Atlan ‐ König von Atlantis Nr. 466 Dorkh
Ein Tunnel nach Lamur von Hubert Haensel
Magier in der Gewalt des ...
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Atlan ‐ König von Atlantis Nr. 466 Dorkh
Ein Tunnel nach Lamur von Hubert Haensel
Magier in der Gewalt des Duuhl Larx Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern und Besatzern zu tun bekommen, ist der Arkonide zusammen mit seinen Gefährten Razamon und Grizzard auf Veranlassung von Duuhl Larx, dem Herrn des Rghul‐Reviers, nach Dorkh gebracht worden, um dort eine Mission im Sinne des Dunklen Oheims zu erfüllen. Doch Dorkh, das Pthor in vieler Hinsicht gleicht, ist eine Welt voller Schrecken und voller Gewalt, und den drei Männern von Pthor wird bald klar, daß sie eine fast unlösbare Aufgabe vor sich haben. Ihre Fähigkeiten, widrigen Umständen zu trotzen und selbst in aussichtslosen Situationen zu überleben, sind jedoch so ausgeprägt, daß sie bisher alles überstanden haben, was Dorkh gegen sie aufzubieten hatte. Während Dorkh nun auf eine Reise ins Ungewisse geht, zusammen mit Atlan und seinen Gefährten, blenden wir wieder um nach Pthor, wo die Aktionen des Duuhl Larx, die in der Entführung Copasalliors und Koratzos gipfelten, für einige Aufregung unter den Magiern gesorgt haben. Jetzt will man versuchen, die Entführten zurückzuholen. Das Mittel dazu bietet EIN TUNNEL NACH LAMUR …
Die Hauptpersonen des Romans: Duuhl Larx ‐ Der Neffe will einen Kollegen beseitigen. Koratzo und Copasallior ‐ Zwei Magier in der Gewalt des Duuhl Larx. Glyndiszorn ‐ Der Knotenmagier schafft einen Tunnel. Querllo, Opkul, Antharia und Rischa ‐ Sie unterstützen Glyndiszorn in seinem Vorhaben. Theimor ‐ Ein Ugharte.
1. Im Schein der glühenden Wolke wirkte alles fremd und geheimnisvoll. Eine zerborstene Kristallsäule schien aufzuflammen, als das unstet flackernde Licht in ihre Nähe kam, eine Weile zitternd verharrte, dann aber rasch weiterglitt. Über dem westlichen Teil der Großen Barriere von Oth lag noch die Nacht, während ein heller Schimmer über dem Crallion bereits die heraufziehende Morgendämmerung ankündigte. Der böig auffrischende kühle Wind wirbelte Unmengen von Staub auf – dem rötlichen Leuchten aber, das sich immer weiter ausdehnte, vermochte er nichts anzuhaben. Innerhalb weniger Augenblicke zeigte sich der schmale Uferstreifen zwischen den Ausläufern der Barriere und dem Rand von Pthor in blendende Helligkeit getaucht, die keine Schatten kannte. Dennoch reichte die Sicht nur wenige Dutzend Schritte weit. Die Luft war erfüllt von kristallinen Staubschleiern. Dort, wo immer dann meterhohe Wellen gegen nackten Fels brandeten, wenn der Dimensionsfahrstuhl auf seinen Reisen durch Raum und Zeit in irgendeinem Ozean materialisierte, hatte sich der Abfall Hunderter namenloser Welten angehäuft. Wie viele von ihnen mochten nach der apokalyptischen Heimsuchung nie wieder zu dem geworden sein, was sie einmal gewesen waren? Jede Landung von Pthor löste planetenumspannende Katastrophen aus. Die drei ungleichen Wesen, die mit geradezu schlafwandlerischer
Sicherheit ihren Weg zwischen den vermodernden Zeugen versunkener Kulturen hindurch fanden, waren Magier. Niemand sonst hätte es gewagt, auch nur in die Nähe der Großen Barriere zu kommen. Zu tief verwurzelt war die Angst in den Völkern von Pthor – und zu frisch die Erinnerung an die Schrecken der letzten Tage, als die Herren von Oth um die Herrschaft kämpften. »Es ist ungemütlich hier!« Antharia, die Pflanzenmagierin, fröstelte. Ihre Stimme drückte mehr als nur Unbehagen aus. Je näher man dem Ziel kam, desto deutlicher und gleichzeitig bedrückender wurde die negative Aura, die dieses umgab. »Wenn wir nur wüßten, was uns erwartet. Wir hätten Opkul mitnehmen sollen oder Haswahu …« Lautes Gelächter antwortete ihr. Querllo war weit davon entfernt zuzugeben, daß auch er unter der Anspannung litt, doch das hinderte ihn nicht daran, sich auf diese Weise ein wenig Erleichterung zu verschaffen. »Es würde uns nichts helfen«, sagte er, »wenn Haswahu den Wind zum Schweigen brächte. Auch Opkuls Fernblick dürfen wir keine zu große Bedeutung beimessen – was könnte er uns zeigen, das wir nicht schon wissen? Und vergiß nicht Glyndiszorn. Er schätzt die Gefahr viel zu hoch ein, die uns droht. Je mehr von unserem Vorhaben wissen, desto eher wird auch der Knotenmagier davon erfahren und sich uns in den Weg stellen.« »Du hast recht«, nickte Rischa. »Nur wenn wir wirklich Erfolg haben, wird Glyndiszorn sich voll auf unsere Seite stellen.« »Wir haben schon ganz andere Dinge geschafft«, rief Querllo mit seiner schrillen Stimme. »Wenn niemand weiß, was wir Copasallior und vor allem unserem Freund Koratzo schuldig sind – ich jedenfalls weiß es …« Erstaunt unterbrach er sich, als Rischa ihm ihre zarten Hände auf die Schulter legte. Für eine Weile vergaß er darüber sogar seine Wolke, die, immer schneller werdend, nach Norden trieb, wo eine
halbe Tagesreise entfernt als nächste größere Ansiedlung die Stadt Wolterhaven lag. Erst Antharias Aufschrei schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. »Seht!« Mit zitterndem Arm deutete die Pflanzenmagierin in Richtung auf den Rand, wo sich vor den wallenden Nebeln ein Raumschiff erhob. Die schwarze, lichtschluckende Farbe seiner Außenhülle ließ es fast völlig mit den heraufziehenden Gewitterwolken verschmelzen. Obwohl das Schiff winzig war im Vergleich zu den Einheiten, die bisher auf Pthor gelandet waren, stellte es doch eine unverkennbare Drohung dar. »Wir dürfen uns nicht verunsichern lassen«, meinte Querllo, während er sich bemühte, seine Lichtwolke in unmittelbarer Nähe des Raumers zu stabilisieren. »Duuhl Larx ist mit diesem Schiff heimlich auf Pthor gelandet – na und? Wir haben den Schwarzschock heil überstanden, weshalb sollte uns also die böse Ausstrahlung schaden, die uns hier entgegenschlägt?« »Es wäre falsch, ausgerechnet jetzt umzukehren«, stimmte Antharia zu. Obwohl sie magische Sperren um sich herum errichteten, fiel ihnen ab einer bestimmten Entfernung jeder Schritt schwerer als der vorangegangene. Querllo schleuderte etliche Lichtlanzen, die mit Donnergetöse rund um das Schiff einschlugen, faustgroße Steine zersplitterten und den Boden unter mehreren Landetellern auflockerten. Der Frachter neigte sich ein wenig zur Seite. »Wenn jemand an Bord ist«, stellte der Lichtmagier fest, »muß er spätestens jetzt auf uns aufmerksam werden. Halte dich bereit, Rischa.« Die Feldermagierin nickte nur. Schweiß perlte auf ihrer Stirn und brannte ihr in den Augen. Übelkeit überfiel sie so plötzlich, daß sie sich vor Schmerzen krümmte. Querllo und die Pflanzenmagierin waren indessen unmittelbar
unter dem Raumschiff angelangt und suchten nach einer Möglichkeit, dieses zu betreten. Auch sie spürten immer deutlicher die Aura des Schreckens, die eine seltsame Leere in ihren Gehirnen hinterließ. Aber noch konnten sie widerstehen, noch war ihr Wille stärker, die sich selbst gestellte Aufgabe zu erfüllen. Etwa fünf Meter über dem Boden zeichnete sich ein Schott ab. Es war geschlossen. Mit fahriger Bewegung deutete Querllo in die Höhe. »Dafür bist du zuständig, Antharia. Irgendwie müssen wir dort hinauf.« Die Pflanzenmagierin hatte sich schon vorher umgesehen und etliche Gewächse entdeckt, die für sie in Frage kamen. Spontan entschied sie sich für einen fast mannshohen Busch mit dicken, biegsamen Ästen, der sein Laub zwar schon vor langer Zeit abgeworfen hatte, den aber immer noch Säfte aus der Tiefe des Erdreichs durchströmten. Ein erster Versuch zeigte ihr, daß die mehrere Meter lange Pfahlwurzel auch wirklich den Halt versprach, den sie sich von ihr erwartete. Querllo schien das alles viel zu lange zu dauern. Er wirkte ungeduldig und nervös. Hin und wieder schleuderte er einen Blitz über den Rand hinaus in die Schwärze des Alls. »Endlich«, brummte er mißgelaunt, als mehrere Äste des Busches zielstrebig zu wachsen begannen. Innerhalb weniger Minuten hatte die Pflanze das Schott erreicht. Sie entwickelte fingerlange, äußerst geschmeidige Triebe, die jedoch vergeblich nach einem verborgenen Öffnungsmechanismus tasteten. »Es hat keinen Sinn«, stöhnte Antharia schließlich. »Vielleicht sollten wir doch Glyndiszorn bitten, daß er uns einen Tunnel …« »Quatsch«, wehrte Querllo sofort ab. »Du mußt die Pflanze so in ihrer Struktur verändern, daß sie das Schott von außen her aufbricht.« Auch der Lichtmagier konnte sich dem immer stärker werdenden
Einfluß des Bösen nicht entziehen. Aber obwohl ihn schon das Sprechen anstrengte, dachte er nicht im geringsten daran, aufzugeben. Weshalb sollte alles umsonst gewesen sein? Es hatte ihn Mühe gekostet, die beiden Magierinnen zu überreden, daß sie ihn begleiteten. Und sie hatten wohl nur deshalb zugestimmt, weil es letztendlich darum ging, Koratzo und Copasallior zu helfen. Antharia schien sich förmlich zu verkrampfen, als sie erneut auf die Pflanze einwirkte, die mittlerweile eine Höhe von mindestens sieben Metern erreicht hatte. Ihre monoton gemurmelten Beschwörungsformeln bewirkten, daß die Pflanze immer feinere Triebe ausbildete, die sich schlangengleich über das Raumschiff wanden und in den winzigsten Ritzen Halt fanden. »Gut so«, lobte Querllo. »Rischa soll dir nun helfen, nachdem du die nötigen Ansatzpunkte für ihre Bänder geschaffen hast.« Er sah sich nach der Feldermagierin um, konnte sie aber nicht sofort entdecken. Lange, düstere Schatten hatten den Uferstreifen überzogen. Die ferne Sonne, die soeben über den Bergen aufging, wurde fast völlig von den sich immer höher auftürmenden Gewitterwolken verdeckt. »Rischa!« Keine Antwort kam, nur ein leises, verzerrtes Echo aus einem der unwegsamen Seitentäler der Barriere. Querllo stieß einige Flüche aus. Er zuckte zusammen, als Antharia gequält aufschrie. Fast gleichzeitig ertönte aus der Höhe herab ein kreischendes, durch Mark und Bein gehendes Geräusch. Abgerissene Pflanzenteile klatschten auf den Boden, die sich noch immer heftig wanden. Querllo wirbelte herum. Das heißt, er hatte es tun wollen, hielt aber mitten in der Bewegung so unvermittelt inne, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer geprallt. Die Welt begann sich um ihn herum zu drehen und versank innerhalb weniger Augenblicke in einem rasenden Wirbel.
Hart schlug Querllo auf den Boden auf. Er nahm nicht mehr wahr, daß die von ihm herbeigerufenen Blitze ihr Ziel fanden. Etliche Detonationen erfolgten in der nun weit offen stehenden Schleuse. Metall verflüssigte sich unter ungeheurer Hitzeeinwirkung. Übrig blieb das kaum meterhohe Wrack einer antimagischen Maschine – ein bis zur Unkenntlichkeit deformiertes Gebilde aus Drähten und Metall. Es war wohl nur Querllos instinktiver Abwehrreaktion zu verdanken, daß der Roboter nicht zum Schuß gekommen war, nachdem er bereits Teile der von Antharia präparierten Pflanze zerstrahlt hatte. Aber nun, nachdem das Schott geöffnet war, wurde die Ausstrahlung des Bösen ungleich stärker. Es traf den Lichtmagier mit verheerender Wucht, als er wieder zu sich kam. Erneut mußte er dagegen ankämpfen, daß ihm die Sinne zu schwinden drohten. Doch diesmal blieb er Sieger und kam taumelnd auf die Beine. Sekundenlang war er unschlüssig, während sein Blick zwischen der verkrümmt daliegenden Pflanzenmagierin und dem kunischen Raumfrachter hin und her pendelte. Antharia hatte alle Anmut verloren. Sie wirkte hilflos. Unmittelbar neben ihr krümmten sich meterlange Äste wie unter Schmerzen. Querllo achtete nicht auf die Frau, die in ihrem augenblicklichen Zustand für ihn ohnehin wertlos war. Er würde das Raumschiff nun auch ohne ihre Hilfe betreten können. Er hatte es geschafft – er ganz allein! Sollten sie nur kommen, die anderen, und versuchen, ihm seinen Erfolg streitig zu machen. Seine Lichtlanzen würden sie zerschmettern und ihnen zeigen, wer in Wirklichkeit der Herr war. Querllo – Herrscher über die Große Barriere von Oth … Der Lichtmagier lachte heiser auf. »Ich werde der König von Atlantis sein!« Er blickte hinauf zu der offenen Schleuse, die ihm wie eine Verheißung erschien. Querllo begriff nicht, daß das Böse ihn in Besitz genommen hatte. Für ihn hatte sich nichts verändert, aber er
begann sich zu fragen, weshalb er nicht schon längst seine Kräfte ausgespielt hatte, um die unsinnige Rangfolge innerhalb der Großen Barriere von Oth zu seinen Gunsten zu verändern. Erst die Ausstrahlung des Neffen Duuhl Larx hatte ihm die Augen geöffnet. Es mußte ein Wink des Schicksals sein, daß dieses Raumschiff ausgerechnet hier gelandet war und nicht irgendwo in der Senke der verlorenen Seelen oder der Ebene Kalmlech. Querllo sah sich nach einer Möglichkeit um, wie er den Frachter betreten konnte. Die wenigen dürren Äste, die noch immer in die Höhe ragten, schienen ihm nicht stabil genug. Aber es gab nichts anderes. Der Lichtmagier rüttelte an den Überresten des Busches. Überraschenderweise wirkten sie wie versteinert und waren wohl in der Lage, ihn zu tragen. Denn noch war er ein verkrüppelter Zwerg. Aber bald würde er selbst einem Neffen des Dunklen Oheims in nichts nachstehen. Ein Lächeln huschte über Querllos Züge, als er daran dachte, wie er den Gliedermagier Pyghor und die Organmagierin Resethe zwingen würde, seinen Körper zu verändern. Er steigerte sich in eine Euphorie hinein, die ihn alles um sich herum vergessen ließ. Erst als er mit einemmal zu keiner Bewegung mehr fähig war, fand er in die Realität des Augenblicks zurück. Querllo hatte die eigenen magischen Sperren vernachlässigt. Ein sträflicher Leichtsinn, der ihm vorübergehend die Gefahr vor Augen führte, in der er sich befand. Doch dann siegte der Haß auf Rischa, die ihm mit ihren magischen Bändern den Weg versperrte. Da er noch immer nicht erkennen konnte, wo sie sich aufhielt, schleuderte er zwei ungezielte Lichtlanzen hinter sich. Vielleicht ließ die Feldermagierin sich damit beeindrucken, zumal gerade in diesen Augenblick eine Serie natürlicher Blitze über das Firmament zuckte. Querllos hysterisches Kreischen übertönte jeden Donnerhall. Er forderte Rischa auf, ihn sofort freizugeben, andernfalls würde sie
sich wünschen, mit Jarsynthia und den anderen in die Verbannung gegangen zu sein. Seine Rache würde sie töten. Scheinbar von weither kam ihre Antwort, leise und für den Lichtmagier kaum verständlich: »Du rennst in dein Verderben, Querllo. Das Böse hat dich erfaßt. Setze dich endlich dagegen zur Wehr!« Aber der Lichtmagier stemmte sich nur mit aller Kraft gegen die unsichtbaren Fesseln. Er fühlte, daß sie nachgaben, sobald er sich ausschließlich darauf konzentrierte. Flackernd erlosch die Lichtwolke über dem Raumschiff. Es wurde schlagartig dunkel. Nur hin und wieder erhellten irrlichternde Blitze die Szene. Völlig unverhofft kam Querllo frei. Das geschah so plötzlich, daß er, vom eigenen Schwung getragen, vorwärts taumelte und schließlich stürzte. Unmittelbar hinter ihm begann der Boden blasenwerfend aufzuglühen. »Aufpassen!« Antharias Stimme überschlug sich fast. »Der Roboter!« Aus den Augenwinkeln bemerkte Querllo die kegelförmige Gestalt, die soeben aus der Schleuse schwebte. Unzählige Tentakelarme richteten sich auf ihn. Aber er empfand nichts dabei. Der Roboter war ein Freund, denn er war zusammen mit Duuhl Larx nach Pthor gekommen. Wenn er jetzt seine Waffen nach unten richtete, dann nur, um Rischa und die Pflanzenmagierin einer gerechten Strafe zuzuführen. Querllos Selbstvertrauen wurde schwer erschüttert. Sekundenbruchteile bevor ein gleißender Energiestrahl auf ihn zuraste, schleuderte ein harter Stoß in seinen Rücken ihn meterweit zur Seite. Dort, wo er eben noch gestanden hatte, tobte die Vernichtung. Der Roboter mußte fehlgeschaltet sein – das zumindest begriff Querllo in diesem Augenblick. Und er setzte sich zur Wehr. Etliche Lichtlanzen trafen ins Ziel. Vorübergehend wurde die kegelförmige Vernichtungsmaschine von blendenden Entladungen
eingehüllt. Dann aber trat sie daraus hervor, ohne erkennbaren Schaden genommen zu haben. Ihr Schutzschirm flackerte, zeigte jedoch keine Strukturrisse. Querllo begann zu laufen, so schnell ihn seine kurzen Beine zu tragen vermochten. Während er über Hindernisse hinweg sprang, baute er um sich herum eine nahezu vollkommene Finsternis auf, die selbst die antimagischen Ortungssysteme des Roboters nicht durchdringen konnten. Dennoch blieb die Maschine ihm hart auf den Fersen. Querllo ließ Funken entstehen, die seinem Gegner den Weg versperrten und explodierten, sobald sie Kontakt mit ihm bekamen. Aber auch das war vergebens. Doch plötzlich sank der Roboter zu Boden. Nur sein leuchtendes Linsensystem bewegte sich noch – und einer der Waffenarme trat in Tätigkeit. Im Widerschein der Einschüsse sah Querllo eine zierliche Gestalt fliehen. Rischa hatte kaum eine Chance. Die wenigen Deckungsmöglichkeiten, die ihr der Uferstreifen bot, hielten dem Feuer aus einer Strahlwaffe nicht stand. Die tödliche Glut hatte die Feldermagierin fast erreicht, als der Waffenarm des Roboters herumruckte. Zwei fast schenkeldicke Lianenstränge schlängelten sich über den Boden und griffen die Maschine an. Das war Antharias Werk. Als Querllo den Blick wieder ab wandte, konnte er Rischa nirgendwo mehr entdecken. Er verstand nicht, weshalb die beiden ihm zu Hilfe gekommen waren. Wenn sie es nur getan hatten, um später die Macht mit ihm zu teilen, würde er sie noch schneller beseitigen, als es ursprünglich sein Plan gewesen war. Noch kämpfte der Roboter gegen die Pflanze, die sich immer wieder auf ihn stürzte. Er bewegte sich dabei nicht eine Handbreit über den Boden – nur seine Tentakelarme befanden sich in ununterbrochener, wirbelnder Bewegung.
Die erneute Erfolglosigkeit zweier Lichtlanzen zeigte Querllo, daß der Roboter nach wie vor von einem energetischen Schirmfeld umgeben war, das offensichtlich nur von festen Gegenständen durchdrungen werden konnte. Sollten die beiden Magierinnen sich damit befassen. Für ihn war jetzt endgültig die Zeit gekommen, sich an Bord des Raumschiffs zu begeben, von wo aus er mit einiger Wahrscheinlichkeit sofort die Initiative ergreifen konnte. Das Gewitter wurde heftiger. Im Schein mehrerer kurz hintereinander folgender Blitze bemerkte Querllo einen wohl tonnenschweren Felsblock, der von der Barriere aus herüber schwebte. Von unsichtbaren Bändern gehalten, bewegte er sich zielstrebig auf den Roboter zu. Aber Querllo kümmerte sich nicht weiter darum. Sekunden später erzitterte der Boden unter seinen Füßen. Rischa hatte den Felsen aus großer Höhe fallen lassen. Sein Instinkt sagte Querllo, daß der Roboter nicht mehr existierte und mahnte ihn gleichzeitig zur Eile. Beinahe hatte er den Frachter erreicht, dessen Schleuse noch immer weit offen stand, als er einen schmerzhaften Schlag gegen seine Schläfe spürte. Entsetzt schrie er auf. Aber es war zu spät, um magische Sperren aufzurichten. Ein zweiter Schlag riß ihm die Beine weg. Im Fallen starrte Querllo dem nur faustgroßen Stein hinterher, der noch meterweit über den Boden rollte, bevor er zur Ruhe kam. Die Schmerzen waren fürchterlich. Sie lähmten zwar seine Bewegungen, raubten ihm aber nicht das Bewußtsein. Der Lichtmagier begann zu begreifen, daß nicht allein der Stein, mit dem Rischa ihn niedergeschlagen hatte, daran Schuld haben konnte. Es mußte etwas anderes sein, das sich seinem Denken entzog. Während er noch darüber nachdachte, wurde er sanft angehoben. Etwa einen Meter über dem Boden schwebte er dann auf die nahen Berge zu, ohne selbst etwas dagegen unternehmen zu können. Je weiter Querllo sich von dem Raumschiff entfernte, mit dem Duuhl
Larx gelandet war, desto klarer wurden seine Gedanken. Es begann zu regnen. Wahre Sturzbäche ergossen sich aus den tiefhängenden Wolkenbänken. Das kühle Wasser brachte den Lichtmagier vollends zur Besinnung. Der Einfluß des Bösen verschwand, hinterließ jedoch den Eindruck eines körperlich erlebten Alptraums. Endlos lange Minuten vergingen, bevor Querllo unter dem Schutz eines überhängenden Felsplateaus abgesetzt wurde. Die beiden Magierinnen erwarteten ihn bereits. Der Lichtmagier bemerkte die mißtrauischen, feindseligen Blicke, mit denen sie ihn musterten. Er versuchte ein beruhigendes Lächeln, aber es wurde nur eine verzerrte Grimasse daraus. »Ich bin wieder in Ordnung«, beeilte er sich deshalb zu sagen. »Was geschehen ist, tut mir leid.« »Keine Nachwirkungen?« fragte Rischa. Querllo verneinte. Doch dann, als die Feldermagierin ihn endlich von den unsichtbaren Fesseln befreite, tastete er spontan nach der recht ansehnlichen Beule, die seine Schläfe zierte. »Pyghor bringt das schnell wieder in Ordnung«, versicherte Antharia. »Dich trifft keine Schuld«, sagte Rischa. »Wenn man davon absieht, daß du dich viel zu nahe an das Schiff herangewagt hast. Der Einfluß des Bösen, der noch immer davon ausstrahlt, ist zu stark, als daß man ihm lange widerstehen könnte. Auch mich hätte es beinahe erwischt, nur konnte ich mich noch rechtzeitig zurückziehen.« »Der Frachter ist also tabu für uns«, stellte Querllo niedergeschlagen fest. »Sicher wird die negative Ausstrahlung des Neffen irgendwann verfliegen, wenn dieser das Schiff nicht wieder betritt. Aber bis dahin ist es mit Sicherheit zu spät, um Copasallior und Koratzo noch wirksam helfen zu können.« »Es gibt andere Wege«, erinnerte Antharia. »Noch sind wir nicht darauf angewiesen, daß wir uns unbedingt antimagischer
Erfindungen bedienen müssen. Glyndiszorn zum Beispiel …« »Glyndiszorn«, keifte Querllo. »Der Knotenmagier hat seinen eigenen Kopf, den er leider auch durchzusetzen versteht. Ich halte ihn für zu mißtrauisch. Was kann schon geschehen, wenn er versucht, einen Tunnel aufzubauen, um die beiden aus der Gewalt des Neffen zu befreien. Immerhin sind wir alle gewarnt.« »Wir werden sehen«, erwiderte Antharia nur. »Eine Befreiungsaktion läßt sich eben nicht ohne die unbedingt notwendige Vorbereitungen durchführen.« * Pyghor reizte die Aufgabe, die man ihm und der Organmagierin Resethe gestellt hatte, aber er war doch gleichzeitig unzufrieden. Das Gefühl, im Grunde genommen unwichtig zu sein, ließ sich nicht verdrängen. Es hatte Magier gegeben, die über ähnliche Fähigkeiten verfügten wie Pyghor und Resethe – mächtige Magier, deren Schicksal sich jedoch erfüllt hatte, als sie zusammen mit Jarsynthia, Wortz und vielen anderen in den Höhlen des Skatha‐Hir in die Verbannung gegangen waren. Für sie gab es keine Rückkehr mehr, falls sie überhaupt noch unter den Lebenden weilten. Denn wenn es ihnen nicht gelungen war, in ihrer neuen Heimat ein energetisches Gleichgewicht aufzubauen, wie dieses in den Bergen der Großen Barriere von Oth existierte, war ihnen nur eine kurze Zukunft beschieden gewesen. Und gerade deshalb fühlte Pyghor sich zurückgesetzt, weil man ihn erst geholt hatte, als man auf seine Fähigkeiten angewiesen war. Vorher hatte man sie nur geduldet, die »Magier vom Rand«. Fünfzehn mochten es zur Zeit noch sein, die in den Ausläufern der Berge lebten – südlich des Tales der Käfer. Ebenso wie die Organmagierin Resethe war Pyghor ein Hominide
von äußerst kleinem Wuchs, dessen tiefschwarze, leblos wirkende Augen in eigenartigem Kontrast zu der dunkelbraunen Hautfarbe standen. Als Gliedermagier verstand Pyghor sich darauf, die äußere Gestalt, praktisch das gesamte Erscheinungsbild eines jeden Lebewesens zu verändern, während Resethe Einfluß auf die Funktion und Leistungsfähigkeit innerer Organe nehmen konnte. Vor allem sie vermochte mit der Kraft ihrer Magie jedes Herz zum Stillstand zu bringen, während es ihr andererseits möglich war, Tote wieder zum Leben zu erwecken. Daß solche Vorgänge keineswegs innerhalb von Augenblicken den gewünschten Erfolg brachten, verstand sich von selbst. Je komplizierter der Zellaufbau und die biologische Struktur eines Lebewesens war, desto mehr Zeit mußte dafür aufgewendet werden. Ähnlich, wenn nicht gar weitaus diffiziler, verhielt es sich mit dem Körper jenes Mannes, den Glyndiszorn mit dem Namen Kennon bezeichnet hatte. Körper und Geist, die über lange Zeit hinweg voneinander getrennt gewesen waren, hatten nicht mehr zueinander gefunden, als die Magier während ihrer negativen Phase des Schwarzschocks die Wiedervereinigung anstrebten. Das Bewußtsein von Sinclair Marout Kennon oder auch Lebo Axton (beide Namen waren zutreffend, wie der Gliedermagier wußte) hätte in seinen angestammten Körper zurückkehren müssen – was es aber aus unerfindlichen Gründen nicht tat. Ob am Ende die vielfältigen magischen Sperren Schuld daran waren, die Glyndiszorn rund um seinen Wohnsitz errichtet hatte, um ungebetene Besucher fernzuhalten, wußte niemand. Immerhin ruhte der leblose Körper Axton‐Kennons in einer der vielen Höhlen des Gnorden. Gliedermagier Pyghor war allerdings ganz anderer Ansicht. Was immer man sich unter einem Bewußtsein vorzustellen hatte, es befand sich zweifellos »in unmittelbarer Nähe«, denn wie sonst hätte der Körper noch immer Leben in sich bergen können. Eine leere, unbeseelte Hülle aus Fleisch und Blut hätte selbst Pyghor und Resethe vor schier unüberwindbare Schwierigkeiten gestellt. Nie
würde es ihnen gelingen, das, was die Persönlichkeit Kennons ausmachte, wieder zum Vorschein zu bringen. Und mit einem wandelnden Leichnam war niemanden gedient, am allerwenigsten dem zu diesem Zeitpunkt wohl mächtigsten Magier von Oth, Glyndiszorn, dessen mißtrauische Aufmerksamkeit Pyghor zutiefst verletzte. Der Gliedermagier fühlte das Mißtrauen gegen sich gerichtet, wohl weil er sich etwas anderes nur schwerlich vorstellen konnte. Der Gedanke, daß das Bewußtsein des Terraners vor der schwächlichen, verkrüppelten Hülle zurückschreckte, war Pyghor nicht neu. Aber schließlich war er gekommen, um Axton‐Kennon mit seinen Fähigkeiten zu helfen. Zusammen mit der Organmagierin Resethe hatte er inzwischen auch einen ansehnlichen Erfolg aufzuweisen. Aus Kennons halb verfaultem Körper war wieder etwas geworden, was man guten Gewissens als Mensch bezeichnen konnte. Was jetzt noch zählte, war die Seele des Terraners. Würde sie den Weg zurück finden? Nachdenklich betrachtete Pyghor den reglosen Körper. Innerhalb weniger Minuten versank er in jene starre Konzentration, die Ausdruck seiner hingebungsvollen Tätigkeit war. Es ist schwer zu erklären, welcher Kräfte sich Pyghors Magie bedient, welche heilsamen Energien er den vielfältigen Strömungen des Kosmos entzieht. Er selbst könnte dies wohl am besten, und außer ihm sicher nur einige der Mächtigen. Der Organmagier nahm Kennons flachen, unregelmäßigen Herzschlag wahr; er spürte, wie das Blut durch die Adern floß und die Lungen mit jedem Atemzug Sauerstoff aufnahmen. Pyghor ließ sich treiben – Stabilisierung fand er wie von selbst dort, wo er zuletzt den Grundstein für einen neuen Aufbau gelegt hatte. Die Keime im Zahnbett waren aufgegangen. Pyghor stimulierte sie zu schnellerem Wachstum. Ein herrliches Gefühl, miterleben zu können, wie in Minutenschnelle neue Zähne
entstanden – Zähne, die besser waren als alles, was ein Mensch von Natur aus mitbekam. Kennons Körper würde schöner und leistungsfähiger werden, als er je gewesen war. Der Gliedermagier war zufrieden mit sich und seiner Arbeit, und sicher würde auch Glyndiszorn den Erfolg zu würdigen wissen. Ein Schrei schreckte Pyghor aus seinen Überlegungen auf – ein Schrei, in größter Verzweiflung ausgestoßen. Es war mehr als nur bloßes Entsetzen, das sich darin ausdrückte. Resethe begann wie besessen um sich zu schlagen. Der Gliedermagier wollte ihr zu Hilfe eilen, doch auch ihn überfiel völlig unvorbereitet das Fremde. Der Zusammenprall war ungeheuer schmerzhaft. Für Augenblicke verlor Pyghor jegliche Kontrolle über sich selbst. Eine schwarze, lichtlose Unendlichkeit öffnete sich vor ihm, erfüllt von wisperndem Leben und bereit, ihn für immer in sich aufzunehmen. Ein starker Sog machte sich immer deutlicher bemerkbar, der die beiden Magier beeinflußte und sie zwang, von Axton‐Kennon abzulassen. Vorübergehend hatte Pyghor das unbestimmte Gefühl, der Geist des Terraners wolle ihn daran hindern, seinen Körper wiederherzustellen. Aber noch ehe er diese Empfindung konkretisieren konnte, versank die Welt um ihn herum in völligem Vergessen. Pyghor bemerkte das Wesen nicht mehr, das plötzlich in der Höhle stand. Es war beinahe kugelrund, hatte seltsam rote Haut und sah sich mit einem deutlichen Ausdruck des Erschreckens um.
2. Furcht, Beklemmung und Resignation regierten an Bord der HERGIEN. Schuld daran, daß das Organschiff seit mehr als einem halben Tag im Raum zwischen Pthor und dem Planeten Lamur hing, war ein von dessen Galionsfigur aufgefangener Funkspruch, der inhaltlich besagte, daß der Neffe Thamum Gha vorübergehend nicht auf seiner Zentralwelt weilte. Duuhl Larx spielte offensichtlich ein gefährliches Spiel, denn immerhin hatte er schon auf Pthor lautstark verkündet, daß er Thamum Gha umbringen würde. Wußte der Herrscher über das Guftuk‐Revier bereits von diesen Plänen und hatte er Lamur deshalb verlassen? Dann bestand die Gefahr, daß Thamum Gha seinerseits Mordpläne ausheckte. Doch Duuhl Larx schien derlei Befürchtungen nicht zu kennen. Seine Flammenaura wirkte bedrückend auf die unfreiwilligen Passagiere der HERGIEN. Das Organschiff stand noch dazu in unmittelbarer Nähe der gelben Sonne, deren schwarzer Kern auf den Bildschirmen ungewöhnlich stark ausgeprägt erschien. Eine unheilvolle Stille war an Bord eingekehrt. Wie Marionetten erledigten einige Ugharten Routinearbeiten, während die anderen scheinbar versteinert auf Befehle warteten, die nicht kamen. Eine Wand aus Haß und Verzweiflung hatte sich aufgebaut, fast körperlich spürbar, aber doch völlig unbedeutend. Duuhl Larx schien die gegen ihn gerichteten Emotionen nicht wahrzunehmen, allerdings befand sich jemand an Bord der HERGIEN, der ziemlich genau wußte, was die Ugharten, die ausschließlich dem Neffen Thamum Gha treu ergeben waren, dachten. Dieser Jemand war Koratzo, der Stimmenmagier. Auch seine Gedanken überschlugen sich förmlich und suchten nach Auswegen aus der hoffnungslos scheinenden Lage. Aber alles war undurchführbar, wenn Koratzo es genau
betrachtete. Denn Denken und Handeln waren nicht nur für ihn zwei grundverschiedene Dinge. In Wirklichkeit hätte er nicht einmal den kleinen Finger gegen den Neffen erheben können, und das trotz seiner magischen Kräfte, die ihn nie im Stich gelassen hatten. Koratzos Selbstbewußtsein war arg angeschlagen, seit er Duuhl Larxʹ wahre Stärke erkannt hatte. Selbst Copasallior, der Weltenmagier, schien hilflos. Nur war es ganz und gar nicht die Art des ehemaligen Rebellen aus der Tronx‐Kette, untätig der Dinge zu harren, die irgendwann kommen würden. Es fiel ihm ungeheuer schwer, in den Gehirnen der anderen zu spionieren – an Copasallior und vor allem den Neffen kam er überhaupt nicht heran. Doch einige Ugharten hegten ausgesprochen rachgierige Gedanken. Die Ugharten waren bereit, selbst ihre eigene Existenz zu opfern, um Duuhl Larx in den Tod zu reißen. Und dann kam er. Die Flammen, hinter denen er sich verbarg, schienen heller als jemals zuvor. Der Neffe stieß einige der Umstehenden recht unsanft beiseite und ließ sich hinter den Hauptkontrollen nieder. Er wandte sich an die Galionsfigur der HERGIEN, wobei er das Axhara benutzte, die Einheitssprache des Guftuk‐Reviers, die sich ziemlich stark vom Garva‐Guva und dem Gonex unterschied, zweifellos aber mit beiden verwandt war. Koratzo hatte zuerst einige Schwierigkeiten, der hastig geführten Unterhaltung zu folgen, schaffte es aber schnell, einen Teil der Gedanken der Galionsfigur für sich hörbar zu machen. Es überraschte ihn nicht im geringsten, daß Duuhl Larx im Begriff stand, die Geduld zu verlieren. Der Neffe konnte es kaum noch erwarten, Lamur endlich zu betreten. »Ist eine Landung in unmittelbarer Nähe des Palasts möglich?« »Der Sitz von Thamum Gha befindet sich rund 50 Kilometer vom westlichen Rand des Landefelds entfernt«, erklärte die Galionsfigur. »Kein Raumschiff darf sich bis auf kürzere Entfernung heranwagen,
ohne sofort unter Beschuß genommen zu werden.« »Wo hält sich der Gersa‐Predogg Wallcorm auf?« »Wer ist das?« lautete die verständnislose Gegenfrage. »Vergiß es«, meinte Duuhl Larx daraufhin sofort. Irgend etwas in Koratzo schlug Alarm. Er hätte viel dafür gegeben zu wissen, weshalb der Neffe sich plötzlich für den Gersa‐Predogg Thamum Ghas interessierte. Zu deutlich erinnerte er sich an die Auswirkungen des Schwarzschocks und daran, welche Rolle dabei einer dieser kastenförmigen Roboter gespielt hatte. Beabsichtigte Duuhl Larx nun etwas Ähnliches – wollte er sich an dem Gersa‐ Predogg des Neffen Thamum Gha schadlos halten, nachdem der Neffe selbst für ihn noch unerreichbar war? »Ich befehle, Lamur anzufliegen! Du wirst rechtzeitig erfahren, wo du zu landen hast.« Damit wandte der Neffe sich dem Stimmenmagier zu. Wieder konnte Koratzo sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Duuhl Larx, wie immer er aussehen mochte, nicht nur von Flammen umhüllt war. Etwas anderes, viel Gefährlicheres schien ihn zu umgeben – eine unsichtbare Aura des Schreckens, dunkel wie die Zentrumskerne der Sonne innerhalb der Schwarzen Galaxis, beklemmend und düster. Koratzo schauderte, als der Neffe auf ihn zukam, und es fiel ihm schwer, jetzt noch einen klaren Gedanken zu fassen. Es war, als würde etwas unsagbar Fremdes in ihn eindringen. Der Stimmenmagier zitterte. Schweiß brach ihm aus allen Poren. Obwohl er die Augen geschlossen hielt, fühlte er doch mit erschreckender Deutlichkeit, daß Duuhl Larx unmittelbar vor ihm stand und ihn anstarrte. »Du bist impulsiv und unbeherrscht, Koratzo«, höhnte der Neffe. »Aber selbst du kannst mir nicht widerstehen. Wisse, daß ich sehr bald mächtiger sein werde, als es der Dunkle Oheim jetzt noch ist. Du und Copasallior, ihr werdet mich auf meinem Weg begleiten, als Sklaven, deren Kräfte mir eine Hilfe sind. Öffne endlich die Augen!
Öffne sie und sieh mich an, deinen Herren!« Koratzo mochte sich innerlich noch so sehr dagegen sträuben, er kam nicht umhin, dem Befehl Folge zu leisten. Ein erstickter Schrei drang über seine Lippen. Duuhl Larx lachte nur und wandte sich abrupt ab. Die HERGIEN hatte mittlerweile den Sonnenorbit verlassen. Es war damit zu rechnen, daß sie bereits in diesem Augenblick von den Ortungsstationen auf Lamur erfaßt und identifiziert wurde. Aber da das Organschiff zur Flotte der Ugharten gehörte und die Galionsfigur jeden Funkspruch durchaus im Sinne von Duuhl Larx beantworten würde, gab es keinen Anlaß zu Befürchtungen, gleich welcher Art. Zumindest bis zur Landung waren Komplikationen ausgeschlossen. Nur – was kam dann? Koratzo verdrängte alle diesbezüglichen Überlegungen. Verzweifelt versuchte er, Kontakt zu Copasallior zu bekommen. Der Weltenmagier stand am anderen Ende der Zentrale, hatte alle sechs Arme vor der Brust verschränkt und gab sich im übrigen unbeteiligt. Wenn es ihm nicht möglich war, zu fliehen, dann konnte niemand aus der Gewalt des Neffen entkommen. Koratzo wußte das nur zu genau, und er machte sich in dieser Hinsicht kaum noch Hoffnungen. Endlich wurde Lamur auf den Bildschirmen sichtbar. Eine kleine Welt mit überaus stark abgeflachten Polen und einer exzentrischen Umlaufbahn. Im Augenblick lagen weite Landstriche unter Schnee und Eis verborgen, und nur rings um den Äquator schien eine üppige Vegetation zu gedeihen. Die Verhältnisse auf dem Planeten ließen extreme klimatische Bedingungen erwarten. Wahrscheinlich war es so, daß auf einen langen und kalten Winter eine kurze Zeit des Übergangs folgte und dann sofort ein überaus heißer Sommer, in dessen Verlauf die Polkappen bis auf ein Minimum zusammenschmolzen und riesige Überschwemmungen hervorriefen. Da die Planetenachse fast senkrecht zur Ekliptik stand, gab es kaum Unterschiede zwischen
Nord‐ und Südhalbkugel. Die Meere, die gut zwei Drittel der gesamten Oberfläche bedeckten, waren von tiefschwarzer Färbung. Die Vergrößerung zeigte nur zwei Kontinente, auf denen weitflächige Ansiedlungen existierten. »Unter uns liegt Gaudhere«, erklärte die Galionsfigur. »Dort befindet sich auch der Raumhafen.« Lamur schien eine alte Welt. Nirgendwo gab es Bergzüge von mehr als mittelgebirgsähnlichem Charakter. Der Kontinent, den die HERGIEN anflog, erwies sich als vielfältig zerklüftetes Hochplateau, das von den Fluten des Sommers nicht erreicht werden konnte. Schlammbedeckte Küstenstreifen waren Zeugen des regelmäßig wiederkehrenden Hochwassers. Das Organschiff tauchte in die äußeren Ausläufer der Atmosphäre ein, und damit begann jene Phase, die nur schwerlich allein von der Galionsfigur kontrolliert werden konnte. Duuhl Larx war darauf angewiesen, daß einige Ugharten den Landeanflug überwachten. Sie folgten seinen Befehlen, ohne zu zögern, was Koratzo mit Bedauern zur Kenntnis nahm. Denn der Magier hielt jetzt den günstigsten Zeitpunkt für gekommen, um sich aus dem Bann des Neffen zu befreien. Tatsächlich fiel es ihm leichter, die Gedanken der anderen zu erfassen, während Duuhl Larx sich ausschließlich auf die Landung konzentrierte. Koratzo ließ seine magischen Sinne wandern. Aber was er »hörte«, war nicht viel mehr als Stumpfsinn und widerwillige Ergebenheit. Der Neffe war ihnen zu nahe; keiner der Ugharten hatte in diesem Zustand auch nur die Spur einer Chance, dem geistigen Zwang zu entkommen. Keiner? Koratzo glaubte schon, seinen eigenen Hoffnungen erlegen zu sein, als erneut die Stimme in seinem Inneren erklang, die nichts anderes war als die mit magischen Sinnen hörbar gemachten Gedanken eines Ugharten.
Welcher war Theimor, der sich selbst schon als gefeierten Helden an der Seite Thamum Ghas sah? Vor Erregung fiel es Koratzo schwer, die Quelle der Impulse zu lokalisieren. Die Stimme sagte ihm, daß der Ugharte nicht nur Herr seiner Gedanken war, sondern daß er sich auch nahezu frei bewegen konnte. Die Bremsdüsen zündeten … Höhe über Gaudhere noch rund fünfhundert Kilometer. Der Gedanke an Sabotage wurde laut. Koratzo hörte die Vorstellung von einem ausglühenden Wrack, in dem Duuhl Larx sein Ende fand. Allem Anschein nach war es leicht, den Anflugwinkel und die Schubleistung so zu verändern, daß auch die Galionsfigur in der dann noch zur Verfügung stehenden kurzen Zeitspanne nichts mehr ändern konnte. Koratzo sah sich um. Er war alles andere als ein Raumfahrer, wußte vielleicht mit der GOLʹDHOR umzugehen, keinesfalls aber mit einem Organschiff. Seine Kenntnisse der Antimagie reichten gerade aus, um ihn einzelne Funktionsweisen erkennen zu lassen. Demnach mußte Theimor der Ugharte unmittelbar links vor ihm sein, der an einem Schaltpult arbeitete, dessen Kontrolleuchten in regelmäßigen Abständen aufblinkten. Noch einhundert Kilometer … Koratzo begann zu bezweifeln, daß Theimor es wirklich schaffen konnte. Immerhin hatte er selbst eben zum wiederholten Male versucht, die magischen Laute der Vernichtung zu formen und auf den Neffen zu lenken – erneut ohne den geringsten Erfolg. Jetzt! hörte er. Im gleichen Augenblick wirbelten Theimors Hände über das Schaltpult. Das laute Geräusch auf Vollast arbeitender Bremsdüsen wurde schlagartig zum verhaltenen Wimmern. Wie ein Stein sackte die HERGIEN in die Tiefe, einen leuchtenden Schweif ionisierter Gase hinter sich herziehend. Aus verborgenen Lautsprechern hallte ein Schrei durch die Zentrale. Zweifellos hatte die Galionsfigur ihn ausgestoßen.
Sie schafft es nicht! triumphierte Theimor. Es ist ihr unmöglich, innerhalb weniger Augenblicke die Blockierung der Schaltkreise aufzuheben. Endlich schien auch Copasallior an dem Geschehen Anteil zu nehmen. Für einen Moment sah Koratzo es in seinen übergroßen Basaltaugen aufglühen, und er war sicher, jetzt eine Verständigung mit dem Weltenmagier herbeiführen zu können. Doch da streifte ihn die dunkle Aura des Neffen, und er vergaß sein Vorhaben. Rasend schnell wurde die Planetenoberfläche auf den Bildschirmen größer. Das Geschehen berührte Koratzo nicht mehr, als daß er es emotionslos zur Kenntnis nahm. Eine Sirene heulte auf. Wie lange noch bis zum vernichtenden Aufprall? Die steuerlos gewordene HERGIEN raste auf den Raumhafen von Gaudhere zu. Sprunghaft schnellte die Temperatur in die Höhe. Der Bug des Organschiffs glühte bereits. Zwanzig Kilometer … Fünfzehn … Rötliche Schleier flimmerten über die Bildschirme, bevor diese endgültig ausfielen. Die Hitze wurde schier unerträglich, während das nervenzermürbende Heulen der Sirenen endlich verstummte. Koratzo wartete auf den unwiderruflich kommenden Aufprall. Alles in ihm verkrampfte sich, während er eine Stimme zu hören glaubte, die auf ihn einredete. »… ist es erforderlich, die Steuerung von der Zentrale aus zu übernehmen. Ich wiederhole: Da nahezu sämtliche Verbindungen, die in die Bugkuppel führen, vorübergehend unterbrochen wurden, ist es erforderlich …« »Ihr habt es gehört!« schrie Duuhl Larx. »Bringt die HERGIEN sicher zu Boden!« Aber keiner der Ugharten rührte sich von der Stelle. »Ihr sollt gehorchen!« brüllte der Neffe, außer sich vor Zorn. »Ich werde euch zeigen, was es heißt, sich mir zu widersetzen.« Nichts. Der Stimmenmagier fing einige Gedankenfetzen auf, die
blanken Haß widerspiegelten. Duuhl Larx tobte. »Du – du – und du …«, der Reihe nach stieß er die Ugharten an, die ihm am nächsten standen, »ihr führt sofort meine Befehle aus, oder ich werde euch aus dem Schiff werfen.« Sie gehorchten. Jeder tat, wie ihm geheißen, sobald Duuhl Larx in seine Nähe kam. Nur wenige hundert Meter raste die HERGIEN über die Gipfel eines schneebedeckten Gebirges dahin. Hinter ihr verschwand der Raumhafen von Gaudhere am Horizont. Den hereinkommenden Funkspruch der Dringlichkeitsstufe nahm der Neffe selbst entgegen. Er täuschte einen Ausfall der Galionsfigur vor und forderte gleichzeitig, ihm ein bevorzugtes Landefeld zur Verfügung zu stellen und Thamum Gha von seiner Ankunft zu unterrichten. »Der Herrscher wird erst in mehreren Stunden zurückerwartet«, lautete die lapidare Antwort. »Die Besatzung der HERGIEN wird aufgefordert, das Schiff vorerst nicht zu verlassen.« »Niemand kann mir das verbieten!« keifte Duuhl Larx. »Wir befinden uns hier im Guftuk‐Revier, also gelten strengere Maßstäbe als irgendwo auf den unbedeutenden Randwelten. Thamum Gha selbst wird entscheiden, ob er dich empfangen will.« »Er wird müssen«, behauptete Duuhl Larx. »Die HERGIEN kommt von Pthor?« »So ist es. Ich habe zwei äußerst wichtige Gefangene an Bord. Melde das deinem Herrscher.« Damit unterbrach der Neffe aus dem Rghul‐Revier die Verbindung. Minuten später setzte das Organschiff zur Landung auf dem westlichen Teil des Hafengeländes an. * Stille war eingekehrt – eine tödlich wirkende Stille, die nur von den
Geräuschen der abkühlenden Außenhaut unterbrochen wurde. Koratzo hatte sich auf die nächstbeste Sitzgelegenheit fallen lassen und sah zu, wie der Neffe nach und nach alle Ugharten in der Zentrale zusammentrieb. Copasallior zeigte keinerlei Gemütsregung, auch nicht, als Koratzo ihn fragend musterte. War er dem Neffen bereits völlig verfallen, oder wartete er nur auf eine günstige Gelegenheit, um einen »Schritt durch die Welt jenseits der Wirklichkeit« zu tun und sich und vielleicht auch den Stimmenmagier dem Zugriff des Neffen zu entziehen? »Koratzo, komm her!« Zögern – bewußt, um zu sehen, wie weit man gehen konnte. Passiver Widerstand, weil da eine Ahnung dessen war, was Duuhl Larx wollte. Duuhl Larx kam näher. »Koratzo …« »Nein!« schrie der Stimmenmagier, obwohl er die Lippen in einer Geste der Verzweiflung fest zusammenpreßte. Irgendwo in der Zentrale hatte er ein »Stimmenzentrum« entstehen lassen, das nun seine Meinung lautstark kundtat. Koratzo zitterte. Mit jedem Schritt, den der Neffe näherkam, spürte er die dunkle Aura deutlicher, die ihn in ihren Bann zu schlagen drohte. Fast schlagartig verstummte die Stimme, die zuletzt vom Schott her erklungen war. Koratzo schien wie in Trance, als er den Blick hob und dem Neffen entgegensah. »Mache die Gedanken der Ugharten für mich hörbar! Ich muß wissen, auf wen ich mich verlassen kann.« »Es ist mir unmöglich …«, begann der Stimmenmagier, wurde aber sofort unterbrochen. »Deine Worte werden mich ungehindert erreichen, denn ich will es. Laß mich nicht lange warten.« Koratzos Widerstand brach zusammen, als Duuhl Larx ihn
flüchtig berührte. Es war wie ein körperlicher Schlag, der ihm unendliche Qualen bereitete. Plötzlich mußte er feststellen, daß es ihm leichtfiel, die Gedanken aller anwesenden Ugharten zu erfassen und für den Neffen hörbar zu machen. Einige von ihnen, die entfernt ahnten, was gespielt wurde, versuchten, an alles mögliche zu denken, nur nicht an ihr Verhältnis zu Duuhl Larx. Aber wenn sie es schafften, dann machte der Stimmenmagier selbst ihre hintergründigsten Gedankengänge hörbar. Ein Ugharte nach dem anderen wurde von Duuhl Larx gezwungen, vor Koratzo hinzutreten. Alle taten es mehr oder weniger widerwillig, und wenn einer von ihnen zögerte, so brach doch jeder Widerstand zusammen, sobald der Neffe den Betreffenden direkt ansprach. Der Stimmenmagier empfand Abscheu vor seiner Tätigkeit, vor seinem Unvermögen, Widerstand zu leisten – vor sich selbst. Ein Rest seines eigenen Ichs, der sich auch von der Aura des Bösen nicht völlig hatte verdrängen lassen, warnte ihn vor dem Augenblick, in dem Theimor vor ihm stehen würde. Koratzo fürchtete sich davor, den Ugharten ans Messer zu liefern. Noch konnte er dem Neffen mehr oder weniger Belangloses übermitteln, Gedanken zwar, die Haß und Abscheu ausdrückten, die aber auch erkennen ließen, daß es dem betreffenden Ugharten unmöglich war, einem Befehl nicht sofort nachzukommen. Duuhl Larx wurde wütender, je länger der erhoffte Erfolg auf sich warten ließ. Seine flammende Hülle begann intensiv zu glühen. Und dann kam die Reihe an Theimor. Der Stimmenmagier zuckte kurz zusammen, als er dessen Gedanken hörte. Sicher standen sie denen des Neffen in nichts nach, was die Mordlust betraf. Nur die Motive waren andere – wenngleich in Koratzos Augen, dem glühendsten Verfechter der »positiven Magie« und dem wohl friedliebendsten Bewohner von Oth, nicht weniger verwerflich. Man mußte nicht stets nur töten, man konnte einen Gegner auch mit
anderen Waffen schlagen. Wenn Koratzo selbst mehrmals schon die Laute der Vernichtung auf Duuhl Larx gerichtet hatte, so nicht, um diesen umzubringen, sondern nur, um ihn kampfunfähig zu machen. »Packt ihn!« schrie der Neffe auf und deutete auf Theimor, der sich in diesem Moment zur Flucht wandte. Zwei Ugharten versperrten ihm den Weg, die anderen fielen wie ein Rudel hungriger Wölfe über ihn her. Theimor hatte nicht die Spur einer Chance, gegen sie zu bestehen. Er kämpfte wie ein Besessener, doch die Übermacht war erdrückend. Blutend ging er schließlich zu Boden. »Du hast dein Leben verwirkt!« Duuhl Larx sagte es leise und eindringlich. »Niemand, der auch nur die Hand gegen den künftigen Herrscher unzähliger Reviere erhebt, wird dies überleben.« Koratzo fühlte sich leer und ausgebrannt. Aber was nützte es, wenn er sich Vorwürfe machte? Sobald der Neffe sich an ihn wandte, mußte er tun, was dieser von ihm verlangte. Es gab keinen Ausweg … »Du, Magier, wirst den Verräter töten!« Jedes Wort ließ Koratzo wie unter Peitschenhieben zusammenzucken. Nein – er würde es nicht tun. Und wenn er selbst mit dem Leben bezahlen mußte; er würde sich nicht zum Henkersknecht des Neffen machen lassen. »Benutze deine magischen Kräfte!« befahl Duuhl Larx. »Ich will Zeuge sein, wie du diesen Ugharten ins Jenseits beförderst.« Koratzo zitterte. Er war im Begriff, die Kontrolle über sich zu verlieren. »Nein«, stammelte er tonlos. »Ich … werde es … nicht tun …« Es fiel ihm unsagbar schwer, die Worte zu formen. Weshalb er in diesem Augenblick auf seine magischen Fähigkeiten verzichtete, vermochte er selbst nicht zu sagen. Duuhl Larx sah ihn an – ihn ganz allein. Koratzo wußte es, auch
wenn die flammende Aura des Neffen nicht erkennen ließ, wohin dieser blickte. Er fühlte es eben. Und dieses Gefühl war schlimmer als alles, was der Stimmenmagier bisher an Bösem erlebt hatte. Es entzog ihm seinen eigenen Willen, um ihn zum erbärmlichsten, skrupellosesten Mörder zu machen, der jemals auf Pthor gelebt hatte. Noch einmal bäumte Koratzo sich auf; ein letzter, verzweifelter Versuch, dem fremden Zwang zu entkommen. Haltlos sank er vornüber, schlug hart auf den Boden auf. »Nein!« schrie er. »Nein!« hallte es von den Wänden wider. Mindestens ein Dutzend Stimmenzentren waren im Entstehen begriffen. Da klangen helle Stimmen auf, weiblich anziehende und fremdartige, wie von nichtmenschlichen Kehlen geformt; sie schrien, brüllten und kreischten, in Gonex, Garva‐Guva, Pthora und etlichen anderen Sprachen – ein chaotisches, unverständliches Durcheinander, das bezeichnend war für Koratzos seelische Verfassung. Nichts an ihm erinnerte noch an den stolzen Magier. Er wälzte sich über den Boden, nur beseelt von dem einen Wunsch, aus der Nähe des Neffen zu entkommen. Doch Duuhl Larx schwebte langsam, aber unerbittlich auf ihn zu. Koratzo stieß auf Widerstand. Seine tastenden Hände krallten sich an einem Sessel fest. Mühsam zog er sich daran in die Höhe. Zufällig begegnete er dem Blick Copasalliors, dessen Augen wie zwei riesige, glühende Diamanten wirkten. Er starrte Koratzo an, und die Finger zweier Hände richteten sich auf den Stimmenmagier.
3. Die flackernde Fackel war zumindest ungewöhnlich, verbreitete aber doch eine anheimelnde Atmosphäre. Anders, als der gleißende Schein hell strahlender Kristalle, bei weitem nicht so aufdringlich und vor allem beruhigend. Und gerade das war wichtig, wollte man nicht spätestens im Verlauf der nächsten halben Stunde dazu übergehen, sich gegenseitig die Köpfe blutig zu schlagen. Denn die Meinungen, die hier aufeinanderprallten, waren so verschieden wie die Personen, die sie kundtaten. Schon öfter hatte es in den Wohnhöhlen der Tronx‐Kette erregte Debatten gegeben, doch nie war es dabei um Dinge von solcher Brisanz gegangen wie diesmal. »Magier!« Querllo sprach dieses Wort beinahe wie eine Beschimpfung aus. »Wir haben doch alle dasselbe Ziel vor Augen, weshalb also streiten wir uns?« »Niemand streitet«, grinste Opkul und strich sich dabei mit einer verlegenen Geste sein dunkles Haar aus der Stirn. »Es sind nur gewisse Unstimmigkeiten aufgetreten, die einer sachlichen Klärung bedürfen.« »Und wie lange willst du damit warten?« ereiferte sich Antharia. »Ich glaube nicht, daß Copasallior und Koratzo erfreut wären, könnten sie uns jetzt hören.« »Sie wären sicher noch viel weniger erfreut, wenn auch die nächste überstürzte Aktion nichts weiter wird als ein Schlag ins Wasser. Wem willst du damit helfen? Duuhl Larx ist es nicht wert, daß wir ihm derart in die Hände spielen.« Opkul sah sich herausfordernd um. »So hat das alles keinen Sinn«, bemerkte Rischa, und das war seit langen Minuten das erste, was sie wieder von sich gab. Sie hatte sich aus der hitzigen Diskussion zurückgezogen und nur darauf beschränkt, aufmerksam zuzuhören. »Ich bin dafür, daß wir ganz
von vorne anfangen. Irgendeine Lösung muß es doch geben.« »Ganz deiner Meinung«, brummte Howath, der Feuermagier. »Ich kann zwar niemandem mehr eine Hilfe sein, denn ich bin ein alter Mann, der nur noch dazu taugt, die Grenzen der Tronx‐Kette zu bewachen. Aber meine Stimme wiegt genauso schwer wie die eines jeden von euch.« »Rischas Vorschlag ist unmöglich«, behauptete Antharia. »Wenn wir alles noch einmal durchkauen, vertrödeln wir nur unnötig kostbare Zeit.« »Wem von euch ist sein Leben und das aller Magier von Oth noch so wenig wert?« fragte Opkul zynisch. Die Pflanzenmagierin warf ihm einen bitterbösen Blick zu, der mehr sagte, als Worte es je vermocht hätten. »Vielleicht sollten wir unsere Versammlung auflösen«, bemerkte Querllo ungehalten. »Jeder geht nach Hause und tut so, als wäre nie etwas vorgefallen.« »Und der Weltenmagier und Koratzo …?« »Seht ihr«, kreischte Querllo. »Endlich besinnt ihr euch auf das, was wirklich wichtig ist.« »Pah«, machte Antharia. »Immerhin sind wir uns von Anfang an einig, daß wir etwas unternehmen müssen.« »Fragt sich nur, was.« Opkul, der Magier mit dem Fernblick, gab sich überaus vorsichtig. »Duuhl Larx ist mit seinen Gefangenen längst auf Lamur gelandet. Wir wissen nicht einmal, ob sie überhaupt noch am Leben sind. Sicher wird Thamum Gha nicht untätig zusehen, wie man ihm an den Kragen geht.« »Was schlägst du also vor?« wollte Rischa wissen. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß wir, die hier Versammelten, keine Möglichkeit haben, der HERGIEN zu folgen. Ganz abgesehen davon, daß wir das energetische Gleichgewicht innerhalb der Barriere aufs Höchste gefährden würden, wenn wir alle aufbrechen. Wem wäre schon damit geholfen, wenn wir nichts anderes erreichen, als unser aller Unsterblichkeit aufs Spiel zu setzen? Ich
finde, das ist ein zu hoher Einsatz für ein fragwürdiges Unterfangen. Copasallior und Koratzo haben sich noch immer selbst zu helfen gewußt.« »Diesmal aber nicht«, erwiderte Antharia aufgeregt. »Hast du wirklich vergessen, wie entsetzt wir alle waren, als Duuhl Larx ausgerechnet die beiden Mächtigsten zu seinen Sklaven machte? Wenn niemand ihn daran hindert, wird er sich irgendwann sogar mit dem Dunklen Oheim messen.« »Und?« fragte Howath, während er ausgiebig seine gichtigen Finger massierte. »Was kümmert das uns?« »Was meinst du, wird geschehen, wenn der Dunkle Oheim den Anschlag übersteht und herausfindet, daß zwei Magier daran beteiligt waren?« warf Opkul ein. »Er wird Pthor vernichten.« Eine Weile war es still, während jeder auf seine Art versuchte, mit sich selbst ins reine zu kommen. Irrlichternde Schatten huschten über die Wände; eine poliert wirkende Marmorkugel begann plötzlich von innen heraus zu leuchten. Schlieren überzogen ihre Oberfläche, wie ferne, wallende Nebelschleier. Das war Opkuls Werk. Was er mit Hilfe seines Fernblicks sah, machte er auch den anderen zugänglich. Die Ebene Kalmlech erschien auf dem Marmor, Donkmoon, Ausschnitte von der Straße der Mächtigen und der FESTUNG mit ihren Pyramiden. Und dann … Das Bild veränderte sich so schlagartig, daß Querllo überrascht aufkreischte. Die GOLʹDHOR, das Raumschiff der Magier. Bewacht von Dutzenden schwer bewaffneter Ugharten. Erneut war es Querllo, der mit schriller Stimme das Schweigen brach: »Sie warten nur darauf, daß wir uns in der Nähe der Festung blicken lassen. Es würde Verluste geben …« »Was ist nur aus uns geworden?« jammerte Antharia. »Seit das Böse in dem kunischen Frachter dich beinahe übermannt hätte,
benimmst du dich wie ein ängstliches Waschweib. Vergiß nicht, daß wir eine Zeitlang die Herren über ganz Pthor waren; wir werden also auch mit den Ugharten fertig.« »Sie warten nur darauf, daß wir kommen und uns die GOLʹDHOR zurückholen«, behauptete Opkul. »Sicher ist es uns möglich, die Ugharten zu überwältigen, aber du vergißt die Organschiffe, die in der Nähe gelandet sind. Willst du sie sehen?« Wortlos starrte Antharia auf die Kugel und das, was der Magier mit dem Fernblick ihr nun zeigte. »Hör auf«, stöhnte sie nach einer Weile. »Daß es noch so viele sind, habe ich nicht gewußt.« »Wir hätten keine Chance«, fuhr Opkul fort. »Die Schiffsgeschütze würden uns vernichten, bevor wir auch nur nahe genug an die GOLʹDHOR herangekommen wären, um mit ihr Verbindung aufzunehmen.« »Aber irgendeine Lösung muß es doch geben.« Opkul richtete seinen Blick wieder auf das goldene Raumschiff, das einer Gottesanbeterin so verblüffend ähnlich war. Der schlanke Rumpf wirkte trotz seiner Länge von etwa fünfzig Metern graziös. Die sechs als Beine ausgebildeten Landestützen waren angewinkelt und lagen eng an. »Sie hat sich noch nicht erholt«, behauptete Opkul, und er sprach von der GOLʹDHOR wie von einem lebenden Wesen. Tatsächlich gab es verschiedene Anzeichen dafür, daß das goldene Raumschiff sich »nicht wohl fühlte«. Die Transparenz der Hülle, die normalhin alles erkennen ließ, was sich im Rumpf verbarg, war nicht so, wie sie sein sollte. Schlieren und matte Stellen verschleierten den Blick. Und die Fühler, die ansonsten fächerförmig ausgebreitet weit über den Kopf vorstanden, hingen schlaff nach unten. »Es wird die Gegenwart der Ugharten sein, die ihr zu schaffen macht«, behauptete Howath. »Wir sollten es dennoch oder gerade deshalb versuchen. Untätigkeit ist im Augenblick unser schlimmster Feind.« Antharia und Rischa stimmten ihm freudig zu, Querllo nickte
zögernd aber dann doch entschlossen, nur Opkul zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob es richtig und vor allem klug ist, offen anzugreifen«, überlegte er. »Vielleicht könnten wir Glyndiszorn …« »Der Knotenmagier wird sich weigern«, fiel ihm die Pflanzenmagierin ins Wort. »Nicht, wenn wir ihm gegenüber konsequent auftreten. Auch er kann Copasallior und Koratzo nicht einfach schmählich im Stich lassen.« »Also sind wir uns endlich einig?« jammerte Querllo. »Wir gehen zu Glyndiszorn, und …« »Sprecht ihr von mir?« Im flackernden Schein der Fackel stand plötzlich eine feiste, fast kugelrunde Erscheinung vor ihnen, mit roter Haut, schwarzen Haaren und einer nicht minder keifenden Stimme, als Querllo sie manchmal hatte: der Knotenmagier. Allem Anschein nach war er durch eine »Falte« hierher gelangt. »Glyndiszorn«, hauchte Antharia erschrocken. Ausgerechnet ihn hatte sie am allerwenigsten erwartet. »Wir haben soeben beschlossen, eine Abordnung zu dir zu schicken.« »Und ich suche mindestens die halbe Barriere ab, um Querllo zu finden. Es war Zufall, daß ich mich an diese Höhle erinnerte.« Der Knotenmagier machte einen nervösen, aufgeregten Eindruck. »Was willst du von mir?« fragte Querllo. Glyndiszorn wirkte ungeduldig. »Axton geht es wieder schlechter. Als ich vor einigen Minuten nach Pyghor und Resethe sehen wollte, um mich nach ihren Fortschritten zu erkundigen, lagen beide bewußtlos am Boden. Da es mir nicht gelang, sie ins Bewußtsein zurückzurufen, weiß ich auch nicht, was sich abgespielt hat.« »Was ist mit dem Terraner?« Ein wenig fühlte Querllo sich verantwortlich, denn immerhin war er es gewesen, der mit der Kraft seiner Hände geholfen hatte, Grizzards Bewußtsein vom Körper Lebo Axtons zu trennen und somit das Axton‐Bewußtsein zu
veranlassen, in seinen eigenen, angestammten Körper zurückzukehren. »Was mit ihm ist?« wiederholte Glyndiszorn. »Sieh ihn dir an. Wenn der Verfall im gleichem Tempo fortschreitet, stehen wir schon in Kürze vor einem Haufen vermoderter Knochen.« »Und du meinst, daß ich helfen kann. Ausgerechnet ich, nachdem Pyghor und Resethe gescheitert sind?« »Außer dir hat keiner eine Chance. Willst du dir später vorwerfen lassen, nicht alles in deiner Macht Stehende versucht zu haben?« Damit traf er Querllo an seiner empfindlichsten Stelle. Derart in die Enge getrieben, hatte dieser plötzlich einen Gedanken, der so abwegig gar nicht war, wie er zunächst scheinen wollte. Weshalb sollte nicht auch Glyndiszorn seinen Beitrag leisten? »Bringe mich zu Axton«, bat der Lichtmagier. »Ich werde tun, was ich kann. Aber gewähre mir ebenfalls eine Bitte.« Glyndiszorn sah ihn schräg von der Seite her an. »Sie sei dir gewährt«, sagte er schließlich. »Öffne einen Tunnel nach Lamur, daß einige von uns hindurchgehen können.« Glyndiszorns Haltung wurde schlagartig abweisend. »Nein«, erwiderte er düster. »Schlage dir das aus dem Kopf – es ist unmöglich.« »Aber es geht um das Leben von Copasallior und Koratzo.« »Auch dann nicht«, keifte der Knotenmagier. »Ihr scheint zu glauben, daß mir das Schicksal unserer Freunde egal ist. Schlimm genug, daß ihr mir das zutraut. Wenn ich eine Möglichkeit sähe, ihnen zu helfen, hätte ich es längst getan. Aber auf Lamur müssen starke böse Kräfte existieren, die jeden Versuch vereiteln, einen Tunnel zu öffnen.« »Das wußten wir nicht.« Querllo war ehrlich überrascht. Glyndiszorn winkte ab. Antharia flüsterte etwas, was der Knotenmagier aber nicht verstand. Querllo nickte dann mehrmals, bevor er sich erneut an ihn wandte:
»Die ehemaligen Rebellen bieten dir ihre Hilfe an. Vielleicht gelingt es uns mit vereinten Kräften, wenigstens kurzfristig einen Tunnel zu stabilisieren.« Der Knotenmagier zögerte. »Einverstanden«, stimmte er schließlich zu. »Doch nur, weil ich mir ebenfalls große Sorgen um die beiden Gefangenen mache. Aber zuerst sieh dir Axton an.« Glyndiszorn nahm Querllo an der Hand und trat mit ihm durch eine Falte. Die anderen folgten ihnen, jeder auf seine Weise. * Mit jeder Faser seines Körpers sträubte Koratzo sich gegen den Befehl, den der Neffe ihm erteilt hatte. Obwohl er wußte, daß es sinnlos war. Töte den Verräter! hämmerte es in seinem Schädel. Immer und immer wieder. Ein nicht enden wollendes höllisches Stakkato, das ihn an den Rand des Wahnsinns trieb. Töte ihn …! Koratzo schrie – schrie all seine Angst und Verzweiflung hinaus. Aber Duuhl Larx hatte dafür nur ein höhnisches Lachen. Der Neffe schwebte unaufhaltsam näher. Nur langsam wurde Koratzo sich der Tatsache bewußt, daß Copasallior ihn anstarrte. Das konnte die Rettung sein, wenn der Weltenmagier ihn mit Hilfe seiner Kräfte durch die »Welt jenseits der Wirklichkeit« entführte. Es bedurfte dazu nicht mehr, als daß er ihn ansah und mit dem Finger auf ihn deutete. Der Rest war Magie. Ein eigenartig prickelndes Gefühl stellte sich ein, als würden Tausende kleine Feuer unter seiner Haut entflammen. Koratzo verstummte. Auf einmal war ihm so seltsam zumute. Die Welt begann sich um ihn herum zu drehen. Sein Gefühl sagte ihm, daß etwas nicht stimmte, denn
normalerweise verliefen Copasalliors Transporte ganz anders. Er saß fest. Die Ernüchterung folgte der Hoffnung auf dem Fuß. Das Böse, das Duuhl Larx verbreitete, mußte schuld daran sein. Und wieder kam dieser Befehl, den Ugharten zu vernichten. Mit erschreckender Deutlichkeit erkannte Koratzo, daß er nicht mehr lange widerstehen konnte. Noch einmal versuchte der Stimmenmagier, sich mit aller Macht gegen das Böse zur Wehr zu setzen. Er entwickelte ungeahnte Kräfte, und je mehr er fühlte, daß er der Kontrolle des Neffen tatsächlich zu entgleiten drohte und dieser sich ausschließlich auf ihn konzentrieren mußte, desto mehr gewann er sein Selbstvertrauen zurück, und desto größer wurden seine Anstrengungen. Und wieder fühlte er jenes warme Prickeln, das ihm Hoffnung gab. Innerhalb weniger Augenblicke war sein ganzer Körper davon betroffen. Dann verschwamm alles um ihn her. Ein leuchtender, undurchdringbarer Nebel schien sich über die Zentrale der HERGIEN zu legen, der auch nach Koratzo griff. Als die ersten Ausläufer ihn erreichten, versank der Stimmenmagier in einer Welt des Schweigens. Das letzte, was er mit seinen schwindenden Sinnen noch wahrnahm, war, daß die Ugharten wie vom Blitz getroffen zu Boden stürzten. * Zweifelnd stand Querllo vor dem leblosen Körper des Terraners. Er war erschüttert über die Veränderungen, die sich von Minute zu Minute deutlicher bemerkbar machten. Selbst der Lichtmagier vermochte nicht zu erkennen, welche Kräfte hier walteten. Pyghor und Resethe, die ihm vielleicht hätten
Auskunft geben können, waren noch immer ohne Bewußtsein, und es sah nicht so aus, als würden sie in absehbarer Zeit wieder zu sich kommen. Allerdings glaubte Querllo nicht, daß die beiden irgendwelchen Schaden genommen hatten. Wenigstens in dieser Hinsicht war er zuversichtlich. Nicht jedoch, was Lebo Axton betraf. »Wirst du ihm helfen können?« wollte Glyndiszorn wissen. »Sicher«, nickte der Lichtmagier. »Ich kann den Körper zu einer gewissen Stabilisierung veranlassen; ich kann aber keine Wunder wirken, wenn es darum geht, die Seele des Terraners zurückzurufen. In dieser Beziehung bin ich machtlos. Vielleicht, wenn ich wüßte, weshalb Axton nicht zurückgekehrt ist … So aber bleibt es ihm selbst überlassen, ob er jemals in seinem Körper aufwacht.« »Wie lange kann dieser Zustand anhalten?« Nachdenklich ließ Querllo seinen Blick durch die Höhle wandern, bevor er sich dazu äußerte. Die Antwort, die er gab, zeugte von seiner Ohnmacht. »Nicht sehr lange, fürchte ich. Wenn es mir jetzt gelingt, die negativen Veränderungen umzukehren, werden wir einige Tage Ruhe haben. Sofern Axton dann aber noch immer nicht zu sich gekommen ist, müssen wir damit rechnen, daß häufiger solche Verfallserscheinungen auftreten, die am Ende irreparable Schäden hinterlassen.« »Wie lange«, fragte Glyndiszorn hart, »bis zum unwiderruflichen Eintritt der Verwesung?« Der Lichtmagier zuckte die Schultern. Er wußte darauf nichts zu erwidern, was Glyndiszorn zufriedengestellt hätte. »Einen Monat, möglicherweise zwei, sehr viel länger aber wohl kaum. Das hängt von den Umständen ab, was schuld daran ist, wo Axtons Geist sich befindet …« In seinen rauhen, rissigen Händen steckten Kräfte, mit denen er Wunden und Krankheiten heilen und Erschöpfungszustände beseitigen konnte. Während der Lichtmagier nun den vor ihm
liegenden Körper systematisch abtastete, murmelte er unablässig vor sich hin. Er fühlte aufgedunsenes, weiches Gewebe, das aber noch nicht abgestorben war. Indes fand er keinen Puls, obwohl das Herz noch immer schlug. Die Temperatur war abgesunken, hatte aber noch nicht jenen Punkt erreicht, an dem es kritisch wurde. Querllo vergaß alles um sich herum, was nicht mit dem Terraner zu tun hatte. Für ihn galt es, ein Leben zu retten, dessen Existenz ohne sein allzu eifriges Mitwirken vielleicht gar nicht gefährdet wäre. Minuten vergingen wie im Flug. Querllo spürte den Erfolg, und das gab ihm Mut und die Hoffnung, es könne doch noch alles gut werden. Axton‐Kennon veränderte sich zusehends. Die wächserne Blässe seiner Haut wich und machte einer gesunden Farbe Platz, die anzeigte, daß die Durchblutung langsam wieder in Gang kam. Scheinbar ziellos fuhren die Hände Querllos über den Körper dahin. Aber in jeder Bewegung drückte sich ein ganz bestimmtes, nur dem Lichtmagier bekanntes Schema aus, dessen Ablauf er keinesfalls willkürlich verändern durfte. Ein Vorgang, der seine Wirksamkeit schon so manches Mal bewiesen hatte – in einer Zeit, die sehr lange zurück lag. Als das Herz wieder spürbar schlug, ließ Querllo seine Hände höher wandern, bis seine Fingerspitzen Axtons Schläfen berührten. Es waren wie winzige elektrische Entladungen, die von seinen Nägeln auf die Schädelknochen des Patienten übersprangen. Querllo begann, Axtons Stirnbein mit beiden Daumen zu massieren. Immer fester drückte er zu, bis die Augäpfel sich unter den geschlossenen Lidern zu bewegen begannen. »Komm!« flüsterte er, und in seiner Stimme lag eine ungeheure Anziehungskraft verborgen. »Komm zurück, Lebo Axton, wo immer du sein magst. Dein Körper braucht dich – er wartet auf dich.« Querllos Finger verkrampften sich.
»Komm!« hallte es dumpf durch die Höhle im Gnorden, und ein vielfältiges, immer wieder verstärktes Echo schien selbst die Luft in Schwingungen zu versetzen. Ganz nahe war der Erfolg; jeden Augenblick mußte Axton‐Kennon die Augen aufschlagen. Aber urplötzlich trat Stille ein. Jegliches Geräusch verstummte, selbst die Luft schien sich zu verändern, wurde kristallklar und verzerrte sämtliche Konturen. Das Ganze währte nur den Bruchteil eines erschreckten Atemzugs, dann war alles wieder wie gewohnt. »Was war das?« wollte Glyndiszorn sofort wissen. »Ich habe Ähnliches noch nie erlebt.« »Wenn ich es wüßte …« Querllo wandte sich zitternd um. »Alles ist vorbei. Ich schaffe es nicht, Axtons Bewußtsein zurückzurufen. Nur seinen Körper konnte ich stabilisieren, allerdings muß sich erst noch herausstellen, für wie lange.« »Du hast dein Bestes gegeben«, nickte der Knotenmagier. »Sei unbesorgt, ich werde mein Versprechen halten. Komm jetzt.« Gerade als Glyndiszorn seine Hand ausstreckte, ließ ihn ein verhaltenes Stöhnen herumfahren. Der Gliedermagier Pyghor war soeben im Begriff, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Neben ihm hatte sich Resethe bereits halb aufgerichtet. Beide schienen sie noch etwas benommen, doch als sie den Knotenmagier erblickten, kamen sie recht schnell auf die Beine. Leider wußten auch sie nichts Wesentliches zu berichten, was Querllo unter Umständen weitergeholfen hätte. Sie konnten sich an absolut gar nichts erinnern, nicht einmal an einen Traum, der vielleicht Hinweis auf das wirkliche Geschehen gewesen wäre. Glyndiszorn bat die beiden, sich weiterhin um Axton zu bemühen. Dann verschwand er zusammen mit Querllo auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren. Den nächsten Schritt taten sie bereits in der Gondel der ORSAPAYA.
* Copasallior hatte es bisher nicht geschafft, den Stimmenmagier Koratzo von der HERGIEN aus zurück nach Pthor zu versetzen. Aber jetzt fühlte er eine unerwartete Erleichterung, als wäre ein Teil der unsichtbaren Last, die ihn seit dem Start von Pthor bedrückte, von ihm genommen worden. Copasalliors stets wacher Verstand erkannte sofort den Grund dafür. Die Aufmerksamkeit des Neffen Duuhl Larx wurde von Koratzo beansprucht, der sich offenbar verzweifelt bemühte, aus dessen unheilvollem Bann zu entkommen. Copasallior konnte sich nur zu gut vorstellen, was in dem Stimmenmagier vorging. Immerhin war dieser ohne Zweifel einer der wohl friedfertigsten Bewohner von Oth, und der Befehl, den Ugharten mit Hilfe seiner magischen Fähigkeiten ins Jenseits zu befördern, mußte ihn schwer getroffen haben. Copasallior war bereit, das Schlimmste zu verhindern. Es würde ihm möglich sein, sobald der Einfluß des Neffen auf ihn noch weiter schwand. Koratzo konnte nicht mehr zurückweichen, der Sessel in seinem Rücken hinderte ihn daran. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er Duuhl Larx entgegen, dessen flammende Erscheinung nur noch wenige Meter von ihm entfernt war. Instinktiv erfaßte Copasallior, daß der Stimmenmagier seine letzten Reserven aufbot, um sich aus dem Zwang des Bösen zu befreien. Nur hatte er allein keine Chance. Copasallior handelte, ohne zu überlegen. Spontan richtete er seine Magie auf Koratzo. Unter normalen Umständen wäre es ein leichtes gewesen, den Ortswechsel vorzunehmen, denn die Entfernung zwischen Lamur und Pthor war denkbar gering. So aber spürte der Weltenmagier beinahe körperlich die Beeinträchtigung, die von dem Neffen ausging. Es war ihm unmöglich, sich auf irgendeinen beliebigen Ort innerhalb der Großen Barriere von Oth zu konzentrieren. Der Zielpunkt, an dem er Koratzo abzusetzen gedachte, verschwamm immer wieder vor seinem inneren Auge.
Copasallior zweifelte nicht einen Herzschlag lang, daß er den Stimmenmagier wirklich erfaßt hatte. Daran lag es nicht; denn das hätte gleichzeitig einen nahezu vollständigen Verlust seiner magischen Kräfte bedeutet. Viel schlimmer … Der Weg durch das Nichts war ihm versperrt, jener Weg, den er, ohne jemals intensiv darüber nachzudenken, ungezählte Male gegangen war. Sein Versuch, Koratzo durch die Welt jenseits der Wirklichkeit zu schleusen, war mit den gleichen Schwierigkeiten verbunden, die ein Verhungernder haben mochte, der mit einem dünnen Speer versuchte, einen in wildbewegtem Wasser schwimmenden Fisch zu stechen. Der Brechungsindex des auftreffenden Lichtes machte es nahezu unmöglich, der scheuen Beute jemals habhaft zu werden. In diesem ganz besonderen Fall äußerte es sich für Copasallior so, daß Koratzo von einer Hülle fremder Energien umgeben wurde, die nur zum Teil magischen Ursprungs waren. Für den Weltenmagier hatte es den Anschein, als würde Koratzo sich zögernd auflösen und in wehenden Nebelschleiern vergehen. Copasallior sah sich kurz um. Auch von den Ugharten konnte er nur noch schattenhafte Umrisse wahrnehmen. Ohne einen Laut von sich zu geben, stürzten sie zu Boden – in dem Augenblick, in dem er selbst eine fremde, unheimliche Kraft spürte, die ihn lähmte. Auch Duuhl Larx schien nicht davon verschont zu bleiben. Abrupt hielt er in seinen Bewegungen inne. Seine leuchtende Hülle strahlte längst nicht mehr in so intensiver Glut wie noch kurz zuvor. Mit erschreckender Deutlichkeit erkannte Copasallior, daß er zu schwach war, um gegen das Fremde bestehen zu können. Die böse Ausstrahlung des Neffen beeinflußte ihn in weitaus stärkerem Maß, als er es sich bisher hatte eingestehen wollen. Was immer in diesem Augenblick nach der HERGIEN griff, es war überaus gefährlich und konnte Koratzo das Leben kosten. Der Stimmenmagier war verloren, wenn es nicht gelang, den eingetretenen Auflösungsprozeß umzukehren. Er würde irgendwo
in den Welten im Jenseits verschwinden, ohne die Möglichkeit einer Rückkehr. Copasallior war sich dessen bewußt, daß es nahezu ausgeschlossen war, ihn in der Unendlichkeit des Nichts jemals wiederzufinden. Nicht einmal Glyndiszorn würde mit einem auf den Stimmenmagier fixierten Tunnel die Spur einer Chance haben. Dunkelheit brach über die HERGIEN herein. Von einer Sekunde zur anderen war die Schwärze vollkommen; selbst die Flammenaura des Neffen wurde unsichtbar. Dann – ein grell aufzuckender Blitz schien die Zentrale in zwei Hälften zu spalten. Copasallior sah den Stimmenmagier in sich zusammensinken. Er hatte sich weiter aufgelöst … Irgendwo in der Dunkelheit entstand ein schabendes Geräusch, das rasch näherkam. Gleich darauf spürte Copasallior, wie etwas nach ihm tastete. Es war eine weiche, angenehme Berührung, die Ruhe und Zuversicht vermittelte. Nichts Fremdes, sondern magische Kräfte. Und Copasallior glaubte Stimmen zu hören, die ihn riefen. Sie suchen dich! durchzuckte es ihn siedendheiß. Sie wollen dir helfen. Wie gerne hätte der Weltenmagier jetzt zugegriffen. Aber er konnte es nicht. Er durfte nicht von Koratzo ablassen, der dann unweigerlich seiner Kontrolle entglitten wäre. Ein Licht – verhalten schimmernd zunächst, doch sich schnell ausbreitend. Eine leuchtende Spirale, die in immer enger werdenden Windungen auf Koratzo und Copasallior zuwirbelte. Der Weltenmagier streckte vier seiner Arme aus. »Querllo!« rief er, in der Hoffnung, dieser könnte ihn hören. Aber kein Laut kam über seine Lippen, als wäre die ihn umgebende Luft plötzlich dick wie Öl. Das Atmen bereitete ihm unsagbare Qualen. Seine Lungen schrien nach Sauerstoff, und ein pochender Schmerz zog sich durch seine Schläfen und bis weit in den Nacken hinab. Die leuchtende Spirale rotierte jetzt rasend schnell. Copasallior sah das Unheil kommen, aber er konnte nichts dagegen tun. Die
entstehende Schockwelle raubte ihm fast die Besinnung. Duuhl Larx, dessen flammende Hülle schlagartig wieder sichtbar wurde, sog die Helligkeit scheinbar gierig in sich auf. Er lachte, und seine Stimme klang dabei schaurig verzerrt. Aus weit aufgerissenen Augen starrte der Weltenmagier dorthin, wo er Koratzo eben noch gesehen hatte. Der Stimmenmagier war verschwunden. In einer letzten schier übermenschlichen Anstrengung streckte Copasallior alle sechs Arme von sich. Seine Finger schienen sich förmlich zu verkrampfen, wurden zu steil in die Höhe gereckten Klauen, und seine Augen glühten in einem nie gekannten Feuer. Aber es war alles umsonst; Koratzo ließ sich nicht zurückholen. Das Nichts hatte ihn verschluckt …
4. Es kam selten genug vor, daß der Knotenmagier sein Luftschiff zum Ort für Versammlungen machte, denn mehr noch als die anderen Mächtigen von Oth liebte er die Einsamkeit und Abgeschiedenheit. Vielleicht hatte er deswegen die ORSAPAYA an einem recht unwegsamen Hang des Gnorden verankert. Glyndiszorn fühlte Traurigkeit in sich aufsteigen, als er seinen Blick über die kleine Gruppe schweifen ließ, die sich in der Gondel seines Luftschiffs versammelt hatte. Nur Howath, der Feuermagier, war zurückgeblieben, weil er sich, wie er es mit schlichten Worten ausgedrückt hatte, an den Grenzen der Tronx‐Kette geborgener fühlte. Doch allein Querllo, Opkul, Antharia und Rischa verursachten schon einen Wirbel, wie er schlimmer nicht hätte sein können. Glyndiszorn stieß einen tiefen Seufzer aus. Die alten, gemütlichen Zeiten waren vorbei, in denen jeder für seine Experimente gelebt hatte und nur selten Zusammenkünfte stattfanden, die dann vor allem dem Austausch von Erfahrungen dienten. Es würde wohl nie mehr so sein wie früher. Nur war es eben schwer, sich damit abzufinden. »Wir sind bereit«, erklärte Querllo endlich. Glyndiszorn war es schon lange. Je eher er diese lärmende Meute wieder von Bord seiner ORSAPAYA hatte, desto eher konnte er in Ruhe seinen Forschungen nachgehen. Nur mit Querllo verband ihn manche gemeinsame Erinnerung, denn der Lichtmagier hatte kurze Zeit für ihn gearbeitet. Aber auch das war früher gewesen. Glyndiszorn schüttelte alle diesbezüglichen Gedanken von sich ab. Es war nicht gut, Unruhe in sich zu tragen und von Erinnerungen geplagt zu werden, die von schöneren Zeiten sprachen. Die geringste Ablenkung konnte einen Tunnel außer Kontrolle geraten lassen, was mitunter fatale Folgen nach sich zog.
»Bleibt noch zurück!« befahl der Knotenmagier den anderen. »Und laßt sämtliche Sperren fallen.« Er selbst trat vor einen kleinen Tisch hin, auf dem neben allerlei seltsam anmutenden Geräten auch ein kristallener Würfel stand. Querllo, der sich ein wenig mit diesen Dingen auskannte, beobachtete aufmerksam, wie Glyndiszorn den Würfel vorsichtig auf einer mit Mustern und Schriftzeichen versehenen Unterlage verschob. Was der Knotenmagier dabei leise murmelte, konnte er aber nicht verstehen. Ein schwarzer Schatten schien von Glyndiszorns Händen auszugehen, verharrte sekundenlang und bohrte sich dann mit scharfem Knall durch die Außenhülle der ORSA‐PAYA, die sich exakt an dieser Stelle auflöste, als habe sie nie existiert. Ein beißender Geruch breitete sich aus, während der Tunnel vertraute Formen annahm und sein eintöniges Grau sich scheinbar bis in die Unendlichkeit ausdehnte. Minutenlang veränderte sich gar nichts. »Ich finde die HERGIEN nicht«, erklärte Glyndiszorn nach einer Weile. »Der Raum um Pthor ist in weitem Umkreis leer.« »Dann sind sie wirklich auf Lamur«, stieß Antharia hastig hervor. »Du mußt es noch einmal versuchen.« Glyndiszorn wandte sich zu ihr um, während sein Tunnel lautlos in sich zusammenfiel und dort, wo eben noch die Ewigkeit gewesen war, wieder eine feste Wand entstand. »Es hat keinen Sinn«, erklärte er. »Ich sagte bereits, daß auf Lamur starke negative Kräfte existieren, denen wir zumindest ohne längere Vorbereitungen nichts entgegenzusetzen haben.« »Aber wir können unsere Freunde doch nicht einfach im Stich lassen«, protestierte Rischa. »Duuhl Larx hätte jeden von uns mitnehmen können, auch dich, Glyndiszorn, darüber solltest du dir endlich klar werden.« Der Knotenmagier schwieg. Allerdings war ihm nicht anzusehen, ob er über die Worte der Feldermagierin betroffen war oder nur
nach einer Lösung suchte, die alle zufriedenstellte. Querllo begann schrill zu kichern. »Vielleicht sollten wir dir erklären, daß wir deine geliebte ORSAPAYA nicht eher verlassen werden, als bis du zumindest deinen guten Willen gezeigt hast. Denn noch hast du uns gar nichts bewiesen.« Schon wollte Glyndiszorn wütend aufbrausen, da bemerkte er, daß Querllo im Begriff war, magische Sperren zu errichten. Und die anderen taten es ihm nach. Damit waren die Fronten also klar abgesteckt. Er hatte keine Möglichkeit, die Rebellen aus seinem Luftschiff zu vertreiben, während diese andererseits tagelang warten mochten, bis er getan hatte, was zu tun war, um Lamur ungefährdet einen Besuch abstatten zu können. Nur – und diese Frage bereitete Glyndiszorn um so mehr Kopfzerbrechen, je länger er sich mit ihr herumschlug – würde er überhaupt in Ruhe arbeiten können, solange er die vier in seiner unmittelbaren Nähe wußte? Es war eine verhexte Situation. »Also gut«, willigte er schließlich ein. »Ich beuge mich der rohen Gewalt. Aber ihr tragt die Verantwortung. Euch ist hoffentlich klar, daß ihr mit dem Feuer spielt.« »Was bleibt uns anderes übrig«, bemerkte Opkul und machte damit das Dilemma deutlich, in dem sie sich befanden. Erneut begann Glyndiszorn, magische Sprüche zu murmeln und verschob den kristallenen Würfel in immer komplizierteren Mustern. Dichter, schwarzer Rauch kräuselte zwischen seinen Händen hervor und blieb bewegungslos unter der Decke der Gondel hängen. Das war etwas, was Querllo nicht kannte, und entsprechend erschrocken reagierte er darauf. Aber dann sagte er sich, daß ein bißchen Qualm noch lange keine Gefahr darstellte. Dennoch blieb ein nagendes Unbehagen. War Lamur dem kunischen Raumfrachter vergleichbar, an dem er so kläglich gescheitert war, nur in gänzlich anderen Dimensionen? Glyndiszorn begann zu schwitzen; seine Haut glänzte wie
polierter Marmor aus dem Tal der Schneeblume. Spätestens jetzt wurde allen klar, worauf sie sich eingelassen hatten. Aber keiner wagte es, den Knotenmagier zu unterbrechen, obwohl dazu noch Gelegenheit gewesen wäre. Wieder entwand sich Glyndiszorns Händen ein schwarzes Etwas, das die Wandung der Gondel durchbrach und rasch zu einem runden Schlauch wurde, den man in gebückter Haltung mühelos betreten konnte. Antharia wollte vorstürmen, doch Querllo hielt sie im letzten Moment zurück. »Warte noch!« zischte er ihr zu. »Ich habe das Gefühl, daß einiges nicht so ist, wie es sein sollte.« Tatsächlich schien Glyndiszorn Schwierigkeiten mit der Stabilisierung des Tunnels zu haben, dessen anderes Ende zwar in weiter Ferne ein Ziel gefunden zu haben schien, das aber intensiv pulsierte. Flackernde Lichterscheinungen huschten über die Wände aus magischer Energie. Was eigentlich grau sein sollte, begann sich zu verfärben. Schon nach wenigen Augenblicken war ein düsteres, Unheil verkündendes Schwarz vorherrschend. Glyndiszorn stöhnte verhalten auf. »Dort!« schrie Opkul und deutete aufgeregt in den schwarzen Schlauch hinein. »Das war Koratzo! Ich habe sein Gesicht deutlich erkannt.« Aber niemand außer ihm hatte es gesehen. Selbst Rischa nicht, die unmittelbar neben ihm stand und den Tunnel nicht aus den Augen ließ. Doch vielleicht war es Opkuls Fernblick gewesen, der ihm die Wahrnehmung ermöglicht hatte. »Das bedeutet, daß Glyndiszorn Lamur erreichen kann«, stellte Querllo fest. Opkul nickte. »Ich glaube, daß Koratzo sich in Gefahr befindet. Es ging zwar alles viel zu schnell, dennoch …« Mit einer herrischen Bewegung bedeutete Querllo ihm zu schweigen. Er war der einzige mit einer gewissen Bindung zu
Glyndiszorn, und er bemerkte instinktiv, daß der Knotenmagier ihnen etwas mitteilen wollte. Mehr noch als zuvor wirkte sein Gesicht jetzt wie aus blankem Marmor gehauen. Kaum erkennbar bewegten sich seine Lippen. Querllo hatte einige Mühe, sich über den kugelrunden Glyndiszorn zu beugen, aber irgendwie schaffte er es, sein Ohr wenigstens in dessen Nähe zu bringen. Was er zu hören bekam, ergab wenig Sinn. Glyndiszorn flüsterte etwas von Unglück, von böser Ausstrahlung und Fehlschlag. Querllo schüttelte verständnislos den Kopf. Sicher, es gab Komplikationen, aber der Tunnel stand und reichte allem Anschein nach tatsächlich bis auf die Oberfläche von Lamur. Er streckte seine Hand nach dem Knotenmagier aus. Plötzlich lag ein gräßliches Knistern in der Luft; eiskalte blaue Funken sprangen auf ihn über, und ein Brausen wie von einem aufziehenden schweren Sturm erschütterte das Luftschiff. Finstere Nacht brach über die ORSAPAYA herein. Verschwunden waren der blaue, fast wolkenlose Himmel über diesem Teil der Großen Barriere und die gelb leuchtende Sonne, verschwunden aber auch der kleine See unterhalb des Luftschiffs und mit ihm zusammen der ganze Berg. Eine gewaltige Böschien die ORSAPAYA erfaßt zu haben und wie einen Spielball vor sich her zu treiben. Von einem Augenblick zum anderen stellte sich der Boden schräg, und es war nur Rischas Geistesgegenwart zu verdanken, daß niemand dabei zu Schaden kam. Ihre magischen Bänder hielten eisern fest, was sie einmal an seinen Platz gebunden hatten. Querllo stand wie erstarrt. Ein intensives blaues Leuchten umspielte ihn. Er schien zu schreien, aber niemand hörte ihn. Glyndiszorn saß vornübergesunken in seinem Sessel; sein Kopf ruhte auf der steinernen Tischplatte. Es sah aus, als hätte er das Bewußtsein verloren. In der Gondel der ORSAPAYA verbreitete sich eine irrlichternde
Helligkeit, ausgehend von dem an seiner Innenseite noch immer schwarzen Tunnel. Irgendwo weit im Hintergrund zuckten Blitze auf, aber es war nicht festzustellen, woher sie kamen. Und dann erscholl aus dem Nichts heraus eine Stimme, die alle kannten. Mächtig und eindrucksvoll – die magische Projektion von Koratzos Gedanken, und sie bewies ihnen, daß sie ihr Ziel erreicht hatten: Der Tunnel endete an Bord der HERGIEN. »Töte ihn …!« hallte es durch das Luftschiff. Verzweiflung lag in dieser Stimme, aber auch eine unbeschreibliche Grausamkeit. Opkul, Rischa und Antharia sahen sich gegenseitig an. »Ohne Glyndiszorn und Querllo sind wir machtlos«, sagte die Pflanzenmagierin. »Wir müssen sie wieder zu sich bringen, bevor der Tunnel zusammenbricht und die Verbindung vielleicht für immer verlorengeht.« Sie hatten gesehen, was mit Querllo geschehen war, als er den Knotenmagier berührte. Ähnliches konnte auch ihnen jederzeit widerfahren. Aber nichts geschah. Der Lichtmagier war bewußtlos, Glyndiszorn hingegen erweckte den Eindruck, nur der Realität völlig entrückt zu sein. Er brabbelte unablässig vor sich hin. Erneut schüttelte sich die ORSAPAYA wie ein scheuendes Yassel. Gleichzeitig begann der Tunnel zu pulsieren. In Sekundenabständen zog er sich zusammen, nur um sich sofort wieder auf ein Mehrfaches seines ursprünglichen Durchmessers aufzublähen. Etwas Fremdes schickte sich an, in die Gehirne der Magier einzudringen. Eine unheimliche Macht. Antharia hatte etwas sagen wollen, brach aber mit einem erstickten Schrei auf den Lippen ab. Alles um sie herum wirkte auf einmal erschreckend irreal. Instinktiv errichtete sie eine Abschirmung, doch eine unsichtbare Faust wischte sämtliche magischen Sperren hinweg. Die ORSAPAYA ächzte und stöhnte. Noch immer herrschte draußen finsterste Nacht. Nur hin und wieder riß ein Blitz das
Firmament auf. Dann war zu erkennen, daß die Trossen wenige Meter unterhalb der Gondel endeten, als wären sie mit einem gigantischen Schwert glatt durchtrennt worden. Aber sie hielten und waren nach wie vor straff gespannt. Der Dunkelheit folgte die Kälte auf den Fuß. Rauhreif legte sich auf die Scheiben, und ein tobender Blizzard nahm den Magiern schlagartig die letzte Sicht. Selbst im Innern des Luftschiffs fiel Schnee. Rischa schrie entsetzt auf und suchte bei Opkul Schutz. Etwas wie ein schnell wachsendes Geschwür bildete sich auf der Wand des Tunnels. Aber bereits nach wenigen Augenblicken platzte es auf und verschleuderte einen Schwall dunkler Materie, die überall dort, wo sie auf Metall traf, blasenwerfend verdampfte. »Wir müssen hier ʹraus!« Antharias Stimme überschlug sich förmlich. »Wenn der Tunnel außer Kontrolle gerät, sind wir nirgendwo sicher«, antwortete Opkul. Er hatte bereits Mühe, das beginnende Chaos zu übertönen. »Nein!« Eine unsichtbare Kraft warf Antharia zu Boden. Sie wollte noch die Arme hochreißen, um sich abzufangen, aber sie wurde in ihren Bewegungen behindert. Ihr Gesicht verzerrte sich zur schmerzerfüllten Grimasse. »Rischa, nicht …« Opkul verstand erst, als er das wie versteinert wirkende Gesicht der Feldermagierin unmittelbar vor sich sah. Rischa war nahe daran, durchzudrehen. Antharia hatte das auf sie zukommende magische Band zwar gespürt, doch nicht rechtzeitig genug, um diesem noch ausweichen zu können. »Rischa!« Opkul packte die elfenzarte Magierin an beiden Schultern und schüttelte sie. »Ich muß ihn töten!« Rischas Stimme war nicht mehr ihre eigene; die Worte, die sie gebrauchte, wurden ihr aufgezwungen. »Ich muß Thamum Gha toten …« Der eiskalte Hauch des Bösen schien Opkul zu streifen. Er wirbelte
förmlich herum – und erstarrte. Rischas Schreien verstummte, während sie langsam an seinen Beinen entlang zu Boden rutschte. Der Tunnel nach Lamur hatte sich erneut aufgebläht. Ein Flammenmeer füllte ihn fast völlig aus. Es schien nahe zu sein, und die Aura, die es umgab, war unverkennbar. Eiskalt überlief es Opkul. Er konnte nur noch stammeln: »Duuhl Larx …« * Plötzlich war alles ganz anders. Eisige Kälte umfing ihn und stach wie mit Hunderten spitzer Nadeln durch seine dünne Kleidung. Er fröstelte. »Wo bin ich?« murmelte Koratzo leise vor sich hin. Der heulende Wind riß ihm die Worte von den Lippen. Noch fiel es ihm schwer, sich zu erinnern, aber mit seinen wiedererwachenden Lebensgeistern kehrten auch die Bilder der Vergangenheit zurück. Die HERGIEN … Duuhl Larx … Der Auftrag zu töten … Koratzo begriff fast schlagartig. Es mußte dem Weltenmagier also gelungen sein, ihn im allerletzten Moment noch zu versetzen. Doch wo war Copasallior, hatte er selbst es nicht mehr geschafft? Von Minute zu Minute wurde der Sturm heftiger. Er trieb Unmengen von Schnee vor sich her, die jede Orientierung nahezu unmöglich machten. Der Gedanke, daß dies nicht Pthor sein könne, erschreckte Koratzo. Angestrengt lauschte er in sich hinein. Tatsächlich blieben die beruhigenden Schwingungen der Barriere aus, die mit ihrer besonderen Speicherfähigkeit für ein höchst kompliziertes energetisches Gleichgewicht sorgte. Damit war dem Stimmenmagier klar, daß er sich keinesfalls auf dem Dimensionsfahrstuhl befand.
Er fühlte sogar eine unangenehme Aura, die der bösen Ausstrahlung des Neffen Duuhl Larx zwar in nichts nachstand, aber weit weniger intensiv war. Überhaupt lag über allem ein Hauch von Tod und Vergänglichkeit, aus dem Koratzo nicht schlau wurde. Er spürte Gedanken, die aber zu weit entfernt waren, um sie hörbar zu machen. Immerhin verrieten sie ihm die Richtung, in die er zu gehen hatte, um in besiedelte Regionen zu kommen. Wohin hat Copasallior mich gebracht? Unablässig beschäftigte den Stimmenmagier diese Frage, während er in gebückter Haltung gegen den allmählich heftiger werdenden Sturm ankämpfte. Wiederholt ließ er seine magische Stimme erschallen, erhielt jedoch keine Antwort. Damit stand für ihn endgültig fest, daß Copasallior es selbst nicht geschafft hatte. Weiter! Durch den inzwischen knietiefen lockeren Neuschnee. Es war eine mühsame Art der Fortbewegung, aber allein die beißende Kälte forderte, daß er in Bewegung blieb. Koratzo kämpfte bereits geraume Zeit gegen die Unbilden einer entfesselten Natur an, als vor ihm die schattenhaften Umrisse eines Berges erkennbar wurden. Tatsächlich flaute der Sturm nun merklich ab. Das Schneetreiben blieb zwar unvermindert dicht, doch peitschten die dicken Flocken dem einsamen Wanderer nicht mehr ins Gesicht, sondern fielen sanft zu Boden. Der Stimmenmagier stieß auf ersten Pflanzenwuchs: verkrüppelte, aus dem Schnee ragende Äste. Kleine, lanzettförmige Blätter bewegten sich im Wind und immer dann, wenn sie gegeneinanderstießen, klirrte es wie zerspringendes Glas. Der Boden wurde unebener und stieg schließlich von einem Augenblick zum anderen steil an. Koratzo war gezwungen zu klettern. An manchen Stellen hatte der Wind meterhohe Wächten aufgetürmt, während an anderen Fels zutage trat, der von einer hauchdünnen Eisschicht überzogen war. Es fiel schwer, unter diesen Umständen überhaupt noch vorwärtszukommen, und Koratzo, der eine solche Art der Fortbewegung kaum kannte, spürte schon bald
Arme und Beine schwer wie Blei werden. Endlich gab ein ausgedehntes Geröllfeld dem Stimmenmagier ein wenig mehr Halt, und etliche Meter über sich entdeckte er den dunkel gähnenden Eingang zu einer Höhle. Minuten später saß Koratzo auf einem Stein und blickte mißgelaunt auf die weiße Landschaft hinaus, die sich unter ihm erstreckte. Wenigstens konnte er jetzt in Ruhe abwarten, bis das Schneetreiben vorüber war. Nach wie vor beschäftigte ihn die Frage, wohin es ihn verschlagen hatte. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr war er versucht, den Planeten Lamur anzunehmen. Copasallior dürfte kaum die Kraft besessen haben, ihn über weite Entfernungen hinweg zu transportieren, und in diesem Sonnensystem gab es keinen zweiten bewohnbaren Planeten. Koratzo glaubte sogar, daß er sich noch auf dem Kontinent Gaudhere befand und er somit nur lange genug marschieren mußte, um den Raumhafen zu erreichen. Aber vorerst war nicht daran zu denken, daß er seinen Weg fortsetzte. Wiederholt ertappte der Magier sich dabei, daß ihm die Augen zufielen. Obwohl die Kälte in seinen Gliedern steckte, vermochte er sich kaum noch wachzuhalten. Er kämpfte auch nicht lange dagegen an. Nach einer Weile war er eingeschlafen. * Irgendwann, es hatte längst aufgehört zu schneien, und der Sturm hatte sich gelegt, schreckte Koratzo auf. Eine seiner magischen Sperren vibrierte kaum merklich. Das Geräusch, das sie aufgefangen hatte, war fremd, möglicherweise bedeutete es sogar Gefahr. Mit einem Satz war Koratzo auf den Beinen und lief zum Höhleneingang. Aber nichts Ungewöhnliches zeigte sich. Der Schnee reflektierte die Strahlen der im Zenit stehenden Sonne. Weit
hinten am Horizont erstreckte sich ein langgezogenes Bergmassiv. Das Geräusch wiederholte sich, ohne daß Koratzo es lokalisieren konnte. Zurück blieb ein ungutes Gefühl, die Ahnung einer drohenden Gefahr. Es war nur wenig wärmer geworden, und noch immer schlug sich jeder Atemzug sofort nieder. Die Kälte ließ sich am besten ertragen, wenn man sich bewegte. Koratzo machte sich daher an den Abstieg über das Geröllfeld, der sich allerdings als weitaus schwieriger erwies als angenommen. Hier hatte die Sonne den Schnee inzwischen in spiegelndes Eis verwandelt. Immer wieder rutschte der Magier aus und konnte sich nur mit äußerster Anstrengung halten. Donnernd ging in der Ferne eine Lawine ab, deren eisiger Hauch ihm wie die Hand des Todes erschien. Er war fast unten angekommen, als er es zum drittenmal hörte. Es kam irgendwo aus unmittelbarer Nähe, höchstens ein Dutzend Schritte über ihm. Etliche Steine polterten den Abhang hinunter. Das Geräusch zu analysieren, fiel Koratzo diesmal nicht schwer. Einwandfrei identifizierte er es als feindlich. Daß er optisch absolut nichts wahrnehmen konnte, beunruhigte ihn. Er hörte auch keine Gedanken. Ein Tier also, das auf der Suche nach Nahrung durch die Berge streifte? Erneut lösten sich Steine aus dem Geröllfeld. Für wenige Augenblicke erkannte Koratzo einen verschwommenen Schatten, der sich nur unmerklich gegen den Schnee abhob. Was immer es sein mochte, es näherte sich ihm. Der Magier setzte seinen Weg in die Ebene fort. Sich seiner eigenen Stärke durchaus bewußt, konnte er ruhig abwarten und seinem Wissensdrang nachgeben. Im nächsten Moment brach der Schnee unter seinen Füßen ein. Es war zu spät, um noch zur Seite zu springen. Koratzo fiel. Nicht tief zum Glück, doch war der Aufprall dafür
um so schmerzhafter. Bizarre Eisformationen zersplitterten unter seinem Gewicht. Während Koratzo noch benommen feststellte, daß er mit ausgestreckten Armen gerade so den Rand des Loches erreichen konnte, in das er gestürzt war, fiel ein Schatten auf ihn. Etwas Weißes, Pelziges schob sich von oben herab. Vor dem Hintergrund des Himmels konnte er zum erstenmal erkennen, was ihm die ganze Zeit über gefolgt war. Ein meterlanger, dünner Körper, dicht behaart und über und über von Schnee und Eis bedeckt. Das einzige Geräusch entstand, wenn dieses Wesen sich ähnlich einer Raupe zusammenzog und wieder streckte. Nichts sonst – keine Gedanken. Doch dann schauderte Koratzo, als mit urwüchsiger Gewalt seine Sperren durchbrochen wurden. Obwohl das Tier noch gut zwei Meter von ihm entfernt war, spürte er einen schmerzhaften Schlag gegen seine linke Schulter, der ihm das Wasser in die Augen trieb. »So ist das also.« Koratzo schnalzte leise mit der Zunge, dann produzierte er jene Laute, mit deren Hilfe er einen Gegner lähmen konnte. Irgendwie hatte er sogar erwartet, daß die Raupe sich davon nicht beeindrucken ließ. Ein erneuter, heftiger Schlag riß ihm die Beine weg. Hart fiel Koratzo auf sein verlängertes Rückgrat, was er mit einer Verwünschung quittierte. Nicht nur, daß das Tier gegen jegliche Beeinflussung unempfindlich war, es schien selbst mit magischen Kräften ausgestattet zu sein, die es auch treffsicher anzuwenden verstand. Unter diesen Umständen war Koratzo nicht gewillt, die Auseinandersetzung unnötig in die Länge zu ziehen. Mit seiner Stimme brachte er das überall vorhandene Eis zum Bersten. Wie winzige Geschosse sausten kleine und kleinste Splitter durch die Luft. Aber keiner davon kam auch nur in die Nähe des
Magiers. Sofort legte sich ein beklemmender Druck auf seinen Brustkorb, der ihm die Luft aus den Lungen trieb. Eine unsichtbare Kraft schien nach seinem Herzen zu greifen, und erste feurige Kreise tauchten vor seinen Augen auf. Aber noch war der Stimmenmagier fähig, zurückzuschlagen. Krachend stürzten meterhohe Schnee‐ und Eismassen in sich zusammen und begruben die Raupe unter sich. Fast gleichzeitig fiel der ungeheure Druck von Koratzo ab, der erleichtert aufatmete. So schnell es ihm möglich war, kletterte er über den aufgetürmten Schneehaufen nach oben. Er konnte keineswegs sicher sein, das Tier getötet zu haben, und wartete jeden Augenblick darauf, erneut angegriffen zu werden. Aber nichts geschah. Nur einige kaum wahrnehmbare Geräusche verrieten ihm, daß unter dem Schnee noch Leben war. Koratzo zögerte nun nicht mehr, seinen Weg nach Osten fortzusetzen. Die Begegnung mit der Raupe hatte ihm klargemacht, daß er künftig vorsichtiger sein mußte.
5. Opkul war wie gelähmt. Zum Greifen nahe schien der Neffe des Dunklen Oheims vor ihm zu stehen. Und doch wußte der Magier, daß Duuhl Larx noch nicht in den Tunnel eindringen konnte. Nicht? Vielleicht war es eine Folgeerscheinung der unkalkulierbaren Kräfte, vor denen Glyndiszorn gewarnt hatte. Opkul begann jedenfalls zu bezweifeln, daß ihre Handlungsweise wirklich die einzig richtige gewesen war. Krachende Entladungen ließen den Tunnel des Knotenmagiers sich aufbäumen. Als er nach scheinbar einer kleinen Ewigkeit wieder zur Ruhe kam, war Duuhl Larx verschwunden. Opkul atmete erleichtert auf. Urplötzlich fiel ihm Rischa wieder ein. Die Feldermagierin lag noch immer in verkrümmter Haltung zu seinen Füßen, aber sie begann sich zu bewegen. Verhaltenes Stöhnen kam auch aus der Richtung, wo Glyndiszorn nach wie vor in unveränderter Haltung halb über den Tisch gebeugt in seinem Sessel lag. »Copasallior«, erklang seine keifende Stimme. »Copasallior, ich fühle dich, du bist …« Gurgelnd brach er mitten im Satz ab. »So helft ihm endlich!« schrie Antharia auf. »Sein eigener Tunnel verschlingt ihn sonst.« Tatsächlich schwebte unmittelbar vor Glyndiszorn ein trichterförmiger Ausläufer, der sich zunehmend weiter vorstülpte. Entweder bemerkte der Knotenmagier diese fatale Entwicklung nicht, oder er war unfähig, etwas dagegen zu unternehmen. Zumindest Opkul hatte den Eindruck, daß Glyndiszorn die Kontrolle verloren hatte. »Hat nicht eben jemand von Copasallior gesprochen?« Stockend
kam es von Rischa, die sich mühsam aufrichtete. Auch Querllo stand bereits wieder, wenn auch schwankend, auf seinen Beinen. »Glyndiszorn«, nickte Opkul kurz. »Irgendwie scheint er die Nähe unserer Freunde zu spüren.« Im flackernden Widerschein der mehr als einen Meter durchmessenden Auswölbung erschien das Gesicht des Knotenmagiers schwarz wie Ebenholz. »Was geschieht, wenn der Tunnel ihn berührt?« fragte Rischa stockend. »Normalerweise nichts«, antwortete Querllo. »In diesem besonderen Fall aber …« Zischend löste sich der kristallene Würfel auf. In der Tischplatte entstand ein Loch, dessen Ränder leicht glühten. Und Zentimeter um Zentimeter schob sich der wabernde Trichter vorwärts. »Worauf wartet ihr noch? Rischa …!« Verzweiflung schwang in Antharias Stimme mit. Die Feldermagierin war die einzige, die in dieser Situation helfen konnte. Wenn es jemandem möglich war, den Ausläufer des Tunnels zu stoppen, dann ihr. Es bedurfte keiner weiteren Aufforderung; Rischa war soweit wieder klar, daß sie die Lage überblickte. Antharia spürte die unsichtbaren magischen Bänder, die sich blitzartig um Glyndiszorn herum aufbauten, und nickte zufrieden. Keine Sekunde zu früh … Einen Augenblick lang herrschte angespannte Erwartung, bevor der Trichter gegen die Sperre prallte, nur wenige Zentimeter von Glyndiszorns Gesicht entfernt. Das wallende Schwarz schien einzuhalten, breitete sich dann aber um so schneller zu den Seiten hin aus. Zur Hälfte verschwand der Knotenmagier hinter der lichtschluckenden Schwärze. »Warum unternimmt er nichts dagegen? Er ist doch bei Bewußtsein.« Querllo erwartete nicht, daß ihm jemand diese Frage beantwortete. Aber er konnte nicht einfach nur schweigend zusehen.
Rischa war so in ihre Aufgabe versunken, Glyndiszorn zu schützen, daß sie den neuen Ausläufer des Trichters gar nicht bemerkte, der nun auch nach ihr tastete, als wäre der immer heftiger pulsierende Tunnel auf der Suche nach Beute. In Wirklichkeit konnten nur die geballten magischen Energien schuld daran sein, die das Gebilde überhaupt erst zu dem machten, was es war, und die aus Räumen, die sich jeder menschlichen Betrachtungsweise entzogen, unablässig erneuert wurden. Fast schien es, als entwickelten sie eine gewisse Affinität zu jedweden magischen Vorgängen. Querllo wußte das, und er war sich auch im klaren darüber, daß er das nächste Opfer sein würde, sobald er versuchte, Rischa zu helfen. Doch konnte er nicht einfach tatenlos zusehen. Wenn es nirgendwo ein Halten gab, würde der Tunnel sich immer weiter ausdehnen, und niemand vermochte zu sagen, ob eine Sättigungsgrenze in nächster Zeit erreicht wurde. Mitten in der Gondel der ORSAPAYA entstand wie aus dem Nichts heraus eine fast weiß glühende Wolke. Sie senkte sich so schnell auf den tastenden Schlauch herab, daß niemand ihr folgen konnte. Funken versprühten nach allen Seiten und brannten winzige Löcher in kostbare Teppiche – durchweg Beutestücke von Welten, die Pthor irgendwann einmal heimgesucht hatte. Das helle Glühen erlosch schlagartig. Aber wenn Querllo sich nicht täuschte, war der tastende Ausläufer des Tunnels langsamer geworden. Dadurch ermutigt, ließ er zwei neue Wolken entstehen, die in einer Art Zangenbewegung das magische Gebilde attackierten. Das war der Zeitpunkt, als Glyndiszorn sich wieder zu bewegen begann. Leise gemurmelte Sprüche bewirkten, daß die Schwärze sich langsam von ihm zurückzog. Querllo erschrak über das Aussehen des Knotenmagiers, der schweißüberströmt aus weit aufgerissenen Augen vor sich hinstarrte. Sein Gesicht ähnelte dem
eines Toten, und an seinen Händen traten die Knochen bleich schimmernd unter einer Haut hervor, die dünn und brüchig schien wie altes Pergament. Offenbar versuchte Glyndiszorn krampfhaft, den Tunnel wieder unter seine Kontrolle zu bekommen. Ein grauenhafter Aufschrei rief Querllo seine beiden Wolken ins Gedächtnis zurück. Aber was war inzwischen aus ihnen geworden … Eine leuchtende Spirale, die die rasend schnelle Rotation des Tunnels mitmachte und sich unaufhaltsam der Feldermagierin näherte. Da stand Rischa, kreidebleich, zitternd und den Blick scheinbar in endlose Fernen gerichtet. Hinter ihr Opkul und Antharia, denen die Anstrengung in die Gesichter geschrieben war. Sie taten ihr Möglichstes, um Sperren aufzurichten. Aber sie erreichten damit nichts. Das wäre nur Glyndiszorn möglich gewesen, doch hatte der Knotenmagier mehr als genug mit sich selbst zu tun. Niemand war in der Lage, Rischa zu helfen, als sie leblos zusammenbrach. * Ihm fehlte jede Möglichkeit, festzustellen, wie lange er nun schon durch die eintönige Schneelandschaft stapfte. Aber es mußten drei oder vier Stunden pthorischer Zeitrechnung sein, in denen er eine Strecke von vielleicht zehn Kilometern zurückgelegt hatte. Lamur besaß eine überaus lange Rotationsdauer, und wenn er zum Himmel aufsah, war die kleine gelbe Sonne seit seinem Aufbruch aus der Höhle tatsächlich nur um eine Handbreit weitergewandert und stand hoch immer fast senkrecht im Zenit. Bald mußte er besiedelte Regionen erreichen. Immer deutlicher wurden seine Wahrnehmungen, wenngleich er keine Gedanken hörbar machen konnte. Ihm schien, als existiere auf dieser Welt etwas, das die Sensibilität seiner magischen Sinne merklich dämpfte.
Und noch etwas machte Koratzo nachdenklich. Er hatte erwartet, auf der Hauptwelt des Neffen Thamum Gha eine deutlich negativere Ausstrahlung anzutreffen, als dies wirklich der Fall war. Noch an Bord der HERGIEN war er der Meinung gewesen, ein Zunehmen der bösen Kräfte zu verspüren. Aber vielleicht würde alles sich ändern, wenn er erst in die Nähe des Raumhafens gelangte. Je weiter Koratzo kam, desto mehr wich der Schnee einer üppigen Vegetation. Es wurde merklich wärmer. Im Schatten eines weit ausladenden Baumes legte der Magier dann eine kurze Pause ein, um seinen schmerzenden Füßen ein wenig Ruhe zu gönnen. Er suchte den Himmel ab, der wolkenlos war und von einem tiefen Blau. Aber kein Raumschiff war zu sehen. Dabei hätte man annehmen müssen, daß eine bedeutende Welt wie Lamur auch entsprechend häufig angeflogen wurde. Endlich entdeckte der Magier einen winzigen, golden schimmernden Punkt über sich, der nach einer Weile in nicht allzu weiter Entfernung zur Landung ansetzte. Ein Organschiff? Eines von vielen Dutzenden, die in dieser Zeit hätten landen oder starten sollen … Verständnislos schüttelte Koratzo den Kopf. Aber vielleicht hatte Duuhl Larx sein Vorhaben bereits wahrgemacht und den Mord an Thamum Gha begangen. Diese Möglichkeit durfte er keinesfalls außer acht lassen. Erneut konzentrierte Koratzo sich darauf, irgendwelche Gedanken für sich hörbar zu machen, um auf diese Weise zu erfahren, was inzwischen geschehen war. Auch jetzt konnte er nicht viel mehr als ein unverständliches Durcheinander erfassen. Doch dafür machte er eine unerwartete Entdeckung. Nicht sehr weit entfernt durchzog eine Gesteinsader das Erdreich, die vereinzelt Kristalle enthielt, deren Speicherfähigkeit weit über dem Durchschnitt normaler Fundstellen lag. Nur in der Großen Barriere von Oth stand besseres Material zur Verfügung.
Aber Koratzo war nicht auf Pthor, und er mußte sich mit dem zufriedengeben, was er hier vorfand. Der Magier vergaß seine brennenden Fußsohlen, als er seine Stimme einsetzte und gleich darauf sanft vom Erdboden abhob und mehr als einen halben Meter in die Höhe stieg. Welch herrliches Gefühl, auf diese Weise zu schweben. Vor allem bedurfte es dazu keinerlei nennenswerter Anstrengung. Koratzo hoffte inbrünstig, die Gesteinsader möge sich weit nach Osten hin erstrecken. Er veränderte seine Stimme. Mit mäßiger Geschwindigkeit, aber dennoch um ein vielfaches schneller, als er es zu Fuß gewesen wäre, schwebte er einen schmalen, weit mäandernden Bach entlang, der nach und nach durch Hochwasser führende Zuflüsse zu einem nicht unbeachtlichen Strom anschwoll, dem Xamyhr durchaus vergleichbar. Koratzo schätzte, daß er ohne die magische Art der Fortbewegung wohl bis zum Abend unterwegs gewesen wäre, wohingegen er jetzt kaum mehr als eine halbe Stunde benötigt hatte. Vor ihm erstreckte sich eine erste kleine Ansiedlung. Der dunkle Schatten am Horizont mochte die eigentliche Metropole sein, die dem Raumhafen vorgelagert war. Doch Koratzo beschloß, sich zunächst einmal in aller Ruhe umzusehen, bevor er über sein weiteres Vorgehen entschied. Den Rest des Weges legte er dann zu Fuß zurück. Aus der Nähe gesehen, wirkte die Stadt recht eindrucksvoll. Die Gebäude, obwohl keines von ihnen höher als vier Stockwerke war, zeugten durchweg von architektonischer Kühnheit. Aber dem Stimmenmagier erschien seine Wohnhalle in der Tronx‐Kette trotz aller Einfachheit ungleich heimeliger als diese Häuser aus Metall und Kunststoff. Auf gewisse Weise strahlten sie eine Kälte aus, die den Betrachter frösteln ließ. Weite, schnurgerade verlaufende Straßenzüge waren das genaue Gegenteil einer ästhetisch schönen magischen Linienführung. Koratzo lief über schwarzes, facettenartig verlegtes Pflaster, das, sooft er auch stehenblieb und sich umsah, wie das riesige Auge
eines Insekts wirkte, das ihn unablässig musterte. Daß dem aber nicht so war, konnte er schnell feststellen. Das Pflaster bestand aus ganz normalem Gestein, das keinerlei Energie zu speichern vermochte. Dumpf hallten seine Schritte von den Hauswänden wider. Wie ausgestorben lag die Stadt vor dem Magier, und doch fühlte er, daß überall Leben war. Eigentlich mußte es ihm nun möglich sein, die Gedanken einer beliebigen Zielperson hörbar zu machen. Aber alle Bemühungen blieben umsonst. Koratzo war gerade im Begriff, den großen freien Platz im Zentrum der Stadt zu betreten, als er aus den Augenwinkel heraus eine flüchtige Bewegung wahrnahm. Ein Schatten, der sich soeben anschickte, in einem der Häuser zu verschwinden. Koratzo wirbelte herum. Seine Stimme wirkte paralysierend, und das Wesen, das er wahrgenommen hatte, verharrte auf der Stelle. Ein Ugharte. Der Magier hatte auch nichts anderes erwartet, als auf diese großen, kräftigen Zweibeiner mit dunkler Haut, platten Nasen und dichten, schwarzen Mähnen zu stoßen, die immerhin die Hauptstreitmacht des Neffen Thamum Gha bildeten. Er ließ dem Ugharten gerade soviel Freiheit, daß dieser seine Fragen beantworten konnte. »Wo bin ich hier?« »In Drieves«, lautete die schnelle, aber monotone Antwort. »Liegt die Stadt auf Gaudhere?« »Westlich des Raumhafens.« Natürlich kontrollierte Koratzo die Gedanken des Ugharten. Da er diesem unmittelbar gegenüberstand, fiel es ihm leicht wie immer. Der Ugharte, der sich übrigens Mantor nannte, sagte die Wahrheit. »Wie gelange ich am schnellsten dorthin?« »Nur mit einem Gleiter«, erklärte Mantor. »Immerhin beträgt die Entfernung rund achtzig Kilometer und dazwischen liegt der Palast, der Sperrgebiet ist.«
Koratzo nickte zufrieden, bevor er mit dem Verhör fortfuhr. »Ist Drieves unbewohnt?« »Nein.« »Aber – wo sind die anderen, was tun sie?« »Sie warten«, sagte Mantor, als sei dies die natürlichste Beschäftigung überhaupt. »Worauf warten sie?« »Auf neue Befehle.« Koratzo hatte das Gefühl, sich im Kreise zu drehen: Der Ugharte dachte nur das, was er auch sagte. Wenn er mehr erfahren wollte, mußte er ihm daher die ganze Freiheit zurückgeben. Mantors erster Impuls war zu fliehen. »Bleib!« befahl Koratzo nachdrücklich, und Mantor wunderte sich, weshalb seine Beine plötzlich nicht mehr so wollten wie er. »Wer gibt euch diese Befehle? Der Neffe des Dunklen Oheims?« Mantor schwieg, und der Stimmenmagier stellte überrascht fest, daß er an überhaupt nichts dachte. »Wo hält Thamum Gha sich jetzt auf?« Wieder keine Antwort und nicht ein einziger Gedanke. Apathisch starrte der Ugharte vor sich hin. Koratzo war am Ende seiner Weisheit angelangt. Was hätte er noch tun können, um Mantor zum Sprechen zu bewegen? Er zeigte auf das Haus, vor dem sie standen. »Sind da drinnen Ugharten?« Mantor bejahte. »Führe mich zu ihnen!« Kaum hatte Koratzo das Gebäude betreten, als er auch schon überrascht feststellte, daß er nach wie vor die Straße auf ihre ganze Länge überblicken konnte. Fast alle Wände waren von innen durchsichtig, auch die, die von der anderen Seite her den Eindruck von Metall erweckt hatten. Mantor führte den Stimmenmagier durch einen langen, schmalen Korridor, der sein Licht unmittelbar von der hoch stehenden Sonne
erhielt. Automatisch öffnete sich eine Tür vor ihnen, und sie betraten einen geräumigen Saal. Auf den ersten Blick hatte Koratzo Mühe, sich zwischen den unzähligen Einrichtungsgegenständen zurechtzufinden, die auf ihn wie ein Alptraum wirkten. Hier gab es keine einheitliche Linie, keine Konzeption. Jeder der Bewohner schien seinen eigenen, ganz persönlichen Geschmack verwirklicht zu haben. Andeutungsweise vollführte Mantor eine einladende Geste und sagte: »Hier!« Zögernd machte der Stimmenmagier einen Schritt vorwärts, und schon stand er inmitten des unglaublichen Tohuwabohus, und eine Wolke der unterschiedlichsten Düfte schlug über ihm zusammen. Quietschend floh etwas vor ihm, das er für ein pralles Kissen gehalten hatte. Es verschwand unter irgendwelchen eigenwillig geformten Möbeln und kam nicht mehr zum Vorschein. Koratzo entdeckte mehrere Ugharten, die sein Kommen überhaupt nicht zu bemerken schienen. Sie warteten – und das war eben alles. Verständnislos schüttelte der Magier den Kopf. »Das könnt ihr mit mir nicht machen«, sagte er zu Mantor. Überdeutlich fühlte er das Irreale, das dieser Situation anhaftete. Wessen Gedanken er auch hörbar machte, sie drehten sich immer nur um die gleichen banalen Dinge des täglichen Lebens. Stumpfsinn schlug ihm von allen Seiten entgegen. Es war, als ob die Ugharten ihren Lebenswillen verloren hätten. Sie dämmerten nur noch vor sich hin. Koratzo hielt es keineswegs für ausgeschlossen, daß er zufällig einer Teufelei des Neffen Thamum Gha auf die Schliche gekommen war. Sollte das, was er hier erlebte, mit der völligen geistigen Versklavung sämtlicher Völker des Guftuk‐Reviers und vielleicht auch noch darüber hinaus enden? So etwas wäre eines Neffen durchaus würdig gewesen. Spontan entschied sich der Magier dafür, dem Palast einen Besuch
abzustatten. Zur HERGIEN würde er noch früh genug zurückkehren, und vielleicht hatte Copasallior inzwischen ebenfalls fliehen können. »Gibt es in der Stadt einen Gleiter?« fragte er Mantor. »Dann führe mich hin.« Schlurfenden Schrittes ging der Ugharte voran. Das Gebäude verfügte über einen geräumigen Innenhof, auf dem Koratzo schon von weitem ein stromlinienförmiges Fahrzeug stehen sah. An diesem Produkt der Antimagie hätte vielleicht die Gerätmagierin Islar ihre helle Freude gehabt, Koratzo hingegen betrachtete es voll Skepsis. Fliegen konnte er dieses Monstrum ohnehin nicht, denn es war mit einem Zugor nicht zu vergleichen. Indes ließ sich Mantors Gedanken entnehmen, daß er mit dem Gleiter umzugehen verstand. Der Stimmenmagier brauchte sich kaum anzustrengen, um ihn dazu zu bewegen, daß er hinter den Kontrollen des Fahrzeugs Platz nahm. Mit viel Geschick steuerte Mantor den Gleiter aus dem Innenhof hinaus. In langsamem Flug ging es dann dicht über dem Boden nach Osten. Das Gelände war leicht hügelig, was Koratzo sehr gelegen kam. Je später sie bemerkt wurden, desto besser. Immerhin mußte er damit rechnen, daß die Grenze zum Sperrgebiet auch für einen Magier unüberwindbar war.
6. Die Feldermagierin hatte das Gefühl, in endlose Tiefen zu stürzen. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Hilflos wartete sie auf den vernichtenden Aufprall, der irgendwann kommen mußte. Doch nach und nach setzte sich die Erkenntnis durch, daß vieles anders geworden war. Sie besaß keinen Körper mehr, der Schaden nehmen konnte. Nur ihr Bewußtsein stürzte durch unbekannte Räume. Rischa hatte sich zu spät Sorgen um ihre eigene Sicherheit gemacht, war nur darauf bedacht gewesen, dem Knotenmagier zu helfen. Auch Opkul und Antharia waren nicht mehr in der Lage gewesen, das Verderben aufzuhalten. War es zunächst noch eine namenlose Trauer, die Rischa empfand, so fühlte sie sich im Lauf der Zeit doch zuversichtlicher und wurde ruhiger. Zeit – ein relativer Begriff, der auf den Raum, durch den sie fiel, sicher nicht anzuwenden war. Aus dem anfänglichen Sturz wurde ein sanftes Gleiten. Die Feldermagierin lernte, sich aus eigener Kraft zu bewegen. Sie brauchte nur zu denken, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Kein Körper behinderte sie mehr. Rischa konnte so schnell sein wie das Licht, wenn sie nur wollte. Zwei Sonnen lagen vor ihr, die heller strahlten, als selbst Querllos Lichtlanzen es vermocht hätten. Kein schwarzer Kern dämpfte ihren Schein, wie dies in der Schwarzen Galaxis der Fall war. Aber, fragte sich Rischa verstört, wo bin ich dann? Copasallior fiel ihr ein, dessen Magie sich auch auf die »Welt jenseits der Wirklichkeit« erstreckte, die er für seine Art der zeitlosen Fortbewegung nutzte. Hatte sie einen ähnlichen Schritt getan, nur ohne die Möglichkeit der Rückkehr? Rischa schauderte bei dem Gedanken daran, daß sie für immer in
diesem Raum gefangen sein könnte. Pthor war ihre Heimat, dorthin mußte sie zurückkehren. Nichts würde ihr je die Gipfel der Tronx‐Kette und der Großen Barriere ersetzen. Die Feldermagierin konzentrierte sich auf den Dimensionsfahrstuhl. Wenn sie erst wieder in dessen Nähe war … Aber nichts geschah. Alles blieb unverändert. Doch plötzlich war da eine Stimme in ihren Gedanken, die zu ihr sprach, die auf seltsame Weise Ruhe und Geborgenheit vermittelte. Friede herrschte hier, ganz anders als dort, woher Rischa kam, aber auch eine Art ängstlicher Erwartung. Du kannst nicht zurückkehren, hörte sie, jedenfalls nicht aus eigenem Antrieb. Sie nahm es hin, ohne etwas dabei zu empfinden, obwohl sie noch immer Pthor vor sich sah, die schneebedeckten Gipfel der Berge … Wo bin ich hier? fragte sie lautlos. Und wie gelange ich wirklich zurück? Beide Fragen sind nur schwer zu beantworten. Wir wollen es aber versuchen, soweit uns das möglich ist. Von allen Seiten zugleich schien die Stimme zu kommen. Magie? Kaum hatte Rischa das gedacht, als sie auch schon ein erheitertes Kichern vernahm. Nicht alles ist Magie, was nicht auf Anhieb eine Erklärung findet. Du bezeichnest es so, weil dein Leben nur darauf ausgerichtet ist, aber es ist … eben anders. Ich verstehe, meinte Rischa, war sich dessen aber keineswegs so sicher, wie sie vorgab. Der Raum schien jetzt in ständiger Veränderung begriffen. Oder war alles nur Illusion? Hier ist nicht der Weltraum, wie du ihn kennst … Also doch! durchzuckte es die Magierin. Wir nennen diese Region das »Randgebiet der Höheren Welten«. Ein
unglücklicher Zufall hat dich hierher verschlagen, der zum Teil aber von dir selbst verschuldet wurde. Wir hätten die Warnung des Knotenmagiers vor den bösen Kräften, die auf Lamur existieren, nicht in den Wind schlagen sollen, bekannte Rischa. Leider läßt sich Geschehenes nicht rückgängig machen. Doch sagt mir, wo befinden sich diese Höheren Welten? Unbewußt benutzte sie die Anrede im Plural, obwohl die Stimme, die mit ihr sprach, genausogut von einem wie von hundert Wesen stammen konnte. Es war wohl, weil diese von sich ebenfalls in der Mehrzahl redete. Du darfst es nicht erfahren, Magierin, weil wir uns nicht unnötiger Gefahr aussetzen wollen. Wir wissen, daß du das Böse verabscheust, nur deshalb traten wir überhaupt mit dir in Verbindung. Versuche, nach deiner Rückkehr in die Große Barriere von Oth zu vergessen, was du hier gehört hast; es wäre besser für dich – und für uns. Eines Tages vielleicht, wenn der Dunkle Oheim … Rischa fühlte, wie erneut von außen etwas auf sie eindrang. Eine unheimliche Kraft, der sie nicht viel entgegenzusetzen hatte. Sträube dich nicht, sagte die Stimme zu ihr. Du wirst dorthin zurückkehren, woher du kamst. Du wolltest wissen, wie. Nun, das eng begrenzte Zusammentreffen dreier unterschiedlicher Energieformen verursachte einen Rückschlag auf die schwächste der vertretenen Komponenten: die Magie. Der von Glyndiszorn errichtete Tunnel, die starke negative Ausstrahlung des Neffen Duuhl Larx, verbunden mit den Gegebenheiten des Planeten Lamur und weitere magische Aktivitäten in unmittelbarer Nähe des Neffen bewirkten ein Aufreißen des Raum‐Zeit‐ Kontinuums, das … Alles um Rischa herum versank in einem rasenden Wirbel. Während das Licht der fernen Sonnen verblaßte, blieb ihr keine Zeit mehr, über die erhaltene Erklärung nachzudenken. Pthor! Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als wieder dort sein zu können, woher sie gekommen war. Erneut hüllte eine vollkommene Schwärze sie ein.
Dunkelheit und Einsamkeit … Rischa kam sich unendlich verloren vor, ohne jedes Gefühl für Raum und Zeit. * Der dunkle Schatten am Horizont, den Koratzo von Drieves aus noch für die eigentliche Metropole gehalten hatte, entpuppte sich als ein einziges Gebäude von schier gigantischen Ausmaßen. »Der Palast von Gaudhere«, erklärte Mantor, als er dazu aufgefordert wurde. »Hält Thamum Gha sich dort auf?« Der Ugharte machte eine Geste, die wohl einem Schulterzucken vergleichbar war. Plötzlich wurde er gesprächiger. Vielleicht war es die Nähe des Palasts, die ihm die Zunge löste. »Es hieß, daß dringende Geschäfte die Anwesenheit des Neffen außerhalb von Lamur erforderlich machten.« »Weißt du, worum es dabei ging?« »Das hat niemand erfahren. Nur, daß Dinge von außerordentlicher Wichtigkeit geschahen.« Pthor, dachte Koratzo. Nichts anderes kann damit gemeint sein. Laut fragte er: »War dabei auch die Rede von anderen Neffen?« Eine Weile schien Mantor nachzudenken, obwohl seinen Gedanken nichts zu entnehmen war. »Die äußeren Reviere sind unfähig«, sagte er dann. »Selbst Scuddamoren und Trugen haben versagt.« Koratzo winkte ab. Er mußte einsehen, daß er von Mantor nicht viel mehr erfahren würde, als er ohnehin schon wußte. Der Palast füllte inzwischen den ganzen Horizont aus, obwohl sie schätzungsweise noch fünf Flugminuten entfernt waren. Eine eigene kleine Welt hatte Thamum Gha sich da geschaffen – eine Welt, die überwiegend aus Stahl zu bestehen schien. Wie ein kostbares Juwel
schimmerte sie im Schein der Sonne. Zwischen dem Gleiter und dem Palast erstreckte sich ein Streifen dunkles, verbrannt wirkendes Land. Der Stimmenmagier fragte Mantor nach dessen Bedeutung. »Die erste Sicherheitszone«, erklärte der Ugharte. Etliche hundert Meter vor deren Beginn landete er den Gleiter in der trügerischen Deckung einzelner Bäume. Als auch nach etlichen Minuten nichts geschah, konnte Koratzo halbwegs sicher sein, daß die tief fliegende Maschine unbemerkt geblieben war. Er nahm Gedanken wahr, aber es erging ihm nicht besser als in Drieves, denn ihr Sinn blieb ihm verborgen. Koratzo würde seinen weiteren Weg zu Fuß fortsetzen. Wenn er magische Sperren aufbaute, konnte er vielleicht manches Ortungssystem ausschalten. Allein aus diesem Grund verbot es sich, daß er in Begleitung Mantors aufbrach. Allerdings war ihm auch nicht damit gedient, wenn er den Ugharten nach Drieves zurückschickte. Unter Umständen konnte er schnell wieder auf den Gleiter angewiesen sein. »Du wartest hier auf mich!« befahl Koratzo deshalb, und der Klang seiner Stimme ließ keinen Widerspruch aufkommen. »Sollte ich bis in zwei Tagen nicht zurückgekehrt sein, bist du frei und kannst gehen, wohin du willst. Und du wirst unsere Begegnung vergessen.« Mantor wiederholte den Begriff zwei Tage in Gedanken. Er hatte also verstanden. Ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen, brach Koratzo auf. Der Magier wußte, daß er sich auf die Wirkung seiner hypnotischen Stimme verlassen konnte. Erst nach Ablauf der genannten Frist würde er den Ugharten hier nicht mehr vorfinden. Aber bis dahin war eine lange Zeit. Minuten später stand Koratzo vor dem dunklen Streifen der Sicherheitszone. Hier waren tatsächlich auf einer Breite von mehreren Metern Pflanzen und sogar das Erdreich verbrannt. Der
Boden schien nur aus feinem schwarzem Staub zu bestehen. Der Stimmenmagier schloß auf einen antimagischen Energieschirm. Für ihn trotz seiner besonderen Fähigkeiten ein wohl unüberwindliches Hindernis. Damit rückte als nächstes Ziel der Raumhafen von Gaudhere wieder in den Vordergrund. Koratzo bückte sich nach einem faustgroßen Stein und warf ihn in Richtung auf den Palast. Eine andere Möglichkeit, die Wirkungsweise des vermeintlichen Schutzschirms festzustellen, hatte er nicht. Doch der Stein glühte weder mitten in der Luft auf, noch fiel er wie von Geisterhand gestoppt zu Boden. Er flog weit über die verbrannte Zone hinaus, bevor er, den Gesetzen der Schwerkraft gehorchend, irgendwo in saftigem Gras aufschlug. Unwillkürlich zuckte Koratzo zusammen. War es Zufall, Schicksal, oder …? Und gerade dieses oder wirkte schwer. Was, wenn der Energieschirm nur auf organische Materie wirkte? Hatte er überhaupt das Recht dazu, sein Leben auf diese Weise in Gefahr zu bringen? Er dachte nicht länger darüber nach, denn das hätte ihn mit einiger Wahrscheinlichkeit in einen Zwiespalt gestürzt, der ihm das Wohl und Wehe aller Magier von Oth vor Augen führte. Nach den Auseinandersetzungen am Skatha‐Hir gab es nur noch wenig mehr als zweihundert Magier auf ganz Pthor, und der Tod eines einzelnen wog schwer. Vorsichtig streckte Koratzo eine Hand aus … Aber nichts geschah. Kein Blitz, der aus heiterem Himmel auf ihn herniederfuhr, blendete ihn. Ein Schritt, zaghaft noch und jeden Augenblick mit dem Schlimmsten rechnend; ein zweiter, schneller, Platz greifender, bis saftiges Grün das Ende des Todesstreifens kennzeichnete. Erleichtert atmete Koratzo auf und ließ seine Sperren fallen. Ein Blick zurück zeigte ihm, daß er deutliche Spuren hinterlassen hatte. Der Boden war auch unter der obersten Staubschicht verbrannt.
Wie ein stählernes Gebirge erhob sich der Palast vor ihm – drohend und gigantisch, obwohl noch immer etliche Kilometer entfernt. Koratzo eilte weiter. Er wußte nicht, was ihn erwartete, aber die Gegebenheiten, die er vorfand, würden über sein weiteres Handeln entscheiden. Er spielte sogar mit dem Gedanken, Thamum Gha über die Machenschaften des Neffen aus dem Rghul‐Revier aufzuklären. Der Stimmenmagier versprach sich davon eine drastische Beschneidung der Macht des Duuhl Larx. Und die Chance, zusammen mit Copasallior nach Pthor zurückkehren zu können. Die Frage war nur, ob man ihn jemals anhören und bis zu Thamum Gha oder einem seiner Vertrauten vorlassen würde. Aber notfalls würde Koratzo ihm eine Botschaft zuspielen, sobald er erst einmal wußte, wo der Neffe sich aufhielt. Eine Stimme, scheinbar aus dem Nichts heraus kommend, erweckte sicher größeren Glauben als jede persönliche Fürsprache. Ein durchdringender Geruch wie nach verbranntem Fleisch machte sich bemerkbar, je näher der Magier dem Palast kam. Schließlich wurde ihm der Weg durch einen meterhohen Wall aus frisch aufgeworfenem Erdreich versperrt. Koratzo stürmte den Hügel hinauf. Hier wurde der Gestank fast unerträglich. Schwelende Trümmer lagen in weitem Umkreis verstreut. Sie mußten mit unvorstellbarer Wucht aufgeschlagen sein und hatten sich teilweise tief in die Erde gebohrt. Die Überreste eines kleineren Organschiffs, das vor nicht allzu langer Zeit über dem Gebiet des Palasts abgestürzt war. Koratzo bückte sich nach einem etwa armlangen Bruchstück. Es war weich und nachgiebig, fast von schwammiger Konsistenz, und es schien unter der Berührung förmlich zusammenzuzucken. Angewidert schleuderte er es von sich. Nichts deutete darauf hin, daß sich bereits jemand an der Absturzstelle zu schaffen gemacht hatte. Vorsichtig ging Koratzo
weiter. Allmählich gewöhnte er sich an den Übelkeit erregenden Gestank, den die verbrannte Organmasse verströmte. Die ersten deformierten Metallteile ragten vor ihm auf – klägliche Reste offenbar explodierter Aggregate. Die Zone verbrannter Erde fiel dem Magier wieder ein. Falls das abstürzende Raumschiff am Zusammenbruch der energetischen Barriere schuld war, mußte dieser Vorfall etliche Stunden zurückliegen. Weshalb war der Schutzschirm inzwischen nicht wieder aktiviert worden? Fragen über Fragen, auf die Koratzo wohl erst dann Antworten erhalten würde, wenn er den Verantwortlichen gegenüberstand. Sollten am Ende nicht nur die Bewohner von Drieves von jener seltsamen Lethargie befallen sein, die Taten und Gedanken auf ein Minimum beschränkte? Endlich entdeckte der Stimmenmagier ein halb aus dem Boden herausragendes kuppelförmiges Gebilde von mehreren Metern Durchmesser. Das einst transparente Material war von einer dicken, öligen Rußschicht überzogen und wies unzählige Risse auf. Koratzo wußte, daß er die Bugkuppel des Organschiffs vor sich hatte. Aber erst als er unmittelbar davor stand, bemerkte er die undeutliche Bewegung. Das konnte nur bedeuten, daß die Galionsfigur noch am Leben war. Vorsichtig vergrößerte Koratzo die Risse in der Kuppel und brachte das durch Hitzeeinwirkung brüchig gewordene Material dazu, daß es sich in unzählige Bruchstücke auflöste. Dahinter kam der Lotse zum Vorschein. Der Anblick des bedauernswerten Wesens, dessen Lebensinhalt ausschließlich darin bestand, auf Gedeih und Verderb mit einer unmenschlichen, grausamen Maschinerie verbunden zu sein, entlockte Koratzo einen wütenden Ausruf. Es tat ihm auf der Seele weh, dieses unvergleichlich schöne Geschöpf sterben zu sehen. Aber hier konnte der Tod nur die Erlösung bringen. Koratzo durfte jetzt nicht daran denken, daß die Magier
jahrtausendelang tatenlos zugesehen und sich dadurch an den Qualen unzähliger Kreaturen mitschuldig gemacht hatten. Erst das Erscheinen Atlans hatte ihnen wirklich die Augen geöffnet. Plötzlich empfand der Stimmenmagier Haß auf den Dunklen Oheim und seine Handlanger, die Neffen. Ein Gefühl, von dem er bislang nicht einmal gewußt hatte, daß er überhaupt dazu fähig war. Die Galionsfigur stieß einige zirpende Laute aus. Sie nahm ihn also trotz ihrer Verletzungen noch wahr. Koratzo mußte sich über den ungebrochenen Lebenswillen wundern, der aus ihren Augen sprach. Aber vielleicht war das feengleiche Geschöpf nun zum ersten Mal in seinem Leben wirklich frei. Zu Dutzenden waren die Anschlüsse und Versorgungsleitungen aus dem zartgliedrigen Körper herausgerissen worden. Verkrustetes Blut bedeckte die bunt schillernden Schuppen, und nur noch Fetzen zeugten von den beiden hauchdünnen Schmetterlingsflügeln. Plötzlich hörte Koratzo Gedanken. Sie waren wie ein letztes Aufbäumen, und ein Hauch von Wehmut und die ungestillte Sehnsucht nach einem Flug in lauem Sommerwind schwang in ihnen mit. »Das Land der tausend Blüten ist nahe!« Koratzo zögerte, aber je länger er wartete, desto schwerer würde es ihm schließlich fallen, die einstmalige Galionsfigur aus ihren Träumen zu reißen. Wenn er erfahren wollte, was geschehen war, mußte es leider sein. Seine Stimme klang weich und einfühlsam, als er das Wesen in Axhara ansprach. Doch keine Reaktion erfolgte. »Ich bin ein Freund«, sagte der Magier. Glasige Augen richteten sich auf ihn. Er vernahm einen erschrockenen, fragenden Gedanken. »Eines Tages werde ich die zur Rechenschaft ziehen, die dir das angetan haben.« Koratzo meinte es ehrlich, wenngleich er wußte,
daß er allein wohl nie dazu in der Lage sein würde. Aber vielleicht erleichterte ein tröstendes Wort dem Schmetterlingswesen das Sterben. »Nein!« Mühsam brach es aus dem Rüsselmund hervor. »Willst du die Bösen Mächte innerhalb der Schwarzen Galaxis schützen?« fragte der Stimmenmagier irritiert. Die Antwort kam lautlos, und nur durch seine Magie für ihn hörbar. »Ich will nicht, daß begangenes Unrecht mit neuen Grausamkeiten vergolten wird.« Koratzo wußte darauf nichts zu erwidern. Was gab dem sterbenden Wesen noch einmal die Kraft, ihm dies mitzuteilen? Konnte angesichts des unabwendbaren Todes ein derart ausgeprägter Sinn für Ethik entstehen? »Ich muß wissen, warum das Organschiff abgestürzt ist«, sagte Koratzo. »Wurdet ihr abgeschossen?« Mit einer ruckartigen Bewegung riß sich die Galionsfigur zwei unversehrt gebliebene Anschlüsse aus dem Körper. Blut quoll aus den so entstandenen Wunden. Dann erst begann sie, über die gestellten Fragen nachzudenken. »Ich hatte zehn Ugharten als Besatzung an Bord. Kurz nachdem die Funksprüche der Kontrollstelle ausblieben, unterbrachen sie ihre Tätigkeiten. Allein auf mich gestellt, konnte ich das Unglück nicht mehr abwenden.« Also hatte dieses Organschiff ein ähnliches Schicksal ereilt wie das, dem die HERGIEN um Haaresbreite entronnen war. »Wieso brach die Verbindung zum Raumhafen ab?« fragte Koratzo weiter. Doch die Galionsfigur reagierte nicht mehr. Ihre Flügelstummel begannen zu zittern. »Das Tal der tausend Blüten«, murmelte sie mit leiser Stimme. Der Magier hatte Mühe, sie zu verstehen. »Ich kann es endlich sehen. Es ist alles so wunderbar … Der weiße Wächter ist da. Und seine Flügel strahlen wie …« Ein letztes Mal bäumte sich der geschundene Körper auf.
Gebrochene Augen starrten blicklos zum Firmament empor. »Lebe wohl«, flüsterte Koratzo ergriffen. »Mögen die Blüten dir immerwährenden Nektar spenden.« Vorsichtig drückte er dem Schmetterlingswesen die Lider zu. »Ich werde dich in Erinnerung behalten. Leider gibt es nur wenige, die sind wie du.« Eine namenlose Kreatur war einen sinnlosen Tod gestorben. * Koratzo setzte seinen Weg fort. Immer drohender wuchsen die Mauern des Palasts vor ihm auf. Mit jedem Schritt, den er tat, wurde ihm seine eigene Unzulänglichkeit bewußter. Hundert Meter und mehr ragten metallene Wände senkrecht in die Höhe. Der Sitz des Neffen Thamum Gha war eine Festung von etlichen Kilometern Ausdehnung. Aber da Koratzo bis jetzt Glück gehabt hatte, hoffte er, daß es ihm auch weiterhin treu bleiben würde. Schon konnte er mächtige Tore erkennen, die, obwohl sie geschlossen waren, für ihn kein unüberwindbares Hindernis darstellten. Doch plötzlich wurden seine Bewegungen langsamer, sein Gang schleppend. Koratzo taumelte. Er schreckte jedoch erst auf, als er über seine eigenen Füße stolperte und der Länge nach hinschlug. Der vorübergehende Schmerz brachte ihn halbwegs zur Besinnung. Die Luft vor dem Palast schien zu flimmern und war seltsam verzerrt. Mühsam wollte Koratzo sich aufrichten, aber etwas hinderte ihn daran. Wie mit glühenden Eisen brannte es sich in seinem Gehirn fest und lähmte seinen Willen. Er sank in die Knie und mußte sich mit beiden Armen abstützen. Endlos lange Minuten verharrte er so, wohl wissend, daß er blindlings in die Falle getappt war. Dies hier war etwas ganz
anderes als ein Energieschirm – eine Sperre, die jeden Eindringling wohl auf der Stelle tötete. Koratzo war überzeugt davon, daß nur seine magischen Kräfte ihn vor einem solchen Schicksal bewahrt hatten. Aber auch so war er nahezu hilflos. Er versuchte, sich kriechend fortzubewegen, blieb jedoch schon nach wenigen Metern erschöpft liegen. Jede Bewegung kostete ihn unsägliche Mühe. Unwillkürlich mußte der Stimmenmagier an seine Worte denken, die er dem Lotsen des abgestürzten Organschiffs gegenüber gebraucht hatte. Er würde wohl niemanden mehr zur Rechenschaft ziehen können. Ihm wurde schwarz vor Augen, eine unsichtbare Hand schnürte ihm die Kehle zu. Sein eigenes Ende hätte er sich wahrlich anders vorgestellt. Aber er war bereits zu schwach, um sich noch wirksam dagegen zur Wehr zu setzen. Alles erschien ihm wie von einem dichten Nebel verhüllt. Zwei glitzernde Punkte näherten sich, die schnell größer wurden und kegelförmige Gestalt annahmen. Lange, biegsame Tentakel tasteten nach Koratzo und ringelten sich um seinen Leib. Er ließ es widerstandslos geschehen. Zum einen, weil er kaum auf bequemere Art und Weise in den Palast gelangen konnte, zum anderen, weil er erneut nahe daran war, das Bewußtsein zu verlieren. Als die Roboter ihn dann anhoben und in rasendem Flug mit sich trugen, schwanden dem Magier endgültig die Sinne.
7. Koratzo war allein, als er wieder zu sich kam, und er fühlte sich schlichtweg miserabel. In seinem Schädel dröhnte und hämmerte es schlimmer noch als in jeder Schmiede von Orxeya. Er konnte sich gut vorstellen, daß er sich nach einem Schluck Kromyat ähnlich schlecht gefühlt hätte. Zum Glück gab es unter den Magiern nur wenige unrühmliche Ausnahmen, und er selbst zog es selbstverständlich vor, Sternblumennektar zu kosten, der beschwingt machte und vielleicht ein wenig fröhlich, aber keinesfalls mehr. Koratzo wollte aufspringen, mußte aber die schmerzhafte Erfahrung machen, daß er festgeschnallt war. Jetzt erst nahm er seine Umgebung näher in Augenschein. Der Raum, in dem er sich befand, machte einen sterilen Eindruck. Wände und Decke waren, von mehreren sonnenhell leuchtenden Lampen abgesehen, kahl. Doch dafür gab es Dutzende verschiedener Geräte und Maschinen. Tief atmete der Magier ein. Die Benommenheit, die er eben noch empfunden hatte, schwand gänzlich. Ein helles, durchdringendes Summen ertönte, mit dem sich eine rasend schnell rotierende Scheibe auf ihn herabsenkte. Es gab keinen Zweifel mehr, er war zum Objekt wissenschaftlichen Interesses geworden. Wer immer sich seiner angenommen hatte, wollte mehr über ihn in Erfahrung bringen. Vielleicht hielt man ihn bereits für tot. Koratzo glaubte, daß jeder, der nicht über magische Kräfte verfügte, an der zweiten Sperre um den Palast kläglich gescheitert wäre. Selbst ihm hatte die unbekannte Strahlung arg zugesetzt. Er stellte fest, daß er nackt war. Man hatte ihn also schon untersucht. Seine Kleidung lag auf einer Konsole neben seinem Kopf.
Aber Koratzo verspürte nicht das geringste Interesse daran, sich sezieren zu lassen. Das erste, was unter dem Einfluß seiner »Laute der Vernichtung« zerfiel, war das rotierende Sägeblatt. Sekundenlang wirbelte Metallstaub durch die Luft, dann war alles vorbei wie ein böser Spuk. Der Magier versuchte ein Lächeln. Nacheinander fielen auch die Fesseln von ihm ab. Falls er über verborgene Kameras beobachtet wurde, würde Verwirrung vorübergehend die Szene bestimmen, und das gedachte er auszunutzen. Er sprang auf. Ein wenig zu schnell, denn sofort wurde ihm erneut schwarz vor Augen. Aber er hatte sich gleich wieder unter Kontrolle. Die einzige Tür, die aus dem Raum führte, war verschlossen. Koratzo hielt sich nicht lange damit auf. Zerbröselndes Metallplastik blieb hinter ihm zurück. Ein langer, hell erleuchteter Korridor nahm ihn auf. Wohin sollte er sich wenden, wußte er doch nicht einmal, wo er sich befand? Irgendwo innerhalb des Palasts von Gaudhere, das war sicher. Zweifellos würden sie ihn jagen. Aber Koratzo war nicht gewillt, schon jetzt aufzugeben. Denn da war wieder der wahnwitzige Gedanke, bis zum Neffen vorzudringen. Ein sicherlich aussichtsloses Unterfangen für jeden normal Sterblichen, nicht hingegen für einen Magier. Also weiter! Eine Abzweigung … Koratzo eilte den rechten, schmaleren Gang entlang. Irgendwo in unmittelbarer Nähe verzeichnete er wirre Gedanken. Vielleicht hielten sich in den angrenzenden Räumen Ugharten auf. Jedenfalls befaßten sie sich nicht mit ihm, denn noch war kein allgemeiner Alarm gegeben worden. Ein Antigravschacht bildete das Ende des Ganges. Koratzo spürte den sanften Zug, der nach ihm griff, und vertraute sich dem unsichtbaren Feld bedenkenlos an. Er war diese Art der
Fortbewegung gewöhnt, nur wurde sie hier mit antimagischen Mitteln erzeugt, schien aber nicht weniger wirkungsvoll. Nach fünf Etagen verließ er den Schacht wieder. Er kam auf einer Art Galerie heraus, die spiralförmig die gläserne Außenwand einer geräumigen Halle umlief. Der Magier sah fremdartige Maschinen, aber nirgendwo ein lebendes Wesen. In der Tat wirkte alles wie ausgestorben und erinnerte in gewisser Weise an Drieves. Sollten auch die Bewohner des Palasts von Gaudhere …? Koratzo wies alle diesbezüglichen Überlegungen weit von sich, solange er keinerlei konkrete Anhaltspunkte besaß. Auf der Suche nach einem Hinweis, wo er sich befand und wohin er sich zu wenden hatte, eilte er weiter. Allmählich bekam er einen wirklichen Eindruck von der ungeheuren flächenmäßigen Ausdehnung des Palasts. Das Gefühl, sich im Kreis zu bewegen, wurde zeitweise übermächtig. Dann stieß Koratzo auf einen Saal, der angefüllt war mit Bildschirmen aller Größenordnungen. Auch hier hielt sich niemand auf. Nur wenige Schirme waren aktiviert. Sie zeigten durchweg Bilder aus dem Innern des Palasts, mit denen der Magier aber nichts anfangen konnte. Wahllos drückte er etliche Schalter, sah jedoch schnell ein, daß er so nichts erreichte. Koratzo begann daraufhin gezielt zu suchen. Tatsächlich stieß er schon nach wenigen Minuten auf einen Kartentisch, der verschiedene Grundrisse aufzeigte. Mehrzellige Beschriftungen verrieten ihm, daß er sich noch innerhalb des medizinischen Traktes aufhielt, der eine Fläche von über fünf Quadratkilometern beanspruchte, verteilt auf zwölf Etagen. Nach einer Weile intensivsten Studiums fand er heraus, in welche Richtung er sich zu wenden hatte, um in die Zentralregionen des Palasts vorzudringen. Dort, so hoffte er, würde sich alles weitere
zeigen. Aber als er sich umwandte, blickte er in die Mündung eines entsicherten Strahlers. Von ihm unbemerkt, hatten zwei Ugharten den Raum betreten, und die Waffen in ihren Händen redeten eine deutliche Sprache. Koratzo mußte nicht erst seine Magie anwenden, er wußte auch so, daß sie zu allem entschlossen waren. »Mitkommen!« herrschte einer der beiden ihn in einem Tonfall an, der keinen Widerspruch duldete. Er hätte sie paralysieren können, tat es aber nicht. Vielleicht bot sich ihm eine Chance, Antworten auf die Fragen zu erhalten, die ihn bewegten. Entsprechende Überlegungen ließen sich gegebenenfalls provozieren. »Wohin?« wollte Koratzo wissen. »Du wirst es früh genug erfahren.« »Bringt mich zu Thamum Gha! Ich habe eine wichtige Botschaft für den Neffen.« Täuschte er sich, oder zögerten die beiden Ugharten? Er war sich dessen nicht sicher, weil er ihrer Mimik so gut wie nichts entnehmen konnte. Und ihre Gedanken drehten sich um belanglose Dinge. »Was ich zu sagen habe, kann für Thamum Gha lebenswichtig sein«, versuchte Koratzo es noch einmal. Jetzt war es offensichtlich. Die Ugharten reagierten in ähnlicher Weise wie Mantor. Der Stimmenmagier wußte sich die seltsame Leere in ihren Gehirnen nicht zu erklären, die bei Erwähnung des Neffen aufgetreten war. Was verbarg sich dahinter, und welche Ursache hatte dieser Vorgang, der sicher nicht einer bewußten Steuerung unterlag? »Also gut«, meinte er, als ihm unmißverständlich bedeutet wurde, den Raum zu verlassen. »Aber ihr werdet den Zorn des Neffen zu spüren bekommen.« Ihre Gedanken waren schwer zu erfassen, als weigerten sie sich, bestimmte Vorgänge anzuerkennen und kapselten sich ab in einer
Welt, die mit der Realität nur wenig gemeinsam hatte. Für die Schlußfolgerung, daß auf Lamur längst nicht alles so war, wie es im Interesse der beherrschenden Mächte der Schwarzen Galaxis sein sollte, mußte man kein Hellseher sein. Koratzo wandte sich langsam um. »Was ist mit Thamum Gha?« fragte er geradeheraus. »Ist er tot?« Abrupt rissen die Ugharten ihre Strahler hoch. Doch der Magier hatte mit einer ähnlichen Reaktion gerechnet. Er war schneller, und seine Bewacher sanken bewußtlos in sich zusammen. * Wieder eilte Koratzo durch die lichtüberfluteten Korridore und Räumlichkeiten des Palasts. Der Alarm, den er jeden Augenblick zu hören erwartete, blieb jedoch aus. Inzwischen glaubte der Magier nicht mehr daran, daß Thamum Gha sich irgendwo in diesem riesigen Gebäude aufhielt. Falls er überhaupt noch unter den Lebenden weilte und nicht bereits dem Machthunger seines allem Anschein nach wahnsinnig gewordenen Rivalen aus dem Rghul‐Revier zum Opfer gefallen war. Koratzo hatte ein bitteres Lachen auf den Lippen. Eines Tages hatte es soweit kommen müssen, daß das Böse sich gegenseitig bekämpfte. Dem Hunger nach unbeschränkter Macht und der Mißachtung intelligenten Lebens waren innerhalb der Schwarzen Galaxis natürliche Grenzen gesetzt. Wenn einer der Neffen, wie Duuhl Larx, mehr wollte, blieben ihm dafür nur die beiden Möglichkeiten, entweder nach anderen Sterneninseln zu greifen, wofür das militärische Potential eines einzigen Reviers aus verständlichen Gründen zu gering war, oder sich die nötigen Reserven zu verschaffen, indem er andere Neffen kurzerhand beseitigte und dadurch seine Machtfülle vergrößerte. Was letzten
Endes der Dunkle Oheim dazu sagte, blieb dahingestellt. Koratzo konnte sich aber vorstellen, daß diesem starke negative Kräfte nur willkommen waren, solange sie sich nicht gegen ihn selbst richteten. Ein leises Summen lag plötzlich in der Luft. Der Stimmenmagier fand gerade noch Zeit, sich eng in eine seitliche Nische zu drücken, als zwei glänzende Kegel der Art, die er schon kannte, vor ihm auftauchten. Sie schwebten mehrere Handbreit über dem Boden und kamen rasch näher, glitten dann aber an seinem Versteck vorüber. Schon wollte Koratzo seinen Weg fortsetzen, als die sich abrupt verändernden Geräusche ihm verrieten, daß die beiden Maschinen wendeten. Zweifellos hatten sie seine Anwesenheit bemerkt, wenn sie auch noch nicht zu wissen schienen, wo er sich verbarg. Der Magier sah keinen Grund, länger zu zögern. Kurz hintereinander erfolgten zwei heftige Explosionen. Schwelende Trümmerstücke bohrten sich in die Wände, und Rauch kräuselte zur Decke empor und trübte die Sicht. Koratzo war noch nicht weit entfernt, als der Alarm aufheulte. »Und wenn schon«, murmelte er lautlos vor sich hin. »Sie müssen mich erst einmal bekommen.« An der nächsten Abzweigung verhielt er kurz, um sich zu konzentrieren. Aber wie er erwartet hatte, vernahm er nur die üblichen, schwer erfaßbaren Impulse. Die eigentliche Gefahr drohte ihm auch nicht von den Ugharten oder anderen Bewohnern des Palasts. Wirklich gefährlich werden konnten ihm nur die Roboter, deren Anwesenheit er selbst mit seinen magischen Sinnen kaum zu erfassen vermochte. Sein Ziel war das Informationszentrum dieses Abschnitts, der offenbar ausschließlich der Verwaltung diente. Dort erhoffte er sich von weiterem Kartenmaterial Aufschluß darüber, wohin er sich weiter zu wenden hatte. Noch ehe er sich für einen Weg entscheiden konnte, öffneten sich bislang unsichtbare Türen. Aber schon der erste der angreifenden
Roboter wurde zu einem langsam zerfallenden wertlosen Haufen Metall, bevor er seinen Strahler auszulösen vermochte. Auch die zweite Maschine ereilte ein ähnliches Schicksal. Dann mußte Koratzo sich mit einem verzweifelten Sprung zur Seite in Sicherheit bringen. Dort, wo er eben noch gestanden hatte, wölbte sich der Boden unter dem gleichzeitigen Beschuß aus mehreren Strahlwaffen blasenwerfend auf. Glühend heiße Luft tobte durch den engen Korridor und nahm dem Magier vorübergehend den Atem. Ein dritter Roboter explodierte, ein vierter. Koratzo zog sich langsam zurück. Er hatte kaum eine Chance gegen die Maschinen, sobald diese in größerer Anzahl angriffen. Und damit mußte er jeden Augenblick rechnen. Tatsächlich erschienen vier weitere der tentakelbewehrten Ungetüme, bevor er sich hinter der nächsten Abzweigung in Sicherheit gebracht hatte. Nur um Haaresbreite entging er den tödlichen Energiestrahlen. Der Magier konzentrierte seine Stimme ausschließlich auf den Teil des Ganges, der zwischen ihm und den Verfolgern lag. Ein verräterisches Knistern durchlief die Wände, und dichte Staubwolken rieselten aus der Decke herab. Innerhalb von Sekundenbruchteilen lösten sich quadratmetergroße Bruchstücke. Der Korridor brach zusammen. Einer der anrückenden Roboter wurde von schweren Metallplatten regelrecht zermalmt. Koratzo war schweißgebadet, als er sich erhob. Erste Anzeichen einer beginnenden Schwäche machten sich bemerkbar. Die Anstrengungen der letzten Stunden hatten doch mehr an seinen Kräften gezehrt, als er es sich eingestehen wollte. Aber das war kein Grund, um aufzugeben. Er mußte nur vorsichtiger sein als bisher, sobald er die Hauptetage erreichte. Und er durfte nicht die Antigravschächte benutzen, die zweifellos überwacht wurden. Koratzo erinnerte sich daran, daß er in den Plänen Hinweise auf Treppen gefunden hatte, die jeweils an
exponierten Stellen zwischen den einzelnen Stockwerken verliefen. Wenigstens vorerst würde man ihn dort nicht vermuten. Plötzlich hatte der Magier es eilig. Doch etliche Türen, die er öffnete, führten nur in ungenutzte, verlassene Räume. Endlich, nach einer schier endlos anmutenden Zeitspanne, fand er, wonach er gesucht hatte. Keine Minute zu früh, denn unmittelbar nach ihm schwebten zwei Roboter an dem Aufgang vorbei. Koratzo verharrte regungslos. Aber nichts geschah. Das typische Summen verstummte schnell wieder. Jetzt konnte er sich Zeit lassen und verschnaufen. Früher oder später würde sein Fluchtweg zwar entdeckt werden, doch bis dahin war er hoffentlich weit entfernt. Der Magier beschloß, die Roboter zu verwirren, indem er seine Stimme an verschiedenen Orten dieses Abschnitts erschallen ließ. Als er die für Notfälle erbaute Treppe auf der nächsthöheren Etage verließ, lagen die Korridore tatsächlich wie ausgestorben vor ihm. Sein Plan schien aufzugehen. Die Roboter waren allem Anschein nach damit beschäftigt, einem unsichtbaren Phantom nachzujagen, das an immer entfernteren Stellen plötzlich auftauchte und ebenso abrupt auch wieder verschwand. Koratzo sicherte dennoch nach allen Seiten. Mehrere hundert Meter trennten ihn noch von seinem vorläufigen Ziel, als er schwache Gedanken wahrnahm. Mindestens vier oder fünf Ugharten hielten sich in dem Informationszentrum auf. Aber sie waren mit anderem beschäftigt, als mit der Jagd auf den Fremden. Private Probleme waren vorrangig. Nichts von Thamum Gha oder Duuhl Larx, kein Hinweis darauf, was sich auf Lamur in letzter Zeit Außergewöhnliches ereignet hatte. Doch Koratzo ließ sich davon nicht aufhalten. Mit den Ugharten würde er spielend fertig werden, zumal sie ohnehin in ihren Reaktionen stark beeinträchtigt waren. Er mußte sich nur vorsehen, falls wider Erwarten Roboter in ihrer Nähe waren. Der Stimmenmagier stürmte durch die sich langsam öffnende Tür.
Mit einem einzigen raschen Blick erfaßte er den ganzen Raum. Die Ugharten sanken bewußtlos in sich zusammen, noch ehe sie überhaupt Zeit hatten zu begreifen, was geschah. Hinter Koratzo fiel die Tür zu. Er verharrte eine Weile in angespannter Haltung, aber sein Eindringen war unbemerkt geblieben. Schließlich wandte er sich dem Kartentisch zu, der auch hier in der Mitte des Raumes stand. Er ließ sich Zeit, das überaus umfangreiche Material zu sichten. Und wirklich fand er Hinweise auf die Gemächer des Neffen. Ein mehrfacher Sicherheitsbereich, den nicht einmal ein Magier unbemerkt überwinden konnte, schloß sie ein. Viele der Daten vermochte Koratzo nicht zu deuten, da sie verschlüsselt wiedergegeben waren. Es schien sich dabei um diverse Fallensysteme zu handeln, die dem Herrscher über das Guftuk‐ Revier größtmögliche Sicherheit gewährleisteten. Koratzo prägte sich die wichtigsten Grundrisse in allen Einzelheiten ein. Es war ein schweres Stück Arbeit, denn immer wieder mußte er die einzelnen Kartenblätter zurückrufen und vergleichen. Aber nach mehr als einer halben Stunde glaubte er, nun jederzeit bis in die Nähe des Neffen vorstoßen zu können. Dann schaltete er ab, warf einen letzten Blick auf die noch immer bewußtlosen Ugharten und wandte sich zum Gehen. Jetzt erst registrierte er, daß mehrere Dutzend Bildschirme aktiviert waren. Fast durchweg zeigten sie Ausschnitte des Raumhafens von Gaudhere aus allen nur denkbaren Perspektiven. Koratzo zuckte zusammen. Er wirbelte förmlich herum, vergaß alles, was ihn eben noch beschäftigt hatte und hatte nur noch Augen für ein einziges Bild – den räumlich eng begrenzten Ausschnitt eines Landefelds. Ein goldenes Raumschiff … … auf Lamur? »Nein«, stöhnte er verhalten auf. Ein ins riesenhafte vergrößertes Insekt stand dort auf der fast
schwarzen Piste – eine Gottesanbeterin, zwei kräftige Fangarme angewinkelt und weit über den Kopf hinausragend. Die GOLʹDHOR! Die erste spontane Reaktion war eine ungeheure Erleichterung, die jedoch nicht lange anhielt. Dann folgten Zweifel. Und die Ungewißheit, die sie auslösten, wirkte beklemmend. Es gab viele Möglichkeiten, wie das goldene Raumschiff der Magier nach Lamur gelangt sein konnte. Sicher, die GOLʹDHOR ließ keinen Unbefugten an sich heran, doch bedeutete das noch lange nicht, daß sie nicht irgendwann der bösen Ausstrahlung eines Neffen erlag. Sie war ein Produkt ihrer Erbauer. Und während des Schwarzschocks hatte sich gezeigt, wie unterschiedlich die Widerstandskräfte der einzelnen Magier sein konnten. Hastig suchte Koratzo nach einer Möglichkeit, die Aufnahme zu verändern. Er fand schnell heraus, wie die Brennweite der Optik zu regulieren war. Erst eine extreme Weitwinkelaufnahme zeigte ihm, daß der Raumhafen unbelebt war. Einsam und verlassen stand die GOLʹDHOR da. Niemand schien sich um sie zu kümmern. Der Stimmenmagier vermochte auch nicht zu erkennen, ob sich jemand an Bord aufhielt. Die Transparenz der Schiffshülle ließ zu wünschen übrig. Koratzo hielt es durchaus für möglich, daß einige seiner Freunde von Pthor aus aufgebrochen waren, um nach ihm zu suchen. Ein Flug auf eigene Faust war Querllo auf Anhieb zuzutrauen. Und Rischa, Antharia und vielleicht noch einige andere standen ihm in dieser Hinsicht kaum nach. Im Augenblick gab es für ihn nur eine Möglichkeit, herauszufinden, wer mit der GOLʹDHOR nach Lamur gekommen war. Er mußte seine Stimme in der Nähe des goldenen Raumschiffs ertönen lassen. Wenn Magier sie hörten, würden sie einen Weg finden, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Wenn nicht – kein Ugharte auf dem Hafengelände würde jemals vermuten, daß der Gegner sich bereits in den eigenen Reihen aufhielt.
Koratzo versuchte sich zu konzentrieren, doch fiel es ihm unerwartet schwer. Wahrscheinlich machte ihm die Ausstrahlung des Neffen Thamum Gha zu schaffen. Er war so in Gedanken versunken, daß er nicht hörte, wie die Tür sich hinter ihm öffnete. Erst ein leises, summendes Geräusch ließ ihn erschreckt zusammenfahren. Koratzo reagierte blitzschnell. Noch während er sich zur Seite warf und hart auf dem Boden aufschlug, nahm er aus den Augenwinkeln heraus ein grelles Aufblitzen wahr. Der Bildschirm, der das goldene Raumschiff zeigte, barst in einem Splitterregen. Der Stimmenmagier suchte hinter dem Kartentisch Deckung. Ein weißglühender Strahl fraß sich bis unmittelbar an ihn heran, konnte ihn aber nicht gefährden. Roboter! Egal, wie sie ihn aufgespürt hatten, er saß jedenfalls in der Falle. Wenn er überhaupt noch eine Chance hatte, mit heiler Haut davonzukommen, dann jetzt, bevor die Roboter Verstärkung erhielten, deren er sich auch mit seinen magischen Kräften nicht mehr erwehren konnte. Das Summen kam näher, verging aber gleich darauf in einer donnernden Explosion. Koratzos Stimme triumphierte über die Erzeugnisse der Antimagie. Zwei weitere Roboter blieben auf der Strecke, wurden jedoch sofort durch neue Maschinen ersetzt. Eine schier unerträgliche Hitze breitete sich aus. Es stank nach brennenden Kunststoffen und verschmortem Isolationsmaterial. Der Rauch war ätzend und trieb dem Magier Tränen in die Augen. Wie durch einen dichten Schleier sah er immer mehr Roboter durch die weit offenstehende Tür drängen. Sie kamen dicht an dicht; ihre Linsensysteme schienen ihn tückisch anzufunkeln. Und Koratzo sah noch etwas … Einer der bislang bewußtlosen Ugharten hatte zur Waffe gegriffen und richtete sie nun auf ihn. Noch bevor der Magier schreien konnte, traf ihn ein mörderischer
Schlag und wirbelte ihn quer durch den Raum. Koratzo glaubte, glühende Funken zu sehen und eine undurchdringliche Schwärze, die sich auf ihn legte. Dann war nichts mehr …
8. »Ist – ist sie tot?« fragte Antharia entsetzt. Die Pflanzenmagierin zitterte. Querllo beugte sich nur kurz über den leblosen Körper Rischas. »Sie atmet noch«, stellte er fest. »Aber sie wirkt auf ähnliche Weise leblos wie der Terraner, um den Pyghor und Resethe sich bemühen. Fragt mich nicht, was mit ihr geschehen ist.« »Wir wissen es alle nicht«, sagte Opkul leise, »obwohl wir doch unmittelbar hinter ihr standen. Ich glaube, es war der Tunnel …« Die leuchtende Spirale hatte sich beruhigt. Aber nach wie vor erfüllte ein düsteres Unheil verkündendes Glimmen die Gondel der ORSAPAYA. Glyndiszorn murmelte bereits wieder magische Sprüche. Der Verlust seines kristallenen Würfels schien ihn schwer getroffen zu haben. Jedenfalls reagierte er ungehalten, als Querllo ihn darauf ansprach. »Nein!« kreischte er auf und funkelte den Lichtmagier wütend an. »Wenn ich einen zweiten Würfel an Bord meines Luftschiffs hätte, würde ich ihn holen und diesem Spuk ein schnelles Ende bereiten. Aber wenn du willst, daß ich die ORSAPAYA verlasse …« Entsetzt wehrte Querllo ab, was der Knotenmagier mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis nahm. »Ihr seid und bleibt Rebellen«, fauchte Glyndiszorn. »Hoffentlich seht ihr wenigstens ein, welchen Schaden ihr mit eurer Ungeduld angerichtet habt.« »Es tut uns leid«, begann Antharia, wurde aber schroff unterbrochen. »Das bringt mir den Würfel auch nicht zurück. Er war ein uraltes Stück aus feinstem magischen Kristall. Keiner von euch kann seinen Wert ermessen; er barg Erinnerungen an tausend fremde Welten.« Glyndiszorns Hände verkrampften sich um den Tisch, dessen
verschlungene Ornamente durch ein quadratisches, an den Rändern verkohlt wirkendes Loch zerstört waren. Wieder kräuselte Rauch empor. »Was geschieht mit Rischa, sobald die Verbindung nach Lamur erlischt?« fragte Opkul plötzlich. Querllo zuckte mit den Schultern. »Wenn sie so wird, wie dieser Axton?« Antharia war merklich blaß geworden. »Wir können es nicht ändern.« »Glyndiszorn darf den Tunnel eben nicht unterbrechen!« Opkul nahm die Pflanzenmagierin bei der Hand und sah sie mit seinen tiefgründigen, jetzt in den Farben des Regenbogens schimmernden Augen an. Sie wich seinem Blick aus. »Willst du das Böse erneut heraufbeschwören, Antharia? Vergiß nicht, daß ich Duuhl Larx gesehen habe.« »Aber auch Koratzo …« »Wir können unsere Freunde nicht zurückholen – jedenfalls nicht auf diese Weise.« »Ich sehe es ja ein, nur …« »Glyndiszorn muß entscheiden, was zu geschehen hat«, sagte Querllo. »Nur er weiß wirklich, welche Kräfte seine Magie heraufbeschwört.« Nach einer letzten fahlen Entladung kam der Tunnel des Knotenmagiers zur Ruhe. »Er hat es geschafft.« Nicht nur Opkul atmete erleichtert auf. Querllo machte einen zaghaften Schritt in Richtung auf das nunmehr graue Gebilde zu, das sich scheinbar in der Unendlichkeit verlor. Im nächsten Moment taumelte er geblendet zurück. Ein unwahrscheinlich greller Blitz schien die ORSAPAYA endgültig vernichten zu wollen. In den Schluchten und Steilwänden des Gnorden brach sich rollender Donnerhall. Entsetzt schrie Antharia auf. Erneut schien sich das Luftschiff aus
seinen Verankerungen lösen zu wollen. Eine zweite Stimme ertönte, brach aber sofort mit einem erstickten Gurgeln wieder ab. »Rischa!« Querllo beugte sich über den Körper der Feldermagierin und sah gerade noch, wie sie die Augen aufschlug. Aber Rischa schien ihn nicht wahrzunehmen. Ihr Gesicht war zur reglosen Maske erstarrt. Sie schien sich nur schwer in ihrer Umgebung zurechtzufinden. Ihr Mund öffnete sich zu einem Flüstern. »Rischa, komm zu dir!« Querllo strich ihr mit den Fingerspitzen über die Schläfen. Er übte damit einen beruhigenden Einfluß auf die Feldermagierin aus, deren Verkrampfung sich sichtlich löste. »Pthor!« murmelte Rischa. »Ich will zurück …« »Du bist wieder in der ORSAPAYA«, sagte Antharia schnell. »Das klingt fast so, als wäre sie wirklich weg gewesen«, wandte Opkul sich an den Lichtmagier. »Ob sie vielleicht auf Lamur …?« »Nein!« Mit einer fahrigen Bewegung winkte Rischa ab. »Wo ich war, herrschte Frieden, da gab es nichts Böses. Ich schwamm in einem unendlichen Ozean von purpurner Farbe, und die Sonnen, die ich sah, strahlten hell und rein.« »Warst du wirklich dort, oder phantasierst du nur?« fragte Glyndiszorn barsch. Von allen unbemerkt, hatte er inzwischen den Tunnel zum Erlöschen gebracht. Obwohl er sich Mühe gab, seine Erschöpfung zu verbergen, fiel es Querllo auf, daß er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. In einer derart schlechten körperlichen Verfassung hatte er den Knotenmagier noch nie gesehen. Rischa vergrub ihr Gesicht in den Händen und schien in sich hinein zu horchen. Als sie wieder aufsah, zeichneten sich Zweifel in ihren Zügen ab. »Ich weiß es nicht«, sagte sie und blickte Glyndiszorn dabei fast flehend an. »Bis eben war ich mir noch sicher, alles wirklich erlebt zu haben. Es war wunderschön dort; sie nannten es, glaube ich, das
Randgebiet der Höheren Welten.« »Wer sind Sie?« Es war Rischa anzusehen, daß sie fast verzweifelt nach einer zufriedenstellenden Erklärung suchte. »Auch das weiß ich nicht«, mußte sie zugeben. »Ich bilde mir ein, daß jemand mit mir gesprochen hat. Aber fragt mich bitte nicht, was.« »Seht ihr denn nicht, daß sie völlig durcheinander ist?« brauste Antharia auf. »Möglicherweise erinnert sie sich, wenn sie in Ruhe gelassen wird. Ich denke, daß es jetzt Wichtigeres zu klären gibt.« »Richtig«, pflichtete Querllo bei. »Was wird nach diesem Fehlschlag aus Copasallior und Koratzo?« Er sah den Knotenmagier fragend an. »Es wird keinen zweiten Versuch geben«, sagte Glyndiszorn barsch. »Weder an Bord der ORSAPAYA noch sonstwo.« »Das meinte ich nicht«, beeilte sich Querllo zu versichern. »Inzwischen ist uns allen klar geworden, daß es nur eine Lösung gibt.« »Wir brauchen ein Raumschiff«, pflichtete Antharia bei. Eine Weile war Stille. »Überlegt es euch gut«, sagte Glyndiszorn dann. »Wir Magier haben viel zu verlieren, und jede unüberlegte Handlung kann ins Verderben führen. Wir haben es eben erst erlebt.« Rischa taumelte zu einem Sessel und ließ sich seufzend hineinfallen. »Ich brauche Ruhe«, stöhnte sie. »Meinetwegen können wir in einem halben Tag etwas unternehmen, aber nicht jetzt.« »Ihr habt es gehört«, brummte der Knotenmagier. »Laßt mich allein. Meine Entscheidung werdet ihr rechtzeitig erfahren. – Verschwindet endlich.« *
Zunächst zeichneten sich nur die Umrisse des Stimmenmagiers ab, verschwommen und mehrere Male verblassend, als würde eine fremde Kraft ihn im Jenseits zurückhalten, dann stand er wieder dort, wo ihn etliche Herzschläge zuvor die leuchtende Spirale berührt hatte. Ein purpurnes Leuchten umspielte ihn, das jedoch sofort erlosch. Copasallior vermied es, den Neffen anzusehen, der noch immer auf seine schaurige Art lachte. Er war wütend. Wütend auf sich selbst und seine Unfähigkeit, Koratzo zurück nach Pthor zu versetzen. Er, der Mächtigste aller Magier, hatte versagt. Und das, obwohl er dem Ziel schon so nahe gewesen war. Hatte er nicht ihre Stimmen gehört und ihre Magie gespürt? Glyndiszorn, Querllo, Opkul und zwei oder drei andere, die zu Freunden geworden waren. In einer Aufwallung seiner Gefühle, streckte der Weltenmagier noch einmal die Hände aus. Koratzo war so nahe und schien doch gleichzeitig unendlich weit entfernt. Die Zeit war knapp. Copasallior spürte, daß die Ausstrahlung des Neffen stärker wurde. Duuhl Larx kam auf ihn zu. Voller Verzweiflung konzentrierte er sich. Er mußte es schaffen, wenigstens Koratzo dem Zugriff dieses Ungeheuers, das seine wahre Gestalt hinter einer glühenden Wand aus Flammen verbarg, zu entziehen. Schier unerträglich wurde die Nähe des Neffen. Da spürte Copasallior den Widerstand, der sich ihm entgegenstellte. Er schlug blindlings zu … … und hatte Erfolg. Kein Magier wird sich von dir versklaven lassen, Duuhl Larx! Aber noch während der Weltenmagier das dachte, stieg eine grenzenlose Enttäuschung in ihm auf. Koratzo befand sich nach wie vor an Bord der HERGIEN. Was immer er zurück nach Pthor versetzt hatte, es war nicht der Stimmenmagier gewesen.
»Ich werde dir zeigen, Magier, was es bedeutet, sich gegen Duuhl Larx aufzulehnen«, dröhnte eine Stimme durch die Zentrale. »Niemand entfernt sich aus meiner Nähe, wenn ich es nicht gestatte. Was hast du mit dem Ugharten gemacht, wo ist er?« Copasallior verstand zunächst nicht, begriff dann aber schlagartig. An Stelle von Koratzo hatte er eines der Besatzungsmitglieder durch das Nichts versetzt, und der Ugharte blieb verschwunden. Aber was einmal möglich war, mußte ihm auch ein zweitesmal gelingen. Tatsächlich bekam Copasallior den Stimmenmagier zu fassen. Doch die Aura des Bösen, die den Neffen umgab, lähmte seinen Willen. Duuhl Larx war nur noch wenige Schritte entfernt. Der Weltenmagier spürte gerade noch, daß er nichts mehr zu erreichen vermochte, was außerhalb der Lufthülle des Planeten Lamur lag, dann zuckte er unter der Berührung des Neffen zusammen und verlor vollends die Kontrolle über sich. Das Schlimme an diesem Zustand war nicht die Hilflosigkeit trotz aller magischen Fähigkeiten, es war die Tatsache, nahezu klar denken und doch keinen dieser Gedanken ausführen zu können. Jede den Interessen des Neffen zuwiderlaufende Handlung wurde blockiert. »Ihr werdet für mich arbeiten«, höhnte Duuhl Larx. »Wie stümperhaft war doch euer Versuch zu fliehen. Beinahe wäre ich nach Pthor gelangt.« Triefend der Zynismus dieser Worte. Copasallior zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Er erinnerte sich, daß die Flammenaura für wenige Augenblicke nahezu unsichtbar gewesen war. Hatte Duuhl Larx in dieser kurzen Zeitspanne bereits mit einem Fuß in der Großen Barriere von Oth gestanden? Die nächsten Worte galten Koratzo: »Du hast einen Befehl erhalten, Stimmenmagier. Führe ihn aus!« Koratzo wand sich unter dem Einfluß des Bösen, obwohl er genau wußte, daß er ihm nicht entkommen konnte.
»Sieh mich an, Magier! Ich bin dein Herr!« Etwas zwang ihn, den Blick zu heben. Ein gequältes Stöhnen kam über seine Lippen. Töte den Verräter! hörte er. Töte ihn …! Sein Widerstand brach schlagartig zusammen. Copasallior, der wußte, was nun kommen würde, starrte blicklos vor sich hin. Er hatte keine Möglichkeit, es zu verhindern. Koratzo tat ihm leid, denn der Stimmenmagier stand Höllenqualen aus. »Benütze deine magischen Kräfte!« forderte Duuhl Larx. Vom Kampf mit seinen Artgenossen war Theimor übel zugerichtet. Aus etlichen Wunden blutend, lag er noch immer am Boden. Als Koratzo jetzt auf ihn zukam, streckte er abwehrend die Arme in die Höhe. Er wollte etwas sagen, aber es wurde nur ein angsterfülltes Stöhnen daraus. Sekundenlang starrten beide sich an, ein Kräftemessen, ein letzter Versuch, den Bann des Neffen doch noch zu brechen. Dann sank Theimor haltlos zurück. Koratzo zitterte, als er endlich die magischen Laute der Vernichtung formte. In einer kalten, blauen Lichterscheinung verging der Ugharte. Es war, als habe er sich in Nichts aufgelöst. Nur ein gellender Schrei hallte noch durch die HERGIEN. Abrupt wandte Koratzo sich ab und schlug sich die Hände vors Gesicht. * Einen bangen Atemzug lang war nichts als unendlicher grauer Nebel ringsum, der dann aber genauso unverhofft aufriß und verschwand, wie er gekommen war. Starr vor Schreck, riß Grimand die Augen auf und sah sich um.
Obwohl er keine Erklärung dafür hatte, fand er sich doch schnell mit den Tatsachen ab. Verschwunden war die HERGIEN, verschwunden auch der Neffe und die beiden Magier. Überhaupt befand er sich nicht mehr im Weltraum, sondern auf der Oberfläche eines Planeten. Lamur? Für einen kurzen Augenblick glaubte Grimand, in Sicherheit zu sein. Aber dann erkannte er, daß es Unterschiede gab zwischen seiner Heimatwelt und dem Gebirgsmassiv, in dem er sich ohne sein eigenes Zutun befand. Eine unerklärliche Scheu überfiel ihn beim Anblick der mächtigen Gipfel, die mitunter die skurrilsten Formen aufwiesen. Vielleicht war es aber auch nur der kalte Wind, der ihn frösteln ließ. Grimand verschwendete kaum einen Gedanken an das Geschehene. Er gab den beiden Magiern die Schuld daran und kam damit unbewußt den Tatsachen sehr nahe. Allmählich fiel der Bann des Neffen von ihm ab. Er erinnerte sich an vieles, was eben noch vergessen gewesen war. Thamum Gha schwebte in größter Lebensgefahr! Allein er, Grimand, hatte es in der Hand, den Herrscher über das Guftuk‐ Revier zu warnen. Aber – wie sollte ihm das möglich sein, solange er nicht einmal wußte, wo er sich befand. Die Magier! Grimand schalt sich einen Narren, daß er nicht sofort daran gedacht hatte. Sicher war es nicht die Absicht des Sechsarmigen mit den wie versteinert wirkenden Augen gewesen, ausgerechnet ihn zu befreien. Vielmehr war anzunehmen, daß er seine unverhoffte Freiheit nur einem Versehen verdankte. Wohin wäre der Magier wohl gegangen? »Nach Pthor«, murmelte Grimand selbstzufrieden. Dann gehörte der Gebirgszug vor ihm zur Großen Barriere im Süden des Weltenfragments. Und dieser alle anderen überragende
Gipfel, der wie ein steil in die Höhe gereckter Finger aussah, mußte der Sitz eines der Magier sein, vielleicht sogar des Sechsarmigen. Wenn er nach Nordosten marschierte, wobei er sich durchaus am Stand der Sonne orientieren konnte, würde er irgendwann auf andere Ugharten treffen. Und spätestens auf dem Gebiet der FESTUNG gab es Organschiffe mit Hyperfunkanlagen an Bord. Grimand besaß nur eine ungefähre Vorstellung von den zurückzulegenden Entfernungen. Aber daß sein Weg mühsam sein würde, mußte er schon nach den ersten Kilometern feststellen. Er war zunächst einem engen, von steilen Felswänden eingeschlossenen Tal nach Osten gefolgt und hatte dann den erstbesten Paß gewählt, um nach Norden zu gelangen. Auf der Höhe brach völlig übergangslos der Winter herein. Schnee‐ und eisbedeckt waren plötzlich die Felsen, die eben noch Moosen und bunt blühenden Blumen Schutz vor den rauhen Winden gaben. Mühsam mußte Grimand sich jeden Schritt erkämpfen. Immer wieder drohte er abzurutschen und in die gähnende Tiefe zu stürzen, die beiderseits des schmalen Felsstreifens auf ihn lauerte. Als er zufällig hinter sich sah, stellte er schaudernd fest, daß Schnee und Eis nach etlichen hundert Metern wie abgeschnitten waren. Dort blühten noch immer die Blumen, als könne ihnen die Kälte nichts anhaben. Grimand fror. Der Wunsch, umzukehren, wurde schier übermächtig. Aber verbittert tastete er sich weiter vorwärts. Doch dann rissen die tiefhängenden Wolken auf, und wärmende Sonnenstrahlen fielen auf das Land. Grimand fand wieder besseren Halt und hatte schon bald die Höhe des Passes überwunden. Vor ihm erstreckte sich ein langgezogenes Tal, und nicht allzu weit entfernt erhob sich der wohl zweithöchste Gipfel der Barriere. Wie ein feiner Schleier lagen düstere Wolken über den Flanken des Berges. Plötzlich hörte Grimand leise Stimmen. Der Wind trug sie ihm aus der Ferne zu.
Schnell sah er sich nach einem geeigneten Versteck um. Er hatte Schlimmes über die Herrscher der Barriere gehört und die Schrecken, die sie für einige Zeit auf Pthor verbreitet hatten. Entsprechend gering war sein Interesse, ihnen zu begegnen. Immerhin war er Augenzeuge gewesen, wie die Besatzung eines gleichzeitig mit der HERGIEN auf dem Gebiet der FESTUNG gelandeten Organschiffs gelähmt und damit außer Gefecht gesetzt worden war. Einige mannshohe Felsblöcke beiderseits des Weges ließ er unbeachtet. Zu seiner Linken erstreckte sich eine fast senkrechte Felswand, die von Spalten und Rissen durchzogen wurde. Teilweise verdorrtes Gestrüpp wucherte davor. Schnell huschte der Ugharte auf eine der größeren Spalten zu. Jeden Augenblick rechnete er damit, daß die Magier hinter den Felsen zum Vorschein kamen. Die dürren Äste raschelten, als er sie zur Seite schob. Grimand schlug sich den Kopf an einem überhängenden Stein, und vorübergehend wurde ihm schwarz vor Augen. Mühsam unterdrückte er die aufkommende Übelkeit. Denn noch konnte er von einem Teil des Weges aus gesehen werden und mußte deshalb tiefer in den Fels eindringen. Die Enge machte ihm zu schaffen. Er bekam kaum noch Luft. Flach und gepreßt ging sein Atem. Aber dann weitete sich der Spalt und wurde schon nach wenigen Schritten zu einer geräumigen Höhle. Hier herrschte fast völlige Dunkelheit. Nur ein schwacher Lichtschimmer fiel von draußen herein. Grimand tastete über die Wände. Sie waren feucht und glitschig; Moose hatten sich an ihnen festgesetzt. Irgendwo tropfte Wasser in monotonem Rhythmus in eine Lache, die sich im Boden gebildet hatte. Angespannt wartete der Ugharte. Nach einer Weile hörte er jemanden sprechen, verstand aber nichts von dem, was gesagt
wurde. Dann kehrte Stille ein. Eng an den Spalt gepreßt, hatte er für einige Augenblicke ein zartes weibliches Wesen mit blauer Haut und wehendem, weißen Haar erkennen können. Als er sich umwandte, stieß sein Fuß gegen einen schweren Gegenstand, der unmittelbar neben ihm an der Wand lehnte, nun umfiel und dabei ein helles metallisches Klingen hören ließ. Grimand bückte sich und hob ihn auf. Es war ein Schwert – doppelschneidig, wie er tastend feststellte, mit langer, schlanker Klinge und einem wohlgeformten Griff, der angenehm in der Hand lag. Grimand fingierte einen Ausfall und parierte den Angriff eines unsichtbaren Gegners, dann war er überzeugt davon, daß die Waffe auch hielt, was sie versprach. Er würde sie mitnehmen. Irgendwo in seinem Unterbewußtsein regte sich der Gedanke, daß ein Schwert allein wohl kaum Schutz vor den Kräften der Magier bot. Aber er achtete nicht darauf. * Geraume Zeit stand die HERGIEN nun schon auf dem Raumhafen von Lamur, ohne daß jemand das Schiff beachtete. Gedankenverloren starrte Koratzo auf das Landefeld hinaus, wo in schneller Folge Schiffe unterschiedlichster Bauarten starteten oder zur Landung ansetzten. Der Stimmenmagier hing seinen Gedanken nach. Aber er fand keine Erklärung auf die Fragen, die ihn so brennend interessierten: Weshalb war an Bord der HERGIEN keine Zeit vergangen, während er doch nahezu einen halben Planetentag auf Lamur und innerhalb des Palasts von Gaudhere verbracht hatte? Und wo stand die GOLʹDHOR? – Er konnte sie nirgendwo entdecken.
War alles ein böser Traum gewesen oder Wirklichkeit? Koratzo wußte es nicht. Er wußte nur, daß Duuhl Larx nicht mehr lange warten würde … ENDE Weiter geht es in Atlan Band 467 von König von Atlantis mit: Das Chaos von Lamur von Hubert Haensel