Ein sündiger Engel
Judith Baker
Der CountrySängerin Cassie liegt die gesamte Männerwelt zwischen Nashville und Oklaho...
21 downloads
668 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Ein sündiger Engel
Judith Baker
Der CountrySängerin Cassie liegt die gesamte Männerwelt zwischen Nashville und Oklahoma zu Füßen, seitdem sie mit ihrem Lied den ersten Platz auf der Hitliste erobert hat. Doch sie verzehrt sich nur nach einem, dem erfolgreichen und faszinierenden Howard Temple. Obwohl er sie zwar heftig begehrt, scheint er aber an eine feste Bindung nicht zu denken…
by Judith Baker unter dem Originaltitel: „When Last We Loved“ erschienen bei Silhouette Books, a Simon & Schuster Division of Gulf & Western Corporation, New York. Übersetzung: Sabine Fischer Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANY Band 2 (10 2), 1983 by CORA VERLAG GMBH & Co, Berlin
1. KAPITEL Der ewige Westwind in Texas wehte den Staub der Prärie über die verwitterten grauen Gebäude, die das Geschäftszentrum von Coyote Bend ausmachten. Ein quadratisches Metallschild hing leicht windschief an einer verrostenden Kette. Die verblaßten, blauen Buchstaben wiesen darauf hin, daß Fensoms Drugstore nicht nur Mittel gegen alle Krankheiten bereithalte, sondern Familienfotos entwickele oder in einem Trauerfall die Beerdigung organisiere. „Hallo, Cassie! Warte einen Moment!“ Mrs. Evans stellte ihre überladene Einkaufstasche ab und hob eine rundliche Hand, um Cassie zuzuwinken. In diesem Augenblick fuhr Howard Temples Jeep vor und hielt mit kreischenden Bremsen vor der Bank. Cassies Herz schlug schneller. Nun war sie gefangen – auf der einen Seite der gutaussehende Cowboy, dem sie aus dem Weg gehen wollte, und auf der anderen Seite die einsame, alte Frau, die versuchte, sie einzuholen. Zum Glück betrat Howard die Bank, ohne sie zu begrüßen. „Es wird schrecklich einsam für uns werden, wenn du fort bist“, keuchte Mrs. Evans, die inzwischen herangekommen war. „Weißt du, ich kann mich schon gar nicht mehr daran erinnern, daß euer Land einmal von einem anderen als einem Creighton gepflügt worden ist.“ „Allein erwirtschafte ich nicht genug, um die Pacht aufzubringen, von einem Gewinn gar nicht zu reden.“ Cassie hatte es eilig, ihre letzten Angelegenheiten in der Stadt zu regeln und damit die Vergangenheit abzuschließen. Aber so eilig sie es auch haben mochte – nichts hätte es gerechtfertigt, unhöflich zu sein. „Außerdem hat Howard bereits neue Pächter gefunden. Sie sollen übermorgen einziehen.“ „Die Temples haben noch nie viel Zeit verschwendet, wenn es um ihr Geld ging“, bemerkte Mrs. Evans trocken. „Ich habe gekündigt, nicht die Temples“, sagte Cassie schärfer als beabsichtigt. Dann schwieg sie. Es hatte wenig Sinn, an ihrem letzten Tag in der Stadt noch Gerüchte über die Art ihrer Beziehung zu Howard Temple in Gang zu bringen. „Das ist natürlich schön für sie.“ Die alte Frau lachte leise. „Es kann nie schaden, wenn man sich einmal verändert.“ Cassies Erregung war ihrem aufmerksamen Blick nicht entgangen. „Ich hoffe nur, daß die Leute in Nashville begreifen, was für ein Talent du hast. Meine «Hände tun mir immer noch weh vom Klatschen am letzten Wochenende. Dein Auftritt bei unserem Tanz war wirklich mitreißend.“ „Es dürfte nicht leicht sein, im Musikgeschäft Fuß zu fassen.“ Cassie seufzte. „Sie müssen versprechen, mir die Daumen zu halten.“ „Ich glaube, du hast deine Prüfung schon bestanden. Am letzten Wochenende hast du das schwierigste Publikum für dich gewonnen“, behauptete Mrs. Evans. „Wenn arme Farmer aufhören, sich über Rechnungen und die Dürre die Köpfe heißzureden, um mit so großer Begeisterung zu deiner Musik zu tanzen, wie sie es getan haben, dann ist das ein großes Kompliment.“ „Nun, wir werden es bald wissen, nicht wahr?“ Cassie lächelte. „Zu schade, daß ich die Leute nicht einfach in einen Koffer packen und mit nach Nashville nehmen kann. Dann wären die Produzenten gezwungen, hellhörig zu werden.“ „Ich wollte, ich hätte einen Bruchteil deines Mutes gehabt, als ich noch jung war“, wünschte sich Mrs. Evans. „Ich hätte mich so schnell auf den Weg in die Stadt gemacht, daß man hier nur noch eine Staubwolke von mir gesehen hätte!“ Sie lächelte vieldeutig. „Man sieht es mir heute nicht mehr an, aber in meiner Jugend war ich eine richtige Schönheit. Ich hatte genug zu tun, die Männer abzuwehren, das kannst du mir glauben!“ Cassie hatte keinen Zweifel daran.
„Es ist wirklich ein Jammer, daß deine Eltern dich nicht mehr auf den Weg bringen können.“ Mrs. Evans schüttelte bekümmert den Kopf, während sie langsam zu ihrem schmutzverkrusteten Kombi hinüberging. „Der Himmel hab’ sie selig. Sie hatten nie einen Penny zuviel, aber sie ließen sich nie unterkriegen. Vergiß niemals deine Herkunft, Cassie. Behalt sie in guter Erinnerung.“ Cassie wandte sich ab. Die Worte der alten Frau taten ihr weh. Gedankenverloren rieb sie mit einem Papiertaschentuch über die verstaubte Scheibe eines seit langem leerstehenden Geschäftes. Jeder in Coyote Bend hatte sich über die Energie gewundert, mit der sie werktags die Farm bestellte, am Samstagabend Gesangsauftritte hatte und sich aufopfernd um ihre schwerkranke Mutter kümmerte. Niemand kam je auf die Idee, daß die Quelle ihrer Kraft eben der Mann war, den sie alle so herzhaft verfluchten, wenn es galt, die Pacht zu zahlen. Cassies Gedanken schweiften in die Vergangenheit. „Deine Augen sind der Spiegel deiner Seele.“ Howard Temple bedeckte Cassies Gesicht mit federleichten Küssen. „Wenn ich wissen will, was du denkst, muß ich dir nur in die Augen sehen.“ Seine Lippen berührten ihre geschlossenen Lider. Sie hob den Kopf. Sie sehnte sich danach, seinen Mund wieder auf ihrem zu spüren. Das Verlangen nach seiner Zärtlichkeit ließ sie alles andere vergessen. Howard Temple spielte schon, solange Cassie denken konnte, eine Rolle in ihrem Leben. Er war der Sohn des Landbesitzers, das schwarze Schaf der Familie, denn er interessierte sich mehr für RodeoReiten als fürs Geschäft. Howard wurde jedem ungehorsamen Kind als abschreckendes Beispiel vor Augen gehalten. Er war der Verführer zum Bösen, und Cassie war es von ihren Eltern streng verboten worden, sich in irgendeiner Weise mit dem ungestümen Cowboy einzulassen. Als sein Vater einen Schlaganfall erlitt, der ihn zum Invaliden machte, gab Howard augenblicklich sein unabhängiges PlayboyDasein auf und übernahm die Leitung der DiamondTRanch sowie der dazugehörigen Unternehmen. Zur Überraschung aller stellte sich alsbald heraus, daß der bisher so lebenslustige junge Mann ein ausgesprochen cleverer Geschäftsmann war. Mit Mißvergnügen registrierten die Angestellten, daß er mehr Leistung von ihnen verlangte als sein Vater. Manchmal verbrachte er mehrere Wochen auf der Farm eines Pächters, um die Arbeiten zu kontrollieren. Cassie hatte sich innerlich auf seinen Besuch vorbereitet, nachdem die Ernte zum zweitenmal in zwei aufeinanderfolgenden Jahren auf dem Halm verdorrt war. „Je eher du einsiehst, daß du kein Talent zum Farmer hast, desto eher können wir uns daranmachen, die Bilanzen der Farm wieder in Ordnung zu bringen“, begann Howard, kaum daß er auf der durchgesessenen Couch Platz genommen hatte. Er war ein muskulöser, athletischer Typ mit breiten Schultern, schmalen Hüften und langen, kräftigen Beinen. „Wieso bringst du deine Mutter nicht ins Krankenhaus in die Stadt?“ Er schien so beschäftigt mit dem Studium der Geschäftsbücher, die Cassie ihm wortlos gereicht hatte, daß sie sich nicht die Mühe machte, seine Fragen zu beantworten. Sie hatte ihre zusammengepreßten Hände in den Schoß gelegt. Sie fühlte sich plötzlich auf unerklärliche Weise hingezogen zu diesem gefährlich attraktiven Mann. Dieses Gefühl rang mit der peinlichen Verlegenheit über die Umstände, die zu seinem Besuch geführt hatten. „Dort wäre sie besser versorgt. Wir wären bereit, einen Teil der Kosten zu übernehmen.“ Sein Ton war beschwörend. „Du solltest das Ganze so sehen: Wenn deine Mutter im Krankenhaus ist, können wir diese Farm jemandem übergeben, der sie auch wirklich bewirtschaften kann, und du wärest dann frei, dich mehr um die Singerei zu kümmern, die dir ja, wie ich gehört habe, viel Spaß
macht.“ „Wie kannst du es wagen, mein Leben nach deinen finanziellen Interessen zu planen!“ Cassie erschrak selbst über die Heftigkeit ihres Ausbruchs. „Ich habe mich fast umgebracht, um diese gotterbärmliche Farm über die Runden zu bringen, und deine einzige Sorge ist das Geld!“ Obwohl sich ihr Zorn nicht gegen Howard richtete, rief sie wütend: „Meine Mutter wurde hier geboren, und sie wird auch hier sterben! Dies war immer ihr Zuhause, und niemand wird es ihr nehmen!“ Cassie haßte das KatzundMausSpiel, zu dem sich ihr Gespräch entwickelt hatte, aber sie war nicht gewillt, so einfach aufzugeben. „Falls du gekommen bist, um uns hinauszuwerfen, mußt du es gewaltsam tun, denn so einfach gebe ich nicht auf!“ „Du bist viel zu voreilig mit deinen Schlüssen“, knurrte er. Sie bemerkte, daß seine blauen Augen blitzten, als er sich ihr in den Weg stellte. „Es besteht keinerlei Notwendigkeit, mir die Tür zu weisen. Wenn du unbedingt hierbleiben möchtest, soll mir das recht sein. Aber zumindest könntest du mir doch helfen, einen Plan aufzustellen, der verhindert, daß die Farm noch weiter in die roten Zahlen gerät.“ Cassie wußte kaum, wie ihr geschah. Sie war zu stolz, um zu weinen, und so erleichert, daß sie kein Wort hervorbringen konnte. Howards Worte waren keine leeren Versprechungen. Während der nächsten Wochen arbeitete Cassie härter und lernte mehr über die Farmarbeit, als sie je für möglich gehalten hätte. Howards ständige Gegenwart und Ermutigung waren der Ansporn, den sie schon seit Monaten gebraucht hatte. Wenn Cassie im Morgengrauen die Augen aufschlug, stand sein Jeep schon auf dem Hof. Während sie in ihre Arbeitskleidung schlüpfte und sich das Haar zurückband, beobachtete sie aus dem Fenster, wie Howard die Ärmel hochkrempelte und dort weitermachte, wo sie am Tag zuvor mit der Arbeit aufgehört hatten. Zusammen zogen sie Entwässerungsgräben durch das Land und bepflanzten die Felder. Wenn es dunkel wurde, aßen Howard und Cassie in der Küche zu Abend. Dabei erzählten sie einander aus ihrem Leben, und es verging kein Abend, an dem sie nicht herzhaft miteinander gelacht hätten. Aber wenn dann das Wochenende kam, kehrte Howard nach Dallas zurück. Cassie füllte die langen Stunden ohne ihn, indem sie auftrat, neue Lieder schrieb und sich ihren Tagträumen hingab. „Mußt du heute abend wieder nach Dallas fahren?“ Es war Freitag abend, und Cassie haßte die Vorstellung, zwei lange Tage ohne Howard sein zu müssen. „Mein Auftritt für morgen abend ist abgesagt worden. Wenn du hierbleibst, könnten wir irgendwo ein Picknick machen oder sonst etwas unternehmen.“ Sie konzentrierte ihren Blick auf das Essen, damit er nicht den Hoffnungsschimmer in ihren Augen bemerkte. „Sieh mich an.“ Sie gehorchte. „Falls ich bleibe, dann nicht, well ich an dem Picknick interessiert bin.“ Er nahm ihre Hand in seine. Sie spürte die Wärme, die sein Körper ausstrahlte. „Wenn ich heute nacht bleibe, werde ich mit dir schlafen, Cassie.“ Ein Schauer des Verlangens überlief sie. Howard hatte den Ruf, hart und ungestüm zu sein, aber sie hatte in den letzten Wochen auch einen anderen, einen weicheren Howard kennengelernt. Sie hatte keine Angst vor ihm. Cassie nickte. Sie nahm seine Bedingung an. Als sie ihn dann jedoch wenig später in ihr kleines Schlafzimmer führte, befiel sie ein Gefühl der Trauer.
Ihrer Herkunft nach waren sie so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Ihre Lebensziele gingen in entgegengesetzte Richtungen. Howard hatte nie einen Zweifel daran gelassen, daß für ihn das Geschäft an erster Stelle kam. In ihrem Herzen wußte sie, daß diese wenigen Monate das einzige sein würden, was es je für sie beide zusammen geben konnte. Sie konnte seine Leidenschaft für das Land nicht teilen, und gleichzeitig machte sie sich keinerlei Illusionen darüber, daß sie sich jemals in jenen Kreisen in Dallas bewegen konnte, in denen er zu Hause war. Ihre erste intime Begegnung brannte sich Cassie tief ins Gedächtnis ein. Howards kräftige Finger öffneten die Knöpfe ihrer dünnen Baumwollbluse. Langsam zog er sie auseinander und genoß den Anblick ihrer bloßen Brüste. „Du bist schön.“ Sein warmer Atem streichelte ihre Haut. Er beugte sich herab und küßte ihren Hals. Cassie führte seinen Kopf langsam tiefer. Er öffnete ihre Jeans und streifte sie über ihre sanft gerundeten Hüften. Cassies Herz klopfte bis zum Hals. Ihre Sinne erwachten, und sie empfand eine nie gekannte Leidenschaft. Howard kniete vor ihr. Er legte seine Arme um sie und ließ seine Lippen zärtlich über ihren Körper gleiten. „Komm zu mir“, flüsterte er. Und so kniete sie sich neben ihn auf den kleinen Teppich neben ihrem schmalen Bett. Howard erweckte ein Verlangen in ihr, das ihr neu war. Seine sanft streichelnden Hände und Lippen ließen ihre Erregung mit jeder Berührung weiter wachsen. Mit einemmal hob Howard den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. „Möchtest du, daß ich aufhöre?“ Sein Mund liebkoste ihre zitternden Lippen. Sie schüttelte den Kopf. Howards sanfte Küsse hatten ihre Ängste besiegt. „Ich begehre dich schon seit langem“, sagte er mit rauher Stimme. „Du bist genauso, wie ich es erwartet hatte.“ Seine Lippen fuhren fort in ihrem verführerischen Spiel. „Liebe mich, Howard“, flüsterte sie und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Sie kannte in diesem Moment keine Zweifel. Sie lebte nur im Zauber des Augenblicks. Cassie versank in der unendlichen Tiefe des Verlangens. Ihre Körper verschmolzen miteinander in einem Wirbel der Leidenschaft. „Howard“, stöhnte Cassie immer wieder, während er forderte und gab, bis sie glaubte, es nicht länger ertragen zu können. „Ich mag es, dich zu verwöhnen, Cassie.“ Howard nahm sie in seine Arme, während sie erschöpft und zufrieden nebeneinander lagen. „Du weißt, wie!“ Cassie lief rot an vor Verlegenheit über ihre unerwartet kecke Antwort. „Erzähl mir mehr von deinen Reisen“, bat sie, um ihn abzulenken. Sie lagen zusammen auf dem schmalen Bett. Cassie hatte den Kopf auf Howards breite Brust gelegt und lauschte seinen Geschichten. San Francisco, Dallas, New York – er führte sie in eine neue, aufregende Welt, die sie sich irgendwann einmal erobern wollte. Cassie hatte miterleben müssen, wie ihre Eltern vorzeitig alterten über ihrem unermüdlichen Kampf mit den Launen der Natur und der harten, braunen Erde. Die unerbittlichen Forderungen ihrer Gläubiger zwangen sie zu einem Leben ohne Sonn und Feiertag. Gemeinsam hofften sie auf gute Ernten, und gemeinsam erlebten sie die Enttäuschungen über die Unbill des Wetters, die alle Hoffnungen wieder zunichte machte. Cassies Talent war der Fahrschein, der ihr helfen sollte, Coyote Bend zu verlassen. Und der Himmel mochte dem beistehen, der versuchen sollte, sie
daran zu hindern! „Ich habe Appetit, aber nicht darauf.“ Howard brachte Cassie immer eine Schachtel Pralinen mit, wenn er aus Dallas zurückkehrte. Ein verführerisches Lächeln umspielte seine Lippen, als er es ablehnte, die Süßigkeiten mit ihr zu teilen. Cassie versuchte, das erneut aufsteigende Verlangen ihres Körpers zu ignorieren. Es zeigte, wie sehr sie ihn vermißt hatte. Zu sehr schon war sie von seinen Besuchen abhängig geworden, die etwas Farbe in die Monotonie ihres Alltags brachten. Cassie wußte, daß Howard sie begehrte und daß er ebensoviel Spaß an ihrem Liebesspiel hatte wie sie. Sie protestierte nie dagegen, daß er nicht mit ihr ausging. Es war klar, daß man sie nicht zusammen in der Öffentlichkeit sehen durfte. Mai und Juni vergingen. Der Juli kam mit drückender Hitze. „Irgend etwas quält dich.“ Howard legte die Hand unter ihr Kinn und musterte Cassie forschend. Ein greller Blitz kündigte das Gewitter an, das schon den ganzen Tag über in der Luft gelegen hatte. „Wir werden uns eine Zeitlang nicht sehen können.“ Cassie vermied es, Howards Blick zu begegnen. Er sollte ihre Lüge nicht entdecken. Der Schmerz in ihrer Brust war nahezu unerträglich. „Wegen deiner Mutter? Geht es ihr schlechter?“ Howards aufrichtige Sorge berührte Cassie tief. Sie nickte. „Der Doktor wird fortan bei ihr bleiben. Die Medizin hilft nicht mehr. Sie braucht alle vier Stunden eine Spritze.“ Sie holte tief Luft. „Er sagt, es sei eine Sache von Tagen, höchstens aber einer Woche.“ „Es tut mir leid.“ Howards offenkundiges Mitgefühl tröstete Cassie ein wenig, aber sie wußte, daß er das volle Ausmaß ihrer Angst nicht erahnen konnte. „Versprich mir, mir zu sagen, wenn ich helfen kann. Falls du Geld brauchst oder einen Krankenwagen nach Dallas, oder aber eine Schulter, an der du dich ausweinen kannst – ich bin immer für dich da.“ Cassie nickte, obwohl sie wußte, daß sie sein Angebot niemals annehmen würde. „Du kannst bereits anfangen, dich nach einem neuen Pächter umzusehen. Ich glaube nicht, daß ich mir deine Arbeitskraft noch lange leisten kann.“ Sie lächelte über ihren schwachen Versuch zu scherzen. „Du kannst hierbleiben, so lange du willst.“ Er bedeckte ihr Gesicht mit federleichten Küssen. „Aber ich nehme an, es ist leichter für dich, in der Stadt zu leben.“ Cassie wollte ihm die Wahrheit gestehen, aber sie brachte die Worte nicht über die Lippen. Sie konnte Howard nicht sagen, daß sie Coyote Bend verlassen wollte. Es hatte keinen Sinn, ihren letzten gemeinsamen Abend mit einem Streit zu verderben. Ihr Liebesspiel war wie der Sturm, der gegen die Scheiben peitschte – wild und ungestüm. Cassie bog sich Howard entgegen, besessen von dem Wunsch, ihn ein letztes Mal ganz nah bei sich zu spüren. Ihre Leidenschaft ähnelte einem bodenlosen Abgrund, in den sie sich stürzte, ohne an die Verzweiflung des nächsten Tages zu denken. Der Wind ließ das alte Metallschild gegen das Gebäude scheppern. Cassie erwachte aus ihren Erinnerungen. Richter Foleys Cadillac stand bereits vor dem Drugstore. Cassie stieß die Schwingtür des Ladens auf und trat ein. Sie war hier mit ihm verabredet. Das Treffen sollte ihr die letzten Türen zur Freiheit öffnen. „Guten Morgen.“ Der Richter saß über ein Kartenspiel gebeugt und sah nicht auf,
als seine Klientin hereinkam. Obwohl Cassie es eilig hatte, wußte sie, daß sie dieses Ritual nicht unterbrechen durfte. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich ohne Ihre berühmten SchokoShakes überleben werde, Ray. Ich fürchte, ich muß Sie kidnappen und mitnehmen nach Nashville.“ Cassie schwang sich auf einen der hohen Barhocker und schlug ihre wohlgeformten Beine übereinander. „Du bist immer noch darauf aus, deinem Traum nachzulaufen, ja?“ Ray Fensom, der Besitzer des Drugstores, sah von seinen Karten auf und warf ihr über den Rand seiner Brille einen forschenden Blick zu. „Ich will es versuchen“, bestätigte sie. „Mein Traum ist alles, was mir jetzt geblieben ist.“ Cassie wußte, daß seine Sorge einer väterlichen Zuneigung entsprang, die er seit dem Tod ihres Vaters vor zwei Jahren für sie empfand. „Es hat keinen Zweck, daß Sie versuchen, mich umzustimmen, Ray. Meine Entscheidung ist gefallen. Ich wollte schon immer Sängerin werden, und jetzt setze ich den Plan endlich in die Tat um.“ Der Keim zu Cassies Traum war bereits in ihrer Kindheit gelegt worden, als sie ihren Vater auf dem Banjo spielen hörte. Ihre Mutter sang dazu. Es gab keinen CountrySong im Radio, den die beiden nicht kannten. Als Cassie sechzehn wurde, schenkten ihre Eltern ihr eine billige Gitarre. Von da an verbrachte sie jede freie Minute damit, die Musik zu spielen, die sie so sehr liebte. Kirchenfeste, Dorftänze und ähnliche Anlässe gaben ihr die Möglichkeit, erste Erfahrungen auf der Bühne zu sammeln. Mit der Zeit entwickelte sie ihren eigenen Stil. „Nun, du kennst ja meine Telefonnummer – falls du einmal etwas brauchen solltest“, meinte Ray lächelnd, während er die Karten neu mischte. „Ich bin gleich bei dir, Cassie“, sagte der Richter, ohne von den Karten aufzusehen, die er gerade aufgenommen hatte. „Ich brauche nur noch zwei Punkte, um diesen Kerl hier endlich einmal zu besiegen.“ „Drei!“ Ray übertrumpfte die Karte des Richters und hatte damit schon wieder gewonnen. Ray lachte triumphierend, während der Richter verdrossen die zwei Dollar auf den Tisch warf, mit denen der Verlierer die Getränke der Mitspieler bezahlen mußte. Jetzt erst wandte Richter Foley seine Aufmerksamkeit Cassie zu. Er zog einige zusammengefaltete Papiere aus der Brusttasche seines Hemdes. „Gestern habe ich die Aufhebung des Pachtvertrages von Temple bekommen. Außerdem hat die Zulassungsstelle bestätigt, daß der Wagen deines Vaters jetzt dir gehört. Damit dürfte also alles Notwendige geregelt sein. Willst du dich jetzt mit den Papieren befassen?“ „Ja, nur zu.“ Sie griff nach den Dokumenten und unterschrieb sie, ohne den Inhalt noch einmal zu kontrollieren. Sie wußte, daß sie Richter Foley voll und ganz vertrauen konnte. „Ich muß gestehen, daß ich mich schon darauf freue, wenn du berühmt geworden bist, vor den Leuten damit protzen zu können, daß ich dich einmal persönlich gekannt habe“, meinte Ray mit einem verschmitzten Lächeln und schob Cassie ihren geliebten SchokoShake zu. „Sie sollten sich nicht zu früh freuen“, warnte Cassie. Sie gab Richter Foley seinen Kugelschreiber zurück und meinte: „Es will mir wirklich nicht gefallen, daß Sie auf Ihr Honorar verzichten.“ „Ist schon gut, Mädchen. Ich wäre beleidigt, wenn du mir Geld anbötest“, brummte Richter Foley. „Ich hoffe, dir ist klar, was du dir da für einen schweren Weg ausgesucht hast.“ Ray polierte ein Glas und hielt es prüfend gegen das Licht.
„Ich glaube, der Weg ist nicht beschwerlicher als der, der hinter mir liegt.“ Cassie mußte an das denken, was die neuen Pächter erwartete, wenn sie das alte Farmhaus bezogen. Die Frauen würden zusammen mit ihren Männern die Felderbestellen und Tag um Tag die Mahlzeiten zubereiten, die den Hunger, den die Feldarbeit verursachte, doch nie ganz stillen konnten. „Wann willst du abfahren?“ Der Richter riß ein Streichholz an seiner Schuhsohle an und hielt es an seine Pfeife. „Morgen früh.“ Cassie steckte die Wagenpapiere des uralten Kombis ihres Vaters ein. „Ich will mich früh auf den Weg machen. Vielleicht kann ich dadurch die Hauptverkehrszeit in Dallas umgehen.“ An sich hatte sie vor, direkt durchzufahren bis Taxarkana, aber das behielt sie lieber für sich. Der Richter und Ray würden ihr mit Sicherheit davon abraten, gleich am ersten Tag eine solche Strecke auf der Autobahn zurückzulegen. Aber es blieb nun einmal eine Tatsache, daß sie nicht genügend Geld hatte, um häufiger als unbedingt notwendig zu übernachten – nicht einmal in billigen Motels. „Hast du genügend Geld, um dich über Wasser zu halten, bis du in Nash ville Arbeit gefunden hast?“ Richter Foley blickte sie besorgt an. Er war Zeuge gewesen, als sie das Bankkonto ihrer Mutter auflöste. Cassie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Sie hatte sich geschworen, von niemandem auch nur einen Penny anzunehmen. „Es reicht schon“, versicherte sie und war dem Richter unendlich dankbar dafür, daß er sich nicht laut über den kläglichen Zustand ihrer Finanzen ausließ. „Ich muß mir wahrscheinlich irgendeinen Job suchen, während ich die Runde bei den Schallplattenproduzenten mache, aber ich bin sicher, daß ich schnell etwas finde.“ Es war Zeit zu gehen. Sie mußte noch packen und das Haus etwas in Ordnung bringen. Cassie glitt vom Hocker und ging um den Tresen herum, um sich von Ray zu verabschieden. „Laß mal wieder etwas von dir hören“, brummte er. Als der Richter sich erhob, um ihr die Hand zu schütteln, hatte Cassie Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Aber Tränen konnten ihr wirklich nicht helfen. Sie änderten nichts. Alle wußten, daß sie nie wieder nach Coyote Bend zurückkehren würde – ob sie nun ihren Weg machte oder nicht. „Vielen Dank für alles.“ Das leichte Zittern ihrer Stimme verriet mehr als Worte ihre Dankbarkeit für die vielen großen und kleinen Gefälligkeiten, die man ihr im Laufe der Jahre erwiesen hatte. Hastig drehte sie sich um und verließ den Drugstore. Niemand sollte sehen, wie es in ihr aussah.
2. KAPITEL Während Cassie das Haus saubermachte, waren ihre Gedanken Hunderte von Meilen weit fort. Sie hörte nicht, daß jemand hereinkam. „Was zum Teufel geht hier vor?“ Howard packte sie beim Arm und zog sie vom Spülbecken fort, das sie gerade scheuerte. Sein Blick verriet, daß er inzwischen über ihre Pläne informiert war. „Howard, du hast mich erschreckt!“ Sie hatte ihn bisher noch nie zornig erlebt und war sich nicht sicher, welche Ausmaße die Szene annehmen würde. Dies war die Art von Abschied, die sie vermeiden wollte. „Ich… ich habe keinen Besuch erwartet.“ Ihre Stimme war brüchig. Sie mußte tief Luft holen, bevor sie fortfahren konnte: „Was willst du?“ „Zuerst einmal solltest du aufhören, mich anzusehen wie ein Kaninchen die Schlange“, knurrte er. „Dann könntest du mir erklären, wieso ich erst von Fremden erfahren mußte, daß du die Stadt verläßt.“ Seine Finger preßten sich schmerzhaft in ihren Arm. „Ich wollte uns nur eine häßliche Szene ersparen – wie diese hier.“ Cassie entwand sich ihm und rieb sich den Arm. Dann nahm sie ein Blatt Papier auf, das auf dem Küchentisch gelegen hatte, und reichte es ihm. „Das solltest du hier vorfinden.“ Sie bemühte sich, so gleichmütig wie möglich zu sprechen, um nicht zu verraten, wie es wirklich in ihr aussah. Er nahm den Brief und las ihn stirnrunzelnd. Cassies Herz schmerzte, als sie ihn so beobachtete, aber ihre Miene verriet nichts von ihren Gefühlen. „Kommt diese Entscheidung nicht etwas plötzlich?“ Howard musterte sie durchdringend, bis sein Blick schließlich auf ihrer Taille verweilte. „Sag nur nicht, daß du schwanger bist.“ „Keine Sorge, Howard. Es ist mir durchaus bewußt, was für eine Schande es für die Temples wäre, wenn sich ihr kostbares Blut jemals mit solch niedrigem wie meinem verbinden sollte.“ So! Es war endlich heraus! Schon seit Monaten hatte sie darunter gelitten, Howard sozial nicht ebenbürtig zu sein. Nie würde sie sich in seinen Kreisen bewegen können! Da er schwieg, fuhr sie fort: „Du wirst dich damit abfinden müssen, daß dir hier nichts gehört außer deinem kostbaren Land“, bemerkte sie spöttisch. „Wer hat dir denn diese Idee in den Kopf gesetzt?“ Der drohende Unterton seiner Stimme erinnerte sie irgendwie an das dumpfe Grollen des Gewitters, das ihre letzte Nacht der Liebe begleitet hatte. „Ich bin sicher, daß du keinerlei Schwierigkeiten haben wirst, einen Ersatz für mich zu finden, falls das der Grund für deinen Besuch sein sollte.“ Cassie schlug alle Vorsicht in den Wind. Ihr Zorn ließ sich nicht länger zügeln. „Ich möchte wetten, daß mindestens noch ein halbes Dutzend anderer Frauen in Diensten bei ,Diamond T’ stehen. Du kannst doch sicher eine von ihnen überreden, ihrer Familie das Zuhause zu erhalten, indem sie mit dir ins Bett steigt.“ „Erpressung war noch nie mein Stil.“ Howards Miene hatte sich verfinstert. „Und ich bin auch nicht die ganze Strecke hierher gefahren, um mich mit dir zu streiten. Soweit ich mich erinnere, mußte ich dich durchaus nicht gegen deinen Willen in dein Schlafzimmer zerren!“ „Es tut mir leid, Howard.“ Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern, als ihr Kampfgeist sie verließ. Sie wußte, daß sie nicht fair spielte, aber sie wußte einfach nicht, wie sie mit ihren Gefühlen fertig werden wollte. „Ich weiß, daß ich es dir schon früher hätte sagen sollen, aber ich… ich konnte es nicht. Ich habe noch etliches zu erledigen, bevor ich fahre.“ Sie schluckte. „Vielleicht solltest du
jetzt besser gehen.“ Sie kehrte ihm den Rücken zu und fuhr fort mit ihrer Arbeit. „Du hast eine schwere Zeit hinter dir. Zuerst der Tod deiner Mutter und dann auch noch die ganzen juristischen Formalitäten.“ Er drehte sie zu sich herum, entwand ihr den Putzlappen und legte ihn beiseite. Sein warmer Atem strich über ihren Nacken, als er Cassie zärtlich an sich zog. „Wieso entspannen wir uns nicht ein wenig und versuchen, die Angelegenheit etwas ruhiger zu sehen? Dann werden wir alles besprechen. Ich bin sicher, daß wir eine Lösung finden können, die uns beiden paßt.“ „Ich will nicht mit dir schlafen, Howard.“ Sie schloß die Augen. „Und es gibt auch nichts, was wir noch zu besprechen hätten. Meine Entscheidung ist gefallen. Ich fahre morgen früh ab. Du vergeudest nur deine Zeit und deinen Charme.“ Ihr Ton war bitter geworden. „Was willst du haben, das ich dir nicht geben könnte?“ Cassie versuchte, ihn von sich zu schieben, als er ihr den Brief, den sie ihm geschrieben hatte, vor Augen hielt. „Ich will eine Chance, mich zu beweisen. Allein und selbständig.“ Cassie senkte den Blick. Sie hätte es nie für möglich gehalten, daß der Schmerz über den Abschied so stark sein könnte. „Aber wieso? Selbständiger als jetzt kannst du doch gar nicht mehr sein!“ „Ich wußte, daß du mich nicht verstehen würdest. Deswegen wollte ich auch nicht mit dir über meine Pläne sprechen.“ „Viele Leute haben mir schon vorgeworfen, ich sei ein Dickschädel, aber du bist die erste, die mir unterstellt, ich sei zu dumm, um ein paar einfache Tatsachen zu begreifen.“ Er hob ihr Kinn an und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. „Komm schon, gestehe!“ Er lachte leise. „Was steckt denn hinter diesem NashvilleUnsinn?“ „Es ist kein Unsinn!“ protestierte Cassie. „Wenn du mir jemals wirklich zugehört hättest, wüßtest du, wieviel mir die Musik bedeutet.“ Sie musterte ihn stumm. „Siehst du denn nicht, wie verschieden wir sind?“ „Nun, ich muß gestehen, daß mir diese Unterschiede in letzter Zeit sehr angenehm aufgefallen sind.“ Sein Blick glitt bewundernd über ihren Körper. Ein Schauer überlief Cassie bei der Erinnerung an seine Berührung. „Soweit ich mich recht erinnere, waren es ja eben diese Unterschiede, die mich dazu bewogen, so oft hierherzukommen.“ „Das habe ich nicht gemeint, und du weißt es auch!“ Sie haßte es, wenn er sich lustig über sie machte. „Sieh dich einmal gut um, Howard!“ forderte sie ihn auf. Howard sah die zerkratzten Schränke, den wackeligen Tisch, die Tapete, die sich bereits von den Wänden löste. Er sah es – und tat es mit einem gleichmütigen Schulterzucken ab. „Wachst du niemals mitten in der Nacht auf und fragst dich, wie es sein konnte, daß du dich mit einer armseligen Farmerstochter eingelassen hast?“ Es tat Cassie weh, die Wahrheit, wie sie sie sah, so brutal auszusprechen. „Du weißt es doch selbst, Howard. Ich bin ein Nichts, und werde es immer bleiben…“ „Hör auf!“ Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. „Wer hat dir diesen Unsinn eingeredet?“ „Niemand, ich schwöre es!“ Cassie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Warum nur machte er ihr den Abschied so schwer? „Du bist der attraktivste Mann, den ich je kennengelernt habe, und ich werde nie vergessen, was zwischen uns war. Aber ich bin intelligent genug, um Champagner und Selbstgebrautes auseinanderhalten zu können. Es gibt nur einen Platz auf der Welt, wo wir gleichrangig sind, Howard, und das ist nicht genug für mich.“ „Mein Gott, das darf doch nicht wahr sein!“ Howard schüttelte den Kopf. „Was
zum Teufel hat das alles mit uns zu tun?“ „Sehr viel. Überlege dir doch einmal, was es für eine Zukunft für uns geben könnte. Sei ehrlich dabei! Ich habe lange darüber nachgedacht.“ Das stimmte. Die finstere Aussicht hatte sie Tag und Nacht gequält und gedroht, ihren Stolz zu untergraben. „Die Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen. Ich…“ Ihre Stimme brach. Sie mußte sich räuspern, bevor sie weitersprechen konnte. „Geld ist nicht das einzige Mittel, das einen Menschen reich macht, Howard. Dein Leben ist reich an Erfahrungen, Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten, von denen ich bisher nur gelesen oder gehört habe. Ich bin nur die Tochter eines Pächters, die stets auf der Schattenseite des Lebens gestanden hat. Ich bin noch nie weiter als fünfzig Meilen von zu Hause fort gewesen.“ „Dann bin ich also dafür verantwortlich, wer von uns in welche Familie hineingeboren wurde?“ Sein Ton war vorwurfsvoll. „Natürlich nicht!“ Sie hielt seinem Blick stand. „Schon bevor ich dich kennenlernte, hatte ich ein Ziel vor Augen, einen Traum. Und dieser Traum war alles, woran ich mich klammern konnte, als mein Vater starb, oder als der Pflug zum xsten Mal repariert werden mußte, oder aber, als der Arzt mir sagte, daß meine Mutter nicht wieder gesund werden würde.“ Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Sie begriff, wie unsinnig das alles für ihn klingen mußte. „Ich will Sängerin werden, Howard. Ich glaube, daß es vielleicht doch irgendwo etwas Licht geben könnte in meiner Zukunft. Ich möchte frei sein, für meinen Erfolg zu arbeiten oder zumindest, meine eigenen Fehler zu machen.“ „Ich nehme an, als nächstes wirst du noch sagen, ich sei der erste große Fehler deines Lebens gewesen.“ Sein Sarkasmus tat ihr weh. „In mancher Hinsicht, ja – in anderer, nein. Ich hätte nicht mit dir schlafen sollen, das weiß ich jetzt. Alles wäre dann jetzt leichter. Aber ich habe dir auch einiges zu verdanken. Als du diese Farm wieder in Schwung brachtest, hast du mir gezeigt, daß es das Wort ‚unmöglich’ nicht gibt. Du hast mir den Glauben an mich selbst wiedergegeben, den Glauben an meine Fähigkeiten.“ „Dann laß mich dir doch weiter helfen. Du wirst alles haben, das du glaubst, bisher entbehrt zu haben, und noch mehr.“ Seine Stimme wurde rauh vor Verlangen. „Und noch wichtiger: Wir werden zusammen sein.“ Sein Vorschlag zeigte ihr, daß sie völlig aneinander vorbeigeredet hatten. „Wir wären nicht zusammen, Howard“, sagte sie müde. „Ich säße in Coyote Bend fest. Mein einziger Lebensinhalt wäre, auf deine Entscheidung zu warten, ob und wann wir miteinander schlafen.“ Ihr Stolz trieb sie dazu, weiterzusprechen, obwohl ihr das Herz dabei fast zu brechen drohte. „Zum letztenmal – ich möchte nicht deine Geliebte sein. Ich will nicht hier festsitzen, während du kommen und gehen kannst, wie es dir beliebt. Ich möchte mehr vom Leben haben – ich habe ein Recht auf mehr.“ Sie sehnte sich danach, die Hand auszustrecken und ihn ein letztes Mal zu berühren, aber sie widerstand der Versuchung. „Ob du nun bereit bist, es zuzugeben oder nicht: das ,DiamondTUnternehmen’ ist deine erste Liebe. Ich respektiere die Tatsache, daß du dort deine Verpflichtungen hast. Aber auch ich habe Verpflichtungen – Verpflichtungen mir selbst gegenüber. Wenn ich keinen Gebrauch mache von meiner Stimme und dem Talent, das ich vielleicht besitze, dann wird etwas in mir verwelken und schließlich absterben. Ich kann nicht alles haben, und das bricht mir das Herz. Aber ich muß versuchen, das zu bekommen, das am besten für mich ist.“ „Es ist schon ziemlich lange her, daß eine Frau mir einen Korb gegeben hat.“
„Ich habe dir nie etwas vorgemacht, Howard. Aber falls es dir die Trennung erleichert, kannst du das gern glauben.“ Cassie lächelte müde. Wenn sie jemandem etwas vorgemacht hatte, dann sich selbst. „Wir haben zu wenig gemein, um die Art von Beziehung miteinander zu haben, die wir beide verdienen. Wenn irgendwann unsere Leidenschaft verlöschen würde, wären wir Fremde füreinander, die sich hassen und einander Vorwürfe machen, obwohl eigentlich keiner von uns schuld wäre.“ Tränen strömten über ihre Wangen. „Ich nehme an, du wirst dies nicht benutzen, um eine Wohnung anzuzahlen.“ Howard preßte die Lippen hart aufeinander. Er zog einen Scheck aus der Brusttasche seines Hemdes. „Es ist deine Abfindung für die Farm.“ „Ich will sie nicht“, schluchzte Cassie. „Das wäre wie… wie Blutgeld.“ „Du undankbare, kleine Hexe!“ Howard zog sie unvermittelt in seine Arme. Seine Lippen suchten ihren Mund. Seine Berührung ließ sie alles andere vergessen. Sie schmiegte sich an ihn. Howards Lippen glitten über ihren Hals, langsam und verführerisch. Sie entfachten ein überwältigendes Feuer der Leidenschaft in ihr. „Nein, Howard, bitte!“ Ihr Protest war kaum hörbar. Er ignorierte ihren Einwand und zog sie noch enger an sich. Cassies Widerstand erlahmte vollends. Abrupt ließ Howard sie los. Fast wäre sie gestolpert. „Ich weiß immer noch nicht, was du dir von Nashville versprichst. Ich weiß nicht, was es sein könnte, das ich dir nicht auch hier geben kann. Aber ich hoffe, daß du es findest!“ Seine Miene verriet keinerlei Gemütsregung. Er warf den Scheck mit einer solch heftigen Bewegung auf den Küchentisch, daß das Stück Papier fast auf der anderen Seite wieder heruntergefallen wäre. Howard machte auf dem Absatz kehrt und ließ Cassie allein zurück. Sie nahm seinen Scheck und zerriß ihn mit zitternden Fingern in kleine Stücke. Cassie griff zum Einschaltknopf ihres Autoradios und suchte einen Sender, der Countrymusic spielte. Während sie den vertrauten Klängen lauschte, wurde die Depression, die sie nach ihrem Abschied von Coyote Bend beschlichen hatte, von einem Gefühl prickelnder Erregung verdrängt. Die Sonne war eben erst aufgegangen, als sie an diesem Morgen ihre wenigen Habseligkeiten aus dem alten Farmhaus getragen hatte. Ganz bewußt übersah sie dabei die tiefen Spuren auf der Auffahrt, die Howards Jeep im Laufe der Zeit hinterlassen hatte. Entschlossen zog sie die Tür hinter sich zu und machte sich daran, die vielen Pappkartons, die sie mangels Koffer genommen hatte, in ihrem alten Wagen zu verstauen. Ihr langes, rotes Haar hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten. Im Hinblick auf die unausweichliche Mittagshitze hatte sie eine ärmellose Baumwollbluse und leichte Jeans angezogen. Es war immer noch früh, als sie schließlich die Autobahn erreichte und nach Osten fuhr. Cassie drehte die Scheibe herunter und lehnte ihren Arm auf den Rahmen. Ein heißer Fahrtwind war besser als gar keine Brise. Es schien wieder einer jener unerträglich heißen Augusttage zu werden. Cassie kam gut voran. Gegen Mittag beschloß sie, Halt zu machen. Sie parkte ihren Wagen vor einer gutbesuchten Autobahnraststätte. Ein gutes Dutzend neugieriger Männeraugen musterten sie, als sie sich an einen kleinen Fenstertisch setzte. Cassie schob ihre übergroße Sonnenbrille zurück und trank durstig von dem Eiswasser, das die Serviererin ihr sofort gebracht hatte. „Hallo! Ich heiße Ruth. Was soll’s denn sein. Das Tagesgericht ist rote Bohnen mit Maisbrot“, meinte sie hilfsbereit, als sie sah, wie Cassies Blick über die bescheidene Speisekarte glitt. „Es kostet einen Dollar fünfzig, mit Nachschlag.“
„Rote Bohnen und Maisbrot klingt nicht schlecht.“ „Okay. Bin gleich wieder da.“ Die Kellnerin ging zur Theke, um die Bestellung aufzugeben. Cassie beobachtete sie eine Weile beim Servieren, nahm dann eine Landkarte aus ihrer Handtasche und begann sie zu studieren. „Ich habe Ihnen eine extra große Portion gebracht.“ Die freundliche Serviererin stellte eine große Schüssel mit Bohnen auf den Tisch, die in einer dampfenden Soße schwammen. Cassie lächelte ihr dankbar zu, bevor sie herzhaft in das geröstete Maisbrot biß. Sie aß, bis sie das Gefühl hatte, wirklich keinen Bissen mehr herunterzubekommen. In ihrer Eile hatte sie sich am Morgen keine Zeit zum Frühstücken genommen. Nach dem Essen nahm Cassie sich erneut ihre Straßenkarte vor und rechnete sich aus, wie weit es noch bis Dallas war. „Wohin soll’s denn gehen, Kleine?“ Ruth setzte sich zu Cassie und legte dabei die Beine hoch, um sich etwas Ruhe zu gönnen. „Ich will nach Nashville“, erklärte Cassie. „Sie wollen Sängerin werden.“ Es war keine Frage, es war eine Feststellung. Die Serviererin musterte Cassie aufmerksam, während diese sich verblüfft fragte, wie Ruth sie so schnell durchschaut haben mochte. Machte sie sich etwa lustig über sie? In diesem Moment murmelte die Serviererin: „Vor Jahren war das auch einmal mein Ziel. Ich bin aber nur bis hierher gekommen.“ Cassie warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Sie hoffte inständig, daß Ruth sie jetzt nicht mit ihrer ganzen Lebensgeschichte beglücken würde. Es war schon fast halb zwei. Wenn sie nicht bald weiterfuhr, geriet sie mit Sicherheit in den gefürchteten Feierabendverkehr um Dallas. „Und was ist passiert?“ Die Höflichkeit gebot es, diese Frage zu stellen. „Ach, es sind Tausende von Dingen dazwischengekommen, die heute nicht mehr wichtig sind“, erwiderte die Kellnerin. „Das Ergebnis war ein Ehemann, der verschwand, als die Lage brenzlig wurde, und zwei Kinder, die nur dank meiner Trinkgelder anständige Kleider hatten.“ „Das tut mir leid.“ Cassie wußte nicht, was sie sonst noch sagen sollte. Sie zog ihre Geldbörse hervor, um zu zahlen. „Das ist schon gut so, Kleine.“ Ruth winkte ab, als Cassie protestierte. „Ich weiß nicht, warum, aber ich habe das Gefühl, daß Sie zu den wenigen Glücklichen zählen werden, die es schaffen. Sie müssen mir aber einen Gefallen tun. Wenn Sie eines Tages auf der Bühne stehen und das Publikum jubelt ihnen zu, dann denken Sie an die alte Ruth und singen ein Lied für sie.“ Sie zwinkerte Cassie zu, dann eilte sie zu dem rauhbeinigen Fahrer hinüber, der gerade hereingekommen war und sie nun mit einer herzhaften Umarmung begrüßte. Cassie tankte und machte sich dann wieder auf den Weg. Die Sonne stand schon tief am Himmel, als sie Dallas erreichte. Sie war so sehr damit beschäftigt, den richtigen Weg zu finden, daß sie das rote Licht auf ihrem Armaturenbrett nicht bemerkte. Dunkle Rauchschwaden und der Geruch brennenden Gummis ließen sie schließlich aufmerken. Fast wäre sie auf den vor ihr fahrenden Wagen aufgefahren, so eilig hatte sie es plötzlich, auf die Standspur zu kommen. Der alte Motor ächzte und stöhnte, als Cassie ihn abstellte. Ihr Herz sank. Sie wußte so gut wie nichts über Autos, aber sie hatte das ungute Gefühl, daß die Reparatur ihre finanziellen Möglichkeiten weit übersteigen würde.
3. KAPITEL „Wie lange ist es her, seit dieser Wagen einmal völlig überholt worden ist?“ Der untersetzte Mechaniker warf Cassie einen mißbilligenden Blick zu. Er wußte besser als sie, daß der Wagen schon seit langem einige teure Reparaturen nötig hatte. „Was ist denn eigentlich los damit?“ Cassie stellte sich auf das Schlimmste ein. Es widerstrebte ihr zwar, ihre Unkenntnis einzugestehen, aber sie mußte sich ein Bild über das Ausmaß des Schadens verschaffen. „Als Bill den Wagen auf der Hebebühne hatte, stellte er fest, daß die Bremsen mehr oder weniger hin sind, und daß es nur noch eine Frage von Kilometern ist, bis der Auspuff abfällt. Der Kühler ist so heiß wie der Revolver eines Sheriffs nach einem Banküberfall, und die gesamte elektrische Verkabelung ist keinen roten Heller mehr wert.“ Er rieb seine ölverschmierten Hände an einem nicht minder verschmierten Tuch ab. Cassie wußte, daß ihr Notgroschen dahin war. „Wie teuer wird die Reparatur werden?“ fragte sie mit dem Mut der Verzweiflung. „Wie weit wollten Sie noch fahren?“ „Bis Nashville.“ Kaum waren die Worte heraus, bedauerte Cassie sie auch schon. Ebensogut hätte sie sagen können, daß der Wagen sie noch bis zum Mond bringen sollte. „Der Spaß dürfte Sie mindestens zweihundertundfünfzig Dollar kosten.“ Der Mechaniker schüttelte langsam den Kopf. Er schien sich zu wundern, daß der Motor seinen Geist noch nicht eher aufgegeben hatte. „Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Miss. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich diese Karre bei erstbester Gelegenheit verkaufen. Sie wird Ihnen in Zukunft nur noch Ihr sauer verdientes Geld aus der Tasche ziehen.“ Cassie drehte sich zur Seite, so daß der Mann nicht die Tränen sehen konnte, die ihr in die Augen gestiegen waren. Sie hatte sich ihr eigenes Grab geschaufelt, als sie Howards Scheck zerriß. Die Reparatur würde sie fast um ihr ganzes Geld bringen. Sie hatte das Gefühl, daß ihre Träume in der glühenden Hitze dahinschmolzen. „Kann ich es mir noch eine Weile überlegen?“ „Natürlich, so lange Sie wollen“, versicherte er ihr freundlich. „Der Wagen fährt in diesem Zustand nirgendwohin.“ Er lachte über seinen kleinen Scherz und eilte zur Tanksäule hinüber, um einen anderen Kunden zu bedienen. Cassie überquerte die Straße und ging ein Stück im Schatten, während sie ihre Möglichkeiten überdachte. Vielleicht konnte sie den Wagen an den Mechaniker verkaufen und mit dem Bus nach Nashville weiterfahren. Allein die Vorstellung, ihre Gitarre und alle Pappkartons mit sich zur nächsten Bushaltestelle zu schleppen, ließ sie diesen Gedanken verwerfen. Außerdem: Wer wollte schon diese „Karre“ haben, in die man zunächst zweihundertfünfzig Dollar an Reparaturkosten stecken mußte? Ein Luftzug streifte Cassies Arm, als zwei Männer aus einem der Gebäude kamen. Sie sah auf – und ihr Blick fiel direkt auf ein großes, rotweißes Schild: „Serviererin gesucht“. Es stand im Fenster eines Restaurants, das gegenüber der Tankstelle lag. Plötzlich wußte sie, wie sie ihre Reparaturrechnung zahlen und möglicherweise sogar noch ein kleines Notpolster schaffen konnte. Cassie betrat das schwach beleuchtete Restaurant. Schaler Zigarettendunst und der Geruch von abgestandenem Bier stiegen ihr in die Nase. „Falls du deinen Daddy suchst, Kleine – er ist gerade nach Hause gegangen.“ Ein
Mann in mittleren Jahren trat hinter der Bar hervor. Er trug eine lange, weiße
Schürze und hatte einen Krug Bier in der Hand.
„Ich möchte gern mit dem Geschäftsführer sprechen.“ Cassie wich dem Blick
seiner blutunterlaufenen Augen nicht aus.
„Ich bin der Besitzer.“
„Ich bin Cassie Creighton und möchte mich als Serviererin bewerben.“
„Ich stelle keine Minderjährigen ein.“ Er ging zurück hinter die Bar.
„Warten Sie bitte.“ Sie hatte nicht die Absicht, sich diesen Job entgehen zu
lassen. Fast wäre sie gestolpert in ihrer Hast. „Ich bin nicht minderjährig. Ich
sehe nur so jung aus.“
„Wie alt sind Sie?“ Er musterte sie ungeduldig.
„Im nächsten Monat werde ich einundzwanzig. Wieso? Wie alt sind Sie denn?“
„Vorwitzige Besserwisser kann ich nicht gebrauchen.“ Er ging weiter.
„Komm schon, Charley, gib der Kleinen eine Chance“, warf ein Gast ein, der die
Szene von seinem Barhocker aus verfolgt hatte.
„Ja“, pflichtete nun auch ein anderer ihm bei. „Vielleicht würde sie etwas
Schwung in deinen müden Laden bringen.“
Jemand lachte leise.
„Falls es dir hier nicht gefällt, Rogers, steht es dir frei, woandershin zu gehen.“
Der Besitzer musterte Cassie abschätzend. „Einundzwanzig im nächsten Monat,
ja? Haben Sie schon einmal als Serviererin gearbeitet?“
Statt ihre mangelnde Erfahrung einzugestehen, hielt Cassie es für klüger, so zu
tun, als besäße sie reichlich davon. Bei Ruth hatte sie gesehen, wie man es
machte. Mit schwingenden Hüften ging sie zu einem Mann hinüber, der allein an
einem Tisch saß.
„Was soll’s denn heute sein, mein Herr?“ Sie zog einen imaginären Bleistift hinter
dem Ohr hervor und hielt ihn über einen ebenfalls nur eingebildeten
Auftragsblock. Wäre es nicht so laut gewesen im Restaurant, hätte jeder das
laute Hämmern ihres Herzens hören müssen. Der Gast starrte sie verblüfft an.
„Unser Tagesgericht ist rote Bohnen mit Maisbrot“, fuhr Cassie fort und ignorierte
dabei das laute Lachen hinter ihrem Rücken. „Ein Dollar fünfzig mit Nachschlag.“
Cassie stemmte einen Arm in die Hüften und klimperte mit den Wimpern, so gut
sie sich eben an Ruths Vorbild erinnern konnte.
„Sie versprechen weitaus mehr, als meine Küche halten kann“, knurrte der
Besitzer. „Können Sie auch so gut servieren wie Sie schauspielern?“
Sie nickte und hielt den Atem an, während er nachdachte.
„Wann können Sie anfangen?“
„Falls Sie mir sagen können, wo ich ein billiges Zimmer hier in der Nähe finde,
mache ich mich frisch und bin zurück, noch bevor das Abendgeschäft losgeht.“
Ihr neuer Chef zapfte sich ein frisches Bier, während Cassie kurz ihre Notlage
schilderte.
„Tim Davis ist der beste Mechaniker in Dallas. Seine Preise sind ziemlich
gesalzen, aber wenn er den Wagen repariert hat, wird er wieder surren wie eine
nagelneue Nähmaschine.“
Die Frage eines billigen Zimmers war schnell gelöst. Das ganze Gebäude gehörte
Charley Ingram, ihrem Chef, und ein möbliertes Apartment über dem Restaurant
war gerade frei.
„Sie können sich Ihr neues Zuhause ja gleich einmal ansehen.“ Er führte sie eine
steile Treppe hinauf und öffnete eine Tür.
Cassie betrat den völlig verstaubten Raum. Die Möbel waren vom Billigsten, und
die „Küche“ bestand nur aus einer Kochplatte und einem uralten Wasserkessel.
„In der Not frißt der Teufel Riegen.“ Charleys Bemerkung traf Cassies
Überlegungen so genau, daß sie sich fast schämte. „Ich weiß das wirklich zu schätzen, Mr….“ „Nennen Sie mich Charley. Das tun alle.“ Cassie betrachtete ihren Arbeitgeber kurz. Er mochte Anfang Fünfzig sein. Sein dunkles Haar war schon reichlich mit Grau durchsetzt. Sein gerötetes Gesicht gab ihr das unbestimmte Gefühl, daß er ein Temperament hatte, mit dem sie es besser nicht anlegen sollte. „Ich muß jetzt nach unten und den Koch auf Trab bringen“, bemerkte Charley trocken. „Er hat gestern einen Topf mit Kartoffeln anbrennen lassen, daß es zum Himmel stank.“ Er leerte das Glas, das er mit nach oben gebracht hatte. „Sobald Sie hier fertig sind, können Sie ja nach unten kommen und nachsehen, ob Ihnen eine der Uniformen paßt, die in der Küche hängen.“ Cassie nickte. Charleys Blick verweilte etwas länger als nötig auf den sanften Rundungen ihres Körpers. Sie wich einen Schritt zurück. „Ich schicke einen der jungen Männer zur Werkstatt hinüber, um Ihre Sachen zu holen. Ich erwarte Sie in einer Stunde unten.“ Er drehte sich abrupt um und verließ das Zimmer. Hatte er ihre ablehnende Reaktion auf seinen Blick bemerkt? „Sei doch nicht albern!“ schalt Cassie sich selbst, während sie duschte und sich umzog. „Und sowieso – es ist ja nicht für ewig.“ Wie wohl Howard reagieren würde, wenn er wüßte, daß sie in Dallas lebte? Sie bedauerte die letzte Auseinandersetzung mit ihm und die bitteren Worte, die dabei gefallen waren, aber es tat ihr nicht leid, Coyote Bend verlassen zu haben. „Im nächsten Monat, bald, werde ich wirklich nach Nashville fahren“, schwor Cassie sich, während sie ihr Haar bürstete, bis es glänzte. „Das kannst du mir glauben, Howard Temple!“ Trotzig schüttelte sie den Kopf, so, als wolle sie die Erinnerung an Howard abschütteln. „Du bist jetzt nicht mehr mein Problem!“ „0 meine Knochen!“ stöhnte Cassie, als sie für eine wohlverdiente Ruhepause zwischen die Laken ihres Couchbettes schlüpfte. Drei Monate waren vergangen. Sie hatte es kaum bemerkt. Zu sehr war sie mit ihren zwei Aufgaben beschäftigt: die Gäste zu bedienen und Charleys Wutanfällen zu entfliehen. Aber sie war zu sehr auf diesen Job angewiesen, als daß sie ihn einfach wieder hätte aufgeben können. Die klügste Art, Schwierigkeiten zu vermeiden, war, Charley aus dem Weg zu gehen, wenn er gerade wieder wütend war oder zuviel getrunken hatte. „Au! 0 verdammt!“ Sie zuckte zusammen, als sie sich auf die Seite rollte und dabei gegen die Couchlehne stieß. Sie glaubte, jeden einzelnen Knochen zu spüren. Wehmütig dachte sie an die Zeiten zurück, als Howard ihren schmerzenden Körper nach einem Tag anstrengender Feldarbeit massiert hatte. Was hätte sie darum gegeben, wenn seine kräftigen Hände jetzt ihre Schmerzen fortmassiert hätten. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Howard hatte noch andere Mittel, sie ihre Schmerzen vergessen zu lassen, aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Der Schlaf sollte ihr das Vergessen erleichtern. Sie zog sich die Decke über den Kopf und fand eine halbwegs bequeme Lage auf der alten Couch. Doch nichts konnte die Erinnerung an Howards muskulösen Körper aus ihren Träumen fernhalten. Cassie hatte inzwischen so viele Trinkgelder bekommen, daß sie die Reparaturrechnung für ihren Wagen bezahlen konnte. Auch mit dem Notgroschen, den sie sich für die erste Zeit in Nashville zurückgelegt hatte, war
sie fast zufrieden. Da ihre Arbeit erst gegen Mittag begann, verbrachte sie die Morgenstunden damit, auf ihrer Gitarre zu spielen oder aber Wäsche zu waschen und einzukaufen. „Du hast wirklich eine tolle Stimme!“ lobte Charley Cassie eines Morgens. Er war früher als gewöhnlich gekommen, um das Restaurant nach einem neuerlich fehlgeschlagenen Versuch des Kochs, die Kartoffeln schneller als schnell zu garen, gründlich zu lüften. „Ich habe dich üben gehört“, erklärte er, als sie ihm auf sein Klopfen hin öffnete. Sie war längst mit allen per Du. Förmlichkeiten paßten nicht in dieses Restaurant. Cassie wurde verlegen. Sie war der Ansicht gewesen, allein im Gebäude zu sein. „Was hältst du davon, wenn du eine Gruppe engagierst und in der Bar auftrittst?“ Sein Angebot kam derart unvermittelt, daß Cassie nicht seinen finanziellen Hintergedanken bemerkte. „LiveAuftritte würden mehr Gäste anziehen. Und – wer weiß – vielleicht könnte es dir auch etwas bringen?“ „Das würde ich zu gern machen!“ begeisterte sie sich, nachdem sie die Sprache wiedergefunden hatte. Cassie und Charley hörten sich verschiedene Gruppen an, bevor sie die Texas Twisters fanden. Charley feilschte eine ganze Woche lang mit den Twisters, bevor sie sich endlich über die Gagen einigen konnten. Dann arbeitete Cassie einen Übungsplan aus, der nicht mit ihrer Arbeitszeit in Konflikt kam. „Was ist, wenn die Leute mich nicht mögen?“ Es war kurz vor dem ersten Auftritt. Cassie war mit ihren Nerven am Ende. Sie hatte schon mehrere Tassen Kaffee verschüttet und etliche Bestellungen durcheinandergebracht. „Seht euch doch nur meine Hände an! Sie zittern wie Espenlaub!“ Sie mußte sich noch umziehen und das Haar bürsten. In der Küche hing schon die fliederfarbene Bluse, die sie zu ihren neuen Jeans anziehen wollte. „Ich glaube, ich habe alle Liedertexte vergessen, die wir geübt haben!“ jammerte sie. Ihr Puls jagte, und vor Panik waren ihre Finger kurze Zeit wie gelähmt, als sie versuchte, die Knöpfe ihrer Bluse zu schließen. „Was ist, wenn ich stolpere?“ Sie trug ihre höchsten Pumps. „Vielleicht sollte ich doch lieber Stiefel oder Sandalen anziehen?“ „Falls du nach Schwierigkeiten Ausschau hältst, wirst du sie mit Sicherheit auch finden.“ Charley war völlig kühl und gelassen. „Ich dachte, du seist früher auch schon aufgetreten. Wie kommt es, daß du heute abend so durcheinander bist?“ „Das war etwas anderes.“ Cassie kam hinter dem Wandschirm hervor, den er für sie aufgestellt hatte, damit sie sich dahinter umziehen konnte. „Zu Hause kannte ich mein Publikum immer. Diese Leute hier sind Fremde.“ „Na und?“ Charley war ohne jedes Mitgefühl. Er war zu sehr damit beschäftigt, die Eintrittsgelder zu zählen und sich einen neuen Drink zu gönnen. Cassie bürstete ihr langes, rotes Haar und versuchte, ihr Lampenfieber etwas unter Kontrolle zu bekommen. Als sie auf die Bühne hinaustrat, waren Mike, Scrappy und Jess noch dabei, ihre Instrumente zu stimmen. Cassie lächelte ihnen nervös zu und wünschte sich dabei, etwas von ihrer Gelassenheit möge auf sie abfärben. „Fertig?“ Scrappy zwinkerte ihr beruhigend zu. Neben etlichen anderen Instrumenten spielte Scrappy auch Geige. Damit sollte er Cassie bei einigen Stücken begleiten. Er gab Charley das Zeichen, den Vorhang aufzuziehen, den sie zuvor angebracht hatten. Die Twisters spielten eine temperamentvolle Version von „San Antonio Rose“, und der Vorhang öffnete sich. Nachdem der erste Applaus sich gelegt hatte, zog Cassie das Mikrofon vom Ständer und stellte die Gruppe vor. „Wir möchten Sie einladen zu tanzen, während wir für Sie spielen“, sagte sie und
hatte dabei Mühe, das Zittern ihrer Stimme zu unterdrücken. „Falls jemand einen besonderen Wunsch hat, kann er ihn auf einem Zettel notieren und uns auf die Bühne bringen. Wenn wir den Titel kennen, werden wir ihn nach der Pause spielen.“ Erwartungsvolles Schweigen legte sich über den Raum, als Cassie ihren Platz in der Mitte der Bühne einnahm. Während ihre Augen sich noch an das grelle Scheinwerferlicht gewöhnten, nahm sie ihr Publikum nur verschwommen wahr. Ihre innere Anspannung wuchs. Die drei Musiker spürten, was in ihr vorging. Auf ein Zeichen von Scrappy hin machten sie alle einen Schritt nach vorn, so daß Cassie nicht mehr das Gefühl hatte, ganz allein zu sein. Während sie die zeitlosen Lieder sang, wob sie einen musikalischen Bann um ihr Publikum. Sie sang von harten Zeiten und süßen Erinnerungen, vom Leben und von der Liebe. „Eine Goldgrube!“ Charley lehnte sich gegen den Rahmen der Küchentür und gratulierte sich zu seiner Entdeckung, indem er sich einen doppelten Whisky aus seinem Bierkrug genehmigte. „Ich seh mir mal das Publikum an, während ihr noch die Instrumente stimmt.“ Cassie suchte sich ihren Weg zwischen den Verstärkern und anderen Geräten hindurch, die überall auf der Bühne herumstanden. Es war ihr eine Gewohnheit geworden, sich vor dem Auftritt ein paar Gäste auszusuchen, denen sie beim Singen ihre besondere Aufmerksamkeit schenkte, während sie ein Gefühl für die allgemeine Stimmung des Publikums entwickelte. Gelegentlich entdeckte Cassie einmal einen Mann, der sie von seiner äußeren Statur her an Howard erinnerte. Dann schlug ihr Puls schneller, bis ihr bewußt wurde, daß sie einen Fremden anstarrte. Cassie fragte sich, ob Howard wohl noch jemals an sie dachte, oder ob sie für ihn schon zu einer netten Erinnerung geworden war, die er sich an einem ruhigen Abend bei einer guten Zigarre und einem Brandy ins Gedächtnis rief. Was macht es für einen Unterschied, fragte sie sich, wenn die Depression sie zu überkommen drohte. Wir waren einfach nicht füreinander bestimmt. Cassie warf einen Blick durch die schweren Vorhänge, die sich in einer halben Stunde öffnen sollten. Seit Charley ihre Karriere managte, hatte sie es aufgegeben, die Tage und Wochen zu zählen, die es noch dauern würde, bis sie nach Nashville fahren konnte. Er buchte jeden Auftritt, den man ihnen anbot – angefangen von Familienfeiern bis zu Wahlpartys. Sie lebte nach dem Motto, daß es kein schlechtes Publikum geben könne, sondern nur einen schlechten Auftritt. Wenn die Gäste in ausgelassener Feierstimmung waren, spielte die Band ohrenbetäubenden CountryRock und Lieder zum Mitklatschen. War das Publikum ruhiger und mehr auf langsames Tanzen eingestellt, standen romantische Balladen auf dem Programm. „Könnt ihr ,Strangers in the Night’ spielen?“ Cassie traute ihren Augen nicht, als sie ihr heutiges Publikum sah. „Wieso? Was ist los?“ Scrappy eilte zu ihr hinüber, um selbst durch den Vorhang zu schauen. „O nein!“ Er schlug sich entsetzt gegen die Stirn. „Ich glaube, Charley hat einen kapitalen Bock geschossen.“ Cassie seufzte und ließ den Vorhang wieder zurückfallen. „Was jetzt?“ „Diese Leute sind gekleidet wie für einen Tanztee!“ jammerte Scrappy. Er kraulte sich gedankenverloren den Bart. „Ich frage mich, wie der Besitzer reagiert, wenn er merkt, daß er eine CountryGruppe auf der Bühne hat.“ „Die sind bestimmt nicht hier, um CountryMusic zu hören! Die sind auf Foxtrott eingestellt!“
„Du solltest versuchen, dich mit Charley in Verbindung zu setzen“, schlug Scrappy vor. „Wer weiß? Vielleicht haben wir ja das falsche Lokal erwischt.“ „Was ist hier los?“ Ein großer Mann im eleganten Anzug betrachtete die Gruppe mit dem angewiderten Ausdruck eines Menschen, der soeben einen Wurm in seinem Apfel entdeckt hat. „Darf man fragen, wer Sie sind?“ „Ich fürchte, hier liegt ein schreckliches Mißverständnis vor, Mr….“ Cassie zögerte. „Ronald Shaw.“ Der Mann bedachte ihre Jeans mit einem verächtlichen Blick. „Ich bin Cassie Creighton, und das ist meine Band, die Texas Twisters“, erklärte sie. „Wir wurden engagiert, um heute abend hier zu spielen – zumindest glauben wir, daß man uns engagiert hat, und…“ „Ich habe eine Combo mit Sängerin bestellt, keine CountryRockKapelle!“ Der Ton sprach Bände. „Ist hier irgendwo ein Telefon in der Nähe?“ fragte Cassie. „Vielleicht kann Charley Ingram, unser Manager, irgend etwas dazu sagen.“ „Mir ist jetzt schon klar, was los ist. Charley Ingram ist ein Schwindler!“ Cassie war nahe daran, in Panik zu geraten. Wie konnte Charley einen solchen Fehler begehen? Er wußte doch, daß zukünftige Buchungen der Band von ihrem guten Ruf abhingen! „Es ist jetzt gleichgültig, wer was mißverstanden hat. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren“, warf Scrappy ein. „Sie haben ein Haus voller Gäste, die unterhalten werden möchten. Der Vorhang sollte in ungefähr zwanzig Minuten hochgehen.“ „Das ist mir sehr wohl bewußt, junger Mann“, fauchte Shaw. „Ich frage mich nur, was zu tun ist.“ „Ich habe eine Idee!“ Cassies Miene erhellte sich. „Es sieht so aus, als müßten wir das Beste aus der Situation machen. Wieso gehen wir nicht auf die Bühne und erklären dem Publikum, was passiert ist. Dann sollen doch die Gäste entscheiden, was ihnen lieber ist. Falls sie wollen, daß wir bleiben, spielen wir jeden Walzer, den wir kennen – notfalls dreimal den gleichen. Falls sie uns nicht hören wollen, garantiere ich Ihnen, daß Sie jeden Penny zurückbekommen, den Sie an unseren Manager gezahlt haben.“ „Wir haben es mit zivilisierten Leuten zu tun, Miss, nicht mit einer Gruppe wilder Cowboys, die sich austoben wollen. Ich bezweifle doch sehr, daß irgend jemand daran interessiert ist, sich Ihre Musik anzuhören.“ Er rieb sich die Schläfen „Sie können mir glauben: Ingram wird noch von mir hören! Ich werde dafür sorgen, daß er niemandem mehr einen solchen Streich spielt!“ „Lassen wir jetzt die Gäste entscheiden oder nicht?“ erkundigte sich Scrappy. „Falls Sie wollen, daß wir gehen, machen Sie bitte Platz, damit wir die Instrumente nach draußen bringen können.“ „Wieso muß ausgerechnet mir immer so etwas passieren?“ stöhnte Ronald Shaw. Schweigend erwartete die Band seine Entscheidung. „Ich glaube, uns bleibt wirklich keine andere Wahl“, meinte er schließlich. „Ich werde die Situation erklären und hoffe, daß wir den Abend noch irgendwie retten können.“ Er öffnete den Vorhang, um hinauszutreten. „Guten Abend, meine Damen und Herren.“ Cassie lächelte einen Mann mit Hornbrille an, der neben einer Frau in einem rosa Abendkleid saß. Keiner von beiden erwiderte ihr Lächeln. „Ich weiß, daß wir nicht eben die Art von Musikern sind, die Sie heute abend erwartet haben. Aber um ganz ehrlich zu sein: Sie sind auch nicht das Publikum, das wir erwartet haben.“ Eisiges Schweigen. Cassie zwang sich weiterzusprechen. „Ich gehe aber wohl recht in der Annahme, daß wir alle aus demselben Grund hier sind – um uns zu amüsieren. Wir möchten Ihnen versichern, daß wir alles
tun werden, damit Sie heute abend zu Ihrem Vergnügen kommen.“ „Kennen Sie irgend etwas mit einem RumbaRhythmus?“ Eine Blondine, die um die vierzig sein mochte und ein bis zur Hüfte aufgeschlitztes, atemberaubendes, rotes Kleid trug, sah sie fragend an. „Harold und ich lieben Rumba.“ Sie schenkte dem etwas einfältig wirkenden Mann an ihrer Seite ein betörendes Lächeln. Cassie warf einen „UmGotteswillenhelftmirBlick“ hinter sich. Scrappy hatte sichtlich Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Mike und Jess starrten auf den Fußboden. Sie war allein. „Nun, Rumbas sind etwas außerhalb unserer Richtung, Madam.“ Cassie hoffte inständig, daß ihr aufgesetztes Lächeln besser wirkte, als sie sich dabei fühlte. „Aber irgendwie habe ich das Gefühl, daß Ihr Harold und Sie nach Ablauf dieses Abends Ginger Rogers und Fred Astaire mit Ihren neuen Tanzkünsten beschämen könnten.“ Der Hauch eines Lächelns zeigte sich auf dem Gesicht der Blondine. Cassie atmete erleichtert auf. Eine von hundert haben wir auf unsere Seite gezogen, dachte sie. Falls wir diesen Abend heil überstehen, werden wir fortan mit jedem Problem fertig werden, das man uns in den Weg legt. „Los, Jungs!“ Sie war fest entschlossen, so lange auf dieser Bühne zu stehen und zu singen, bis auch der letzte Gast auf der Tanzfläche war!
4. KAPITEL „Tut mir leid, Cassie, aber bevor er nicht nüchtern wird und wieder vernünftige Entscheidungen treffen kann, muß die Sendung ohne Sie laufen.“ Der Fernsehproduzent der örtlichen TVStation nickte in Charleys Richtung. „Ich weiß nicht, was für einen Unsinn er Ihnen aufgetischt hat, aber wir können seine Gagenforderungen für Sie einfach nicht mehr erfüllen. Wir haben ein bestimmtes Budget vorgegeben, das wir nicht überschreiten dürfen.“ Cassie warf ihrem Manager einen wütenden Blick zu. Charley konnte kaum noch geradeaus sehen. Mit schlenkernden Bewegungen umging er eine Kamera und steuerte auf den Ausgang zu. „Ich will sehen, was ich tun kann, um das wieder auszubügeln“, versicherte sie dem Produzenten. „Unser Auftritt in Ihrer Sendung hat uns sehr viel gebracht. Mindestens die Hälfte unserer Engagements kommen von Leuten, die uns zum erstenmal bei Ihnen im Fernsehen gesehen haben.“ „Sie sind wirklich eine prima Sängerin, Cassie. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie weiter in der Show mitmachen könnten. Versuchen Sie doch, ihn zu Verstand zu bringen, und rufen Sie mich in der nächsten Woche noch einmal an.“ Er wandte sich ab, um einem der Kameramänner eine Anweisung zu geben. „Es hat keinen Sinn, heute abend mit ihm zu sprechen.“ Scrappy legte seine Geige in den Instrumentenkasten und klappte ihn zu. „Er scheint größenwahnsinnig geworden zu sein“, seufzte Cassie. „Er macht seinen Job gut, wenn er nüchtern ist, das muß man ihm lassen.“ Scrappy war immer bereit, alle möglichen Entschuldigungen zu finden. „Es ist sicher nicht leicht, sich gleichzeitig um das Restaurant und die Bar zu kümmern und dann auch noch unsere Auftritte zu organisieren.“ „Du irrst dich – ich kümmere mich um das Restaurant, und er ist der beste Kunde seiner Bar.“ Cassie war es leid, immer wieder Nachsicht zu üben. „Begreifst du denn nicht, daß sein Ruf früher oder später auch auf uns abfärben wird?“ „Wie auch immer, er ist der einzige Manager, den wir haben.“ Scrappy nahm sie beim Arm und führte sie aus dem Studio. „Ohne Charley wären wir nie im Leben auch nur ein einziges Mal in dieser Sendung aufgetreten.“ „Und ohne Charley wären wir auch nicht gefeuert worden“, erinnerte sie ihn. „Ach, heute ist nun mal einer jener berühmten Tage, an denen alles schiefläuft. Vergiß es.“ Scrappy hielt ihr die Wagentür auf. „Zumindest hat er sich diesmal mit niemandem geprügelt.“ Cassie schüttelte den Kopf, als sie an jene Nacht dachte, als sie alle ihr letztes Geld zusammenwarfen, um die Kaution für Charley zusammenzubekommen, um ihn aus der Arrestzelle zu holen. „Das nächste Mal werde ich ihn ruhig im Gefängnis schmoren lassen.“ „Ich kürze deine Arbeitszeit im Restaurant.“ Charley trank seinen Whisky aus. „Du brauchst mehr Ruhe.“ Sein Ton sagte ihr, daß jeder Protest sinnlos sei. „Für Sonnabend habe ich euch bei einer Grillparty gebucht – es werden viele interessante Leute da sein –, und die nächsten drei Wochenenden sind auch schon belegt. Außerdem finde ich es an der Zeit, daß du dein Image der ,singenden Serviererin’ aufgibst. Wir sollten uns etwas Professionelleres einfallen lassen.“ Er deutete vage auf die verschiedenen Fotos von der Gruppe, die im Fenster des Restaurants ausgestellt waren. „Charley, wir müssen uns einmal ernsthaft unterhalten.“ Cassie wußte aus Erfahrung, daß morgens die beste Zeit war, um mit ihm zu reden, weil er dann noch verhältnismäßig nüchtern war. „Nun gut, rück schon heraus mit der Sprache.“ Er leerte sein Glas und rieb sich
mit dem Handrücken den Mund ab. „Es kann so nicht weitergehen, Charley – dein Trinken und die verpatzten Buchungen. Die Leute fangen schon an zu reden…“ „Wer?“ Er musterte sie argwöhnisch. „Nun… die Leute eben.“ Sie hatte nicht die Absicht, irgendwelche Namen preiszugeben. „Falls du mir nicht traust, Cassie, sag es freiheraus. Das wird uns allen viel Zeit und Mühe ersparen.“ Er runzelte die Stirn. „Niemand wird dir den Erfolg auf einem Silbertablett präsentieren. Ich kenne genügend Sängerinnen, die viel dafür geben würden, solche Möglichkeiten zu erhalten, wie du sie bisher gehabt hast.“ „Das weiß ich, und ich weiß alles zu schätzen, was du bisher für mich getan hast. Aber wir stehen an der Schwelle zum Durchbruch, und ich möchte, daß wir alle daran denken, daß…“ „Kümmere du dich um deine Arbeit, ich kümmere mich um meine Angelegenheiten.“ Er schenkte sich noch einmal nach. „Charley, ich mache mir Sorgen um dich.“ „Ich habe jahrelang ohne deine Fürsorge existiert, Cassie, und ich werde noch viele weitere Jahre ohne sie leben können. Falls es dir nicht gefällt, wie ich den Job handhabe, kannst du ja gehen.“ Er wandte seine Aufmerksamkeit der Buchhaltung zu. Cassie wußte, daß das Gespräch damit für ihn beendet war. Einer von ihnen mußte nachgeben. Cassie hoffte nur, daß nicht sie es sein würde. „Wie sehe ich aus?“ Cassie hatte sich ihre LuchesseStiefel angezogen, die sie vor einigen Wochen bei Shepler’s entdeckt hatte. Dazu trug sie einen schwarzen Baumwollrock und eine rote Bluse mit Fransen. Sie wollte perfekt aussehen für den Auftritt auf der Grillparty. Die Twisters spendeten ihr bewundernde Pfiffe. „Du müßtest prima passen zu dem Publikum, das uns heute abend bevorsteht“, meinte Scrappy lächelnd. Er hatte wie üblich verwaschene Jeans und ein kariertes Hemd an. Cassie half, die Verstärker und die Musikinstrumente im Wagen zu verstauen. „Charley wartet auf der Party auf uns.“ Scrappy setzte sich hinter das Steuer, während die anderen drei es sich im hinteren Teil des Wagens bei einem Kartenspiel bequem machten. Als sie die Autobahn verließen, sah Cassie neugierig aus dem Fenster. „Hat Charley gesagt, wer der Gastgeber der Party ist?“ Sie setzte sich nach vom, um die Gegend besser betrachten zu können. Zu beiden Seiten der Straße lagen Grünflächen, soweit das Auge reichte. In regelmäßigen Abständen standen die für die Gegend typischen Ölpumpen, die sich gleichmäßig auf und ab bewegten. „O nein!“ Cassies Entsetzen kannte keine Grenzen, als sie das Symbol von „Diamond T“ auf dem großen, weißen Torbogen erkannte, auf den sie zuhielten. „Was zum Teufel ist los mit dir?“ knurrte Charley und setzte sich auf den Fahrersitz, den Scrappy gerade freigemacht hatte. „Für diese Leute werde ich nicht singen.“ Cassie verschränkte die Arme vor der Brust und sah trotzig zu Boden. „Bitte, Charley, zwing mich nicht auf diese Bühne. Sag ihnen, es sei alles ein Irrtum und gib ihnen ihr Geld zurück. Oder laß die Twisters allein auftreten.“ „Hast du denn den Verstand verloren?“ brüllte er. „Wir haben gerade unsere bisher größte Gage kassiert, und nun bekommst du kalte Füße!“ „Ich habe früher schon einmal für die Temples gearbeitet.“ Irgendwie spürte sie, daß es nicht sinnvoll war, Charley die volle Wahrheit zu erzählen. Deswegen beschränkte sie sich darauf, ihm einen groben Überblick über ihre ehemalige Beziehung zu der reichen Familie zu geben. „Ich möchte nichts mehr mit ihnen zu tun haben“, schloß sie mit Nachdruck. „Ich habe schon genug leiden müssen
ihretwegen.“ „Du wirst doch nur dafür bezahlt, sie zu unterhalten, und dann fährst du wieder nach Haus.“ Charley leerte die Bierdose, die er in Händen hielt. „Alles andere interessiert doch niemand mehr. Man hat dich gekauft und dafür bezahlt, ob es dir nun gefällt oder nicht.“ Cassie hatte das Gefühl, als habe ihr jemand eine Schlinge um den Hals gelegt. Lebhafte Erinnerungen an Howards warmen, von der Sonne gebräunten Körper wurden in ihr wach. „Ich gehe jetzt, um die Verstärker zu kontrollieren“, sagte Charley. „Mach, was du willst, aber bleib in der Nähe, falls es Schwierigkeiten gibt.“ Offensichtlich war die Sache für ihn damit erledigt. Cassie konnte und wollte den Streit nicht fortsetzen. Sie blieb allein im Wagen zurück. Sie fühlte sich leer und ausgepumpt. „Ich kann niemandem einen Vorwurf machen außer mir selbst“, murmelte sie. „Aber von jetzt an werde ich selbst entscheiden, wo ich auftrete.“ Ihre einzige Hoffnung war, daß Howard zufällig gerade in Coyote Bend oder in irgendeinem anderen Außenbereich des Unternehmens war. Sie verließ den Wagen, um etwas frische Luft zu schöpfen. Dabei entdeckte sie einen abgeschiedenen Platz unter einer Myrthe. Sie beschloß, bis zum Beginn des Programms in Deckung zu bleiben, und nach dem Auftritt sofort zu verschwinden. Cassies Blick wanderte über die immer größer werdende Menge, die sich neben dem Gatter mit den wilden Pferden einfand. Nach ihrem ersten Auftritt gab es Rodeo. Als sie Howard entdeckte, traf es sie wie ein Schlag. Im gleichen Augenblick wandte er den Blick von seiner hübschen Begleiterin und sah direkt zu Cassie hinüber. Ihre Blicke trafen sich. Cassie sprang auf. Mit wenigen großen Schritten war Howard bei ihr. „Du bist also die singende Serviererin, die in Dallas Furore macht. Willkommen auf Diamond T.“ Das verräterische Blitzen seiner blauen Augen sagte Cassie, daß er sehr wohl gewußt hatte, wen er engagierte. Er trug abgewetzte, lederne Cowboyhosen und hatte die Ärmel seines Hemdes hochgerollt. „Es ist eine schöne Ranch. Ich verstehe, wieso sie dir so viel bedeutet.“ Die Monate der Trennung hatten ihr Verlangen nach ihm nicht stillen können. Cassie wußte, daß sie versuchen mußte, die Unterhaltung so unverfänglich wie möglich zu halten. Nur dann konnte es ihr vielleicht gelingen, zu vergessen, daß er einmal eine sehr große Rolle in ihrem Leben gespielt hatte. „Ich habe die Berichte über deine Auftritte in der Zeitung gelesen, und einmal habe ich dich auch im Fernsehen erlebt.“ Sein Lächeln und die Worte drückten freundliche Höflichkeit aus, aber seine blauen Augen sprachen von ihrer vergangenen Leidenschaft füreinander. „Es scheint, daß du dich langsam nach oben arbeitest, genau wie du es geplant hattest.“ „Wir tun unser Bestes.“ Cassie bemühte sich, betont gleichmütig zu sprechen. Sie mußte das Bedürfnis unterdrücken, sich in seine Arme zu werfen. „Unser Manager hat uns jeden nur möglichen Auftritt besorgt. Er glaubt, es sei nur noch eine Frage der Zeit, daß wir einen Vertrag bei einer Schallplattenfirma bekommen.“ „Ich habe immer gewußt, daß sich unter all dem Präriestaub eine schöne Frau verbirgt.“ Howard strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Seine Berührung ließ ihr einen heißen Schauer über den Körper laufen. Cassie versuchte, sich einzureden, es sei nur ein ganz gewöhnliches Kompliment und Howards männliche Ausstrahlung habe absolut nichts mit dem plötzlichen
Rasen ihres Pulses zu tun. „Du siehst phantastisch aus. Die Unterhaltungsbranche scheint dir zu bekommen.“ Sein bewundernder Blick tat ihr gut. „Ich dachte, du wolltest mir das wilde Pferd zeigen, auf dem du reiten wirst, Darling.“ Die Blondine, die Cassie zuvor an Howards Seite gesehen hatte, war herübergekommen und hakte sich besitzergreifend bei ihm ein. Offensichtlich wollte sie keinen Zweifel daran aufkommen lassen, wer seine Begleiterin war. Ihr eng anliegender Hosenanzug überließ kaum etwas der Phantasie. „Dina Hamilton, ich möchte dich mit Cassie Creighton bekannt machen.“ Howard lächelte boshaft. „Cassie und ich sind alte Freunde. Sie hat früher einmal für mich in Coyote Bend gearbeitet. Wir haben sie heute für einen Auftritt beim Rodeo engagiert.“ „Ach, wie nett! Das ist ja sicher wie eine Heimkehr für Sie, oder? Ich mag Wiedersehen, du nicht auch, Liebling?“ Dinas Stimme erinnerte Cassie irgendwie an das Kratzen von Kreide auf einer Schiefertafel. „Howard liebt es ja so, in Erinnerungen zu schwelgen. Zu schade, daß Sie keine Zeit haben, die Ranch zu besichtigen.“ „Ja, natürlich. Entschuldigen Sie, aber ich muß mich jetzt auf meinen Auftritt vorbereiten.“ Cassie war fest entschlossen, Howard nicht merken zu lassen, wie sehr es sie schmerzte, daß er sich so schnell mit einer anderen getröstet hatte. Dina war offensichtlich damit zufrieden, die zweite Geige in seinem Leben zu spielen, denn es war klar, daß „Diamond T“ für ihn immer noch an erster Stelle kam. „Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen“, sagte sie förmlich. „Ganz meinerseits.“ Dinas manikürte Finger streichelten Howards kräftige Hand. „Laß uns jetzt das Pferd ansehen, Liebling.“ Cassie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in ihrem Kombi. Charley hatte recht. Ihre Verbindung zu Howard gehörte der Vergangenheit an. Geistesabwesend legte sie ihr Makeup auf. „Ich brauche Zeit“, versicherte sie ihrem Spiegelbild. „Nur noch ein wenig Zeit, und ich werde ihn vergessen.“ Aber Cassie ahnte, daß nicht einmal die Ewigkeit lang genug währte, um ihre Erinnerungen an ihn auszulöschen. „Okay, fahr los!“ Scrappy gab dem Fahrer ein Zeichen, und der Wagen, der als Bühne dienen sollte, rollte in die Mitte der Arena. Cassie nahm ihren Platz vor der Gruppe ein. Sie wollte das Beste aus dem verdorbenen Tag machen. Die Twisters spielten ein Instrumentalstück zum Auftakt. Nachdem die erste Melodie verklungen war, stimmte Cassie mit ihrer samtweichen Stimme mit ein. Bald hatten sie das Publikum in ihren Bann gezogen. Sie hatten das Programm zusammengestellt im Hinblick auf die Stimmung, die einem guten Essen und Freibier folgen mußte. Die Reaktion der Leute zeigte ihnen, daß ihre Wahl richtig gewesen war. Als die Gäste begannen, den Rhythmus der bekannten Lieder mitzuklatschen, mischte sich Cassie mit ihrem Mikrofon und einem Tamburin unter die Menge, um die Stimmung noch weiter anzuheizen. Scrappy beendete den ersten Auftritt mit einem alten Hit, der auch den letzten Zuhörer noch auf die Beine brachte. Howards Vater streckte Cassie eine gichtgeplagte Hand entgegen, um ihr zu gratulieren. „Danke, Mr. Temple.“ Cassie schüttelte ihm die Hand. Der Schlaganfall hatte dem Mann sichtlich die Kraft genommen, aber er strahlte immer noch jene Autorität aus, die Cassie von der Zeit in Coyote Bend her an ihm kannte. Sie wich seinem freundlichen, durchdringenden Blick nicht aus. Sie war entschlossen, in ihrem
Bereich ebenso erfolgreich zu sein wie er in seinem – und das machte sie ihm
ebenbürtig.
Es erstaunte sie selbst, daß sie in keiner Weise eingeschüchtert war von diesem
einflußreichen Mann, der sein Reich mit eiserner Hand regiert hatte, bevor er die
Verantwortung an seinen Sohn übergab.
„Sind wir uns früher schon einmal begegnet?“ Er musterte sie nachdenklich.
„Aber vielleicht erinnern Sie mich auch nur an jemanden, den ich einmal kannte.“
Er zuckte die Schultern, fuhr aber fort, sie aufmerksam zu betrachten.
„Du hast Will Creightons Tochter doch nicht vergessen, Dad, oder?“ Howard trat
zu ihnen.
Cassies Blick wanderte von Vater zu Sohn. Sie hielt den Atem an und bereitete
sich innerlich auf die Reaktion des älteren Mannes vor, wenn er endlich begriff,
wen er vor sich hatte.
„Ihr Vater war einer der besten Pächter, die ich je gehabt habe.“ Der Ausdruck
seiner blauen Augen sagte ihr, daß er sie wiedererkannt hatte. „Ich kenne die
Creightons schon so lange ich denken kann und könnte Ihnen wahrscheinlich ein
paar hochinteressante Geschichten erzählen.“
„Die würde ich mir gern auch anhören.“
„Kommen Sie vorbei, wenn Sie einmal Zeit haben. Dann können wir uns
unterhalten. Ihre Großeltern waren Pioniere in WestTexas. Mein Unternehmen in
Coyote Bend habe ich nur ihrem Einsatz und ihrer harten Arbeit zu verdanken.“
Er verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung. Eine Krankenschwester
war zu ihm getreten und ging mit ihm zu anderen Gästen hinüber, die es noch zu
begrüßen galt. Eine anonyme Stimme forderte alle über den Lautsprecher auf,
sich einen Platz zu suchen, um das bevorstehende Rodeo zu verfolgen.
„Das Fernsehen wird deinem Talent nicht gerecht, Cassie. Du bist nicht nur gut,
sondern hervorragend.“ Ein merkwürdiges Lächeln umspielte Howards
Mundwinkel. „Ich hätte dir bei deiner Karriere helfen können, wenn du jemals mit
mir über deine geheimen Träume und Ziele gesprochen hättest.“
„Ich hatte auch so genügend Sorgen. Da konnte ich nicht noch daran denken,
dich in den Schlaf zu singen.“ Sie wandte sich abrupt ab. Sie mochte arm sein,
aber sie hatte genügend Stolz, sich nicht immer wieder an die Vergangenheit
erinnern lassen zu wollen. Howard packte ihren Arm und zwang sie, neben ihm
zu den schattenspendenden Bäumen hinüberzugehen.
„Laß mich los!“ fauchte sie ihn wütend an, bemühte sich dabei aber, ihre Stimme
gedämpft zu halten, um kein unangenehmes Aufsehen zu erregen. „Du machst
meine Bluse kraus.“
„Ich kaufe dir eine neue.“ Seine angespannte Miene warnte sie. Jetzt war nicht
der richtige Moment, einen Streit mit ihm zu suchen.
„Lieber würde ich in Lumpen herumlaufen!“
„Wie oft gelingt es dir, diese zickige Seite deines Charakters als Künstlerlaune
auszugeben?“ Er zog fragend die Brauen hoch.
„Du scheinst der einzige Mensch zu sein, der diese Laune hervorruft, Howard.“
Ihre Stimme troff vor Ironie. „Und jetzt laß mich los. Ich muß mich um die
Twisters kümmern. Die drei suchen mich sicher schon.“ Sie versuchte, das
Hämmern ihres Herzens zu ignorieren. Der Druck seiner Finger an ihrem Arm
verstärkte sich, als sie sich ihm entwinden wollte.
„Was willst du eigentlich beweisen? Daß du stärker bist als ich? Warum gehst du
nicht zu deiner Blondine und versuchst, sie herumzukommandieren? Sie sieht so
aus, als würde es ihr Spaß machen, hin und wieder einmal grob angefaßt zu
werden.“
„Bist du eifersüchtig, Cassie?“ Howard lächelte.
„Eifersüchtig! Das könnte dir so passen!“ „Halt den Mund und geh weiter“, sagte er ruhig. „Ich muß mit dir reden, und wir haben nicht viel Zeit.“ „Alles, was es zwischen uns zu bereden gibt, wurde bereits in Coyote Bend gesagt.“ „Nicht alles.“ Er blieb abrupt stehen und drehte sie zu sich herum. „Hast du einen Vertrag mit Charley Ingram?“ „Ja, so könnte man es nennen. Wieso?“ Cassie rieb sich den Arm. Der plötzliche Themenwechsel verwirrte sie. „Was ist mit diesen verlotterten Typen in deiner Band? Hast du mit irgendeinem von ihnen ein Verhältnis?“ Die Frage war betont gleichmütig gestellt, aber sie hatte den Eindruck, daß er sie warnte, eine Beziehung zu Scrappy, Mike oder Jess zuzugeben. „Was soll dieses Verhör eigentlich?“ fragte sie hitzig. „Bitte, weich nicht aus. Sag einfach ja oder nein. Es könnte wichtig sein für dein weiteres berufliches Leben.“ „Zuerst beleidigst du meine Band, und dann steckst du deine Nase in meine Privatangelegenheiten, so als ob dich das etwas anginge…“ „Es könnte mich sehr wohl etwas angehen“, unterbrach Howard sie. „Es ist wirklich eine schlechte Angewohnheit von dir, immer voreilige Schlüsse zu ziehen.“ „Und du hast die schlechte Angewohnheit, dich in die Privatangelegenheiten anderer Leute einzumischen!“ „Es widerstrebt mir, deine kostbare Zeit zu vergeuden oder dein Temperament noch einmal aufzustacheln, aber ich möchte doch darauf hinweisen, daß zwei Leute dazu gehören, um eine Affäre zu haben.“ Seine blauen Augen blitzten. Lächelnd fügte er hinzu: „Du hast dich seinerzeit nicht dagegen gesträubt.“ Cassie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. „Nun, laß dir sagen, daß sich das jetzt geändert hat – falls es dir selbst noch nicht aufgefallen sein sollte.“ Sie hatte Mühe, ihre Stimme ruhig zu halten. Ihr Puls raste. „Ich genieße jede Sekunde meines neuen Lebens und bedauere ganz und gar nicht, Coyote Bend verlassen zu haben.“ Sie sah ihn herausfordernd an. „Wir scheinen einen toten Punkt erreicht zu haben, Howard, denn wir haben absolut nichts mehr zu besprechen. Bitte, verschwinde jetzt aus meinem Leben und laß mich allein.“ „Du hast recht. Deine Affären und deine Angelegenheiten im allgemeinen gehen mich nichts an – zumindest noch nicht.“ Howard zog einen Lederhandschuh aus der Tasche, der seine Hand während des RodeoRittes schützen sollte. „Noch nicht – und niemals.“ Sie versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen, um zur Arena hinüberzugehen, aber er hielt sie fest. Die alten Erinnerungen ließen sich nicht so einfach vertreiben. Ein Schauer überlief Cassie, als sie an ihre früheren Begegnungen mit ihm dachte, an die Berührung ihrer Körper, an das Verlangen, das seine Nähe stets in ihr hervorrief. Sie kannte seinen Körper ebensogut wie ihren eigenen. Aber so groß ihre Leidenschaft füreinander auch gewesen sein mochte, sie reichte nicht aus, um die Welten zu überbrücken, die zwischen ihnen lagen. „Ich möchte dir helfen, Cassie.“ Der Blick seiner blauen Augen hielt sie gefangen. „Ich kann dir helfen, wenn du es zuläßt.“ „Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich diese Sache allein durchsetzen will.“ Wenn sie sich nicht bald von ihm löste, würde die Vergangenheit sie einholen; Dann war sie wieder seine Gefangene. „Ich bin sehr wohl in der Lage, meine Karriere allein zu steuern. Ich finde, daß wir bisher gute Fortschritte gemacht
haben. Alles, was ich besitze, habe ich aus eigener Kraft geschaffen. Und darauf bin ich sehr stolz.“ „Ich gratuliere“, erwiderte er spöttisch. „Wenn es mir doch nur gelingen könnte, dich so lange zum Schweigen zu bringen, daß ich auch einmal etwas sagen kann! Dann würde ich dir erklären, wie ich dir helfen kann. Wärest du daran interessiert, im PetroleumClub aufzutreten?“ Hätte Howard einen Kopfstand gemacht und dabei die Nationalhymne gepfiffen – Cassie hätte nicht erstaunter sein können. Ein Auftritt im PetroleumClub war der Traum eines jeden Musikers in Dallas! „Wo ist der Haken an der Sache?“ Cassie war vorsichtig. Sie wußte, daß Howard in der Lage war, ein Angebot mit derart vielen Bedingungen zu verknüpfen, daß es jeden Reiz verlor. „Wir wollen es einen Kompromiß nennen“, schlug er diplomatisch vor. „Ich bin dabei, unser Unternehmen auszuweiten. Falls du bereit bist, Charley Ingram und die Texas Twisters zu vergessen, so daß ich mich um deine Karriere kümmern kann, werde ich dir einen Auftritt im PetroleumClub verschaffen.“ „Du machst wohl Witze! Das ist doch das Absurdeste, was ich je gehört habe!“ Sie lachte freudlos. „Charley hat mir zum ersten Durchbruch verholfen, und die Zusammenarbeit mit den Twisters gefällt mir. Vergiß es!“ „Deine Loyalität gegenüber diesen Amateuren ist bewundernswert, aber töricht“, warnte er sie. Ihr wurde klar, daß er sein Angebot lange durchdacht hatte. „Ingram ist schon seit Jahren nicht mehr nüchtern gewesen, und er ist ein hinterhältiges Schlitzohr. Keiner aus der Gruppe ist smart genug, um es mit ihm aufnehmen zu können. Ihr werdet euch eines Morgens alle in der Gosse wiederfinden, ohne zu wissen, wie ihr dorthin gekommen seid.“ „Sag, Howard – was hat dich zu deinem großzügigen Angebot bewegt? Was erwartest du als Gegenleistung?“ „Ich bekomme die üblichen fünfzehn Prozent von den Einnahmen.“ Sein Blick glitt langsam über ihren Körper. „Alles weitere geschähe auf freiwilliger Basis.“ „Ich mag nicht so gebildet sein wie du, aber ich bin nicht auf den Kopf gefallen!“ Ihre Empörung wuchs. „Ich brauche keinen guten Onkel, der mir meine Karriere erkauft! Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, daß du nicht eher zufrieden bist, als bis dir gehört, was auch immer du dir in den Kopf gesetzt hast.“ Es beschämte sie, daran denken zu müssen, daß sie sich jemals von ihm hatte berühren lassen. „Ich bin nicht käuflich, Howard!“ „Und ich bin nicht daran interessiert, etwas zu kaufen. Ich möchte nur das Recht haben, deine Karriere zu managen.“ Sein Ton ließ sie zusammenzucken. „Ich würde dir deine Karriere nicht erkaufen. Du müßtest hart arbeiten. Mein Beitrag wäre nur, dich mit den Leuten aus der Schallplattenindustrie bekannt zu machen. Falls du ihnen gefällst, hängt alles weitere von dir ab.“ „Und das wäre alles, was du von mir erwartest?“ Cassie sah ihn an. „Du scheinst mich für dumm zu halten. Wie viele der Leute, die du in der Schallplattenindustrie kennst, würden es wagen, dem Besitzer des ,DiamondT Unternehmens’ ins Gesicht zu sagen, daß sie seine Sängerin nicht mögen?“ Der Ansager stellte über Lautsprecher die Cowboys vor, die sich am Rodeo beteiligen wollten. „Denk drüber nach.“ Howard zuckte die Schultern. „Deine Stimme und mein Geld – das wäre eine ideale Verbindung!“
„Du hast mich dafür bezahlt, hier heute nachmittag aufzutreten, Howard, und du
bekommst, wofür du bezahlt hast. Wenn du die unendliche Güte haben würdest,
mir aus dem Weg zu gehen, könnte ich mich endlich auf die zweite Hälfte des
Programms vorbereiten.“
„Dir ist noch nicht klar, wie hart das Musikgeschäft ist, Cassie. Leute wie Charley Ingram werden dich ausnehmen, ohne daß du es überhaupt merkst.“ „Hör auf!“ Sie hielt sich die Ohren zu, um nichts mehr hören zu müssen. „Bevor du mir eine endgültige Antwort gibst, möchte ich, daß du dir alles noch einmal gut durch den Kopf gehen läßt“, beharrte er. „Wer führt die Bücher für eure Gruppe? Ich möchte wetten, daß nicht einmal ein Drittel eurer Gagen in eure eigenen Taschen geflossen ist, weil ihr viel zu sehr mit eurer Musik beschäftigt wart. Wenn Ingram ein solch guter Manager ist, wieso ist es ihm dann bisher noch nicht gelungen, euch im PetroleumClub unterzubringen? Ich will dir sagen, warum. Weil kein ehrenwerter Mensch in Dallas etwas mit diesem Schwindler zu tun haben will!“ „Bist du endlich fertig?“ Cassie zitterte vor Wut am ganzen Körper. Charley hatte seine Fehler, daran gab es keinen Zweifel. Aber er hatte viele der scheinbar unüberwindlichen Hindernisse beseitigt, die auf eine junge, unbekannte Sängerin warten, und er hatte das alles getan, ohne jemals zu versuchen, ihr zu nahe zu treten. „Was weißt du schon, was dazu gehört, mit dem Alltag fertig zu werden? Wie kannst du einfach so dastehen und Charley herunterputzen, wenn dir alles auf dem Silbertablett gereicht wird, bloß, weil du in der richtigen Familie geboren wurdest. Welches Recht hast du…“ „Ich bin noch nicht fertig, und du wirst mich zu Ende anhören!“ Howard hielt ihre Hände fest. „Wenn du einmal die rosarote Brille abnimmst, durch die du alles siehst, wird dir klarwerden, was für ein verschlagener Fuchs dein lieber, alter Manager ist. Sein Ruf überträgt sich auch auf deine Gruppe und zieht euch nach unten, ob ihr es nun wollt oder nicht.“ „Wenn ich einen Fehler mache, Howard, werde ich auch selbst dafür bezahlen.“ „Das wirst du mit Sicherheit, Cassie, daran gibt es keinen Zweifel.“ Unvermutet zog Howard Cassie an sich. Ehe sie sich wehren konnte, hatten seine Lippen ihren Mund gefunden. Sein Kuß verwirrte sie. Mit einem Schlage waren alle Erinnerungen wieder da, die sie so gern für immer vergessen wollte. Heißes Verlangen stieg in ihr auf und fast – ja, fast hätte sie ihm nachgegeben. Seine Hände glitten über ihren Körper, forderten, was sie ihm zuvor freiwillig gegeben hatte. „Nein!“ Cassie stieß ihn von sich. Sie war es leid, benutzt zu werden. Das laute Klatschen ihrer Handfläche auf seiner Wange verursachte ihr ein Gefühl der Genugtuung, das sie in seiner Intensität selbst erschreckte. „Der letzte Mensch, der mich geschlagen hat, endete im Krankenhaus.“ Howards Zorn war unmißverständlich. Er zwang sie, ihn anzusehen. „Ich würde es hassen, wenn du dem Publikum erklären müßtest, wieso du ein blaues Auge hast!“ „Ich hoffe, du brichst dir bald den Hals!“ Sie riß sich los und rannte wie von Furien gehetzt zu ihrem Kombi. „Zum Teufel mit dir, Howard Temple! Zum Teufel mit allem, woran du mich erinnerst!“
5. KAPITEL „Hallo, Cassie! Mr. Temple hat uns ein paar wirklich gute Plätze für das Rodeo freigehalten!“ Scrappy stand neben dem Wagen. Cassie hob den Kopf, den sie aufs Steuer gelegt hatte, während sie darum kämpfte, ihre Fassung zurückzugewinnen Die erste kühle Brise des Tages strich über ihr erhitztes Gesicht. Der Sonnenuntergang verwandelte den Himmel im Westen in ein herrliches Farbenmeer. Wie lange mochte sie so gesessen haben? „Komm doch mit“, versuchte Scrappy sie zu überreden. „Ich habe schon seit Ewigkeiten kein Rodeo mehr gesehen. Außerdem ist ein guter Freund von Charley auf der Tribüne. Er möchte uns kennenlernen.“ Er öffnete die Tür und zupfte sie leicht am Ärmel. „Ob du es glaubst oder nicht, der Mann ist Talentsucher bei einer Schallplattenfirma. Vielleicht ist dies die Gelegenheit, auf die wir schon lange gewartet haben.“ Cassie ließ sich aus dem Wagen helfen. „Was ist los mit dir? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!“ Wie konnte Howard nur erwarten, daß sie Charley und die Twisters verließ? Sie waren ihre Familie, ihre besten Freunde. Kein Geld in der Welt hätte diese Art von Loyalität kaufen können. „Ich glaube, ich bin reif für einen schönen, langen Urlaub – einmal eine Zeitlang völlig ohne Musik leben…“ meinte sie nachdenklich, als sie mit Scrappy zur Tribüne hinüberging. „Dies sind die härtesten zehn Monate meines Lebens gewesen. Was meinst du dazu? Laß uns eine Pause machen und irgendwo an einem einsamen Strand etwas Sonne tanken.“ Auf ihren Lippen spürte sie immer noch den Druck von Howards Mund. Sie rieb sie mit ihrem Handrücken ab. „Ich bin die ganze Hektik etwas leid. Charleys Kunden und alle anderen können für eine Weile zu Schallplattenmusik tanzen.“ Er nickte langsam. „Ich weiß, was du sagen willst, Cassie. Ich habe manchmal auch die Nase voll.“ „Wie hast du es nur so lange ausgehalten in der Musikszene? Was ist es, das einen dazu bewegt, sich jeden Abend wieder auf eine Bühne zu stellen und sich der Gnade des Publikums auszuliefern? Wie bist du dabei so ruhig geblieben? So gelassen?“ „Es war nicht immer so, Kleine, das kannst du mir glauben. Wenn wir irgendwann einmal ein wenig Zeit haben, werde ich dir erzählen, wie sehr der äußere Schein trügen kann.“ Scrappy stieß einen Kieselstein vor sich her. „Ich bin mir eigentlich noch nie darüber klargeworden, was mich auf die Bühne treibt – ob ich mich einfach nur gern produziere, oder ob ich wirklich etwas zu bieten habe.“ Er zuckte die Schultern. „Wer weiß? Ich glaube, es muß einen gepackt haben wie eine Krankheit, sonst würde man es nicht tun.“ „Eine Krankheit! Das ist wohl genau der richtige Ausdruck“, stimmte Cassie zu. „Sag es niemandem – ich glaube, irgendwo baut man Gummizellen für Leute wie uns.“ „Ja, vielleicht. Aber eines weiß ich sicher: den Applaus und die Zufriedenheit des Publikums nach einem Auftritt würde ich für nichts auf der Welt eintauschen.“ Er warf ihr einen Blick zu. „Und ich glaube, dir geht es ebenso.“ Sie lachten zusammen. Cassies Laune hob sich ein wenig. Hier war jemand, der ihre Depression verstand. Es war ein schönes Gefühl. „Laß uns in der zweiten Hälfte des Programms einmal mein neues Lied ausprobieren“, schlug sie vor. Ihre Begeisterung kehrte zurück, und sie war bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen. „Wir haben es jetzt oft genug geübt, und ich habe mich an dein Arrangement gewöhnt.“
„Falls Charleys Freund den Song auch gut findet, könnte er unsere Fahrkarte nach Nashville werden.“ Scrappy nahm sie bei der Hand. „Komm, Cassie. Ich möchte das Rodeo nicht verpassen.“ Cassie hatte gerade ihren Platz auf den Rängen gefunden, als Howard angesagt wurde. Er hielt sich auf einem widerspenstigen, großen, braunen Hengst, eine Hand hoch über den Stetson erhoben, wie es die strengen RodeoRegeln vorschrieben. „Ohhhhh!“ Ein bewunderndes Raunen ging durch die Menge, als Howard ein besonders heftiges Bocken des Hengstes abfing. Das Sonnenlicht ließ die silberne Gürtelschnalle blitzen, die er im vergangenen Jahr bei der Rodeo Endausscheidung in San Francisco gewonnen hatte. Der Hengst buckelte. Howard war jedoch jeder noch so heftigen Bewegung des Tieres gewachsen. Er erweckte den Eindruck, das Ganze sei ein reines Kinderspiel. Als der Summton ertönte, der das Ende des Rittes ankündigte, ließ er sich vom Rücken des Hengstes gleiten und gab dem Tier zum Abschied einen freundschaftlichen Schlag auf die schweißglänzende Flanke. Dann verbeugte er sich vor dem applaudierenden Publikum. Cassie atmete auf. Unbewußt hatte sie die acht Sekunden in äußerster Anspannung erlebt. Es ärgerte sie, daß sie sich seinetwegen immer noch Gedanken machte. Würde sie seinen muskulösen Körper jemals vergessen können? Und die Leidenschaft, die sie durch ihn erlebt hatte? „Mr. Purdy, dies ist die junge Dame, über die wir gesprochen haben.“ Charley lehnte sich zu Cassie hinüber. Sie verzog das Gesicht, als sie den Biergeruch spürte, der von ihm ausströmte. „Dies ist Harlan Purdy, Cassie. Er ist ein alter Freund von mir. Wir sind einander zufällig wieder über den Weg gelaufen. Harlan ist auf Talentsuche für Nashville. Er hat eure Show gesehen und war so beeindruckt, daß er dich unbedingt kennenlernen wollte.“ Er legte einen Arm um ihre Schultern. Cassie ärgerte sich darüber, daß er wieder einmal zu viel getrunken hatte und sich in diesem Zustand um ihre Geschäfte kümmern wollte. Harlan Purdy sah aus wie eine Katze, die gerade den Kanarienvogel gefressen hat. „Das erinnert mich an den Abend, als ich Joey Ballard noch während seiner Show in Fayetteville in Arkansas unter Vertrag genommen habe.“ Er kaute auf seiner Zigarre und rollte sie dann in einen Mundwinkel. „Haben Sie zufällig schon einmal etwas von Joey gehört?“ Cassie schüttelte brüsk den Kopf. Es widerstrebte ihr, sich ihr Urteil nach dem ersten Eindruck zu bilden, aber es ließ sich nicht leugnen, daß ihr der Talentsucher zuwider war. Ungeachtet ihrer mangelnden Reaktion fuhr er fort: „Das ist heute Ihr Glückstag, Miss! Zufällig habe ich gerade einen Vertrag bei mir.“ Er lachte zufrieden, als er das zusammengefaltete Blatt Papier aus der Tasche zog. „Vorsichtshalber habe ich immer einige Verträge dabei.“ Cassie saß regungslos wie eine Statue da. Falls Charley und sein Freund glaubten, sie werde etwas derart Wichtiges mehr oder weniger zwischen Tür und Angel entscheiden, dann irrten sie sich. Harlan Purdy zückte einen Kugelschreiber und wollte ihn Cassie in die Hand drücken, damit sie auf der Stelle unterschreiben konnte. Sie starrte geradeaus und rührte keinen Finger. „Irgendwie habe ich das Gefühl, daß Sie genügend Durchhaltekraft haben. Das ist sehr wichtig in dieser Branche.“ Er sog genüßlich an seiner Zigarre. „Etwas
Werbung ist alles, was Sie brauchen, Miss. Ich glaube, ich bin da genau der richtige Partner für Sie.“ „Sie schreibt auch ihre eigenen Lieder“, brüllte Charley über den allgemeinen Lärm hinweg. Cassie wäre am liebsten aufgestanden und hätte laut geschrien vor Frustration. Statt dessen warf sie Scrappy einen verzweifelten Blick zu. Die drückende Hitze, Charleys Bierfahne und der Zigarrenrauch des Talentsuchers waren einfach zu viel des Guten. „Wir müssen die neue Nummer noch einmal durchspielen, bevor wir damit auf die Bühne gehen.“ Scrappy griff nach ihrer Hand, um Cassie mit sich fortzuziehen. In ihrer Eile stieß sie eine Bierdose um, die jemand unter den Sitz gestellt hatte. „Mr. Purdy, es war mir ein großes Vergnügen, Sie kennenzulernen. Wieso kommen Sie nicht einmal in Charleys Restaurant vorbei, so daß wir uns weiter unterhalten können?“ Cassie begann langsam mit dem Rückzug. „Wir wollen es doch jetzt gleich über die Bühne bringen!“ Charley zeigte die Aggressivität aller Betrunkenen. „Ich habe den Vertrag gelesen und kann dir sagen, daß ihr keinen besseren bekommen werdet!“ Die letzten Worte lallte er nur noch. Cassie schüttelte angewidert den Kopf. „Ich fürchte, Sie müssen uns jetzt entschuldigen, Mr. Purdy!“ Sie drückte ihm die feuchte Hand. „Falls Sie während der zweiten Hälfte unserer Show noch da sind, werden Sie unseren neuesten Song hören. Ich habe ihn selbst geschrieben und könnte mir vorstellen, daß er Ihnen gefällt.“ „Ich habe ziemlich viele Termine, Miss. Es ist schwer zu sagen, wann ich wieder einmal Zeit haben werde, Ihnen zuzuhören.“ Harlan Purdy war offensichtlich nicht begeistert über die Verzögerung, ganz gleich, was auch immer für ein Grund dahinterstecken mochte. „Ich verstehe“, sagte sie, ohne Charleys wütenden Blick zu beachten. „Falls es Sie jemals in Charleys Restaurant verschlagen sollte, bin ich sicher, daß wir in aller Ruhe einen Vertrag aufsetzen können, der uns allen gerecht wird.“ Im Moment war es ihr völlig einerlei, ob sie in seinen Terminkalender paßte oder nicht. „Ich weiß Ihr Interesse wirklich zu schätzen.“ Cassies Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Sie mußte unbedingt noch einen Moment allein sein, bevor die Show weiterging. „Was ist, wenn das Publikum den neuen Song nicht mag?“ Cassies Lampenfieber brach wieder einmal voll durch. „Du wirst es nie erfahren, solange du es nicht ausprobierst“, beruhigte Scrappy sie. „Wieso tue ich mir das alles nur an?“ stöhnte sie. „Wieso bin ich nicht in Coyote Bend geblieben und habe mir eine Stelle als Kassiererin gesucht? Wieso muß ich mich derart quälen? Ich muß verrückt sein!“ „Es ist ein gutes Lied. Hör auf, dir Sorgen zu machen!“ Scrappy legte ihr den Arm um die Schultern. „Das sagst du doch nur, weil du die Musik geschrieben hast.“ Sie war immer noch nicht völlig überzeugt. „Habe ich dich schon jemals angelogen?“ „Ja.“ „Wann?“ Sein Blick war voll empörter Unschuld. „Als du mir sagtest, Kris Kristofferson sei dein Zwillingsbruder.“ „Ach, das!“ Er machte eine wegwerfende Geste. „Da habe ich nicht gelogen. Es war eine Halluzination.“
Ihr gemeinsames Lachen durchbrach die Spannung. Sie begaben sich auf ihre Plätze auf der Bühne. Cassies berufliche Disziplin ließ sie ihr Lampenfieber sofort vergessen, als der Ansager die Fortsetzung ihrer Show ankündigte. Sie verschwieg dem Publikum, daß sie das neue Lied selbst geschrieben hatte, weil sie sich ein objektives Bild von der Reaktion machen wollte. Der einfache Text richtete sich an Frauen überall auf der Welt, die sich zu einem Mann hingezogen fühlten, der ihnen nicht gehören konnte. Cassie hatte ihn aus ihrer eigenen Lebenssituation heraus geschrieben und sang ihn mit einem Ausdruck selbstvergessener Hingabe. Als die letzten Takte des Liedes verklangen, ertönte das reinste Stampf und Pfeifkonzert auf den Rängen. Das Publikum war begeistert. Cassie machte kein Hehl aus ihrer Freude, bevor sie zum nächsten Song überging. „Ich habe es dir doch gleich gesagt“, raunte Scrappy ihr zu, als das Publikum sie schließlich mit lautem Applaus verabschiedete. „Ich hoffe nur, daß du mir die Chance mit Purdy nicht verdorben hast.“ Charley hatte sich zum Wagen durchgekämpft und tat sein Bestes, der Gruppe die gute Laune zu verderben. Cassie hatte Mühe, Ruhe zu bewahren, aber sie wußte, daß es keinen Sinn hatte, sich jetzt mit ihm zu streiten. „Harlan ist ein vielbeschäftigter Mann. Ich weiß nicht, ob er sich noch einmal die Zeit nimmt, euch anzuhören“, bemerkte Charley säuerlich. * „Falls sein Interesse an uns ernst ist, wird nichts ihn davon abhalten können wiederzukommen!“ Cassie ärgerte sich über sich selbst. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt für eine Aussprache. Morgen früh, wenn Charley wieder halbwegs nüchtern war, wollte sie ein offenes Gespräch mit ihm führen. Sie wünschte ihm kurz eine gute Nacht und stieg in den Kombi. „Erinnere mich bitte daran, daß ich meinen Aspirinvorrat aufstocke“, seufzte sie. „Charley ist derart betrunken, daß er morgen mit Sicherheit die Tabletten dutzendweise nimmt.“ „Glaubst du eigentlich wirklich, daß dieser Purdy irgend etwas für uns tun kann?“ Scrappys Ton verriet eine Spur von Erregung. „Wir müssen abwarten.“ Cassie gähnte. Die Abenddämmerung senkte sich herab. Ein hektischer Tag ging zu Ende. Cassies extreme Gefühlsschwankungen hatten ihren Zoll gefordert. Müde fragte sie sich, ob sie wirklich die nötige Ausdauer hatte, um ihre Träume zu verwirklichen. Die Erschöpfung vertrieb bald jeden anderen Gedanken außer dem Wunsch nach Schlaf. „Wo bist du gewesen?“ Charley ging wie ein Löwe in seinem Käfig auf dem Korridor vor Cassies Apartment auf und ab, als sie am folgenden Sonntag nach oben kam. Er starrte sie wütend an. „Ich warte nun schon seit zwei Stunden auf dich!“ brüllte er. Cassie verzog das Gesicht, als sie seinen WhiskyAtem spürte. „Irgendwann muß ich ja auch einmal essen, und es ist zu heiß, um hier oben zu kochen“, verteidigte sie sich und warf dabei eine Blick auf die Uhr, um sich davon zu überzeugen, daß er wieder einmal maßlos übertrieb. „Ich bin den ganzen Tag hier gewesen, und es ist jetzt erst kurz nach sieben.“ Cassie zog den Schlüssel aus ihrer Tasche und öffnete die Tür. Charley ging hastig an ihr vorbei und ließ sich in einen Sessel fallen. „Sieh mal, ich habe heute einen neuen Songtext geschrieben.“ Sie suchte einen Bogen Papier aus dem Chaos heraus, das auf ihrem Schreib und Eßtisch herrschte. „Harlan Purdy hat mich heute nachmittag gegen halb sechs angerufen. Er hat morgen ein paar Stunden Zeit und möchte um ein Uhr hier sein.“ Dankbar
schluckte Charley die beiden Aspirintabletten, die Cassie ihm reichte, und trank
ein Glas Wasser hinterher. „Eigentlich brauche ich etwas Stärkeres“, brummte er
unzufrieden.
„Ich habe Scrappy doch gleich gesagt, daß Purdy wiederkommt, wenn er wirklich
interessiert ist!“ rief Cassie aus. „Vielleicht haben wir ja noch Zeit genug, dieses
neue Lied vorzubereiten und einzuüben.“
„Hast du noch ein Glas Wasser für mich?“ Charleys Stimme klang wie ein
Reibeisen.
„Hast du die Twisters schon benachrichtigt? Sie müssen früher als gewöhnlich
kommen, damit sie die Verstärker rechtzeitig aufbauen können.“
Charley seufzte zufrieden auf, nachdem er sich einen langen Schluck aus der
kleinen, flachen Flasche gegönnt hatte, die er stets bei sich hatte.
„Was soll ich anziehen? Auf der Party in der letzten Woche hat er mich in meinen
besten Sachen gesehen. Vielleicht habe ich ja noch Zeit, kurz zu Shepler’s
hinüberzugehen, bevor er kommt. Ich habe dort vor kurzem etwas sehr Nettes
im Fenster entdeckt.“
„Das wird doch keine Modenschau“, warf Charley ein. Sein Blick glitt über ihre
Jeans und die dazu passende Weste, die sie über einer blaukarierten Bluse trug.
„Das, was du anhast, ist gut genug.“
„Was hast du gesagt? Hast du die Twisters schon benachrichtigt? Falls nicht,
macht es nichts. Ich muß Scrappy sowieso noch anrufen.“
Völliges Schweigen. Cassie sah Charley fragend an. Er saß wie versteinert da und
starrte auf seine Hände, als sehe er sie zum ersten Mal.
„Was ist, Charley?“
„Er ist nur an dir interessiert, Cassie.“ Charley räusperte sich nervös. „Das war
die einzige Bedingung, die er gestellt hat.“
„Du machst wohl Witze!“ Sie traute ihren Ohren nicht.
„Die Twisters will er nicht.“
Cassie hatte das Gefühl, als habe sie soeben eine Ohrfeige bekommen. „Und
könntest du mir dann bitte einmal sagen, wer mich musikalisch unterstützen soll?
Ich kann doch nicht gleichzeitig die Musik spielen und dazu singen!“ Sie stampfte
ungeduldig mit dem Fuß auf. „Außerdem haben wir uns alles zusammen
erarbeitet. Ich würde mich ohne sie auf der Bühne nicht wohl fühlen.“
„Purdy bringt ein Band mit Playback mit“, erwiderte Charley ungerührt.
„Du hast ihm doch gesagt, daß die Twisters und ich zusammengehören, oder?“
Irgend etwas stimmte hier nicht, und sie wollte herausfinden, was es war. „Hast
du es ihm gesagt?“ hakte sie noch einmal nach.
„Er sucht eine Sängerin, keine Gruppe.“ Charleys zerknirschte Miene konnte sie
nicht täuschen. Er hatte sie allein angeboten, ohne sie vorher um ihre Meinung
zu fragen.
„Wie konntest du Mike, Jess und Scrappy das antun? Du weißt doch, wie hart sie
alle auf diese Chance hingearbeitet haben!“
Ihre gemeinsamen Pläne, ihre Begeisterung über die Vorstellung, wie sie
Nashville erobern würden, ihre Träume von der ersten Langspielplatte – alles war
jetzt dahin.
„Wieso hast du Purdy nicht gesagt, daß er uns entweder alle nehmen muß oder
gar nicht?“ Sie konnte Charleys Verrat nicht so einfach schlucken.
„Das darf doch alles nicht wahr sein!“
„Wir sind eigentlich in keiner Position, um unsererseits Bedingungen zu stellen,
wenn du die Sache einmal realistisch betrachtest“, bemerkte er. „Musiker gibt es
dutzendweise, aber gute Sänger – Sänger, die sich auch verkaufen – sind sehr
selten. Vielleicht kannst du ja die Twisters nachziehen, wenn du erst einmal im
Geschäft bist.“ „Du erwartest allen Ernstes, daß ich mitspiele, nicht wahr?“ Sie musterte ihn zornig. „Und was soll ich den Jungs sagen? Entschuldigt, aber wenn ihr mir nicht aus dem Weg geht, muß ich leider über euch hinweggehen?! Es wird nur kurze Zeit wehtun?!“ „Du machst doch aus einer Mücke einen Elefanten, Cassie.“ „Und du hast einen großen Fehler gemacht, wenn du glaubst, daß ich meine Freunde derart hintergehe! Das kann ich ihnen nicht antun!“ Sie zuckte die Schultern. „Das ist mir das Ganze nicht wert, Charley. Die Gruppe und ich gehören zusammen.“ „Ich werde mir etwas einfallen lassen, was wir ihnen sagen können.“ Er erhob sich und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Sie sind schon lange genug im Musikgeschäft, um zu wissen, was gespielt wird. Sie werden die ersten sein, die dir Glück wünschen.“ „Soll mir das ein Trost sein?“ Cassie versuchte, seine Hand abzuschütteln. „Ich kann es nicht tun, Charley. Und ich will es nicht.“ Der Druck seiner Finger verstärkte sich. „O doch, du wirst es tun, Cassie. Versuche nicht, irgendwelche Dummheiten zu machen!“ Es war das erste Mal, daß er ihr gegenüber einen drohenden Ton anschlug. „Ich habe zu lange Jahre hart gearbeitet, um mir diese Chance entgehen zu lassen! Du wirst nicht alles kaputtmachen, nur weil du irgendwelche albernen Ideen hast, du seist den Twisters etwas schuldig! Mir bist du etwas schuldig, Baby, nicht ihnen! Vergiß das nicht!“ Cassie kochte vor Wut. So einfach ließ sie sich nicht überrollen. Sie würde die Twisters mit in den Vertrag einbeziehen, komme, was da wolle. Plötzlich kamen ihr wieder Howards Anschuldigungen in den Sinn. „Charley, was für eine Gage hast du den Temples für unseren Auftritt in Rechnung gestellt?“ Ihre Frage kam betont beiläufig, aber sie ließ ihn dabei keine Sekunde aus den Augen. Howards Rat, sich etwas mehr um die finanzielle Seite ihrer Karriere zu kümmern, war nicht schlecht. „Was hat denn das nun damit zu tun?“ fuhr Charley sie erbost an, wurde dabei aber kreidebleich. „Du hast deinen Anteil bekommen.“ „Wirklich?“ „Wieso bezweifelst du es?“ „Als wir damals im Wagen saßen, sagtest du, wir hätten bei den Temples unsere bisher größte Gage bekommen. Ich habe darüber nachgedacht und festgestellt, daß ich nicht die leiseste Ahnung habe, was ich eigentlich wert bin. Und dann haben Howard und ich uns unterhalten, und…“ „Ich dachte, du wolltest mit ihm nichts zu tun haben.“ Charley zog spöttisch die Brauen in die Höhe. „Du hast dich ja schnell an ihn herangemacht, wenn man an deine Reaktion denkt, als du herausfandest, wer die Rechnung bezahlt!“ „Er hat mir einiges über dich erzählt“, konnte Cassie sich nicht verkneifen zu bemerken. „Das kann ich mir denken.“ Charleys Lächeln war eisig. „Es sieht ja fast so aus, als seid ihr beide dicke Freunde, wenn man an die Art eures Gesprächs denkt.“ „Ich habe dir gesagt, daß ich früher einmal für ihn gearbeitet habe, oder? Er hat sich nur erkundigt, wie es mir jetzt geht. Und zu deiner Information: Ich habe mich nicht an ihn herangemacht!“ „Je weiter du ihm aus dem Weg gehst, desto besser.“ „Du warst es, der den Auftritt bei ihm gebucht hat, wenn ich mich recht erinnere“, sagte sie hitzig. „Vielleicht solltest du mich in Zukunft vorher fragen, wenn es darum geht, wo ich auftrete oder bei wem ich vorsinge. Auf diese Art
und Weise vermeiden wir dann wenigstens diese peinlichen Pannen.“ „Peinlich?“ Erst jetzt schien es Charley zu dämmern. Cassie stieg das Blut in die Wangen. „Das läßt natürlich alles in einem neuen Licht erscheinen!“ Sein Hohn war unüberhörbar. „Ich habe mich schon gewundert, wieso du dich so dagegen gesträubt hast, für die Temples aufzutreten!“ Cassie hätte sich ohrfeigen mögen für ihren Fehler. Wie hatte sie es nur zulassen können, daß er das Gespräch in diese Richtung lenkte? „Falls Purdy morgen den richtigen Eindruck von dir bekommt, kannst du die Auftritte auf solchen und ähnlichen Veranstaltungen vergessen.“ Charley wußte, daß die Diskussion um die Gage, die Cassie gesucht hatte, umgangen war. Er lachte leise, als er zur Tür ging. „Weißt du, Cassie, wenn du dich so ärgerst, wirst du vorzeitig altern und Falten bekommen. Du solltest dich lieber etwas ausruhen.“ Cassie war sich nicht sicher, aber sie hatte den Eindruck, daß Charley die Tür etwas härter als nötig schloß.
6. KAPITEL Als Cassie am Montag gegen Mittag in die Bar hinunterging, war weit und breit kein Gast zu sehen. Charley war dabei, das Tonbandgerät anzuschließen, auf dem das Playback abgespielt werden sollte, das Purdy mitbringen wollte. Ein großer Krug Bier stand auf der Bar. Die Klimaanlage surrte leise in ihrem vergeblichen Kampf gegen die drückende Augusthitze, die über der Stadt lag. Cassie konnte sich gar nicht vorstellen, daß schon ein ganzes Jahr vergangen sein sollte, seitdem sie Coyote Bend verlassen hatte. Hatte die Erscheinung Harlan Purdys schon beim Rodeo Cassies Widerwillen hervorgerufen, so empfand sie jetzt bei seinem Anblick schiere Übelkeit. Angefangen vom rosafarbenen Anzug bis hin zu den glänzenden, braunen Stiefelchen stellte der Talentsucher die Karikatur eines Cowboys dar. „Ist die Bandmaschine fertig?“ Purdy wollte offensichtlich sofort zur Sache kommen. „Ich habe schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.“ Es gab keinen Zweifel daran, daß Harlan Purdy sich für eine äußerst wichtige Persönlichkeit hielt. „Diese Produzenten in Nashville halten mich achtzehn Stunden am Tag und mehr auf Trab.“ Ein Diamant blitzte an seinem fetten Ringfinger, als er die Asche von seiner Zigarre strich. „Ich glaube, wir brauchen Sie jetzt ein paar Stunden lang nicht, Ingram.“ Charley nickte. „Ein paar Stunden?!“ Cassie traute ihren Ohren nicht. Charley hatte mit keiner Silbe erwähnt, daß er sie mit diesem… mit diesem nachgemachten Cowboy allein lassen würde. Außerdem – wie lange konnte es schon dauern, wenn sie ein paar Lieder sang? Purdy hatte sie bereits beim Rodeo gehört. Entweder gefiel ihm ihr Stil oder nicht. „Ich habe noch einiges in der Stadt zu erledigen.“ Charley verschwand in Richtung Tür. Cassie warf ihm einen mordlüsternen Blick hinterher. „Falls Sie einen Drink möchten, Harlan, Cassie weiß bestens Bescheid. Sie wird Ihnen einschenken, was auch immer Sie möchten.“ „Machen Sie sich unseretwegen keine Sorgen. Wir werden schon miteinander auskommen.“ Purdy legte einen Arm um Cassies Schultern. Sie wand sich innerlich, als ihr der süßliche Geruch seines Rasierwassers in die Nase stieg. Charley war sichtlich betroffen von dem Blick, mit dem sie ihn bedachte, machte aber keinerlei Anstalten, zu bleiben. „Soll ich jetzt die Bänder auflegen, Mr. Purdy?“ Sobald sich die Tür hinter Charley geschlossen hatte, ging Cassie auf Distanz zu Purdy. „Nennen Sie mich doch Harlan!“ Sein Lächeln entblößte vom Rauch gefärbte Zähne. Cassie betrachtete das Band, das er neben die Maschine gelegt hatte. Sie kannte alle Titel, die auf dem Index angeführt waren. „Gibt es irgendeinen Titel, an dem Sie besonders interessiert sind?“ Ihr Ton war eisig. „Nein, nein, nehmen Sie nur, was Sie wollen. Das soll mir dann recht sein.“ Purdy schob seinen unförmigen Körper auf einen Barhocker. „Aber ich möchte den Drink haben, den Ingram mir versprochen hat. Scotch und Wasser.“ Cassie mixte ihm den Drink und stellte das Glas vor ihn auf die Bar. Dann legte sie die Kassette ein. Während sie zum blechernen Klang einer lustlos spielenden Begleitband sang, sehnte sie sich nach einer LiveGruppe, die ihren persönlichen Stil unterstützte. Die gierigen Blicke, mit denen Purdy sie musterte, gaben ihr das Gefühl, das
letzte Stück Kuchen auf einem Teller im Armenhaus zu sein. Sie vermochte nicht genau zu sagen, was es war – aber irgend etwas stimmte nicht an dieser Situation. Wieso hatte Purdy sie nicht zu einer Demonstrationsaufnahme in ein richtiges Studio bestellt? „Das ist genug. Ich weiß, daß Sie singen können.“ Purdy unterbrach Cassie mitten im zweiten Lied. Er deutete auf den Barhocker neben sich. „Wir wollen uns unterhalten.“ Cassie stoppte das Band, machte aber keinerlei Anstalten, zu Purdy hinüberzugehen. Je mehr Distanz zwischen ihr und diesem nachgemachten Cowboy war, desto besser. Sie spürte förmlich, wie sein durchdringender Blick sie auszog. Wieso erduldete sie das eigentlich alles? „Zusammen könnten wir es weit bringen, Mädchen.“ Er zog wieder an seiner übelriechenden Zigarre. Cassie mußte husten, als die Rauchwolke zu ihr herüberkam. „Ich habe viele gute Kontakte, und Ihre Stimme garantiert uns bald einen Hit.“ „Danke.“ Sie blieb höflich formell. Aus irgendeinem Grund wußte sie, daß sie die Trümpfe in ihrer Hand hatte, aber ihr war noch nicht ganz klar, welches Spiel hier eigentlich gespielt werden sollte. Vielleicht war jetzt der Augenblick, die Twisters ins Gespräch zu bringen. „Ich war heute nicht in Hochform“, erklärte sie. „Wissen Sie, ich bin es gewohnt, mit einer Gruppe zusammen aufzutreten. Wir spielen nun schon ein ganzes Jahr zusammen und…“ „Falls wir beide uns einig werden, können Sie bald mit den besten Musikern Nashvilles zusammenarbeiten.“ Purdy trommelte mit seinen kurzen, dicken Fingern nervös auf dem Tresen und betrachtete Cassie durchdringend. „Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht, Mr. Purdy. Entweder gefällt Ihnen mein Gesang und Sie nehmen mich unter Vertrag, oder nicht.“ Sie zuckte die Schultern. Sie wollte ihn zwingen, seine Absicht konkret in Worte zu fassen. „Was mich anbetrifft, so kommen wir beide doch gut miteinander aus.“ „Spielen Sie mir nicht die Naive vor, Cassie“, knurrte er. „Ich meine, daß Sie mir ebenso zu Gefallen sein werden wie ich Ihnen. So einfach ist das!“ Ekel stieg in Cassie auf. Sie mußte schlucken. „Ich glaube, das Ganze ist ein Irrtum gewesen, Mr. Purdy.“ Ihr Ton wurde eisig. „Ich bin Sängerin, keine Prostituierte. Falls ich mein Ziel in Nashville nicht allein durch mein Talent und durch harte Arbeit erreichen kann, vergesse ich es lieber.“ Sie richtete sich zu voller Größe auf. „Es scheint, als hätten wir nur die Zeit vergeudet.“ Purdy preßte die Lippen hart aufeinander. Seine finstere Miene konnte sie nicht einschüchtern. Wie oft mochte er diesen dreckigen Trick schon bei jungen Frauen, die sich verzweifelt nach einer Chance im Musikgeschäft sehnten, angewendet haben? Der Gedanke daran verursachte ihr Übelkeit. „Ich mache mein Angebot kein zweites Mal.“ Purdy leerte das Glas. „Gut. Das erspart mir die Mühe, Ihnen noch deutlicher zu sagen, daß Sie zum Teufel gehen können.“ Harlan Purdy lehnte sich schwer gegen die Bar. „Okay, Mädchen. Ich hoffe, Sie denken an mein Angebot, wenn Sie das nächste Mal auf einer dieser Partys auftreten, wo die Gäste schon so betrunken sind, daß Sie auf einem Bett glühender Kohlen tanzen und dabei einen Striptease machen könnten, ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen!“ Cassie drehte sich um und verließ die Bar. Ein gehässiges, leises Lachen verfolgte sie, aber sie weigerte sich, sich noch einmal umzusehen. „Zum Teufel mit Charley Ingram und seinen Freunden!“ Cassie schlug die Tür zu ihrem Apartment mit einem solchen Schwung hinter sich zu, daß die Fenster leise klirrten. Je länger sie über alles nachdachte, desto wütender wurde sie. „Ich
möchte wetten, daß er es mit Absicht so arrangiert hat, dieser… oh!“ Sie verriegelte die Tür, um sicher zu sein vor unliebsamen Überraschungen. „Nicht eine Nacht mehr verbringe ich hier!“ Cassie riß eine Bluse vom Bügel und warf sie in einen Karton. Nashville war nur eine ZweiTageFahrt entfernt – sie wollte Charleys Restaurant noch heute verlassen. Während sie ihre Sachen packte, verwünschte sie Harlan Purdy aus ganzem Herzen. Das laute Klopfen an ihrer Tür verriet ihr schließlich, daß Charley von dem negativen Ergebnis ihres Treffens mit Purdy erfahren hatte. „Mach auf, Cassie!“ Die dicke Kieferntür konnte seine laute Stimme nicht dämpfen. „Ich muß mit dir sprechen, öffne die Tür!“ „Geh weg!“ schrie sie. „Ich habe genug! Du kannst dir eine andere suchen, die bereit ist, sich nach oben zu schlafen!“ „Cassie, ich schwöre, daß ich nicht wußte, was er vorhatte! Ich dachte nur, es sei eine Möglichkeit für euch beide, euch besser kennenzulernen, das ist alles!“ „O ja, er wollte mich besser kennenlernen, das kann man wohl sagen! Das einzige Problem ist nur, daß ich diesen Kerl nie im Leben an mich heranlassen würde!“ „Was ist mit den Twisters?“ Charley wechselte die Taktik und zielte nun auf ihre Gefühle für die Gruppe ab. „Du kannst sie doch nicht einfach im Stich lassen.“ „Ich habe schon mit Scrappy gesprochen. Wir werden uns in Nashville treffen, sobald er hier alles geregelt hat.“ Sie nahm die Lederstiefel auf, die sie extra für den Auftritt beim Rodeo gekauft hatte. Sie wußte nicht, ob sie sich jemals dazu bringen konnte, sie noch einmal anzuziehen, aber auf keinen Fall wollte sie sie zurücklassen. „Bitte, geh nicht.“ Charleys Stimme klang, als sei er der Panik nahe. „Wir haben zu hart und erfolgreich zusammengearbeitet, als daß wir unsere Beziehung durch etwas derart Albernes zerstören lassen sollten! Ich verspreche – nein, ich schwöre auf die Bibel, daß ich so etwas nie wieder zulassen werde!“ „Geh weg!“ Sie hielt sich die Ohren zu. „Es ist vorbei! Schreib mir einen Scheck aus über das Geld, das du mir noch schuldest, und dann verschwinde ich!“ Sie lehnte Charleys Angebot, ihr zu helfen, ab, als sie die Kisten mit ihren Sachen nach unten schleppte. Hastig verstaute sie alles im Kofferraum und auf dem Rücksitz ihres Wagens. Sie hatte nur noch ein Ziel: so rasch wie möglich fortzukommen! Charley stand in der Tür und trank einen Whisky pur. Nie im Leben würde sie ihm glauben, daß er von Purdys Absichten nichts gewußt hatte. „Ich finde, du solltest es dir noch einmal überlegen.“ Charley zückte sein Scheckbuch und schrieb ihr den gewünschten Scheck aus. „Ich würde dir ja Bargeld geben, aber soviel habe ich im Moment nicht da“, erklärte er. „Ich fahre bei der Bank vorbei, wenn ich die Stadt verlasse.“ „Die Bank hat bereits geschlossen.“ Er sah auf die Uhr. „Es ist schon nach fünf. Ich glaube nicht, daß du diesen Scheck heute noch irgendwo einlösen kannst. Warum übernachtest du nicht noch einmal hier? Es ist doch wirklich nicht sinnvoll, die Rechnung für ein Motel zu zahlen, wenn du hier umsonst schlafen kannst.“ Cassie drehte den Scheck hin und her und überlegte. „Gut, ich bleibe“, entschied sie dann. „Aber ich komme heute abend nicht mehr ins Restaurant. Sobald die Bank morgen früh öffnet, bin ich verschwunden.“ Charley hatte glasige Augen. Offensichtlich hatte er sich die Zeit in der Stadt mit ein paar Drinks vertrieben. Sein Glas war leer. Fast schon mit einer automatischen Geste zog er seine kleine Flasche aus der Tasche und füllte nach. Cassie wandte sich angewidert ab. Es war noch früh, als Cassie ihr Bett fertig machte. Sie war entsetzlich müde.
Seit ihrer letzten Begegnung mit Howard hatte sie nicht mehr richtig schlafen können. Nun standen ihr zwei anstrengende Tage hinter dem Steuer bevor. Sie zog sich das Kissen über den Kopf, um das Lachen und die Musik nicht mehr hören zu müssen, die aus dem Restaurant durch das offene Fenster zu ihr hereindrangen. Es dauerte nur Sekunden, bis sie in einen tiefen Schlaf fiel. Da Cassie ihren Wecker schon eingepackt hatte, wußte sie nicht, wie spät es war, als der starke Rauch sie weckte. „Mein Gott! Wenn jemand diesem Menschen doch nur einmal beibringen könnte, wie man kocht!“ Stöhnend drehte sie sich auf die Seite. Sie sah das angebrannte Essen förmlich vor sich. Draußen war es dunkel, aber die gewohnte Nachtruhe wurde durchbrochen von dem ohrenbetäubenden Geheul der Feuerwehrsirenen. Cassie richtete sich auf. Sie rang nach Luft. Ihr kleines Zimmer war voller Rauch. „0 mein Gott!“ Dichte Schwaden drangen unter ihrer Tür hindurch. Cassies Kopf schmerzte. Sie kämpfte mit der Versuchung, sich einfach auf die Matratze zurücksinken zu lassen und ihre tränenden Augen für einen Moment zu schließen. Doch jede Sekunde war kostbar. Sie zwang sich aufzustehen und stürzte zur Tür hinüber. Als sie nach der Klinke griff, zuckte sie entsetzt zurück. Das Metall war glühendheiß. „Ich bin gefangen!“ Sie öffnete den Mund, um nach Hilfe zu rufen. Der schwarze Rauch drang in ihre Lungen. Mit einem leisen Wimmer brach sie zusammen. Mit letzter Kraft griff Cassie nach der Tischkante und zog sich langsam daran in die Höhe. Der Rauch verursachte ihr einen höllischen Schmerz beim Atem. Sie mußte sich irgendwie bemerkbar machen. Als sie auf dem Tisch herumtastete, bekam sie die kleine Lampe zu fassen, die in der Mitte stand. Sie raffte ihre letzte Kraft zusammen, hob die Lampe und schleuderte sie aus dem Fenster. Das letzte, was Cassie hörte, bevor sie das Bewußtsein verlor, war der überraschte Aufschrei des Feuerwehrmannes, den ihr Wurfgeschoß am Helm getroffen hatte. „Da oben ist noch jemand! Rasch! Bringt die Leiter hierher!“ Cassie bemühte sich, die Augen zu öffnen, aber ihre Kraft reichte nicht aus. Ein klägliches Stöhnen entrang sich ihr. Ihre rechte Hand reagierte nicht, als sie sie zur Faust ballen wollte, um sich gegen den Schmerz zu wappnen. „Cassie, können Sie mich hören? Cassie, Sie müssen aufwachen, öffnen Sie die Augen, Cassie. Es ist alles vorbei. Sie sind in Sicherheit.“ Eine sanfte Frauenstimme redete beschwörend auf sie ein. „Wo… wo bin ich?“ Cassie mußte die Frage stellen, auch wenn das Sprechen sie sehr anstrengte. „Reden Sie jetzt nicht, Kleine. Sie müssen Ihren Stimmbändern ein wenig Zeit lassen zum Heilen.“ Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Schwester, als Cassie verständnisvoll nickte. Sie strich ihr leicht über die Schulter. Cassie war an den Tropf angeschlossen, aus dem eine klare Flüssigkeit langsam in ihre Vene eindrang. Sie hob den Kopf ein wenig, um sich umzusehen. Ihr Blick fiel auf breite Schultern, denen keine Last zu schwer schien. Ihr Herz machte einen kleinen Satz. Jetzt wußte sie, daß sie wirklich sicher war. Die Schwester drehte sich herum, um die Richtung von Cassies Blick zu verfolgen. „Mr. Temple hat die ganze Zeit hier gewartet, bis Sie Ihr Bewußtsein wiedererlangten“, erklärte sie dann. „Wollen Sie einen Moment mit ihm sprechen?“ Cassie nickte langsam. Müde ließ sie den Kopf zurück auf das Kissen sinken und schloß die Augen. Wie lange mochte sie schon hier sein? „Einige Sängerinnen tun wirklich alles für ein wenig Publicity.“ Der besorgte
Klang seiner Stimme strafte die Ironie von Howards Worten Lügen. Cassie öffnete die Augen und bemerkte die dunklen Schatten unter seinen blauen Augen. Sie wollte die Hand ausstrecken und ihn berühren, wollte sich vergewissern, daß er wirklich da war, aber sie konnte es nicht, denn sie brachte einfach nicht die nötige Kraft auf. „Bleiben Sie nicht zu lange, Mr. Temple. Sie braucht viel Ruhe, um wieder auf die Beine zu kommen.“ Die Schwester ließ Cassie und Howard allein. „Erinnerst du dich an das, was geschehen ist, Cassie?“ Er lehnte sich über sie und musterte sie aufmerksam. „Feuer.“ Sie schüttelte den Kopf. Sie begriff nicht, wie es zu dem Vorfall hatte kommen können, der sie fast das Leben gekostet hätte. „Du hast Glück gehabt. Die Feuerwehrleute sagten, sie hätten gar nicht mehr nach Menschen gesucht. Sie wollten nur das Übergreifen des Feuers auf andere Gebäude verhindern.“ Howard preßte die Lippen zusammen. „Wie lange bin ich schon hier? Woher wußtest du, wo ich bin?“ Es gab so viele offene Fragen, daß sie gar nicht wußte, wo sie anfangen sollte. Sie ignorierte den brennenden Schmerz, den das Sprechen ihr verursachte. „Ich saß am Schreibtisch und erledigte die Buchführung, als ich die Nachrichten im Radio hörte.“ Howard warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Du warst etwas mehr als vierundzwanzig Stunden bewußtlos.“ „Was ist geschehen?“ Sie krächzte wie ein Rabe. Tränen rollten ihr über die Wangen. Würde sie je wieder singen können? „Die Feuerwehr hat die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen. Ingram meint, das Feuer müsse im Papierkorb des Büros entstanden sein. Er sagte, ein Mann namens Harlan Purdy hätte ihn nachts nach Geschäftsschluß noch aufgesucht. Er habe einen Zigarrenstummel in den Papierkorb geworfen. Offensichtlich hat er dort eine Weile vor sich hingeschmort, bevor einige Stunden später das ganze Gebäude in Flammen aufging.“ „Wieso ist Purdy zurückgekommen? Ich habe ihm doch schon gesagt, daß er den Vertrag vergessen kann.“ Jetzt war Cassie wirklich verwirrt. Vielleicht war es am besten, wenn sie Howard alles erzählte. Möglicherweise konnte er sich einen Reim darauf machen. „Howard, bist du sicher, daß der Mann Harlan Purdy hieß?“ Er nickte. „Ich versuche, alles zu klären, bevor man dich hier entläßt. Bis dann…“ „Es tut mir leid, Mr. Temple, aber Sie müssen jetzt gehen. Anordnung vom Doktor.“ Die Schwester hielt ihm die Tür auf. Ihr fester Ton schloß jeden Widerspruch von vornherein aus. Howard nickte kurz und drehte sich abrupt um, ohne sich von Cassie zu verabschieden. Ihr Blick folgte ihm, bis sich die Tür hinter ihm schloß. „Jetzt, wo Sie wieder bei Bewußtsein sind, wird man Sie sicher bald aus der Intensivstation entlassen und in ein Zimmer für Privatpatienten verlegen.“ Cassie war froh, daß die geschäftige Schwester ihren Kummer nicht bemerkte. Der neue und doch schon so alte Schmerz in ihrer Brust machte ihr deutlich, daß sie durchaus nicht alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte, als sie Coyote Bend verließ. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie war immer noch nicht frei – und würde es vielleicht nie sein. Die Schwester glättete Cassies Decke. Der weiße Verband um Cassies rechte Hand hinderte sie daran, selbst etwas zu tun. „Doktor Reyes wird wahrscheinlich morgen den Verband wechseln wollen, um zu sehen, wie die Wunde heilt. Jetzt legen Sie sich bitte zurück und schlafen ein wenig. Sie brauchen viel Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen.“ Cassie schloß gehorsam die Augen, aber ihre Gedanken ließen sich nicht so
einfach ausschließen. Wieso war Harlan Purdy zurückgekehrt? Doch bestimmt nicht, um Charley von dem „Vorsingen“ zu berichten. Über diesem Gedanken schlief Cassie ein. „Cassie, Zeit, aufzuwachen! Dr. Reyes möchte Ihre Hand untersuchen.“ Die sanft nachdrückliche Stimme der Schwester holte Cassie aus dem schrecklichen Alptraum zurück, der sie quälte. „Guten Morgen, Miss Creighton! Wie geht es Ihnen heute?“ Die Stimme mit dem leichten Akzent war freundlich. Cassie öffnete die Augen. „Fühlen Sie sich gut genug, um heute die Intensivstation mit einem normalen Zimmer zu vertauschen?“ Dr. Reyes begann, den Verband zu lösen. „Ich möchte mir die Verletzung ansehen“, erklärte er. „Sie haben da eine ziemlich ernste Brandwunde.“ Cassie zwang sich, der unangenehmen Tatsache ins Auge zu sehen, daß ihre finanzielle Situation alles andere als rosig war. „Ich glaube, ich muß Ihnen sagen, daß ich keine Versicherung habe, die diese Krankenhausrechnung für mich bezahlt. Ich will mich aber verpflichten, jeden Cent nach und nach zurückzuzahlen.“ Sie seufzte. Es hatte ganz den Anschein, als sei all ihre Arbeit umsonst gewesen. Sie stand ärmer da als je zuvor. Rasch verdrängte sie das Gefühl der Enttäuschung. Am wichtigsten war doch, daß sie noch am Leben war. Dr. Reyes’ Blick wanderte von Cassie zu der Schwester. Dann räusperte er sich, als sei ihm das Thema Geld peinlich. „Howard Temple hat Sie in dieses Krankenhaus einweisen lassen, als er von Ihrem Unglück hörte. Soweit ich weiß, wird er die Kosten übernehmen. Ehrlich gesagt, Miss Creighton, ich glaube, Sie brauchen sich keinerlei Sorgen zu machen. Sie können sich ganz darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden.“ „Wieso kümmert er sich nicht um seine eigenen Angelegenheiten?“ rief sie wütend aus. „Jedesmal, wenn ich etwas tue, mischt sich dieser Mann ein!“ Cassie wußte, daß ihr Ausbruch die Schwester und den Doktor überraschen mußte, aber das war ihr in diesem Moment gleichgültig. Das Leben war schwierig genug mit ihrer Liebe für einen Mann, der nur an ihrem Körper interessiert war. Unter gar keinen Umständen wollte sie nun auch noch finanziell von ihm abhängig sein. Sobald ich hier herauskomme, werde ich das mit der Rechnung regeln, schwor sie sich. Die Schwester half Dr. Reyes, den Verband zu wechseln. Cassie mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Schmerz laut aufzuschreien, als die Wunde freigelegt wurde. Es traf sie wie ein Schock, als sie ihre geschwollene Hand schließlich zum erstenmal betrachtete. „Es werden vielleicht einige Narben zurückbleiben, aber die Beweglichkeit bleibt voll erhalten“, versicherte Dr. Reyes ihr. „Am Ende der Woche werden Sie mit der Therapie beginnen. Ich kann Ihnen garantieren, daß Sie bald wieder Gitarre spielen können.“ „Woher wissen Sie davon?“ „Meine Frau und ich sind einige Male bei Ihren Konzerten gewesen“, erklärte er. Die Schwester reichte Dr. Reyes eine Schere, mit der er den Mullverband zurechtschnitt, bevor er ihn mit Pflaster befestigte. „Ich habe Anweisungen gegeben, daß Sie so bald wie möglich anfangen sollen, das Schreiben Ihres Namens zu üben“, fuhr er fort. „Ich habe vor, Ihrem Autogramm einen Ehrenplatz in meinem Büro einzuräumen. Wenn Sie dann eine berühmte Sängerin werden, kann ich mit Stolz auf meine Handarbeit verweisen – wenn Sie das Wortspiel verzeihen.“
„Ich werde an Sie denken, wenn ich einmal zur Eröffnung meiner Show einen Komiker brauche.“ Cassie lachte. Plötzlich erschien ihr die Welt nicht mehr ganz so grau. „Was ist mit meiner Stimme, Dr. Reyes?“ Sie fürchtete sich vor der Antwort, aber sie mußte die Wahrheit erfahren. Ihre ganze Zukunft hing davon ab. „Glauben Sie, daß ich jemals wieder singen kann? Sagen Sie mir Ihre ehrliche Meinung.“ „Ich glaube, wenn Sie die Inhalationstherapie einhalten und Ihre Stimmbänder in der nächsten Zeit ein wenig schonen, können Sie bald wieder genauso singen wie früher. Für eine gute Sängerin ist das Zwerchfell mindestens ebenso wichtig wie alles andere, und dieser Teil Ihres Körpers hat ja überhaupt keinen Schaden genommen.“ Dr. Reyes ging zur Tür, blieb dann noch einmal stehen und warf einen Blick über die Schulter. „Ich persönlich muß allerdings sagen, daß ich die rauchige Nuance in der Stimme einer Frau bevorzuge.“ Er verzog keine Miene, und nur das belustigte Blitzen seiner dunklen Augen verriet den Schalk. „Ich hoffe, daß Sie als Arzt besser sind als als Komiker“, neckte Cassie ihn.
7. KAPITEL „Die Liebhaber von CountryMusic sind doch die treuesten Fans der Welt.“ Schwester Nancy öffnete den Umschlag und reichte Cassie noch eine von vielen Karten, auf der man ihr rasche Genesung wünschte. „Ich kann es gar nicht glauben, wie nett alle diese Leute sind. Die meisten von ihnen kennen mich nicht einmal!“ Cassie war gerührt von der Tatsache, daß so viele Menschen in Dallas sich für ihr Wohlergehen interessierten. „Sie haben aber das Gefühl, Sie zu kennen, weil Sie sie mit Ihrer Musik erreicht haben“, meinte Nancy. „Stellen Sie sich nur vor, wie es wäre, wenn Sie im ganzen Lande so bekannt wären wie hier in der Gegend!“ Sie griff nach einem weiteren Umschlag. „Das macht mir wirklich Spaß, ehrlich gesagt. Als ich jünger war, habe ich als Sekretärin in einem ElvisPresleyFanclub gearbeitet. Wir haben Feste veranstaltet, haben allen Mitgliedern seine Tourneepläne geschickt und…“ Als es zaghaft klopfte, unterbrach Nancy ihre Geschichte. Howard war kein zweites Mal ins Krankenhaus gekommen. Niemand hatte Cassie besucht, seit sie in dem sonnigen Einzelzimmer auf der Privatstation lag. Obwohl sie sich nichts anmerken ließ, war sie doch auch sehr enttäuscht darüber, daß bisher keiner der Twisters gekommen war. Die Tür ging auf. „Scrappy!“ Cassie sprang auf, um den Musiker zu umarmen. Er hielt einen hübschen Strauß in der Hand und klopfte ihr leicht verlegen auf die Schulter. „Hattet ihr mich schon abgeschrieben? Ich bin nun bereits eine ganze Woche hier. Wieso bist du nicht früher gekommen? Wo sind Mike und Jess? Wieso sind sie nicht bei dir?“ Die Fragen sprudelten nur so aus ihr hervor, als sie ihn weiter ins Zimmer hineinzog. „Dies ist der Geigenspieler meiner Gruppe, Scrappy…“ stellte sie ihn Nancy vor und unterbrach sich dann lachend. „Ist dir klar, daß ich nicht einmal deinen Familiennamen kenne?“ Sie legte ihm erneut die Arme um den Hals. „Aber was macht das schon? Du bist wie eine erfrischende Brise. Oh, wie habe ich euch alle vermißt! Sobald man mich hier entläßt, wollen wir uns alle auf den Weg nach Nashville machen.“ Über Scrappys Schulter hinweg sah sie, daß die Tür ein zweites Mal aufschwang. Howard kam herein, gefolgt von Dr. Reyes. Cassie vermochte den Ausdruck nicht zu deuten, der für den Bruchteil einer Sekunde über seine Züge huschte. Seine blauen Augen hatten sich verfinstert wie der Sommerhimmel vor einem Unwetter. Cassie ließ die Arme sinken. „Es sieht ja ganz so aus, als seist du schon wieder bei Kräften.“ Howards wütender Blick wanderte von Cassie zu Scrappy. Ihre Wangen brannten vor Verlegenheit. „Scrappy und ich haben… Ich habe mich so gefreut, ihn wiederzusehen, nachdem…“ Cassie ärgerte sich über sich selbst. Wieso nur mußte sie sich benehmen wie ein schuldbewußtes Kind? Das Ganze ging Howard doch gar nichts an. Wenn er sich auch nur einen Deut für ihre Genesung interessiert hätte, wäre er schon eher wieder aufgetaucht! Dr. Reyes deutete Cassie, sich auf das Bett zu setzen, während er ihre Hand untersuchte. „Wann können Sie sie entlassen?“ Howards schroffer Ton mißfiel Cassie. „Ich sehe keinen Grund, wieso man sie nicht morgen früh entlassen sollte, vorausgesetzt, sie führt die Therapie allein zu Hause fort und kommt einmal wöchentlich zu mir, damit ich die Entwicklung kontrollieren kann.“ „Einmal wöchentlich!“ Cassie war entsetzt. Das war eine Verzögerung, mit der sie nicht gerechnet hatte. „Aber, Dr. Reyes!“ protestierte sie. „Ich habe doch keine
Wohnung mehr in Dallas! Außerdem wollte ich sobald wie möglich nach Nashville fahren!“ Sie hatte schon einen Schuldschein für das Krankenhaus unterschrieben und vereinbart, die Summe in monatlichen Raten abzuzahlen. Howards Miene verfinsterte sich. Cassie übersah die warnenden Vorzeichen. „Ich fürchte, ich muß darauf bestehen, daß Sie mindestens noch sechs bis acht Wochen in Dallas bleiben“, sagte Dr. Reyes. „Zwar ist ihre Hand erstaunlich gut verheilt, bedenkt man, wie stark die Verbrennungen waren. Ich kann die völlige Wiederherstellung jedoch nur garantieren, wenn Sie jede Woche zu mir kommen und ich Ihnen neue Therapieübungen geben kann, die Sie dann zu Hause allein durchführen.“ Schon wieder dieses Wort! Zu Hause! Zum erstenmal, seit sie Coyote Bend verlassen hatte, fühlte sich Cassie geschlagen. Wo sollte sie bleiben? „Du kommst mit mir nach ,Diamond T’“, bemerkte Howard in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Ich hole dich morgen früh Punkt neun Uhr hier ab.“ Cassie ließ sich auf das Bett fallen. Es war klar, daß sich jede Diskussion erübrigte. Außerdem: was konnte sie Howards Vorschlag entgegensetzen? Ihr ganzer Besitz war in Flammen aufgegangen. „Nun, zumindest werde ich ihm nicht ständig über den Weg laufen“, brummte sie vor sich hin. „Sein Haus ist groß genug für eine ganze Armee.“ Aber war es auch groß genug für sie beide? „Zu schade, daß Ihr Wagen bei dem Brand explodiert ist.“ Nancy war voller Mitgefühl, während sie das lange, seidige Haar ihrer Patientin bürstete. „Ich hoffe, daß ich wenigstens meine Gitarre bald ersetzen kann“, seufzte Cassie. Sie machte gerade ihre Fingerübungen. Sie warteten auf Howard, der sie abholen sollte. „Howard macht wahrscheinlich auf der Stelle kehrt, wenn er mich so sieht“, meinte Cassie. Nancy hatte ihr ein TShirt geliehen, das ihr einige Nummern zu groß war. Dazu trug sie ausgebeulte, geflickte Jeans. „Sie könnten sich in einen Sack hüllen und würden trotzdem gut aussehen, damit Sie es nur wissen.“ Nancy lächelte ihr aufmunternd zu. Cassie umarmte die Krankenschwester. „Ich schicke Ihnen alles zurück, sobald ich kann.“ „Dazu besteht keinerlei Eile.“ Nancy drückte sie an sich und begleitete sie dann hinaus. Howard wartete in der Eingangshalle. Die jungen Schwestern, die auf dem Weg in den Pausenraum waren, warfen sehnsüchtige Blicke zu dem gutaussehenden, jungen Mann im maßgeschneiderten Anzug hinüber. „Der Wagen steht vor dem Eingang.“ Er akzeptierte ihren lächerlichen Aufzug ohne weiteren Kommentar. Cassie war enttäuscht. Sie sehnte sich nach einem Streitgespräch mit ihm, nach etwas, das die Spannungen zwischen ihnen lösen und als Richtschnur für ihr zukünftiges Verhältnis zueinander dienen sollte. Plötzlich wurde ihr klar, daß einige Reporter anwesend waren. „Wieso hast du mich nicht gewarnt?“ Cassie warf Howard einen wütenden Blick zu. Er beugte sich vor und hauchte ihr einen brüderlichen Kuß auf die Nasenspitze. Die Kameras der Fotografen klickten. „Die Redakteure beider Zeitungen sind Freunde von mir, und ich dachte, deine Entlassung aus dem Krankenhaus könnte alle deine Fans interessieren, die dir Genesungswünsche geschickt haben“, erklärte er. „Seit du im Fernsehen aufgetreten bist, kennt man dich in diesem Teil von Texas. Du bist schon fast ein Star. Du solltest dich wohl am besten mit solchen Vorfällen anfreunden“, flüsterte Howard Cassie zu. „Falls du nicht mit dem bißchen Publicity fertig wirst, wie willst du es dann schaffen, wenn du erst überall bekannt
bist?“ „Stimmt es, daß Sie sich zunächst auf der DiamondTRanch erholen werden, Miss Creighton?“ Eine Reporterin hielt ihr ein Mikrofon entgegen. „Mr. Temple, hätten Sie etwas dagegen, Miss Creighton noch einmal zu küssen?“ fragte ein junger Fotograf. „Mit dem größten Vergnügen.“ Howards Lippen streiften ihren Mund. Seine Berührung ließ Cassie einen heißen Schauer über den Körper laufen. Sie drehte sich zur Seite, um dem Blick seiner blauen Augen auszuweichen. „Haben Sie die Absicht, wieder im örtlichen Fernsehsender aufzutreten?“ bohrte die Reporterin weiter. „Und stimmen die Gerüchte, daß Sie und Mr. Temple…“ „Das ist genug für heute.“ Howard hob eine Hand und schnitt damit alle weiteren Fragen ab. „Miss Creighton hat ein schreckliches Erlebnis hinter sich, und Sie werden sicher verstehen, daß sie erschöpft ist.“ „Mein Chef hat mich wegen einer Story hergeschickt, nicht um mich abwimmeln zu lassen“, fauchte die Reporterin. „Ich bestätige Ihnen, daß Miss Creighton mit mir nach ,Diamond T’ fährt, um sich dort zu erholen. Bisher haben wir noch keine Pläne in bezug auf den weiteren Verlauf ihrer Karriere gemacht.“ Er schenkte der hartnäckigen Reporterin ein Lächeln, das sie erröten ließ. „Sobald sie wieder bei Kräften ist, werden wir auf ,Diamond T eine Pressekonferenz einberufen, und Sie können so viele Fragen stellen, wie Sie wollen. Wie gefällt Ihnen das?“ „Okay.“ Die Frau machte sich rasch einige Notizen. Dann trat sie mit ihrem Kameramann beiseite, um Howard und Cassie den Weg freizugeben. „Das war doch mit Abstand die neugierigste Frau, die mir je begegnet ist!“ bemerkte Cassie, als Howard den Motor startete und losfuhr. „Sie macht nur ihren Job“, kam die gleichmütige Antwort. „Ich habe dir ein Konto eröffnet, so daß du dich mit Kleidung, Kosmetika und ähnlichem eindecken kannst. Ich an deiner Stelle würde damit nicht allzulange warten, denn es macht sicher keinen besonderen Eindruck, wenn du dich als hoffnungsvolle junge Sängerin in ausgebeulten Jeans und einem unförmigen TShirt zeigst.“ Schon bald hatten sie die Stadt hinter sich gelassen. Cassie versuchte, sich in dem bequemen Sitz zu entspannen. Sie summte eine Melodie mit, die gerade im Radio gespielt wurde. Es tat gut, die langweilige Atmosphäre des Krankenhauses zu verlassen. Endlich war sie wieder frei. Aber war sie das wirklich? Sie warf einen verstohlenen Blick zu Howard hinüber. Ihre gesunde Hand ballte sich zur Faust. Sie zwang sich, wieder aus dem Fenster zu sehen. Heißes Verlangen nach Howard hatte sie erfaßt, aber der Schmerz in ihrem Herzen sagte ihr, daß Verlangen ohne Liebe sinnlos war. Und Howard hatte es mehr als deutlich gemacht, daß er sie nicht liebte. „Ich bin dir wirklich dankbar für alles, was du für mich getan hast.“ Sie mußte das beklemmende Schweigen, das zwischen ihnen herrschte, irgendwie brechen. „Ich verspreche, daß ich jeden Cent zurückzahlen werde, den du für mich ausgegeben hast.“ Auf Howards verärgerten Protest hin hatte das Krankenhaus Cassie den Schuldschein zurückgegeben. Sie konnte sich ihm nicht widersetzen. Sobald sie in Nashville Arbeit gefunden hatte, wollte sie anfangen, ihm alles zurückzuzahlen. „Es gibt nur eine Möglichkeit, dich zu revanchieren, Cassie – indem du mir dein Wort gibst, daß du Charley Ingram fortan aus dem Weg gehst.“ „Wieso könnt ihr beide euch nicht ausstehen?“ „Ich habe mir schon gedacht, daß er nicht den Mumm hat, dir die Wahrheit zu sagen.“ Howard verzog verächtlich die Lippen. „Ich habe Ingram vor sieben Jahren entlassen. Er war Vorarbeiter bei ,Diamond T und wir ertappten ihn dabei,
daß er die Firma jeden Monat um einige hundert Dollar betrog, indem er Rechnungen fälschte.“ „Ach, das erklärt natürlich einiges. Aber…“ „Als du noch auf der Intensivstation warst, hast du mich gefragt, weshalb Purdy in jener Nacht zurückgekehrt ist. Interessiert es dich noch?“ „Natürlich.“ „Offensichtlich war Charleys Restaurant während der letzten Monate in die roten Zahlen gerutscht. Ingram hatte sich so hoch verschuldet, daß die Banken ihm kein Geld mehr geben wollten.“ „Ich wußte, daß die Geschäfte schlecht gingen, aber mir war nicht klar, daß die Situation derart hoffnungslos aussah. An unseren Auftritten hat Charley doch ganz gut verdient.“ „Anscheinend weißt du nichts von Ingrams heimlicher Leidenschaft.“ „Ich habe Erkundigungen über Purdy eingezogen. Er hat dir Sand in die Augen gestreut.“ Howard machte keinen Hehl aus seinem Zorn über den Mann. „Purdy ist ein Buchmacher. Charley schuldet ihm fast hunderttausend Dollar.“ Cassie schrie leise auf. „Großer Gott! Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie soviel Geld auf einem Haufen aussehen würde!“ Der arme Charley, dachte sie bei sich. Kein Wunder, daß er sich dem Alkohol zugewendet hatte! „Aber was hatte Purdy mit dem Feuer zu tun?“ „Offensichtlich ziemlich viel. Hättest du den Vertrag mit Purdy unterschrieben, dann hätte er Ingram weiterhin Kredit gewährt. Deine Weigerung bedeutete Charleys finanziellen Ruin.“ Howard warf ihr einen kurzen Blick zu. „Die Kriminalpolizei hat alles ganz genau untersucht. Ingram muß in Panik geraten sein. Es gibt Hinweise darauf, daß das Feuer absichtlich gelegt wurde. Das Versicherungsgeld hätte viele Schulden tilgen können, Cassie – sogar illegale.“ Cassie traute ihren Ohren nicht. Alles hätte sie erwartet, aber nicht so etwas. „Er hat meine Zukunft aufs Spiel gesetzt!“ „Ich hätte es nie zulassen sollen, daß du bei diesem Betrüger bleibst.“ Howard schien sich die Schuld an ihrem Unglück zu geben. „Aber du warst ja so versessen darauf, deinen Kopf durchzusetzen…“ „Ich hätte im Feuer umkommen können!“ Ihr Mitleid für Charley wich einer Mischung aus Zorn und Entsetzen. „Die Polizei sucht Ingram und Purdy inzwischen wegen Brandstiftung und versuchten Mordes. Ich glaube nicht, daß einer von beiden in nächster Zukunft hier noch einmal sein Glück versuchen wird.“ Howard steuerte den Porsche durch das große Tor der DiamondTRanch die lange Auffahrt hinauf. Erst jetzt wurde Cassie sich bewußt, daß sie heute zum erstenmal sein Haus betreten sollte. Ihre innere Anspannung wuchs. Sie wußte, daß sie nicht hierhergehörte. Was mochte der alte Temple dazu sagen, daß sein Sohn eine mittellose Sängerin mit nach Hause brachte, die ihm mehr schuldete, als sie vielleicht je verdienen würde? „Ich… ich will nicht…“ Howard packte sie fest am Arm und half ihr beim Aussteigen. Cassie zwang sich, eine betont gleichmütige Miene aufzusetzen. Eines Tages würde sie ebenfalls so vornehm wohnen… Dann standen auch vor ihrem Haus Magnolien und exotische Bäume. Mit diesem Entschluß betrat sie zum erstenmal Howards Haus. Warmer Sonnenschein fiel durch die Fenster in Cassies Zimmer und lockte sie, aufzuwachen und den neuen Tag zu begrüßen. Vorsichtig öffnete Cassie ein Auge. Es widerstrebte ihr, die Welt ihrer Träume zu verlassen. Sie versuchte, sich
zu erinnern, wie sie in dieses luxuriös eingerichtete Zimmer kam. Tiefe Männerstimmen drangen von draußen durch das offene Fenster in Cassies Zimmer und weckten ihre Neugier. Sie stieg aus dem Bett und lief, nur mit ihrem Nachthemd bekleidet, zum Fenster hinüber, um nachzusehen, was draußen vor sich ging. Howard trug dieselbe Arbeitskleidung, die sie schon von Coyote Bend her kannte. Er stand mitten in einer Gruppe Obeiniger Cowboys und erteilte Befehle. Dabei legte er wieder jene arroganttyrannische Haltung an den Tag, die sie früher immer wütend gemacht hatte. Cassie schob die Gardinen etwas zur Seite und stützte sich mit beiden Ellenbogen auf das Fensterbrett, um die Szene bequem verfolgen zu können. Ein junger Cowboy bemerkte die Bewegung am Fenster. Als er zu ihr hinaufsah, glitt ein dümmlicherfreutes Lächeln über seine Züge. In diesem Moment blickte Howard von seinem Notizbuch auf. Er folgte dem verzückten Blick des jungen Cowboys. Cassie fuhr zurück, als sie seine zornige Miene bemerkte. Howard hatte ihr Jeans, einige Blusen und ein Nachthemd gekauft. Sie hatte nicht daran gedacht, wie dünn und durchsichtig der weiße Stoff war. Das Geräusch schwerer Stiefelschritte auf der Treppe kündigte Howard an, noch bevor er Cassies Schlafzimmer betreten hatte. „Falls du nicht vorhast, meine Männer um den Verstand zu bringen, tätest du gut daran, nicht im halbbekleideten Zustand vor den Fenstern herumzuspazieren!“ „Es tut mir leid, Howard. Ich habe vergessen…“ „Zieh dich an!“ Sein barscher Ton wurde etwas abgemildert durch die Andeutung eines Lächelns. „Ich bemerkte gar nicht, wie verführerisch dieses Nachthemd ist, als ich es kaufte.“ Das Leuchten seiner blauen Augen war absolut unmißverständlich… „Du bringst es richtig zur Geltung, das muß man schon sagen!“ Bevor Cassie ihm noch eine passende Antwort an den Kopf werfen konnte, war er bereits gegangen. Leise fluchend schlüpfte sie schließlich in Jeans und eine Bluse, die sie im Schrank vorgefunden hatte. Sie achtete darauf, daß auch der oberste Knopf geschlossen war. Da sie immer noch keine Schuhe hatte, lief sie barfuß die Treppe hinunter. „Möchten Sie Ihr Frühstück bald haben, Miss Creighton?“ Mrs. Morton unterbrach ihr Staubwischen. Ihr pikierter Ausdruck sagte, daß alle anderen bereits vor Stunden gegessen hatten. „Ja, Mrs. Morton, ich würde gern jetzt frühstücken. Bitte sagen Sie der Köchin, daß ich zwei weichgekochte Eier möchte, ein Stück Toast und ein Glas Orangensaft.“ Sie legte all ihre Autorität in diese Worte. „Da es so ein schöner Morgen ist, möchte ich auf der Terrasse essen.“ Cassie konnte es selbst kaum glauben, daß sie so gesprochen haben sollte. Mrs. Morton betrachtete sie verblüfft. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging in die Küche, um Cassies Wünsche zu erfüllen. Die Tage vergingen. Cassie erholte sich allmählich sowohl körperlich als auch seelisch. Sie genoß Howards Gastfreundschaft, auch wenn ihr klar war, daß sie wie eine freiwillig Gefangene auf Diamond T lebte. Abgesehen von ihren wöchentlichen Besuchen bei Dr. Reyes verließ sie das Haus sehr selten. Howard verbrachte die meiste Zeit im Sattel und hinter dem Steuer seines Jeeps, um die Arbeiten auf der Farm zu beaufsichtigen. Die Leitung der Ranch forderte ihm einen unglaublichen Einsatz von Energie ab. Cassie hatte Verständnis für seine Verpflichtungen und trug es ihm nicht nach, daß er sie die meiste Zeit sich
selbst überließ. Howards Vater war nach seinem letzten Schlaganfall gelähmt. Wenn das Wetter es erlaubte, schob die Krankenschwester ihn im Rollstuhl nach draußen zu Cassie in den Pavillon, wo sie sich oft und gern aufhielt. „Nenn mich Pops“, bat er schon bei ihrem ersten Zusammensein. „Mr. Temple klingt so gestelzt.“ Trotz der Tatsache, daß Pops weit mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart lebte, genoß Cassie die Unterhaltungen mit dem alten Mann. Die Anekdoten, die er ihr über ihre eigene Familie erzählen konnte, versöhnten sie allmählich mit den verworrenen Gefühlen, die sie während ihrer Kindheit und Jugend für die Temples gehegt hatte. „Wenn mir früher jemand gesagt hätte, daß ich eines Tages einmal die Gastfreundschaft der Temples genießen würde, hätte ich denjenigen für verrückt erklärt.“ Am meisten liebte es Cassie, wenn Pops Geschichten von Howard erzählte. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt gestorben. Soweit Cassie das nach den Erzählungen des alten Mannes beurteilen konnte, hatte er der Erziehung seines einzigen Sohnes keine sonderliche Aufmerksamkeit gewidmet. „Es ist wirklich ein Wunder, daß er mich nicht haßt“, gestand Pops. „In einem Moment überhäufte ich ihn mit Geschenken und Aufmerksamkeiten, im nächsten hatte ich schon vergessen, daß er überhaupt existierte.“ Die Eisstückchen klirrten leise an den Glasrand, als der alte Mann den Tee mit zitternden Fingern an die Lippen führte. „Natürlich will ich jetzt keine Entschuldigung finden für mein Verhalten“, fügte er hastig hinzu. „Ich hätte fast den Verstand verloren, als meine Frau starb. Howard hat Glück gehabt, daß ihm wenigstens ein Elternteil erhalten geblieben ist.“ „Weshalb hat Howard sich nach dem College dem Rodeo verschrieben, statt heimzukommen?“ Howard hatte nie über seine Jugend gesprochen. Aus Gründen, die ihr selbst unerfindlich waren, wollte Cassie soviel wie möglich über diese Zeit erfahren. „Oh, ich nehme an, ihm stand der Sinn noch nach etwas anderem als nach der Arbeit auf einer Ranch. Wahrscheinlich konnte er nicht eher seßhaft werden, als bis er diese anderen Bedürfnisse befriedigt hatte.“ Pops seufzte. „Er hat einen unglaublichen Dickschädel.“ „Nach allem, was ich gehört habe, liegt das in der Familie.“ Sie schenkte Pops ein verschmitztes Lächeln, das er zustimmend erwiderte. „Wir waren dafür bekannt, daß wir aufeinander losgingen wie wilde Stiere.“ Mr. Temple seufzte wehmütig. „Aber ich muß zugeben, daß ich mein Unternehmen keinem anderen Menschen außer ihm anvertrauen würde. Er hat diese Ranch – oder besser gesagt, das ganze Unternehmen – richtig in Schwung gebracht. Er war erfolgreich bei Ölbohrungen und hat in der Landwirtschaft die Technik eingeführt. Ich weiß, daß das Unternehmen in den besten Händen ist, wenn ich sechs Klafter unter der Erde liege. Und das habe ich mir eigentlich immer gewünscht.“ Pops Leben neigte sich dem Ende zu, während Cassie noch an der Schwelle zu ihrer Zukunft stand. Die vertrauten Gespräche hatten eine Verbindung zwischen ihnen geschaffen, die sie nie vergessen würde. „Haben wir noch Zeit für ‚Amazing Grace’?“ fragte Pops oft, bevor die Schwester ihn wieder ins Haus brachte. Zu gern hörte er ihr zu, wenn sie die alten Gospels sang. Beim Refrain stimmte er stets mit ein. Cassie drückte dem alten Mann die knotige Hand, als sie wieder einmal einen gemeinsam verbrachten Nachmittag mit diesem alten Lied ausklingen ließ. Es
war schon von vielen gesungen worden, aber selten mit soviel Gefühl.
8. KAPITEL „Du riechst gut“, bemerkte Cassie eines Nachmittags, als Howard von einem besonders anstrengenden Tag auf den Rinderweiden heimkam. Nachdem sie Coyote Bend verlassen hatte, war sie überzeugt gewesen, dem durchdringenden Geruch getrockneten Kuhdungs für immer entronnen zu sein. „Man kann vom Land in die Stadt ziehen, aber die Erinnerung an das Land wird immer bleiben.“ Howard lächelte und klopfte sich seinen Stetson am Bein aus. Ein wahre Staubwolke wirbelte auf. „Es erinnert mich an zu Hause.“ Cassie war selbst überrascht von ihrem Eingeständnis. Sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. „Ich weiß nicht, wieso ich das gesagt habe“, murmelte sie. „Ich habe Coyote Bend immer gehaßt.“ „Ich glaube, du hast in erster Linie die Lebensumstände dort gehaßt.“ Seine Stimme war rauh. „Ganz gleich, wie weit du es auch bringen magst – du wirst deine Herkunft nie leugnen können.“ Sie nickte zustimmend. „Ich nehme an, das ist eine der schwersten Lektionen, die das Leben für einen Menschen bereithält“, überlegte sie. „Wenn ich so zurückschaue, scheinen die Dinge gar nicht mehr so schlecht, wie sie mir damals vorkamen. Zumindest brauchte ich mir damals keine Sorgen darüber zu machen, was ich am nächsten Tag oder in der nächsten Woche oder im nächsten Jahr tun würde. Jede Entscheidung wurde von der Jahreszeit oder vom Wetter bestimmt.“ Sie seufzte. „Vielleicht hätte ich dort bleiben sollen.“ „Ich glaube, dir fällt bald die Decke auf den Kopf.“ bemerkte Howard. „Weshalb weihst du nicht deine neuen Stiefel ein? Du kannst dir morgen früh ein Pferd satteln und mit mir hinausreiten. Dr. Reyes hat dich fast schon entlassen, nachdem nun deine sechs Therapiewochen vorüber sind. Ich könnte gut noch jemand brauchen, der die Zaunpfähle hält, die eingeschlagen werden müssen.“ Ihr Herz schlug schneller. „Das würde ich gern machen!“ begeisterte sie sich. „Bitte doch Mrs. Morton, ein Paar Handschuhe und eine Jacke für dich herauszusuchen.“ Howard streifte die Weste aus Schaffell ab, die ihn gegen die empfindliche Herbstkühle schützte. Wieder einmal stellte Cassie fest, wie attraktiv sein durchtrainierter, männlicher Körper wirkte. „Übrigens“ – er fuhr herum und ertappte sie dabei, daß sie ihn versonnen musterte –, „der Doktor sagt, du seist die beste Medizin, die Dad seit langem gehabt hat.“ Der zärtliche Ausdruck in Howards blauen Augen erinnerte Cassie an frühere Zeiten. Rasch senkte sie die Lider. „Ich mag deinen Vater.“ Ihre Wangen glühten. Sie kam sich vor wie ein Insekt, das magisch vom verderbenbringenden Feuer angezogen wird. „Das Alter hat ihn in allem etwas gemäßigt.“ Howards Bemerkung löste die Spannung, die einen Moment zwischen ihnen geherrscht hatte. „Wir sehen uns dann am Morgen.“ Er verschwand in sein Arbeitszimmer, wo er den Rest des Abends mit der Buchhaltung verbringen würde. „Wir wollen doch die Sachen fürs Picknick nicht verlieren, die Mrs. Morton für uns eingepackt hat!“ Lachend befestigte Howard am nächsten Morgen den Korb an seinem Sattel. „Ich hoffe, sie hat den Kaffee nicht vergessen.“ Cassie schauderte, als der kühle Novemberwind ihr langes, rotes Haar zerzauste. „Wir werden die Thermosflasche wahrscheinlich schon vor Mittag leer haben.“ Im Dämmerlicht des frühen Morgens bot Howard eine imposante Figur. Angefangen von seinem braunen Stetson bis hin zu den robusten Stiefeln war er ganz auf Arbeit eingestellt. Er schwang sich in den Sattel. „Es sieht so aus, als gebe es einen frühen Winter.“ Cassie steckte in einer alten,
dickgefütterten Jacke, die Mrs. Morton in einer Wäschetruhe gefunden hatte. Die Hände waren durch alte Arbeitshandschuhe geschützt. „Was ist nur mit dem milden Wetter geworden, für das Dallas so berühmt ist?“ „Die letzten Winter sind ziemlich hart gewesen“, meinte Howard. „Wir haben einige schwere Unwetter hinter uns. Man erklärt es allgemein mit weltweiten Wetterveränderungen. Im letzten Jahr sind sogar die Orangen in Florida erfroren!“ Die Pferde fielen in einen ruhigen, gleichmäßigen Trab. Howard wollte sich wieder einmal um die Zäune der Ranch kümmern – sie mußten ständig kontrolliert und repariert werden. Das Land, das zur DiamondTRanch gehörte, erstreckte sich, so weit das Auge reichte. Nach einem kurzen Ritt hatten sie ihr erstes Ziel erreicht und sprangen von den Pferden. „Könntest du mir bitte die Drahtschere geben?“ Howard streckte die Hand aus, und Cassie legte das Werkzeug hinein. Eine merkwürdige Sehnsucht befiel sie nach der Zeit, als sie mit ihm zusammen in Coyote Bend gearbeitet hatte. Es war eine Zeit gewesen, die sie sowohl körperlich als auch emotional befriedigt hatte. Die Wochen waren verflogen, und noch immer waren sie nicht dazu gekommen, über ihre weitere Karriere zu sprechen. Sie wollte nicht glauben, daß es Howard nicht ernst gewesen war mit seinem Angebot, sie zu managen. Aber wie lange konnte sie diesen Zustand der Unsicherheit noch ertragen? „Scrappy hat in der letzten Woche angerufen.“ Eine kleine Stichelei konnte nicht schaden. „Die Twisters sollten inzwischen schon in Nashville sein – dort ist etwas mehr los.“ „Möchtest du jetzt essen?“ Howard ließ sich nicht drängen. Er würde nicht eher sprechen, als bis er den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielt. „Ich habe einen Bärenhunger“, gestand sie. „Ich habe schon eine geschützte Stelle für uns entdeckt. Komm mit.“ Howard schwang sich in den Sattel. Cassie eilte zu ihrem Pferd hinüber. „Wollen wir ein Wettrennen machen?“ Sein großer Hengst hielt auf den kleinen Bach zu, den sie am Morgen überquert hatten. Cassie schüttelte den Kopf. Sie war damit zufrieden, ihm im gemächlichen Tempo zu folgen. Schon lange hatte sie keine solche innere Ruhe mehr empfunden. Sie wollte diesen Zustand richtig auskosten. „Es steht dir, wenn deine Wangen so gerötet sind.“ Howard breitete eine alte Satteldecke aus und legte sie auf den Boden. Cassie kniete sich auf die Decke und holte einige Sandwiches aus dem Korb. Howard hatte ein kleines Feuer entfacht. Bald lag der würzige Duft frischen Kaffees in der Luft. Cassie legte ihre Finger um den heißen Becher und trank langsam. Es war eine wahre Wohltat, wie der Kaffee sie wärmte. „Nimm doch ein Sandwich“, schlug sie vor. „Mrs. Morton ist extra früh aufgestanden, um einen frischen Schinkensalat für uns zu machen.“ „Du hast sie wirklich für dich eingenommen.“ Howards Blick enthielt eine Spur von Bewunderung. „Ich möchte schwören, daß dieser alte Drache Tränen in den Augen hatte, als ich sagte, daß du uns nun bald verlassen würdest. Sie versuchte mir einzureden, es sei ein Staubkörnchen, aber das habe ich ihr natürlich nicht abgenommen.“ „Die größten Stücke hält sie wohl auf dich.“ Howard mußte lachen. „Ach, sie selbst ist an sich auch ganz nett.“ „Ist dir schon aufgefallen, daß wir uns nicht ein einziges Mal gestritten haben,
seitdem ich hier bin? So gut sind wir nicht mehr miteinander ausgekommen, seit…“ Cassie unterbrach sich. Sie hätte sich die Zunge abbeißen mögen! Hastig senkte sie den Kopf und war froh darüber, sich hinter ihrem langen Haar verstecken zu können. Warum hatte sie das nur sagen müssen! Howard kam zu ihr. Er hob ihr Kinn und sah ihr in die Augen. Stolz begegnete sie seinem Blick. „Vermißt du unsere Zeit in Coyote Bend?“ Seine Stimme war rauh geworden. Seine Lippen glitten über ihren Mund. Sie entfachten die Flammen einer immer größer werdenden Leidenschaft. Howard ließ sich Zeit. Er kannte sie. „Ja und nein“, sagte sie ehrlich, als seine Lippen ihren Mund freigaben und langsam ihren Hals liebkosten. „Für nichts in der Welt möchte ich noch einmal die Sorgen jener Zeit durchmachen müssen, aber ich muß gestehen, daß ich dich vermißt habe…“ Ihr Verlangen nach ihm wurde stärker. Sie sprach nicht weiter, sondern schloß die Augen und genoß seine Zärtlichkeiten. Howard öffnete ihre Jacke und legte seine Arme um ihre Taille. Seine Körperwärme ließ sie die Kühle des Herbsttages vergessen. Seine Lippen fuhren fort mit ihrem verführerischen Spiel. Cassie legte die Arme um seinen Hals. Sie war bereit, sich ihm hinzugeben. „Hast du schon einmal draußen geliebt?“ Sein warmer Atem strich über ihren Hals. Cassie schüttelte den Kopf. Sie war zu sehr im Zauber des Augenblicks befangen, als daß sie hätte sprechen können. Sie spürte seinen Körper an ihrem, sah das Verlangen in seinen Augen und hörte die Worte der Liebe, die er ihr ins Ohr flüsterte. Seine Hände streichelten ihren Rücken. Ein heißer Schauer überlief sie. Ihre Lippen zitterten. Sie schmiegte sich enger an ihn. „Es ist schon lange her…“ Howard liebkoste ihre bloßen Schultern, und Cassie fragte sich, wie er so schnell die Knöpfe ihrer Bluse geöffnet hatte. „Zu lange.“ Sein Atem wärmte ihre Haut. „Ich begehre dich, Cassie. Und ich weiß, daß du mich begehrst.“ Sein Kuß wurde fordernder. Behutsam legte er sie auf die Decke. Sie stöhnte leise auf. Er hatte ihre Bluse ganz abgestreift und liebkoste ihre Brüste. Cassie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. Das Verlangen, das sie in seinen blauen Augen sah, steigerte ihre Leidenschaft noch weiter. Howard streifte Jeans und Stiefel ab. Cassies Hand glitt über seine Hüften. „Liebe mich, Howard!“ Sie strebte ihm entgegen, als das Verlangen nach seiner Liebe jeden anderen Gedanken auslöschte. Wilde und unkontrollierbare Gefühle bemächtigten sich ihrer. Sie klammerte sich an ihn, verschmolz mit ihm, ließ sich von seinen wilden Zärtlichkeiten in ungeahnte Höhen tragen. Das Lagerfeuer war längst herabgebrannt, als die Leidenschaft der beiden Liebenden abkühlte. Langsam kehrte Cassie aus dem Rausch ihrer Sinne zurück in die Wirklichkeit. Zufrieden schmiegte sie sich in Howards starke, warme Arme. Weit über ihnen zog ein Adler seine Kreise. Cassie erschauerte, als die kühle Herbstluft in ihr Liebesnest drang. Plötzlich hörte sie den Hufschlag eines Pferdes. Sie geriet in Panik. „Es kommt jemand!“ Sie sprang auf und griff nach ihren Kleidern. Howards Hengst wieherte nervös. Seine Nüstern waren gebläht, als er versuchte, den Geruch des anderen Pferdes auszumachen. Cassie stopfte ihre Bluse in die Jeans und strich sich nervös das Haar glatt. „Du hast einen Knopf ausgelassen“, bemerkte Howard. Er war bereits angezogen und beobachtete ihre hastigen Bewegungen mit unverkennbarer Belustigung. „Ach, da seid ihr!“ Dina Hamilton brachte ihr Pferd zum Stehen. Cassie schloß ihre Jacke. Dinas scharfem Blick entging nichts. „Die Männer sagten mir, daß ihr
den Zaun repariert. Da wollte ich euch Gesellschaft leisten.“ Dina warf Cassie einen wütenden Blick zu. Es war klar, daß sie ihr die Schuld gab an allem, was hier vorgefallen sein mochte. „Sie sehen müde aus, Cassie. Vielleicht überschätzen Sie Ihre Kräfte ein wenig“, bemerkte sie herablassend. Sie glitt aus dem Sattel, um beim Zusammenpacken der Picknicksachen zu helfen! „Du hättest sie nicht so lange hier draußen behalten sollen!“ schalt sie Howard. „Wir wollen doch nicht, daß sie einen Rückfall erleidet, oder?“ Howard lächelte nur und legte Cassie die Hand auf den Arm. „Dina hat wahrscheinlich recht“, murmelte Cassie und ging zu ihrem Pferd. „Ich bin tatsächlich etwas müde. Es könnte nicht schaden, wenn ich mich ein wenig hinlege. Ich reite jetzt nach Hause.“ Plötzlich hatte der Tag seine Schönheit verloren. „Vergessen Sie nicht, Ihre Jacke ganz zuzuknöpfen, Kleine“, rief Dina ihr spöttisch nach. Der Wind fuhr durch ihr langes Haar und wehte es in das stark geschminkte Gesicht. Ihr grünen Augen blitzten, aber ihre Stimme blieb zuckersüß, als sie hinzufügte: „Wir möchten doch nicht, daß Ihre Widerstandskraft noch geringer wird, als sie schon ist.“ Cassie und Pops hatten sich angewöhnt, die Abende kartenspielend vor dem Kamin zu verbringen. Immer wieder wanderten Pops’ Gedanken zu den lange vergangenen Tagen zurück, als er mit seiner Frau Mattie Romme gespielt hatte. „Sie war eine gute Frau. Sie hat mich immer so genommen, wie ich war“, sagte er nachdenklich. „In vieler Hinsicht erinnerst du mich sehr an sie – das meine ich als Kompliment.“ Er lehnte sich zu Cassie hinüber, um das Gesagte zu bekräftigen. „Ich verstehe wirklich nicht, wie es sein kann, daß so ein hübsches junges Mädchen wie du noch frei ist. Also, wenn ich vierzig Jahre jünger wäre…“ Cassie heuchelte tiefes Interesse an ihren Karten. Ihre langen Wimpern verbargen den Ausdruck ihrer Augen. „Sie ist zu sehr damit beschäftigt, ihre Träume zu verwirklichen, Dad“, warf Howard ein. Offensichtlich hatte er das Gespräch aufmerksam verfolgt, obwohl er mit seinen Geschäftsbüchern beschäftigt schien. „Cassie wird Coyote Bends erster Star!“ Sie errötete. „Es ist sicher sinnvoller, eine Karriere anzustreben, als den Männern, die ich bisher kennengelernt habe, nachzulaufen“, bemerkte sie spitz. Howard wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Zahlen zu. Pops lachte leise über das Wortgefecht, das er nichtsahnend hervorgerufen hatte. Am nächsten Morgen stand Cassie so früh auf, daß sie sogar noch vor Mrs. Morton in der Küche war. Sie lauschte dem Zischen des Kaffeeautomaten und betrachtete den Sonnenaufgang über der Ebene, als sie Schritte hinter sich hörte. „Guten Morgen, Sonnenschein.“ Howard stand in der Tür und lächelte breit. Er war für eine seiner häufigen Fahrten nach Dallas gekleidet und bot ein imposantes Bild. Nachlässig warf er seinen Stetson auf den Tisch und nahm sich eine Tasse Kaffee. „Soll ich dir etwas mitbringen aus der Stadt?“ Er sah zu ihr hinüber. „Vielleicht eine Schachtel Pralinen?“ Das vergnügte Blitzen in seinen blauen Augen besänftigte den leichten Ärger, den sie noch über seine Bemerkung vom Vorabend empfunden hatte. „Ich habe meinen Hang zu Süßigkeiten überwunden“, versicherte sie ihm. „Aber die Spielkarten deines Vaters sehen aus, als hätte schon einmal ein Hund darauf herumgekaut. Wieso bringst du ihm nicht ein neues Kartenspiel mit?“ „Mach ich.“ Howard küßte sie auf die Nasenspitze und verließ munter pfeifend die Küche.
Cassie verbrachte den Tag im Pavillon. Sie hüllte sich in einen großen Wollschal und machte es sich auf der Eichenschaukel bequem. Sie war fast fertig mit dem neuen Lied, an dem sie gerade schrieb, als sie Howards Sportwagen die Auffahrt heraufkommen hörte. Sie schloß ihren Notizblock. Ihr wurde warm ums Herz, als sie an den blauäugigen Cowboy dachte, der so viele ihrer Songs inspiriert hatte. Sie ging ins Haus. „Hier sind die Karten.“ Howard begegnete ihr in der Eingangshalle. Er warf ihr den Satz Karten zu. Sie mußten beide lachen, als ihr der Wollschal von den Schultern glitt, während sie nach den Karten griff und gleichzeitig versuchte, ihren Notizblock und den Kugelschreiber festzuhalten. „Falls du versprichst, nicht zu schummeln, können wir ja heute abend einmal zu dritt eine richtige Pokerpartie spielen“, fügte er hinzu. „Ich habe das Gefühl, daß mir das Glück im Moment gewogen ist.“ „Freu dich nicht zu früh!“ Cassies Blick folgte ihm, als er mit großen Sätzen die Treppe hinaufeilte. Sie hatte sich inzwischen wieder völlig erholt und mußte daran denken, das Haus bald zu verlassen. Sie spürte Trauer in sich aufkommen. Hastig ging sie in die Küche, um Mrs. Morton bei den Vorbereitungen für das Abendessen zu helfen. „Sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt“, neckte Howard Cassie und seinen Vater, während er die Karten mischte und verteilte. „Ich setze heute abend alles auf Gewinn.“ Er hielt Wort. Der Stapel roter, weißer und blauer PokerChips vor ihm wuchs mit jedem Spiel. Pops gab schließlich auf. Seine Müdigkeit und sein rasch dahinschmelzender Vorrat an Chips hatten ihn überzeugt, daß es klüger sei, sich zu empfehlen. „Ich habe genug gehabt“, sagte er. „Ihr beiden könnt ja noch weiterspielen, aber ich gehe zu Bett.“ Howard begleitete ihn bis zur Tür und rief dann nach der Schwester, die im Wohnzimmer saß und las. „Heute abend schien es ihm so gut zu gehen wie schon lange nicht mehr.“ Cassie räumte den Tisch ab, als Howard zurückkehrte. „Ich weiß, aber es wird nicht lange anhalten.“ Sein Ausdruck verfinsterte sich, als er ihr erzählte, daß der Arzt der Ansicht war, das Herz des alten Herrn werde nicht mehr lange durchhalten. Cassie traten Tränen in die Augen, während sie die Karten und Chips forträumte. Pops war fast wie ein Vater für sie. War es ihr Schicksal, alle Menschen zu verlieren, die sie liebte? Sie ließ Howard allein zurück. Er sollte ihre Tränen nicht sehen. Dina hatte keinerlei Scheu, sich selbst zum Essen einzuladen. Daher war sie häufig zu Gast am Tisch der Temples. Mit Hinblick auf die früheren Begegnungen mit der Blondine fand Cassie stets eine Entschuldigung, in ihrem Zimmer zu bleiben. Aber als Dina sich wieder einmal ankündigte, nahm Howard Cassie das Versprechen ab, sich zu ihnen zu setzen. „Wieso sollte ich mich von ihr einschüchtern lassen?“ fragte sich Cassie, während sie ein Schaumbad nahm. Sie hatte ihr Haar gewaschen und ein dickes Handtuch zu einem Turban darum gebunden. „Weil sie alles ist, was ich nicht bin.“ Sie war von einer grausamen Härte gegen sich selbst, wenn es um Dinas Vorzüge ging. „Ich frage mich wirklich, ob ich einen ganzen Abend lang dieses strahlende Lächeln ertragen kann.“ Cassie sah in den Spiegel und schnitt eine Grimasse, die Dinas freundliche Maske nachahmen sollte. „Nun, wenn Howard es so will, soll er es so haben.“ Sie schlüpfte in einen blauen Pullover und knappsitzende Jeans. Ein Hauch von Mascara betonte ihre schon von
Natur dunklen und dichten Wimpern. Sie bürstete ihr Haar trocken. Es umgab ihre Schultern wie ein rotes Samtcape. „Wieso ertrage ich diese Qual eigentlich? Wieso nehme ich nicht einfach den nächsten Bus nach Nashville?“ Trotz dieser ernsthaften Fragen blitzte so etwas wie Schalk in ihren Augen. „Weil er mich nicht so schnell vergessen soll“, schwor sie sich. „Jedesmal, wenn er sie ansieht, soll er sich an das erinnern, was wir gemeinsam erlebt haben.“ Cassie kniff sich leicht in die Wangen, um etwas Farbe hineinzubringen. „Nicht schlecht für eine Habenichts.“ Sie war bereit, es mit diesem hohlköpfigen weiblichen Wesen aufzunehmen, das entschlossen schien, Howard mit seiner Schönheit zu umgarnen. Dina und Howard unterhielten sich im Wohnzimmer, als Cassie zu ihnen kam. Howard schenkte sich gerade einen Whisky ein. Dina hatte es sich auf der Ledercouch bequem gemacht. Ihre makellos manikürten Finger umschlossen das kostbare, alte Glas mit ihrem Drink. „Setz dich zu uns.“ Howards einladendes Lächeln ließ Cassies Puls schneller schlagen. Dinas rote Seidenbluse spannte sich über dem üppigen Busen. Sie trug hautenge Designerjeans. Ihre langen, lackierten Fingernägel erinnerten Cassie irgendwie an die Krallen eines Adlers, der bereit ist, auf seine Beute herabzustoßen. Cassie nahm dankend das Glas Weißwein entgegen, das Howard ihr reichte. Ein Schauer überlief sie, als ihre Hände sich kurz berührten. Hastig senkte sie die Lider, damit er in ihren Augen nicht lesen konnte, was sie für ihn empfand. Dann setzte sie sich auf die äußerste Kante eines Sessels genau gegenüber Dina. Direkt in der Feuerlinie, dachte sie, während sie das stumme Duell ihrer Blicke genoß. Howard hob sein Glas und leerte es in einem Zug. „Du hast doch nicht vergessen, daß in zwei Wochen ein Wohltätigkeitskonzert für das Waisenhaus stattfindet, nicht wahr?“ erkundigte sich Dina. „Ich habe es nicht vergessen, aber ich bezweifle, daß ich dann da sein werde“, kam Howards Antwort. „Wir haben soeben die Verhandlungen über Cassies Auftritte im PetroleumClub abgeschlossen. Gerade an dem besagten Wochenende wird sie zum erstenmal dort auftreten.“ Ihm schien nicht bewußt zu sein, was in diesem Moment in Cassie vorging. „Ich brenne schon darauf, bald wieder auf der Bühne zu stehen“, sagte sie betont gleichmütig, obwohl sie außer sich vor Freude war. Aber es war nicht ihre Art, Gefühle zu leugnen. Das Leuchten ihrer Augen verriet ihre Erregung. Sie vermißte den Kontakt mit dem Publikum, das sie anspornte, ihr Bestes zu geben, wenn sie auftrat. „Es juckt mir schon in den Fingern, bald wieder Gitarre zu spielen.“ „Was macht es denn für einen Eindruck, wenn ich die Party versäume, Howard?“ warf Dina mißmutig ein. „Ich bin doch Mitglied des Komitees!“ Schmollend sah sie zu Cassie hinüber. Wenn Blicke töten könnten. „Cassie und ich haben heute abend noch einiges zu besprechen.“ Howard ließ sich von Dinas Protest nicht umstimmen. „Das habe ich dir bereits erklärt, als du dich zum Essen eingeladen hast. Du hast versprochen, nicht dabei zu stören.“ Und dann begann er, in kurzen Umrissen seine Pläne für Cassies Karriere darzulegen. Sie konnte seine Gründlichkeit nur bewundern. „Bei deiner Pressekonferenz werden wir die Vertreter der Medien einladen. Natürlich bezahlen wir die Rechnung.“ Seine Begeisterung zeigte Cassie, wie sehr er die neue Herausforderung genoß.
„Was ist mit einer Gruppe?“ Sie war sich nicht sicher, ob es ihr gelingen könnte,
sich in einer solch kurzen Zeit mit einer neuen Band einzuspielen, aber sie wollte
es zumindest versuchen. Sie wagte nicht, das Gespräch auf die Twisters zu
bringen.
„In der letzten Woche habe ich eine der besten Gruppen von Nashville unter
Vertrag genommen. Das Problem ist also gelöst.“
„Wird das denn nicht schrecklich teuer?“ Cassie geriet in Panik, als sie im Geiste
die Kosten überschlug. „Und was ist, wenn sie mich nicht mögen?“ wollte sie
wissen. „Dann müssen wir zusammenbleiben, bis dieser Vertrag ausläuft.“
„Du kannst mir vertrauen. Sie werden dich mögen.“
„Das Essen ist fertig.“
Mrs. Morton unterbrach das Gespräch. Dina sprang auf und stellte sich neben
Howard. Sie schien erleichtert über die Möglichkeit, sich endlich wieder in den
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu bringen.
„Ich könnte ein Riesensteak vertilgen und hätte immer noch Platz für Nachtisch!“
Cassie war in strahlendster Laune.
Dina sorgte dafür, daß Cassies Zukunftspläne während des Essens nicht erneut
zur Sprache kamen, aber das focht Cassie in diesem Moment nicht an. Sie
brauchte Zeit, um die aufregenden Nachrichten zu verarbeiten.
„Brauchen Sie mich heute abend noch?“ Mrs. Morton hatte den Tisch abgeräumt,
und Cassie wußte, daß sie sich danach sehnte, nach oben in ihr Zimmer zu gehen
und einen ruhigen Abend vor dem Fernseher zu verbringen.
„Nein danke, ich nicht. Dina?“
Howard sah die hübsche Blondine an und schenkte Mrs. Morton dann ein
strahlendes Lächeln.
Er wußte sehr wohl, wie wenig die Haushälterin Dina mochte, und ließ sich keine
Gelegenheit entgehen, sie damit zu ärgern. Bei allem war seine Liebe zu dieser
Frau unverkennbar, die ihn nach dem frühen Tod seiner Mutter aufgezogen hatte.
„Ich könnte etwas frische Luft brauchen nach dieser schweren Mahlzeit.“ Dina
rückte näher zu Howard hinüber. „Wenn ich jeden Abend soviel essen würde,
wäre ich in kürzester Zeit ein Faß.“
Die Bemerkung war eindeutig gegen die Haushälterin gerichtet, die das Essen
zubereitet hatte.
Mrs. Morton machte eine sarkastische Bemerkung, die nur Cassies Ohr erreichte.
Die beiden tauschten ein verständnisvolles Lächeln.
„Ich gehe auch nach oben. Bitte, entschuldigt mich.“
Cassie erhob sich. „Können wir uns morgen noch ein wenig über alles
unterhalten?“
„Natürlich.“ Howard zwinkerte ihr zu.
Als Cassie die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete, stürzte plötzlich die
Krankenschwester aus Pops Zimmer hervor. „Mr. Temple geht es sehr schlecht!
Er kann kaum atmen!“ keuchte sie.
„Haben Sie schon einen Arzt benachrichtigt?“ Cassie mußte ihre aufkommende
Panik unterdrücken. „Ich bleibe bei ihm, während sie Howard Bescheid sagen. Er
ist im Eßzimmer.“ Cassie wartete die Antwort nicht ab, sondern rannte gleich zu
Pops hinüber.
Sie ging auf Zehenspitzen zu dem großen Bett und warf einen Blick auf das
aschfahle Gesicht des alten Mannes. Pops focht den letzten Kampf mit dem Tod.
Das Bild war Cassie nicht fremd. Sie erinnerte sich an die letzten Augenblicke,
bevor ihre Mutter starb. Sie zog sich einen Stuhl heran und streichelte die
knotige Hand, die einmal ein Königreich regiert hatte.
„Mattie? Bist du das, Mattie?“
Pops sprach im Fieber. Cassie wußte, daß keine Antwort nötig war. Mit einer Geste stummen Trostes strich sie ihm über die Hand. „Ich habe mein Bestes versucht, Mattie.“ Pops blutleere Lippen bewegten sich kaum, als er mit der Frau sprach, die er geliebt und verloren hatte. „Ich weiß, ich weiß.“ Cassie versuchte, ihn zu beruhigen. „Ich hätte mich mehr um den Jungen kümmern sollen, aber ich habe mein Bestes versucht.“ Eine Träne rollte ins Kissen. Als Cassie seine Hand drückte und damit die Vergebung erteilte, die Mattie ihm mit Sicherheit gewährt hätte, wurde Pops Atmen ruhiger. Er schien seinen Frieden gefunden zu haben. Cassie erkannte die schaurige Ruhe vor dem letzten Aufbäumen im Angesicht des Todes. Pops würde nun bald in die Bewußtlosigkeit versinken. Cassie verabschiedete sich schweigend von dem alten Mann. Wo blieb nur Howard? Wieso war er nicht hier, um seinem Vater in seinen letzten Minuten beizustehen und ihr über diesen Verlust hinwegzuhelfen? Wie eine Antwort auf ihre unausgesprochene Frage legte sich Howards Hand auf ihre Schulter. Cassie ließ sich gegen seinen Körper sinken, um Trost zu suchen. Noch einmal hoben sich die Lider des alten Mannes. Ein letztes Mal sah er in die blauen Augen seines Sohnes. Heiße Tränen liefen Cassie über die Wangen, als sie spürte, wie die Kraft aus Pops Hand wich. Der Druck von Howards Fingern auf ihrer Schulter verstärkte sich. „Es ist am besten so. Jetzt ist er von seinen Leiden erlöst.“ Dina riß Howards Hand von Cassie und legte seinen Arm um ihre Taille. „Komm mit nach unten und nimm einen Drink, während wir auf den Krankenwagen warten.“ Wie durch einen Nebel hindurch nahm Cassie wahr, wie Dina Howard aus dem Schlafzimmer führte. Sie verbarg ihr Gesicht in zitternden Händen. „Der Arzt wird bald hier sein. Warum gehen Sie nicht in ihr Zimmer und legen sich etwas hin?“ Die Krankenschwester führte Cassie hinaus. Cassie konnte die Einsamkeit ihres Zimmers nicht ertragen. Leise ging sie in den Pavillon hinunter, wo sie so viele Stunden mit Pops verbracht hatte. Die alte Eichenschaukel knarrte leise, als sie sich hineinsetzte und schweigend Abschied nahm von einer Freundschaft, die sich hier beim Kartenspielen und geteilten Erinnerungen gefestigt hatte. Sie erschrak nicht, als Howard sich kurze Zeit später zu ihr setzte. Irgendwie hatte sie gewußt, daß er sie jetzt nicht allein lassen würde. Seine Arme gaben ihr die Geborgenheit, die sie suchte. Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Brust. „Ich habe viele Jahre damit vergeudet, deinen Vater und das, wofür er stand, zu hassen. Ich habe ihm die Schuld für vieles zugeschrieben, für das er gar nichts konnte“, flüsterte sie. „Wenn ich damals doch nur gewußt hätte, was ich heute weiß…“ „Es hat keinen Sinn mehr, sich Vorwürfe zu machen, Cassie. Es gibt auch für mich vieles, was ich gern ungeschehen machen möchte, aber es ist zu spät. Wir müssen uns auf die Zukunft konzentrieren.“ Cassie hob den Kopf. Als seine Lippen zärtlich über ihren Mund glitten, reagierte sie mit einem Hunger, der sie selbst überraschte. Es tat ihr weh zu wissen, daß Howard sie benutzte, um seinen Schmerz zu vergessen. Aber auch sie brauchte ihn in diesem Moment – und das machte alles andere unwichtig. Howards Lippen folgten der Spur, die ihre Tränen hinterlassen hatten. Cassie schmiegte sich an ihn. Wieder einmal ergab sie sich dem Zauber seiner Anziehungskraft.
9. KAPITEL Die Trauergäste drängten sich unter das grüne Vordach. Ein leichter Regen fiel. Um den Sarg herum lagen viele Kränze. Der Pfarrer beendete seine Grabrede. Cassie räusperte sich nervös. „Miss Creighton wird das Abschlußlied unseres Gottesdienstes singen.“ Nachdem die letzten Töne von „Amazing Grace“ verklungen waren, ergriff der Geistliche wieder das Wort: „Mr. Howard Temple hat mich gebeten, Ihnen allen für Ihr Beileid zu danken. Er läßt Ihnen ausrichten, daß in seinem Haus Erfrischungen auf Sie warten.“ Die Menge zerstreute sich langsam. Man verteilte sich auf die verschiedenen Wagen, die an der Straße warteten. Dinas Blässe wurde noch unterstrichen von dem eleganten, schwarzen Trauerkleid, das sie trug. Cassie sah zu, wie Howard seiner hübschen Begleiterin die Wagentür aufhielt. In diesem Moment begriff sie, daß Howard und Dina irgendwie zusammengehörten. Ihr Hintergrund, ihre Erziehung, ihr Reichtum – alles paßte zusammen wie die Teile eines Mosaiks. Cassie wartete, bis die Wagen abgefahren waren. Dann zog sie eine gelbe Rose aus einem Kranz, der oben auf dem Sarg lag. Pops hatte oft scherzend bemerkt, daß er sicher jemanden mieten müsse, der an seinem Grab weine – aber die Tränen, die jetzt Cassies Wangen hinunterrollten, zeugten von echter Trauer. Die gestelzten Worte des Pfarrers und die Beileidsbezeugungen der Trauergäste konnten ihren Schmerz nicht lindern. Schließlich gelang es Cassie, sich wieder zusammenzureißen. Niemand würde je erfahren, welche Kraft es sie kostete, die Tränen zu trocknen, auf die Ranch zu fahren, und sich zu den Trauergästen zu gesellen, die inzwischen joviale Anekdoten erzählten und sich über die allgemeine Marktlage unterhielten. Dina hatte die Rolle der Gastgeberin übernommen. Sie blieb stets an Howards Seite. Das kalte Büffet, das sie bestellt hatte, bot eine Auswahl der köstlichsten Landesspezialitäten. „Ich bin sicher, daß einer der Männer Sie in die Stadt nimmt, sobald Sie Ihre Sachen gepackt haben.“ Dina und Cassie waren allein in der Küche, während Howard die letzten Gäste verabschiedete. „Sie wissen ja, wie die Leute reden“, fügte Dina hinzu. „Und ich bin sicher, daß Sie Ihre Karriere nicht gleich mit unangenehmen Klatschgeschichten beginnen wollen.“ „Wir haben noch einiges zusammen zu erledigen. Cassie wird also nirgendwohin fahren!“ Howard hatte Dinas Bemerkung sehr wohl gehört, als er zu ihnen trat. „Aber was sollen denn die Leute sagen, wenn ihr beide hier allein wohnt?“ Dina hakte sich bei ihm ein und schmiegte sich verführerisch an ihn. „Daran habe ich noch nicht gedacht“, bemerkte Howard trocken. „Aber das solltest du tun!“ Dina war nicht bereit, das Thema so einfach fallenzulassen. „Was würde denn die Presse darüber schreiben?“ Howard schien ernsthaft zu überlegen. „Ehrlich gesagt: es ist mir völlig einerlei“, bemerkte er schließlich. Cassie, die bisher geschwiegen hatte, atmete erleichtert auf. Sie war ganz Howards Meinung. „Komm, ich bringe dich nach Hause.“ Howard führte die sichtlich widerstrebende Dina hinaus. „Alles fertig.“ Mrs. Morton wischte den Tisch ab und hängte das Tuch an seinen Platz. „Machen Sie sich doch ein Sandwich, Cassie. Ich weiß, wie wenig Sie heute gegessen haben.“ Die Haushälterin schenkte Cassie ein freundliches Lächeln, bevor sie nach oben ging. Howard war noch nicht zurückgekehrt. Cassie wanderte ruhelos durch die leeren
Zimmer auf der Suche nach einem Platz, wo sie entspannen konnte. Wenn sie
doch nur eine Gitarre hätte. Dann könnte sie jetzt für ihren ersten Auftritt im
PetroleumClub üben. Das Wohnzimmer war makellos aufgeräumt. Alle Spuren
des Empfangs waren restlos verschwunden.
Cassie nahm ihre Jacke und ging hinaus. Große, kühle Tropfen fielen durch das
Gitterdach des Pavillons. Sie hielt ihr Gesicht in den Regen und ließ die Tropfen
auf ihre Haut fallen.
„Es ist schon mancher Pfau ertrunken, weil er vergaß, den Schnabel zu schließen,
während er den Regen beobachtete.“
„Howard! Du mußt ein halber Indianer sein! Wie kann man sich nur so
anschleichen!“ Cassies Herz schlug schneller. Sie wußte nicht, ob der Schreck die
Ursache war, oder aber ihre Freude darüber, daß er zurückgekehrt war.
„Komm mit ins Haus. Ich muß dir etwas zeigen.“ Howard nahm sie beim Arm und
zog sie mit sich.
„Ich bin ganz durchnäßt.“ Ihre Jeans klebten an ihren Beinen wie eine zweite
Haut.
„Zieh dich um“, befahl er.
Cassie eilte nach oben und warf ihre nassen Kleidungsstücke in die Badewanne.
Dann schlüpfte sie in den flauschigen Frotteemantel, den sie nach ihrer
Entlassung aus dem Krankenhaus gekauft hatte. Mit einigen raschen
Bürstenstrichen brachte sie ihr nasses Haar in Ordnung.
Im Kamin prasselte ein heimeliges Feuer, als sie ins Wohnzimmer hinunterkam.
Cassie setzte sich auf die Couch, so dicht wie möglich ans Feuer.
„Schließ die Augen.“
„Was?“ Cassie lachte. Sie war sich nicht sicher, ob sie Howard richtig verstanden
hatte.
„Blinzeln ist unfair!“ mahnte er. Sie kam seiner Bitte nach. Sie hörte, wie er das
Zimmer verließ.
„Was hast du vor?“ fragte sie, als sie ihn zurückkommen hörte.
„Okay. Mach die Augen wieder auf.“ Es war ein Befehl, dem sie gern nachkam.
„O Howard!“ Cassie konnte sich vor Freude kaum fassen, als er ihr eine kostbare
C.F.MartinGitarre auf den Schoß legte.
„Alles Gute zum Geburtstag – mit einigen Wochen Verspätung.“ Er lehnte sich
vor und hauchte ihr einen Kuß auf die Lippen.
„Das hatte ich ganz vergessen!“ gestand sie. Ihre Augen leuchteten. „Woher hast
du es gewußt?“
„Krankenblätter sind sehr beredt – fast so wie deine Augen.“ Er betrachtete sie
amüsiert, bevor er zur Bar hinüberging und sich einen Drink einschenkte.
Liebevoll ließ Cassie ihre Finger über das Holz gleiten. Während sie die Saiten
anschlug, suchte sie nach Worten, um ihren Dank auszudrücken. Ihre Augen
wurden feucht. Als sie Howard ansah, mißverstand er den Grund für ihre Tränen.
„Stimmt etwas nicht damit?“ Er runzelte besorgt die Stirn. „Falls du lieber eine
andere Gitarre möchtest, können wir sie morgen früh gleich umtauschen.“
„Dies ist die schönste Gitarre, die ich je gesehen habe.“ Sie war immer noch
überwältigt von seiner Großzügigkeit. Nicht einmal in ihren wildesten Träumen
hätte sie zu hoffen gewagt, jemals ein solches Instrument zu besitzen. „Ich weiß
wirklich nicht, was ich dazu sagen soll“, gestand sie leise.
„Was sollen viele Worte? Spiel lieber ein Lied darauf, damit wir sehen, wie sie
klingt.“ Howard ließ sich in einen Sessel fallen und nippte an seinem Bourbon,
während Cassie die Gitarre stimmte.
Ihre weiche Stimme verschmolz mit dem Klang des Instruments zu einer
perfekten Einheit. Die leichte Berührung ihrer schlanken Finger brachte die
Saiten zum Leben. „Perfekt“, murmelte Cassie, nachdem die letzten Töne verklungen waren. Sie musterte den Mann, der ihr gegenübersaß. Er war voller Widersprüche. Einmal gebärdete er sich als der rauhe RodeoChampion. Dann war er der Boß, der die Angestellten seines Unternehmens unerbittlich antrieb. Heißes Verlangen erwachte in ihr, als sie an die dritte, die zärtliche Seite dieses Mannes dachte. Das warme Zimmer war wie eine gemütliche Höhle, in der sie beide von der übrigen Welt isoliert waren. Cassies Blick ruhte liebevoll auf der Gitarre. Ihr langes, rotes Haar fiel über ihre Schultern herab. „Wir werden beide in den nächsten Wochen sehr viel zu tun haben.“ Howard räusperte sich. „Es ist wohl besser, wenn du dich vorher noch etwas ausruhst.“ Cassie machte keinerlei Anstalten, ihren Platz zu verlassen. „Du solltest jetzt besser nach oben gehen.“ Seine Warnung war unmißverständlich. „Falls du hierbleibst, ziehe ich dich auf den Teppich und liebe dich.“ Cassie nickte mechanisch. Irgend etwas zwang sie dazu, regungslos zu verharren. Sie konnte sich ihm nicht widersetzen. Howard streckte seine Hand aus und Cassie ergriff sie. Ehe sie es sich versah, lag sie in seinen Armen. Mit unendlicher Zärtlichkeit trug er sie zu dem Fell vor dem Kaminfeuer und ließ sie langsam zu Boden gleiten. Ihr Frotteemantel öffnete sich und gab ihren Körper Howards liebkosenden Lippen preis. „Dein Haar ist wie Seide.“ Er verbarg sein Gesicht in ihrem Haar und ließ die langen Strähnen durch seine Finger gleiten. Dann fanden seine Lippen den Weg zu ihren Brüsten. Ihre Erregung wuchs. „O Howard!“ stöhnte sie, als das Spiel seiner Zunge ihr Verlangen noch steigerte. Sie öffnete sein Hemd und ließ ihre Hände über seine Brust gleiten. Sie liebte es, das gleichmäßige Schlagen seines Herzens zu spüren und seine Muskeln zu berühren. Vergiß mich nicht, schienen ihre Augen sagen zu wollen. Sie sah zu, wie er seine Kleidung abstreifte, bevor er sich zu ihr legte. Ihre Körper verschmolzen in einer Woge heißer Leidenschaft. Obwohl Cassie wußte, daß sie Howard nicht für immer haben konnte, genoß sie das Beisammensein hemmungslos. Sie gab sich seiner Liebe völlig hin. Seine Leidenschaft entführte sie in eine Welt, in der es sie nicht mehr berührte, daß sie vielleicht zum letztenmal so in seinen Armen lag. „Ich will nicht, daß mein Haar geschnitten wird! Du versuchst, mich in jemand zu verwandeln, der ich nicht bin und auch nie sein werde!“ Cassie wollte voller Wut aus dem Stuhl vor dem Spiegel aufspringen. „Hören Sie auf!“ schrie sie den Friseur an und beugte sich nach vorn, um der Schere zu entgehen, die ihre langen, roten Haare bedrohte. „Ich dachte, wir hätten uns geeinigt, Partner zu sein!“ wandte sie sich an Howard. „Das stimmt auch. Du singst und erfüllst die Verträge, die ich für dich abschließe. Ich kümmere mich um alles andere.“ Howard wurde ungeduldig. „Lassen Sie sie nicht eher nach unten, als bis sie fertig ist.“ Er zog die Tür hinter sich ins Schloß. Dina, über deren Anwesenheit Cassie sich besonders ärgerte, gab dem Friseur unerbetene Ratschläge. „Schneiden Sie es nicht zu kurz“, sagte sie, als er sich an die Arbeit machte. „Also, ich glaube, Sie könnten oben doch noch ein klein wenig mehr wegnehmen“, ließ sie verlauten, als er kurze Zeit später zurücktrat, um sein Werk zu begutachten.
Obwohl Cassie es nur ungern zugab, konnte sie nicht leugnen, daß ihr der Schnitt gefiel. Und als die Schneiderin ihr anschließend das neue, fliederfarbene Kleid absteckte, glaubte sie zu wissen, wie Aschenputtel sich gefühlt haben mußte, als die Fee kam und es in die schönsten Gewänder hüllte. Das bodenlange Kleid betonte Cassies schlanke, weibliche Figur. „Nicht schlecht.“ Howard sah kaum von seinen Büchern auf, als sie ihm wenig später das Ergebnis der von ihm angeordneten Imageveränderung vorführte. Cassie errötete vor Verlegenheit. Seine Gleichgültigkeit schmerzte sie mehr als sein Zorn es je vermocht hatte. Seit jener Liebesnacht vor dem Kamin wich er ihr aus. Als sie den Grund für sein verändertes Verhalten erfahren wollte, hatte er etwas von „unkontrollierten Gefühlen, die einen Mann plötzlich überkommen können“ gemurmelt. Der zärtliche Ausdruck, der bei seinen abweisenden Worten in seinen Augen gestanden hatte, ließ sie sich fragen, ob er sich vielleicht vor seiner eigenen Leidenschaft fürchtete. Er sorgte dafür, daß sie während der ganzen Woche nicht ein einziges Mal allein miteinander waren. Aber da er sich ansonsten an sein Versprechen hielt, wollte auch Cassie ihr Möglichstes tun, um ihr Debüt im PetroleumClub zu einem Erfolg zu machen. Mehr als alles andere wollte sie seine Zustimmung finden, wollte sich in der Wärme seiner Anerkennung sonnen. Aber seiner kühlen Haltung nach zu urteilen hatte sie sich ein fast unerreichbares Ziel gesteckt. Nun, sie wollte ihm schon zeigen, was für ein Talent in ihr steckte, wenn sich die Gelegenheit bot. Sie wollte mit dieser Band arbeiten, die er unter Vertrag genommen hatte, auch wenn sie die Twisters sehr vermissen würde. Sie mußte ihren Schmerz vergessen – wieder einmal. Howards Pläne für ihre Zukunft ließen keine Zeit für Tränen. Der PetroleumClub war eine Stiftung der reichen Rancher und Ölmagnaten aus Dallas. Während der ersten fünfzig Jahre seines Bestehens lief das Leben hier nach sehr strikten Regeln ab. Frauen hatten keinen Zutritt zu diesen heiligen Hallen, in der sich die Männer der Stadt nach einem arbeitsreichen Tag zu einem freundschaftlichen Pokerspiel versammelten. Die Herren der Schöpfung kamen hierher, um für einige Stunden wie richtige Männer behandelt zu werden. Als ein Zugeständnis an die geänderten Zeiten wurde endlich auch den Damen Zutritt gewährt – sie durften mit ihren Ehemännern oder Begleitern zum Essen kommen oder sich die Shows ansehen. Die Rauchzimmer, die Lese und Kartensäle blieben allerdings nach wie vor allein den Männern vorbehalten. „Was ist los? Warum bist du nicht fertig?“ Howard warf Cassie einen wütenden Blick zu. „Wir haben ein volles Haus!“ fuhr er sie an. „Nun zieh schon das Kleid an und mach dich fertig!“ „Ich bin mit meinen Nerven am Ende.“ Cassie betrachtete ihr Spiegelbild. „Ich glaube, meine Stimme ist belegt.“ Sie nahm eine medizinische Lösung und gurgelte damit. „Mein Haar ist grauenvoll! Und sieh mal! Ich habe einen Fingernagel eingerissen!“ „Eitelkeit, dein Name sei Cassie!“ Howard hatte ihr Lampenfieber bisher noch nie erlebt und mißverstand daher den Grund ihres Verhaltens. Er stand immer noch mitten im Raum, ihr Kleid über dem Arm, während sie sich erneut die Wimpern tuschte. „Zieh dich jetzt an.“ Er öffnete den Reißverschluß des neuen, fliederfarbenen Kleides und hielt es Cassie hin. „Dein Haar ist in Ordnung. Deine Stimme ist in Hochform. Und du kannst mir glauben, daß niemand im Publikum einen eingerissenen Fingernagel bemerken wird.“
„Dreh dich um.“ Cassie nahm ihm das Kleid ab. Sie wußte, daß es albern war, sich in seiner Gegenwart befangen zu fühlen, aber sie konnte nichts daran ändern. „Geh nicht weg“, bat sie, als er sich zur Tür wandte. „Jemand muß den Reißverschluß zumachen.“ Sie ließ ihren Bademantel zu Boden gleiten und schlüpfte in das Kleid. „Okay.“ Sie hielt ihr Haar hoch, so daß es nicht in den Reißverschluß geraten konnte. „Jetzt, wo ich mich an die neue Frisur gewöhnt habe, gefällt sie mir übrigens ganz gut.“ Sie sprach betont beiläufig, war sich dabei aber die ganze Zeit über seiner Hände bewußt, die den Reißverschluß nach oben zogen. „Ich glaube, ich habe alle Texte vergessen.“ Der Gitarrist sah sie entsetzt an. „Ich mache nur Spaß“, beruhigte Cassie ihn. Sie nahm ihren Platz auf der Bühne hinter dem blauen Vorhang ein. Die Stimme des Ansagers kündigte ihren Auftritt an. Höflicher Applaus begrüßte sie, als sie ins Rampenlicht trat. Der Rhythmus der Musik – ihrer Musik – bemächtigte sich ihres Körpers, und bald schon hatte sie das Publikum vor sich vergessen, das über ihr weiteres Schicksal entscheiden sollte. Ihre weiche Stimme hatte die Gäste des PetroleumClubs bald in ihren Bann geschlagen. Ihr Vortrag endete schließlich mit einem CountryRockSong, dessen mitreißender Rhythmus alle Zuhörer auf die Beine brachte und großen Applaus hervorrief. Ein junger Mann im Smoking kam nach vorn und überreichte ihr einen Strauß gelber Rosen, als sie das letztemal vor den Vorhang trat. Howard legte ihre Hand in seinen Arm und führte sie durch die begeisterte Menge. Alle wollten ihr gratulieren. Cassie schwebte wie auf Wolken. Sie genoß die Reaktion des Publikums aus vollem Herzen. „Ein Star wurde geboren“, bemerkte Dina spöttisch. Ihr dunkelrotes Kleid betonte ihre üppigen Formen. Das lange, blonde Haar hatte sie zurückgekämmt. Die Diamantohrringe, die sie trug, waren für Cassies Geschmack zu protzig, aber ihr Leuchten konkurrierte mit dem Feuer ihrer Augen. „Cassie, dies ist Bo Davis. Bo ist Produzent in Nashville. Er möchte gern eine Probeaufnahme mit dir machen. Falls sie gut wird, lassen wir eine Platte pressen und veröffentlichen sie unter dem Label ,Diamond T’.“ Cassies Gefühle schwankten – einerseits bedrückte sie die Trennung von Howard, die die Zukunft unweigerlich mit sich bringen mußte, andererseits war sie begeistert über die neuen Perspektiven, die sich ihr beruflich boten. Sie begriff plötzlich, daß es in der Tat möglich war, inmitten einer Menge einsam zu sein. Nie in ihrem Leben war sie sich isolierter vorgekommen als an der Schwelle zum Erfolg. „Es könnte meinem Studio nicht schaden, ein paar Hits mit einer Sängerin wie Ihnen herauszubringen.“ Cassie mochte Bo Davis sofort. „Ich glaube, mir könnte es auch nicht schaden.“ Zu gern hätte sie alles geglaubt, was ihr an diesem Abend versprochen wurde, aber die Erfahrung mit Charley Ingram und Harlan Purdy hatte sie vorsichtig werden lassen. Zumindest hatte Bo Davis nicht sofort einen Vertrag aus der Tasche gezogen und erwartet, daß sie ihn auf der Stelle unterschrieb. Das war wohl ein Pluspunkt für ihn. „Darf ich es noch einmal überdenken, bevor ich Ihnen eine feste Zusage gebe?“ „Natürlich. Lassen Sie sich nur Zeit.“ Bo Davis’ breites Lächeln flößte ihr Zutrauen ein. Cassie stand zwischen den beiden Männern. Sie war sich nicht ganz darüber im klaren, was sie nun tun sollte. „Ich nehme an, du willst dich jetzt umziehen und zurück zur Ranch fahren.“
Cassie sehnte sich danach, hier vor allen von Howard zu hören, daß er zufrieden war mit ihr. Aber sie wußte, daß sie damit zuviel erwartete. „Ich bin gleich fertig.“ Ihre Seifenblase des Glücks war geplatzt. Als sie hörte, wie Bo Davis Howard gratulierte, hätte sie weinen mögen. „Es sieht so aus, als hätten Sie wieder einmal eine Goldader gefunden, Temple. Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie Sie immer so genau ins Schwarze treffen. Ich hätte nichts dagegen, in das Geheimnis eingeweiht zu werden.“ Heiße Tränen brannten in Cassies Augen, aber es gelang ihr, Haltung zu bewahren, als sie hinausging. Für eine Weile hatte sie vergessen, daß sie für Howard nicht mehr war als ein hoher Einsatz in einem Pokerspiel. Nun, den Fehler würde sie nicht noch einmal machen! „Es ist allein deine Entscheidung, Cassie.“ Howard zuckte gleichmütig die Schultern, als er ihr die Verantwortung für die Unterzeichnung der Verträge zuschob. Sie konnte den Ausdruck seiner Augen nicht entziffern, und seine kühle Haltung verletzte sie. Ängste, die sie nicht in Worte kleiden konnte, quälten sie. Wie konnte es sein, daß jemand, der so gute Liedertexte schrieb, so befangen war, wenn es galt, die eigenen Gefühle in Worte zu fassen? „Ich weiß nicht, ob ich schon gut genug bin für Nashville.“ Sie zögerte. Ihr Engagement beim PetroleumClub war beendet, und Bo Davis drängte sie zu einer Entscheidung. Er wollte nicht mehr länger warten. Es gab zu viele andere hoffnungsvolle Talente, die nach vorn drängten. „Du bist so gut, wie du sein willst. Die Verträge liegen auf meinem Tisch. Wir können sie unterzeichnen, sobald du grünes Licht gibst.“ Howard ließ sie allein zurück. Er wollte das Beschlagen der Pferde überwachen. „Ich weiß gar nicht, weshalb Sie plötzlich so zaudern. Ich dachte, dies sei das große Ziel Ihres Lebens! Sie wollten doch immer schon Sängerin werden!“ Dinas Worte mochten freundlich klingen, aber ihr Blick verabschiedete Cassie bereits. Zumindest war sie ehrlich. Sie wollte Howard für sich haben, je eher, desto besser. „Denken Sie doch nur an die vielen Reisen, die Sie machen und an all die Stars, die Sie treffen werden. Wenn ich Sie wäre, säße ich schon längst im Flugzeug.“ Es war einige Tage später, als sich die Situation mehr oder weniger von selbst entschied. „Sie hat einen Dickkopf, zugegeben. Aber ich bin sicher, daß sie sich bald zur Unterschrift entschließt.“ Howard sprach am Telefon mit Bo. Er hatte die Füße auf die Fensterbank gelegt und kehrte der Tür den Rücken zu. Cassie war soeben unbemerkt hereingekommen und wurde nun unfreiwillig Zeugin des Gesprächs. Sie war gekommen, um mit Howard zu sprechen. Liebe und Stolz rangen in ihr – das eine sagte „Bleib“, das andere „Geh“. Sie hoffte gegen jedes bessere Wissen, daß Howard sie bitten würde, ihrem Herzen zu folgen. „Wer weiß, was bei ihrer Entscheidung letztlich den Ausschlag geben kann!“ Howard seufzte abgrundtief. „Wir wollen ihr noch eine Woche Zeit lassen.“ Cassie drehte sich um, um den Raum zu verlassen, kam aber nicht umhin, auch den nächsten Satz des Gesprächs noch mitzuhören. „Ich habe inzwischen schon mehr Geld in die Sache investiert, als ich je wieder herausbekommen werde“, sagte Howard. „Wer weiß? Vielleicht ist es wirklich unmöglich, aus einem Aschenputtel eine Prinzessin zu machen.“ Cassie hatte das Gefühl, als habe ihr jemand einen Dolch mitten ins Herz gestoßen. Sie unterzeichnete die Verträge noch am selben Abend. Dina bezeugte die Unterschriften. Sie strahlte. Bo Davis begann sofort, Pläne zu
schmieden und Anordnungen zu geben. Als erstes rief er in Nashville an, um
einen Block Studiozeit zu reservieren.
„Viel Vergnügen!“
Dina hakte sich besitzergreifend bei Howard unter, als sie sich auf dem Flughafen
von Cassie verabschiedete.
Howard musterte Cassie aufmerksam. Offensichtlich wollte er sich davon
überzeugen, daß der neue Star, den er geschaffen hatte, wirklich makellos war.
Cassie bewahrte eine kühle Miene und erwiderte seinen Blick, ohne mit der
Wimper zu zucken. Sie war fest entschlossen, diese blauen Augen zu vergessen.
Aschenputtel! Sie schüttelte ihre Empörung ab und lächelte Bo Davis zu, der mit
ihr zusammen nach Nashville fliegen wollte.
„Als erstes werde ich von meinem Honorar ein Diadem kaufen!“ verkündete sie.
„Prinzessinnen tragen doch Diademe?“
Howard sah sie verblüfft an. Dann kniff er die Augen zusammen. Er hatte
begriffen, daß sie das Telefongespräch mit angehört hatte.
„Ich wußte gar nicht, daß du eine solch schlechte Meinung von mir hast“,
bemerkte sie. Tränen brannten in ihren Augen.
„Bevor du wieder einmal deine berühmten voreiligen Schlüsse ziehst, solltest du
dir vielleicht die ganze Geschichte anhören.“ Howard wich ihrem vernichtenden
Blick nicht aus.
„Ich gebe zu, daß meine Wortwahl bei dem Gespräch nicht ganz glücklich war.
Aber ich habe im Moment unglaublich viel zu tun, und dein Zögern über den
Vertrag war einfach der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Es tut mir
leid, daß du es gehört hast. Du weißt, daß ich es nicht so gemeint habe, wie es
klang.“
Cassie starrte zu Boden. Sie versuchte, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden.
Howard war der einzige, der es so erschüttern konnte.
„Wir wollen das Ganze vergessen.“ Ihre Worte waren kaum hörbar. Sie richtete
sich auf. „Schließlich geht es hier nur um ein Geschäft.“
Vergiß ihn! Mit diesem Entschluß bestieg Cassie das Flugzeug, ohne noch einmal
zurückzusehen. Vergiß ihn! befahl sie sich, aber sie wußte, daß es ihr nicht
gelingen würde.
10. KAPITEL „Wir müssen noch einige Stellen korrigieren, Cassie, dann ist alles in Ordnung.“ Sie stand unter dem großen Mikrofon, das von der Studiodecke herabhing, und las den Text ihres neuen Liedes noch einmal durch. „Okay, Bo.“ Cassie warf einen Blick auf die Chorsänger, die wie ein menschlicher Fächer im hinteren Teil des Studios verteilt waren. Ihre muntere Laune während der Aufnahmepausen erleichterte die Spannung etwas, die die stundenlange Studioarbeit mit sich brachte. Spur um Spur wurde aufgenommen, immer wieder mußten dieselben Akkorde und Textzeilen wiederholt werden, bis der richtige Sound entstand. „Du solltest das E nicht so langziehen“, riet Bo. Er sprach über die Gegensprechanlage aus dem Regieraum mit ihr. „Aber es paßt an der Stelle zum Text“, versuchte Cassie ihre Entscheidung zu verteidigen, noch ein wenig zu experimentieren, bis das musikalische Arrangement mit dem Text harmonierte. „Überlaß die tiefen Töne nur Johnny Cash“, meinte Bo. „Und sei vorsichtig mit dem Mittelteil.“ Sie nickte mechanisch. „Hat jemand etwas von Scrappy gehört?“ fragte sie die Musiker, ohne eine Antwort zu erwarten. Ihre Hände waren eiskalt. Sie rieb sie aneinander. Dies war nun endlich ihre große Stunde, nach langen Wochen endloser Proben. Cassies Nerven waren zum Zerreißen gespannt. „Er kommt sicher bald“, beruhigte Bo sie. „Er hatte heute morgen bereits eine Aufnahme, und das hat sich wahrscheinlich verzögert.“ „Bin ich hier richtig zur Aufnahme für den CountryMusicPreis des Jahres?“ Scrappy stieß die Tür hinter sich zu und stellte seine schwarzen Instrumentenkoffer ab. „Und Sie müssen die Kandidatin für den Preis der Sängerin des Jahres sein!“ Er zwinkerte Cassie zu und lächelte. „Wo warst du so lange?“ „Wir haben das Playback für einen neuen Song eingespielt, und es hat länger gedauert, als wir zunächst angenommen hatten.“ Er schüttelte seine blonde Mähne und schnitt eine Grimasse. „Die Zeit verfliegt nur so, wenn man Spaß an einer Sache hat.“ „Das hast du nun von deinen vielen Talenten!“ witzelte sie. „Wenn du dich nur auf ein Instrument beschränken würdest, hättest du auch mehr Zeit.“ Scrappy war ständig ausgebucht, seit er nach Nashville gekommen war. Er war ein gesuchter Studiomusiker geworden. „Wie war es denn?“ Cassie war immer neugierig, wenn es um neues, noch unveröffentlichtes Material ging. Sie war gern auf dem laufenden über die Aktivitäten ihrer Konkurrenten. „Das gibt eine goldene Schallplatte! Dafür habe ich eine Nase.“ Scrappys braune Augen blitzten. Er liebte das Musikleben in Nashville. Cassie wußte, wie sehr er seinen neuen Status bei den Musikern der Stadt zu schätzen wußte. Auch Jess und Mike hatten inzwischen hier ihren Platz gefunden. „Wollt ihr beiden dort einen Kaffeeklatsch machen, oder können wir loslegen?“ knurrte Bo durch die Gegensprechanlage. „Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, sind wir Weihnachten noch nicht fertig! Ist euch eigentlich klar, was eine Studiostunde heutzutage kostet?“ „Temple hat wirklich den richtigen Mann für diese Produktion ausgesucht“, murmelte Scrappy, während er seine Instrumente auspackte. „Bo, du bist härter als Granit!“
Als Scrappy Howard erwähnte, waren Cassies Erinnerungen mit einem Schlag wieder da. Und dabei war es ihr fast einen ganzen Tag lang gelungen, jeden Gedanken an ihn zu verdrängen! Einen Tag lang hatte sie die verrückten Phantasien im Zaume gehalten, die keinen Bezug zur Wirklichkeit mehr hatten. „Wie lange brauchst du, um dich einzuspielen?“ Bo ignorierte Scrappys Bemerkungen und stellte die Regler auf dem Mischpult für die neue Aufnahme ein. „Bis ich mich eingespielt habe? Großer Gott! Die Musik ist von mir!“ Scrappy stimmte seine Geige und produzierte dabei bewußt einige haarsträubende Laute. „Alles ist eingestellt. Also weiter im Text!“ Bo kannte keinen Spaß, wenn es um eine Aufnahme ging. Er drückte den Aufnahmeknopf und gab Cassie ein Zeichen. „Verpaß deinen Einsatz nicht!“ Cassie meisterte das Lied mit Hilfe ihres natürlichen musikalischen Gefühls. Dies war ihr Lied, ihr ganz persönlicher Versuch, die Erinnerung an Howard Temple auszulöschen. „Es ist zu hoch.“ Scrappy winkte ab und griff sich die Gitarre des Musikers neben ihm. „Man müßte es tiefer spielen und es so versuchen…“ Er schlug einige Akkorde an, um zu zeigen, was er meinte. Cassie trank den Rest des Mineralwassers, das bereits vor einer Stunde schal geworden war, zerknüllte den Pappbecher und warf ihn in den Abfallkorb. „Niemand hier nimmt dir bisher auch nur eine Zeile deines Textes ab“, fuhr Scrappy sie an. „Du hast dir doch etwas dabei gedacht, als du die Worte schriebst. Meine Musik ergänzt die Gefühle, die du hineingelegt hast. Wo ist der Zauber? Du singst das Ganze, als sei es eine Einkaufsliste!“ Cassie war am Boden zerstört. Gewöhnlich war Scrappy die Geduld in Person. Sein persönliches Interesse am Erfolg dieses Liedes schien ihn kritischer als gewöhnlich zu machen. Die Chorsänger fühlten sich sichtlich unbehaglich bei seinen Worten. Cassie nahm sich seine Worte zu Herzen und interpretierte den Song so überzeugend, daß die Studiomusiker nach der Aufnahme spontan klatschten. „Das war’s!“ Bo ließ das Band zurücklaufen. Die Musiker legten ihre Instrumente in die Koffer und verließen hastig das Studio. Cassie ließ sich müde in einen der Sessel im Regieraum fallen. Sie hatte alle ihre Gefühle in das Lied gelegt und fühlte sich nun völlig ausgepumpt. „Das hast du prima gemacht, Cassie. Morgen machen wir die letzte Mischung.“ Bo zog ein halbes Dutzend Kabel aus den Buchsen des Mischpultes. „Tut mir leid, daß ich vorhin so hart zu dir war, Cassie, aber irgend jemand mußte dich in Schwung bringen.“ Scrappy zog sie auf die Beine. Sie lehnte sich an ihn. „Laß uns essen gehen“, schlug er vor. „Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne dich anfangen würde“, seufzte Cassie, als sie das Gebäude verließen und über den verlassenen Parkplatz zu Scrappys uraltem Kombi hinübergingen. „Du weißt doch, das wir dies zusammen durchziehen.“ Er legte seine Instrumente auf den Rücksitz und brachte Leben in den alten Motor. „Sobald diese Aufnahme als Platte erscheint, wird sie wie ein Heißluftballon in den Hitparaden aufsteigen.“ Sie verließen Music Row, die Straße mit den Verlagshäusern und Aufnahmestudios, und fuhren durch Nashvilles Wohnbezirke. „Was hältst du von einem schönen, saftigen Steak?“ Scrappy kannte jedes gute Restaurant der Stadt. „Ja, warum nicht? Ich muß zwar heute abend noch auftreten, aber die Show beginnt erst um neun Uhr. Wir haben also noch viel Zeit.“ Sie fuhren am Ufer des CumberlandFlusses entlang, wo Angler geduldig darauf
warteten, daß die Fische anbissen. „Hat Bo unsere Tournee schon organisiert?“ „Zuerst haben wir drei Auftritte in Ohio. Dann kommt eine Show in Missouri.“ Cassie versuchte, sich die einzelnen Stationen der Tournee in Erinnerung zu rufen. „Ich glaube, danach kommt Tulsa und dann Alabama. Wir sollen die ganze Zeit über telefonischen Kontakt mit Bo halten, so daß er uns noch weitere Termine durchsagen kann, die sich vielleicht später noch ergeben.“ „Prima!“ Scrappy schlug mit der flachen Hand auf das Steuer. „Ja, und das Schönste daran ist eigentlich, daß wir vier wieder beisammen sind. Nachdem mein Vertrag mit der anderen Gruppe abgelaufen war, fürchtete ich schon, Bo würde wieder mit einer neuen Gruppe ankommen. Aber glücklicherweise habt ihr drei inzwischen einen derart guten Ruf in unserer Branche, daß nicht einmal Howard ernsthaft etwas einwenden konnte, als ich vorschlug, daß wir uns wieder zusammentun.“ Cassie lachte glücklich. „Dann war unsere harte Arbeit in Charleys Restaurant also doch nicht umsonst.“ „Glück muß der Mensch haben!“ feixte Scrappy. Er war inzwischen von der Hauptstraße abgebogen und folgte einer holprigen Schotterstraße, bis der Wagen schließlich vor einem Holzgebäude zum Stehen kam. „Ich habe eine Möglichkeit gefunden, meinen alten Kombi zu verkaufen“, erzählte Scrappy, während er an seinem Steak herumsäbelte. „Wir könnten einen dieser umgebauten Schulbusse kaufen – hinten Schlafkojen und Platz für die Ausrüstung, an den Seiten der Name unserer Gruppe aufgepinselt. Sie wollen fünfhundert Dollar dafür und meinen Kombi. Was meinst du dazu?“ Cassie stocherte lustlos in ihrem Essen herum. Obwohl ihr Auftritt erst in drei Stunden sein sollte, konnte sie kaum einen Bissen hinunterbringen. „Geben Mike und Jess auch etwas dazu?“ „Kein Problem. Beide bekommen am Ende der Woche Geld und können dann jeder mindestens hundertfünfzig aufbringen.“ „Ich schicke Howard jeden Monat zweihundert Dollar, um das Geld zurückzuzahlen, das er für die Krankenhausrechnung ausgelegt hat. Wenn ich dann noch die Lebenshaltungskosten rechne, kann ich froh sein, wenn ein Cent übrigbleibt.“ Cassie schob ihren Teller zur Seite. „Falls ich jeden Abend einen Auftritt mache und nebenher vielleicht noch ein paar Werbespots, dann kann ich hoffentlich zweihundert beisteuern.“ „Du machst dich völlig kaputt, bevor es überhaupt erst losgeht“, bemerkte Scrappy nüchtern. „Temple bekommt doch seine fünfzehn Prozent von unseren Einnahmen. Wieso läßt du ihn nicht einmal einen Monat leer ausgehen und erholst dich etwas? Du kannst nicht den ganzen Tag im Studio stehen und dann abends noch für ein paar Dollar auf der Bühne. Das ist einfach zu viel des Guten.“ „Je eher ich ihm alles zurückzahle, desto besser.“ Howards bissige Bemerkung gegenüber Bo, daß er Cassie als Verlustgeschäft betrachte, klang ihr noch in den Ohren. „Außerdem muß ich noch Erfahrungen sammeln. Nichts zwingt mich schneller dazu als ein leeres Bankkonto.“ Das Thema Howard Temple ließ sowohl bei Cassie als auch bei Scrappy Unbehagen aufkommen. Cassie hatte nie über ihre Gefühle für den Mann gesprochen, der sie so sehr unterstützte, aber Scrappy schien zu spüren, daß ihre Beziehung zu Howard nicht nur rein beruflich war. Howard hatte keinen Hehl daraus gemacht, daß er trotz aller Zugeständnisse an die Gruppe nichts von Scrappy hielt. Das schlechte Verhältnis zwischen den beiden Männern, die ihr so viel bedeuteten, bedrückte Cassie. „Möchten Sie noch ein Bier, Scrappy?“ Eine junge Serviererin räumte das
benutzte Geschirr ab. Sie lächelte den Musiker scheu an. Ihre Augen leuchteten auf, als er zustimmend nickte. Cassie beobachtete, wie das junge Mädchen aufblühte. Ihr tat das Herz weh. Warum nur konnte sie Howard nicht vergessen und einen anderen Mann finden, der sie aufblühen ließ in ihrer Liebe zu ihm? Angebote hatte sie während der drei Monate in Nashville genügend erhalten, aber die Erinnerung an die leidenschaftlichen Begegnungen mit Howard schlossen jede engere Bindung an einen anderen Mann für sie aus. „Danke, Rose.“ Scrappy trank direkt aus der Flasche. Die Serviererin errötete, als er ihr zuzwinkerte. „Ich werde diese gute Küche sehr vermissen, wenn wir auf Tournee sind.“ Er klopfte sich zufrieden auf den Bauch. Das Leuchten in Roses Augen erlosch. „Falls Sie uns sagen, wann Sie fortfahren, wird Mama Ihnen noch einmal alle Leibgerichte kochen, und wir geben Ihnen ein richtiges Abschiedsessen.“ Ihre Worte kamen nur zögend. Sie schien zu fürchten, er könne ablehnen. „Das wäre wirklich nett von Ihnen. Die Schnellimbißverpflegung wird uns bald über sein, wenn wir erst unterwegs sind.“ Er nahm Roses vom Spülwasser gerötete Hand zwischen seine mächtigen Pranken. „Sie wissen, was ich gern esse, Rose. Sagen Sie Ihrer Mutter, von allem eine doppelte Portion am nächsten Freitag.“ „Hält Mrs. Miller dein Zimmer für dich frei, während wir unterwegs sind?“ Scrappy parkte vor der Pension, in der Cassie wohnte. „Ja, dank deiner Fürsprache.“ Die mütterliche Witwe hatte ihre Pension für Musiker und Sänger vor fünfundzwanzig Jahren nach dem Tod ihres Mannes geöffnet. Weibliche Logiergäste nahm sie aus Prinzip nicht auf. Scrappy mußte alle Register seines Charmes ziehen, um sie dazu zu bewegen, für Cassie eine Ausnahme zu machen. „Ich wußte, daß ihr beide miteinander auskommt, wenn ihr euch erst einmal besser kennt.“ Er lächelte breit und zupfte an seinem Bart. „Eigentlich ist sie eine nette alte Dame – man muß nur den weichen Kern unter der rauhen Schale erkennen.“ „Sie bemuttert mich wie eine Glucke ihr Küken.“ Für Cassie war das kleine Zimmer in der Pension jetzt ihr Zuhause. Mrs. Miller blieb oft abends extra noch auf und wartete auf ihren einzigen weiblichen Logiergast. Sie machte es sich dann in ihrem Schaukelstuhl bequem und flickte ein Hemd oder stopfte ein paar Strümpfe für einen ihrer Mieter, der gerade eine finanzielle Durststrecke durchmachte. „Sie läßt mich nicht einmal in die Nähe der Küche.“ Cassie lachte. Mrs. Miller bestand darauf, drei Mahlzeiten pro Tag zu reichen. Spätauftritte oder nächtliche Arbeiten im Studio waren für sie keine Entschuldigung, das Frühstück zu versäumen. Cassie wußte nicht mehr, wie oft sie schon beobachtet hatte, wie die alte Dame die Treppe hinaufging, um irgendeinen protestierenden Sänger oder Musiker aus dem Bett zu zerren. Kein Jammern und kein Klagen ihres schlafbedürftigen Opfers konnte sie davon abbringen. „Ich warte hier auf dich, bis du dich umgezogen hast, und bringe dich dann auf meinem Nachhauseweg beim ‚Hitchin Post’ vorbei. Dort ist doch heute abend dein Auftritt?“ „Danke, ja. Es dauert nicht lange.“ Cassie schlug die Wagentür hinter sich zu und eilte ins Haus. Während der Fahrt durch die Stadt legte sie noch rasch ein wenig Makeup auf und bürstete sich das Haar. Der einfache Jeansrock und die Fransenbluse, die sie dazu trug, waren der schlichten Atmosphäre angepaßt, die sie erwartete.
Klingelnde Spielautomaten und laute Unterhaltung übertönten die Musik, die aus der Musikbox kam. Cassie stellte sich dem Besitzer des Klubs vor. Er musterte sie kritisch und schob dann einen hölzernen Barhocker in die Mitte eines kleinen quadratischen Tanzbodens. „Ruhe!“ brüllte er über den allgemeinen Lärm hinweg. „Heute abend bieten wir Ihnen eine LiveShow. Und ich warne euch“ – er warf einigen angeheiterten jungen Männern an der Bar einen drohenden Blick zu –, „benehmt euch anständig gegenüber der Dame!“ Dann zog er den Stecker der Musikbox aus der Wand. Es trat Ruhe ein. „Fünfundvierzig Minuten Auftritt, fünfzehn Minuten Pause, Getränke frei und Bargeld, sobald Sie fertig sind.“ Er spulte die schon zuvor vereinbarten Bedingungen in einem Atemzug herunter, steckte sich dann eine Zigarre zwischen die Lippen und verschwand in der Menge. Cassie nahm ihre Gitarre auf und legte sich den Riemen über die Schulter. Jedesmal, wenn sie auf der Martin spielte, die Howard ihr geschenkt hatte, war sie wieder begeistert über den herrlichen Klang des Instruments. Sie hatte inzwischen derart viele Auftritte dieser Art hinter sich, daß die Show schon zur Routine geworden war. Während sie das erste Lied sang, glitt ihr Blick über das voll besetzte Lokal. Diese Leute und Millionen andere wie sie würden letztlich über ihre Karriere entscheiden. Fünf Männer im mittleren Alter mit Backenbärten und karierten Jacken saßen in einer engen Nische beisammen. Sie tranken abwechselnd Bier und Whisky und sangen alle Lieder mit. Cassie lächelte ihnen zu, als sie nach ihrem zweiten Lied begeistert klatschten. Für einen Moment traf ihr Blick auf den eines attraktiven Mannes, der ihr zutrank. Sein erwartungsvolles Lächeln lud sie ein, sich in der Pause zu ihm zu setzen, aber statt dessen verschwand sie wie üblich rasch im Hinterzimmer und trank allein ein Glas Mineralwasser. Es war keine Angst, die sie innerlich erstarren und ihre Hände zittern ließ, wenn irgendein Mann ihr seine Aufmerksamkeit schenkte. Solange sie Howard nicht endgültig vergessen hatte, solange er nicht aus ihren Träumen verschwand, solange konnte sie auf keinen anderen Mann reagieren. „Du hast ein sehr kritisches musikalisches Gehör, Cassie. Falls du jemals die Absicht haben solltest, dich als Produzentin zu versuchen, wartet hier schon ein Job auf dich.“ Bo Davis klopfte den Rhythmus zur Musik und lächelte. „Da! Das ist die Stelle, wo das Schlagzeug auf die Gesangsspur durchschlägt.“ Sie machte Bo auf die Stelle aufmerksam, die nicht richtig abgemischt war. Er stellte die Regler des Mischpultes neu ein. „Das Arrangement ist phantastisch, das muß man wirklich sagen.“ Zufrieden stellte Bo das Band ab. „Es ist klar und einfach, und doch hat das Ganze ein gewisses Etwas.“ „O, Bo, findest du das wirklich?“ Cassie war hin und hergerissen in ihren Gefühlen. Einerseits war sie erleichtert, daß die Aufnahme gelaufen war, andererseits fürchtete sie sich vor der bevorstehenden Tournee und der Ungewissen Reaktion des Publikums auf das neue Lied. „Ich bin mir ganz sicher. Außerdem ist die begleitende Werbekampagne hervorragend organisiert. Howard schickt die Schallplatte an alle möglichen Rundfunkstationen, und in sechzig wichtigen Zeitungen hat er Artikel lanciert.“ Bo rieb sich begeistert die Hände. „Das ist wirklich der Traum eines jeden Produzenten.“ Cassie hätte seine Erregung gern geteilt, aber sie fühlte sich leer und ausgebrannt. Einerseits schien das Glück ihr gewogen, andererseits… Alles, was ihr beruflich weiterhalf, schien sie von Howard zu entfernen.
„Weißt du, Cassie, im Grunde ist das ganze Musikgeschäft ein reines Lotteriespiel, aber wenn dein Lied kein Hit wird, werde ich höchstpersönlich dieses Gebäude Stein für Stein auseinandernehmen!“ Bo lehnte sich in seinem Sessel zurück und starrte versonnen an die Decke. „Ich glaube, wir sollten unsere Schirme bereithalten“, murmelte er. „Irgendwie habe ich das Gefühl, daß es bald Geld regnen wird für uns.“ „Ich möchte nie mehr in meinem Leben einen Hamburger sehen!“ Angeekelt stopfte Cassie das fade Brötchen mit der geschmacklosen Scheibe Hackfleisch in einen schon überlaufenden Abfallkorb. „In einer knappen Stunde sind wir in Tulsa“, bemerkte Scrappy nach einem Blick auf die sie umgebende Landschaft. „Laß uns diesmal in einem Motel übernachten.“ Cassie streckte sich, um wieder Gefühl in ihre verkrampften Muskeln zu bringen. „Au!“ Wohl zum hundertstenmal stieß sie mit dem Kopf gegen die Metallstange hinter ihrem Sitz. „Ich möchte eine ganze Stunde in der Wanne liegen, mich abrubbeln, und dann das Ganze nochmal von vorn.“ „Und ich möchte Steaks essen, bis sie mir zu den Ohren wieder herauskommen.“ Scrappys Augen leuchteten bei dem Gedanken. „Ich möchte meine Wäsche wieder einmal in der Maschine trocknen, statt sie hinten im Bus aufzuhängen.“ Cassies Finger glitten über den rauhen Stoff ihrer Bluse. „Und dann in einem richtigen Bett schlafen, statt in unserer harten, alten Koje!“ Scrappy massierte sich den Nacken. „Ich habe keine Nacht richtig schlafen können, seitdem wir Nashville verlassen haben.“ Mike und Jess nickten zustimmend. Scrappy warf einen Blick auf die Straßenbeschreibung, die er auf einem Notizblock festgehalten hatte. Kurze Zeit später folgte er den Zeichen, die zu einem Jahrmarkt führten, den sie an diesem Abend mit ihrem Programm eröffnen sollten. Im Autoradio hörten sie, wie der Sprecher ihr Lied ansagte. Dann fügte er noch die Information hinzu, daß Cassie und die Twisters an diesem Wochenende in Tulsa auftreten werden – das sei also die Gelegenheit für alle ihre Fans, sie einmal live zu erleben! „Es mag ja verrückt klingen, aber mir hat diese Tournee wirklich Spaß gemacht, ungeachtet all der Unbequemlichkeiten“, gestand Cassie, während sie mit dem Fuß den Rhythmus zu ihrem Lied klopfte. „Mir auch.“ Scrappy lächelte zufrieden. „Die Leute haben uns überall empfangen, als gehörten wir zur Familie. Und die Shows – ich kann es gar nicht glauben, daß wir wirklich mit den größten Stars der CountryMusic zusammen aufgetreten sind. So, als sei das das Natürlichste der Welt! Ich warte nur darauf, daß mich jemand kneift, damit ich aus diesem herrlichen Traum wieder zu mir komme.“ „Und jetzt ist unser Lied schon die Nummer 30 der Hitparade! Großer Gott!“ Cassie schlug sich vor die Stirn. „Das ist fast schon zu schön, um wahr zu sein!“ Scrappy winkte einem uniformierten Wächter zu, der am Eingang des Jahrmarktgeländes stand. Er wies sie an, hinter der Bühne zu parken. „Hey, Big Daddy!“ Scrappy begrüßte einen CountryRockStar, der ihn seinerseits mit einem breiten Lächeln empfing. Es war ein unglaubliches Erlebnis für Cassie, vor mehreren tausend Zuhörern auf der Bühne zu stehen und ihren Hit zu singen. Nichts hätte schöner sein können als der Moment, wo die Menge während ihres Auftritts klatschte und den Text mitsang. „Es dauert mindestens eine Woche, bevor ich diesen Erfolg verdaut habe.“ Scrappy schenkte sich nach dem Auftritt ein Bier ein.
„Ihr könnt für mich mitfeiern, Jungs. Ich empfehle mich.“ Cassie packte einige ihrer Sachen in eine kleine Tasche. Eine der anderen Gruppen, die an diesem Abend hier auftrat, hatte die Twisters zu einer Jam Session eingeladen, und sie wußte, daß damit der größte Teil der Nacht vergehen würde. „Ich gehe ins Motel, um das ersehnte Bad zu nehmen.“ „Nimm das Geld mit und halte es unter Verschluß.“ Scrappy reichte ihr eine Ledertasche. Es war eine Regel, daß die Musiker nach jedem Auftritt bar bezahlt wurden. Zu oft schon waren sie früher mit ungedeckten Schecks und ähnlichem hintergangen worden, als daß sie sich darauf noch verlassen mochten. Cassie winkte den Musikern noch einmal zu und machte sich dann auf den Weg in das Motel. Das heiße Bad war ein wahrer Genuß, nachdem Cassie einen ganzen Monat lang nur in den winzigen Kabinen der Fernfahrerraststätten hatte duschen können. Ganz bewußt trotzte sie Howards Versuchen, ihr ein neues, eleganteres Image zu geben. Das Haar hatte sie sich wieder lang wachsen lassen. Langsam bürstete sie es trocken, nachdem sie aus der Wanne gestiegen war. „Die Tür ist offen!“ rief sie, als jemand ungeduldig klopfte. Hastig schloß sie den Gürtel des dünnen Satinmantels, den sie einer spontanen Eingebung folgend irgendwo zwischen Ohio und Oklahoma erstanden hatte. „Stellen Sie das Essen bitte dort auf den Tisch.“ Sie zählte einige Geldscheine ab, um für das Steak und die Bohnen zu bezahlen, die sie sich auf das Zimmer bestellt hatte. Sie betrat mit dem Geld in der Hand das Schlafzimmer und erwartete, den Zimmerkellner vorzufinden. Als sie den Mann erkannte, der an der Tür stand, erstarrte sie. Howards Blick glitt über die sanften Rundungen ihres Körpers, die der dünne Stoff des Morgenmantels eher betonte als verdeckte. „Weißt du eigentlich, wie viele zwielichtige Gestalten in solchen Motels herumgeistern? Du lädst sie doch förmlich dazu ein, sich hier zu bedienen! Es fehlt nur noch, daß du ein Schild vor die Tür hängst, auf der du aller Welt verkündest, daß du allein bist.“ „Was machst du denn hier?“ fragte Cassie verblüfft. „Und wo ist mein Essen? Wie kommst du eigentlich dazu, einfach so in mein Zimmer einzudringen? Du hast mir einen unglaublichen Schrecken eingejagt!“ Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach das Wortgefecht. Hastig servierte der Kellner das Essen und nahm das Geld entgegen, das Cassie schon bereitgehalten hatte. „Vielen Dank.“ Die Augen liefen ihm bald über, als er die Höhe des Trinkgeldes sah. Er verließ fast fluchtartig das Zimmer. Offensichtlich spürte er die Spannungen zwischen dem Paar und wollte nicht in die Schußlinie der Auseinandersetzung geraten. Cassies Appetit war verschwunden, aber sie hatte nicht die Absicht, Howard spüren zu lassen, wie sehr er sie durcheinandergebracht hatte. Sie setzte sich, breitete die Stoffserviette aus und schnitt das Steak klein. Während der ganzen Zeit verharrte Howard regungslos. Er stand neben der Tür und musterte Cassie mit eisigem Blick. „Wo ist dieser verrückte Geiger, den du so magst?“ wollte er wissen. „Weiß er, daß du dich hier als leichte Beute für alle…“ „Ich glaube, bevor wir fortfahren, sollten wir einige Mißverständnisse aufklären.“ Cassie legte das Besteck beiseite und faltete die Hände im Schoß. „Erstens: Scrappy ist nicht verrückt. Die Twisters sind von einer anderen Gruppe zu einer JamSession eingeladen worden. Da diese andere Gruppe eine der besten ist, könnte der Kontakt für uns auf die Dauer sehr nützlich sein. Zweitens: ich mag Scrappy. Er ist wie ein Bruder für mich. Ich habe deine ständigen Unterstellungen
leid, daß an meiner Beziehung zu ihm etwas Schmutziges sei.“ Plötzlich konnte sie nicht weitersprechen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ihr Zorn verrauchte. Das Essen hatte jeden Reiz für sie verloren – es hätten ebensogut Sägespäne sein können. Ihr Magen hatte sich völlig verkrampft. Wieso nur mußten sie sich immer streiten? „Laß uns noch einmal anfangen“, schlug Howard vor. „Ich gehe jetzt auf den Korridor hinaus und klopfe an. Es ist dann an dir zu entscheiden, ob du Gesellschaft willst oder nicht.“ Bevor sie noch zustimmen oder ablehnen konnte, hatte Howard leise die Tür hinter sich zugezogen. Sie ertappte sich dabei, daß sie angespannt auf sein Klopfen wartete. Wenn sie ihm öffnete, endete der Abend für sie beide mit Sicherheit im Bett. Das war alles, was er je von ihr gewollt hatte. Aber nicht einmal die Gewißheit, daß es so war, hielt sie davon ab, sich nach ihm zu sehnen. Sie warf einen Blick auf das große Bett, das so viele Freuden versprach. Sie hatte ihre Sehnsucht in den letzten Monaten ständig verdrängt und all ihre Energie in die Studioarbeit und Auftritte investiert. Trotzdem sehnte sie sich nach seiner Zärtlichkeit. Howard klopfte. Cassie ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie rang mit der Versuchung. Ihr Puls raste. Ihr ganzer Körper brannte vor Sehnsucht. Ein letzter Rest von Vernunft warnte sie vor dem Schmerz, den ein Nachgeben ihr später unweigerlich bescheren mußte. Er würde kein zweites Mal klopfen. Und dann hielt es sie nicht länger. Mit einigen wenigen Schritten war sie an der Tür und öffnete sie. Es war fast, als würde sie magisch angezogen. Howards Blick glitt langsam über ihren Körper, als er die Tür hinter sich zustieß und den Riegel vorschob. Er zog sie in seine Arme. Es fiel kein Wort zwischen ihnen. Ihr Mund öffnete sich seinen fordernden Lippen, und ihre Finger strichen durch sein welliges Haar. Cassie spürte, wie er sie beobachtete, während er sich auszog und seine Kleidungsstücke einfach auf den Boden fallen ließ. Dann löste er den Gürtel ihres Satinmantels, während seine Lippen die sanften Rundungen ihrer Brüste erkundeten. Sie versuchte vergebens, ihre törichte Entscheidung, alte Leidenschaften neu entflammen zu lassen, zu rechtfertigen. Sie zog ihn zu sich herunter auf das Bett. Ihr Puls raste, als seine Lippen ihren Körper über und über mit verführerischen Küssen bedeckten. Wo endete die Lust, und wo begann die Liebe? Howard hielt seine Leidenschaft unter Kontrolle. Langsam streichelte er ihren Körper. Er kostete jede Sekunde der Lust voll aus. Cassie stöhnte leise auf. „Du hast noch nicht vergessen, wie du mich erregen kannst“, flüsterte sie. „Dich zu erregen befriedigt mich mehr, als du je ahnen wirst.“ Seine Stimme war rauh. Für einen Moment hob er den Kopf. Ihre Blicke trafen sich und schienen ineinander zu versinken. Cassies langes, rotes Haar lag wie ein Fächer ausgebreitet auf dem Kissen. „Ich glaube, ich werde nie genug bekommen von dir.“ Sein Geständnis brachte ihr Blut ebenso in Wallung wie die heißen Küsse und seine zärtlichen Liebkosungen. Er legte den Kopf an ihre Brust. Sie preßte sich noch dichter an ihn. Er streichelte sie und ließ sie immer neue Momente der Ekstase erleben. „Nimm mich! Liebe mich! Jetzt!“ flehte sie. Ihr Blick war voller Verlangen. Seine erfahrenen Hände liebkosten ihre empfindsamsten Stellen. Sie schrie leise auf, und ihr Körper wölbte sich seinem entgegen. Endlich wurden sie eins, erlebten gemeinsam den Gipfel der Ekstase.
Später lagen sie erschöpft nebeneinander. Cassie schmiegte sich in Howards Arme. Auf ihren Lippen lag ein verträumtes, glückliches Lächeln. Howard musterte sie zärtlich, als ihre Finger langsam über seine Brust wanderten. Cassie stand noch so im Banne ihrer Leidenschaft, daß sie kein Wort sagen konnte. Howard küßte sie zärtlich auf die Stirn, bevor sie ihren Kopf gegen seine Schulter legte und einschlief.
11. KAPITEL Die Zeit verging wie im Fluge. Cassie, Howard und die Gruppe bereisten die verschiedenen Staaten des Südostens, wo Bo Auftritte für sie gebucht hatte. Cassie genoß jeden Augenblick ihrer leidenschaftlichen Wiedervereinigung. „Als ich dich das erste Mal sah, saß ich auch in einem alten Schulbus. Er sah fast so aus wie dieser“, sagte Cassie eines Abends leise zu ihm. Die Twisters schnarchten in den Kojen. Die Scheibenwischer führten einen gleichmäßig schlagenden Kampf gegen den Regen. Howard schaltete in den nächsten Gang und warf einen Blick zu Cassie hinüber. „Ich war damals fünfzehn Jahre alt“, erinnerte sie sich verträumt. „Der Frühling ging gerade zu Ende. Du hattest wahrscheinlich Semesterferien. Wir ratterten mit dem alten Bus nach Hause, als ich plötzlich eine Staubwolke auf uns zukommen sah.“ Die Erinnerung an den Vorfall war so frisch, als sei es erst gestern gewesen. „Ich war wohl wütend auf meinen Vater, weil er mich zwang, die Ferien in Coyote Bend zu verbringen.“ Er mußte lachen. „Du fuhrst damals ein rotes Cabrio. Das Dach war geöffnet. Ich saß am Fenster des Schulbusses und verrenkte mir den Hals, um zu sehen, wer all diesen Wirbel hervorrief. Und dann sah ich diese blitzenden, blauen Augen zum erstenmal.“ Seufzend schmiegte sich Cassie tiefer in Howards Lederjacke. Das Unwetter hatte empfindlich kühle Luft mitgebracht, und Howard hatte darauf bestanden, daß sie seine Jacke überzog, während sie ihm vorn Gesellschaft leistete. „Habe ich dich auch bemerkt?“ „Absolut nicht!“ rief sie aus. Ein zärtlicher Ausdruck trat in seine Augen. Cassie spürte erneut das Verlangen nach ihm aufkommen. Sie hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen in jener Nacht in Tulsa und bedauerte es nicht. Sie wollte sich zufriedengeben mit der Rolle, die Howard ihr in seinem Leben einräumen wollte – ganz gleich, wie auch immer sie aussehen mochte. Als er sich entschied, den Rest der Tournee mit der Gruppe zu verbringen, betrachtete Cassie die Extrazeit mit ihm als ein unerwartetes Geschenk. Keiner von ihnen hatte von Liebe oder von einer festen Verbindung gesprochen. Howard ließ sich nicht festlegen. Cassie akzeptierte es ohne jede Bitterkeit, daß sie ihn bald wieder verlieren würde. Sie wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis es ihn wieder zu der blonden Schönheit zog, die auf „Diamond T“ auf ihn wartete. Wenn die Zeit kam – und sie mußte kommen –, dann mußte sie mit ihrem Schmerz fertig werden und versuchen, ihn über der Arbeit zu vergessen. „Ist es nicht Zeit, daß Scrappy das Steuer übernimmt?“ Howards Stimme war tief und ruhig. „Ich bin auch müde.“ Sie gähnte. Wieder einmal mußte sie daran denken, daß es besser war, eine kurze Zeit mit ihm gehabt zu haben, als gar nichts. Das Glück der Gegenwart war es wert, den Schmerz der Zukunft zu riskieren. Mit diesem Gedanken ging sie in den hinteren Teil des Busses und machte sie es sich auf der unbequemen Koje so erträglich wie möglich. Nach der Tournee mit zweihundert Auftritten sah die Autobahn für Cassie inzwischen überall gleich aus. Sie sang für ihre Fans auf Jahrmärkten, in Vergnügungsparks, bei Rodeos und in Nachtklubs von Vero Beach in Florida bis Billings in Montana. Ihre Gagen stiegen ständig. Neue Liedertexte flossen ihr nur so aus der Feder.
Sie konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft sie bereits interviewt worden war. „Wenn mich noch einmal jemand nach meinem Luxusleben fragt, sage ich ihm die Wahrheit“, murrte sie, als Scrappy sich zu ihr in den hinteren Teil des Busses setzte. Sie waren auf der Fahrt zurück nach Nashville. Cassie war völlig erschöpft. „Ich trete gern auf, und die Fans sind sehr nett, aber jetzt bin ich einfach nicht mehr in der Lage, mich nach einem Konzert abzureagieren.“ Schon seit einer geschlagenen Stunde versuchte sie einzuschlafen. Es regnete, und das gleichmäßige Klopfen der Regentropfen auf das Wagendach war an sich ideal, um sich davon einlullen zu lassen. Aber Cassie konnte keine Ruhe finden. Sie warf sich auf ihrer harten, unbequemen Koje von einer Seite auf die andere. Immer wieder tauchte Howard in ihren Gedanken auf. Sie wußte, daß er schuld war an ihrer inneren Unruhe. Er war nach Dallas zurückgekehrt, um die Erschließung eines neuen Ölfeldes zu beaufsichtigen. Sie warf einen Blick auf die Vase mit den inzwischen verwelkenden, gelben Rosen, die er zu ihrem Auftritt nach El Paso geschickt hatte. Obwohl sie sich dagegen sträubte, mußte sie zugeben, daß sie ihn sehr vermißte. „Wir müßten bald eine Pause machen.“ Auch Scrappy war müde. Er warf einen Blick auf die flache Landschaft von Texas. Dann ließ er sich in seine Koje zurückfallen. „Eine gute heiße Mahlzeit ist genau das richtige für dich, um dich zu beruhigen.“ Er gähnte herzhaft und zog sich dann seinen Stetson über das Gesicht. „Ich glaube, ich gehe zum Arzt, wenn wir wieder in Nashville sind. Vielleicht brauche ich ein Beruhigungsmittel.“ Cassie störte Scrappy ungern, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, daß ihre innere Anspannung einer Zeitbombe glich, die kurz vor der Explosion stand. Scrappy richtete sich auf. „Sei nicht albern, Cassie“, sagte er unerwartet scharf. „In unserer Branche sind Beruhigungstabletten der erste Schritt auf dem Weg zur Hölle. Als nächstes brauchst du dann Tabletten, die dich in Schwung bringen, damit du überhaupt auftreten kannst. Und dann dauert es nicht mehr lange, bis du nur noch von Tabletten lebst.“ „Das ist doch wohl übertrieben“, protestierte sie. „Ich habe nicht die Absicht, irgendwie abhängig zu werden. Das könnte mir nie passieren.“ „Das habe ich auch einmal gedacht.“ Scrappy lächelte bitter. „Erinnerst du dich an die RodeoVeranstaltung auf Howards Ranch?“ Sie nickte. Wie hätte sie diesen Tag je vergessen können? „Damals hast du mich gefragt, wie ich den ständigen Streß durchhalte. Ich versprach, dir davon zu erzählen, wenn wir einmal etwas Zeit haben.“ Er musterte sie nachdenklich. „Ich glaube, jetzt ist es an der Zeit für dich, die Wahrheit zu erfahren.“ Cassie hörte zu, während Scrappy erzählte, welchen Zoll die Tablettensucht von ihm bereits gefordert hatte. „Ich war damals Mitglied einer Band, und wir fuhren auf Tournee, genau wie wir jetzt. Wir spielten im Vorprogramm der bekanntesten Interpreten. Es war nur eine Frage der Zeit, wann unser eigener Durchbruch zur Spitze kommen würde. Wir nahmen zu viele Engagements in zu kurzer Zeit an, und bald waren wir völlig erledigt. Du weißt ja, wie das ist, wenn man die ganze Nacht durchfährt und gelegentlich einmal eine halbe Stunde schlafen kann.“ Gedankenverloren strich er sich den Bart glatt. Die Erinnerung an seine Fehler war ihm sichtlich unangenehm. „Einer der Musiker ließ sich ein Rezept für Beruhigungstabletten geben, und dann
dauerte es nicht mehr lange, bis wir alle mit diesen Tabletten lebten. Sie wirkten – zu gut, wie sich später herausstellte.“
Er schnitt eine Grimasse. „Wir wechselten uns damit ab, Rezepte für
Beruhigungsmittel zu bekommen. Wir torkelten inzwischen nur noch herum, bis
schließlich jemand“ – er schüttelte den Kopf – „bis ich schließlich Aufputschmittel
auftrieb. Ich fand, daß wir wieder etwas mehr Schwung brauchten, und ging
davon aus, daß wir nach der Tournee die Tabletten sofort vergessen würden.“
„Nun, du bist doch jetzt okay“, bemerkte Cassie. „Was ist schon dabei, daß ihr
auf der Tournee ein paar Tabletten geschluckt habt.“
„Ein paar Tabletten?“ Er warf ihr einen verärgerten Blick zu. „Nimm doch einmal
zwanzig oder dreißig Tabletten an Tag.“
„Was?“ Cassie konnte es kaum glauben. „Dann ist es ja überhaupt ein Wunder,
daß du noch lebst!“
„Zum Frühstück eine Handvoll Tabletten, hinuntergespült mit einem kleinen Bier,
um nach einer durchgespielten Nacht schlafen zu können. Eine weitere Handvoll
– diesmal Aufputschmittel – zum Abendessen, um den Auftritt durchzustehen.“
Bitterkeit spiegelte sich auf seinen Zügen wieder, als er sich an die schreckliche
Zeit erinnerte. „Es dauerte nicht lange, und wir waren nur noch eine Gruppe von
Zombies. Wir verloren alles. Unsere Frauen und Freundinnen verließen uns. Der
Agent wollte nicht mehr mit uns arbeiten, immer seltener wurden wir engagiert.“
„Wie seid ihr darüber hinweggekommen?“ Cassie war gleichermaßen entsetzt
und fasziniert. Sie hatte schon vorher Gerüchte über die Tablettenabhängigkeit
von Musikern gehört, hatte sie aber als Gewäsch abgetan, weil sie nie konkret
mit jemandem zu tun hatte, der von diesem Problem betroffen war.
„Eines Morgens erwachte ich und sah mich in meiner heruntergekommenen
Bleibe um. Ich hatte keinen Pfennig mehr. Keinerlei Aussicht, bei einer
anständigen Band als Musiker unterzukommen, und ich hatte einen schweren
Kopf vom Trinken. Dazu kam noch die Übelkeit von den vielen Tabletten.“ Er
schwieg nachdenklich, bevor er furtfuhr: „Ich hatte jede Kontrolle über mein
Leben verloren.“
Cassie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Sie hätte ihn gern getröstet, aber
sie brachte kein Wort über die Lippen.
„Ich habe die Tabletten von einer Stunde zur nächsten aufgegeben. Es war
schlimmer als die Hölle, aber ich habe es nie bedauert. Ich habe erst auf diese
harte Tour erfahren, daß die Musik das einzige ist, worauf ich bauen kann. Ich
kann ohne sie nicht leben.“ Er zuckte die Schultern. „Ich mußte auch erfahren,
daß sich viele meiner sogenannten Freunde verzogen, als ich keine Tabletten
mehr verteilte. Ich bin jetzt seit fünf Jahren sauber, und es geht mir eigentlich
jeden Tag besser.“
„Das alles hätte ich nie für möglich gehalten“, murmelte Cassie. Es war ein
ziemlicher Schock für sie, aber dennoch war sie Scrappy dankbar, daß er die
Geschichte dieser persönlichen Probleme mit ihr geteilt hatte. „Danke, Scrappy.“
Sie drückte ihm die Hand.
„Es sollte mir leid tun, falls ich dich erschreckt habe. Aber die Drogenszene ist
mir inzwischen wirklich ein Greuel.“ Scrappy machte es sich wieder bequem auf
seiner Koje.
„Falls du die Wahrheit wissen willst – ich bin stolz darauf, daß du mir genügend
vertraust, um mir diese Geschichte zu erzählen. Sie hat mich wirklich überzeugt.“
Ihr schauderte bei dem Gedanken, daß es ihr ebenso wie Scrappy hätte ergehen
können. Bevor sie einschlief, überdachte sie noch einmal das Leben, das sie in
den letzten Monaten geführt hatte. Es war wie im Traum vorübergeflogen. Sie
hatte aus ihrem Koffer gelebt und die meiste Zeit in dem alten Bus oder in
schummrigen, verräucherten Räumen verbracht. Fremde Gesichter, lange Auftritte, viele Übungsstunden, einsame Motelräume – Cassie hatte das Gefühl, daß ihr Leben in Coyote Bend Lichtjahre entfernt war. Der Busfahrer bog von der verkehrsreichen Autobahn ab und steuerte einen Parkplatz an. Cassie erwachte. Sie streckte sich und sah aus dem Fenster. Die Gaststätte sah nicht schlecht aus, aber sie ähnelte doch Hunderten von anderen. Als Cassie den Bus verließ, fiel ihr eine rothaarige Frau auf, die gerade in das Cafe ging. Etwas regte sich in Cassies Erinnerung…. „Natürlich!“ rief sie aus. „Das ist doch Ruth!“ Sie dachte wieder an jenen heißen, staubigen Nachmittag, als sie ihre Odyssee von Coyote Bend begann. Damals hatte sie hier mit ihrem alten, klapprigen Wagen Halt gemacht zum Essen. Ruth hatte dafür gesorgt, daß sie sich richtig satt aß. Zwischen ihren Flirts mit den Fahrern hatte sie Cassie von ihrem alten Traum, Sängerin zu werden, erzählt. „Soweit ich mich erinnere, sind die roten Bohnen und die Sauce einsame Spitze hier.“ Cassie lächelte Ruth an, die zu ihrem Tisch herübergeeilt war, um ihre Bestellung entgegenzunehmen. „Sie kamen mir gleich irgendwie bekannt vor.“ Ruth musterte sie nachdenklich. „Lassen Sie mich nachdenken… Es ist schon eine Weile her, aber…“ „Wir haben uns über das Singen unterhalten“, half Cassie nach. Ruth warf einen Blick auf den grell gestrichenen Bus auf dem Parkplatz. Dann musterte sie Cassies Begleiter. Ihr Blick blieb an dem Notenblatt hängen, das Scrappy in der Hand hatte. „Sie haben es wirklich geschafft, was?“ Cassie lächelte stolz. „Wir versuchen unser Bestes. Ich bin Cassie Creighton, und das ist meine Band, die Twisters Scrappy, Mike und Jess.“ Cassie machte sie miteinander bekannt. „Wie schön!“ Ruth war ganz begeistert. „Ich bin ja so glücklich für Sie.“ Sie nahm die Bestellung auf und eilte in die Küche. Es dauerte nicht lange, bis sie mit dem Essen zurückkehrte. Während Cassie und die Musiker aßen, verschwand sie für einen Augenblick aus dem Restaurant. Als Ruth fünf Minuten später zurückkehrte, lächelte sie zufrieden. „Ich habe einen Vorschlag für Sie!“ rief sie ganz aufgeregt aus. „Sehen Sie den Salon dort drüben? Mein Boß sagt, daß Sie dort auftreten können. Wir haben schon seit Ewigkeiten keine Gruppen mehr hier gehabt. Ich bin schrecklich neugierig auf Ihr Programm. Was halten Sie von der Sache?“ Cassie tauschte einen Blick mit den Musikern. Jess zuckte die Schultern. „Warum nicht?“ meinte Scrappy. „Allerdings nur unter einer Bedingung, Ruth.“ Cassie lächelte. „Wir haben sehr hart gearbeitet, und ich könnte wirklich einmal eine Pause vertragen. Ich singe die zweite Stimme, und Sie die erste.“ Dies war wohl eines der wenigen Male im Leben, wo es Ruth die Sprache verschlug. „Kleine, ich singe schon seit Jahren nur noch am Sonntagvormittag. Und auch das nur, wenn am Samstagabend so wenig los war, daß ich anfange, mir Sorgen zu machen.“ Sie strich sich über das Haar und zwinkerte Cassie zu. Sie war noch ganz die alte. „Sie wissen ja gar nicht, was Sie da von mir verlangen!“ „Es ist allein Ihre Entscheidung.“ Cassie blieb hart. „Entweder treten wir beide zusammen auf oder gar nicht.“ Sie beobachtete, wie Ruth mit sich rang. „Das ist Ihre große Chance!“ scherzte sie dann. Ein Leuchten glitt über Ruths Züge. „Okay, abgemacht.“ Nach dem Essen organisierte die Band eine kurze Probe auf der kleinen Bühne. Cassie testete gerade das Mikrofon, als Ruth hereinstolziert kam. Sie trug einen
schicken, schwarzen Satinanzug. „Den habe ich schon seit Jahren für einen solchen Moment aufbewahrt“, erklärte sie und strahlte dabei über das ganze Gesicht. „Und meine Kamera habe ich auch gefunden. Ich muß unbedingt ein Foto von uns beiden zusammen auf der Bühne haben.“ Sie zog den Fotoapparat aus der Tasche und legte ihn auf einen Tisch. Cassie und die Twisters lachten laut auf. „Was möchten Sie singen?“ keuchte Cassie, nachdem sie sich halbwegs wieder beruhigt hatte. „Ach, ich kenne eigentlich jeden Song von Patsy Cline und Loretta Lynn auswendig“, erklärte Ruth. Das Lampenfieber, das Cassie gelegentlich auch jetzt noch plagte, schien ihr völlig fremd zu sein. „Ruth, wo kommen all diese Leute her?“ Cassie deutete auf die vollen Tische und die gutbesetzte Bar. „Es ist fast zehn Uhr. Das Lokal ist doch sicher nicht immer so gut besucht, oder?“ „Nun ja, ich habe einen guten Draht zu unserem lokalen Sender“, gestand Ruth. „Mein Boß weiß noch nichts davon, aber es geht das Gerücht über den Äther, daß es hier heute zwei Drinks zum Preis von einem gibt.“ Sie lächelte hintergründig. Ihre Augen leuchteten. Cassie war wirklich überrascht, als Ruth den ersten LorettaLynnHit anstimmte. Ihre Stimme war klar und voll. Nach der ersten Nummer reagierte das Publikum mit stürmischem Applaus. Die ganze Show wurde ein solcher Erfolg, daß Cassie beschloß, Ruth zur Verwirklichung ihres alten Traums zu drängen. „Sie waren Spitze!“ Cassie machte es sich auf einem Barhocker bequem und nippte an ihrem Drink. „Wirklich, Ruth, Sie sollten es einmal in Nashville versuchen. Sie haben eine herrliche Stimme.“ „Ach, ich habe nicht mehr den nötigen Schwung, Kleine.“ Ruth hatte einen verträumten Ausdruck in den Augen. „Inzwischen gibt es wichtigere Dinge in meinem Leben.“ Während sie sprach, trat ein großer, bärtiger Fahrer zu ihnen. „Road Runner!“ rief Ruth überrascht aus. „Ich dachte, du hättest Texas längst hinter dir gelassen!“ „Du glaubst doch nicht etwa, daß ich die Sternstunde im Leben meiner kleinen Frau verpassen würde, oder?“ Er küßte Ruth auf den Mund. „Liebling, du warst unnachahmlich!“ Ruth drückte seine Hand. Er setzte sich zu ihnen. „Bei mir hat sich einiges geändert seit unserem letzten Treffen, Cassie. Sie wissen ebensogut wie ich, daß nur einige wenige der besten Sänger Erfolg haben. Und das geht dann gewöhnlich auf Kosten des Privatlebens. Ich möchte nicht auf alles verzichten, was mir jetzt wichtig ist, um ihm dann später nachzutrauern.“ „Ich kann ihr keine Villa am Meer schenken oder ein leichtes Leben versprechen, aber ich kann sie lieben.“ Der große Mann, den sie Road Runner genannt hatte, drückte Ruth an sich. „Und das ist mehr wert als alles Gold in Fort Knox.“ Cassie sah die Zärtlichkeit in den Blicken der beiden und empfand so etwas wie Eifersucht. Es war ihr Wunsch gewesen, frei zu sein, um ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können – deswegen konnte sie jetzt niemandem außer sich selbst einen Vorwurf machen für den Schmerz, den sie beim Anblick des fremden Glücks verspürte. Ruth war vielleicht nicht reich, aber das schien ihr nichts auszumachen, solange sie den Mann, den sie liebte, bei sich haben konnte. Scrappy kam zu ihnen. Er war ganz aus dem Häuschen. „Ich habe gerade Bo angerufen, um ihm zu sagen, daß wir auf dem Weg zurück nach Nashville sind.“ Seine Augen leuchteten vor Aufregung. „Cassie! Unser Lied ist die Nummer eins
in allen Hitparaden! Wir haben es geschafft! Wir sind oben!“ Er zog sie vom Barhocker herab und tanzte mit ihr durch den Saal. „Hältst du es für möglich? Wir sind die Nummer eins! Mädchen, das ist das Beste, was mir je widerfahren ist!“ Cassie lächelte, aber das Herz tat ihr weh. Alles, was sie je über die Einsamkeit eines Stars gehört hatte, stimmte. Die Erkenntnis tat weh. „Ich bin in diesem ganzen Sommer nur zwei Wochen zu Hause gewesen, Bo. Es ist zu früh für die nächste Tournee.“ Cassie drehte sich vor dem Spiegel und betrachtete das Werk der Schneiderin, die gerade den Saum des neuen, weißen’ Kleides absteckte. Sie wollte es bei dem Auftritt in Barbara Mandrell’s Show in Kalifornien tragen. „Außerdem bin ich müde. Im letzten Monat habe ich innerhalb von zwei Wochen zwölf Städte besucht.“ Ihr Protest fiel in taube Ohren. Sie wußte es, bevor sie etwas sagte. „Wann soll ich denn bei all diesen Aktivitäten dazu kommen, mein Haus einzurichten?“ Sie deutete auf die Fenster, vor denen noch keine Vorhänge hingen, und auf das leere Zimmer, das hoffentlich bald ihr Schlafzimmer werden sollte. Howard hatte darauf bestanden, daß sie dieses Haus am Stadtrand von Nashville kaufte. Es war aus steuerlichen Gründen eine Notwendigkeit geworden. „Wir müssen das Eisen schmieden, solange es heiß ist, Cassie.“ Bo hatte sich einen Küchenstuhl ins Ankleidezimmer geholt, um die Anprobe beobachten zu können. „Wenn dein Auftritt in Barbaras Show gesendet wird, müßte dein drittes Lied schon in der Hitparade auf dem Weg nach oben sein. Die Zeitschrift ,Country Style’ will etwas über dich bringen – ein paar Fotos von deinem neuen Haus. Du weißt ja, so nach dem Motto: ,Der aufsteigende junge Star’.“ „Wie wäre es mit dem ‚erschöpften Star?“ fragte sie trocken. Bo zog einen Tabaksbeutel aus der Tasche und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Cassie schlüpfte aus dem weißen Satinkleid und ging zu ihrem riesigen Kleiderschrank. Nach kurzem Zögern entschied sie sich für ein schwarzes Leinenkleid mit bunten Blumen. Dazu trug sie Sandaletten mit hohen Absätzen. „Wann geht der Flug nach Los Angeles?“ Die Aussicht, in kurzer Zeit quer über den Kontinent und zurück zu Jetten, gefiel ihr ganz und gar nicht. Aber ihr war klar, wie wichtig der Auftritt in der Show für sie war. Es galt, Werbung für ihre neue Single zu machen. Außerdem wußte sie, daß sie fahren würde – ob es gefiel oder nicht. Cassie zog sich einen Scheitel und hielt das Haar mit dem handbemalten Schmetterling zusammen, den ihr ein Fan geschenkt hatte. „Du fliegst am Morgen des zehnten. Dann folgen zwei Tage Probe. Dein Teil der Show wird am dreizehnten aufgenommen.“ Bo sah auf und nickte wohlwollend, als sie zu ihm kam. „Du hast eine ziemliche Entwicklung durchgemacht, seit du Coyote Bend verlassen hast.“ Unter seiner Fassade eines gutmütigen Onkels verbarg sich ein geschickter Manager, der Cassies Gagen in kürzester Zeit in die Höhe getrieben hatte. Seit ihrem ersten Erfolg hatte sich die Zahl der Buchungen für sein Studio verdreifacht, aber er war nie zu sehr beschäftigt, um sich nicht persönlich um seinen Star zu kümmern. „Während du in Kalifornien bist, sollst du auch in der ,Tonight Show’ auftreten. Am folgenden Wochenende bist du bei einem Rodeo in Cheyenne, Wyoming, zu Gast. Dann folgen drei Shows in Denver.“ Er folgte Cassie durch den langen Korridor und las dabei in seinem Taschenkalender, in dem er alle ihre Verpflichtungen notierte. „Erspar mir das weitere“, stöhnte sie. Allein der Gedanke an die Hektik, die in
nächster Zeit auf sie zukam, machte sie müde. „Hände weg von dem Kartoffelsalat!“ Cassie hatte Scrappy auf frischer Tat ertappt. Sie entriß ihm die Schlüssel und ließ sie im Kühlschrank verschwinden. „Wir müssen heute für unser Abendessen singen, vergiß das nicht.“ Sie legte Folie über die Schlüssel. Den Salat hatte sie für einen Wohltätigkeitsbasar vorbereitet. „Du bist wirklich eine Fundgrube an Talenten, weißt du das eigentlich?“ Scrappy versuchte, gut Wetter zu machen. Ihm lief sichtlich das Wasser im Mund zusammen, als er zusah, wie Cassie ein knusprig gebratenes Hähnchen, den Kartoffelsalat und eine selbstgebackene Torte in einen Korb legte. „Ich habe mindestens ein halbes Dutzend Einladungen zum Essen“, fügte er hinzu, „aber das sieht einfach zu gut aus, um es sich entgehen zu lassen.“ „Kommt Rose mit uns?“ Cassie legte die Teller, Servietten und Bestecke zurecht, und mußte Scrappy erneut auf die Finger klopfen, um ihn von der Versuchung fernzuhalten. Dann band sie eine große, rote Schleife um den Griff des Korbes. „Wir sollen sie zu Hause abholen.“ Scrappy trat nervös von einem Bein auf das andere. Offensichtlich drängte es ihn danach, loszufahren. „Ihre Mutter gibt uns noch einige selbstgebackene Brote mit.“ „Ich weiß jetzt schon, wer für diesen Korb das höchste Gebot abgibt“, lachte Cassie, während sie die Haustür abschloß. „Ich frage mich eigentlich, was du lieber magst: Rose oder die Kochkünste ihrer Mutter.“ „Ein bißchen von beiden“, scherzte er. Cassie wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war, wann Scrappy sich von dem Tourneestreß zurückzog, um bei der scheuen, jungen Serviererin zu bleiben. Roses ruhige, beständige Liebe hatte Wunder gewirkt bei dem talentierten, rauhbeinigen Musiker. Scrappy war sich noch nicht bewußt geworden, daß er die TourneeRoutine über hatte, aber Cassie zählte bereits jeden kostbaren Tag mit ihm und bereitete sich innerlich darauf vor, daß sich ihre Wege bald trennen würden. „Wir wollen es einmal so probieren.“ Cassie hatte während ihrer Zeit in Kalifornien Stunden damit verbracht, im Geiste die Möbel in ihrem Haus aufzustellen. Tagträume vertrieben ihr die Zeit, wenn sie nicht gerade irgendwelche Größen des Showgeschäftes traf oder sonstwie damit beschäftigt war, Werbung für ihr neues Lied zu machen. „Auf jede Seite des Kamins eines“, wies sie die kräftigen Möbelpacker an, die die mit braunem Samt bezogenen Sofas an ihren Platz stellen wollten. „Und die Sessel hierher.“ Sie deutete auf die Stellen, die sie für die zu den Sofas passenden Sessel vorgesehen hatte. Ein schlichter Tisch aus wertvollem Walnußholz bildete den bestehenden Mittelpunkt der Sitzecke. Satinvorhänge unterstrichen die Behaglichkeit, die von der geschmackvoll zusammengestellten Einrichtung ausging. Cassie harte vor, als Blickfang irgendwo die vielen kleinen Schätze aufzustellen, die sie von Fans, Schallplattenhändlern und Agenten bekommen hatte. Es war eine Reaktion auf ihre spaßig gemeinte Bemerkung in der Fernsehshow, sie brauche jetzt etwas Zeit für Einkäufe, die aus ihrem Haus ein Heim machen sollten! „Ich habe schon mehr Danksagungen verschickt als eine Braut“, murmelte Cassie vor sich hin, während sie die sandfarbene Velourdecke glattstrich, die auf dem großen Eichenbett lag. Sie hatte sich mit der Einrichtung des Schlafzimmers besonders viel Mühe gegeben. Jedes Möbelstück zeugte von Geschmack. Das ganze Haus strahlte eine Atmosphäre aus, in der man sich wohl fühlen konnte. Wieso nur war sie bei alledem nicht in der Lage, sich zu entspannen und die
Früchte ihrer Arbeit zu genießen? Und wieso hatte sie Howard wieder aus ihrem Leben verschwinden lassen? Cassie kannte die Antwort auf all diese Fragen, aber sie haßte es, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Sie war noch nicht gut genug für ihn. All ihr Geld, all ihre harte Arbeit waren vergebliche Versuche, ihn zu gewinnen. Es tat weh, sich eingestehen zu müssen, den falschen Weg gewählt zu haben.
12. KAPITEL „Ich möchte meinen Vertrag mit dir lösen, Howard. Sobald unsere Anwälte Zeit haben, sollten sie sich zusammensetzen, um die finanziellen Fragen zu regeln. Dann werde ich die Vertragsrechte zurückkaufen. Du brauchst nur den Preis zu nennen.“ Cassies Miene war unbeweglich. Sie konnte Howards Blick nicht standhalten. Sollte er ihre plötzliche Forderung doch der Künstlerlaune oder anderen Gründen zuschreiben – sie wollte es in Kauf nehmen, ihn endgültig zu verlieren, wenn sie dafür ihren Stolz retten konnte. „Wir werden darüber sprechen, sobald du die neue Platte herausgebracht hast.“ Sein Ton blieb ruhig. Er war an diesem Morgen von Dallas in seinem Privatjet hierhergeflogen, um mit ihr die Details der Werbekampagne für die neue LP zu besprechen, die Bo mit ihr aufnehmen wollte. Sie selbst sollte alle Lieder schreiben. „Nein“, sagte sie. „Ich möchte es jetzt regeln.“ Immer wieder war er in ihr Leben getreten und hatte sie wieder verlassen, ohne sich über ihre Gefühle Gedanken zu machen. Sein Einfluß auf jeden Bereich ihres privaten und beruflichen Lebens machte sie wütend. Sie war versucht, ihm den Salat ins Gesicht zu schleudern und das Restaurant auf der Stelle zu verlassen. Statt dessen faltete sie die Hände auf dem Schoß und führte die Auseinandersetzung weiter. „Ich möchte von jetzt an meine Karriere selbst bestimmen.“ Sie sprach betont beiläufig, um ihn nicht spüren zu lassen, wie tief seine Gleichgültigkeit sie verletzte. „Wir haben unterschiedliche Ziele, Howard – so ist es schon immer gewesen. Dich interessiert nur eines: soviel Geld, Land und Leute wie nur irgend möglich unter deine Kontrolle zu bekommen.“ Ihre Lippen waren trocken. Nervös ließ sie ihre Zungenspitze darübergleiten. „Ich habe geglaubt, Geld sei das Wichtigste auf der Welt. Ich wollte viel Geld verdienen, weil ich dachte, dadurch zu einem besseren Menschen zu werden. Ich hoffte, dann würdest du in mir endlich die Frau sehen, die ich bin.“ Sie lächelte bitter. „Es hat nicht funktioniert. Was dich angeht, so bin ich nur eine Kapitalanlage.“ Trotzig hob sie den Kopf. „Ich möchte den Vertrag so rasch wie möglich lösen. Ich bin bereit, jeden Preis dafür zu zahlen.“ „Kein Gericht der Welt würde deinem Wunsch zu diesem Zeitpunkt entsprechen.“ Howards Blick schien sie förmlich zu durchbohren. „Ich habe eine unbekannte Sängerin gefördert, die nicht die leiseste Ahnung hat, was im Musikgeschäft läuft. Jetzt, wo sie ein wenig Erfolg hat, will sie ihre Dankbarkeit damit beweisen, daß sie mir einen Dolch in die Rippen stößt.“ Cassie bemerkte, daß er sich keine Mühe machte, abzustreiten, daß sein Interesse an ihr rein finanzieller Art war. Aber darüber durfte sie in diesem Moment nicht weiter nachdenken. „Du irrst dich in dieser Hinsicht ebenso wie schon in vielen anderen Fällen“, sagte sie ruhig. Es war gut, daß sie dieses Gespräch hier in der Öffentlichkeit führten. So hatte Howard keine Chance, sie mit seinen Verführungskünsten vom Thema abzubringen. „Wir werden uns dann natürlich nicht mehr sehen“, fuhr sie ernst fort. „Wir waren schon zu lange zusammen, und immer aus den falschen Gründen.“ In ihrem Innern schien sich alles zu verkrampfen, als sie auch noch die letzten Verbindungen zu ihm durchschnitt. Sie würde diesen Mann immer lieben, aber sie weigerte sich, ihm ständig zur Verfügung zu stehen, wann es ihm beliebte.
„Wir haben einen Vertrag miteinander. Ich bin mit diesem Vertrag sehr zufrieden.
Es ist mir einerlei, wie du dazu stehst.“
Seine kühle Feststellung überraschte sie. Er beugte sich zu ihr hinüber. Cassie
lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Plötzlich wurde ihr bewußt, wie jähzornig er
sein konnte. Er packte ihre Handgelenke. Es gab kein Entrinnen für sie.
„Du wirst die Verpflichtungen erfüllen, die sich aus diesem Vertrag ergeben. Ich
werde dafür sorgen – und wenn ich dich selbst jeden Morgen aus dem Bett
zerren und ins Studio treiben muß.“
Cassie wand sich vor Verlegenheit. Andere Gäste des Restaurants bemerkten ihre
Auseinandersetzung und sahen zu ihnen herüber. Sie haßte es, dermaßen im
Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.
„Du wirst bekommen, wofür du bezahlt hast – und nicht mehr!“ Ihr Zugeständnis
kam ihr nur schwer über die Lippen.
„Mehr habe ich auch nie erwartet, Cassie.“ Er lockerte seinen Griff.
„Wage es nicht, mich noch einmal zu bedrohen, Howard Temple, sonst könnte es
dir noch leid tun.“ Die Spannung zwischen ihnen lag greifbar in der Luft, als sie
aufstand und sich seinen Händen entzog.
Das unheildrohende Schweigen zwischen ihnen sagte mehr, als zornige Worte es
je vermocht hätten.
„Ich fliege morgen zurück nach Dallas, aber ich werde telefonisch mit Bo in
Verbindung bleiben.“ Er hatte seine Beherrschung wiedergefunden. „Sobald du
den Titelsong für die Platte fertig hast, laß es ihn wissen, damit er die Studiozeit
reservieren kann.“
Cassie ahnte nicht, wie deutlich sich der Schmerz über die Auseinandersetzung
auf ihren Zügen malte. Stumm nickte sie.
„Ober, bringen Sie mir bitte einen Bourbon.“ Für Howard war das Gespräch
beendet. Ihr Bruch mit ihm war vollzogen – nur beruflich hatte er noch die volle
Kontrolle über sie.
Am nächsten Morgen klingelte es an Cassies Haustür. Neugierig öffnete sie.
„Tut mir leid, daß die Lieferung erst jetzt erfolgt, Madam“, entschuldigte sich der
untersetzte Mann, „aber wir konnten erst um neun Uhr heute morgen zur
Zulassungsstelle fahren.“
„Da muß ein Irrtum vorliegen.“ Cassie öffnete den Umschlag, den er ihr gereicht
hatte, und überflog das Schriftstück.
Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. „Ich verstehe nicht… Ich habe
nichts bestellt…“
„Ist Mr. Temple nicht hier?“ Der Mann war nicht zu langen Erklärungen aufgelegt.
„Natürlich nicht!“ fauchte sie. „Was ist denn überhaupt los?“
„Ich bringe den Bus, den Mr. Temple bei uns bestellt hat.“
„Was?“ Howard hatte am vergangenen Abend nichts davon gesagt – allerdings
hatte sie ihm auch keine Gelegenheit dazu gegeben.
Der Mann deutete auf einen glänzenden, silberfarbenen Bus auf der Auffahrt.
„Ich glaube, Sie können den Empfang bestätigen. Mr. Temple hat die Rechnung
schon beglichen.“ Der Mann wischte sich die Stirn. „Sehen Sie, der Bus ist auf
Ihren Namen zugelassen.“ Er zeigte mit dem Finger auf die Wagenpapiere.
„Wenn Sie jetzt bitte unterschreiben würden, mache ich mich wieder auf den
Weg.“
Cassie war wie vor den Kopf geschlagen.
„Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Madam. Es ist alles in Ordnung.“
„Entschuldigen Sie – können wir noch einmal von Anfang an beginnen. Wollen
Sie behaupten, daß Howard Temple diesen Bus gekauft hat und daß Sie ihn bei
mir abliefern wollen?“
Ein eifriges Nicken bestätigte ihre Vermutung. „Es ist unser Luxusmodell, das wir auf seine Anweisungen hin auch noch extra umgebaut haben.“ Er blähte sich auf wie ein Pfau. „Der Bus hat eine Küche, zwei Schlafzimmer, ein Bad und einen Wohnbereich mit eingebauter Stereoanlage. Einen solchen Auftrag haben wir schon ewig nicht mehr bekommen, das können Sie mir glauben. Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles.“ „Großer Gott! Wir könnten den ganzen Winter hier verbringen und müßten nichts vermissen.“ Scrappy traf Cassie noch in einer Art Schockzustand über das unerwartete Geschenk an. Er lief durch den Bus, bewunderte die Ledersitze, inspizierte die Regale und stellte die Stereoanlage ein. „Hey, sieh mal! Das ist ja gut gemacht!“ Er blieb stehen, um die Collage von Kritiken zu lesen, die jemand aus den verschiedensten Zeitungen und Zeitschriften des Landes zusammengestellt und gerahmt hatte. „Hast du gelesen, was dieser eine Kritiker schreibt?“ Scrappy schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel, als er den Text laut vorlas: „Die Twisters haben wahrscheinlich schon in der Wiege Gitarre gespielt. Ihr eindrucksvolles musikalisches Talent zusammen mit Cassie Creightons gefühlvoller Stimme macht diese Gruppe zur Entdeckung des Jahres.“ „Bevor uns vor Stolz der Kamm schwillt, sollten wir besser auch an die schlechten Kritiken denken.“ Cassie betrachtete die Sache nüchterner. „Davon gibt es mindestens ebenso viele wie von den guten. Glaubst du, daß du dir zutrauen könntest, dieses Monstrum über die Straße zu bewegen?“ In Cassies Augen blitzte der Schalk. Sie wußte, daß es kein motorgetriebenes Vehikel gab, das Scrappy nicht nach kürzester Zeit bedienen konnte. „Mal sehen…“ Er setzte sich hinter das Steuer und vergaß alles um sich herum, während er das Armaturenbrett studierte. Cassie und die Twisters sollten eine kurze Tournee durch Alabama absolvieren, bevor sie nach Nashville zurückkehrten, um bei der jährlichen Versammlung der Diskjockeys aufzutreten. Der Kontakt zu den Männern und Frauen, die die Musikprogramme der Rundfunkstationen und Diskotheken zusammenstellten, war absolut lebensnotwendig für jeden Interpreten, der seine Musik so oft wie möglich gespielt hören wollte. Die Diskjockeys wandten grundsätzlich mehr Aufmerksamkeit auf die Neuerscheinungen der Interpreten, die sie persönlich kannten. Gewöhnlich machten sie sogar noch kleine Interviews mit ihnen und spielten sie in ihren Sendungen ein. Zwei Jahre harter Arbeit hatten sich ausgezahlt für Cassie. Jetzt besaß sie den Reichtum, den Ruhm und die Unabhängigkeit, die sie immer als das erstrebenswerteste Ziel ihres Lebens angesehen hatte. Es überraschte sie jedesmal erneut, wenn sie sah, wieviel Geld ihr die Tourneen und Schallplatteneinspielungen eingebracht hatten. Ein Hit war dem anderen gefolgt. Ihr nächster Song sollte in einem Monat erscheinen, und gleichzeitig bereitete sie die Veröffentlichung ihrer Langspielplatte vor. Sie saß allein in dem silbernen Bus. Scrappy war zum Telefon geeilt, um die Nachricht von ihrem neuen Spielzeug zu verbreiten. Ihr Gesicht war feucht von Tränen. Aus ihrem unschuldigen Traum vom Glück war ein Alptraum geworden. Mit Freuden hätte sie sofort auf alles verzichtet, was sie sich so mühsam erarbeitet hatte – für die Liebe eines Mannes. Ein leichter Herbstwind strich durch die gelben Tulpenbäume und den Ahorn. Cassies Garten war immer noch ein Blütenmeer. Die Hochzeitsgäste nahmen ihre Plätze auf den auf dem Rasen aufgestellten Banken ein. Cassie schritt in einem schicken, taubenblauen Kleid über den roten Teppich, der
den Mittelgang markierte. Sie schenkte ihren Gästen ein herzliches Lächeln. Als Bo auf halber Höhe zu ihr trat, legte sie ihren Blumenstrauß in den linken Arm und hakte sich bei ihm unter. Zusammen gingen sie auf den mit Weizenähren geschmückten Bambusbogen zu. Die Band spielte den Hochzeitsmarsch. Cassie sah sich um. Rose folgte ihr. Das Kleid aus weißem Satin betonte die schlanke Figur der ehemaligen Serviererin. Ein kostbarer Schleier bedeckte das goldblonde Haar. Roses Gesicht strahlte eine solche innere Freude aus, daß Cassie sie nur beneiden konnte. Man sah Scrappy an, daß der braune Samtsmoking etwas ungewohnt war für ihn. Nervös ließ er einen Finger unter seinem Hemdkragen entlanggleiten, der ihm zu eng zu sein schien. Dann trat er vor, um seine Braut in Empfang zu nehmen. „Wollen sie, Henry…“ Cassie warf dem Musiker einen ungläubigen Blick zu, als der Pfarrer die Trauungsformel sprach. „Henry?“ murmelte sie erstaunt und mußte lächeln, weil Scrappy vor Verlegenheit errötete. Er hätte ihr nie seinen richtigen Namen genannt. Als Scrappy und Rose das Ehegelöbnis sprachen, hatte Cassie irgendwie das Gefühl, beobachtet zu werden. Ihr lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Verstohlen drehte sie den Kopf etwas zur Seite und warf einen Blick auf die Hochzeitsgäste. Hatte sie jemanden übersehen, als sie den Gang entlangging? „Nach dem Gesetz des Staates Tennessee erkläre ich Sie hiermit zu Mann und Frau.“ Der Pfarrer lächelte wohlwollend. „Nun dürfen Sie die Braut küssen.“ Das ließ Scrappy sich nicht zweimal sagen. Er beugte sich vor und gab Rose einen herzhaften Kuß mitten auf den Mund. Cassie wandte sich um. Ihre Wangen glühten, als sie in Howards blaue Augen blickte. „Wer hat dich eingeladen?“ fauchte Cassie Howard an. Die Party war inzwischen in vollem Gang. Cassies Temperament drohte mit ihr durchzugehen. Sie nahm ein Glas Champagner vom Tablett eines der Kellner, die ihn herumreichten, und leerte es mit einem Zug. „Als Bo anrief, um mir zu sagen, daß die Diskjockeys dich zum besten Nachwuchsstar des Jahres gewählt haben, schaltete Scrappy sich in das Gespräch ein und fragte, ob ich nicht ein paar Tage eher kommen könne, um an seiner Hochzeit teilzunehmen.“ Howard hob sein Glas und lachte spöttisch. „Eine nette Party hast du hier organisiert, Cassie. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so gut amüsiert habe.“ Vielsagend blickte er zu einer rassigen Rothaarigen hinüber, die ihn anstrahlte. Cassie nickte kühl. Sie hoffte inständig, daß ihre Miene nicht verriet, wie es wirklich in ihr aussah. Sie hatte jede einzelne einsame Nacht gezählt seit jener Auseinandersetzung im Restaurant, aber Howard schien von dem Ganzen völlig unberührt geblieben zu sein. Nun, was sie anging, so konnte er lange warten, bis sie sich ihm noch einmal an den Hals warf, das war sicher! Cassie nahm die Komplimente ihrer Gäste über das gute Essen kaum wahr. Die Band spielte einen Blues, als Howard sie in seine Arme nahm. Instinktiv schmiegte sie sich an ihn. Sie tanzten, ohne ein Wort dabei zu sprechen. Cassie spürte die Wärme seiner Hand durch den dünnen Stoff ihres Kleides. Ihre eigene Hand spielte selbstvergessen mit seinem Haar. Spürte er, wie schnell ihr Herz schlug? Empfand er das gleiche Verlangen wie sie? Die selbe Sehnsucht? Sein Mund streifte ihre Schläfen. Cassie hob den Kopf. Sie öffnete die Lippen, als Howard sie fordernd küßte. Eine Woge neu entflammter Leidenschaft drohte über ihr zusammenzuschlagen. „Wo ist der Reis?“
„Jemand muß Cassie finden! Das Paar will abfahren!“ Sie löste sich aus Howards Armen. „Ich muß mich von Scrappy und Rose verabschieden.“ Ihr Ton verriet Bedauern. Howard nickte langsam. Sie konnte nicht einmal erahnen, was in diesem Moment in ihm vorgehen mochte. Sie strich sich das Kleid glatt und wandte sich ab. „Ich weiß wirklich nicht, wie wir dir je danken sollen, daß wir unsere Hochzeit hier feiern durften. Das werde ich niemals vergessen.“ Rose hatte sich inzwischen umgezogen und war bereit, in die Flitterwochen zu entschweben. „Versprich mir nur, daß du Scrappy rechtzeitig und gesund und munter wieder zurückbringst, so daß wir die Aufnahmen für die LP beenden können.“ Cassie drückte Rose die Hand und hauchte ihr einen Kuß auf die Wange. „Du kannst sicher sein, daß ich da sein werde.“ Scrappy drückte sie an sich, „Halt dich munter!“ Ihre Augen wurden feucht. Sie nickte. „Ich liebe euch beide“, flüsterte sie. „Werdet glücklich!“ Sie drehte sich um und rannte ins Haus. Es war albern, bei einem solch glücklichen Anlaß zu weinen, aber sie konnte nicht anders. „Ich werde dieses Haus verkaufen.“ Es war der Morgen nach der Hochzeit. Cassie saß mit Bo am Küchentisch. Sie hatten sich getroffen, um zu entscheiden, was sie zur Jahresversammlung der Diskjockeys tragen sollte. Außerdem mußte sie eine kleine Dankesrede entwerfen, die sie nach der Annahme des Preises halten wollte. Aber Cassie konnte sich nicht konzentrieren. Nach ihrem Tanz mit Howard am vergangenen Abend war er einfach verschwunden. Irgendwie hatte sie es schon geahnt, noch bevor sie ihre ergebnislose Suche nach ihm begann. Sie hatte sich einzureden versucht, der Kuß sei seine Art des Abschieds gewesen, aber dieser Gedanke war ihr kein Trost in den dunklen, einsamen Stunden vor dem Morgengrauen. „Vielleicht miete ich mir ein Apartement in der Stadt“, überlegte sie laut. „Oder ich könnte einfach in dem Bus leben. Das tue ich ja ohnehin die meiste Zeit auch jetzt schon.“ „Und wieso solltest du etwas derart Verrücktes tun wollen?“ Bo zog erstaunt die Brauen in die Höhe. Er tat zwei Löffel Zucker in den Kaffee. „Du hast doch gerade alles so, wie du es immer haben wolltest. Dies ist eines der hübschesten Häuser in ganz Nashville.“ „Die Einrichtung ist sehr schön, das stimmt. Aber es ist kein Zuhause für mich, Bo.“ Ihre Möbel und ihre Kleidungsstücke waren hier, ihr ganzer persönlicher Besitz – aber ihr Herz war woanders. „Wenn ich von einer Tournee zurückkomme und die Eingangstür aufschließe, habe ich das Gefühl, eine kalte, leere Grabkammer zu betreten.“ Ein wehmütiges Lächeln glitt über ihre Züge. „Ich bin hier ganz allein und vergeude all den Platz. Ein Heim soll man mit Menschen teilen, die man liebt.“ Das alte Farmhaus, in dem sie gelernt hatte, Howard zu lieben, war eher ihr Zuhause als diese elegante Villa. „Hier sollte irgendeine nette Familie leben, Bo.“ Sie strich ihm in einer fast tröstenden Geste über die Hand. „Kinder sollten hier aufwachsen und mit ihren Freunden spielen. In das Haus gehört Leben und Lachen.“ Es kostete sie eine unglaubliche Mühe, aber es gelang ihr, bei ihren Worten zu lächeln. „Frauen!“ Bo schüttelte den Kopf, als wolle er sagen, daß er sie nie verstünde. „Du wirst keine Schwierigkeiten haben, einen Käufer zu finden, falls das wirklich dein Wunsch ist.“ „Ja, das ist es.“ Ihre Antwort war ein tränenersticktes Flüstern.
Der Abend der Preisverleihung war da. Hinter der Bühne herrschte ein völliges Chaos – milde ausgedrückt. Cassie schminkte sich und verließ dann ihre Garderobe. Ein graubärtiger Star probte noch einmal sein Lied. Als Cassie stehenblieb, um zuzuhören, zwinkerte er ihr zu und gesellte sich dann zu einer Gruppe anderer Männer, um einen Drink zu nehmen. „Wieso hat man uns gebeten, derart früh zu kommen?“ Cassie beobachtete, wie ein Bühnenhelfer den Interpreten sagte, wo sie auf der Bühne zu stehen hatten. Cassie wollte sich nicht setzen, weil sie fürchtete, ihren weißen Hosenanzug zu beschmutzen. Der Bühnenhelfer war zu beschäftigt, um müßige Fragen zu beantworten. Cassie warf einen Blick auf den leeren Saal. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn das illustre Publikum, das für den heutigen Abend erwartet wurde, seine Plätze eingenommen hatte. Wieder spürte sie das altbekannte Lampenfieber in sich aufkommen. Eine langhaarige Sängerin und ihre Band hatten es sich an einem Ende des Korridors bequem gemacht und diskutierten, ob die Verstärker ausreichten. „Herzlichen Glückwunsch!“ Die dunkelhaarige Frau winkte Cassie lächelnd zu. Sie erwiderte den freundlichen Gruß. An der Eingangstür zu den Künstlergarderoben stand ein uniformierter Angestellter des Hauses. Er hatte einige Mühe, einem älteren Ehepaar geduldig zu erklären, wieso es unmöglich sei, jetzt mit Autogrammalben und Kameras hinter die Bühne zu kommen. „Weiß jeder, wo er sein soll und was er zu tun hat, wenn sein Name aufgerufen wird?“ Der Regisseur war mit seinen Nerven am Ende. Sarkastisch fügte er hinzu: „Und keine langen Reden bitte. Das Publikum will Musik hören, kein Geschwätz. Bedanken Sie sich für den Preis, singen Sie Ihr ‘ Lied und treten Sie ab. Wir können uns keine Minute Verlängerung leisten.“ Niemand außer Cassie schien seinen Anweisungen irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. Sie rieb ihre Hände aneinander, um sie ein wenig zu wärmen. Aus irgendeinem Grunde war sie nervös, aber es war etwas anderes als das übliche Lampenfieber, das sie heute plagte. Ihre Hände und ihr Gesicht fühlten sich an, als seien sie aus Eis und völlig erstarrt. Was den Beruf anging, hatte sie alles erreicht, wovon sie in Coyote Bend geträumt hatte. Aber goldene Schallplatten waren keine Garantie für Glück. Glänzende Trophäen konnten ihr keine Wärme geben, wenn der Applaus des Publikums verklungen war. Und die schönsten Kritiken blieben leere Worte, wenn sie die Freude darüber mit niemandem teilen konnte. „Miss Cassie Creighton?“ Eine Sekretärin kämpfte sich durch die Menge. „Eine Nachricht für Miss Creighton.“ „Hier bin ich.“ Cassie wischte die Tränen fort, die ihr in die Augen getreten waren, und bemühte sich, ihre Fassung wiederzuerlangen. „Können Sie ein kurzes Interview geben?“ wollte die Sekretärin wissen. „Draußen ist eine Reporterin, die etwas über die Preisträger des heutigen Abends schreiben möchte.“ Cassies Disziplin gewann die Oberhand. Vielleicht konnte ihr dieses Gespräch helfen, ihre Melancholie abzuschütteln und sich wieder auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. „Natürlich.“ Sie setzte ihr Bühnenlächeln auf. Die Sekretärin brachte Cassie in einen schwach beleuchteten Korridor, der etwas abseits des allgemeinen Trubels lag. Cassie nahm auf einem Klappstuhl Platz und sah die junge Reporterin erwartungsvoll an. „Ich werde Sie nicht lange aufhalten“, versprach die Frau, während sie ihr
tragbares Tonbandgerät einschaltete. „Nur ein paar kurze Fragen.“ Die ersten Fragen kannte Cassie bereits aus Hunderten anderer Interviews. Sie hätte sie schon im Traum beantworten können. Dann gab die Frau dem Gespräch plötzlich eine unerwartete Wende. „Bitte erzählen Sie mir etwas darüber, wie Ihr beruflicher Erfolg sich auf Ihr Privatleben ausgewirkt hat“, bat sie. Obwohl das Interview kurz sein sollte, versuchte sie offensichtlich, so viel wie möglich daraus zu machen. „Gibt es einen besonderen Mann in Ihrem Leben? Und wenn ja, was hält er von Ihrem Erfolg?“ Cassie atmete tief ein. Sie mußte sich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen und davonzurennen, so schnell ihre Beine sie tragen konnten. „Es gab einen Mann, der mir sehr viel bedeutet hat“, gestand sie. „Aber das ist nun schon seit einiger Zeit vorbei.“ Die Reporterin kannte keine Gnade. „Haben Sie das Gefühl, daß Ihre Karriere der Grund war für die Trennung? Konnte der Mann es vielleicht nicht ertragen, in Ihrem Schatten zu stehen?“ „O nein!“ Am liebsten hätte Cassie sich in ein Schneckenhaus zurückgezogen, aber es gelang ihr, die Frage halbwegs gelassen zu beantworten. „Er ist eine sehr viel stärkere Persönlichkeit als ich, sehr selbstsicher und erfolgreich in seinem eigenen Beruf. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, Erfolg zu messen, würde sich die Waage sicher zu seinen Gunsten neigen, denn er tut mit seinem Leben, was er wirklich möchte.“ „Wollen Sie damit etwa sagen, daß Sie es nicht tun? Ist es nicht Ihr Wunsch, Sängerin zu sein?“ Cassie starrte gedankenverloren auf die gegenüberliegende Wand. Sie merkte nicht, daß ein Schatten auf sie fiel. Jemand war hinter sie getreten. Vielleicht konnte es ihr helfen, ihren Schmerz über Howard zu überwinden, wenn sie mit dieser Fremden offen darüber sprach. Vielleicht konnte ihr das helfen, mit sich selbst ins reine zu kommen. „Es war immer mein Wunsch, Sängerin zu werden. Aber die Menschen, die regelmäßig von neun bis fünf arbeiten, wissen nicht, daß hinter all dem Glanz und der glitzernden Luxuswelt sehr viel harte Arbeit steckt. Stars opfern oft ihre Privatsphäre, manchmal sogar ihr Familienleben dem Erfolg. Ich glaube, jedes traurige Lied, das man so im Rundfunk hört, enthält irgendwo einen Funken echter Gefühle.“ „Möchten Sie eines Tages heiraten und eine Familie haben?“ „Oh, ich denke in dieser Hinsicht sehr konservativ. Wenn ich einmal heirate, soll das eine Verbindung für immer sein. In meinem Leben kann es nur einen Mann geben.“ Sie war so versunken in ihre Gedanken, daß es ihr in diesem Moment völlig gleichgültig war, daß sie ihre intimsten Gedanken preisgab. „Es hat eine Liebe gegeben in meinem Leben. Wenn ich diesen Mann nicht haben kann, will ich auch keinen anderen.“ Die Journalistin wollte gerade eine weitere Frage stellen, als Cassie sich abrupt verabschiedete. Ohne sich umzuschauen, begab sie sich wieder hinter die Bühne. Vage nahm sie den Applaus wahr, als einer der Stars seinen Preis überreicht bekam. „Trotz BühnenMakeup bist du bleich wie ein Geist.“ Die bekannte Stimme war die schönste Überraschung, die Cassie je widerfahren war. „Vielleicht brauchst du jemanden, der dich vor neugierigen Journalisten schützt.“ Cassies Herz schlug schneller, als Howard ihr den Arm um die Schultern legte. „Was willst du damit sagen?“ fragte sie und bemühte sich dabei, möglichst ungezwungen zu klingen.
„Zeitungsleute können sehr persönlich werden, wenn man nicht aufpaßt.“ Cassie verschlug es die Sprache. Was hatte er von ihrem Gespräch mit der Reporterin gehört? Sie versuchte, den Ausdruck seiner Augen zu entziffern. Dann lehnte sie sich an ihn. Es tat gut, seine Kraft und Wärme zu spüren. „Was machst du eigentlich hier?“ Ihre Frage war kaum zu hören bei dem allgemeinen Lärm, der sowohl vor als auch hinter der Bühne herrschte. Schweigend zog Howard ein gefaltetes Stück Papier aus der Jackentasche und reichte es ihr. Cassie überflog den Inhalt und sah ihn dann fragend an. „Ich verstehe nicht… Was soll das?“ „Du hast doch gesagt, daß du deinen Vertrag mit mir lösen möchtest. Hier hast du ihn zurück.“ In seinen blauen Augen stand unverhohlen Verlangen, als sein Blick über ihr Gesicht glitt. „Jetzt kannst du es der ganzen Welt verkünden: Cassie Creighton hat alles erreicht, was sie je haben wollte. Du bist frei.“ Seine Stimme war rauh geworden. Zärtlich drückte er sein Kinn in ihr Haar. „Nein, Howard. Ich habe nicht alles, was ich möchte.“ Sie drehte den Kopf etwas zur Seite, so daß sie ihm in die Augen sehen konnte. Jetzt oder nie! „Nanu?“ Er sah sie erstaunt an. „Ich möchte nach Hause fahren.“ Ihre Stimme war ruhig. Falls er sie nicht wollte… Nein, daran durfte sie jetzt nicht denken. „Willst du damit sagen, daß du nach Coyote Bend zurück möchtest?“ fragte er verblüfft. „Nein.“ Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie. Dieser Mann konnte sie ebenso leicht zerstören, wie er ihre Karriere aufgebaut hatte. „Ich möchte zurückkehren nach ,Diamond T.’ Ich liebe dich, Howard. Und es wird immer so bleiben.“ „Ich habe ziemlich lange warten müssen, um diese Worte endlich aus deinem Mund zu hören.“ Langsam glitt sein Finger über ihre Lippen. Sie wagte kaum zu atmen. „Ist es dein Ernst, Cassie? Du warst schon seit zwei Jahren nicht mehr auf der Ranch, und ich kann – und will – dich nicht bitten, deine Karriere für mich aufzugeben.“ Er versuchte zu lächeln, aber in seinen Augen schimmerte es verdächtig feucht. „Ich werde dir all die Liebe geben, die ein Mann einer Frau schenken kann, aber ist das genug? Dort auf der Ranch ist niemand, der dir applaudiert. Kannst du wirklich ohne den Glanz und den Ruhm leben?“ Sie nickte nur. „Der Applaus klingt ziemlich hohl, wenn man niemanden hat, mit dem man ihn teilen kann, Howard. Es ist schön, Fans zu haben, aber noch schöner ist es, zu wissen…“ Sie konnte nicht weitersprechen. Zu lange schon hatte sie mit dieser Hoffnung gelebt, und nun endlich schien sie sich zu erfüllen. „Außerdem habe ich gehört, daß Babys die nettesten Zuhörer sind, die man sich vorstellen kann. Ich dachte, ich stimme meine Gitarre neu und fange an, Wiegenlieder einzuüben.“ Ihr Gesicht strahlte eine innere Freude aus, die sich auch in Howards blauen Augen fand. „Howard…“ Sie zögerte. Es schien albern zu sein, sich in diesem Moment Sorgen zu machen, aber sie wollte einen sauberen neuen Anfang machen. „Was glaubst du? Wie wird Dina reagieren?“ „Dina?“ fragte er belustigt. „Sie hat ihr Warten auf mich schon vor langer Zeit aufgegeben. Sie hat einen reichen Ölproduzenten mit politischen Ambitionen gefunden.“ Er lachte leise. „Falls der arme Narr nicht vorsichtig ist, wird sie ihn noch dazu bringen, Gouverneur zu werden.“ Cassie schloß die Augen und atmete tief ein. Sie wollte noch so vieles sagen, aber das konnte warten. „Meine Damen und Herren“, sagte der Conferencier in diesem Moment, „ich freue
mich, Ihnen die beste Nachwuchssängerin des Jahres vorstellen zu dürfen Miss Cassie Creighton.“ Howards Lippen streiften ihren Mund. Sein Blick enthielt ein stummes Versprechen. Sie wußte, daß er es halten würde. Glücklich lief sie auf die Bühne hinaus. Auf ihren Zügen spiegelte sich die Liebe und das Gefühl, geliebt zu werden, wider. „Zuerst einmal möchte ich den Diskjockeys für diesen wunderschönen Preis danken.“ Sie preßte die goldene Statue an sich und reckte sich auf die Zehenspitzen, um das Mikrofon zu erreichen. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für eine Ehre es für eine einfache Farmerstochter aus Coyote Bend in Texas ist, hier heute auf diese Bühne zu treten und diesen Preis entgegenzunehmen.“ Cassie hob die Hand, um den Applaus aufzuhaltender aufbrandete. „Ich bin noch nicht fertig“, erklärte sie. Die Menge lachte, als sie die entsetzte Geste des Regisseurs ignorierte, der ihr bedeutete, sich zu beeilen. „Ich gebe es nicht gern zu, aber mein Manager sagt, ich rede wie ein Wasserfall, wenn ich in der richtigen Stimmung bin.“ Das Publikum lachte und lehnte sich in den Sitzen zurück, um ihr zuzuhören. „Diskjockeys und Fans – Sie sind alle unglaublich nett zu mir gewesen.“ Sie warf einen Blick zu Howard hinüber, der auf sie wartete. Ihr Ton wurde weich. „Jemand hat mir einmal gesagt, ich solle meine Herkunft nicht vergessen. Es sei falsch, sie zu leugnen. Es hat einige Zeit gedauert, aber dann begriff ich die Weisheit dieses Ratschlages. Ich begriff, daß ich stolz sein sollte auf das, was ich bin, auf meine Herkunft und auf mein Talent.“ Die Menschen schienen zu spüren, daß sie Zeugen einer wichtigen Entscheidung werden sollten. Cassie hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit aller. Sie drehte sich so, daß sie Howard direkt ansprechen konnte. „Das Lied, das ich jetzt singen werde, stammt von meiner neuen Langspielplatte. Die Lieder erzählen die Geschichte einer armen, aber starrköpfigen Frau, die einen reichen und ebenso starrköpfigen Mann liebt. Sie glaubt, sie müsse ihm beweisen, daß sie seiner würdig sei. Er unterstützt sie, indem er ihr alle Freiheiten läßt, die sie haben will und die sie fordert.“ Sie ließ ihren Blick über das Publikum wandern. Diese Menschen waren ihre Freunde, sie spürte es. „Im letzten Song kehrt das Paar zum Anfang seiner Beziehung zurück. Nun freue ich mich, Ihnen sagen zu dürfen, daß auch Cassie Creighton wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt.“ Sie holte tief Luft. „Ich habe dieses Lied dem Mann gewidmet, den ich liebe und den ich heiraten werde.“ Der Applaus war ohrenbetäubend. Cassie zog das Mikrofon vom Ständer und drehte sich wieder zu Howard herum. In seinen Augen las sie die Liebe, auf die sie all die Jahre gewartet hatte. ENDE