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Geister � Killer � Nr. 12 � 12
Andrew Hathaway �
Rick Masters auf � der Höllenfährte �
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Es gab einen dumpfen Aufprall. Jerry Hall schreckte aus dem Schlaf hoch und starrte auf den Boden der Gefängniszelle. »He, Magier«, flüsterte er erschrocken, als er die verkrümmte Gestalt entdeckte. »Was ist los?« »Ich sterbe«, antwortete der alte Mann. »Es geht zu Ende! Satan holt mich!« Jerry Hall sprang auf, um die Wächter zu verständigen. Doch der alte Mann hielt ihn zurück. »Komm zu mir und höre, was ich dir zu sagen habe«, flüsterte der alte Mann. »Du sollst mein Nachfolger im Dienste Satans werden!« Jerry Hall hielt es für eine Spinnerei, doch er erfüllte den Wunsch seines Zellengenossen… Das war der Beginn der Höllenfährte! *** Eddy Sinorsky, genannt der »Magier«, atmete röchelnd. In der stillen Zelle klang es schauerlich. »Magier, ich muß die Wächter verständigen«, murmelte Jerry Hall unbehaglich. »Ich kann dich nicht hier auf dem Boden liegen lassen. Sei vernünftig!« Jerry Hall, allen bekannt unter dem Namen Galgen-Jerry, war ein hartgesottener Verbrecher. Er hatte mehrere Menschenleben auf dem Gewissen, ohne daß man es ihm hätte nachweisen können. Er war eine der wichtigsten Gestalten der Londoner Unterwelt, obwohl er im Gefängnis saß. Alle Mithäftlinge fürchteten ihn. Und doch beschlich ihn das Grauen angesichts des Endes seines
Zellengefährten. Er sah sein eigenes Schicksal vor sich, das ihm drohte, wenn er sich nach seiner baldigen Freilassung noch einmal eine langjährige Haftstrafe einhandelte. Er war jetzt sechsundfünfzig Jahre alt. Bekam er zum Beispiel zwanzig Jahre aufgebrummt, würde er wie der Magier im Gefängnis sterben. Das alles schoß ihm durch den Kopf, während er zur Tür ging. »Halt!« befahl der Alte mit rauher Stimme. Jerry Hall zuckte wie unter einem Schlag zusammen und wirbelte herum. Seine Augen weiteten sich, als er jetzt seinen Zellengefährten betrachtete. Eddy Sinorsky war am Ende seines Lebens angelangt, das sah man ihm 3 �
deutlich an. Sein ohnedies hageres Gesicht war tief eingefallen. Die Augen traten wie bei einem Totenschädel tief in die Höhlen zurück. Darunter lagen schwarze Schatten. Die Wangen fielen so stark ein, daß die Lippen von den Zähnen ein Stück zurückglitten. Eddy Sinorsky glich einem lebenden Skelett. Doch nicht das erschreckte Jerry Hall, den sonst so eiskalten Verbrecher. Es waren die Augen des alten Mannes. Die schwarzen Pupillen waren von einem roten Leuchten umgeben, das bis auf die Wände der Zelle strahlte. Es war Hall, als blickte er durch die Augen des Magiers in ein loderndes Feuer, dessen Hitze er zu spüren glaubte. Sinorsky lachte hohl. »Siehst du endlich ein, daß ihr mich zu Unrecht verspottet habt?« fragte er und hustete gequält. »Ihr dachtet, ich hätte nur einen seltsamen Spitznamen. Oh, nein, Hall, ich bin wirklich ein Magier!« Fassungslos ließ Jerry Hall sich auf seine Pritsche sinken. »Wenn das stimmt«, murmelte er, »warum hast du dich nicht aus dem Gefängnis befreit?« »Warum sollte ich?« Wieder erschütterte ein Hustenkrampf den mageren Körper des Gefangenen. »Für mich war es immer völlig gleichgültig, wo ich mich befand. Meine Magie wirkt durch die
Gefängnismauern hindurch. Doch jetzt schweige, damit ich dich in die Geheimnisse des Bösen einweihen kann, so lange ich noch Zeit habe! Meine Zeit läuft bald ab!« In den folgenden Minuten verriet der alte Eddy Sinorsky seinem Zellengefährten Jerry Hall die Grundgeheimnisse Schwarzer Magie. Hall fürchtete zuerst, er könne sich alle diese komplizierten Beschwörungsformeln und Anrufungen des Bösen nicht merken, doch zu seinem Erstaunen blieben sie in seinem Gedächtnis haften. Er brauchte sie nur einmal zu hören, um sie nicht wieder zu vergessen. Die ganze Zeit über waren die flammenden Augen des Magiers auf ihn gerichtet. Der bohrende Blick der schwarzen Pupillen inmitten des Höllenfeuers drang in Jerry Halls Gehirn und prägte sich unauslöschlich ein. Allmählich wurde das Feuer in den Augen des Magiers schwächer. Wie dunkelrote Glut gloste es unter den schwachen Lidern, die sich langsam senkten. »Leg mich in mein Bett«, verlangte Sinorsky. »Schnell! Ich habe keine Zeit mehr!« Jerry Hall bückte sich. Er war nicht trainiert, weil er immer ein gutes, bequemes Leben geführt hatte. Und im Gefängnis trieb er auch keinen Sport. Aber der ausgemergelte Körper war so leicht, daß Hall ihn ohne 4 �
Anstrengung hochheben und auf die Pritsche legen konnte. »Höre meine letzten Worte«, flüsterte Eddy Sinorsky. »Ich gehe von dieser Welt und werde aus dem Jenseits versuchen, das Böse weiter zu fördern. Von nun an wirst du in meine Fußstapfen treten und an meiner Stelle die Höllenfährte fortführen. Füge Schaden zu, verbreite Tod und Verderben, wo immer du kannst! Das gefällt dem Fürsten, in dessen Dienst du von jetzt an stehst! Denke… an die… Höllenfährte…!« Die letzten Worte Sinorskys verhauchten. Der Kopf des alten Mannes rollte auf die Seite. Das rote Leuchten in seinen Augen erlosch vollständig. Eddy Sinorsky, von seinen Mitgefangenen belächelt und scherzhaft Magier genannt, war tot. Jerry Hall war sein Nachfolger. Er nahm sich vor, schrecklicher zu wüten, als es Sinorsky sich hätte ausmalen können. * Die Tür schwang auf, und ein kleines weißes Etwas fegte knurrend in das Büro. Mit einem Schrei zog Chefinspektor Kenneth Hempshaw von Scotland Yard seine Beine an, doch es war schon zu spät. Ein zweiter Schrei, und der Chefinspektor schlenkerte sein rechtes Bein, bis sich die Zähne des kleinen
Hundes wieder lösten. »Sehen Sie sich an, was er angerichtet hat!« rief Chefinspektor Hempshaw anklagend seinem Besucher entgegen. »Wieder eine Hose zerrissen! Von der Verletzung eines Kriminalbeamten von Scotland Yard ganz zu schweigen!« Rick Masters, Privatdetektiv, Geisterdetektiv und Besitzer des kleinen weißen Mischlingshundes, besann sich auf seine erzieherischen Aufgaben. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, Dracula, daß du den Chefinspektor nicht beißen darfst!« schimpfte er mit seinem Hund. Der Name Dracula stand in einem engen Zusammenhang mit Rick Masters’ Beruf als Geisterdetektiv. »Tut mir wirklich leid, Kenneth«, fügte er, zu dem Chefinspektor gewandt, hinzu. »Dracula beißt sonst nie! Nur Sie!« »Das ist für mich tatsächlich ein phantastischer Trost«, murmelte der Chefinspektor wütend. »Was habe ich davon? Einen blauen Fleck an der Wade und ein zerrissenes Hosenbein!« »Ich bezahle selbstverständlich den Schaden«, bot Rick Masters an, setzte sich und nahm seinen Hund mit den überdimensionalen Ohren vorsichtshalber auf den Schoß. »Tut mir wirklich leid.« »Ach, schon gut«, murmelte der Chefinspektor, der im Yard zwar wegen seiner Wutausbrüche 5 �
bekannt war, der sich mit Rick Masters jedoch immer gut verstand. »Was führt Sie zu mir? Übrigens, hätte ich gewußt, daß Sie diesen gemeingefährlichen Fund bei sich haben, hätte ich nicht ›herein‹ gerufen.« »Dann hätten Sie aber die neueste Neuigkeit nicht erfahren«, antwortete der Geisterdetektiv grinsend. »Und die wäre?« forschte Hempshaw gespannt. »Sie wissen doch, daß ich früher als Privatdetektiv arbeitete, bevor ich mich ganz auf die Bekämpfung von Geistern, Dämonen und Schwarzer Magie spezialisierte.« Hempshaw sah seinen Freund überrascht an. »Sie erzählen mir wirklich nichts Neues«, bemerkte er bissig. »Wir haben jahrelang auf dieser Basis zusammengearbeitet.« »Aus dieser Zeit«, fuhr Rick unbeirrt fort, »habe ich noch zahlreiche Kontakte zur Londoner Unterwelt. Ich kenne Leute, die mir ab und zu wichtige Tips zukommen lassen.« »Ja, und?« Chefinspektor Hempshaw trommelte ungeduldig mit seinen Fingern auf die Tischplatte. »Wollen Sie nicht endlich zum Kern des Problems kommen? Oder muß ich bis morgen früh warten?« »Ganz bestimmt nicht.« Rick warf einen Blick aus dem Fenster des Büros. Draußen schien die Sonne. Es war hochsommerlich heiß, auch im August für London keine Selbstver-
ständlichkeit. »Morgen ist Samstag. Ich bin mit Hazel für das Wochenende verabredet. Wir wollen aufs Land fahren.« »Gut, gut!« Hempshaws Trommelwirbel wurde lauter. »Die Neuigkeit, Rick!« »Heute wird Galgen-Jerry aus dem Gefängnis entlassen«, erklärte Rick. »Er hat seine zehn Jahre abgesessen.« Mit einem tiefen Seufzer lehnte sich der Chefinspektor zurück. »Und deshalb kommen Sie zu mir, Rick? Deshalb lassen Sie Ihren gefährlichen Hund auf mich los? Deshalb habe ich jetzt einen blauen Fleck und ein zerrissenes Hosenbein?« »Haben Sie vergessen, daß GalgenJerry Ihnen ewige Rache geschworen hat?« fragte der Geisterdetektiv. »Ihnen und einigen anderen Leuten, die ihn vor zehn Jahren ins Gefängnis brachten?« »Ich bitte Sie!« Hempshaw hob abwehrend die Hände. Sofort fletschte Dracula die Zähne und knurrte warnend. »In meinem Büro darf ich mich wohl noch bewegen, ohne bedroht zu werden!« rief Chefinspektor Hempshaw. »Halten Sie den Hund fest!« Dracula, kaum größer als eine Katze, war wirklich nicht gefährlich. Wenn er jedoch jemanden nicht mochte, konnten seine spitzen Zähne unangenehm werden. Der 6 �
Chefinspektor hatte es vorhin wieder festgestellt. Dabei mochte Hempshaw Hunde. Die Feindschaft von Seiten Draculas war unerklärlich. »Nehmen Sie Jerry Halls Drohungen nicht auf die leichte Schulter, Kenneth«, warnte der Geisterdetektiv und legte seine Hand beruhigend auf Draculas Rücken. »Galgen-Jerry war stets ein eiskalter Gangster. Es sollte mich sehr freuen, falls er sich geändert hat. Ich glaube nur nicht daran.« »Ich auch nicht«, erwiderte Hempshaw, »aber zehn Jahre sind eine lange Zeit. Ich wette, Jerry Hall hat mich längst vergessen.« »Diese Wette würden Sie verlieren, Kenneth«, entgegnete Rick. »Er hat erst vor wenigen Tagen von Ihnen gesprochen.« Jetzt beugte sich der Chefinspektor ruckartig vor. »Woher wissen Sie das?« »Meine Informationsquellen«, antwortete Rick ausweichend, der seine Informanten nicht preisgeben wollte. »Er sprach zu Mitgefangenen über seine Rache und sagte, er habe ein unfehlbares Mittel zur Verfügung. Niemand könne ihm jemals wieder etwas nachweisen. Er würde nie mehr ein Gefängnis von innen sehen, selbst wenn er alle offenen Rechnungen auf einmal begleichen wollte!« Mit Hempshaws Ruhe war es
schlagartig vorbei. »So ist das«, murmelte er. »Dann werde ich besser doch vorsichtig sein.« »Und stellen Sie auch die anderen Personen unter Polizeischutz«, riet Rick. »Den Richter, die Geschworenen, den Staatsanwalt, die Zeugen aus dem damaligen Prozeß.« »Selbstverständlich«, murmelte Hempshaw. Er blickte seinen Freund zweifelnd an. »Was kann er mit dem unfehlbaren Mittel gemeint haben, Rick?« Rick Masters hob die breiten Schultern und ließ sie ratlos sinken. »Nicht die geringste Ahnung, Kenneth«, gab er zu. »Aber wenn Sie möchten, höre ich mich im Gefängnis um.« »Nein, das ist meine Sache«, winkte der Chefinspektor ab. »Ich kann Ihnen keine Besuchserlaubnis verschaffen. Dazu fehlte der offizielle Grund.« Rick Masters nickte. Er hatte nichts anderes erwartet. Der Chefinspektor ging immer korrekt nach dem Buchstaben des Gesetzes vor und hielt sich an die kleinsten Vorschriften. »Ich habe Sie gewarnt, Kenneth.« Rick Masters stand auf und behielt Dracula vorsichtshalber auf dem Arm. »Am Montag bin ich wieder in London. Passen Sie bis dahin gut auf sich auf.« »Sie auch«, rief Hempshaw hinter ihm her. Erstaunt drehte sich der Geisterde7 �
tektiv an der Tür noch einmal um. »Wieso ich? Ich hatte nichts mit Galgen-Jerrys Verhaftung zu tun. Er kennt mich nicht einmal.« »Trotzdem!« Hempshaw grinste, um seine wahren Gefühle zu überdecken. »Sie sind immer in Lebensgefahr, seit Sie sich dem Kampf gegen das Böse verschrieben haben. Irgendein Gegner lauert stets auf Sie!« »Vielen Dank«, antwortete Rick Masters betont gleichmütig, obwohl er die Gefahren kannte. »Sie können einem richtig Mut machen.« »Ich will Sie warnen, wie Sie mich gewarnt haben!« Der Chefinspektor winkte ihm zu. »Grüßen Sie Mrs. Kent von mir. Ich würde gern mit Ihnen beiden wieder einmal ausgehen.« »Ich richte Ihren Gruß aus«, sagte Rick abschließend. »Aber an Ihrer Stelle würde ich mich in der nächsten Zeit nicht zu oft in der Öffentlichkeit zeigen.« Rick Masters verließ zusammen mit Dracula das Yardgebäude und fuhr zu dem Haus seiner Freundin im Stadtteil Westminster. Ein sorgloses Wochenende lag vor ihm und seiner Freundin Hazel Kent. Ein Wochenende auf dem Land mit langen Spaziergängen, Ausschlafen, gutem Essen, gemeinsamen Abenden auf der Veranda ihres Ferienhauses… Rick Masters stellte es sich sehr
schön vor. Es kam anders. Es war nicht das erste Wochenende, das nicht wunschgemäß verlief! * Jerry Hall kannte die Zeremonie, wie er seine Entlassung nannte, von früher. Es war nicht das erste Mal, daß er entlassen wurde. Aber es sollte nach seinem Willen das letzte Mal sein. Er hatte nicht vor, ein anständiges Leben zu führen. Viele seiner Mitgefangenen waren vor ihm in die Freiheit entlassen worden. Sie hatten sich geschworen, nie mehr mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, um nicht wieder ins Gefängnis zu wandern. Jerry Hall hatte für diese Männer nur ein Lächeln übrig. Mochten sie bei ihren Familien bleiben und anständig leben. Er hatte es nicht vor. Er wollte sich rächen! Zuerst erhielt er seine Sachen wieder, die er vor zehn Jahren hatte abgeben müssen. Dann bekam er die Adresse einer Wohlfahrtsvereinigung, die sich um entlassene Sträflinge kümmerte. Danach sagte der Direktor die üblichen Worte zur Verabschiedung. Galgen-Jerry hörte nicht einmal zu. Er lächelte maskenhaft, drückte die Hand des Gefängnisdirektors, der 8 �
altersmäßig sein Sohn hätte sein können, und trat endlich durch das riesige Tor in die Freiheit hinaus. Nach wenigen Schritten drehte er sich noch einmal um. Haß schimmerte in seinen Augen, als er das Gefängnis musterte. »Zehn Jahre meines Lebens in diesem Gebäude vergeudet«, murmelte er. »Satan, räche mich! Erschlage diesen Kerl, der mir scheinheilig Glück gewünscht hat!« Jerry Hall kannte seine neuen Kräfte noch nicht so genau, daß er die Folgen seines Fluches abschätzen konnte. Er ahnte nicht, daß drinnen im Gefängnis der Direktor plötzlich nach seinem Herz griff, ein Stöhnen ausstieß und zusammenbrach. Hall staunte nur, als ihm ein Krankenwagen auf der Zufahrtsstraße zum Gefängnis entgegenkam. Die Blaulichter zuckten, die Sirene gellte. Das Tor öffnete sich, und der Krankenwagen raste ohne Aufenthalt in den Innenhof. Den Zettel mit der Adresse des Wohlfahrtsvereins warf Hall in den nächsten Papierkorb, ging zum Bahnhof und bestieg den Zug nach London. Die Fahrkarte hatte er von der Gefängnisleitung erhalten. Noch auf dem Bahnhof in London kaufte er sich neue Kleider in der angrenzenden Ladenstraße und aß sich richtig satt. In dem Restaurant hörte er, daß der Direktor seines Gefängnisses überraschend gestor-
ben wäre. Die Nachricht kam über den Rundfunk, weil Gerüchte von dem möglichen Einsatz einer Geheimwaffe sprachen. Der anfängliche Verdacht auf Herztod hatte sich nicht bestätigt, und man hatte bisher noch keine andere Todesursache gefunden. Zuerst saß Jerry Hall wie erstarrt auf seinem Platz. Dann begann er zu lachen, daß sich die anderen Gäste des Restaurants erstaunt nach dem blassen Mann umsahen. Hall zwang sich zur Ruhe, um nicht weiter aufzufallen. Also hatte Eddy Sinorsky wirklich seine Fähigkeiten auf ihn übertragen! Bisher hatte Galgen-Jerry es lediglich gehofft. Nun wußte er es. Sein Fluch gegen den Direktor des Gefängnisses war in Erfüllung gegangen. »Satan, ich danke dir«, flüsterte der Mann mit dem ungesund blassen Teint und den unruhigen, flackernden Augen. Von nun an war er unbesiegbar! Vor dem Bahnhof nahm sich Jerry Hall ein Taxi und wandte sich an den Fahrer. »Ich suche eine stille, unauffällige Pension, in der ich einige Monate wohnen kann«, erklärte er dem Fahrer. »Nicht zu teuer.« »Eine Cousine von mir betreibt eine solche Pension«, erklärte der Fahrer. »Stadtteil Brixton. Einverstanden? Soll ich Sie hinfahren, Sir?« 9 �
Jerry Hall war einverstanden. Eine Stunde später lernte er Mrs. Madge Finton, eine zweiundsechzigjährige Witwe, und deren vierzigjährige Tochter Patty Finton kennen. Die beiden Frauen paßten zu Jerry Hall wie die Faust aufs Auge. Er hatte ständig nur mit Damen aus der Untergrund-Halbwelt zu tun gehabt. Mrs. Finton trug Schwarz, obwohl sie schon seit zwanzig Jahren Witwe war, und ihre Tochter Patty kleidete sich betont altjungferlich. Jerry Hall grinste in sich hinein. Die beiden waren für ihn genau richtig. Wer sollte schon auf den Gedanken kommen, daß bei diesen Frauen ein Verbrecher wohnte, der auf Mord sann. Auf vielfachen Mord! Unmittelbar nach seinem Einzug machte sich Jerry Hall ans Werk. Er kaufte alle Zeitungen, und wie es der Zufall wollte, fand er einen hochinteressanten Artikel. Er handelte von einem Privatdetektiv, der sich mit ganz speziellen Fällen beschäftigte. Einmal fiel in dem Artikel sogar die Bezeichnung Geisterdetektiv. Jerry Hall hatte noch nie etwas von diesem Rick Masters gehört, aber er dachte stets praktisch. Die Polizei konnte ihm nichts anhaben, wenn er seine Mordpläne in die Tat umsetzte. Dieser Rick Masters aber schien sich, genau auf
Fälle wie den seinen spezialisiert zu haben. Also mußte Rick Masters unschädlich gemacht werden. Unschädlich war in Jerry Halls Augen ein Mensch nur, wenn er tot war. * Rick Masters und Hazel Kent waren lediglich fünfzig Meilen von London entfernt, aber nichts deutete mehr auf die Nähe der Millionenstadt an der Themse hin. Sie wanderten stundenlang über sanft gewellte Wiesen und durch tiefe Wälder. Dracula war ständig bei ihnen und umkreiste sie kläffend. Abends war er so müde, das er keinen Ton mehr von sich gab. Genauso erging es Rick und Hazel. Sie waren Stadtmenschen, die von der ungewohnten Landluft sehr müde wurden. Dennoch genossen sie den Aufenthalt in vollen Zügen. Das Wetter spielte auch mit. Der August war richtig heiß, am Himmel zeigte sich keine Regenwolke. Am Sonntagvormittag unternahmen sie wieder einen Spaziergang. Bis zum Mittagessen wollten sie zurück sein. »Ich kann es noch gar nicht glauben«, sagte Hazel Kent, während sie über die Wiesen schlenderten. »Wir beide ungestört auf dem Land. Es ist 10 �
zu schön, um wahr zu sein!« Rick Masters betrachtete seine Freundin, während sie neben ihm weit ausschritt. Er konnte sich zu dieser Freundin nur immer wieder gratulieren. Es war der größte Glücksfall seines Lebens, daß er sie gefunden hatte. Hazel brachte vor allem Verständnis für seinen Beruf auf und dafür, daß er oft unvermittelt weg mußte. Meistens wurde er zu einem dringenden Einsatz gerufen, wenn es gerade am schönsten war. Sie nahm es hin, auch wenn es sie nicht freute. Außerdem war sie durch ihre eigene Tätigkeit voll ausgefüllt. Ihr Mann war in sehr jungen Jahren verstorben und hatte ihr die KentWerke hinterlassen, eines der bedeutendsten Unternehmen des Landes. Sie ließ es nicht von Managern verwalten, sondern kümmerte sich selbst um alles. Im Moment trug sie Jeans, eine weiße Bluse und eine leichte Jeansjacke über dem Arm. Die schwarzen Haare hatte sie zurückgekämmt. Rick kannte sie auch anders, im großen Abendkleid bei Festen in ihrem Stadthaus in Westminster oder in der Oper, im Restaurant oder bei Empfängen. Hazel Kent konnte sich auf allen Parketten bewegen. »Du sagst gar nichts?« fragte sie lächelnd und blickte ihn liebevoll aus ihren klaren grauen Augen an.
»Woran denkst du?« »An dich«, erwiderte Rick ehrlich, hielt sie am Arm fest und zog sie an sich. »Ich dachte daran, daß ich dich liebe!« Sie lächelte ihm entgegen und schloß die Augen, als er sie küßte. »So müßte es immer sein«, murmelte sie und lehnte sich gegen ihn. »Wir beide, ungestört.« »Verschrei es nicht«, warnte Rick. »Wir haben zwar niemandem gesagt, wohin wir fahren, aber warum sollte man uns hier nicht aufspüren?« »Nein, diesmal wird das Wochenende ohne Störung verlaufen«, behauptete Hazel. »Das fühle ich.« Sie gingen eine Weile schweigend weiter, ehe Hazel sich wieder mit einer Frage an ihren Freund wandte. »Meinst du tatsächlich, daß Kenneth in Gefahr ist?« Sie schüttelte besorgt den Kopf. »Als Yardmann kann er sich zwar gut absichern, aber ich kenne ihn. Er ist viel zu stolz, um ein Dutzend Männer zu seinem Schutz abzukommandieren.« »Da hast du leider recht«, meinte Rick. »Es stimmt, er ist in Gefahr. Meine Informationen sind zuverlässig. Wenn Jerry Hall nur die geringste Chance sieht, wird er sich rächen.« »Was ist dieser Hall für ein Mann?« fragte sie weiter. »Ich möchte mehr über ihn wissen.« Rick seufzte. »Mußt du dich mit 11 �
diesen häßlichen Dingen belasten?« »Ja«, sagte sie lächelnd. »Alles interessiert mich, was dich und unsere gemeinsamen Freunde betrifft.« »Also schön.« Rick nickte und blickte zu Dracula hinüber, der einige Krähen aufscheuchte und offenbar großen Spaß an dem Spaziergang hatte. »Jerry Hall war schon vor zwanzig Jahren der große Mann der Londoner Unterwelt. Dann wurde er von einem seiner Untergebenen verpfiffen. Der Mann behauptete, Hall habe einen Mord begangen. Die Polizei glaubte es, weil Hall tatsächlich ein Mörder ist. Man konnte ihm nur keine seiner Taten nachweisen.« »Vermutlich hat er zu den Morden nur die Befehle gegeben«, meinte Hazel Kent, »sich selbst aber nicht die Hände schmutzig gemacht. Stimmt das?« »Ja, genau«, bestätigte Rick. »Nun, diesmal glaubte der Yard, Hall endlich in der Tasche zu haben. Hall kam vor Gericht. Die Beweise waren erdrückend, und Hall wurde zum Tod durch den Strick verurteilt.« »Und begnadigt?« warf Hazel ein. »Nein!« Rick zuckte die Schultern. »Eine unangenehme Geschichte. Es stellte sich kurz vor der Hinrichtung heraus, daß der Zeuge gelogen hatte. Hall wurde freigesprochen und gleich darauf wieder verhaftet. Diesmal ging es um einen Geldraub,
und den konnte man ihm einwandfrei nachweisen. Nach fünf Jahren wurde er freigelassen. Und vor zehn Jahren wurde er von Hempshaw wieder verhaftet, wieder wegen eines Raubes. Er bekam zehn Jahre, die er voll absitzen mußte. Jetzt ist er frei.« »Ich möchte nicht in Hempshaws Haut stecken«, meinte Hazel schaudernd. »Und ich bin froh, daß du nichts mit der Sache zu tun hast. Das hätte mir gerade noch gefehlt.« Rick machte sich seine eigenen Gedanken. Wenn Hempshaw wirklich angegriffen wurde, mußte er sich darum kümmern. Er konnte den Chefinspektor dann nicht seinem Schicksal überlassen. Allerdings rechnete der Geisterdetektiv noch mit einem Vergeltungsschlag mit normalen Waffen, der in die Zuständigkeit der Kriminalpolizei fiel. Er glaubte, nur seine besonderen Verbindungen zu Informanten einsetzen zu müssen, wenn es hart auf hart ging. Mehr nicht! Sie erreichten eine Waldlichtung. Hazel Kent blieb stehen und sah auf die Uhr. »Ich schlag vor«, sagte sie lächelnd, »wir machen hier eine kurze Rast und gehen dann zurück. Einverstanden?« »Ja, gern«, stimmte Rick Masters sofort zu. »Mir knurrt schon der Magen.« Er sah sich um. »Wo ist eigentlich Dracula? Eben war er 12 �
noch hier!« Er rief seinen Hund und erhielt ein klägliches Winseln als Antwort. Erschrocken fuhr der Geisterdetektiv herum. Im nächsten Moment weiteten sich seine Augen in namenlosem Entsetzen. * Obwohl Chefinspektor Hempshaw keinen Sonntagsdienst hatte, saß er doch in seinem Büro. Das Fenster war weit geöffnet, um wenigstens kühlere Luft in den Raum zu lassen. Es klopfte. Hempshaw rief etwas, das man mit einiger Phantasie als Aufforderung zum Eintreten auslegen konnte. Für einen Moment dachte der Chefinspektor, es wäre Rick mit seinem Hund. Vorsichtshalber zog er die Beine an. Es war jedoch Dr. Sterling, der alte Polizeiarzt aus Hempshaws Mordkommission. Dr. Sterlings weiße Haare wurden von dem Durchzug verwirrt. Er schloß hastig die Tür und rückte seine Brille mit Goldrand zurecht. »Hallo, Kenneth«, sagte er. »Ich dachte schon, daß Sie hier sind. Sie können ohne den Yard nun einmal nicht leben.« Über Chefinspektor Hempshaw, einen Junggesellen, kreiste das Gerücht, daß er gar keine eigene
Wohnung besaß und im Yard wohnte. Das stimmte zwar nicht, aber er war auch oft außerhalb seiner normalen Dienstzeit in seinem Büro. Er lebte für seinen Beruf. »Setzen Sie sich, Doc«, forderte der Chefinspektor seinen Besucher auf. »Was führt Sie zu mir? Und wieso sind Sie im Yard?« »Wochenenddienst«, meinte der Arzt achselzuckend und ließ sich auf einen der harten Besucherstühle fallen. »Haben Sie einen besonderen Fall am Hals?« »Ja und nein«, erwiderte Hempshaw unklar. »Galgen-Jerry! Sagt Ihnen der Name etwas?« Dr. Sterling nickte. »Ich habe schon gehört, daß er wieder draußen ist. Seither sollen einige Leute schlecht schlafen.« »Richtig«, bestätigte der Chefinspektor, den Sterlings schwarzen Humor nicht mehr schrecken konnte. Dafür kannten sie einander schon zu lange. »Ich gehöre zu diesen Leuten. Jerry Hall hat auch mir damals Rache geschworen. Rick meinte, er habe es nicht vergessen.« Hempshaw erzählte die Geschichte, wie er sie von Rick Masters erfahren hatte. »Das hört sich wirklich gefährlich an«, meinte Dr. Sterling. »Seien Sie bloß vorsichtig. Ich bin so an Sie gewöhnt! Ich stelle mich nicht gern auf neue Gesichter ein.« »Danke für die Blumen«, mur13 �
melte Hempshaw grimmig. »Ich habe ein Dutzend Leute unter Polizeischutz gestellt. Sie machen sich keine Vorstellung, wie viele Todfeinde Galgen-Jerry hat. Ich wollte es zuerst gar nicht glauben.« »Und was soll diese Wundermethode sein, mit der Hall sich angeblich an seinen Feinden rächen wird?« erkundigte sich Dr. Sterling gespannt. »Hat Rick eine Andeutung gemacht?« »Offenbar weiß niemand Bescheid.« Hempshaw hielt ein Blatt Papier hoch. »Aber hier habe ich etwas, das Sie als Mediziner interessieren wird. Der Gefängnisdirektor ist fünf Minuten nach Jerry Halls Entlassung gestorben. Das ist der Obduktionsbefund.« Dr. Sterling brauchte nicht lange, um die richtigen Schlüsse aus dem für einen Laien komplizierten Bericht zu ziehen. »Der Mann kann gar nicht tot sein«, erklärte er. »Er müßte noch leben.« Hempshaw nickte. »Richtig, Doc! Er müßte noch leben, tut es aber nicht. Ich habe ihn mir gestern angesehen. Er ist so tot, wie man nur tot sein kann.« »Unerklärlich«, murmelte Dr. Sterling fassungslos. »Gift ist auszuschließen?« »Sie sehen es doch selbst«, sagte Hempshaw gereizt. »In dem Bericht steht alles, was die besten Experten
herausgefunden haben, nämlich nichts. Sogar der Geheimdienst interessiert sich schon für diesen Todesfall!« Dr. Sterling sah den Chefinspektor durch seine Brille an und hob vielsagend die Augenbrauen. »Haben Sie Rick schon verständigt?« fragte er. »Das sieht ganz so aus, als wäre es ein Fall für unseren Geisterdetektiv!« »Rick ist mit Mrs. Kent über das Wochenende verreist, ich kann ihn nicht erreichen«, antwortete der Chefinspektor. »Ehrlich gesagt, ich habe es auch gar nicht versucht. Ich möchte den beiden das wohlverdiente Weekend nicht verderben, ohne genau zu wissen, ob es ein Fall für Rick ist.« »Was sollte es sonst sein als Schwarze Magie oder das Wirken eines Geistes?« fragte Dr. Sterling kopfschüttelnd. »Stecken Sie doch nicht den Kopf in den Sand, Kenneth!« Der Chefinspektor nahm den Untersuchungsbericht wieder entgegen und starrte düster auf das eng beschriebene Blatt. Er wußte, daß er eine Entscheidung fällen mußte. In Hazel Kents Firma wußte man bestimmt, wo die Chefin zu erreichen war. Endlich griff er zum Telefon und rief in der Verwaltung der KentWerke an. Zu seiner Überraschung erfuhr er, daß niemand da war, der 14 �
ihm Auskunft hätte geben können. Und der Pförtner, der im Notfall Mrs. Kent verständigen mußte, wußte nichts von ihr. In Mrs. Kents Haus in Westminster erging es dem Chefinspektor nicht viel besser. Ihr Butler erklärte, daß er wirklich nicht wisse, wohin Mrs. Kent gefahren sei. »Sie meinte«, sagte er höflich, »nur auf diese Weise könne sie ausnahmsweise einmal ein ruhiges Wochenende mit Mr. Masters verleben.« »Womit sie ja auch recht hat«, bemerkte Dr. Sterling, der über einen Zweithörer mithörte. Chefinspektor Hempshaw legte enttäuscht auf. Er mußte bis zum Montag warten. Vorher konnte er nichts unternehmen. Dabei hatte er das Gefühl, daß jede Minute kostbar war. Über ihren Köpfen braute sich ein Unheil zusammen, das keiner von ihnen in seinem ganzen Ausmaß abschätzen konnte. * Rick Masters traute seinen Augen nicht. Dracula fühlte das Wirken schwarzmagischer Kräfte bereits lange vor den Menschen. Durch diese Fähigkeit hatte er Rick Masters schon mehrmals das Leben gerettet. Und jetzt entdeckte Rick seinen
Hund in der Mitte der Waldlichtung. Dracula blickte in den Himmel, legte die großen Ohren an, zog den Schwanz ein und stieß ein klägliches Winseln aus. Im nächsten Augenblick jaulte er laut auf und rannte davon, um unter den Bäumen Deckung zu suchen. »Weg hier!« schrie Rick, packte Hazel und zerrte sie mit sich. Sie hatte Draculas Verhalten entweder nicht rechtzeitig gesehen, oder sie war vor Schreck erstarrt. Jedenfalls wäre sie stehengeblieben. Rick Masters zog sie mit sich. Endlich erwachte sie aus ihrer Lethargie und hetzte an seiner Seite tiefer in den Wald hinein. Rick lief in die gleiche Richtung wie Dracula. Der Instinkt sagte dem Hund, wo er am sichersten war. Die kurze Strecke vom Mittelpunkt der Lichtung bis zum Waldrand schien sich auf Meilen zu dehnen. Obwohl sie um ihr Leben liefen, kam es Rick so vor, als rührten sie sich nicht von der Stelle. Da, endlich! Die ersten Bäume! Noch zwei weite Sprünge, dann hatten sie es geschafft! »Nicht stehenbleiben!« schrie Rick, als Hazel langsamer wurde. »Schnell, weiter!« Sie stolperte an seiner Seite durch den Wald. Rick entdeckte einen besonders mächtigen Baumstamm. Mit einem Sprung brachte er sich dahinter in Sicherheit. Hazel tau15 �
melte gegen ihn. Dracula war schon da. Er kauerte zwischen den weit ausladenden Wurzeln des Baumes. Sekunden später brach das Inferno auf der Waldlichtung los. Rick wurde Zeuge, weil er sich aber noch rechtzeitig herumgeworfen und den Kopf ein Stück vorgeschoben hatte. Es sah aus, als fiele vom Himmel ein feuriger Ball, der mitten auf der Lichtung zerplatzte. Flammen schossen nach allen Richtungen. Sie zischten auch an Rick Masters und Hazel Kent vorbei. Die Luft hinter dem Baum erhitzte sich, daß man sie kaum noch atmen konnte. Der Boden unter ihren Füßen hob und senkte sich wie bei einem schweren Erdbeben. Bäume wurden geknickt und stürzten dicht neben ihnen krachend um. Abgerissene Zweige wurden von dem Feuersturm durch den Wald gewirbelt. Auch sie waren eine tödliche Bedrohung. Hätten sie einen Menschen getroffen, wäre er verloren gewesen. Wie brennende Lanzen bohrten sie sich in die weiche Erde. Das Moos des Waldes fing Feuer, obwohl es feucht war. Die Glut breitete sich von der Lichtung nach allen Seiten aus. Rick Masters wollte zusammen mit Hazel und Dracula weiter fliehen, um dem Feuer zu entkommen, als
das Chaos genauso abrupt endete, wie es begonnen hatte. Ungläubig blickte Rick sich um. Der Baum hatte die ärgste Wucht des Feuersturms abgehalten. Rings um sie war alles verkohlt. Der Boden kühlte jedoch ungewöhnlich rasch aus. Nicht einmal Glutnester blieben zurück. Hazel bückte sich und hob den zitternden Dracula auf ihren Arm. Kreidebleich lehnte sie sich gegen den Baumstamm. »Was war das?« fragte sie stockend. »Rick! Wären wir auf der Lichtung geblieben, hätte es uns voll erwischt.« Der Geisterdetektiv nickte. Auf seiner Stirn standen feine Schweißtropfen. »Hätte ich Draculas Reaktion nicht gesehen, würde ich auf einen Meteor tippen«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Aber so kann es keinen Zweifel geben.« »Du meinst…?« Hazels Augen weiteten sich. »Ich meine es nicht nur, ich bin sicher«, erklärte er. »Ein schwarzmagischer Angriff«, flüsterte Hazel. »Bestimmt! Darling, überlege! Dracula hat sich genauso verhalten, wie er das bei solchen Angriffen immer tut.« »Hunde spüren auch das Nahen einer Naturkatastrophe«, gab sie zu 16 �
bedenken. »Schon richtig, aber ein Meteor hätte bei seinem Einschlag ein schweres Erdbeben ausgelöst«, widersprach Rick. »Noch etwas, Darling. Die Flammen sind zu schnell verschwunden. Und der Boden ist nicht mehr heiß. Komm, sehen wir uns die Lichtung an.« Er ging voran. Hazel folgte ihm mit dem Hund auf dem Arm. Rick Masters beeilte sich. Es würde nicht lange dauern, bis die ersten Schaulustigen eintrafen. Diese kurze aber heftige Feuersbrunst hatte man bestimmt in weitem Umkreis beobachtet. Als er den Rand der völlig verkohlten Lichtung erreichte, blieb er stehen. »Kein Meteor«, stellte er fest. »Es gibt keinen Krater.« »Was war es dann?« Hazel schauderte. Erst jetzt konnte sie das ganze Ausmaß der Katastrophe abschätzen. Von den Bäumen am Waldrand standen nur mehr verkohlte Gerippe. »Geballte schwarzmagische Energie, die gegen diese Lichtung geschleudert wurde«, vermutete Rick. »Sie braucht nur so lange zu wirken, bis wir ausgeschaltet waren. Danach zogen sich die Flammen zurück. Der Angreifer hat nur nicht bedacht, daß wir gewarnt wurden. Sein Pech.« »Wer war das?« rief Hazel schau-
dernd. »Wer ist zu einem solchen Anschlag fähig?« Darauf antwortete der Geisterdetektiv mit einem Achselzucken. Er ahnte es wirklich nicht. »Ich habe viele Feinde«, erklärte er. »Du weißt es. Alle, die sich dem Bösen verschrieben haben, stehen auf der Gegenseite. Sie wollen mich beseitigen.« »Gehen wir«, bat Hazel leise. »Ich möchte keine Sekunde länger an diesem schrecklichen Ort bleiben!« Rick Masters hatte nichts dagegen. Hier konnte er nichts mehr herausfinden. »Ich frage mich nur«, sagte er, während sie rasch durch den Wald schritten, »ob der Angreifer weiß, daß er uns verfehlt hat.« Sofort blickte Hazel ängstlich zum Himmel empor. »So lange Dracula ruhig bleibt, haben wir nichts zu befürchten«, erklärte der Geisterdetektiv. »Ich weiß«, antwortete Hazel. »Trotzdem ist es kein angenehmes Gefühl, daß es jeden Moment wieder losgehen kann.« »Hätte ich geahnt, daß wir auch hier mit einem Angriff rechnen müssen, hätte ich mich entsprechend ausgerüstet.« Rick zuckte die Schultern und tastete zu seiner linken Achsel. Dort trug er während seiner Einsätze ein Schulterhalfter mit zwei Waffen. Die gewöhnliche Pistole sollte ihm 17 �
Feinde unter den Menschen vom Hals halten. In einer zweiten Tasche des Schulterhalfters steckte eine Silberkugel, die gegen Schwarze Magie wirkte. Leider lag das wertvolle Halfter in Ricks Wohnbüro in der Londoner City. Sie waren zu einem ruhigen Wochenende aufgebrochen, nicht zum Kampf gegen Schwarze Magie. »Wir fahren sofort zurück«, meinte Rick, als sie sich dem Dorf näherten. »Ich darf dich nicht länger dieser Gefahr aussetzen. Am besten, wir fahren getrennt. Nimm dir einen Mietwagen.« »Das kommt überhaupt nicht in Frage«, widersprach Hazel so entschieden, daß Rick nichts mehr sagte. »Ich bleibe bei dir!« Leute kamen ihnen entgegen, die durch den Feuersturm angelockt worden waren. Sie wichen den Neugierigen jedoch in weitem Bogen aus, um keine Fragen beantworten zu müssen. Schon zwanzig Minuten später machten sie sich auf den Rückweg. Als sie sich London näherten, schaltete Rick Masters das Funkgerät seines Wagens ein. Es war auf den Londoner Polizeifunk eingestellt, so daß er rasch Kontakt zu Scotland Yard bekam. »Endlich erreiche ich Sie, Rick!« rief Chefinspektor Hempshaw, als er Ricks Stimme hörte. »Sagen Sie bloß, bei Ihnen ist
etwas Wichtiges passiert«, meinte Rick und lächelte Hazel aufmunternd zu. »Bei uns nämlich auch. Sie werden staunen. Jemand hat versucht, uns umzubringen!« Einige Sekunden lang blieb es am anderen Ende der Leitung still. Dann stieß der Chefinspektor scharf die angehaltene Luft aus. »Und jemand«, sagte Hempshaw, »hat den Gefängnisdirektor ermordet. Vermutlich mit schwarzmagischen Mitteln.« »Der Anschlag auf uns wurde ebenfalls mit schwarzmagischen Waffen geführt«, erwiderte Rick Masters. »Sie sollten schnellstens zu mir in den Yard kommen«, bat der Chefinspektor. »Genau das habe ich vor«, erwiderte der Geisterdetektiv. »In ungefähr einer Stunde bin ich bei Ihnen. Ich setzte nur Mrs. Kent vorher zu Hause ab.« Hazel protestierte auch diesmal, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. »Es ist schlimm genug, daß ich dich unfreiwillig in meine Kämpfe hineinziehe, Darling«, erklärte Rick Masters. »Ich denke aber gar nicht daran, dich bewußt zu gefährden. Ich fahre dich nach Hause, dann hole ich meine Silberkugel.« »Und danach muß ich wieder ständig um dein Leben zittern«, murmelte Hazel niedergeschlagen. Darauf hatte Rick Masters keine 18 �
Antwort. Was sollte er schon sagen? Die Jagd auf das Böse war nicht nur sein Beruf, sondern auch seine Lebensaufgabe, die er sich selbst gestellt hatte. Beruhigend ergriff er Hazels Hand und drückte sie. Ihre Finger waren eiskalt vor Angst… * Jerry Hall mußte sich zusammennehmen, damit die beiden FintonFrauen nicht merkten, wie sehr sie ihm auf die Nerven gingen. Madge Finton war eine reizende alte Lady, die sich um ihre Gäste mit mütterlicher Fürsorge kümmerte. Ständig fragte sie, ob jemand einen Wunsch habe. Immer wieder bot sie Tee und Gebäck an. »Nein, vielen Dank, ich mache mir nichts aus Gebäck«, entgegnete Jerry Hall mit gespielter Freundlichkeit. »Und Tee trinke ich auch nicht. Nur Kaffee.« »Dann koche ich Ihnen Kaffee«, bot Mrs. Finton sofort an. »In zehn Minuten steht frischer, duftender Kaffee auf Ihrem Tisch, Mr. Purdy!« Unter diesem Namen war GalgenJerry in der Pension abgestiegen. »Sehr freundlich, vielen Dank!« Jerry Hall ballte die Fäuste in den Taschen. »Sie haben keine Telefonanschlüsse in den Zimmern Ihrer Gäste, Mrs. Finton?«
»Nein, leider nicht, Mr. Purdy.« Madge Finton strahlte über das ganze faltige Gesicht. »Aber Sie können mein Telefon benutzen, so viel Sie möchten. Meine Gäste tragen jeweils ein, wie viele Gespräche sie führen. Ich vertraue ihnen da vollständig.« »Wie nett«, sagte er und zwang sich zur Ruhe. »Herzlichen Dank!« Außer ihm wohnten nur zwei alte Frauen in der Pension. Sie hielten sich in ihren Zimmern auf, so daß sie ihn nicht störten. Bisher hatte er sie nur kurz gesehen. Schwieriger war es schon mit Patty Finton, der Tochter der Pensionsbesitzerin. Sie hatte nicht nur gute Augen, sondern las bestimmt auch Zeitung. Der Gedanke, sie könne sein Bild schon einmal gesehen haben, gefiel ihm gar nicht. Dieses Risiko mußte er jedoch eingehen. In den ganzen zehn Jahren hatte er seine Kontakte nicht abreißen lassen. Deshalb wußte er auch, welche Nummern er wählen mußte, um seine alten Freunde zu erreichen. Er bestellte drei von ihnen zu sich und befahl ihnen, unauffällig zukommen. Er gab ihnen sogar genaue Anweisungen, wie sie sich kleiden mußten, da er ihren wenig dezenten Geschmack kannte. Als er wieder in seinem Zimmer saß und wartete, klopfte es. Patty Finton trat ein und brachte den Kaffee. 19 �
»Haben Sie noch Wünsche, Mr. Purdy?« fragte sie höflich. »Nein, danke«, antwortete er knapp angebunden. Patricia Finton war bei weitem nicht so freundlich wie ihre Mutter. Täuschte er sich, oder betrachtete sie ihn seltsam forschend. Sie sollte sich bloß hüten, ihm in die Quere zu kommen. Es hätte ihm nichts ausgemacht, diese ganze Pension auszuräuchern, wenn es sein mußte! Jerry Hall wartete nervös auf die Ankunft seiner Freunde, und Patty Finton ging zu ihrer Mutter in die Küche. »Was ist denn, mein Kind?« fragte Madge Finton. »Du machst ein so nachdenkliches Gesicht!« »Es geht um Mr. Purdy«, sagte ihre Tochter leise. »Ich glaube, mit dem stimmt etwas nicht.« »Wieso denn?« Ihre Mutter schüttelte lächelnd den Kopf. »Mr. Purdy ist doch ein reizender Gentleman!« »Du findest alle deine Gäste reizend, ganz egal, wie sie in Wirklichkeit auch sein mögen«, warf ihre Tochter ihr vor. »Du bist zu leichtgläubig. Ein freundliches Gesicht, und schon schwärmst du für jemanden!« »Man muß in den Menschen das Gute suchen«, behauptete ihre Mutter. »Dann sind sie auch gut!« »Deinen Glauben möchte ich haben«, sagte ihre Tochter seufzend. »Purdy gefällt mir nicht.«
»Dir gefällt kein Mann«, sagte ihre Mutter betrübt. »Darum wirst du auch allein bleiben.« »Das steht hier doch gar nicht zur Debatte«, rief Patty Finton gereizt und dämpfte erschrocken ihre Stimme. »Mum, sei vorsichtig! Geh diesem Mr. Purdy aus dem Weg! Ich habe das Gefühl, daß er gar keinen Wert auf Kontakte legt.« »Ach, Unsinn, meine Kleine«, wischte Mrs. Finton den Einwand vom Tisch. »Er ist ein einsamer Mann, der sich nach ein wenig Unterhaltung sehnt!« Patricia Finton war an Kummer mit ihrer Mutter gewöhnt. Sie zuckte die Schultern. »Du bist ein hoffnungsloser Fall, Mum«, meinte sie. »Eines Tages bekommen wir deshalb noch die ärgsten Schwierigkeiten. Und dieser Mr. Purdy ist nicht, wofür er sich ausgibt. Ich kenne ihn, aber ich weiß nicht, woher.« »Sei du mißtrauisch«, sagte ihre Mutter und war in Gedanken schon wieder ganz woanders. »Ich bin zu den Leuten freundlich, und sie sind zu mir sehr nett. Und jetzt mache ich Tee für alle!« Das war Patty Finton zuviel. Sie griff nach einem für sie viel zu altmodischen Strohhut gegen die Sonne und lief ins Freie. Es war Sonntag. Die stille Straße war noch ruhiger. Sie sah sich hilfesuchend um, ent20 �
deckte jedoch niemanden, an den sie sich wenden konnte. Nervös ging sie in der Straße auf und ab, bis sie den Constable sah, der hier oft seine Runden drehte. Sie eilte dem älteren grauhaarigen Mann entgegen. Während sie ihm alles über Mr. Purdy erzählte, trafen drei Autos vor der Familienpension ein. Der Constable und Miss Finton waren so in ihre Unterhaltung vertieft, daß sie die Männer nicht beachteten, die das Haus betraten und von Mrs. Finton zu Mr. Purdy geführt wurden. Mrs. Madge Finton fand sogar die Besucher ganz reizend, obwohl sie von der Sorte waren, der man in der Dunkelheit lieber nicht begegnete. Und während Mrs. Finton Tee kochte, erklärte Jerry Hall seinen Freunden den Mordplan. * »Was sagen Sie zu diesem Obduktionsbefund, Rick?« fragte Dr. Sterling gespannt. Er nahm an der Besprechung in Hempshaws Büro als Sachverständiger teil. »Nicht viel, weil ich ihn nicht verstehe«, entgegnete der Geisterdetektiv. »Aber ich vertraue Ihnen, Doc.« »Dann sind Sie meiner Meinung, daß der Gefängnisdirektor auf magische Weise ums Leben kam?« fragte Dr. Sterling. »Es sieht so aus«, antwortete Rick
vorsichtig. Hempshaw lachte bitter. »Normalerweise bin ich mißtrauisch, wenn es um Magie geht. Diesmal sind Sie zurückhaltend.« »Das bin ich immer, wenn ein Fall unklar ist, Kenneth«, hielt Rick ihm entgegen. »Allerdings gibt mir zu denken, daß der Direktor wenige Minuten nach Jerry Halls Entlassung starb.« »Seit wann verfügt Galgen-Jerry über magische Kenntnisse?« fragte Dr. Sterling. »Ich habe nie etwas in dieser Richtung gehört.« »Ich auch nicht«, sagte Rick. »Aber ich denke an seine Zuversicht, daß man ihn bei der Ausführung seiner Rache nicht erwischen würde. Das könnte auf Magie deuten.« »Dann habe ich eine kleine Überraschung für Sie«, kündigte der Chefinspektor an. »Jerry Halls Zellengenosse starb kurze Zeit vor Halls Entlassung.« »Das ist nicht ungewöhnlich«, warf Dr. Sterling ein. »Abwarten!« Hempshaw lehnte sich zurück und genoß die Spannung. »Der Mann hieß Eddy Sinorsky.« »Nie gehört«, erklärte Rick Masters. »Sein Spitzname lautete ›der Magier‹, Rick«, fügte der Chefinspektor hinzu. Rick setzte sich wie elektrisiert auf. »Das ist allerdings interessant«, 21 �
bestätigte er. »Ich werde in meinem Büro nachsehen. Ich besitze Listen von bekannten Magiern. Vielleicht steht Sinorsky auf dieser Liste.« »Jedenfalls ist es ein interessanter Zufall«, meinte Dr. Sterling. »Und wie war das nun mit dem Überfall auf Sie und Mrs. Kent?« Rick Masters gab eine genaue Schilderung. Es war ein nüchterner, sachlicher Bericht. Rick übertrieb nichts, erzählte nicht einmal besonders packend, und doch lief seinen Freunden eine Gänsehaut über den Rücken. »Schauderhaft!« rief Dr. Sterling, als er geendet hatte. »Wer hat bloß einen so niederträchtigen Anschlag ausgeführt?« »Das wüßte ich auch gern«, meinte Rick. »Wir hatten niemandem gesagt, wohin wir fahren. Trotzdem hat uns jemand gefunden.« »Man hat Sie vermutlich von London aus verfolgt«, warf der Chefinspektor ein. »Kann ich mir nicht vorstellen«, behauptete der Geisterdetektiv. »Ich kenne schließlich die Gefahren und halte ständig die Augen offen. Nein, ich vermute, daß es eine Fernbeschwörung war.« »Erklären Sie uns das genauer«, bat Dr. Sterling. »Was verstehen Sie unter einer Fernbeschwörung?« »Jemand hat sich auf mich konzentriert, schwarzmagische Kräfte zusammengeballt und dann gegen
jenen Ort geschleudert, an dem ich mich aufhielt«, erläuterte der Geisterdetektiv. »Dabei brauchte er nicht einmal zu wissen, wo das war. Die bösen Mächte suchten sich schon allein ihren Weg.« »Und verfehlten Sie«, sagte Hempshaw. »Zum Glück.« Rick grinste bitter. »Sie müssen es sich wie eine Kanonenkugel vorstellen. Einmal abgeschossen, halten sich die schwarzmagischen Kräfte an die eingeschlagene Bahn. Nur durch Draculas Warnung konnten wir rechtzeitig fliehen. Ohne den Hund wären wir viel zu spät auf den Angriff aufmerksam geworden.« »Aber wer war es, zum Donnerwetter?« rief der Chefinspektor und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch, daß ein ganzer Aktenstapel ins Rutschen geriet. »Ja, das ist die Frage.« Rick schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich glaube nicht an große Zufälle. Bis vor wenigen Minuten dachte ich, irgend jemand habe mich angegriffen, den ich in der Vergangenheit bekämpft habe. Oder daß es sich um einen Racheakt handelte. Aber jetzt…« »Sie denken doch nicht an GalgenJerry!« rief der Chefinspektor überrascht. »Ja, Kenneth«, gab Rick zu. »Wissen Sie, falls dieser Eddy Sinorsky ein echter Magier war, könnte Jerry 22 �
Hall jetzt auch magische Fähigkeiten besitzen. Und dann hätte er einen guten Grund, um mich zu beseitigen.« »Er kennt Sie doch gar nicht«, wandte Dr. Sterling ein. »Nicht persönlich, aber ich erscheine viel zu oft in den Zeitungen«, gab Rick zu bedenken. »Angenommen, er möchte sich mittels Magie rächen. Und weiter angenommen, daß er in einer Zeitung einen Artikel über mich gefunden hat. Dann könnte er doch versuchen, mich aus dem Weg zu räumen, damit ich ihm seine Rache nicht verderbe.« »Ist das nicht ein wenig weit hergeholt«, meinte der Chefinspektor zweifelnd. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß Jerry Hall hinter dem Anschlag steckt.« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Rick, »aber ich werde mich auf jeden Fall darum kümmern. Wo wurde Eddy Sinorsky begraben?« Hempshaw sah in seinen Unterlagen nach und gab Rick die genaue Lage des Friedhofs bekannt, auf dem der angebliche Magier seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. »Sie halten mich doch auf dem Laufenden, nicht wahr?« rief Hempshaw hinter Rick Masters her, als dieser sein Büro verließ. »Habe ich das nicht immer getan?« fragte Rick lachend. »Nein, manchmal haben Sie auch
Ihre eigene Suppe gekocht«, erwiderte der Chefinspektor unverblümt. »Ich möchte alles ganz genau wissen. Vergessen Sie nicht, es geht nicht ausschließlich um Ihren Kopf. An dieser Sache hängen noch ein Dutzend anderer Personen, unter anderem ich selbst.« »Keine Sorge, ich habe mich noch vor einer Verpflichtung nie gedrückt«, erwiderte der Geisterdetektiv und ging. Er fuhr zuerst in sein Wohnbüro in der Londoner City und schlug in seinen zahlreichen Spezialbüchern über Schwarze Magie nach. Als er dort den Namen Eddy Sinorsky nicht fand, rief er Hazel Kent an. »Kommst du heute abend zu mir?« fragte Hazel hoffnungsvoll. »Wir könnten wenigstens einen Teil unseres Wochenendes retten.« »Tut mir leid, Darling, ich habe etwas zu erledigen«, erwiderte Rick. »Ich melde mich morgen bei dir.« Hazel fragte nicht, was er vorhatte. Sie konnte es sich denken. »Sei bloß vorsichtig«, bat sie. »Das bin ich immer«, antwortete Rick. »Mach dir einen schönen Abend.« »Ich mache mir Sorgen«, entgegnete sie. »Konnte Kenneth dir weiterhelfen?« »Er hatte ein paar Tips für mich, nichts Genaues«, wich Rick aus. Er hatte immer den gleichen Kampf auszufechten. Hazel wollte ihm hel23 �
fen und daher über alles informiert werden. Und allzuoft war sie dadurch schon in gefährliche Situationen geraten, wenn sie sich einmischte. Sie hatte ihm allerdings auch schon das Leben gerettet. Dennoch versuchte Rick, sie aus allem herauszuhalten. Deshalb beendete er das Gespräch überhastet und verließ das Wohnbüro, damit sie nicht zurückrufen konnte. Es dämmerte, als er sich auf den Weg zu dem einsamen Landfriedhof machte, auf dem der Magier Eddy Sinorsky begraben war. * Richter Pendergast war seit neun Jahren in Pension. Gleich nach dem Prozeß gegen Jerry Hall hatte er sich zur Ruhe gesetzt. Seit Jerry Halls Freilassung stand das Haus des Richters unter strenger Bewachung. Das war für die Polizei einfach, weil der Besitz auf allen vier Seiten von Straßen begrenzt war. Und rings um das Grundstück zog sich eine mannshohe Mauer. Außerdem fuhren in dem stillen Vorort von London kaum Autos, und die Leute aus der Nachbarschaft hielten sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht auf den Straßen auf. Die wenigen Fremden, die tagsüber vorbei kamen, konnte man leicht kontrollieren. Niemand dachte, daß dem Richter
wirklich Gefahr drohte. Dennoch fühlte Richter Pendergast, daß ihm jemand auflauerte. In jedem Mann, der sich seinem Haus näherte, vermutete er einen Attentäter. Die Angst war ständiger Gast in dem stillen Haus. Pendergast hatte sogar seine Haushälterin weggeschickt, die seit zwanzig Jahren in seinem Dienst stand. Nicht einmal ihr vertraute er mehr. Die Polizisten von Scotland Yard patrouillierten ständig um das Haus. Vier Mann hielten sich im Garten auf, vier auf den Straßen rings um den Besitz. Nach menschlichem Ermessen konnte nichts passieren. Als es dämmerte, griff der Richter zum Telefon und rief im Yard an. Er bekam Chefinspektor Hempshaw an den Apparat. »Haben Sie sich an meine Anweisungen gehalten?« fragte der Richter mit scharfer Stimme. »Welche Anweisungen?« fragte Hempshaw gereizt. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und war nicht in der Laune für eine lange Diskussion. »Ich habe Anweisungen gegeben, wie man Sie zu beschützen hat.« »Und die Post? Meine Post?« rief der Richter aufgebracht. »Haben Sie auch daran gedacht?« »Drücken Sie sich klarer aus«, der Chefinspektor erwiderte 24 �
unfreundlich. »Was meinen Sie?« »Ob auch meine Post kontrolliert wird!« ereiferte sich Pendergast. »Schließlich könnte mir dieser Verbrecher ein Sprengstoffpaket oder Giftgas oder ähnliches schicken.« »Alles im Griff«, sagte Hempshaw kühl. »Noch etwas? Ich habe nämlich zu tun!« »Ich werde mich über Sie beschweren!« schrie der Richter außer sich. »Ich werde…« »Tun Sie das«, sagte Hempshaw trocken und legte auf. Richter Pendergast starrte auf das Telefon und überlegte, ob er noch einmal den Chefinspektor anrufen oder sich gleich an eine höhere Dienststelle wenden sollte. Er tat weder das eine, noch das andere. Er hörte nämlich ein Geräusch im Keller. Er wirbelte herum. Polizisten hatten das ganze Haus durchsucht. Niemand konnte sich in diesem Gebäude aufhalten. Deshalb vermutete der Richter, daß sich eine Katze oder eine Maus in den Keller geschlichen hatte. Er griff nach seinem Stock mit dem Silberknauf, schaltete das Licht auf der Kellertreppe ein und tappte vorsichtig hinunter. Die Stufen waren alt und ausgetreten. Feuchte Luft schlug dem alten Mann entgegen. Er hustete, blieb stehen und lauschte. Nichts zu hören! Trotzdem ging er weiter. Jetzt wollte er wissen,
was da unten los war. »Euch werde ich es zeigen, ihr verdammten Katzenbiester«, murmelte er wütend und tappte die Treppe hinunter, bis er den Keller überblicken konnte. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen. Im nächsten Moment hörten die Polizisten im Garten seinen gellenden Schrei, der trotz der geschlossenen Kellerfenster deutlich ins Freie drang. Einer von ihnen gab über Funk Alarm, die anderen stürmten in das Haus und fanden den Richter auf dem Boden des Kellerganges. Richter Pendergast kauerte verstört in einer Ecke und stierte aus hervorquellenden Augen auf die Henkersschlinge, die an einem Haken der Kellerdecke befestigt war. Während zwei Mann Richter Pendergast nach oben schafften, telefonierte der dritte mit dem Yard. Er erfuhr, daß Chefinspektor Hempshaw schon unterwegs war. Zehn Minuten später jagten drei Wagen des Yard mit eingeschalteten Sirenen und zuckenden Blaulichtern in die ansonsten so stille Straße. Hempshaw kam mit schweren Schritten auf das Haus zu. Unterwegs hatte er über Funk schon erfahren, daß dem Richter nichts zugestoßen war. Er wußte auch über die Henkersschlinge 25 �
Bescheid. »So beschützt ihr mich!« zeterte Richter Pendergast, als er den Chefinspektor entdeckte. »Jemand kann sich ungestört in meinen Keller schleichen und eine Schlinge an die Decke hängen! Wissen Sie überhaupt, was diese Schlinge bedeutet? Sie weist auf Galgen-Jerry hin! Verhaften Sie sofort diesen Mann!« Hempshaw schüttelte betroffen den Kopf. »Richter Pendergast«, sagte er, nahm den Hausherrn am Arm und zog ihn in eine Ecke, in der man sie nicht belauschen konnte. »Richter, ich kenne Sie von früher! Sie waren immer ein sehr gerechter Mann, der sich an die Gesetze hielt! Sie gaben jedem Angeklagten einen fairen Prozeß, weil Sie keine Vorurteile kannten! Was ist aus Ihnen geworden?« Pendergast streifte empört Hempshaws Hand ab. »Was erlauben Sie sich!« fuhr er den Chefinspektor an. »Was wollen Sie mir unterstellen?« »Gar nichts«, erwiderte Hempshaw ruhig. »Sie verlangen aber von mir, daß ich das Gesetz breche und einen Mann verhafte, gegen den es nicht die geringsten Beweise gibt.« Pendergast öffnete den Mund zu einer geharnischten Erwiderung, schwieg jedoch. Er verzog schmerzlich das Gesicht und strich sich über die Stirn. »Ich glaube, Sie haben recht, Mr. Hempshaw«, murmelte er. »Wie
konnte ich das nur verlangen! Aber verstehen Sie einen alten Mann, bitte! Ich habe Angst! Ich habe entsetzliche Angst vor diesem Mann! Ich fühle, daß etwas Grauenhaftes auf mich zukommt, und niemand wird mich davor schützen!« »Wir tun alles, was wir können«, versicherte der Chefinspektor. »Das glaube ich Ihnen sogar«, antwortete der Richter. »Aber sehen Sie sich die Henkersschlinge an! Wenn ich selbst sie nicht aufgehängt habe, war es ein Fremder. Ich war es nicht, das weiß ich. Also drang ein Fremder in dieses Haus ein, hinterließ die Henkersschlinge und schlich sich wieder weg. Und Ihre Leute haben es nicht bemerkt! Verstehen Sie, daß ich Angst habe?« Der Chefinspektor nickte. »Natürlich verstehe ich es. Ich habe auch Angst, falls Sie das beruhigt. Ich stehe ebenfalls auf der Abschußliste!« »Es beruhigt mich nicht!« Die Hand des Richters krampfte sich um den Silberknauf seines Stockes. »Können Sie denn gar nichts mehr für meine Sicherheit tun?« Chefinspektor Hempshaw deutete auf das Telefon. »Darf ich?« fragte er und rief zuerst in Ricks Wohnbüro an. Als sich dort nur der Anrufbeantworter meldete, versuchte es Hempshaw bei Mrs. Kent, erfuhr von ihr jedoch, daß Rick noch etwas vorhatte. 26 �
»Ich kann mir schon denken, was es ist«, meinte der Chefinspektor. »Er will sich einen Friedhof ansehen.« »Einen Friedhof?« fragte Hazel betroffen. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Kent, es besteht keine Gefahr für Rick!« Doch genau in diesem Punkt irrte der Chefinspektor. * Das Gefängnis lag dreißig Meilen von London entfernt. Bis |in die Nähe führte eine Autobahn, danach mußte sich Rick seinen Weg über Landstraßen suchen. Er fuhr rasch aber vorsichtig. Dabei genoß er es, seinen Morgan durch die Kurven zu ziehen. Der Morgan war ein offener, dunkelgrüner Sportwagen im Oldtimer-Look. Unter der langgestreckten Motorhaube schlug ein kräftiges, modernes Herz. Die meisten Autos konnte Rick mit diesem Wagen einholen. Meist ging es in seinen Fällen nicht um Verfolgungsfahrten im Auto. Er hatte es nicht mit gewöhnlichen Verbrechern zu tun. Nur manchmal kam es auf jede Sekunde an, und dann durfte er mit einer Sondererlaubnis Blaulicht und Sirene benutzen. Im Moment erschien ihm die Fahrt nicht so dringend, daß er dieses Vor-
recht genutzt hätte. Es war auch aus einem anderen Grund überflüssig. Seit er nämlich die Autobahn verlassen hatte, kam ihm kaum ein Wagen entgegen. Er selbst überholte nur einen Traktor. Ansonsten waren die Landstraßen völlig leer. Der Geisterdetektiv versuchte, London zu rufen, doch aus seinem Funkgerät kam nur Rauschen. Der Polizeifunk drang nicht bis zu ihm vor. Von Ferne sah er das Gefängnis auf einem Hügel. Es erhob sich wie eine Burg grau und massig, von Türmen überragt. Am Fuß des Hügels lag ein kleines Dorf, dessen Lichter zu dem Geisterdetektiv herüber schimmerten. Rick mußte nun ebenfalls mit Scheinwerferlicht fahren. Die Strahlen huschten wie Finger über die Gebüsche am Wegrand. In ihrem Schein glaubte Rick, schwankende Gestalten neben der Straße zu entdecken, geduckt dahinhuschende Männer, tanzende Frauen. Waren das wirklich nur Einbildungen, die ihm das unsichere Licht der Scheinwerfer vorgaukelte, oder war es mehr? Rick warf einen Blick zu Dracula, der friedlich zusammengerollt auf dem Nebensitz lag, und atmete erleichtert auf. So lange Dracula sich nicht rührte, brauchte er keine Angst vor einem magischen Angriff zu haben. Der Hund würde ihn recht27 �
zeitig darauf aufmerksam machen, daß sich etwas zusammenbraute. An der nächsten Straßenkreuzung hielt Rick an und studierte die Schilder. Der Chefinspektor hatte ihm die Route zu dem Friedhof genau aufgeschrieben. »Eigentlich ist der Friedhof schon längst aufgelassen«, sagte Rick halblaut. »Nur die Toten aus dem Gefängnis werden dort noch begraben, wenn niemand für ihre Beerdigung sorgt.« Er stutzte, warf einen Blick auf Dracula und lachte. »Jetzt halte ich tatsächlich schon Selbstgespräche, Dracula«, meinte er kopfschüttelnd. »Es wird Zeit, daß ich etwas zu tun bekomme.« Daraufhin wedelte Dracula und rollte sich bequem auf die Seite. Rick aber überlegte. Wieso hatte er halblaut gesprochen? Er unterhielt sich natürlich mit seinem Hund, wenn sie zusammen waren, streichelte ihn und redete freundlich mit ihm. Aber er erzählte Dracula nichts über seine Fälle. Das war neu. Bald fand Rick die Antwort. Er hatte laut gesprochen, um die unheimliche Beklemmung loszuwerden, die über dieser Gegend lag. Sie unterschied sich in nichts von der Landschaft vor zehn Meilen, und doch schwebte über der Gegend ein Fluch. Rick besaß keine hellseherische Fähigkeiten, er war nicht einmal als Medium begabt. Und doch
ahnte er Unheil, das sich über seinem Kopf zusammenbraute. Von jetzt an behielt er Dracula genauer im Auge, und es lohnte sich. Schon zwei Meilen nach der Abzweigung zu dem alten Friedhof wurde der Hund unruhig. Der Morgan fuhr jetzt auf einer einspurigen Straße weiter, die sich in engen Kurven zwischen dunklen Wäldern dahinschlängelte. Die Bäume wichen zurück und gaben den Blick auf eine lange, brüchige Mauer frei. Sie war aus rohen Ziegeln errichtet, die an vielen Stellen bereits zerfielen. Man brauchte gar nicht das schief in den Angeln hängende rostige Gittertor zu benutzen, sondern konnte durch eine Mauerbresche klettern. Das war der Friedhof der vergessenen Toten. Rick nannte ihn so, und er fand, daß kein Name besser paßte. Dracula weigerte sich standhaft, den Morgan zu verlassen. Rick verzichtete darauf, seinen Hund zu etwas zu zwingen. »Paß schön auf den Wagen auf«, sagte er, bevor er ausstieg und sich der Mauer näherte. Er vergewisserte sich noch, daß die Pistole und die Silberkugel in seinem Schulterhalfter steckten. Dann erst wagte er sich auf den Friedhof der vergessenen Toten. Schon auf den ersten Blick waren die alten Gräber von denen der ver28 �
storbenen Häftlinge zu unterscheiden. Keines war gepflegt, aber die Häftlingsgräber hatten schlichte Holzkreuze mit Namensschildern, während die Kreuze der übrigen Gräber entweder völlig fehlten oder ganz überwuchert waren. Die Nacht war warm. Trotzdem fror Rick hier auf dem Friedhof. Die Kälte nistete innerhalb der brüchigen Mauern. Chefinspektor Hempshaw hatte Rick Masters nicht genau sagen können, in welchem Grab Eddy Sinorsky lag. Der Geisterdetektiv brauchte jedoch nicht lange zu suchen. Er brauchte auch die mitgebrachte Taschenlampe nicht einzuschalten. Von einer ganz bestimmten Stelle an der hinteren Mauer strahlte dunkelrotes Licht aus. Rick zog vorsichtshalber seine Silberkugel hervor und verbarg sie in der Hand. Erst dann wagte er sich näher heran. Er wand sich zwischen einigen umgestürzten Kreuzen hindurch und entdeckte schließlich, woher das rote Licht kam. Es strahlte direkt aus der Erde heraus aus einem Grab! Der Blick auf das Namensschild war praktisch schon überflüssig. EDDY SINORSKY stand darauf und Geburts- sowie Todesdatum. Rick hatte erreicht, was er wollte. Er wußte, daß Sinorsky mit Recht den Beinamen »der Magier« getra-
gen hatte. Nur so ließ sich der unnatürliche Lichtschein erklären, der aus seinem Grab drang. Nun wußte Rick auch, woher sein schlechtes Gefühl stammte, seit er sich dem Friedhof näherte, und wieso Dracula im Morgan geblieben war. Schritt um Schritt näherte er sich dem Grab, bis er endlich den frisch aufgeworfenen Hügel erreichte. Man sah, daß es sich um eines der neuesten Gräber handelte. Es gab keine Überreste von Kränzen oder Blumen. Sinorsky war hier in die Erde gelegt worden, ohne daß jemand um ihn trauerte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, blieb Rick vor dem Grab stehen und konzentrierte sich in Gedanken ganz auf den Magier. »Eddy Sinorsky«, sagte er nach einer Weile leise. »Kannst du mich hören? Wenn ja, gib mir ein Zeichen!« Er wartete einige Sekunden und wollte seine Frage schon wiederholen, als er leises Lachen hörte. Es war so bösartig, daß es einen kalten Schauer über seinen Rücken jagte. »Ich brauche dir kein Zeichen zu geben, Rick Masters«, antwortete eine ihm unbekannte Männerstimme. »Ich bin bei dir! Siehst du mich nicht?« Rick wirbelte herum. Seine Augen weiteten sich. Er prallte zurück und stieß gegen den Grabhügel. 29 �
Mit einem Aufschrei riß er die Arme hoch und stürzte. Bei dem harten Aufprall verlor er die Silberkugel! Nun war er waffenlos! * Chefinspektor Hempshaw konnte nicht die ganze Nacht bei Richter Pendergast bleiben. Er hatte noch andere Aufgaben. Es war schon völlig dunkel, als er sich von dem Richter verabschiedete und zu einem der Geschworenen des Prozesses gegen Jerry Hall fuhr. Dort war alles in Ordnung, so daß der Chefinspektor ohne Aufenthalt seine Runde fortsetzte. In der Zwischenzeit blieb Richter Pendergast unter dem Schutz der Polizisten und Yarddetektive in seinem Haus allein zurück. Der Chefinspektor hatte ihm geraten, zwei Mann in seiner unmittelbaren Nähe zu belassen. Pendergast hatte jedoch abgelehnt. Trotz seiner Angst vor einem Schlag seines Feindes wollte er keine Fremden in seinem Haus. Er beschloß, noch ein Glas zu trinken und dann schlafen zu gehen. In der Halle des Hauses blieb er wie versteinert stehen. Aus seinem Arbeitszimmer drang ein Geräusch, das er sehr gut kannte. Seit Jahren begleitete es ihn. Es war das Quietschen der Tür seines Barschrankes!
Richter Pendergast hätte um Hilfe rufen können. Er tat es nicht, ohne selbst den Grund dafür zu kennen. Vielleicht fühlte er sich einfach zu sicher, weil die Polizei das Haus mehrfach durchsucht und nichts gefunden hatte. Er kannte die Fähigkeiten der Yarddetektive. Sie übersahen nichts! Wütend stieß er die Tür des Arbeitszimmers auf und prallte zurück, als er den Mann neben dem Barschrank erkannte. »Jerry Hall«, flüsterte er. Hall drehte sich langsam um und lächelte. Es war ein kaltes, gemeines Lächeln. »Hallo, Richter«, sagte er und deutete auf den Lehnstuhl. »Setzen Sie sich! Sie wollten doch einen Drink nehmen, nicht wahr! Ich gieße Ihnen ein Glas voll! Sie werden es brauchen.« Wie ein Schlafwandler wankte der Richter zu seinem Lieblingssessel und ließ sich stöhnend hinein sinken. »Wie kommen Sie hier herein?« fragte er. »Wieso haben die Polizisten Sie nicht gesehen, Hall?« »Aber, Richter«, fragte Jerry Hall spöttisch. »Haben Sie denn keine Augen im Kopf? Sehen Sie mich genauer an, dann kennen Sie die Antwort!« Richter Pendergast rückte seine Brille zurecht und betrachtete den Eindringling. 30 �
Für einen Moment glaubte er, den Verstand zu verlieren. »Das ist unmöglich, Hall«, flüsterte er. »Es ist möglich«, erwiderte Galgen-Jerry. »Ich sagte doch, daß ich unschlagbar bin.« Auf den ersten Blick schien Jerry Hall wie jeder andere Mensch vor dem Richter zu stehen. Doch sein Körper besaß keine genauen Konturen. An den Rändern schimmerte seine Gestalt, als wäre sie von einer dünnen Nebelschicht umgeben. Das war nicht das einzig Ungewöhnliche an Galgen-Jerry. Sein Gesicht schien sich an manchen Stellen zu verfärben, doch es waren keine Striche oder Farbpunkte auf seiner Haut. Man konnte durch ihn hindurchsehen! Nur schwach, aber doch deutlich zu erkennen, schimmerte der Hintergrund durch ihn hindurch. Als Richter Pendergast die Augen zusammenkniff, konnte er durch Jerry Halls Brust hindurch die Tür seines Barschranks erkennen. »Sie… Sie sind gar nicht… wirklich in diesem Raum«, flüsterte der Richter. »In Wahrheit sitze ich soeben mit drei meiner Freunde in einer netten kleinen Pension«, erklärte Jerry Hall haßerfüllt lachend. »Hier, Ihr Glas, Richter!« Obwohl er nicht wirklich exis-
tierte, konnte er das Glas halten und an sein Opfer weiterreichen. Pendergast war so überwältigt, daß er das Glas entgegennahm und den Whisky in einem Zug trank. »Es ist gespenstisch«, flüsterte Pendergast heiser. »Es ist Schwarze Magie«, belehrte ihn Jerry Hall. »Mit ihrer Hilfe habe ich Ihnen die Henkersschlinge in den Keller gehängt. Das war sozusagen die Warnung. Und nun zu Ihrer eigentlichen Hinrichtung!« Pendergast fuhr aus seinem Sessel hoch. »Nein!« schrie er auf. »Nein! Hilfe!« Er dachte, Jerry Hall werde ihn am Schreien hindern. Der Mörder dachte jedoch gar nicht daran. Er hob nur den Blick. Seine Augen waren auf einen Punkt über dem Kopf des Richters gerichtet. »Das ist meine Rache, Richter Pendergast«, sagte er. Pendergasts Schreie verstummten, als er die Henkersschlinge entdeckte. Sie senkte sich von der Zimmerdecke herunter und fiel über seinen Kopf. Noch einmal schrie er auf, doch nichts und niemand konnte ihm mehr helfen. Sekunden später war alles vorbei. * 31 �
Rick Masters fiel genau auf das rot leuchtende Grab, doch er traf auf keinen Widerstand. Zumindest hatte er das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Es waren grauenhafte Sekunden, bis Rick erkannte, daß er einer magischen Täuschung zum Opfer fiel. Er mußte auf dem Grabhügel liegen, etwas anderes war gar nicht möglich. Er hatte ja auch die Kugel durch einen Aufprall verloren! Mit einer gewaltigen Anstrengung wälzte er sich von dem Grab herunter und blieb keuchend auf dem feuchten Erdboden liegen. »Sehr geschickt gemacht, aber es nutzt dir nichts«, höhnte die Stimme, die er vorhin schon gehört hatte. »Ich werde dich vernichten, und diesmal werde ich dich nicht verfehlen wie auf der Lichtung.« Nun wußte Rick Masters, daß der Geist des Magiers’ hinter dem Anschlag auf ihn und Hazel steckte. Er sah diesen Geist vor sich. Die Gestalt hatte die Form eines Nebelstreifens und veränderte ständig ihr Aussehen. Trotzdem behielt sie ungefähr die Umrisse eines Mannes. Die Stimme des Geistes drang aus dem Nebel heraus. »Ich lasse mich nicht so leicht umbringen!« rief Rick keuchend. »Ich gebe nicht auf!« »Ob du aufgibst, oder nicht, das spielt keine Rolle, Rick Masters«,
verspottete ihn der Geist. »Jerry Hall hat meine Nachfolge angetreten und führt für mich die Höllenfährte fort. Du warst ihm im Weg! Deshalb rief er den Bösen um Hilfe an. Ich habe versucht, dich auszuschalten, aber durch einen glücklichen Zufall bist du entkommen. Einmal gelang es dir, dem Bösen zu entrinnen, ein zweites Mal nicht! Stirb!« Rick Masters lauschte diesen Worten mit wachsendem Schrecken. Nun erhielt er die Bestätigung dafür, daß tatsächlich Jerry Hall hinter allem steckte. Und er hörte einen neuen Begriff, den er noch nicht kannte. Die Höllenfährte! Doch das alles konnte ihn nicht davon abhalten, an das Nächstliegende zu denken. Er mußte seine Haut retten und so schnell wie möglich von diesem Friedhof verschwinden. Da gab es nur ein Mittel. Seine Silberkugel! Noch während der Geist sprach, blickte Rick sich verstohlen nach allen Seiten um und entdeckte ein silbriges Glitzern neben einem Grabstein. Es konnte sich um ein Stück Silberpapier handeln. Bei der herrschenden Dunkelheit konnte er es nicht feststellen. Aber er hatte keine Zeit, sich vorher zu vergewissern, ob es seine Silberkugel war oder nicht. Als der Geist »Stirb!« rief, schnellte sich Rick Masters von seinem Platz 32 �
weg. Er hechtete auf das silbrige Glitzern zu. War es seine weißmagische Waffe, hatte er eine Überlebenschance. War sie es nicht… Genau wie auf der Waldlichtung wurde alles plötzlich taghell erleuchtet. Ein gewaltiger Feuerball raste auf den Friedhof zu. Auch diesmal setzte der Geist des Magiers schwarzmagische Kräfte frei und schleuderte sie gegen den Geisterdetektiv. Rick prallte auf den Boden, überschlug sich und streckte die Hände nach dem silbrig schimmernden Gegenstand aus. Seine Finger gruben sich in die lockere Erde neben dem Grab. Er hätte vor Freude schreien mögen, als er harten Widerstand fühlte. Im nächsten Moment schlossen sich seine Finger um die Silberkugel. Nicht einen Sekundenbruchteil zu früh, denn schon einen Herzschlag später traf die Feuerkugel den Friedhof und verwandelte ihn in eine Flammenhölle. Und diesmal steckte der Geisterdetektiv mitten in dem Inferno! Rings um ihn tobte die magische Feuersbrunst. Die Stöße des Bodens schleuderten ihn hoch und warfen ihn gegen ein Grabkreuz. Ein anderes Kreuz fiel um und verfehlte seinen Kopf um wenige Handbreit. Die Flammen fraßen alles. Eiserne
Kreuze schmolzen, Grabsteine platzten unter der gewaltigen Hitze. Gras und Bäume, Büsche und Holz verpufften in kleineren Explosionen. Nur Rick Masters blieb von den Flammen verschont. Sie rasten brüllend auf ihn zu, doch kurz vor ihm teilten sie sich wie eine Springflut, die auf einen mächtigen Felsen trifft. Das verdankte er allein der Silberkugel, deren weißmagische Kräfte stark genug waren, um der Schwarzen Magie zu trotzen. Das Toben der höllischen Gewalten dauerte nur wenige Sekunden, dann wurde es stockdunkel. Nach der Blendung durch die Flammen konnte Rick zuerst gar nichts erkennen. Erst nach einiger Zeit sah er wieder das rote Leuchten des Grabes. Keuchend stemmte er sich vom Boden hoch und trat auf den Hügel zu. »Eddy Sinorsky«, sagte er leise. »Dein Plan ist ein zweites Mal gescheitert. Ich werde dafür sorgen, daß du keinen Schaden mehr anrichten kannst!« Als Antwort erfolgte höhnisches Gelächter aus der Tiefe. Rick streckte den Arm aus. Die Hand mit der Silberkugel schwebte jetzt direkt über dem Grab des ehemaligen Häftlings. Seine Finger öffneten sich. Die Silberkugel fiel auf den Grabhügel. Kaum berührte sie die glühende 33 �
Erde, als aus der Tiefe ein grauenhafter Schrei ertönte. Der Boden wölbte sich auf. Ein Krater entstand, in dem die Silberkugel verschwand. Unterirdisch erfolgte eine Serie von Explosionen. Rick wußte, daß es keine Detonationen im herkömmlichen Sinn waren. Die Kräfte der Weißen und der Schwarzen Magie prallten aufeinander und entluden sich auf diese Weise. Er zweifelte nicht daran, daß seine Silberkugel die Oberhand gewinnen würde. Er hoffte nur, daß sie sich dabei nicht auflöste. Doch wieder einmal bewies sie ihre Kraft. Das rote Leuchten verschwand schlagartig. Aus der Tiefe ertönte noch ein langgezogener Seufzer. Danach herrschte auf dem Friedhof Totenstille. Die Silberkugel aber lag unbeschädigt zu Füßen des Geisterdetektivs. Er bückte sich, hob sie auf und ließ sie in seinem Schulterhalfter verschwinden. Sie wies nicht den kleinsten Kratzer auf. Er hatte sie vor einiger Zeit bei einem Trödler gekauft, weil sie ihm gefallen hatte. Sie besaß nämlich ein unglaublich intensives Leuchten, sobald Licht auf ihre Oberfläche fiel. Aus dem vermeintlichen Schmuckgegenstand war sehr bald seine stärkste Waffe im Kampf gegen das Böse geworden, ohne daß er etwas über ihre Herkunft wußte. Erleichtert seufzend blickte sich
der Geisterdetektiv um. Der Friedhof existierte nicht mehr. Die Gräber waren von der Feuerswelle dem Erdboden gleichgemacht worden. Sogar die Begrenzungsmauer war vollständig eingestürzt. Nur der Morgan mit Dracula war unbeschädigt, da sich die magische Feuersbrunst auf den Friedhof beschränkt hatte. Dracula kam seinem Herrn freudig kläffend entgegen. Sein Verhalten zeigte am deutlichsten, daß keine Bedrohung mehr durch Schwarze Magie herrschte. Dracula hatte alle Angst verloren. Rick ließ lachend die Begrüßung über sich ergehen. Er war mit seinem Einsatz zufrieden, hatte er doch Eddy Sinorsky zur ewigen Ruhe verholfen und den Magier daran gehindert, weiterhin seine bösen Kräfte wirken zu lassen. Von Sinorskys Geist konnte Rick nun allerdings auch nichts mehr über Jerry Hall, genannt GalgenJerry, erfahren. Er mußte auf andere Weise herausfinden, wo sich Jerry Hall verborgen hielt. Das nahe Gefängnis bot sich an. Rick fuhr sofort dorthin und konnte nach einigen Schwierigkeiten mit dem neuen Direktor sprechen. Dieser fragte bei Scotland Yard an, ehe er Rick seine Hilfe zusagte. Der Geisterdetektiv setzte seine Ermittlungen im Gefängnis fort, ohne zu ahnen, was sich inzwischen 34 �
in London ereignete. * Fassungslos betrachtete Chefinspektor Hempshaw den Toten. »Der Strick kommt direkt aus der Zimmerdecke«, erklärte Sergeant Myers, der engste Mitarbeiter des Chefinspektors. »Wir haben keine Befestigung entdeckt.« Doc Sterling zuckte die Schultern. »Ein Knoten, wie er früher von Henkern verwendet wurde«, stellte er fachmännisch fest. »Das erinnert mich an Galgen-Jerry. Er sollte doch einmal gehängt werden. Das hier sieht ganz nach seiner Rache aus.« »Vermutungen helfen uns nicht weiter«, sagte der Chefinspektor gereizt. »Nehmt ihn ab!« Sie mußten den Strick zerschneiden, weil er sich nicht von der Zimmerdecke löste. »Wo bleibt Rick?« fuhr Hempshaw seinen Sergeanten an. »Haben Sie nichts unternommen, Myers?« »Alle suchen nach ihm, aber er ist wahrscheinlich noch nicht zurück«, erklärte der Sergeant. »Über Funk erreichen wir ihn auch nicht.« »Verständigen Sie das Gefängnis«, befahl der Chefinspektor. »Man soll Rick Masters auf dem Friedhof suchen!« Der Sergeant lief wieder zum Telefon und kam gleich darauf mit einer Neuigkeit zurück.
»Mr. Masters ist im Gefängnis und spricht mit dem Direktor«, erklärte er. »Ich habe den Direktor am Apparat!« Hempshaw stürzte ans Telefon und sprach gleich darauf mit Rick Masters. Die beiden Männer machten nicht viel Worte. Sie beschränkten sich auf das Wesentliche. Da sie ein eingespieltes Team waren, wußte jeder, was er zu tun hatte. »Los, wir müssen sofort alle anderen gefährdeten Personen erreichen!« rief der Chefinspektor. »Mr. Masters verlangt, daß wir sie alle in einem Raum versammeln und diesen mit geweihten Gegenständen absichern. Er weiß im Moment auch kein besseres Mittel!« Sie machten sich sofort an die Ausführung ihres Plans, stießen jedoch auf große Schwierigkeiten. Von den elf Überlebenden waren nur drei bereit, dem Rat des Chefinspektors zu folgen. Die anderen erklärten ihn schlicht für verrückt und weigerten sich, ihre gut bewachten Wohnungen zu verlassen. Sie willigten nicht einmal ein, als sie hörten, unter welch mysteriösen Umständen Richter Pendergast gestorben war. »Sir«, wandte sich Sergeant Myers an seinen Vorgesetzten, nachdem sie alles Menschenmögliche getan hatten. »Denken Sie eigentlich daran, daß Sie ebenfalls zu den Gefährde35 �
ten gehören?« Hempshaw warf seinem Sergeanten einen düsteren Blick zu. »Ich denke pausenlos daran, Myers! Deshalb gönne ich mir ja auch keine Ruhe. Ich muß Jerry Hall finden, bevor er mich findet!« »Sie sollten sich in diesen abgeschirmten Raum zurückziehen und da drinnen bleiben, bis alles vorüber ist«, meinte der Sergeant. Er erhielt von seinem Vorgesetzten keine Antwort und wunderte sich nicht darüber. Hempshaws Entschluß stand schon lange fest. Der Chefinspektor hatte sich noch nie in ein sicheres Versteck zurückgezogen, wenn es hart auf hart herging! Lieber riskierte er seinen Kopf, als andere für sich die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen. * »Ich habe nicht viel Zeit«, sagte Rick Masters zu dem neuen Gefängnisdirektor. Er deutete auf das Telefon, über das er soeben mit dem Chefinspektor in London gesprochen hatte. »Ich muß sofort zurückfahren. Trotzdem möchte ich vorher mit den Häftlingen sprechen, die den Magier kannten.« »Tut mir leid, ich bin nach dem überraschenden Tod meines Vorgängers noch nicht eingearbeitet«, entschuldigte sich der Direktor, ein dynamischer, vierzigjähriger Mann.
»Aber wir haben heute nacht einen alten Wächter in der Schicht. Er wird Ihnen weiterhelfen.« Rick lernte einen grauhaarigen, freundlich wirkenden Mann kennen. »Ja, der Magier!« Der Wächter schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, Mr. Masters, ich komme mit allen Häftlingen gut aus, ganz gleich, weshalb sie bei uns sind. Sind doch auch Menschen, und ich behandle sie wie Menschen. Darum habe ich keine Schwierigkeiten mit innen.« »Gut, gut«, sagte Rick ungeduldig. »Ich finde es sehr anständig von Ihnen, daß Sie den Häftlingen im Gefängnis eine Chance geben.« »Sie sollen ja später wieder ein anständiges Leben führen«, fuhr der alte Wächter fort, als habe er Ricks Eile nicht bemerkt. »Und fast alle haben auch den ehrlichen Wunsch. Ich helfe ihnen dabei.« »Würden Sie mir jetzt bitte auch helfen«, drängte Rick. »Ich muß schnellstens zurück nach London,« »Bin schon dabei«, erwiderte der Wächter. »Ich wollte sagen, daß die Unverbesserlichen wirklich die Ausnehme bilden. Der Magier gehörte ebenso dazu wie Jerry Hall.« »Welche Häftlinge können mir über diese beiden die genauesten Auskünfte geben?« fragte der Geisterdetektiv, der vor Ungeduld kaum noch still sitzen konnte. »Ich kenne die beiden besser als ihre Mithäftlinge«, erklärte der 36 �
Wächter. »Wissen Sie, der Magier, wie wir Sinorsky nannten, war gar nicht an einer vorzeitigen Entlassung interessiert. Ihm war es gleichgültig, ob er in Freiheit lebte oder nicht. Einmal sagte er zu mir, es wäre für ihn einerlei, da er eine Magie auch vom Gefängnis aus anwenden könne. Ein seltsamer Kauz.« Rick wußte inzwischen, daß Eddy Sinorsky keineswegs ein Kauz gewesen war. Er schwieg jedoch über diesen Punkt. »Und Hall sprach immer nur von der Rache, die er nehmen würde«, fuhr der Wächter fort. »Hall war bei Sinorsky, als er starb.« »Das weiß ich alles!« rief Rick Masters aus. »Aber wie kann ich Hall in London finden?« »Er hat keine Verwandten, und seine früheren Komplicen arbeiten mittlerweile alle für andere Leute«, behauptete der Wächter. »Hall hatte von der Zelle aus nur mit drei Leuten Kontakt. Paul Cranthow, Carl Meli und Jack Sither. Sie finden alle drei in Soho. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« »Was wissen Sie über den Magier?« fragte Rick drängend. »Stammte er auch aus London?« Der Wächter nickte. »Er hatte nie ein eigenes Zuhause. Meistens saß er im Gefängnis, weil er bei seinen Verbrechen keinen Wert auf Geheimhaltung legte. Ich sagte Ihnen doch, er
war ein seltsamer Mensch, der sich nicht darum kümmerte, wo er lebte.« »Und wenn er nicht im Gefängnis war, wo wohnte er dann?« fragte Rick, der schon alle Hoffnung aufgab, noch einen brauchbaren Hinweis zu erhalten. »In einer Privatpension«, erwiderte der Wächter zu Ricks Überraschung. »Im Stadtteil Brixton unterhält eine Mrs. Finton zusammen mit ihrer Tochter diese Pension. Dort schlüpfte er unter, weil sich Mrs. Finton nicht daran störte, woher er kam.« »Vielen Dank!« rief Rick Masters und stürmte aus dem Büro. Plötzlich hatte er es sehr eilig. Die Pension der Mrs. Finton war seine wichtigste Spur. Sie versprach zwar kaum raschen Erfolg, weil Rick nicht daran glaubte, daß Jerry Hall ausgerechnet dort abgestiegen war, aber vielleicht konnte ihm diese Mrs. Finton weitere Hinweise geben. Er machte sich sofort auf den Rückweg nach London. Sein Ziel war die Pension in dem Londoner Stadtteil Brixton! * Paul Cranthow, Carl Meli und Jack Sither saßen wie erstarrt vor ihrem ehemaligen Chef. Jerry Hall blickte grinsend auf seine Komplicen hinunter. »Na«,
fragte er spöttisch, »was sagt ihr dazu?« »Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, würde ich es nicht glauben«, meinte Carl Meli. »Du hast dich sozusagen aufgespalten! Ein Teil von dir blieb in diesem Zimmer, während ein anderer Teil Richter Pendergast ermordete!« »Wie machst du das?« wollte Paul Cranthow wissen. »Ich kann es nicht erklären«, erwiderte Jerry Hall. »Das ist eben Schwarze Magie.« »Und wie hast du es gemacht, daß wir wie in einem Kino den Tod des Richters beobachten konnten?« erkundigte sich Jack Sither. »Ich weiß es nicht«, gestand Jerry Hall auch diesmal. »Ich habe von Sinorsky diese Fähigkeiten erhalten, und ich werde sie anwenden, um meine Feinde zu vernichten!« »Die sind jetzt schon so gut wie tot!« behauptete Paul Cranthow. »Alle!« »Wenn du deine Rache erledigt hast, arbeitest du wieder mit uns zusammen, nicht wahr?« vergewisserte sich Jack Sither. »Wäre doch jammerschade, wenn du deine Fähigkeiten verkümmern läßt! Wir werden unschlagbar sein, Banken ausrauben, ohne daß die Polizei uns hindern kann, Geldboten überfallen…« »Später«, winkte Jerry Hall ab. »Zuerst müßt ihr für mich eine
große Aufgabe erledigen.« »Wir?« staunte Paul Cranthow. »Was können wir schon tun, was du nicht kannst?« »Überschätzt meine magischen Fähigkeiten nicht«, warnte GalgenJerry. »Sinorsky hat mich mit Wissen über Schwarze Magie versorgt. Daher weiß ich auch, daß es in London einen unschätzbaren Helfer gibt.« »Wie heißt der Kerl?« rief Jack Sither aufgeregt. »Wir schleppen ihn hierher, und wenn wir ihn vorher betäuben müssen!« »Langsam!« Jerry Hall grinste und schenkte für jeden ein Glas Whisky ein. »Es ist kein Mensch, sondern eine Statue. Sie steht in der National Gallery, und ihr müßt sie mir besorgen. Bevor ich diese Statue nicht habe, kann ich nur meine Feinde töten. Erst zusammen mit der Statue kann ich alles tun, was ich will.« »Und wie sieht dieses Ding aus?« wollte Carl Meli wissen. »Eine kopfgroße schwarze Kugel mit einem Loch in der Mitte«, erwiderte Jerry Hall. Er beschrieb ihnen, in welchem Saal des Museums dieses vermeintliche Kunstwerk zu finden war. »Die Kugel liegt auf einem Sockel. Geht jetzt und holt die Kugel hierher!« Sie starrten ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Ein solcher Einbruch muß lange vorbereitet werden«, widersprach
Paul. »Das Museum hat Alarmeinrichtungen.« »Und dann sind da die Wächter«, erklärte Jack. »Wir kennen ihren Dienstplan gar nicht.« »Macht nichts«, wischte Hall die Einwände seiner Helfer beiseite. »Ich werde von hier aus mit meinen neuen Fähigkeiten euren Raubzug überwachen.« »Warum holst du diese Kugel nicht durch magische Beschwörungen?« fragte Carl gereizt. »Willst du uns vielleicht loswerden? Sollen wir den Wächtern in die Arme laufen?« »Dummkopf!« fuhr Jerry Hall ihn an. »Du hast überhaupt keine Ahnung! Ich sagte doch vorhin schon, daß ich vieles nicht tun kann. Meine Kenntnisse der Schwarzen Magie reichen nicht aus. Deshalb werdet ihr die Kugel holen. Los, beeilt euch! Je schneller ich diese Statue habe, desto leichter wird es für uns.« »Jetzt sprichst du wieder von einer Statue?« fragte Paul verwirrt. »Was ist es nun, eine Kugel oder eine Statue?« Jerry Hall blickte ihn ratlos an. »Eine Kugel«, sagte er unsicher. »Geht!« Sein Wort hatte bei ihnen noch immer großes Gewicht. Deshalb gehorchten sie seinem Befehl. Aber draußen auf der Straße blieben sie kopfschüttelnd stehen. »Ich glaube«, meinte Paul Cran-
thow, »er wird alt und komisch.« »Aber wir haben gesehen, wie er den Richter umgebracht hat«, wandte Carl Meli ein. »Hat er das wirklich?« fragte Jack Sither zweifelnd. »Vielleicht war alles nur ein Trick, um uns zu täuschen.« »Das können wir sehr leicht feststellen«, sagte Paul. »Los, folgt mir!« Sie fuhren zu dem Haus des Richters und sahen schon von weitem die Wagen von Scotland Yard. Jetzt endlich waren sie von den neuen Fähigkeiten ihres Anführers überzeugt. Sie zweifelten auch nicht mehr daran, daß der Einbruch in die National Gallery gelingen würde. Zuversichtlich machten sie sich auf den Weg. Sie waren zu einem Werkzeug des Bösen geworden, obwohl sie glaubten, nur ihren eigenen Vorteil zu verfolgen. Längst waren sie bloße Marionetten in der Hand eines Mächtigeren! Mrs. Madge Finton schwärmte auch noch abends von den drei netten Herren, die bei Mr. Purdy waren. Und Mr. Purdy rückte zu Mrs. Fintons Lieblingsgast auf. Patty Finton konnte das Verhalten ihrer Mutter nicht verstehen. Begriff sie denn gar nicht mehr, was rings um sie vorging? Oder wollte sie nicht sehen, daß die drei Besucher übelste Typen waren, die niemand freiwillig in sein Haus gelassen
hätte? Aber mit ihrer Mutter war nicht mehr zu sprechen. Deshalb beschloß Patricia, auf eigene Faust zu handeln. Sie wollte nicht nach der Polizei telefonieren, weil das Mr. Purdy oder einer seiner Besucher hätte hören können. Sie wollte aber auch nicht das Haus verlassen, weil ihre Mutter mit diesen unheimlichen Männern dann ganz allein gewesen wäre. Also blieb Patricia Finton nichts anderes übrig, als auf den Constable zu warten. Er mußte auf seiner abendlichen Runde an ihrem Haus vorbeikommen. Dauerte es an diesem Tag wirklich so lange, oder kam es ihr in ihrer Ungeduld nur so vor? Bebend vor Nervosität stand sie am Fenster, während ihre Mutter gut gelaunt einen kleinen Imbiß für die netten Gentlemen vorbereitete und ihn in Mr. Purdys Zimmer brachte. »Sie haben sich sehr gefreut«, berichtete Madge Finton ihrer Tochter, als sie in die Küche zurückkehrte. »Wirklich, sehr gefreut!« Patricia antwortete nicht, sondern ballte die Fäuste, daß die Fingernägel in ihre Handballen stachen. Sie wußte nicht, was sie diesen vier Männern vorwerfen sollte, aber sie fühlte mit jeder Faser, daß hier etwas nicht stimmte. Es wurde so dunkel, daß man die
Leute auf der Straße nur noch erkennen konnte, wenn sie unter einer Straßenlampe durchgingen. Der Constable kam nicht. Patricia Finton wußte nicht, daß er an diesem Abend durch einen Autounfall aufgehalten wurde. Er mußte Erste Hilfe leisten und das Unfallprotokoll aufnehmen, bevor er seinen gewöhnlichen Rundgang fortsetzen konnte. Diese Verzögerung entschied alles. Die drei Besucher verließen das Haus. Patricia Finton glaubte, Grund zum Aufatmen zu haben. Mr. Purdy ging nicht schlafen. Unter seiner Tür fiel noch immer Licht durch. Endlich kam der Constable. Ohne ihrer Mutter Bescheid zu sagen, lief Patty auf die Straße und hielt den Polizisten an. Er hörte sich geduldig an, welchen Verdacht sie gegen ihren Mieter und seine Besucher hegte. »Selbstverständlich überprüfe ich diesen Mr. Purdy«, erwiderte Constable Moulder bereitwillig. »Aber Purdy und meine Mutter dürfen nicht ahnen, daß ich Sie auf ihn aufmerksam gemacht habe«, bat Patricia. »Das kann ich meiner Mutter nicht antun!« »Ich richte es so ein, daß sie nichts merkt«, versprach der Constable. »Gehen Sie wieder ins Haus und überlassen Sie alles Weitere mir.« Patty Finton hielt sich an seinen 40 �
Rat, weil sie nicht ahnte, daß sie direkt in die tödliche Falle lief. »Na, hast du noch einen kleinen Spaziergang unternommen?« erkundigte sich ihre Mutter, als sie die Küche betrat. »Ich wollte etwas frische Luft schnappen«, behauptete Patty. »Ich trinke noch ein Glas Milch und gehe schlafen.« »Recht so«, stimmte ihre Mutter zu. »Milch beruhigt und… Hat es geklingelt?« »Ja«, bestätigte Patty. »Ich sehe nach, wer es ist.« Bei solchen Gelegenheiten merkte sie, daß ihre Mutter langsam schwerhörig wurde. Die Klingel war so laut, daß man sie im ganzen Haus hörte. Mrs. Finton folgte ihrer Tochter in die Halle und sah daher sofort den Constable, den sie ebenfalls kannte und herzlich begrüßte. »Nichts Wichtiges, Mrs. Finton«, beruhigte der Constable die besorgte Pensionsbesitzerin. »Eine reine Routinekontrolle. Haben Sie neue Gäste?« »Mr. Purdy, ein reizender Mensch«, erklärte Mrs. Finton. »Ich weiß aber nicht, ob ich ihn noch stören kann.« »In seinem Zimmer brennt Licht«, sagte Patricia hastig. »Ich frage«, bot Mrs. Finton an. Sie ging zu Mr. Purdys Tür und klopfte. Als er sich nach dem Grund der Stö-
rung erkundigte, erklärte sie es ihm. Gleich darauf öffnete sich die Tür. Angus Purdy, wie der Mann sich nannte, trat in die Halle. Er musterte den Constable mit einem arroganten Blick. »Nun, was hat denn die Londoner Polizei an einem harmlosen Menschen auszusetzen?« fragte er scharf. »Nichts, Mr. Purdy… falls Sie Mr. Purdy sind«, erwiderte Constable Moulder. Der ältere Polizist war in vielen Berufsjahren vorsichtig geworden. Er spürte sofort, daß mit diesem Mann etwas nicht stimmte. Außerdem erinnerte ihn dieses Gesicht an etwas, ohne daß er sofort dahinter kam. »Sie wollen meinen Ausweis sehen?« fragte Purdy grinsend. »Warum?« »Eine Routineüberprüfung«, erklärte Constable Moulder. »Ich verbürge mich für Mr. Purdy«, sagte Mrs. Finton eifrig. Patricia wollte etwas sagen, um den Fehler ihrer Mutter rückgängig zu machen. Sie bestand auf einer Überprüfung. Doch es war gar nicht nötig, daß sie eingriff. Die Ereignisse überstürzten sich. »Aber natürlich!« rief Constable Moulder plötzlich. »Jetzt erinnere ich mich! Scotland Yard möchte mit Ihnen sprechen. Sie werden als wichtiger Zeuge gesucht. Ihr Name ist Hall, Jerry Hall.« 41 �
Patricia Finton begriff sofort, was das bedeutete. Die Gesetze des Landes waren sehr streng. Die Polizei mußte sehr behutsam vorgehen, wenn sie jemanden eines Verbrechens verdächtigte. Sie durfte nicht überall erklären, Mr. Hall werde wegen eines Verbrechens gesucht, sondern sie behauptete, man wolle mit ihm dringend sprechen. Das war eine elegante Umschreibung, die niemanden in Schwierigkeiten brachte. Also hatte sie sich doch nicht geirrt, dachte Patty Finton. Dieser Purdy war hier unter falschem Namen abgestiegen. Jerry Hall… Eine Erinnerung meldete sich bei ihr, die Erinnerung an Prozeßberichte, die schon zehn Jahre zurücklagen. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie wußte, wer Jerry Hall war, nämlich kein anderer als der berüchtigte Galgen-Jerry! Und diesen Menschen fand ihre Mutter reizend! »So, Sie haben mich also erkannt!« Jerry Hall zeigte nicht die geringste Unsicherheit. »Und die Polizei möchte dringend mit mir reden! Richtig?« »Ja, Mr. Hall«, bestätigte Constable Moulder. »Wenn Sie mich jetzt begleiten! Ich bringe Sie zur Wache und verständige Scotland Yard!« »Und Sie denken, daß das funktioniert?« fragte Hall lachend.
»Sie wissen, daß ich dazu berechtigt bin«, sagte der Constable. »Kommen Sie!« Während Jerry Hall sprach, veränderte sich sein Gesicht. Das Grinsen schwand langsam und machte blankem Haß Platz. »Ich denke gar nicht daran, auf die Wache zu gehen«, sagte er mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme. »Ich bleibe hier! Ich habe einen gewaltigen Rachefeldzug angetreten, und ich werde ihn zu Ende führen. Nichts und niemand kann mich daran hindern, alle umzubringen, die mich ins Gefängnis steckten!« Constable Moulder reagierte blitzschnell. Er sprang auf Hall zu und wollte ihn packen, doch Halls Augen blitzten für einen Moment auf. Eine Feuerwand hüllte den Constable ein. Sie kam aus dem Nichts, und die Flammen strahlten auf die beiden Frauen keine Hitze aus. Constable Moulder jedoch war rettungslos verloren. Durch die Flammen hindurch sahen Mrs. Finton und ihre Tochter sein Gesicht und seine vor Grauen geweiteten Augen. Langsam löste er sich vollständig auf, bis nichts von ihm übrig blieb. Sein Helm hielt sich am längsten, doch auch ihn verzehrten die magischen Flammen! Kaum war die letzte Spur des Con42 �
stables ausgelöscht, als sich die Flammen zurückzogen. Auf dem Boden der Halle blieb nur ein dunkler Fleck zurück. »Das… ist… das…«, stammelte Mrs. Finton. Obwohl Patricia vor Entsetzen ebenfalls wie gelähmt war, reagierte sie instinktiv richtig, als ihre Mutter zusammenbrach. Sie fing die Ohnmächtige auf und ließ sie behutsam zu Boden gleiten. »So, Sie haben mich also durchschaut«, sagte Jerry Hall mit unvorstellbarer Kälte zu Patricia Finton. »Sie haben mir den Polizisten auf den Hals gehetzt! Das war keine gute Idee!« Patricia hatte keine Erklärung dafür, was sich vor ihren Augen abgespielt hatte. Es überstieg ihr Begriffsvermögen. Aber sie wußte, daß dieser Mann ein Mörder war und daß er die Zeugen seiner Tat nicht am Leben lassen konnte. Sie hätten ihn verraten, und er sah nicht so aus, als würde er dabei tatenlos zusehen. »Na gut, bringen Sie uns doch um!« sagte sie gefaßt. »Je schneller, desto besser! Lassen Sie uns nicht lange leiden, Sie Satan!« Lachend warf Jerry Hall den Kopf in den Nacken. »Das könnte Ihnen so passen«, zischte er gleich darauf wütend. »Sie haben mich in Gefahr gebracht. Jetzt werden Sie auch dafür sorgen, daß mir nichts
geschieht! Ich habe mich hier eingemietet, weil ich ein Versteck brauche. Ich werde dieses Haus nicht aufgeben, aber von jetzt untersteht ihr meiner Macht. Ich belege dieses Gebäude mit meinem Bann! Und nun verschwinden Sie mit Ihrer Mutter, damit ich Sie nicht mehr sehen muß!« Er wandte sich ab und kehrte in sein Zimmer zurück. Die Tür schlug ins Schloß. Patricia Finton schöpfte neue Hoffnung. Vielleicht war dieser Mann trotz seiner unheimlichen und tödlichen Fähigkeiten nicht zurechnungsfähig. Wie konnte er sie hier allein in der Halle lassen! Selbstverständlich nutzte sie die günstige Gelegenheit. Vorläufig konnte sie sich nicht um ihre Mutter kümmern. Es war viel wichtiger, Hilfe zu holen. Patricia Finton stürzte zur Tür, riß sie auf und wollte auf die Straße laufen. Sie prallte zurück, als sie vor sich nur eine graue Wand sah. Fassungslos betrachtete sie die unnatürliche Mauer. Sie konnte sich nicht erklären, woher sie kam. Zögernd streckte sie die Hand aus und griff tastend nach, der Wand. Ihre Hand tauchte in die schattenlose graue Masse ein und erschien wenige Zoll daneben wieder, als würde Patricia jenseits des Nebels stehen und in die Halle hineingreifen. 43 �
Entsetzt zog sie die Hand zurück und wankte. Doch sie war eine Frau mit guten Nerven, faßte sich schnell und versuchte es noch einmal. Und wieder tauchte ihre Hand an einer anderen Stelle aus der grauen Wand auf. Je tiefer sie den Arm in die unbeschreibliche Masse schob, desto weiter tauchte er wieder auf. Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und trat aus der Tür. Im nächsten Moment fand sie sich in der Halle wieder, als käme sie soeben von der Straße herein. Patricia lief schluchzend in die Küche und riß die Hintertür auf. Auch hier blickte sie nicht in den Garten, sondern in das stumpfe Grau der magischen Sperre. Nun verstand sie, wieso sich Jerry Hall nicht um sie kümmerte. Es war gar nicht nötig. Sie konnte nicht fliehen, weil sie von der magischen Mauer immer wieder in das Haus zurückgestoßen wurde. Enttäuscht kehrte sie zu ihrer Mutter zurück, die langsam zu sich kam. Die nächsten Minuten verliefen für Patty Finton mehr als anstrengend. Die Fragen ihrer Mutter brachten sie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs, und Verzweiflung übermannte beide Frauen, als sie endlich begriffen, daß sie hilflos einem Mörder ausgeliefert waren. Einem Mörder, der noch dazu
über rätselhafte Fähigkeiten verfügte! Als dann noch die übrigen Bewohner der Pension in die Halle kamen und Patricia mit Fragen bestürmten, war sie tatsächlich nahe an einem Zusammenbruch. Sie hörte jedoch plötzlich ein Geräusch, das sie im letzten Moment rettete. Die Türklingel! Ganz gleich, wer sie um diese späte Stunde noch sprechen wollte, er würde sie retten! Patty Finton eilte zur Tür. Unterwegs spürte sie eine entsetzliche Verwandlung, gegen die sie sich nicht wehren konnte! * Verwundert betrachtete Rick Masters das im viktorianischen Stil errichtete Haus. Es gehörte eigentlich gar nicht mehr in diese moderne, nüchterne Zeit mit ihrer unverständlich gewordenen Technik. Es wirkte wie ein Märchenhaus, in dem nur verwunschene Menschen leben konnten. Wie war der Magier Eddy Sinorsky auf dieses Haus verfallen? Es hatte ihm bestimmt eine hervorragende Tarnung geboten, weil niemand auf die Idee kam, in einem so hübschen Gebäude Schwarze Magie zu vermuten. Rick stellte den Morgan direkt vor dem Haus ab, weil er nicht ahnte, 44 �
daß sein ärgster Feind in diesem Haus lauerte. Er wollte sich über Eddy Sinorsky informieren, mehr nicht. Vielleicht konnte ihm die Pensionsinhaberin einen Tip geben. Hinter einem Fenster brannte noch Licht. Die anderen Räume waren dunkel. Als er schellte, hatte er ein schlechtes Gewissen. Die Leute schliefen bestimmt schon. Er konnte es jedoch nicht ändern. Sein Fall war so wichtig, daß die Erkundigungen keinen Aufschub duldeten. Zu seiner Überraschung dauerte es nicht lange, bis er leichte Schritte hinter der Tür hörte, die sich gleich darauf öffnete. Eine ungefähr vierzigjährige, betont altjüngferlich gekleidete Frau stand vor ihm und betrachtete ihn mit einem freundlichen Lächeln. »Guten Abend, was kann ich für Sie tun, Sir?« fragte sie, noch ehe er etwas sagte. Rick grüßte und nannte seinen Namen. »Die späte Störung tut mir zwar leid, aber es ist sehr wichtig. Kann ich für einen Moment hineinkommen?« »Ich bin Patricia Finton«, stellte sich die Frau vor, während sie den Eingang freigab. »Bitte! Die Pension gehört meiner Mutter, wenn Sie das wissen wollten!« Rick lernte auch Madge Finton kennen, die in der Küche saß und an einem Glas heißer Milch nippte. Sie
war eine reizende alte Lady, die etwas schlecht hörte und ein wenig versponnen zu sein schien. Sie fand alles entzückend, ganz gleich, was Rick auch sagte. »Was wollen Sie wissen?« fragte Patricia Finton energisch, als ihre Mutter den Detektiv kaum zu Wort kommen ließ. »Sie sagten etwas von einer wichtigen Untersuchung, Mr. Masters?« »Früher wohnte ein gewisser Eddy Sinorsky bei Ihnen?« fragte der Geisterdetektiv. »Das ist schon etliche Jahre her«, erwiderte Patricia Finton. »Er ist gestorben. War ein sehr netter, ruhiger Mann. Was möchten Sie über ihn wissen?« »Welches Zimmer hat er bewohnt?« fragte Rick. Er merkte, daß er mit seinen Erkundigungen nicht viel Glück hatte. »Es ist wieder vermietet«, erwiderte die Tochter der Pensionsbesitzerin. »An einen gewissen Mr. Purdy.« »Als Mr. Sinorsky zum letzten Mal Ihr Haus verließ, blieb da irgend etwas zurück?« »Nein, Mr. Masters, gar nichts«, versicherte Patricia. Sie war auffallend bleich, erweckte jedoch durch nichts den Verdacht des Geisterdetektivs. »Wir haben sein Zimmer genau kontrolliert, wie wir das immer tun, wenn jemand auszieht.« »Sie sagen, daß Mr. Sinorsky tot 45 �
ist.« Rick tat, als wisse er das noch nicht. Vielleicht brachte er die beiden Frauen auf diese Weise zum Sprechen. »An wen könnte ich mich jetzt wenden? Hatte er Verwandte? Einen Anwalt? Irgendeine Adresse?« »Leider nein, Mr. Masters«, antwortete Patricia Finton und stand auf. »Bitte, verstehen Sie, aber es ist für uns schon sehr spät. Wir gehen immer zeitig schlafen.« »Ja, natürlich, vielen Dank!« Rick Masters verstand den Wink, nickte Mrs. Finton freundlich zu und ließ sich von ihrer Tochter hinausbringen. »Sollte Ihnen noch etwas einfallen, erreichen Sie mich unter dieser Nummer.« Rick drückte Miss Finton zum Abschied eine seiner Visitenkarten in die Hand. »Noch einmal vielen Dank! Und entschuldigen Sie die Störung!« »Keine Ursache«, sagte Patty Finton und schloß hinter ihm die Tür. Während Rick Masters zu seinem Morgan zurückging, in dem Dracula auf dem Nebensitz lag und schlief, wankte Patricia Finton in die Küche. »Warum hast du denn nichts gesagt, Patty?« jammerte ihre Mutter. »Er hätte uns geholfen!« »Du konntest auch nicht sagen, was du wolltest«, antwortete ihre Tochter mutlos. »Hall hat uns völlig unter Kontrolle. Wir müssen tun und sagen, was er uns vorschreibt!«
Die Küchentür flog auf und schlug krachend gegen die Wand. Jerry Hall trat ein, entdeckte die Visitenkarte und riß sie Patricia Finton aus der Hand. »Wollen doch sehen, wer unser Besucher war«, sagte er leise und warf einen Blick auf die Karte. »Da soll doch der Teufel dreinfahren!« rief er. »Rick Masters! Also lebt er noch!« Galgen-Jerry zog die Unterlippe zwischen die Zähne und kaute darauf herum, bis sie schmerzte. »Ich habe jetzt keine Zeit für den Geisterdetektiv«, murmelte er, ohne sich weiter um die beiden Frauen zu kümmern. »Ich muß meinen Freunden in der National Gallery helfen. Aber danach kommt Rick Masters an die Reihe, und ein zweites Mal soll er mir nicht entrinnen, dieser Schnüffler!« Hall hatte einen Teil der Unterhaltung in der Küche mit angehört. Daher wußte er, daß sein Lehrmeister Sinorsky früher in diesem Haus, sogar in demselben Zimmer gewohnt hatte. Nun erschien Hall seine Ankunft in London in einem ganz anderen Licht. Der Magier hatte von seinem Grab aus Jerry Halls Schritte gelenkt und ihn ausgerechnet mit einem Taxifahrer zusammengeführt, der mit der Pensionsbesitzerin verwandt war. Es war für Galgen-Jerry ein beruhigendes Gefühl, noch immer in Ver46 �
bindung mit dem Magier Eddy Sinorsky zu stehen. Sinorsky würde dafür sorgen, daß er die Höllenfährte durch London legte, jene Spur von Schrecken, die er als Erbe des Magiers übernommen hatte. Er konzentrierte sich auf die Einbrecher in der National Gallery und war damit so beschäftigt, daß er vorübergehend sogar die Bedrohung durch den Geisterdetektiv vergaß. Das hieß aber nicht, daß er Rick Masters nicht bei nächster Gelegenheit töten wollte! Der Geisterdetektiv war inzwischen noch immer ahnungslos. Er fuhr in den Yard. Seit er sich innerhalb der Londoner Stadtgrenzen aufhielt, stand er wieder über Funk in Kontakt mit dem Chefinspektor. Daher wußte er, wo er Hempshaw fand. Der Chefinspektor saß in seinem Büro, als Rick Masters eintraf. Dracula bildete ausnahmsweise keine Gefahr für Hempshaws Beine. Um diese Nachtstunde war Dracula viel zu müde, um sich auf einen Kampf einzulassen. Das Gespräch der beiden Männer verlief daher entsprechend friedlich. Sie berichteten einander genauer als am Telefon, was sie erlebt hatten. »Hoffentlich geschieht in dieser Nacht nichts mehr«, meinte Rick, als er hörte, daß sich die Bedrohten in ihren Häusern verschanzt hatten. »Warum befolgen die Leute unsere
Anweisungen nicht?« »Weil sie sich nicht vorstellen können, mit welchen Waffen Jerry Hall seine Rache vollstreckt«, erwiderte der Chefinspektor. »Es ist immer dasselbe«, meinte der Geisterdetektiv seufzend. »Die Leute glauben uns nie! Erst wenn sie in der Falle sitzen, hören sie auf uns.« Hempshaw blickte ihn erwartungsvoll an. Rick sah den Chefinspektor an. Eine Weile schwiegen beide. »Jeder von uns wartet darauf, daß der andere einen Lösungsvorschlag hat«, sagte Rick. »Tut mir leid, Kenneth, im Moment kann ich gar nichts unternehmen. So lange sich unser Gegner ruhig verhält, bin ich machtlos. Ich weiß nicht, wo ich nach ihm suchen soll. Obwohl…« Der Geisterdetektiv zögerte. Hempshaw beugte sich gespannt vor. »Nein, ich weiß es nicht«, murmelte Rick zu sich selbst. »Möchten Sie mir nicht endlich sagen, worum es geht?« fragte Hempshaw gereizt. »Ich bin müde und habe einen langen, harten Tag hinter mir. Ich bin nicht in Stimmung für Rätselspiele!« »Es ist nichts«, winkte der Geisterdetektiv ab. »Ich hatte nur das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Ich wüßte jedoch nicht, was.« Hempshaw nickte. »Das kenne ich. 47 �
Dieses Gefühl habe ich fast bei jedem Fall. Es legt sich mit der Zeit, glauben Sie mir.« »Ich bin auch kein Anfänger«, erwiderte Rick lachend. Er stand auf und wurde sofort wieder ernst. »Kenneth, Sie scheinen zu vergessen, daß Sie sich ebenfalls in Gefahr befinden.« »Wieso?« Die Frage war Hempshaw sichtlich unangenehm. »Weil Sie sich überhaupt nicht abgesichert haben.« Rick deutete auf die Tür und das Fenster. »Wachen? Sie haben keine aufgestellt. Sie sind auch nicht in den abgesicherten Raum gegangen, in den sich die wenigen Vernünftigen zurückgezogen haben. Symbole gegen Schwarze Magie? Ich sehe keine.« »Ich kann mich nicht ständig in einem Bunker verstecken«, erwiderte der Chefinspektor. »Sie kennen mich.« »Eben deshalb mache ich mir um Sie Sorgen«, sagte Rick seufzend. »Sie sind unvorsichtig.« »Das müssen ausgerechnet Sie sagen!« Hempshaw schnitt ihm mit einer heftigen Geste das Wort ab. »Jeder von uns hat seine Aufgabe, und jeder erfüllt sie, so gut er kann. Ich verständige Sie, sobald ich etwas erfahre.« Rick nickte. »Gut, Kenneth, wie Sie wollen. Ich bin in meiner Wohnung! Wenn etwas passiert, können Sie mich jederzeit erreichen!«
Dracula trottete neben seinem Herrn müde aus dem Büro und warf dem Chefinspektor einen kurzen, unfreundlichen Blick zu. Während des Heimweges schüttelte Rick mehrmals den Kopf. »Und ich habe doch etwas ühen«, murmelte er, als er vor seinem Wohnhaus ausstieg. Im Erdgeschoß befand sich das älteste Café Londons. Es war um diese Nachtzeit bereits geschlossen. Rick ging müde in seine Wohnung hinauf. Er hatte an diesem Tag viel erlebt und auch einiges herausgefunden, war aber trotzdem nicht zufrieden. Er hatte erfahren, daß es die Höllenfährte gab, eine Spur des Bösen. Er hatte auch ihren Anfang gefunden, nämlich das Grab des Magiers Eddy Sinorsky. Und er hatte dafür gesorgt, daß von diesem Grab in Zukunft keine Gefahr mehr ausging. Das war jedoch nur ein schwacher Erfolg im Vergleich mit der Gefahr, die Eddy Sinorskys Nachfolger darstellte, Jerry Hall hatte schon einen Mord begangen und würde vor weiteren nicht zurückschrecken. Je länger Rick Masters erfolglos nachdachte, desto nervöser wurde er. Das merkte auch Hazel Kent, als er sie gleich darauf anrief. »Was stimmt bei dir nicht?« fragte sie besorgt. »Bist du nicht allein in der Wohnung? Ist jemand bei dir? Kannst du nicht frei sprechen?« 48 �
National Gallery mißglückt. Durch das Auftauchen des Constables und später des Geisterdetektivs wurde Jerry Hall so abgelenkt, daß er seinen Freunden nicht helfen konnte. Paul, Carl und Jack standen in der Nähe der Gallery und wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Ein Streifenwagen rollte vorbei. Sie taten, als wären sie betrunken, hakten sich unter und wankten den Bürgersteig entlang. Die Polizisten schöpften keinen Verdacht und fuhren weiter. »Wenn nicht bald etwas geschieht, gehe ich nach Hause«, drohte Carl Meli. »Wie stellt Jerry sich das vor? Er schickt uns hierher und läßt uns dann hängen.« Jack Sither blickte auf die Uhr. »Ich fahre«, entschied er. »Jerry hätte sich schon vor einer Stunde einschalten sollen. Das Risiko wird mir zu groß.« Auch Paul Cranthow hatte nichts dagegen einzuwenden, den Plan fallen zu lassen. Schon wandten sich die drei Komplicen von der National Gallery ab, als jeder von ihnen in seinen Gedanken eine bekannte Stimme hörte. »Jerry ist bei uns«, stellte Carl Meli erleichtert fest. »Er will uns führen.« »Das brauchst du uns nicht zu sagen«, fuhr Paul Cranthow ihn ner* vös an. »Wir alle hören ihn. Los, worauf wartet ihr noch?« Beinahe wäre der Einbruch in die � Sie gingen zu einem Seitenein-
»Nein, keine Sorge, es ist alles in Ordnung«, beruhigte Rick seine Freundin. »Ich überlege nur, ob ich einen Fehler mache.« Er erklärte ihr sein Problem. »Wahrscheinlich bilde ich es mir nur ein, wie Hempshaw schon sagte«, meinte er abschließend. »Ich werde jetzt Schlafengehen. Hoffentlich verläuft die Nacht ruhig.« »Schlaf gut, Darling«, wünschte ihm Hazel. »Ich werde an dich denken.« »Du wirst nicht an mich denken, sondern schlafen«, antwortete er leise lachend. »Vergiß aber nicht, daß ich dich liebe!« »Bestimmt nicht«, erwiderte sie und legte auf. Rick widerstand der Versuchung, aufzubleiben und weiter nachzugrübeln. Er hätte jetzt nichts mehr herausgefunden. Entweder fiel es ihm von allein ein, oder er kam nie dahinter. Doch als er sich in sein Bett legte, war er davon überzeugt, einen wichtigen Hinweis übersehen zu haben. Mochte Chefinspektor Hempshaw auch noch so oft behaupten, dieses Gefühl wäre normal! Er hatte einen Teil der Höllenfährte übersehen, und das trieb ihn an den Rand des Wahnsinns!
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gang, zu dem sie die lautlose Stimme ihres Chefs dirigierte, und brachen die Tür auf. An diesem Eingang gab es kein Alarmsystem. Gleich darauf fanden sie den Hauptschalter. Galgen-Jerry zeigte ihnen auf telepathischem Weg, wie sie ihn betätigen mußten, um den Alarm zum Erlöschen zu bringen, ohne daß es jemand merkte. Auch die Wächter des Museums hatten keine Ahnung, was sich unter ihren Augen abspielte. Die drei Eindringlinge wichen den Nachtwächtern geschickt aus, noch bevor sie einander begegneten. Auch hier führte Jerry Hall seine Leute von Ferne. Sie brauchten sich nur an seine Anweisungen zu halten und rechtzeitig in einem Versteck verschwinden, den Wächter auf seinem Rundgang vorbei zu lassen und danach weiter auf ihr Ziel loszusteuern. Endlich hatten sie die Statue erreicht, die Jerry Hall so ungenau beschrieben hatte. »Sieht wirklich aus wie eine Kugel mit einem Loch in der Mitte«, meinte Jack Sither. »Warum hat Jerry dann von einer Statue gesprochen?« fragte Carl Meli unschlüssig. »Ist doch gleichgültig!« zischte Paul Cranthow. »Los, das ist die richtige Figur. Wir nehmen sie und verschwinden, bevor etwas schief läuft.«
Er packte die schwarze Steinkugel, zuckte kurz zusammen und blickte verstört auf das Loch in der Mitte. »Was ist denn?« flüsterte Jack Sither. »Keine Ahnung«, antwortete Jack leise. »Für einen Moment hatte ich den Eindruck, daß das Ding lebt!« »Du bist verrückt«, behauptete Carl Meli. »Los, weg hier! Jerry wird uns hoffentlich auch zurückführen.« Ihr Auftraggeber ließ sie nicht im Stich. Er zeigte ihnen den sichersten Weg aus dem Museum, so daß sie ohne Schwierigkeiten ihren Wagen erreichten. »Das ist die verrückteste Sache, die ich je erlebt habe«, sagte Paul Cranthow, der die schwarze Steinkugel auf seinem Schoß hielt, während Carl Meli fuhr. »Da spazieren wir in die schärfstens bewachte National Gallery hinein, als wäre sie ein öffentlicher Bahnhof. Und was klauen wir? Ein wertvolles Gemälde? Eine wertvolle Statue? Nein, eine Steinkugel mit einem Loch!« »Jerry weiß, was er tut«, behauptete Jack Sither. Niemand antwortete ihm. In dem Auto breitete sich eine lähmende Stille aus. Keiner der drei Einbrecher kam dahinter, daß sie von der Steinkugel ausging, die sie für wertlos hielten. Eine Stunde später waren sie wieder in Brixton vor Mrs. Fintons Pen50 �
sion. Sie brauchten nicht zu klingeln. Jerry Hall kam ihnen an der Tür entgegen und ließ sie schweigend eintreten. Seine Augen leuchteten auf, als er die Kugel erblickte. »Legt sie da auf den Tisch«, befahl er, als sie in seinem Zimmer angekommen waren. Paul Cranthow schien froh zu sein, das seltsame Ding los zu werden. »Was ist…«, setzte Carl Meli an. Galgen-Jerry winkte heftig ab. Daraufhin wagten sie nicht mehr, ihn zu stören. Seine Augen waren auf die rätselhafte Steinkugel gerichtet. Und während er den geraubten Gegenstand betrachtete, zweifelten seine Freunde an ihrem Verstand. Aus der Öffnung wuchs eine Gestalt, winzig klein zuerst, doch rasch größer werdend. Die Kugel wurde zu einem Sockel, auf dem eine schwarze Satansfigur stand! * In dieser Nacht schlief Rick Masters besonders schlecht. Immer, wenn er einen neuen Fall bearbeitete, rechnete er unentwegt mit einem Anschlag. Er machte sich nicht selbst verrückt, aber er war lieber auf drohende Gefahren vorbereitet. Traten sie dann ein, konnte er schneller reagieren. In dieser Nacht war er fast sicher,
daß es zu einem Angriff kommen würde. Dracula hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, im Bett seines Herrn zu schlafen. Der Hund tat es aus Bequemlichkeit. Rick hatte es ganz gern, weil er auf diese Weise rascher von Dracula gewarnt wurde. So war es auch diesmal. Als Dracula ein leises Winseln ausstieß, hörte Rick es sofort. Der Hund lag direkt neben seinem Kopf. Mit einem Satz war der Geisterdetektiv aus dem Bett. Auf der anderen Seite sprang Dracula auf den Boden und floh in die Küche. Er verkroch sich nicht unter dem Bett! Für Rick war das ein weiterer Beweis, daß ein Anschlag gegen ihn geplant war. Und dieser Anschlag richtete sich auf das Bett, wo der Attentäter den Geisterdetektiv vermutete. Dracula hatte wieder einmal seinen feinen Instinkt bewiesen, als Sekunden später etwas Schwarzes, Unförmiges an der Zimmerdecke auftauchte und auf das Bett niedersauste. Rick kauerte zu diesem Zeitpunkt bereits neben seinem Schreibtisch im angrenzenden Arbeitszimmer. Er duckte sich, starrte aber in das Schlafzimmer hinüber. Das schwarze, riesengroße Ding sauste mit unvorstellbarer Wucht auf das Bett nieder. Es krachte und 51 �
donnerte. Der Fußboden zitterte. Das Bett wurde unter der herunterstürzenden Masse förmlich begraben und zermalmt! Hätte Rick noch auf dem Bett gelegen, wäre es aus gewesen! Die Augen des Geisterdetektivs weiteten sich, als er erkannte, was sein Bett getroffen hatte. Es war eine Hand, die genauso groß wie das ganze Bett war! Eine Hand, die von kurzem schwarzem Fell bedeckt war! Die Finger, jeder einzelne so dick wie ein Mann, liefen in gekrümmten Krallen aus, die sich in die Matratze bohrten. Die Finger umspannten die zertrümmerten Überreste des Bettes und ballten sich zur Faust. Es krachte und knirschte noch einmal. Was von dem Bett heil gewesen war, barst unter dem fürchterlichen Druck. Die Hand zog sich zurück, schwebte zur Decke hinauf und löste sich wieder auf. Rick stand der kalte Angstschweiß auf der Stirn. Ein Mächtiger hatte in sein Schlafzimmer herein gegriffen und ihm gezeigt, wie leicht er zu treffen war. Hätte Dracula ihn nicht gewarnt, wäre er von dieser Pranke zermalmt worden. Keuchend stemmte sich der Geisterdetektiv auf die Beine und betrachtete die Trümmer, die von seinem Bett übrig waren. Dracula kam aus der Küche und
lief zu seinem Herrn, der ihn auf den Arm nahm. Rick Masters konnte wirklich behaupten, daß der kleine Hund sein bester Freund war. So oft wie Dracula hatte ihm niemand das Leben gerettet! »Und wo sollen wir beide jetzt schlafen?« fragte Rick mit Galgenhumor. »Wird schwierig. Bleibt nur das Sofa!« Es war bequem. Rick hatte schon oft darauf geschlafen, wenn er nach einem Einsatz zu müde gewesen war, um in sein Bett zu gehen. Trotzdem konnte er in dieser Nacht kaum ein Auge schließen. Zu deutlich saß der Anblick der Satanshand in seinem Gedächtnis! Dracula lag neben seinem Herrn auf dem Sofa, um ihn jederzeit warnen zu können. Und die Silberkugel behielt Rick gleich in der Hand. Nicht einmal im tiefsten Schlaf ließ er jene Waffe los, die seine Lebensversicherung darstellte. Er hatte den Magier Eddy Sinorsky ausgeschaltet und gedacht, damit die größte Gefahr beseitigt zu haben. Doch Jerry Hall, der hinter dem Anschlag stecken mußte, war offenbar noch gefährlicher als sein Lehrmeister. Rick zerbrach sich vergeblich den Kopf, woher die Satanshand gekommen war. Wieder ein Geheimnis mehr, dem er vorläufig nicht auf die Spur kam. Die Lage spitzte sich zu! 52 �
* »Was ist das?« fragte Paul Cranthow keuchend. Er und seine Freunde konnten sich dem unglaublichen Anblick der beweglichen Satansfigur nicht entziehen. Sie hatten kaum begriffen, daß sie aus der unscheinbaren Kugel gewachsen war, als die Figur wild um sich zu schlagen begann. Sie hatte nun ungefähr die Länge eines Männerarmes erreicht. Die Fratze war von widerlicher Häßlichkeit. Die glühenden Augen in dem verzerrten Gesicht waren abstoßend. Der ganze Körper verschwand unter zotteligen schwarzen Pelz. Die Pranken mit den messerscharfen Krallen hoben sich zu einem gewaltigen Schlag. Die rechte Hand sauste nieder. Der Raum wurde von schmetterndem Krachen erfüllt, von Splittern und Bersten. Die drei Komplicen hielten sich die Ohren zu. Nur Jerry Hall ertrug alles mit unerschütterlicher Gelassenheit. Cranthow, Meli und Sither sahen, wie sich die Finger der Satanspranke zusammenzogen, als wollten sie etwas zerdrücken. Im nächsten Moment ging ein enttäuschtes Aufstöhnen durch den Raum. Die Statue erstarrte, als wäre sie genau wie der Sockel aus Stein. Galgen-Jerry stieß einen lästerli-
chen Fluch aus. »Er hat es auch nicht geschafft!« schrie er. »Dieser Rick Masters hat unglaubliches Glück!« »Galt der Schlag etwa dem Geisterdetektiv?« fragte Paul erstaunt. »Die Statue hat sich nicht aus diesem Raum entfernt.« »Lieber Himmel«, murmelte Jerry Hall gereizt. »Versteht ihr noch immer nicht, über welche Fähigkeiten diese Figur verfügt? Man hat sie bisher für ein Kunstwerk gehalten. Versteht ihr? Moderne Kunst! Aber Sinorsky hat mich über den wahren Hintergrund aufgeklärt. Es handelt sich um eines der großen Werke Schwarzer Magie!« Carl Meli und Jack Sither wechselten einen raschen Blick. »Es wird Zeit, daß wir nach Hause fahren, Jerry«, meinte Carl. »Wenn wir uns nicht in unserer gewohnten Umgebung zeigen, wird man mißtrauische Fragen stellen. Und das willst du bestimmt nicht.« »Nein, natürlich nicht«, sagte Jerry Hall mit einem Unterton, der seinen Freunden gar nicht gefiel. »Wir gehen jetzt«, sagte auch Paul Cranthow. »Wir rufen dich an. Oder meldest du dich bei uns?« Jerry Hall schüttelte den Kopf. »Schade, daß ihr wirklich nichts versteht«, murmelte er. »Ihr habt alles gesehen.« »Ja, sicher«, sagte Paul Cranthow nervös. »Wir haben für dich diese 53 �
Statue aus dem Museum geholt. Wir haben uns für dich in Gefahr begeben, vergiß das nicht.« »Warum sollten wir nicht Bescheid wissen?« fragte auch Carl Meli. »Ja, warum nicht?« antwortete Jerry Hall. »Ich werde es euch sagen. Weil niemand wissen darf, daß ich diese Statue besitze.« »Wir sprechen doch nicht darüber«, versicherte Jack. »Bestimmt nicht«, sagte Jerry Hall mit einem breiten Lächeln. »Ganz bestimmt nicht! Ich werde nämlich kein Risiko eingehen. Und ihr seid ein Risiko, das wißt ihr.« Sie wichen entsetzt vor ihm zurück. Alle drei redeten gleichzeitig auf ihren ehemaligen Anführer und Freund ein, doch Jerry Hall hörte gar nicht zu. Er brauchte selbst nichts zu tun. Die Satansstatue erwachte von sich aus zu ihrem magischen Leben. Die Hände des Unheimlichen teilten in der Luft Schläge aus. Seine Finger krampften sich um unsichtbare Gegner. Die Reichweite der Statue kam nicht an die drei Komplicen heran, und doch wurden sie von jedem in der Luft ausgeführten Schlag getroffen. Ihre Schreie waren im ganzen Haus zu hören und versetzten die Frauen in Todesangst. Erst jetzt erkannten Paul, Carl und Jack, wie hinterhältig Jerry Hall an
ihnen handelte. Sie hatten ihm das Werkzeug besorgt, mit dem er sie jetzt tötete! Und er stand daneben und sah nur zu, ohne ihnen zu helfen! Es dauerte eine Minute, dann war alles vorbei. Ohne die geringste Anteilnahme blickte Jerry Hall auf die drei Toten. »Sie müssen hier weg«, sagte er nur. »Schaff sie mir vom Hals!« Ohne daß sich die Satansstatue bewegte, erfüllte sie den Befehl. Um die drei Toten bildete sich dichter Nebel. Als er sich Sekunden später verzog, waren die Leichen verschwunden. Jerry Hall fragte nicht, wo sie geblieben waren. Es interessierte ihn nicht, mochten diese Männer früher auch seine besten Freunde gewesen sein. In seinem neuen Leben brauchte er keine Freunde mehr. Er hatte einen übermächtigen Verbündeten. Das genügte ihm. Mit Rick Masters war er in dieser Nacht nicht fertig geworden. Das bedauerte er. Aber er hatte sich seiner Komplicen entledigt, und somit hatte die Satansfigur ihre Fähigkeiten bewiesen. Jerry Hall konnte von sich mit Recht behaupten, daß er von Eddy Sinorskys Geist richtig geführt worden war. Bisher waren alle Ratschläge richtig gewesen, die ihm der sterbende Magier in der Zelle 54 �
gegeben hatte. Nur Rick Masters hatte Sinorsky nicht erwähnt, und das machte Galgen-Jerry Sorge. Wieso hatte der Magier einen so wichtigen und gefährlichen Gegner vergessen? Je länger Jerry Hall über den Geisterdetektiv nachdachte, desto wütender wurde er. In dieser Nacht hatte er nur eines seiner Opfer getötet, nämlich Richter Pendergast. Damit war seine Rache noch lange nicht erfüllt. Elf weitere Todeskandidaten standen auf seiner Liste. Rick Masters hatte durch sein Auftauchen verhindert, daß diese Liste geschrumpft war. Jerry Hall nahm sich vor, an diesem Tag alles zu erledigen, damit er sich neuen Aufgaben widmen konnte. Zuerst mußte der Geisterdetektiv Rick Masters sterben. Danach kamen die übrigen an die Reihe. Einer nach dem anderen! Sie sollten voneinander erfahren, wenn es wieder einen der Ihren erwischt hatte. Das erhöhte Jerry Halls Rache und verstärkte die Buße, die sie tun sollten! Mit einem letzten Blick auf die Satansstatue ließ sich Jerry Hall auf sein Bett sinken. Er mußte wenigstens ein paar Stunden ruhen, um für seine Aufgabe frisch zu sein. Er durfte sich nämlich keinen Fehler mehr erlauben, sonst wurde der
Geisterdetektiv zu gefährlich! Von Eddy Sinorsky wußte Jerry Hall, daß die bösen Mächte ihre Anhänger zwar unterstütze, sie aber für Versagen auch bestrafte. Und er schauderte bei dem Gedanken, dieses Schicksal könne ihn ereilen! Es wäre auch für ihn schlimmer als jede andere Strafe gewesen… * Am frühen Morgen wurde Rick Masters durch das Telefon aus leichtem Schlummer gerissen. Er war sofort hellwach und fühlte sich, als habe er die ganze Nacht überhaupt kein Auge zugetan. »Hallo, Rick!« erklang am anderen Ende der Leitung die heisere Stimme des Chefinspektors. »Sie scheinen auch nicht gerade munter zu sein«, stellte Rick fest. »Wie geht es Ihnen, Kenneth?« »Ganz gut«, erwiderte Hempshaw. »Es war eine ruhige Nacht nach dem Mord an Richter Pendergast.« »So, eine ruhige Nacht«, erwiderte Rick. »Dann kommen Sie doch zu mir! Ich koche uns starken Kaffee.« »Ich trinke lieber Tee!« »Kenneth, Sie werden eine Tasse Kaffee brauchen«, sagte der Geisterdetektiv und legte auf. Nach einer ausgiebigen Dusche fühlte er sich besser, und der Kaffee war kaum fertig, als Chefinspektor Hempshaw eintraf. 55 �
»Sie machten am Telefon so merkwürdige Andeutungen«, sagte er schon an der Tür. »Hat sich bei Ihnen etwas ereignet?« »Das kann man wohl sagen!« Rick deutete auf sein Schlafzimmer. »Sehen Sie es sich selbst an!« Hempshaw trat über die Schwelle und blieb fassungslos stehen. »Das war aber eine wilde Nacht, würde ich sagen«, bemerkte er trocken, als er sich von dem ersten erholte. »Was ist Schreck geschehen?« Rick schilderte das Auftauchen der schauerlichen Satanspranke. »Sie kam aus dem Nichts, genau wie die Henkersschlinge, in der Richter Pendergast starb. Ich glaube, wir brauchen nicht lange zu suchen, um den Schuldigen zu kennen.« »Aber wir finden ihn nicht«, sagte der Chefinspektor. »Jetzt müssen Sie sich vermutlich ein neues Bett kaufen.« »Ja, sieht ganz so aus.« Rick Masters servierte den Kaffee. »Trinken Sie«, forderte er den Inspektor auf. »Sie müssen wach und auf der Hut sein.« »Sie auch«, konterte der Chefinspektor und setzte sich. Dabei warf er einen mißtrauischen Blick zu Dracula, der jede seiner Bewegungen genau verfolgte, jedoch von sich aus nichts unternahm. Rick Masters gab noch einmal einen genauen Bericht.
»Brixton, sagten Sie?« Hempshaw zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, ob es etwas damit zu tun hat, aber im Stadtteil Brixton wird ein Polizist vermißt. Er scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.« »Wo?« erkundigte sich der Geisterdetektiv. »Das kann ich Ihnen nicht auswendig sagen, Rick. Aber ich frage in meinem Büro nach. Myers soll in den Unterlagen nachsehen.« »Fragen Sie den Sergeanten auch«, rief Rick seinem Freund hinterher, »ob der Polizist während seines Dienstes verschwand oder privat!« Hempshaw rief im Yard an und kam mit der Auskunft wieder. »Der genaue Punkt des Verschwindens ist unbekannt, aber der Constable befand sich auf einem Rundgang, Rick. Was interessiert Sie daran so sehr?« Rick zuckte die Schultern. »Sie wissen, daß ich mich um alles kümmere, was aus der Reihe fällt und in einem Zusammenhang mit meinem Fall stehen könnte. Bitte, lassen Sie die genaue Route des verschwundenen Constables feststellen.« Hempshaw rief noch einmal im Yard an und erhielt zwanzig Minuten später die Antwort. »Mich interessiert nur«, sagte Rick, als Hempshaw ihm einen Notizzettel übergeben wollte, »ob der Constable an der Pension der Mrs. Finton vorbei kam.« 56 �
Rick nannte die Adresse, und Hempshaw überflog seine Notizen. »Ja, der Rundgang führt jeden Abend an der Pension vorbei«, erklärte Hempshaw. Daraufhin verfiel Rick in Grübeln. Hempshaw störte ihn nicht dabei. »Ich habe mit den beiden Frauen gesprochen«, murmelte der Geisterdetektiv. »Sie benahmen sich völlig unbefangen.« »Glauben Sie denn an einen Zusammenhang zwischen dem verschwundenen Polizisten, dieser Familienpension und Jerry Hall?« fragte der Chefinspektor erstaunt. »Ich weiß es nicht«, antwortete der Geisterdetektiv aufrichtig. »Aber angenommen, es ist der Fall, dann konnten Mrs. Finton und ihre Tochter nicht frei sprechen. Sie hätten mir sonst bestimmt einen Tip gegeben. Angenommen, Jerry Hall hält sich in dieser Pension versteckt. Dann stehen sie in seiner Macht.« »Das erscheint mir weit hergeholt zu sein«, wandte Hempshaw zweifelnd ein. »Mir nicht! Je länger ich mich mit dem Gedanken beschäftige, desto wahrscheinlicher kommt er mir vor. Kenneth! Sinorsky hat sich immer in der Pension verkrochen. Sie war eine perfekte Tarnung. Sinorsky hat Hall in alle magischen Geheimnisse eingeweiht. Warum sollte er Hall nicht auch zu der Pension geschickt haben? Entweder hat er Hall direkt
die Adresse genannt, oder er hat es so eingerichtet, daß Hall dort landete. Vergessen Sie nicht, daß Sinorsky noch nach seinem Tod aktiv blieb. Ich habe ihn erst mit der Silberkugel in seinem Grab gebannt.« »Nun gut, angenommen, Sie haben recht«, gab der Chefinspektor zögernd zu. »Dann brauchen wir Hall doch nur aus der Pension herauszuholen.« »Langsam«, mahnte der Geisterdetektiv. »Wir haben inzwischen Halls Fähigkeiten kennengelernt. Wir dürfen die Besitzerinnen und die übrigen Gäste nicht gefährden. Wir müssen Hall alles zutrauen. Kein Risiko eingehen!« »Was soll ich denn tun?« rief der Chefinspektor erregt. »Elf Menschenleben stehen auf dem Spiel! Ich darf nicht tatenlos zusehen!« »Das sollen Sie auch nicht«, erwiderte der Detektiv. »Lassen Sie die Pension ganz unauffällig überwachen. Und melden Sie mir alles, was dort vorfällt.« »Einverstanden«, stimmte Hempshaw zu. »Außerdem brauche ich Informationen über alle ungewöhnlichen Vorfälle hier in London«, fuhr der Geisterdetektiv fort. »Sie wissen schon, was ich meine. Wir haben oft genug zusammengearbeitet.« Hempshaw nickte, überlegte eine Weile und rief noch einmal im Yard an. 57 �
»Letzte Nacht gab es in der National Gallery einen ungewöhnlichen Einbruch«, erklärte er. »Jemand schaltete die Alarmanlage aus, obwohl das angeblich gar nicht möglich ist, wenn die Wächter nicht mitmachen. Die Wächter haben aber nichts bemerkt.« »Und was wurde gestohlen?« fragte Rick ohne besonderes Interesse. »Ein Kunstwerk«, sagte Hempshaw mit leichtem Spott. »Eine schwarze Steinkugel mit einem Loch in der Mitte. Sie war eine Leihgabe eines osteuropäischen Museums und nannte sich ›Die schwarze Fährte‹.« Rick zuckte zusammen. »Die schwarze Fährte!« wiederholte er. »Das erinnert mich an die Satansfährte! Welchen Wert besitzt diese schwarze Kugel?« Hempshaw zuckte die Schultern. »Meines Wissens nach gar keinen! In dem Saal stehen und hängen viel wertvollere Dinge.« Rick verzichtete darauf, selbst in das Museum zu fahren. Er vertraute den Polizisten. Sie hatten bestimmt alle vorhandenen Spuren gesichert. Es gab nichts, das auf den oder die Täter hingewiesen hätte. »Lassen Sie die Pension hermetisch abriegeln und überprüfen Sie alles«, meinte der Geisterdetektiv noch einmal, ehe er sich auf den Weg machte und den Chefinspektor nach unten
begleitete. »Aber sorgen Sie dafür, daß niemand in der Pension merkt, was sich auf der Straße abspielt.« »Schon gut, wir sind keine Anfänger«, sagte Hempshaw nervös. »Und was machen Sie?« »Ich suche nach Jerry Halls Freunden Cranthow, Meli und Sither«, erwiderte der Geisterdetektiv. »Und wenn möglich, möchte ich mich mit Hazel zum Mittagessen treffen.« »Sie sind ein unverbesserlicher Optimist«, meinte Hempshaw grinsend. »Ich wünsche Ihnen viel Glück!« Rick nickte, ließ Dracula auf den Nebensitz des Morgan springen und setzte sich an das Steuer. Er fuhr nach Soho, wo Hall und seine Freunde früher ihr Versteck gehabt hatten. In den Pubs und Bars von Soho mußte man die vier kennen. Rick hatte auch hier einige Informanten aus früheren Zeiten, die sich noch gut an ihn erinnerten und ihm gern halfen. Innerhalb von drei Stunden fand er heraus, daß Cranthow, Meli und Sither am Vortag einen Anruf erhalten hatten und danach verschwunden waren. Seither hatte sie niemand mehr gesehen. Schon wollte Rick seine Suche aufgeben, als sich das Funkgerät in seinem Morgan meldete. Chefinspektor Hempshaw wollte 58 �
ihn sprechen. »Wir haben Halls Freunde gefunden«, sagte Hempshaw knapp. »Sie sind tot!« * Morgens betrat Patricia Finton mit dem Frühstück das Zimmer der alten Mrs. Chappers. Trotz der Gefangenschaft und der Morddrohung mußte das Leben weitergehen, so lange das überhaupt möglich war. Da Madge Finton nicht mehr in der Lage war, etwas zu unternehmen, blieb alles an ihrer Tochter hängen. Patty war stark genug, um trotz der angespannten Lage die Nerven zu behalten. Doch als sie in das Zimmer kam und Mrs. Chappers wie tot auf dem Bett lag, verlor sie die Nerven. »Bestie!« schrie sie gellend durch das ganze Haus. »Diese Bestie!« Sie rannte die Treppe hinunter und stürzte sich auf die Tür zu Jerry Halls Zimmer, hämmerte mit beiden Fäusten dagegen und schrie so lange, bis Hall öffnete. »Was haben Sie mit Mrs. Chappers gemacht?« schrie Patricia Finton. Der Anblick des Magiers ernüchterte sie. Langsam wich sie vor ihm zurück, weil ihr die eigene Hilflosigkeit klar wurde. »Warum haben Sie diese harmlose alte Frau umgebracht? Sie konnte Ihnen gar nichts
tun!« »Ich habe sie nicht umgebracht«, erwiderte Hall gereizt. »Ich habe nur die anderen Bewohner dieses Hauses in Tiefschlaf versetzt, weil ich sie nicht brauche. Ich möchte nicht ständig auf sie aufpassen. Sie und Ihre Mutter brauche ich, damit nach außen der Schein gewahrt wird!« »Wieso liegt Mrs. Chappers dann tot in ihrem Bett?« kreischte Patricia Finton. »Sie ist nicht tot, sie liegt wie die anderen in Tiefschlaf.« Jerry Hall winkte ärgerlich ab. »Ich will mich nicht mit Ihnen so lange aufhalten. Lassen Sie mich in Ruhe!« Als er in sein Zimmer zurückkehrte, sah Patricia Finton für einen Moment auf dem Tisch eine schwarze Kugel, auf der eine Statue stand. Dann schlug die Tür zu. Das Telefon klingelte. Patricia Finton hatte schon versucht, telefonisch Hilfe zu holen. Es hatte jedoch nicht geklappt. Wenn sie abhob, war die Leitung tot. Doch nun schöpfte sie neue Hoffnung, lief an den Apparat und riß den Hörer an ihr Ohr. »Hier Patricia Finton!« rief sie. Doch als sie fortfahren und den Anrufer auf ihre lebensgefährliche Lage aufmerksam machen wollte, versagte ihr die Stimme. »Miss Finton«, sagte ein Mann, der ihr bekannt vorkam. »Kann ich etwas für Sie tun?« 59 �
»Dazu müßte ich wissen, wer Sie sind«, antwortete sie mit unbeschwert klingender Stimme. »Sie haben Ihren Namen noch nicht genannt.« »Ich hatte in der Vergangenheit schon mit Ihnen zu tun«, erwiderte der Anrufer. »Können Sie sich nicht erinnern?« »Nein«, antwortete sie, besann sich jedoch. »Aber natürlich! Sie waren schon hier!« Patricia Finton konnte den Namen nicht aussprechen. Eine innere Sperre hinderte sie daran. Aber sie wußte jetzt, daß Rick Masters, der Privatdetektiv, mit ihr telefonierte. Hatte er vielleicht Verdacht geschöpft und versuchte, ihr zu helfen? »Also, Miss Finton, was kann ich tun?« fragte Rick Masters. »Sie brauchen es nur zu sagen.« »Ich… ich…!« Patricia Finton bemühte sich, die Worte zu formen, doch die Stimme wollte ihr einfach nicht gehorchen. So sehr sie sich auch anstrengte, sie brachte keinen vollständigen Satz hervor. Plötzlich hatte sie das Gefühl, jemand würde ihr helfen. Alles fiel ihr leichter. Sie brauchte sich nicht mehr so zu quälen, sondern konnte wenigstens flüstern. »Es ist alles in Ordnung, Mr. Masters«, sagte sie. »Sie haben unseren neuen Gast noch nicht kennengelernt?«
»Nein, aber ich interessiere mich sehr für ihn«, antwortete der Geisterdetektiv. »Können Sie mich besuchen?« »Ausgeschlossen«, antwortete sie. »Ich kann nicht aus dem Haus. Es gibt zu viel Arbeit.« »Dann könnte ich zu Ihnen kommen«, schlug Rick vor. »Ich habe keine Zeit«, erwiderte sie und gab dem Detektiv damit zu verstehen, wie gefährlich sein Besuch wäre. »Ich verstehe.« Rick Masters überlegte. »Hatte Ihr Gast drei Besucher?« »Ja«, bestätigte sie. »Ganz reizende Gentlemen, wie meine Mutter sagen würde.« Hinter Patricia Finton öffnete sich eine Tür. Sie drehte sich langsam um und maß Jerry Hall mit einem kalten Blick. Er wußte nicht, daß sie auf rätselhafte Weise wenigstens teilweise von dem Bann befreit war, nur in seinem Sinn zu sprechen. Er blickte sie forschend an, schöpfte jedoch keinen Verdacht. »Ich habe noch eine Frage«, sagte Rick Masters. »War gestern ein Constable bei Ihnen?« »Ja, wie immer«, antwortete sie unverfänglich. Hall mußte glauben, daß sie in seinem Sinn sprach! »Und wurde er festgehalten?« fuhr der Geisterdetektiv gespannt fort. »Nein, er hat uns wieder verlassen!« 60 �
»Verlassen? Er ist weggegangen?« »Aber nein, ich weiß nichts!« »Sie wissen etwas, können es aber nicht sagen?« »Ja, das ist richtig«, erklärte Patricia Finton und sah besorgt zu Jerry Hall. Noch stand er in seiner Tür und musterte sie aufmerksam, aber das konnte sich jeden Moment ändern. »Sollte er tot sein?« sprach Rick Masters aus, was sie ihm zu verstehen gab. »Ja, genau«, erklärte sie hastig. »Der Constable war auf seinem Rundgang hier, verließ uns jedoch wieder. Kann ich jetzt auflegen? Ich habe noch sehr viel Arbeit.« »Ich melde mich wieder bei Ihnen«, versprach Rick Masters. »Ich werde Ihnen helfen. Haben Sie Geduld.« »Vielen Dank für den Anruf«, erwiderte Patricia Finton, legte den Hörer auf und wirbelte zu Jerry Hall herum. Sie brauchte die Wut und die Empörung gar nicht zu spielen. Bei seinem Anblick verlor sie erneut die Beherrschung. »Sie sind Satan in Person!« schrie sie ihn an. »Gestern abend haben Sie den Polizisten ermordet! Heute lassen Sie unsere Gäste in einen todesähnlichen Schlaf verfallen! Und mich zwingen Sie, nur harmlose Antworten zu geben!« »Wer war das?« fragte Jerry Hall
ungerührt. »Das haben Sie doch gehört!« schrie sie. »Das Polizeirevier! Der Constable wird vermißt!« Hall nickte. »Gut«, sagte er nur und kehrte in sein Zimmer zurück. Diesmal achtete Patricia Finton auf die Statue auf seinem Tisch. Sie erblickte jedoch nur die schwarze Kugel. Die Statue selbst war verschwunden. Nachdenklich betrachtete sie das Telefon. Sie hatte keine Ahnung, wie es der Detektiv angestellt hatte, mit ihr zu sprechen und ihr normale Antworten zu ermöglichen. Sie schöpfte jedoch neue Hoffnung. Als sie in die Küche trat, saß ihre Mutter schluchzend am Tisch. Mrs. Finton konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Patricia setzte sich zu ihr und versuchte, sie zu trösten. Es gelang ihr jedoch nicht, und sie mußte mit sich kämpfen, um ihrer Mutter nicht die Wahrheit zu sagen. Das wagte sie jedoch nicht aus Angst, ihre Mutter könne sich verraten. So blieb ihr nichts anderes übrig, als ihrer Mutter heimlich ein Beruhigungsmittel in einem Glas Fruchtsaft zu geben und auf Rick Masters zu hoffen. * Chefinspektor Hempshaw stand � dicht am Wasser der Themse und � 61 �
blickte Rick wütend entgegen. »Wo bleiben Sie denn so lange?« rief er dem Geisterdetektiv zu. »Ich sagte Ihnen am Telefon, daß ich Ihre Hilfe brauche! Die ganze Mordkommission muß auf Sie warten! Sie sollen sich die Toten zuerst ansehen, damit wir keine wichtigen Spuren zerstören.« Rick ließ sich durch den Ausbruch seines Freundes nicht erschüttern. Statt dessen betrachtete er Dracula, der knurrend auf Hempshaw zulief. »Rufen Sie sofort den Hund zurück!« verlangte Hempshaw. »Aber nein, warten Sie«, entgegnete Rick. »Sie sollen ihn…!« schrie Hempshaw, verstummte jedoch, als Dracula von selbst stehenblieb, die Nackenhaare aufstelle, knurrte und den Schwanz einzog. Winselnd lief er zu Rick zurück. »Gut gemacht«, lobte Rick seinen Hund. »Ich habe ihn verjagt!« behauptete der Chefinspektor. »Zum ersten Mal ist es mir gelungen!« »Ich muß Sie enttäuschen«, antwortete Rick und ging auf das Ufer zu. »Nicht Sie haben ihn verjagt, sondern die Ausstrahlung der Leichen. Ich hielt Dracula nicht zurück, weil ich die Wirkung der Toten auf ihn prüfen wollte. Diese Männer wurden also durch Magie getötet.« Er blieb vor den drei Leichen stehen und blickte prüfend auf sie hin-
unter. Es regnete seit einer halben Stunde. Ganz plötzlich hatte sich der Himmel über London eingetrübt. Auf der Themse krochen Nebelschleier dahin. Am hellen Tag wurde es dunkel wie am späten Nachmittag. Auf der Themse tuteten die Schlepper. Man konnte die Tower Bridge durch den Nebel wie einen Schattenriß erkennen. »Wo waren Sie denn so lange?« fragte Hempshaw. »Warum ließen Sie uns warten, Rick?« »Ich war schon auf dem Weg zu Ihnen«, erklärte der Geisterdetektiv, während er die Toten untersuchte. »Plötzlich hatte ich eine Idee. Ich sagte doch, daß Mrs. Finton und ihre Tochter einen normalen Eindruck machten, als ich sie besuchte. Sie erwähnten mir gegenüber keine Gefahr. Sie wirkten auch nicht verstört.« »Ja, ich weiß«, murmelte der Chefinspektor ungeduldig. »Falls Jerry Hall bei ihnen ist, müssen sie unter einem magischen Bann stehen, damit sie den Magier nicht verraten. Weiter!« »Ich wollte versuchen, den Frauen zu helfen«, erläuterte der Geisterdetektiv. »Also rief ich an.« »Wenn Mrs. Finton und Tochter bei einem persönlichen Besuch schon kein Zeichen geben können, ist das am Telefon erst recht unmög62 �
lich«, behauptete Hempshaw. »Richtig«, bestätigte Rick Masters. »Anfangs sprach Miss Finton auch so, als wäre nichts. Doch dann hielt ich meine Silberkugel an den Hörer.« »Wohin?« fragte Hempshaw entgeistert. »An den Hörer? Wollten Sie die Kräfte der Kugel per Telefon übertragen?« »Ich versuchte es wenigstens«, erwiderte Rick. »Sehen Sie, ich habe diese Kugel noch nicht völlig erforscht. Sie überrascht mich immer von neuem. Auch diesmal! Plötzlich konnte Patricia Finton wenigstens Andeutungen machen. Ich stellte gezielte Fragen und erfuhr, daß Jerry Hall in der Pension ist. Er hat den Constable ermordet, der in Brixton vermißt wird!« Hempshaws Augenbrauen zogen sich zusammen, bis sie einen durchgehenden dicken Strich bildeten. »Und da sollen wir noch abwarten?« fragte er grollend. »Das verlangen Sie sicher nicht von mir, Rick! Ich muß handeln!« »Sie müssen abwarten«, erwiderte Rick so entschlossen, daß der Chefinspektor einen Schritt zurückprallte. »Oder wollen Sie die Frauen in Gefahr bringen?« »Nein, aber meine Pflicht…«, wandte Hempshaw ein. »Ihre Pflicht ist es, Menschenleben zu schonen«, sagte Rick Masters leise. »Wenn Sie jetzt in die Pension
der Mrs. Finton gehen, sterben einige Menschen! Und ich kann es nicht verhindern!« »Wozu haben Sie Ihre Waffen?« warf Hempshaw verzweifelt ein. »Schalten Sie Hall damit aus! Nehmen Sie ihm seine magischen Fähigkeiten!« »Das möchte ich auch tun«, versicherte Rick Masters. »Doch dazu muß ich meinen Gegner genauer kennen.« »Und wie wollen Sie ihm kennenlernen?« Hempshaws Stimme wurde schärfer als gewöhnlich. »Indem Sie diese Toten hier untersuchen?« »Sie selbst haben mich darum gebeten!« »Rick, tun Sie etwas, bevor der nächste Mord geschieht!« rief Hempshaw. »Sonst handle ich auf eigene Faust!« Rick Masters erhob sich. Er behielt seine Selbstbeherrschung. »Diese drei Männer sind durch Halls magische Fähigkeiten gestorben«, behauptete er. »Genau wie der Gefängnisdirektor. Keine äußeren Zeichen von Gewaltanwendung. Ich wette, daß der Obduktionsbefund nichts bringen wird.« Hempshaw ballte die Fäuste. »Ich möchte nicht wissen, was kein Ergebnis bringt!« fuhr er seinen Freund an. »Ich möchte wissen, wie ich ein Ergebnis erreiche! Und zwar ein günstiges!« »Ich muß Hall näher kennenler63 �
nen, ich muß mehr über dieses gestohlene Kunstwerk erfahren«, erwiderte Rick. »Wenn es etwas mit Magie zu tun hat, finde ich vielleicht in meiner Bibliothek einen Hinweis.« »Sie wollen nach Hause fahren und Bücher wälzen?« rief Hempshaw aus. »Das ist nicht Ihr Ernst!« »Doch, Kenneth«, behauptete der Geisterdetektiv. »Genau das werde ich tun!« Hempshaws düsterer Blick hing forschend an seinem Gesicht. Als der Chefinspektor merkte, daß Rick es tatsächlich ernst meinte, wandte er sich schweigend ab. Rick erkannte, daß er im Moment nicht mit seinem Freund sprechen konnte. Hempshaw wollte unbedingt handeln. Der Leichenfund an der Themse ließ ihm in seinen Augen keine andere Wahl mehr. »Seien Sie vorsichtig und zerstören Sie nichts, Kenneth«, sagte Rick, zum Abschied. Er kletterte die Uferböschung hinauf und warf noch einen letzten Blick auf die drei Toten hinunter. Sie hatten Jerry Hall unterstützt und waren schlecht belohnt worden. Ihnen konnte der Geisterdetektiv nicht mehr helfen. Aber er mußte versuchen, alle die zu retten, die von Jerry Hall mit dem Tod bedroht wurden. Eddy Sinorskys Geist hatte von der Höllenfährte gesprochen. Rick
mußte sie unterbrechen, um das Böse aufzuhalten. Nur so konnte er dem schrecklichen Treiben dieses Mannes ein Ende setzen. Er wußte nur noch nicht, wie er das tun sollte! Dabei saß ihm die Zeit im Nacken. Jede Minute zählte, und Rick hoffte nur, daß es keine Katastrophe gab, bevor er die Höllenfährte zerstört hatte. * Wenn Rick Masters nach Hause kam, hörte er zuerst den Anrufbeantworter ab. Diesmal waren sieben Gespräche eingegangen, alle von Hazel Kent. Sie wollte unbedingt wissen, ob Rick wieder zu Hause war. Rick rief sofort bei ihr an. »Du hättest dir das Geld für die Anrufe sparen können«, sagte er lachend. »Ich hätte mich sofort bei dir gemeldet, wenn ich früher nach Hause gekommen wäre.« »Ich wollte sichergehen«, erwiderte sie erleichtert. »Ich hatte solche Angst um dich.« »Aber warum denn?« sagte er beruhigend, »Gar kein Grund!« »Du bist gut!« fuhr sie auf. »Zwei Anschläge auf dich, und du siehst keinen Grund!« »Zwei Anschläge?« tat Rick erstaunt. »Du hast mir zwar nicht erzählt, was auf dem Friedhof bei dem Gefängnis passiert ist«, erwi64 �
derte Hazel, »aber ich lese Zeitung. Und heute steht in den Zeitungen, daß ein Friedhof in der Nähe des Gefängnisses auf rätselhafte Weise vernichtet wurde. Seltsam, nicht wahr?« »Ja, sehr seltsam«, erwiderte Rick. »Ich wollte mich eigentlich mit dir zum Mittagessen treffen, Darling.« »Aber du hast natürlich keine Zeit«, entgegnete Hazel. »Ich verstehe! Rick, sei vorsichtig! Ich habe diesmal ein ganz schlechtes Gefühl, als werde bald etwas passieren!« »Ich passe auf«, versicherte er wie schon so oft. »Ich melde mich wieder bei dir!« Hazel wollte das Gespräch nicht beenden, als könne sie Rick doch noch überreden, den Fall abzugeben. Rick verabschiedete sich jedoch von ihr und legte auf. Als er in seine Bibliothek ging, blieb er stehen und schlug sich an die Stirn. Er war dahintergekommen, daß sich Jerry Hall in der Pension versteckt hielt. Dabei hätte er schon letzte Nacht die Wahrheit erkennen müssen! Jetzt wußte er, was ihm solches Kopfzerbrechen bereitet hatte! Nach dem Besuch bei Mrs. Finton und ihrer Tochter hatte er das Gefühl gehabt, etwas zu übersehen. Er hatte auch etwas übersehen! Patricia Finton hatte gewußt, daß Eddy Sinorsky nicht mehr lebte. Aber woher hätte sie es erfahren sol-
len? Im Gefängnis hatte man nicht gewußt, daß Sinorsky gelegentlich in dieser Pension gewohnt hatte. Also waren Mrs. Finton und ihre Tochter nicht vom Gefängnis verständigt worden. Das könnte nur bedeuten, daß sie es von Jerry Hall erfahren hatten. Der Geisterdetektiv nahm sich vor, in Zukunft noch genauer auf solche Kleinigkeiten zu achten. Diesmal hatte er etwas Wichtiges übersehen. Es schadete nicht weiter, weil er auf andere Weise hinter das Geheimnis des hübschen alten Hauses gekommen war. Es hätte jedoch auch ganz anders kommen können! In seiner Bibliothek brauchte er nicht lange zu suchen. Er besaß wertvolle Bücher über Schwarze und Weiße Magie. Um diese Sammlung beneideten ihn viele Experten. Er hätte sie jedoch um keinen Preis der Welt verkauft. Er wählte ein Buch über Statuen der Schwarzen Magie aus, und der erste Griff wurde gleich ein Erfolg. Er fand die »schwarze Fährte«, wie sie die gestohlene Kugel nannte. Sie war vor ungefähr fünfzig Jahren von einem Magier hergestellt worden und galt seither bei Uneingeweihten als Kunstwerk. Ricks Augen weiteten sich überrascht, als er den Namen des Schöpfers der »schwarzen Fährte« las. Eddy Sinorsky! Alles hing zusammen! Nun begriff der Geisterdetek65 �
tiv auch, woher Jerry Hall über diese schwarze Kugel in der National Gallery Bescheid gewußt hatte. Ein Gerücht über die rätselhafte schwarze Kugel faszinierte den Geisterdetektiv. Es besagte nämlich, daß die Kugel ein Geheimnis barg, das sie gefährlicher machte als jede andere Waffe. Niemand wußte Genaues, aber angeblich verbarg sich in ihrem Innern ein Sendbote der Hölle. Rick wußte nicht, was er sich darunter vorstellen sollte, nahm sich jedoch vor, ganz besonders vorsichtig zu sein. Es sollte Jerry Hall nicht allzu leichtfallen, ihn zu überraschen, wenn es zu einem persönlichen Kampf kam. Rick Masters forschte in seiner Bibliothek nach weiterem Material über die »schwarze Fährte«, fand jedoch nichts mehr. So vorbereitet, rief er im Yard an und verlangte Chefinspektor Hempshaw. Er erfuhr, daß sich der Chefinspektor nicht im Haus aufhielt, sondern nach Brixton gefahren war. Rick ahnte nichts Gutes. Er hastete mit Dracula zu seinem Wagen hinunter und versuchte, über Funk mit dem Chefinspektor Kontakt aufzunehmen. Doch Chefinspektor Hempshaw antwortete nicht… *
Während der letzten Stunde war es zu einem Zwischenfall gekommen, den niemand vorausgesehen hatte. Der Geheimdienst hatte sich eingeschaltet. Chefinspektor Hempshaw war zu der Pension in Brixton unterwegs, als sein Funkgerät ansprach. Der Chefinspektor nahm den Anruf entgegen. »Ach, Red«, sagte er wenig erfreut, als er den Anrufer erkannte. »Von wo sprechen Sie?« »Unwichtig«, wehrte der Mann ab, den Hempshaw »Red« nannte. »Die Zentrale hat meinen Anruf zu ihnen durchgestellt. Unternehmen Sie noch nichts in Sachen Jerry Hall, bis ich bei Ihnen bin.« »Kommen Sie auch nach Brixton?« erkundigte sich Hempshaw. »Allerdings«, antwortete Red. »Keine Aktionen bis zu meinem Eintreffen!« Er unterbrach die Verbindung, und der Chefinspektor erkundigte sich bei seinen Vorgesetzten. Es stimmte, er sollte stillhalten, bis der Agent des Geheimdienstes bei ihm war. »Eigentlich könnten Sie sich freuen, daß Sie die Verantwortung nicht mehr allein tragen«, bemerkte Sergeant Myers. »Sie wissen, wie sehr ich solche Einmischungen hasse«, antwortete der Chefinspektor grollend. »Ausgerechnet der Geheimdienst! Diese 66 �
Leute sind doch nur an der Wunderwaffe interessiert, mit der Cranthow, Meli und Sither und der Gefängnisdirektor getötet wurden!« »Ganz bestimmt«, meinte auch der Sergeant. Er wollte noch etwas hinzufügen, schwieg jedoch. Chefinspektor Plempshaw fragte nämlich bei seinen Posten in Brixton an, ob sich in der Zwischenzeit etwas bei der Pension ereignet habe. Sie meldeten, daß alles ruhig geblieben war. Scotland Yard hatte kurzerhand eine leerstehende Wohnung schräg gegenüber der Pension gemietet, um das Haus besser beobachten zu können. Dort war das Hauptquartier für diese Aktion errichtet worden. In den umliegenden Straßen waren ebenfalls Posten aufgestellt. Sie tarnten sich so gut, daß man sie von der Pension aus nicht sehen konnte. In diesem Hauptquartier wartete der Chefinspektor auf Red vom Secret Service. Der untersetzte Mann mit den roten Haaren und dem Durchschnittsgesicht traf zwanzig Minuten später ein. Red wußte, daß Hempshaw weder ihn persönlich noch seine Tätigkeit mochte. Trotzdem gab er sich gelassen. »Was haben Sie vor, Mr. Hempshaw?« fragte er. »Oder wollen Sie abwarten?« »Soll das heißen, daß Sie alles mir überlassen?« fragte der Chefinspek-
tor und hob die Augenbrauen, daß sie fast seinen Haaransatz berührten. »Ich bin nur als Beobachter bei Ihnen«, versicherte Red. »Und ich werde Ihnen nicht dreinreden.« »Mit anderen Worten«, bemerkte der Chefinspektor bitter, »sollen Sie nur nach der Waffe suchen, die Arbeit der Polizei überlassen.« »Das haben Sie gesagt«, erwiderte Red. »Es stimmt!« fauchte ihn der Chefinspektor an. »Ich sage Ihnen gleich, daß Sie umsonst warten: Es gibt keine solche Waffe!« Red sah ihn nur schweigend an. »Also gut«, meinte Hempshaw seufzend, »ich werde mir diese Pension jetzt aus der Nähe ansehen. Mich kennt Hall zwar, aber er hat mich seit zehn Jahren nicht gesehen. Er wird mich nicht erkennen, wenn ich das Haus betrete. Ich nehme ein Funkgerät mit, über das ich den Einsatzbefehl geben werde, sobald ich in dem Haus bin.« »Es ist Ihre Entscheidung«, sagte der Geheimdienstmann. »Sie sind mir eine große Hilfe«, meinte Hempshaw spöttisch. »Wenn Sie schon hier sind, könnten Sie mich wenigstens unterstützen!« »Gut, ich begleite Sie«, schlug Red vor. »Mich kennt Hall überhaupt nicht.« Damit war Hempshaw sofort einverstanden. Gemeinsam verließen sie das gemietete Haus, überquerten 67 �
die Straße und näherten sich der Pension. Dabei hielten sie sich im toten Winkel der Fenster im Erdgeschoß auf. Hempshaw wußte nicht, ob das einen Sinn hatte. Wenn Hall vom ersten Stock aus die Straße überwachte, sah er sie auf jeden Fall. »Sie müssen sich ganz normal benehmen, als wären Sie wirklich auf Zimmersuche«, riet Hempshaw seinem Begleiter. »Ich bin kein Anfänger«, entgegnete Red kurz angebunden. Endlich standen sie vor den Stufen, die zu der Haustür hinauf führten. Hempshaw nahm seinen ganzen Mut zusammen. Die linke Hand behielt er in der Jackettasche, um jederzeit das Funkgerät herausziehen und Alarm geben zu können. »Es wird klappen«, sagte Red mit einem zuversichtlichen Lächeln. »Sie werden sehen, alles geht gut!« Hempshaw mochte diesen Mann wirklich nicht, aber in diesem Moment war er für die aufmunternden Worte dankbar. »Viel Glück«, sagte Hempshaw und drückte den Klingelknopf. Drinnen im Haus schlug ein Gong an. »Einen Moment!« rief eine Frauenstimme. »Ich komme!« Die Tür öffnete sich. Nach Ricks Beschreibung erkannte der Chefinspektor Mrs. Finton. Sie blickte ihm mit einem strahlenden Lächeln ent-
gegen. »Guten Tag, Madam«, grüßte er. »Ist bei Ihnen noch ein Zimmer frei?« »Aber selbstverständlich!« Mrs. Finton gab die Tür frei. »Bitte, treten Sie ein, meine Herren! Ich freue mich immer, wenn jemand den Weg zu mir findet!« Hempshaw und Red hatten sich vorher genau abgesprochen. Hempshaw betrat die Halle und zog sein Funkgerät. Red blieb in der offenen Tür stehen und griff nach Mrs. Finton. Er wollte die Frau ins Freie bringen, damit sie nicht in den Kampf verwickelt würde. Seine Hände stießen jedoch ins Leere. Er bekam Mrs. Finton nicht zu fassen. Ihm war, als greife er in Nebel, obwohl er Mrs. Finton berührte. Sie wandte sich ab, als habe sie die Berührung gar nicht gefühlt. »Kommen Sie«, sagte sie zu Chefinspektor Hempshaw. »Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer!« »Jetzt!« schrie der Chefinspektor in sein Funkgerät, doch die Kontrollampe zeigte an, daß es nicht eingeschaltet war. Er versuchte es immer wieder, aber es funktionierte nicht. Er wandte sich verzweifelt nach Red um, der noch immer in der offenen Tür stand und seltsame Verrenkungen ausführte, um Mrs. Finton 68 �
zu packen und in Sicherheit zu bringen. Red konnte nicht in die Halle hereinkommen. Eine unsichtbare Sperre hielt ihn zurück. Hempshaw streckte seinem Begleiter die Hand entgegen, doch kurz vor Reds Hand prallte er gegen eine Mauer. Red nahm Anlauf und warf sich von außen gegen die unsichtbare Barriere. Er wurde zurückgeschleudert, rollte über den Weg und blieb wie betäubt liegen. Hempshaw zuckte zusammen, als er hinter sich höhnisches Lachen hörte. »Das habe ich gern«, sagte Jerry Hall spöttisch. »Der große Chefinspektor kommt selbst zu mir! Willkommen, Mr. Hempshaw! Sie haben mir die Mühe abgenommen, Sie zu Ihrer Hinrichtung abzuholen!« * Als Rick Masters in der Straße vor der Pension eintraf, sah er sofort, daß etwas schiefgelaufen war. Überall standen Polizeiwagen mit zuckenden Blaulichtern. Ratlose Yarddetektive hielten sich zwischen den Fahrzeugen in kleinen Gruppen auf und sprachen leise miteinander. Andere nahmen über Funkgeräte Anweisungen entgegen. Rick sah sich nach bekannten
Gesichtern um und entdeckte Sergeant Myers. Myers wirkte verstört. Als er den Geisterdetektiv bemerkte, preßte er die Lippen zusammen. »Was ist passiert?« fragte Rick knapp. Der Sergeant deutete zu der Pension, die ein Stück weiter lag. »Der Chefinspektor ist gefangen.« »Wie konnte das passieren?« fragte Rick, obwohl er die Antwort im voraus kannte. »Er wollte in das Haus gelangen, bevor wir anderen angreifen«, erklärte der Sergeant. »Es ging um die Frauen. Er wollte sie schützen, wenn wir zum Sturm antreten.« »So ein Leichtsinn!« schrie Rick, beherrschte sich jedoch. Es hatte keinen Sinn, jetzt noch etwas zu sagen. Der Chefinspektor hatte von seinem Standpunkt aus richtig gehandelt. In der Pension hielt sich ein Mörder auf, der Geiseln in seiner Gewalt hatte. Hempshaw hatte versucht, sie zu befreien und den Mann zu verhaften. Aber Hempshaw hatte andererseits gewußt, daß sein Gegner nicht mit gewöhnlichen Waffen ausgerüstet war. Er hätte unbedingt auf Rick warten müssen. »Was sollen wir unternehmen, Mr. Masters?« fragte Sergeant Myers niedergeschlagen. »Oder anders, können wir überhaupt noch etwas unternehmen?« 69 �
»Im Moment nichts«, antwortete der Geisterdetektiv. »Ziehen Sie die Leute zurück. Die Pension muß weiterhin beobachtet werden, aber diese Streitmacht ist überflüssig.« Myers hob ein tragbares Funkgerät an die Lippen und gab die Meldung an seine Kollegen weiter. »Wo waren Sie denn, als der Zauber losging?« ertönte eine Stimme, die Ricks Pulse sofort beschleunigte. Wütend drehte sich der Geisterdetektiv nach dem Sprecher um. »Warum müssen Sie ausgerechnet hier auftauchen, Red?« fragte er den Geheimdienstmann. »Sie haben noch nie Glück gebracht!« »Sie übertreiben, Masters«, sagte Red. »Haben Sie vergessen, daß wir in der Vergangenheit ein paarmal gut zusammenarbeiteten?« »Ich habe nicht vergessen, daß Sie stets nur auf den Vorteil Ihrer Organisation, achteten«, konterte der Geisterdetektiv. »Sonst nichts! Was machen Sie hier?« »Vier Menschen sind unter rätselhaften Umständen gestorben«, antwortete Red bereitwillig. »Das ist Grund genug für den Geheimdienst, die Sache zu untersuchen.« »Und eine mögliche Geheimwaffe ergänzte Rick. sicherzustellen«, »Haben Sie Hempshaw in dieses wahnsinnige Abenteuer hineinmanövriert, Red?« »Es war seine Entscheidung«,
erwiderte der Agent. »Ich bin nur als Beobachter hier.« »Sehr geschickt«, sagte Rick wütend. »Wenn es klappt, können Sie die Früchte ernten. Und wenn es schiefgeht, haben Sie nichts mit der Sache zu tun. Ein feiger Standpunkt!« »Ich brauche mich vor Ihnen nicht zu rechtfertigen«, erwiderte Red herablassend. »Das stimmt! Das brauchen Sie wirklich nicht.« Rick trat nahe auf ihn zu. »Aber lassen Sie sich von mir eines sagen! Wenn Sie mir in die Quere kommen, werde ich unangenehm!« »Ist das eine Drohung?« fragte Red mit blitzenden Augen. »Ja«, antwortete Rick und ließ ihn stehen. Myers hatte inzwischen alles Nötige veranlaßt. Die Straße war gesperrt. Polizisten sorgten dafür, daß die Leute in den umliegenden Häusern nicht in die Gärten gingen. »Stehen die Leute unter Bewachung, die Jerry Hall bedroht?« fragte Rick Masters. »Sie werden hermetisch abgeschirmt«, erwiderte Myers. »Sorgen Sie dafür, daß ich über jede Veränderung sofort unterrichtet werde!« verlangte Rick. Er schwang sich zum Leiter des Einsatzes in Brixton auf, und niemand widersprach. Auch die höheren Yardbeamten, die nach zehn 70 �
Minuten eintrafen, änderten nichts an Ricks Anordnungen. Im Gegenteil, sie beauftragten ihn sogar ganz offiziell, diesen Fall zu Ende zu führen. So fand Rick zwar nachträglich noch einen Klienten, der sein Honorar übernahm, aber zufrieden war er deshalb noch lange nicht. Er hätte gern auf diesen Auftrag verzichtet, wäre Hempshaw dafür freigekommen und hätte er ein Mittel gegen Jerry Halls Magie gefunden. Die Höllenfährte führte in die Pension der Mrs. Finton. Das wußte Rick nun mit letzter Sicherheit. Sie mußte in diesem Haus enden. Das war Ricks Aufgabe. Er sollte aber auch das Leben von mehr als einem Dutzend Menschen schützen, und das ging diesmal weit über seine Kräfte, falls kein Wunder geschah! * Hempshaw stand seinem Todfeind gegenüber. Er erwartete jeden Moment einen Angriff und wollte seine Haut so teuer wie möglich verkaufen. »Bleiben Sie ganz ruhig und gelassen, Mr. Hempshaw«, sagte Jerry Hall. »Ich tue Ihnen nichts.« Sein Triumph war offensichtlich. Er hielt sich zurück, um mit seinem Opfer zu spielen. »Mir können Sie nichts vorma-
chen«, sagte Chefinspektor Hempshaw gepreßt. »Ich habe Sie längst durchschaut!« »Offenbar nicht, sonst wären Sie mir nicht in die Falle gelaufen«, erwiderte Hall. Er deutete mit spöttischer Höflichkeit auf eine Tür im Erdgeschoß. »Bitte, hier hinein, Mr. Hempshaw.« Während der Chefinspektor das Zimmer betrat, gestand er sich ein, daß er einen schweren Fehler begangen hatte. Er hätte doch auf seinen Freund Rick Masters hören sollen, aber er war davon überzeugt gewesen, die Pension im Sturm erobern zu können. »Setzen Sie sich!« befahl GalgenJerry, nun schon nicht mehr so höflich. Er gab Hempshaw einen Stoß, der den Chefinspektor in einen Sessel schleuderte. Hempshaw war nicht überrascht, als er auf dem Tisch die schwarze Steinkugel mit dem Loch in der Mitte entdeckte. Jerry Hall deutete den Blick des Chefinspektors richtig. »Ja, darum dreht sich alles, um die ›schwarze Fährte‹!« erklärte er. »Aber das können Sie nicht verstehen!« »Doch«, widersprach Hempshaw. Er mußte den Mann zum Reden bringen. Nur wenn er eine schwache Stelle fand, hatte er noch eine Überlebenschance. »Mir war von Anfang an klar, daß Sie diese Kugel haben wollten.« 71 �
»Sie lügen«, sagte ihm Jerry Hall auf den Kopf zu. »Bis vor kurzer Zeit wußte ich selbst nicht, welche Aufgabe ich zu erfüllen hatte. Ich bin auch nur ein Werkzeug.« »Dann erklären Sie mir doch Ihre tolle Aufgabe«, sagte Hempshaw absichtlich sehr abfällig, um Hall zum Sprechen zu bringen. »Sie verstehen es doch nicht!« wehrte Hall gereizt ab. »Ich weiß nur, daß Sie Ihre drei Freunde dazu angestiftet haben, Ihnen dieses Ding hier aus der National Gallery zu holen.« Hempshaw kämpfte auf Zeit. Sergeant Myers hatte Rick bestimmt schon verständigt. Wenn ihn jemand herausholen konnte, war es der Geisterdetektiv. Hoffentlich kam er rechtzeitig! »Und Sie haben sich bei Ihren Freunden sehr schlecht bedankt. Wir haben ihre Leichen an der Themse gefunden. Wie haben Sie das gemacht, Hall?« »Ich war es nicht«, antwortete Galgen-Jerry und deutete auf die Kugel. »Er war es!« »Er?« Hempshaw schüttelte den Kopf. »Wer?« Anstelle einer Antwort schloß Hall die Augen und murmelte leise eine Beschwörung. Hempshaw lief eine Gänsehaut über den Rücken. Er merkte, daß Hall ihm nichts vormachte. Dieser Mann verfügte wirklich über Fähigkeiten und Kenntnisse, die den nor-
malen Rahmen sprengten und ihm das Tor zu einer anderen Welt öffneten. Und dann traute der Chefinspektor seinen Augen nicht. Er stand übersinnlichen Phänomenen stets mißtrauisch gegenüber. Diesmal gab es jedoch keinen Zweifel. Vor seinen Augen tauchte aus dem Loch in der Kugel eine Gestalt auf! Sie entsprach genau den Satansdarstellungen auf alten Gemälden, mit Hörnern und zotteligem Fell, klauenbewehrten Pranken und Bockshuf. Schaudernd erinnerte sich der Chefinspektor an Ricks Schilderung der Riesenhand, die sein Bett zertrümmert hatte. Hier sah er diese Hand vor sich! Die Statue war zwar klein, ungefähr so lang wie ein Arm, aber sie lebte! Die flammenden Augen dieser Figur richteten sich auf Hempshaw. Er zuckte zurück, war jedoch machtlos. Er konnte nicht mehr aufstehen. Ein Bann hielt ihn an den Sessel gefesselt. »Ja, jetzt sind Ihnen die großen Sprüche vergangen!« höhnte Jerry Hall. »Endlich sehen Sie ein, daß ich das Sagen habe! Ich besitze die Macht, meine Feinde zu vernichten! Es war meine Aufgabe, die ›schwarze Fährte‹ aus dem Museum zu befreien. Haben Sie schon erraten, wie dieses Kunstwerk wirklich 72 �
heißt? Die Höllenfährte! Der andere Name wurde nur zur Tarnung benutzt, damit nicht jeder gleich den wahren Zweck dieser unscheinbaren Kugel errät. Die Höllenfährte ist keine gewöhnliche Steinkugel, sondern das Versteck eines mächtigen Dämons! Sie sehen sein Abbild vor sich, Chefinspektor. Wie gefällt es Ihnen?« Hempshaw antwortete nicht. Die Gedanken jagten hinter seiner Stirn. Was konnte er nur unternehmen, um diesen Dämon zu zerstören? Denn erst nach der Vernichtung der Höllenfährte war die Gefahr endgültig beseitigt! Flucht allein hatte gar keinen Sinn! »Ich habe Sie etwas gefragt!« schrie Galgen-Jerry seinen Gefangenen an. »Wie gefällt Ihnen der Dämon?« Hempshaw preßte die Lippen aufeinander. Er wollte nicht antworten, doch im nächsten Moment streckte ihm die lebende Statue beide Hände entgegen. Er bäumte sich auf, als er das Gefühl hatte, zwischen diese Pranken zu geraten. Der Druck der Dämonenhände brachte ihn fast um. »Wie gefällt es Ihnen?« fragte Jerry Hall noch einmal. »Einfach phantastisch!« stöhnte der Chefinspektor zornig. Hätte er nicht geantwortet, wäre er auf der Stelle gestorben. So aber rechnete er sich noch eine winzige Chance aus.
»So ist es schon besser!« Jerry Hall betrachtete die Höllenfährte, jene schwarze Steinkugel, die ein so schauerliches Geheimnis in sich barg. »Und wie soll es weitergehen?« fragte der Chefinspektor. Hall hörte seine Frage nicht. Sein Blick löste sich nicht von der Gestalt des Dämons. »Er zeigt sich in dieser Form«, sagte Galgen-Jerry wie zu sich selbst, »weil wir Menschen ihn in seiner wirklichen, körperlosen Form gar nicht sehen könnten. Also hat er ein Bild gewählt, das uns allen bekannt ist. Ich frage mich nur, wie es weitergehen soll. Der Dämon ist jetzt frei. Er braucht mich nicht mehr.« »Er wird Sie töten, Hall, das ist doch klar«, schlug Hempshaw in die Kerbe. Er nutzte Halls Zweifel aus. »Er wird das Werkzeug beseitigen, das unwichtig geworden ist, und Sie sind dieses Werkzeug. Vernichten Sie ihn, so lange Sie noch Zeit dazu haben, bevor er Sie vernichtet!« Hall antwortete nicht. Er starrte wie in Trance auf den Dämon. »Was fragten Sie vorhin, Hempshaw?« flüsterte er. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er richtete sich auf und sprach ganz normal weiter. »Wie es weitergeht? Ich kann es Ihnen sagen! Ich werde alle hierher holen, die auf meiner Todesliste stehen. Der Dämon hat mir verspro73 �
chen, meine Rache zu erfüllen. Ich rufe sie in diesen Raum, die Geschworenen und den Staatsanwalt! Alle, die mich ins Gefängnis brachten. Und wenn alle versammelt sind, werden Sie mit ihnen zusammen sterben. Danach wird sich die Höllenfährte durch das ganze Land ziehen und es ins Chaos stürzen!« Hempshaw spielte seinen letzten Trumpf aus. »Wissen Sie eigentlich, daß der Friedhof nicht mehr existiert, auf dem Eddy Sinorsky begraben wurde?« fragte der Chefinspektor. »Auch das Grab des Magiers gibt es nicht mehr. Und Sinorsky selbst kann auf dieser Welt kein Unheil mehr anrichten. Er wurde gebannt!« Jerry Hall starrte den Chefinspektor so entsetzt an, daß dieser heimlich aufatmete. Also hatte Jerry Hall es nicht gewußt! Wenn Hall einen Funken Verstand behalten hatte, mußte er spätestens jetzt erkennen, daß er wirklich nur ein Werkzeug war! Ein Werkzeug der bösen Mächte, die ihn nach Abschluß ihres Planes beseitigen würden! Vielleicht schlug er sich auf Hempshaws Seite und machte den Dämon der Höllenfährte unschädlich! Doch Hempshaw sah sich bitter getäuscht! »Lügner!« brüllte Jerry Hall wütend. Er wollte die Wahrheit
nicht einsehen, weil er sich damit selbst aufgegeben hätte. »Lügner! Ich mache dich stumm! Du wirst nichts mehr sagen!« Er streckte Hempshaw befehlend die Hand entgegen. Gleichzeitig schoß aus den Augen der Statue ein Blitz und traf Hempshaw. Der Chefinspektor wollte aufschreien, doch aus seinem Mund kam kein Ton! Der Magier hatte ihm die Stimme genommen! * Rick Masters hörte alles über das Funkgerät des Chefinspektors. Hempshaw hatte sich nämlich getäuscht. Hall schirmte das Funkgerät gar nicht ab. Nur die Lampe, die den Betrieb des Geräts anzeigen sollte, war defekt! Das Walkie Talkie sendete jedoch die ganze Zeit. »Hilft Ihnen das weiter?« fragte Red, der neben dem Geisterdetektiv stand und sich ebenfalls kein Wort entgehen ließ. »Seien Sie still, Sie stören!« fuhr Rick ihn an. Im nächsten Moment fiel die Hand des Geheimdienstmannes schwer auf Ricks Schulter. Red wirbelte den Detektiv so herum, daß sie einander Auge in Auge gegenüber standen. »Jetzt hören Sie mir einen Moment zu, Masters«, zischte Red. Sein 74 �
Gesicht veränderte sich nicht und blieb unbeweglich wie immer, aber seine Augen blitzten. »Ich habe einen Auftrag bekommen, und den muß ich ausführen! Ganz gleich, was Sie von meinem Job halten, eines lassen Sie sich gesagt sein! Ich werde meinen Auftrag ausführen! Sie werden mich nicht daran hindern! Und noch etwas! Wir ziehen am selben Strang! Ich will auch die Leute aus diesem Haus dort herausholen. Ist das klar?« Rick hielt seinem Blick stand. »Also gut, meinetwegen«, murmelte er. »Ich sage Ihnen aber auch etwas, Red. Wenn Sie nur nach Ihrer Wunderwaffe suchen, die es gar nicht gibt, soll es mich nicht stören! Aber bringen Sie dadurch die Eingeschlossenen nicht in Gefahr, sonst lernen Sie mich von einer unangenehmen Seite kennen!« »Wir haben uns verstanden«, sagte Red. »Was unternehmen Sie jetzt?« Rick warf einen prüfenden Blick zu der Pension hinüber. »Scheint so, daß Jerry Hall nicht weiß, wie es hier draußen aussieht«, murmelte der Geisterdetektiv. »Hier draußen können wir unsere Vorbereitungen treffen, ohne daß Hall etwas dagegen unternimmt. Nur in das Haus gelangen wir nicht hinein.« »Welche Vorbereitungen?« fragte Red mit nicht zu überhörendem Spott. »Sie machen einen ziemlich
ratlosen Eindruck Masters!« »Wie scharfsinnig Sie doch sind«, erwiderte Rick bissig. »Sie haben vermutlich auch keinen brauchbaren Vorschlag, nicht wahr?« »Ich bin…«, setzte Red an. »Ich weiß!« Rick winkte ab. »Sie sind nur als Beobachter hier, der sich die Finger nicht schmutzig machen soll. Nur keine Verantwortung übernehmen. Sie sind…!« Er hätte Red sicher noch seine Meinung gesagt, wäre in diesem Moment nicht Sergeant Myers zu ihm gekommen. Der Sergeant winkte schon von weitem aufgeregt. »Was gibt es?« wandte sich Rick an ihn. »Neuigkeiten«, rief der Sergeant keuchend. »Die bedrohten Personen verlassen ihre Wohnungen! Unsere Leute versuchen, sie mit Gewalt zurückzuhalten. Es ist aber unmöglich. Die Bedrohten entwickeln übermenschliche Kräfte!« »Laßt sie gehen und beobachtet sie!« befahl Rick. Myers gab den Befehl sofort über Funk weiter. Er wartete auf die Bestätigung, die gleich darauf kam. »Manche nehmen ein Taxi, die anderen benutzen ihren eigenen Wagen«, meldete er. »Noch ist nicht klar, wohin sie fahren.« »Hierher«, sagte Rick ruhig. »Was?« rief Myers erschrocken. »Und das lassen Sie zu, Mr. Masters? Das ist zu gefährlich!« 75 �
»Sie sagten selbst, daß wir sie nicht zurückhalten können«, erwiderte Rick Masters. »Also lassen wir sie herkommen.« »Sie spielen hoch«, sagte Red leise. »Habe ich denn eine andere Wahl?« fragte der Geisterdetektiv. »Wenn wir die Leute irgendwo einsperren, riskieren wir, daß Hall sie aus der Entfernung umbringt. Er kann es. Das hat er bei Richter Pendergast bewiesen. Aber offenbar will er sie hier haben, damit sie vor seinen Augen sterben. Und genau das ist unsere Chance. Die Leute erhalten einen Aufschub, und ich kann eingreifen.« »Masters, Sie…«, setzte Red an. »Seien Sie doch endlich still!« fuhr Rick ihn an. »Ich brauche meine ganze Kraft, um mich auf diesen Fall zu konzentrieren!« Daraufhin trat Red schweigend zur Seite. Rick Masters lief zu seinem Morgan. Dracula lag auf dem Beifahrersitz und wedelte zurückhaltend, als sein Herr sich in den Wagen beugte. Der Hund fühlte, daß etwas vor sich ging. Rick strich ihm über den Kopf. »Bleib schön hier«, sagte er zu Dracula. »Da draußen ist es für dich zu gefährlich!« Der Hund legte die Ohren an und machte sich in dem Sitz ganz klein, als müsse er sich verstecken. Rick aber öffnete ein Geheimfach in seinem Wagen und holte einen
Gegenstand heraus, den er lange nicht benutzt hatte. Auf den ersten Blick war es ein kugelförmiges Schmuckstück an einer Halskette. Rick hatte es sich anfertigen lassen, als er während eines Einsatzes seine weißmagische Silberkugel verstecken mußte. Auf leichten Druck öffnete sich die vermeintliche Kugel. Jetzt erst sah man, daß sie hohl war. Rick ließ seine Silberkugel darin verschwinden und schloß die Schale wieder. Die sonst ziemlich schwere Silberkugel war nicht mehr zu spüren. Der Anhänger selbst wog nur wenig. Er schirmte die Silberkugel perfekt von der Außenwelt ab. Man konnte weder ihr Gewicht noch ihre weißmagische Ausstrahlung fühlen. Rick hängte sich die Halskette um und ließ den Anhänger so unter seiner leichten Sommerjacke verschwinden, daß er ihn jederzeit hervorziehen konnte. Danach legte er das Schulterhalfter mit der Pistole ab und übergab es Sergeant Myers. »Was haben Sie vor, Mr. Masters?« fragte der Sergeant gedämpft. »Ich weiß es noch nicht«, erwiderte der Geisterdetektiv. »Ich warte ab und halte mich bereit.« Myers hielt ihn auf dem Laufenden, wo sich die einzelnen Todeskandidaten von Jerry Halls Racheliste aufhielten. Sie kamen von allen 76 �
Seiten näher. Es gab keinen Zweifel mehr. Mrs. Fintons Pension war ihr Ziel! Hier sollten sie sterben! Das machte Rick Masters noch nicht einmal so große Sorgen, weil er sicher war, diesen Massenmord verhindern zu können. Etwas anderes bedrückte ihn viel mehr. Die Funkverbindung zu Mrs. Fintons Pension stand noch immer. Das Walkie Talkie des Chefinspektors sendete. Rick Masters hörte aus dem Empfänger verschiedene Geräusche aus dem Haus. Er hörte jedoch nichts mehr von seinem Freund. Ob der Chefinspektor noch lebte? Warum sagte er nichts? Der Geisterdetektiv wurde von seinen Überlegungen abgelenkt. Ein Taxi hielt an der Polizeisperre. Der Fahrer diskutierte mit den Polizisten, die ihn nicht durchließen. Endlich stieg der Fahrgast aus. Rick Masters erkannte ihn. Er war bei Jerry Halls Prozeß Geschworener gewesen. Rick gab den Polizisten einen Wink, den Mann durchzulassen. Er selbst hielt sich bereit, denn unter keinen Umständen durfte dieser Mann allein die Pension betreten. So weit kam es vorläufig noch nicht. Der ehemalige Geschworene ging ein Stück auf die Pension zu und blieb mitten auf der Straße ste-
hen. Gleich darauf traf der nächste Geschworene ein, danach der damalige Staatsanwalt sowie zwei Zeugen. Nach und nach entstand auf der Straße eine Reihe von elf Personen, die alle von Jerry Hall zum Tode verurteilt worden waren. »Das ist Irrsinn!« rief Red, der sich zwischen den Polizisten einen Weg zu Rick Masters bahnte. »Unternehmen Sie etwas dagegen! Halten Sie diese Leute auf!« »Versuchen Sie es doch«, bot Rick Masters ihm an. Nach außen hin blieb der Geisterdetektiv ganz ruhig. Innerlich war er jedoch zum Zerreißen angespannt. Zu allem Überfluß hörte er etwas aus dem Funkgerät, das alle Laute aus Jerry Halls Zimmer übertrug. Beschwörungsformeln! Jerry Hall bereitete sich auf ein großes Ereignis vor und rief die Mächte der Finsternis um Hilfe an. Der Himmel verdüsterte sich. Schwarze Wolken zogen über die Stadt. Sturm kam auf und pfiff heulend durch die Straßen. Dicke Regentropfen klatschten auf den Asphalt. Blitze zuckten über die Dächer, Donner erschütterte die Mauern der Häuser. Red versuchte, den ersten Mann in der Reihe der Todeskandidaten von seinem Platz wegzuziehen. Es gelang ihm nicht, so sehr er auch stieß und zerrte. Nicht einmal mit 77 �
der Hilfe zweier Polizisten konnte er den Mann von der Stelle bewegen. Rick schwieg dazu. Er hatte gewußt, daß es ihnen nicht gelingen würde, Jerry Halls Pläne auf diese Weise zu stören. Er hätte mit seiner Silberkugel den Bann aufheben und die Todeskandidaten am Betreten der Pension hindern können. Das hätte jedoch nichts geholfen, weil Jerry Hall sie dann auf der Straße ermordet hätte. Bei dem Anblick der Reihe der Todeskandidaten war Rick eine Idee gekommen. Er wollte sie soeben ausführen, als vor der Polizeisperre noch ein Wagen hielt. Erstaunt drehte er sich um. Hatte Jerry Hall noch jemanden gerufen, an dem er sich rächen wollte? Als er den silbergrauen Rolls Royce erkannte, krampfte sich sein Herz zusammen. Das war Hazels Wagen! Er lief seiner Freundin entgegen, doch Hazel stand nicht unter Jerry Halls Bann. Sie kam freiwillig! »Was machst du hier?« rief Rick ihr zu. »Fahr sofort wieder weg!« Doch Hazel drängte sich durch die Absperrung und lief zu ihm. »Ich denke nicht daran«, erklärte sie. »Ich bleibe bei dir!« Sie war blaß, aber genauso schön wie sonst. Ihre Augen blickten Rick so flehend an, als wolle sie ihn mit Blicken von seinem Schritt abhalten. »Du darfst nichts riskieren«, flehte
sie ihn an. »Ich habe im Yard erfahren, daß du hier bist! Ich weiß zwar nicht, was du vorhast, aber du darfst dich nicht in Gefahr bringen!« Rick legte seine Hände auf ihre Schultern, beugte sich lächelnd vor und küßte sie. »Danke«, sagte er. »Aber du weißt, daß ich mich vor meiner Pflicht nicht drücken kann!« Er wandte sich ab und spürte ihren Blick in seinem Rücken. Red versperrte ihm den Weg. »Sie glauben doch nicht, daß Sie diese Leute aufhalten können?« rief er. »Warum unternehmen Sie nicht etwas anderes? Lassen Sie das Haus stürmen! Lassen Sie eine Anti-Terror-Brigade aufmarschieren!« »Ich habe nicht die Absicht, diese Leute dem Tod auszuliefern«, erwiderte Rick. »Ich bin aber auch nicht so verrückt, mit untauglichen Mitteln zu kämpfen. Ich…« Rick verstummte, denn in diesem Moment meldete sich Jerry Hall, der Magier! * »Rick Masters! Ich weiß, daß Sie mich hören! Ich weiß auch, daß Sie da draußen sind!« Rick Masters hörte die Stimme des Magiers auf zweifache Weise. Jerry Hall sprach drinnen im Haus. Daher übertrug Hempshaws Funkgerät die Worte des Magiers auf Ricks Empfänger. 78 �
Gleichzeitig jedoch hallte GalgenJerrys Stimme durch die stille Straße, als werde sie von gewaltigen Lautsprechern übertragen. Hall bediente sich magischer Mittel, um sich verständlich zu machen. Für ihn war es bei seinen Fähigkeiten sehr einfach, eine solche Verbindung herzustellen. »Hören Sie genau zu, Rick Masters!« verlangte Hall. »Sie gehen mit diesen Leuten! Wenn Sie zurückbleiben, töte ich den ersten in der Reihe. Dann den zweiten. So lange, bis Sie in die Reihe treten!« Rick wußte nicht, mit welchen Mitteln ihn der Magier beobachtete. Deshalb verbarg er seine Freude. Kein Befehl kam ihm gelegener als dieser. Jerry Hall ahnte nicht, daß er seinem schärfsten Gegner in die Hände spielte. Die Absicht war klar. Hall wollte verhindern, daß der Geisterdetektiv etwas gegen ihn unternahm, so lange er sich in Freiheit befand. Rick sollte in die Pension kommen, damit Hall ihn umbringen konnte! »Noch eine Bedingung, Rick Masters«, fuhr Jerry Hall fort. »Sie kommen unbewaffnet! Und wenn ich unbewaffnet sage, denke ich nicht nur an Ihre Pistole! Ich kann feststellen, ob Sie die Silberkugel bei sich haben! Wenn ja, stirbt der erste Mann in der Reihe. Und so weiter! Sie kennen das Spiel inzwischen!« Rick Masters sah zu Hazel hin-
über. Sie lehnte an einem Polizeiwagen und blickte ihn aus schreckgeweiteten Augen starr an. Er lächelte beruhigend und zog die Kapsel für einen Moment unter seiner Jacke hervor. Hazel kannte dieses Amulett, das die Wirkung der Silberkugel völlig abschirmte. Sie atmete erleichtert auf. Trotzdem wich der besorgte Zug nicht aus ihrem Gesicht. Auch wenn Rick seine Waffe bei sich hatte, war das Risiko enorm. Der einzige Unterschied bestand nur darin, daß er ohne Waffe völlig verloren gewesen wäre. Rick Masters wandte sich an Sergeant Myers. »Sie halten Ihre Leute zurück«, ordnete er an. »Sie greifen nur ein, falls etwas Außergewöhnliches passiert.« »Was wäre das?« wollte der Sergeant wissen, der sich in seiner Haut nicht wohl fühlte. »Tut mir leid, das müssen Sie selbst entscheiden«, sagte Rick. »Aber Sie machen das schon! Es ist nicht das erste Mal, daß Sie an einem solchen Einsatz teilnehmen.« Danach wandte sich der Geisterdetektiv noch einmal an Red. »Und Sie halten sich aus allem heraus!« sagte er eisig. Red nickte, und Rick glaubte, ihm vertrauen zu können. Dieser Mann war schwer zu durchschauen, und er hatte auch recht, wenn er behauptete, er müsse einen Auftrag ausfüh79 �
ren. Sein Job ging vor. Aber ausnahmsweise schien er wirklich zu begreifen, welche Gefahr von Jerry Hall drohte. Der Geisterdetektiv gab sich einen Ruck und stellte sich als letzter in die Reihe. Kaum hatte er den Befehl des Magiers ausgeführt, als sich die Todeskandidaten in Bewegung setzten. Die Tür der Pension schwang auf und ließ den ersten Geschworenen ein. Und der Mann verschwand im Haus. »Los, folgt mir!« schrie Red und stürmte auf die Tür zu. Rick Masters erstarrte vor Entsetzen. Er war zu weit von Red entfernt, um den Geheimagenten am Eingreifen zu hindern. »Hiergeblieben!« schrie Sergeant Myers seinen Leuten zu. »Keiner rührt sich von der Stelle!« Die Polizisten gehorchten dem Sergeanten. Nur dadurch blieb die Katastrophe aus. Red rannte weiter, obwohl sein Befehl an die Polizisten nicht befolgt wurde. Er warf sich auf die geöffnete Tür und dachte, er würde drinnen im Haus landen. Seine Hand tauchte unter der Jacke auf. Er hielt einen schweren Revolver in der Hand. Doch er kam nicht in die Pension hinein. Er prallte an dem unsichtbaren Hindernis vor der Tür ab, wurde
weit zurückgeschleudert und schlug auf der anderen Straßenseite auf. Es war ein fürchterlicher Sturz. Rick konnte sich nicht um den Mann kümmern. Das taten Polizisten. Jemand rief nach einem Krankenwagen. Rick sah noch, daß Red sich halb aufrichtete und benommen den Kopf schüttelte. Also hatte der Geheimdienstmann den Sturz überlebt. Aber es ging ihm nicht gut, und sein Mut war sicher gekühlt. Von ihm brauchte Rick keine Störung mehr zu befürchten. Dann war die Reihe an dem Geisterdetektiv. Er erreichte die Tür. Ihm war, als griffen unzählige tastende Hände nach ihm. Er fühlte deutlich, wie er mit magischen Mitteln untersucht wurde, ob er sich an die Befehle hielt. Der Behälter der Silberkugel hielt dicht, Rick wußte es. Trotzdem erlebte er bange Sekunden, ehe die Sperre vor ihm aufriß und ihn einließ. Er trat in die Halle der Pension und stand Jerry Hall gegenüber. Der Magier hatte sich in der Mitte der Halle aufgestellt. Auf einem Stuhl neben ihm lag die »Höllenfährte«, diese schwarze Kugel, in deren Innern ein Dämon wohnte. Jetzt ließ sich das Wesen aus einer anderen Dimension allerdings nicht sehen. Es hatte sich zurückgezogen. Die Todgeweihten stellten sich wie 80 �
auf der Straße auf. Jerry Hall musterte sie mit haßerfüllten Blicken. Chefinspektor Hempshaw kauerte neben der schwarzen Kugel auf dem Boden. Er war bei Bewußtsein und blickte verzweifelt zu Rick herüber. Durch knappe Gesten gab der Chefinspektor dem Geisterdetektiv zu verstehen, daß er die Stimme verloren hatte. Die Frauen und die übrigen Gäste der Pension ließen sich nicht sehen. Rick hoffte, daß ihnen nichts zugestoßen war. Jerry Halls Blick richtete sich auf den Geisterdetektiv. »So ist es gut«, sagte Hall höhnisch. »Alle meine Freunde sind versammelt! Los, gehen Sie zu den anderen!« befahl er dem Chefinspektor. Hempshaw kam schwerfällig auf die Beine und stellte sich neben Rick. »Ihr wißt, warum ihr hier seid«, sagte Jerry Hall. Sein Gesicht färbte sich dunkel vor Wut. »Ihr alle habt mein Leben ruiniert! Aber jetzt ist meine Stunde gekommen! Ich töte euch, und danach erkläre ich dieses Haus zu meinem Hauptquartier.« Hempshaw wollte etwas sagen, doch er hatte seine Stimme noch nicht wiedererlangt. »Dieses Haus wird nicht Ihr Hauptquartier«, sagte Rick Masters laut. »Der Dämon braucht Sie nicht mehr! Er wird uns töten, und danach kommen Sie an die Reihe,
Hall! Sie sind überflüssig geworden!« Jerry Hall zuckte wie unter einem Stromschlag zusammen, als er diese Worte hörte. Einen Moment war er völlig verwirrt, weil Rick Masters das gleiche wie Chefinspektor Hempshaw sagte. Diese Verwirrung nutzte der Geisterdetektiv aus. Mit einem Satz stand er neben der schwarzen Kugel. Er blickte in das Loch in der Mitte. Es war nicht leer. Dunkelrotes Leuchten schlug ihm entgegen. Ihm war, als blicke er in einen Vulkan, der jeden Moment ausbrechen konnte. Er kannte das Phänomen. Dieser schwarze Stein stellte eine direkte Verbindung zu der Welt des Bösen dar! »Die Höllenfährte soll dich verschlingen!« schrie Jerry Hall geifernd. »Stirb, Rick Masters!« Dieser Fluch wäre für den Geisterdetektiv tödlich gewesen, doch Rick handelte blitzartig. Aus der Glut der schwarzen Kugel wuchs eine abscheuliche Gestalt. Rick sah die Pranken des Monsters! Eine dieser Hände hatte sein Bett zermalmt! Doch er wartete nicht ab, bis die Dämonengestalt ihre volle Größe erreichte. Seine Hände fuhren an die Kapsel, die er um den Hals trug. Ein Druck, die Kapsel sprang auf, die 81 �
Silberkugel fiel in Ricks Hand. Schreiend wich Jerry Hall zurück, als er die Waffe seines Gegners erblickte. Auch der Dämon zeigte Wirkung. Er versuchte, nach Rick zu schlagen, doch der Geisterdetektiv hielt ihm die Kugel entgegen. Heulend zog der Dämon die Pranken zurück, löste sich von der Höllenfährte und schwebte durch den Raum. Rick Masters warf seine Silberkugel in die Öffnung des schwarzen Steins und wirbelte herum. Der Dämon senkte sich von der Zimmerdecke herab. Er hatte die Gestalt verloren, in der er sich den Menschen gezeigt hatte, und war zu einer schwarzen Wolke geworden, die Jerry Hall einhüllte. Der Dämon rächte sich an dem Menschen, der seine Aufgabe nicht erfüllt hatte, an Jerry Hall. Die Silberkugel gewann auch diesmal den lautlosen Kampf der Mächte. Der schwarze Stein platzte auseinander, die Trümmer fielen zu Boden und lösten sich dort zu Asche auf. Die Silberkugel aber lag unbeschädigt auf dem Stuhl. Für Jerry Hall kam diese Hilfe zu spät. Der schwarze Nebel zog sich zurück. Hall kippte langsam zur Seite. Rick fing ihn auf. Der Magier merkte nichts mehr davon. Er war im Stehen gestorben.
Rick ließ Jerry Hall auf den Boden gleiten. »Das war Rettung in höchster Not«, sagte Chefinspektor Hempshaw, der seine Stimme wiedergefunden hatte. »Ja, Kenneth, wir haben es gerade noch einmal geschafft«, erwiderte der Geisterdetektiv. In der Pension ging es drunter und drüber. Mrs. Finton und ihre Tochter kamen in die Halle, die Gäste hasteten die Treppe herunter, die Todgeweihten waren von dem Bann befreit und schrien durcheinander. Rick Masters schob alle von sich. Er drängte sich ins Freie, wo er sehnsüchtig erwartet wurde. Sergeant Myers wischte sich bei seinem Anblick den Schweiß von der Stirn. Red lag schon in einem Krankenwagen. Als er den Geisterdetektiv entdeckte, winkte er mit schmerzverzerrtem Gesicht herüber, grinste aber gleichzeitig. Rick Masters nickte den Wartenden zu. Er wandte sich um, und da stand Hazel Kent mit Dracula auf dem Arm. Lächelnd ging Rick Masters auf die beiden zu. Hazel fiel das Lächeln noch sehr schwer, aber sie hielt sich tapfer. Rick legte einen Arm um ihre Schultern und streichelte Dracula, der sich unbändig freute. »Komm, wir fahren nach Hause«, 82 �
sagte Rick leise. »Hier haben wir nichts mehr zu tun.« »Ja«, antwortete Hazel. »Gehen wir! Ich möchte dieses Haus nicht mehr sehen!« Schaudernd wandte sie sich ab, und Rick Masters folgte ihr. Er hatte wieder einen Kampf gegen das Böse
gewonnen, doch das Böse ließ sich nicht ausrotten. Die nächste Auseinandersetzung stand bestimmt schon dicht bevor! Er nahm sich jedoch vor, die kurze Verschnaufpause so schön wie möglich zu verleben, denn jeder Kampf konnte sein letzter sein.
ENDE
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