assistentin.« Damit war Ricks Vermutung zusammengebrochen, der Colonel hätte seine Ermordung nur vorgetäuscht, um seinen Neffen als Mörder abzustempeln und ihn zum Wahnsinn zu treiben. Das ließ aber dann nur einen einzigen Schluß zu. Noch aus dem Jenseits zog Colonel Drusdale seinen Mörder auf schreckliche Weise zur Rechenschaft! »Doktor, ich habe noch einige Fragen an sie«, sagte Chefinspektor Kenneth Hempshaw. 122 �
»Gehen wir doch wieder ins Wohnzimmer«, schlug der Arzt vor. »Dort können Sie Ihre Fragen in aller Ruhe stellen.« Die beiden Männer begaben sich in den Wohnteil des Hauses. Rick Masters schloß sich nicht an. Chefinspektor Hempshaw und der Arzt waren so in ein Gespräch vertieft, daß sie gar nicht darauf achteten, was Rick tat. Der junge Detektiv schlich sich aus dem Haus und ging zu seinem Morgan, der so weit weg geparkt war, daß Hempshaw den Motor nicht hören konnte. Möglichst leise fuhr Rick los. Er hatte Hempshaw gegenüber von einem letzten Akt des Dramas gesprochen, und er war überzeugt, daß er sich in dem Haus des Colonels in Buckhurst Hill abspielen würde. Rick hatte keinerlei Anhaltspunkte für seine Vermutung, aber er hatte sich in diesen Dingen selten getäuscht. Während der offene Sportwagen über die einsamen Landstraßen brauste, schossen Rick die wildesten Gedanken durch den Kopf. Er dachte an die magischen Kräfte, die viele Leute dem Bergkristall zuschreiben. Hatte dieser Stein den Wahnsinn bei Derrick Foster ausgelöst? Hatte er Foster die Kräfte verliehen, seine Wächter durch seine bloßen Gedanken außer Gefecht zu setzen und sie dazu zu zwingen, ihn freizulassen? Wenn es eine Antwort darauf gab, dann fand Rick sie in dem Haus in Buckhurst Hill, das im Licht seiner Scheinwerfer auftauchte. Für einen Moment glaubte Rick, am Rande der hellen Zone neben der Straße eine Gestalt im Garten verschwinden zu sehen, doch dann schüttelte er den Kopf. Er durfte sich jetzt nicht verrückt machen, indem er überall Gespenster sah. Nicht jeder Busch war ein Irrer der auf ihn lauerte, und nicht jeder Schatten stellte auch wirklich eine Gefahr für ihn dar. Rick parkte seinen Wagen so, daß er gegen Sicht gedeckt war. 123 �
Falls Derrick Foster noch nicht hier war, sollte er nicht durch den Anblick von Ricks Auto verscheucht werden. Der Detektiv schlug den Weg durch den Garten ein, den er schon kannte. Die Hintertür war auch diesmal nicht verschlossen. Rick ließ sich viel Zeit bei seinem Eindringen in das Haus. Schließlich wußte er nicht, ob Derrick Foster, der ihm den Tod geschworen hatte, oder Colonel Drusdale bereits hier waren. Colonel Drusdale! Es war nicht der Colonel. Das mußte er sich restlos klarmachen. Diese Gestalt, die durch das Haus spukte, war kein Mensch, sondern der Geist des Colonels, der aus dem Jenseits zurückgekommen war, um den Mörder zu bestrafen. Kein Laut war zu hören. Rick schlich geräuschlos zum Arbeitszimmer und drückte die Tür Zoll für Zoll auf. Mit angehaltenem Atem lauschte er, dann glaubte er, sicher sein zu können, daß ihm auch hier keine Gefahr drohte. Rick schlüpfte in das Arbeitszimmer und schloß die Tür hinter sich. Im nächsten Augenblick strahlte das Licht der Schreibtischlampe auf. Hinter dem Schreibtisch grinste Rick eine teuflische Fratze entgegen: Derrick Foster! * »Auf diesen Moment habe ich gewartet«, knirschte der Irre zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich habe geahnt, daß du wieder hierher kommen wirst, Rick. Jetzt rechne ich mit dir ab.« Seine Hand umspannte das riesige Messer, mit dem er bereits einmal auf den Detektiv losgegangen war. 124 �
»Damit habe ich den Colonel getötet, damit werde ich auch dich töten!« Schaum trat vor den Mund Fosters. Er spannte sich, als wollte er Rick über den Tisch hinweg anspringen, aber er bewegte sich nicht von der Stelle. Rick Masters hätte fliehen können. Das Haus verlassen und die Polizei über Funk rufen, wäre das Werk von wenigen Minuten gewesen, doch dann hätte ihn Derrick Foster entweder hinterrücks angegriffen, oder er wäre wieder untergetaucht. Dann wäre aber die Jagd des Irren auf Rick Masters weitergegangen. Nein, Rick hatte beschlossen, hier und jetzt den Kampf bis zum Ende durchzustehen. Schweigend lehnte er sich gegen die Tür des Arbeitszimmers. Er fixierte Foster mit einem starren Blick, um sich keine Bewegung seines Feindes entgehen zu lassen. »Dick!« sprach Rick seinen ehemaligen Freund mit der altvertrauten Anrede an. »Dick, hör mir zu! Ich weiß nicht, was geschehen wird, aber ich ahne, daß du dich in einer fürchterlichen Gefahr befindest. Nicht ich will dir etwas tun, sondern der Colonel, dein Onkel!« Foster stieß ein gellendes Lachen aus. »Du willst bluffen, Rick. Du willst den Tod von dir ablenken. Doch du entkommst mir nicht, du…« Er brach mitten im Satz ab. Sein Kopf ruckte herum. Seine Augen weiteten sich in ungläubigem Entsetzen. Auch Rick Masters hatte es gesehen. Die Tür zum Rauchsalon hatte sich geöffnet. In der Türöffnung stand Colonel Drusdale! * Rick Masters wußte, was das zu bedeuten hatte. Jedes Mal, wenn diese Erscheinung aufgetaucht war, führte es Derrick Foster, den Mörder, weiter ins 125 �
Verderben. Das war so gewesen, als Rick und der Chefinspektor geglaubt hatten, die Leiche des Colonels in Fosters Haus gefunden zu haben. Und das gleiche hatte sich ereignet, sooft der Geist des Colonels in seiner menschlichen Gestalt erschienen war. Derrick Fosters zerstörter Verstand verarbeitete das plötzliche Auftauchen seines Onkels nicht mehr. Seine Aufmerksamkeit war ganz von Rick abgelenkt. Er schien vergessen zu haben, daß der Detektiv noch im Raum war. »Du bist noch immer nicht tot?« fragte Foster mit irrem Kichern. »Ich habe wohl nicht fest genug zugestochen?« Seine Hand mit dem Messer, der Mordwaffe, zuckte hoch. Mit schleichenden Bewegungen kam er hinter dem Schreibtisch hervor und stellte sich dem Colonel in den Weg. »Ich habe dich einmal getötet, weil ich den Diamanten haben wollte«, zischte der Wahnsinnige. »Ich werde dich ein zweites Mal töten, um ihn wiederzubekommen.« In seiner Verblendung sah Foster nicht, daß er kein lebendes Wesen vor sich hatte. Die Erscheinung hatte sich die ganze Zeit über nicht bewegt. Wie das Denkmal des Steinernen Gastes ragte der Colonel vor Foster auf, den Blick seiner toten Augen unverwandt auf seinen Neffen gerichtet. Mit einem heiseren Schrei sprang Derrick Foster vor. Weit holte er mit dem Messer aus. Rick Masters erlebte mit, wie sich der Mord an Colonel Drusdale abgespielt haben mußte. Doch diesmal senkte sich die Messerklinge nicht in die Brust des Mannes. Das Messer und die Hand Fosters, die sich um die Mordwaffe spannte, durchdrangen die Erscheinung wie eine Dampfwolke. Foster verlor das Gleichgewicht. Er taumelte, fing sich wieder und blieb mit weit gespreizten Beinen stehen. Er konnte nicht verstehen, wieso er seinen verhaßten Onkel nicht getroffen hatte. 126 �
Rick war unfähig, einzugreifen. Die Erscheinung des Colonels verhinderte auf geheimnisvolle Weise, daß er seinen Platz an der Tür verließ. Der Detektiv war gezwungen, nur zu beobachten. Fosters Wut steigerte sich ins Unermessliche. Unter heiserem Brüllen stach er immer und immer wieder zu, stets mit dem gleichen Misserfolg. Schon meinte Rick Masters, der Geist des Colonels wolle den Mörder so lange reizen, bis er geistig und körperlich vollständig zusammenbrach. Doch es sollte grausamer kommen. Die reglose Gestalt des Colonels erwachte plötzlich zum Leben. Sie breitete die Arme aus und setzte sich in Bewegung. Derrick Fosters Wut verwandelte sich augenblicklich in Angst. Jetzt fühlte wohl auch er, daß er es nicht mit einem Menschen zu tun hatte. »Rick!« gellte der Entsetzensschrei aus Fosters Mund. »Rick, hilf mir!« Doch der Detektiv konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Nunmehr verstand er auch, daß der Geist des Colonels über die Macht verfügte, Menschen zu zwingen, seinem Willen zu gehorchen. Nicht Foster besaß diese übernatürlichen Kräfte. Foster war die ganze Zeit über nur ein gefügiges Werkzeug des Rachegeistes gewesen. Mit ausgebreiteten Armen trieb der Colonel sein Opfer vor sich her. Unter kläglichem Wimmern wich Derrick Foster immer mehr zurück, bis er in einer Ecke des Zimmers nicht mehr weiterkonnte. »N-e-i-n!« brach es aus ihm heraus. Mit letzter Kraft schleuderte er das schwere Messer dem näher kommenden Colonel entgegen. Es flog durch seinen Scheinkörper hindurch, ohne auf Widerstand zu treffen. Der rächende Geist des Colonels griff nach dem wimmernden und zitternden Menschen, der sich in die Ecke drückte. Die 127 �
Hände der Erscheinung durchdrangen Fosters Körper. Allein dieser Kontakt wirkte tödlich. Derrick Foster schrie und brüllte und heulte. Er wand sich, als hätten ihn glühende Zangen berührt. Er mußte unsäglich leiden. Das Blut schoß ihm ins Gesicht, die Augen quollen hervor. Schaum troff von seinen Lippen, die er sich blutig biss. In einem letzten Krampf bäumte er sich auf und riß die Arme hoch. Dann sackte er leblos auf dem Boden zusammen. Derrick Foster, der Mörder Colonel Drusdales, war tot. Die Erscheinung löste sich von ihrem Opfer. Rick Masters wurde plötzlich von einem unwiderstehlichen Schwindel gepackt. Er schloß für Sekunden die Augen, und als er sie wieder öffnete, sah er nur mehr die Leiche Fosters in der Zimmerecke liegen. Der Colonel aber war verschwunden. Er hatte noch nach seinem Tod seinen Mörder bestraft, indem er ihn zuerst des Mordes überführt, dann zum Wahnsinn getrieben und zuletzt getötet hatte. Der Bann war von Rick Masters abgefallen. Er konnte sich frei bewegen. Mit schleppenden Schritten ging er zum Telefon, suchte aus dem Verzeichnis die Nummer des Arztes in Abridge heraus und wählte. »Geben Sie mir den Chefinspektor!« verlangte er müde, als sich der Arzt meldete. »Kenneth? Kommen Sie nach Buckhurst Hill! Der Fall ist abgeschlossen.« Behutsam, als könnte er Foster stören, legte er den Hörer auf. Mit einem letzten Blick auf seinen ehemaligen Freund, der zuletzt in seinem Wahnsinn sein Todfeind gewesen war, verließ Rick Masters das Haus. Tief atmete der junge Privatdetektiv die kühle Nachtluft ein. Es war ihm, als wäre ein Alpdruck von ihm genommen Der Mann, der ihm gnadenlos nach dem Leben getrachtet hatte, war tot. 128 �
Auf der Landstraße erschien ein zuckendes Blaulicht. In wenigen Minuten würde alles hier der Vergangenheit angehören. Nur die Erinnerung blieb. ENDE
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