Louisa Young ENGEL IN SCHWIERIGKEITEN Roman Aus dem Englischen von Eva Maisch
MANHATTAN
Buch Als Angeline nachts betr...
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Louisa Young ENGEL IN SCHWIERIGKEITEN Roman Aus dem Englischen von Eva Maisch
MANHATTAN
Buch Als Angeline nachts betrunken und verkehrt herum in eine Einbahnstraße abbiegt, um das Auto abzustellen, ist es schon zu spät. Die Polizeistreife kann soviel Glück kaum fassen. Angeline verliert ihren Führerschein – und das ausgerechnet, als ihre Weste vor Gericht blütenweiß sein muß. Denn Angeline möchte das Sorgerecht für Lily behalten, die uneheliche Tochter ihrer verstorbenen Zwillingsschwester Janie. Lilys Vater Jim ist wild entschlossen, seine dreijährige Tochter zu sich zu holen. Obwohl er sich noch nie um sie gekümmert hat, sind seine Karten vor Gericht weitaus besser als Angelines: Er ist jetzt verheiratet, Großverdiener und der leibliche Vater; Angeline ist Bauchtänzerin, Single – und sie hat ein kleines, aber überall bekanntes Alkoholproblem. Als sie sich kurz entschlossen mit einem für Gefälligkeiten bekannten Polizisten trifft, der ihre Unterlagen verschwinden lassen kann, eröffnet er ihr, daß es über sie längst eine Ermittlungsakte gibt. Ihr Ex-Freund Harry arbeitet mit Eddie Bates zusammen, einem berüchtigten Drogen-, Waffen- und Frauenhändler. Angeline hat keine Wahl und läßt sich auf einen gefährlichen Deal ein…
Autorin Louisa Young schreibt regelmäßig für den Guardian und die Sunday Times. »Engel in Schwierigkeiten« ist ihr erster Roman, der in England Begeisterungsstürme ausgelöst hat. Die Autorin plant weitere Romane mit ihrer Heldin Angeline. Louisa Young lebt mit ihrer Tochter in London.
Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel »Baby Love« bei Flamingo/Harper Collins Publishers, London
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Buches sind chlorfrei und umweltschonend. Manhattan Bücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Deutsche Erstausgabe 5/98
Copyright © der Originalausgabe 1997 by Louisa Young Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1998 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück Verlags, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: Michael Nischke/Agt. Die Kleinert Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Graphischer Großbetrieb Pößneck Verlagsnummer: 54.037 FB • Redaktion: Cornelia Köhler Herstellung: Katharina Storz Made in Germany ISBN 3-442-54.037-2 13579108642
Für Yaw Adomakoh, den tollen Vater
Danksagung Mein Dank gilt Amira Ghazella, Sarah Acres, Charlotte Horton, Susan Flusfeder, Josa Young, Roger Willis, Caroline Gascoigne, Rebecca Lloyd, Derek Johns. Außerdem danke ich allen, die über den Bauchtanz geschrieben haben (besonders Flaubert), sowie den Tänzern in London und Kairo.
1 Streitereien So oder so, es war ein höllischer Abend gewesen. Eigentlich wollte ich den Mann gar nicht sehen. Aber wenn man jemanden zwölf Jahre kennt, findet man nie den geeigneten Augenblick, um ihm zu sagen, daß er verschwinden soll. Schon gar nicht, wenn man ihm was schuldig ist. Und ich war ihm was schuldig. Nun, das soll mir eine Lehre sein. Neil mag mich lieber als ich ihn. Er hat ständig angerufen und gefragt: »Wann kann ich dich sehen? Morgen abend, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag oder irgendwann nächste Woche? Oder übernächste Woche?« Ich mag ihn ja. Immer noch. Er ist amüsant und ein netter Kerl, ein cleverer Anwalt, wahrscheinlich sowieso viel zu gut für mich. Aber ich stehe nun mal nicht auf gute Jungs, die ständig ihre unerwiderte Liebe vor mir ausbreiten wie einen Mantel und mich drauf rumtrampeln lassen. Das sage ich ihm immer wieder, und er beteuert dann: »Schon gut, es ist nicht mehr so wie früher, ich kann das akzeptieren, wirklich.« Und ich sage okay, denn ich bin nicht so eitel, daß ich glaube, ein Mann wäre in mich verliebt, wenn er dauernd beteuert, daß er es nicht mehr sei. Zwei Wochen später passiert irgendwas, und es ergibt sich die Gelegenheit, ihn drauf hinzuweisen. »Aber du hast doch gesagt, du liebst mich nicht mehr!« Worauf er sich umdreht und betont: »Wenn ich so was sage, darfst du’s nicht glauben.« Und so war’s auch am Mittwoch abend. Meine Freundin Brigid, ein echter Star (der Typ, der ich gern sein möchte, wenn alles anders wäre, ich inklusive), kam zu mir, um Babysitter zu spielen, und ich dachte, Neil und ich könnten ins Kino gehen, anstatt uns einen ganzen Abend lang in einem Restaurant auf die Nerven zu gehen. Aber damit war er nicht einverstanden. Er hatte einen Tisch bestellt. Natürlich würde er auch drauf bestehen, die Rechnung zu bezahlen, und er würde den Gegenwert für seine Investition bekommen, indem er mir dadurch suggerierte, ich müßte mich genauso mies fühlen wie er, weil ich ihn nicht so mochte wie er mich. Wir landeten in einem dieser ekligen modernen italienischen Lokale in Soho, wo versilbertes Glas und grölende, angeberische Besoffene die hübschen, mit Stroh umwundenen Chiantiflaschen und
sizilianischen Esel an der Decke verdrängt haben. Während ich in meinen zerkochten Tagliatelle herumstocherte und zuviel überteuerten Soave trank, nervte er mich. Neil trinkt nicht. Ich schon. Daran waren wir gewöhnt. Jahrelang hatte er mich nach langen Abenden in meinem Auto – oder früher auf meinem Motorrad – heimgebracht und sich dann an der Ecke ein Taxi genommen. Ganz selten hatte er gefragt, ob er mit raufkommen dürfe, nur ab und zu in jenen alten Tagen, als wir noch jung und meistens pleite waren. Dann hatte er auf dem Sofa geschlafen, und am nächsten Morgen hatte mich seine Anwesenheit geärgert. Kein einziges Mal hatte er mich zu küssen versucht. Eine fabelhafte Beziehung. An diesem Abend verlor ich die Geduld. Wir hielten auf der Shaftesbury Avenue vor einer roten Ampel, und er fragte: »Nun, wann hast du nächste Woche Zeit?« Idiotisch. Er weiß doch, daß ich daheim bei meinem Kind bin. Und selbst wenn ich jeden Abend in Nachtclubs verbrächte und mit einem hübschen Argentinier Lambada tanzte, eine Kamelie hinter jedem Ohr, würde es ihn auch nichts angehen. »Kein Verhör, Neil.« Er schaute mich an, dann tat er was, das er gern tut – er stieg aus dem Auto. Normalerweise irritiert mich das nur ein bißchen (oder es erleichtert mich). Aber vor einer roten Ampel in der Nähe des Piccadilly an einem Freitagabend, nach der Sperrstunde, war’s ziemlich unangenehm. Er schlug einfach die Tür zu und verschwand in der Menge. »Verdammt!« fauchte ich. Die Ampel wechselte auf Grün. Hinter mir hupten die Autos. Also rutschte ich auf den Fahrersitz und gab Gas. Ich bog in die nächste Seitenstraße, die Rupert Street. Bedauerlicherweise ist das eine Einbahnstraße. Und zwar in die entgegengesetzte Richtung. Der Polizist, der an der Ecke die Zeit totschlug, konnte sein Glück gar nicht fassen – und ich mein Pech auch nicht. Wegen Trunkenheit am Steuer und falschen Abbiegens angezeigt zu werden ist kein Weltuntergang. Aber ich fand’s gräßlich. Nach der rituellen Demütigung – es kann einen ganz schön fertigmachen, wenn man im Unrecht ist – wurde ich um drei Uhr morgens aus dem Polizeirevier entlassen –, ohne Autoschlüssel. Ich veranlaßte einen Bullen, meinen Wagen aufzusperren, und nahm eine Wodkaflasche vom Rücksitz, womit ich seinen Verdacht bestätigte. Dann stieg ich in ein Taxi – ich glaube, die Chauffeure wissen, wann betrunkene Fahrer entlassen werden, denn sie haben dort einen Taxistand eingerichtet – und kehrte nach Hause zurück. Die Polizi-
sten hatten mir nicht einmal erlaubt, Brigid anzurufen, so daß sie halb hysterisch, halb schlafend auf dem Sofa liegend auf mich wartete. Ich sah nach Lily. Rosig und goldbraun und duftend, war sie im tiefen Schlummer der Ahnungslosigkeit versunken, und ich lauschte ihren leisen Atemzügen. Brigid ist ein großartiges Mädchen, aber wenn sie will, kann sie ohrenbetäubend schreien. »Wo warst du?« kreischte sie. Eine verständliche Frage. Immerhin hatte ich versprochen, ich würde um Mitternacht wieder da sein. Ich habe schon seit Ewigkeiten niemanden mehr kennengelernt, der so sehr besorgten Eltern gleicht, die verlangen, daß man pünktlich nach Hause kommt. Sie hat hellrotes Haar und vier Kinder und alle menschlichen Qualitäten außer Schönheit. Wie kann eine Frau mit vier Kindern babysitten? Infolge einer wunderbaren Kombination aus eben jenen menschlichen Qualitäten und einem Haufen Schwestern, alle in der Nachbarschaft, die sich drum reißen, ihre Neffen und Nichten zu betreuen. Sie haben da eine Art stiller Übereinkunft: Brigid braucht Geld, ich brauche Zeit. Und Frauen müssen einander helfen. Das funktioniert. Seit ich Lily habe, ist Brigid mein Babysitter, sorgt sich um mich, und ich mag sie. Eigentlich ist sie eine Freundin. Genauso wie Maireadh und Siobhan und Eileen und Aisling. »Schrei nicht«, erwiderte ich, »hör auf damit, oder ich muß heulen.« »Heul nicht!« schrie sie. Ich schaute sie an, und anscheinend hatte sie den Blick verstanden, denn sie ging zum Kühlschrank. »Den hab ich hier«, sagte ich und öffnete die Wodkaflasche. »Nein, ich suche Milch, weil ich dir eine Tasse Tee machen will.« Trotzdem brachte sie mir ein Glas mit Eiswürfeln. »Was ist passiert?« »Ich war im Knast.« Das hielt sie für einen Witz und lachte. Während ich sie lachen ließ, gingen mir die Konsequenzen durch den Kopf. Vielleicht war’s doch keine leere Drohung gewesen, als ich ankündigte, ich würde heulen. Aber ich weine nie. Und ich durfte auch nicht weinen, sondern mußte nachdenken. »Was ist passiert?« wiederholte sie. Ich erzählte ihr alles und merkte, daß sie das Problem nicht begriff. Also versuchte ich, sie heimzuschicken. »Schon gut«, sagte sie, »Maireadh ist bei den Jungs. Sie hat sich mit Reuben gestritten.« »Und wo ist Eileen?« »Auch bei mir. Maireadh schläft auf dem Sofa. Deshalb kann ich
bei dir bleiben.« Eine ehrenwerte Absicht, und deshalb ertrug ich sie noch weitere fünf Minuten. Dann warf ich sie raus. Ich goß mir einen Wodka ein und starrte durchs Fenster auf die gestreiften Petunien, die gegenüber aus einem Hängekorb quollen und im Halbdunkel der Sommernacht schimmerten. In dieser Gegend funktioniert nur die Hälfte der Straßenlampen. Aber im Sommer leuchten wenigstens die Petunien über den schmutzigen Gehsteigen aus roten Ziegeln. Mein Baby gehört mir nicht. Klar, das klingt seltsam, weil Lily so sehr Teil meines Selbst ist, daß es weh tut. Aber technisch gesehen, ist sie nicht mein Kind. Vor drei Jahren wurde meine Schwester Janie bei demselben Unfall getötet, der mein Bein vermurkste. Sie saß hinter mir auf dem Motorrad, und ich war nicht schuld. Verdammt – objektiv betrachtet, traf mich wirklich keine Schuld. Als sie starb, wurde Lily geboren, dem Mutterleib und den Klauen des Todes entrissen. Wie seltsam muß es sein, bei einer Sterbenden einen Kaiserschnitt vorzunehmen… Ich war nicht an ihrer Seite. Doch sobald ich die Besinnung wiedererlangt hatte, wußte ich Bescheid. Das Baby lag auf der Intensivstation, Janie in der Leichenhalle. Meine Mutter überließ sich ihrer Verzweiflung, mein Vater tobte vor Wut, ich steckte im Streckverband. Und wo trieb sich Jim herum, Janies Exfreund? Zumindest hatte sie behauptet, es sei aus mit ihm, obwohl sie nie dazu gekommen war, ihm das zu sagen. Oder er hatte keine Gelegenheit gefunden, ihr zuzuhören. Jedenfalls wußten wir nicht, wo er war. »Mach dir deshalb keine Sorgen«, wiederholte meine Mutter wie ein Mantra über meiner Krankenhaussuppe. »Erst mal mußt du gesund werden. Reg dich nicht auf, reg dich bloß nicht auf.« Sie sprach mit sich selbst und versuchte, sich auf diese Weise einzureden, es bestehe kein Grund zur Sorge. Eine Folge des Schocks, nehme ich an. Dad wanderte durch die grün gekachelten Korridore, von der Säuglingsstation zu mir, von mir zur Säuglingsstation. Irgendwie glich er jenen ruhelosen verzweifelten Tieren im Zoo, wie er da unentwegt im Käfig seiner eigenen Fassungslosigkeit hin und her lief. So wie Mutters Worte und Dads Füße bewegten sich auch meine Gedanken immer in denselben Bahnen. »Wo ist Jim? Wie können wir das Baby vor ihm schützen? Wann kann ich gehen? Wo ist Jim? Ich möchte das Baby haben. Wann wird er hier auftauchen? Wo ist das Baby?« Bevor man nicht von der Trauer überwältigt wird,
hat man keine Ahnung, wie sie sich anfühlt. Mit aller Macht wollte ich was tun, als würde das irgendwas ändern. Aber ich konnte nichts tun, nicht einmal die normalen Dinge, die man tut, ob man nun trauert oder nicht. Ich konnte weder aufstehen noch nach Hause, konnte nicht kochen, mich nicht einmal rühren… Und so vertrieb ich mir die Zeit, indem ich ständig die Ärzte zu mir rief. Vielleicht dachte ich, je öfter ich sie sah, desto schneller würde ich genesen. Statt dessen begannen sie mich zu hassen. Da war Dolores, eine nette Schwester, die Nachtdienst hatte und mich nicht zwang, schmerzstillende Pillen zu schlucken. »Ich muß nachdenken«, erklärte ich. »Benebeln Sie mich nicht.« Eine Zeitlang ließ sie mir meinen Willen. Dann sagte sie eines Abends: »Sie denken immer nur im Kreis. Warum quälen Sie sich so? Wenn Sie schon nichts tun können, dann ruhen Sie sich wenigstens aus.« »Wieso wissen Sie, was ich denke?« »Sie reden im Schlaf.« Und da erzählte ich ihr alles. Janie, achteinhalb Monate schwanger, war nur deshalb auf mein Motorrad gestiegen, weil Jim am Telefon verkündet hatte, ihre geplante gerichtliche Verfügung sei ihm scheißegal und er würde jetzt rüberkommen. So was hatte er schon früher getan. Deshalb hatte sie beschlossen, gemeinsam mit ihrer Schwester zu fliehen. Wie hätte ich wissen sollen, daß ihr ein schlimmeres Schicksal drohte als das Grauen, dem sie entrinnen wollte? Und wenn er Lily holen würde? »Wenn er Lily holt…« Ich schrie und schrie, kämpfte mich durch Flammen, schwebte dahin, umklammerte ein Kind, und irgend jemand hielt meine Fußknöchel fest, mein Bein blieb in seinen Händen zurück, und ich flog einbeinig weiter… Irgendwann erwachte ich in Dolores’ Armen, den Kopf an ihrer Schulter. Nachtlampen glühten, Wasser- und Heizungsrohre gluckerten. Krankenhausgeruch. Stickige Krankenhaushitze. Und Dolores’ große braune Augen im Halbdunkel. Eine afrikanische Nacht. Warum tröstete mich dieser Gedanke? Sie brachte mir ein Glas Wasser und hüllte mich in eine Decke. »Bevor ich hereinkam, habe ich nach Lily gesehen. Sie ist okay. Schwach, aber okay. Niemand wird sie wegbringen. Auf keinen Fall.« »Er ist ihr Vater«, murmelte ich. »Wurde sie schon registriert?«
»Nein.« »Dann weiß niemand, wer der Vater ist. Wir kennen ihn nicht. Und ihre Mutter lebt nicht mehr.« »Er ist ein Schwein.« »Vorläufig können Sie nichts unternehmen.« »Wenn er auftaucht…« »Das Kind liegt im Brutkasten und ist nicht transportfähig.« »Verstehen Sie doch, ich muß Lily behalten.« Da gab es keinen Zweifel. Janie, meine kleine Schwester, zehn Monate jünger als ich… »Haben Sie sich ernsthaft mit diesem Gedanken auseinandergesetzt?« fragte Dolores. »Ja.« »Können Sie für Lily sorgen? Wollen Sie die Verantwortung übernehmen? Was sagt Ihr Mann dazu?« »Ich habe keinen.« »Das ist schlimm«, meinte sie, und ich schaute zu ihr auf. Ja, sie wußte, wie schlimm es war. »Wie viele Kinder haben Sie?« »Drei – Kwame, Kofi und Nana. Meine Mutter hilft mir.« Natürlich werde ich gut für Lily sorgen. Ich kann arbeiten. (O Gott, ich bin Tänzerin, und mein Bein steckt im Streckverband. Also muß ich was anderes machen. Ob ich’s schaffe? Selbstverständlich.) »Aber wenn er mir das Baby wegnimmt…« »Dann müssen Sie um Lily kämpfen.« Kämpfen. Aber wie? Vor Gericht? Eine Adoption? Wie funktioniert so was? Er muß zustimmen. Wird er’s tun? Muß er zustimmen? »Wenn man etwas in Besitz hat, dann hat man schon zu zwei Dritteln recht«, murmelte Dolores. »Und nichts ist so erfolgversprechend wie ein fait accompli.« »Wann werde ich wieder laufen können?« »Morgen früh kommt der Arzt.« Der wird mir nichts sagen. Die halten alle den Mund, für den Fall, daß man sie vor Gericht bringt, wenn’s länger dauert oder nicht so klappt, wie sie’s prophezeit haben. Aber ich muß wieder gehen lernen, ich muß. Schließlich schlief ich wieder ein und träumte von faits accomplis. Am nächsten Morgen ließ ich mir von der Tagesschwester das Münztelefon bringen und rief Neil an. »Janie ist tot. Und ich will ihr Kind behalten.«
Tiefes Schweigen. Dann fragte er: »Janie ist tot?« »Ja.« Dann begann er zu weinen, und ich schob noch zehn Penny rein. Ich weinte nicht. »Oh, ich bin so – so…«, stammelte er. »Ja.« »Wie ist es passiert?« »Ein Unfall.« »Und das Baby?« »Es kam zu früh auf die Welt, ist aber okay.« »Und Jim?« »Wir wissen nicht, wo er steckt. Keine Ahnung, ob er es schon weiß. Neil, du darfst es ihm nicht erzählen. Die beiden hatten Streit… Hör mal, würdest du mich besuchen? Bitte.« »Natürlich.« »Ich liege im Krankenhaus.« »Um Himmels willen. Ist alles in Ordnung?« Erst brach ich in Gelächter aus, dann schluchzte ich. »Komm heute nachmittag. Heute vormittag. Sofort.« Als er bei mir saß, erklärte er, Lily müsse aus der Klinik geschafft werden, sobald sie überm Berg sei. »Nimm sie mit nach Hause und beantrage das Sorgerecht. Falls Jim Interesse zeigt, dann kämpfe um sie. Hab sie lieb, sei ihr eine gute Mutter. Das wird jeder Richter respektieren. Und du solltest heiraten.« Sicher verstehen Sie nun, warum es mir schwerfällt, Neil gemein zu behandeln. Die Petunien strahlten mich an wie klare Gedanken in einem Nebel der Konfusion. In den drei Jahren seit Janies Begräbnis war Jim nicht aufgetaucht – bis jetzt. Ich habe mich über ihn informiert. Inzwischen ist er gut betucht und angesehen, aber ich kenne seinen Charakter besser als die Polizei oder sonst jemand, der die Situation irgendwie beeinflussen könnte. Es liegt an mir, ihn von meiner Lily fernzuhalten. Deshalb hätte ich nicht straffällig werden dürfen. Ohne das Auto könnte ich leben – kein Problem. Der Führerschein spielt kaum eine Rolle. Aber ich brauche meinen unbescholtenen Namen, um Lily behalten zu können. Ich habe Bilanz gezogen, und es sieht folgendermaßen aus: auf der einen Seite siebzehn nicht angezeigte blaue Augen, die er meiner Schwester verpaßte (ich hab sie gezählt), und eine gerichtliche Verfügung, die sie allerdings nie erwirkt hat, versus potentielle Behauptungen sündteurer Anwälte, ich sei eine Säuferin,
verantwortungslos, unfähig, ein Single und überdies nicht die Mutter des Kindes. Darüber dachte ich nach. Und über was anderes – am Morgen, bevor ich mit Neil ausgegangen war, hatte Jim angerufen und die Nachricht hinterlassen, er würde gern mit mir reden. Ich schlief ein bißchen, weil ich’s nötig hatte. Gegen sieben erwachte ich aus einem unruhigen Dämmerzustand und merkte, daß mein Entschluß feststand. Eine Stunde später telefonierte ich mit einem gewissen Polizeirevier. Ich erwartete nicht, Ben Cooper zu erreichen. Aber vielleicht war er da, und ich mußte möglichst schnell was unternehmen. Tatsächlich – ich hatte Glück. Ben Cooper. Wir waren uns begegnet, während wir uns bei einem Kurs für Motorradfahrer darum bemüht hatten, den Leuten eine defensive Fahrweise beizubringen – er ein junger Polizist, ich im wiederholten Bestreben, mich als normal, tüchtig und hilfreich zu erweisen, eine Zierde der Gemeinde und fest angestellt. Ben Cooper, der Ben Copper, der ausgeflippte Bulle. »Hallo, Fremdling«, begrüßte er mich wie üblich – einer seiner kleinen Scherze. Wir trafen uns manchmal, weil es zu seinen Prinzipien gehörte, niemanden aus den Augen zu verlieren – für alle Fälle. Immer wieder hatte ich versucht, ihn loszuwerden, denn ich mochte ihn nicht, und ich glaube, seit Janies Tod sind wir uns nicht mehr über den Weg gelaufen. Ich wollte ihn nicht um einen Gefallen bitten, aber ich dachte wirklich, es sei das richtige. Vielleicht waren meine Gedankengänge total verkorkst, oder das kalte Morgenlicht, das einem helfen sollte, die Dinge klarer zu sehen, inspiriert einen nur, wenn man stocknüchtern aus einem erholsamen Schlaf erwacht – nicht halb beschwipst, von Sorgen gepeinigt. »Ben, können wir uns sehen?« »Mhm.« »Ich habe da ein kleines Problem.« »Willst du dich an meiner Schulter ausweinen?« »Mhm.« »An der professionellen Schulter?« »Mhm.« »Möchtest du mir jetzt schon was erzählen?« »Geht das?« »Ich ruf dich gleich zurück.« Zwei Minuten später wußte er Bescheid. Er suchte die Nummer des Officers heraus, der mich geschnappt hatte, mein polizeiliches Kennzeichen, die Nummer des Falls und viele andere Nummern.
Und mir wurde eine Zahl genannt. 500 Pfund, so viel kostete sein professioneller Rat. Billig, falls er es schaffte. »Das klappt schon«, versicherte er. »Schlaf dich erst mal aus. Deine Stimme klingt gräßlich.« Ich sagte ihm nicht, daß ich Lily in anderthalb Stunden zum Kindergarten bringen mußte.
2 Mit Ben im Pub Lily und ich fuhren im Bus zum Kindergarten, und es kam mir so vor, als hätte ich jahrelang nicht mehr in einem dieser Gefährte gesessen. Aber ich erkannte den schmierig-metallischen Geruch, der so typisch ist für die Vehikel von London Transport. Allmählich wurde es immer wärmer. Der Schaffner schenkte Lily das hintere Ende seines Fahrkartenblocks und erklärte, das sei Klopapier für ihre Puppe. Entzückt riß sie die Augen auf, und er gurrte sie an. Ich war beeindruckt. Was für ein nettes altmodisches Stück London auf der Uxbridge Road! Ich ließ Lily bei den Hamstern und Wachskreiden zurück und ging nach Westen rauf, um das Auto zu holen (ja, ich weiß, das West End liegt östlich von West-London, aber das West End ist nun mal Up West). Wahrscheinlich war mein Alkoholspiegel nicht viel niedriger als am Vorabend. Zum Glück wurden um neun Uhr morgens keine Tests gemacht. Ich fuhr nach Shepherd’s Bush zurück und schlief zwei Stunden. Dann weckte mich das Telefon. Normalerweise drehe ich mich auf die andere Seite und lasse den Anrufbeantworter laufen. Aber ich war zu nervös, und so nahm ich den Hörer ab, noch im Halbschlaf. Jim meldete sich. »Hallo. Ich will meine Tochter sehen.« »Geh zum Teufel.« »Hör zu, Angie.« Igitt, ich wollte nicht zuhören. Warum sollte ich? Er setzte zu Erklärungen an, die er genau einstudiert haben mußte, doch seine Nettigkeiten prallten an meinem Kater und meiner Wut ab. Weil es in meinem Kopf NEIN NEIN NEIN schrillte, verstand ich ihn kaum. Dann wurde ich endlich wach und merkte, daß er vernünftig war und ich nicht. Er war höflich und ich nicht. Von jetzt an konnte alles gegen mich verwendet werden. »Hallo, wer ist da?« fragte ich. »Angie? Hier ist Jim.« »Jim! O Gott! Hallo…« Ich versuchte ihm vorzumachen, ich sei doppelt verwirrt, einmal, weil er am Apparat war, und zum anderen, weil ich geglaubt hätte, es sei jemand anderer am Telefon. »Tut mir leid, du hast mich geweckt…« Scheiße – durfte ich das zugeben? Nur Rabenmütter schlafen vormittags und faseln dummes Zeug am
Telefon. Wenn das jetzt ein Notruf aus dem Kindergarten gewesen wäre… »Was? Hast du mir nicht zugehört?« »Nein – ich meine, warum rufst du an? Was willst du?« Er wiederholte seinen Vortrag. Er wirkte nervös – kein Wunder – und irgendwie so, als würde er es gut meinen. Wie ich seinen Atemzügen entnahm, zwang er sich zur Ruhe. »Angie, eh - ich weiß, es ist lange her und es wird dich schockieren, aber ich hatte nie die Absicht, für immer auf meine Tochter zu verzichten. Ich finde, wir sollten uns endlich treffen. Ich will sie sehen - und kennenlernen…« Seine Stimme erstarb, und mir kam der Gedanke, daß er genauso nervös war wie ich. Und daß er es ernst meinte. Kalte Angst nahm mein Herz in beide Hände und quetschte es zusammen. »Dazu kann ich erst was sagen, wenn ich fachlichen Rat eingeholt habe.« »Bitte, mach die Sache nicht kompliziert«, erwiderte er hastig. »Aber sie ist kompliziert. Danke, daß du mir gesagt hast, was du willst – ich nehm’s zur Kenntnis. Ich werde darüber nachdenken. Sicher verstehst du, warum ich nicht einfach ›ja, okay‹ oder ›nein, niemals‹ sagen kann. Ich will mir überlegen, wie wir’s regeln können und ob es überhaupt geht. Auch du solltest darüber nachdenken. Du verlangst verdammt viel, Jim…« »Um Himmels willen, ich möchte sie doch nur sehen…« Natürlich wußte ich, daß er viel mehr wollte. Das war bloß der erste Schritt, mit dem er versuchte, mich einzuwickeln. Keine Ahnung, wieso ich’s wußte. Vermutlich, weil ich ihn kannte. Erst war er nett und charmant, und sobald ihm irgendwas in die Quere kam, schmollte er und stampfte mit dem Fuß auf. Schließlich schlug er gnadenlos zu. Seine Nervosität machte ihn nicht ungefährlicher. »In ein paar Tagen rufe ich dich an, Jim«, versprach ich und bemühte mich um einen freundlichen Ton. »Vorher werde ich mit ein paar Leuten reden. Ich sage keineswegs, es ist unmöglich…« »Du bist auch gar nicht in der Position, so etwas zu sagen.« »Das tue ich auch nicht, Jim. Es geht mir nur darum, daß wir überlegt vorgehen und daß du behutsam bist. Denke daran, daß Lily nicht einmal weiß, daß du ihr Vater bist. Bis jetzt hat sie lediglich mitbekommen, daß andere Kinder Väter haben, aber sie ist noch nicht auf den Gedanken gekommen, daß sie auch einen haben könnte…« »Um so wichtiger wäre es…«
»Vielleicht. Trotzdem sollten wir’s langsam angehen. Ich melde mich.« Jetzt wählte ich meine Worte sehr sorgsam. »Bald. Dann reden wir. Aber gib mir bitte etwas Zeit.« Er protestierte nicht, und ich legte auf. Offenbar versteht er nichts von Kindern, dachte ich. Und das ist wahrscheinlich mein Vorteil. Um die Mittagszeit betrat ich das Three Johns in Islington, um Cooper zu treffen. Ich hatte die Idee, drei Jungs namens John dorthin einzuladen und mich über den dummen Witz kaputtzulachen, immer witzig gefunden. Na ja, diesmal keine Johns, sondern nur ein Ben. Er sah aus, wie er immer ausgesehen hatte, wohlgenährt und gutmütig, mit sauber geschrubbtem Hals. Diesmal trug er keine Uniform, und seine Privatkleidung schrie geradezu »Bulle in Zivil« – Hose mit Bügelfalten und Sportjackett. Nicht mein Geschmack. Er saß an einem winzigen runden Tisch in der Ecke und wirkte fast schon darum bemüht, harmlos auszusehen. »O nein, schau mich nicht an«, signalisierte seine Haltung, »ich bin völlig uninteressant.« Ein Wunder, daß er es so weit gebracht hat. »Hallo«, sagte er und betonte das »lo«. Dann machte er eine Bewegung, als wolle er aufstehen, ließ es aber bleiben. Erstens hätte er den Tisch umgeworfen, und zweitens wollte er nicht höflich sein, sondern nur den Anschein erwecken. »Was trinkst du? Immer noch Cidre?« Daß er sich an alles erinnert, auch an die winzigsten Details, gehört zu seinen unheimlichsten Eigenschaften. Drei Jahre hatten wir uns nicht gesehen, und er wußte immer noch, wie gern ich Cidre trinke. Er hätte Klatschkolumnist werden sollen. Aber offensichtlich war es auch für einen Polizisten nützlich, ein gutes Gedächtnis zu besitzen. Zunächst verspürte ich den kindischen Drang, etwas anderes zu bestellen, aber mir fiel nichts ein, was unverfänglich genug gewesen wäre. Etwas Alkoholfreies würde ihn auf meinen Kater hinweisen, und davon durfte er nichts merken. Wodka? Dann würde er mich für einen Schluckspecht halten. Bier? Eine Lesbierin! Cinzano? Neben der Spur! Was ist das Gegenteil von Cidre? Und dann empfand ich das noch infantilere Bedürfnis zu verkünden: »Nein, ich hol mir selber was.« Natürlich würde er in seinen Acryl-Ärmel lachen und glauben, mein Anliegen wäre so wichtig, daß ich ihm nichts schulden wollte. Und hinsichtlich dessen, was ich wirklich von ihm wollte, war das ein schlechter Witz. Schließlich entschied ich mich für einen halben Cidre.
Erst mal machte er Small talk. Was ich denn jetzt führe? Schon wieder der beängstigende Bullenscharfblick. Ich trug eine dünne Baumwollhose, ein Baumwollhemd und geschnürte Sandalen wie ein römischer Soldat. Kein Leder, kein Helm, kein Garnichts. Ich erklärte, ich führe nicht mehr Motorrad. »Warum nicht? Versuchst du, ein anständiges Leben zu führen?« fragte er geistreich. Er hat diese fixe Idee, der Besitz eines Motorrads und sogar der Gedanke daran wären Straftaten. Obwohl er selbst eins fährt. »Befehl vom Doktor«, entgegnete ich, ohne die Narben an meinem rechten Bein zu erwähnen, das viele talentierte Ärzte befingert und mit Skalpellen und hilfreichen Nägeln bearbeitet hatten, damit es wieder halbwegs funktionierte. Und sie hatten ihre Sache ganz gut gemacht. Ich erzählte auch nichts von Lily und meinem Entschluß, das kleine Mädchen oder mich selber niemals auch nur in die Nähe gefühlskalter, brutaler, mieser Typen zu lassen. »Wie ich hörte, hattest du eine Karambolage«, sagte er. »Eigentlich dachte ich, so was würde dich nicht kleinkriegen.« Ich lächelte. Nicht gerade strahlend. Diesen Satz hatte ich so oft gehört, daß ich es überflüssig fand, Erklärungen abzugeben. »Zum Glück hast du letzte Nacht keinen Unfall gebaut«, fuhr er fort. Ah. Jetzt kam er zur Sache. Ich bezähmte meine Ungeduld und zwang mich dazu, seinen Blick zu erwidern. Jetzt ging es nicht mehr um Bagatellen wie die tatsächlichen Ereignisse oder meine Würde, sondern um meinen Führerschein. »Sonst würde es erheblich mehr kosten.« Diese Information ließ er ein paar Sekunden lang einwirken. »Aber so, wie es aussieht«, fügte er hinzu und richtete sich auf, »hast du Glück. Ich übernehme die Angelegenheit.« Verständnislos starrte ich ihn an. Falls er es so meinte, wie es klang, dann verstand ich ihn nicht. Welche Angelegenheit meinte er, um Himmels willen? Bestimmt keine, von der ich hören wollte. »HGT 425Q«, erläuterte er, was mein Gedächtnis keineswegs auffrischte. »Ein Pontiac Firebird, Acht-Zylinder 455, Baujahr 1969 oder 70, aber mit Q-Nummer…« Mein Blick mußte eine vage Erinnerung verraten haben. »Seit er 1986 aus New Orleans importiert wurde.« Es dämmerte mir allmählich. »Zufällig illegal. Und zufällig unter deinem Namen.« Warum erwähnte er diese uralte bürokratische Registrierungsgeschichte? Klar, wenn man ein Auto aus den Staaten holt, behält es die Q-Nummer nur so lange, bis man genau angeben kann, innerhalb
welcher sechs Monate es drüben zum erstenmal registriert war, und nicht bloß das Jahr – was in den USA genügt. Normalerweise kümmert sich niemand weiter darum. Hundert Schlitten fahren mit QNummern durch die Stadt, und normalerweise interessiert das keinen Menschen. Ich kannte das Auto zwar, aber es war nicht meines. Harry Makins hatte es vor Jahren auf meinen Namen eintragen lassen, weil auf seinen schon so viele alte Wracks liefen, daß er fürchtete, ein übereifriger Beamter könnte vermuten, er sei Gebrauchtwagenhändler. Natürlich würde man nach seiner Versicherung und Steuerkarte und seinem Feuerschutz fragen und ob es in dem Raum, wo sein elektrischer Wasserkessel stand, ein Fenster gab. Das hatte er zumindest behauptet. Also hatte ich ihm angeboten, die Karre auf meinen Namen registrieren zu lassen, kein Problem. In jenen Tagen bildete ich mir ein, ich wäre in ihn verliebt, und es amüsierte mich, daß mein Name in den Wagenpapieren stand, obwohl ich bis dahin nur Autoscooter auf dem Shepherd’s Bush Green gefahren war. Aber wie dem auch sei, nach ein paar Monaten baute er den Motor sowieso aus und in ein klassisches Oldsmobile ein – in einen Rocket 88, wenn ich mich nicht irre. Angeblich hat ein Schrotthändler die Karosserie abtransportiert. Jedenfalls parkte der Wagen dann nicht mehr vor meinem Haus. Damals hatte ich in Clerkenwell gewohnt, in einem schmalen georgianischen Gebäude voller militärischer Meldefahrer, nur ein paar Türen von Charles Dickens’ Wohnstätte entfernt. Aber kurz danach hatten Harry und ich Schluß gemacht. Was sollte ich jetzt noch über das Auto wissen? Cooper musterte mich. »Fällt es dir wieder ein?« fragte er freundlich. »Ach ja, der Pontiac!« Ich hoffte, mein Gesicht würde unschuldige Verwirrung ausdrücken. »Den hatte ich ganz vergessen. Ich fuhr ihn nur ein paar Wochen. Inzwischen wurde er verschrottet.« »Wirklich? Wann denn?« »1988? Oder 87?« »Oh«, meinte er in jenem skeptischen, sarkastischen Ton, den sonst nur die Bullen im TV anschlagen. »Wie komisch.« Mehr mochte ich nicht sagen, bevor ich nicht wußte, was los war. Ich bin nicht der Typ, der Polizisten automatisch belügt. Aber ich finde, ehe man die Lage sondiert hat, ist höfliche Zurückhaltung, was Informationen betrifft, für alle Beteiligten am besten. Leider schien Cooper denselben Standpunkt zu vertreten. Ich schaute ihn höflich
an, er schaute höflich zurück – ein Patt im Three Johns. Eigentlich wollte ich nur die fünfhundert Pfund loswerden, die mir ein Loch in die Tasche zu brennen schienen, und das Versprechen hören, seine unfehlbare Methode, unangenehme Anklagen wegen Trunkenheit am Steuer zu verhindern, würde auch in meinem Fall funktionieren. Und ich hatte keine Lust, über ein Auto zu diskutieren, das auf irgendeinem Schrotthaufen in Essex lag, zusammengequetscht zu einem kleinen Metallwürfel. Er schaute mich an, ich schaute ihn an. »Eddie Bates«, sagte er. »Wer ist Eddie Bates?« fragte ich, wirklich und wahrhaftig ahnungslos und sehr erleichtert. Was immer er auch wollte, ich konnte ihm nicht helfen. Von einem Eddie Bates hatte ich noch nie gehört. »Wohnhaft Pelham Crescent SW7.« Immer noch gähnende Leere in meinem Hirn. »Dort wurde der Pontiac Firebird HGT 425Q in den letzten beiden Monaten zwölfmal observiert. Im Durchschnitt anderthalb Mal pro Woche. Ein regelmäßiger Kandidat.« »Moment mal, Ben…« Ich beugte mich vor und lächelte offenherzig. »Da irrst du dich. Ich kenne niemanden, der reich genug wäre, um dort zu wohnen. Und ich gehe auch nicht zu Joseph oder in den Conran-Laden. Als ich zum letztenmal einen Fuß nach South Ken setzte, war ich acht Jahre alt und besichtigte zusammen mit zwanzig kleinen Mitschülerinnen die Dinosaurier. Seit 1987 habe ich dieses Auto nicht mehr gesehen, und ein Eddie Bates ist mir nie begegnet.« Er warf mir einen prüfenden Blick zu, als wolle er meine Aufrichtigkeit ergründen, und schien mir dann zu glauben. »Also, es geht um folgendes. Dein kleines nächtliches Vergehen wird keine Konsequenzen nach sich ziehen, weil meine Abteilung dich wegen einer ganz anderen Sache im Auge behält. Davon weiß dieser Streifenpolizist nichts, der dich geschnappt hat. Dein Papierkram landet auf meinem Schreibtisch und verschwindet bis zum St. Nimmerleinstag in einem Aktenordner – oder bis dein anderer Fall vor Gericht kommt. Je nachdem, was früher passiert.« »Clever.« Ich hatte mich tatsächlich schon gewundert. »Aber….« fuhr er fort. Höflich schaute ich ihn an. »Es gibt bereits eine Akte über dich«, erklärte er. Verwirrt runzelte ich die Stirn. »Du wirst überwacht.« In meinem Bauch vibrierte ein winziges Alarmsignal. Und dann verspürte ich wachsenden Zorn. Ich schwieg. »Natürlich folgen wir dir nicht auf Schritt und Tritt. Soviel Personal
haben wir nicht. Aber dein Auto und dein Name spielen eine gewisse Rolle in einem Fall, der umfassende Ermittlungen erfordert. Ich habe keine Ahnung, weswegen dir dein Führerschein so wichtig ist, aber wenn dein Name im Zusammenhang mit Eddie Bates auftaucht, wirst du auch in dieser Angelegenheit Schwierigkeiten bekommen.« »Ben, ich kenne den Mann nicht…« »Das sagtest du bereits, und es ist irrelevant. Worauf es ankommt – du könntest ihn kennenlernen…« Genau das befürchtete ich auch. »… und du würdest mir damit einen großen persönlichen Gefallen tun.« Irgendwie gewann ich den schrecklichen Eindruck, daß ich keine Wahl hatte. »Du hast keine Wahl«, sagte er.
3 Wir – damals Wie er es ausdrückte, sollte ich »Harry Makins anbaggern«. Natürlich wußte er, daß der Pontiac meinem früheren Freund gehörte. Und es ließ ihn kalt, als ich erzählte, ich hätte Harry seit dem Winter 1988 nicht mehr gesehen und beim letzten Mal sei mir die Sicht von einem Stuhl versperrt worden, den er durchs Fenster geworfen habe, und zwar auf mich. Also sollte ich Harry und dann Eddie Bates anbaggern und weitere Instruktionen abwarten – das war’s. Harry anbaggern? Wie denn? Sollte ich ihn anrufen, nach acht Jahren? Einfach so? Hi, Harry! Natürlich hatte ich ihn in einer Bar kennengelernt. Janie meinte, ich würde meinen Traummann niemals in einer Bar treffen, weil mein Traummann was Besseres zu tun habe, als herumzuhängen und zu trinken. Aber es war nicht diese Art von Bar, sondern die Kategorie, wo die Leute herumhängen und auf Spesen trinken und das Ganze »Besprechung« nennen, ein Etablissement in Soho, wo es mexikanisches Bier, üppige Mengen stacheliger Grünpflanzen und Männer mit albernen Frisuren gab. Harry fiel mir auf, weil er nicht in diese Umgebung paßte. Kein Paul-Smith-Anzug, kein Pferdeschwanz, keine Augen, die bei jedem Neuankömmling zur Tür flackerten. Für so eine geschniegelte Kneipe war er zu cool. Er trug seine Lederkluft so, wie es nur große, schlanke Typen können – als wäre sie seine zweite Haut. Und das Leder brachte seine Proportionen toll zur Geltung. Zudem sah er ein bißchen gefährlich aus. Während ich an der Theke saß, kam er mit ein paar Paul Smiths herein, und nach einem kurzen Small talk wollte er wissen, ob das da draußen mein Motorrad sei – auch ich trug Leder – und er habe die speziellen Blue-dot Rücklichteinsätze, falls ich daran interessiert sei. Zufällig war ich interessiert. In diesem Land kriegt man diese Art von Einsätzen normalerweise nicht. Und da ich nicht wußte, daß es für eine 1963 Dynaglide (mein Geburtsjahr, deshalb hatte ich sie gekauft) gar keine Rücklichteinsätze gab, sagte ich ja. Nachdem ich mir seine Telefonnummer notiert hatte, beugte er sich rüber und wisperte – sehr vertraulich angesichts unserer kurzen Bekanntschaft – in mein Ohr: »Das war nur ein Test. Für die Dynaglide gibt’s kei-
ne. Aber ich mußte rausfinden, ob du ein Schwachkopf bist.« Und als ich ein bißchen von ihm abrückte, um ihn genauer zu mustern, fragte er: »Kann ich dich jetzt küssen? Das würde uns viel Zeit ersparen…« Hurra! »Du kannst mich jetzt küssen«, sagte ich, »und dann einen Monat lang nicht mehr.« Also taten wir’s, und es war eine irre Knutscherei mitten in der aufgemotzten Bar. Als er mich fünf Minuten später losließ (ja, er ließ mich los), zitterten meine Knie, als ich mich auf meinem Barhocker zurücklehnte. »Ich muß jetzt los, weil ich mit jemandem über einen Chevrolet reden muß«, erklärte er. »Am Samstag in vier Wochen sehen wir uns wieder, im Gossips.« Bevor ich auf diese Frechheit antworten konnte, fragte der Barkeeper: »Sind Sie Angeline? Mr. Herbert möchte Sie jetzt sprechen.« Und da mußte ich gehen, denn auch ich war aus beruflichen Gründen hier. »Mr. Herbert?« Harry brach in Gelächter aus. »Bist du Kellnerin oder was?« »Nein, Bauchtänzer in«, erwiderte ich, und sein Grinsen war phänomenal. »Bauchtänzerin auf einer Harley? Klasse!« Damals trafen wir uns jede Woche im Gossips und tanzten aufreizend erotisch zu wilden Reggae-Klängen. Aber ich würde mich im Gregory Isaacs umsehen. Das war Harrys Lieblingslokal. Vielleicht ging er immer noch hin. Am Samstagabend bat ich Brigid, auf Lily aufzupassen, und fuhr mit dem Bus zum West End. Voraussichtlich würde ich den einen oder anderen Drink nehmen müssen. Am Oxford Circus stieg ich aus, kurz nach der Sperrstunde, und geriet in eine untröstliche Touristenschar, die nicht wußte, was man in London machen kann, nachdem die Pubs geschlossen sind. Ich durchquerte Soho und kam an einem der griechischen Restaurants vorbei, wo ich früher getanzt hatte. Rings um das beschlagene Fenster blinkten elektrische Lichterketten, und drinnen würde ich Andreas treffen, fetter denn je in seinem Kummerbund, und er würde mich in seine verschwitzten Arme nehmen und mich mit seinen runden braunen Augen mitfühlend anschauen. »Wie geht’s deinem Bein, Darling?« Nun, ich kann aus Bussen springen, eine Dreijährige herumkarren und wie ein Kamel laufen, um sie zum Lachen zu bringen. Aber meinen Lebensunterhalt kann ich mit Hüftschwüngen
nicht mehr verdienen, damit hat es sich. Und weil es zu diesem Thema nichts weiter zu sagen gab, ging ich nicht rein und verzichtete auf Andreas’ Umarmung. Vielleicht fragen Sie sich, warum ich Bauchtänzerin gewesen bin. Vielleicht finden Sie Bauchtänzerinnen idiotisch. Obwohl ich es hasse, irgendwas zu erklären – vor allem, wenn es mich selbst betrifft –, will ich es versuchen. Als ich sechzehn war, lief ich mit meiner ägyptischen Freundin Zeinab eines Abends von zu Hause weg (ihre Eltern waren streng, meine nicht), um mit ihren abenteuerlustigen, schwerreichen achtzehnjährigen Cousins in eine Bar zu gehen. Sie waren erst kurz vorher aus Kairo angekommen und nicht an Mädchen gewöhnt, die Lokale besuchten und tranken. Sie führten uns in einen teuren, aber ziemlich schäbigen arabischen Nachtclub, wo wir uns hinter Rauchglaswänden vollaufen ließen, sehr zum Mißfallen des maitre d’. Offenbar hielt er meine Begleiter für die verkommene neue Generation, die ihren Familien, ihrem Land und ihrer Religion Schande machte – womit er nicht ganz unrecht hatte. Was mich betraf, so war ich einfach nur eine Ungläubige, von der man nichts Besseres erwarten durfte. Deshalb staunte er nicht im mindesten, als ich nach der Show – natürlich war eine Bauchtänzerin aufgetreten – aufstand und sie imitierte. Aber es verblüffte ihn, daß ich mich keineswegs blamierte. Auch ich war überrascht – nicht, weil ich mich besonders hervortat, sondern weil sich die Bewegungen so wunderbar anfühlten. Natürlich war eine sechzehnjährige Blondine, die in einem arabischen Nachtclub tanzte, eine Sensation. Also fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, ihm probeweise vorzutanzen. Das fanden die Jungs wahnsinnig komisch. Zeinab erklärte, das sei okay, aber zuerst müßte ich richtig tanzen lernen, und außerdem würde sie mich begleiten. Und so war ich plötzlich eine Art Pseudo-Bauchtänzerin, obwohl ich überhaupt nichts von dieser Kunst verstand. Ignoranz war mir schon immer ein Greuel gewesen. Also informierte ich mich, nahm Unterricht, redete mit den anderen Mädchen und bat Zeinab, mir die kulturellen Hintergründe zu erklären. Sie brachte mir ein paar coole arabische Sprüche bei, damit ich den Jungs klarmachen konnte, daß ich zwar eine blonde Ausländern und halb nackt sei, aber trotzdem mit einem gewissen Respekt behandelt werden wollte. Natürlich gab’s Probleme. Zum Beispiel, als ich den anderen Mädchen in meiner Naivität anvertraute, was ich mir wünschte – daß ein Zuschauer, von meiner Darbietung begeistert,
mich mit einer Flasche Champagner übergießen würde. So etwas hatte ich in einem anderen Club gesehen. »Habibti«, sagte Aisha, die mindestens vierzig war und für die »Kleinen« sorgte, wie sie uns nannte. »Aber er tut’s nur, um zu zeigen, daß er das Mädchen für die Nacht gekauft hat.« Zunächst liebte ich nur die Bewegungen und die Musik, die Pause nach den einleitenden Takten, bevor das takasim begann, und das Solo, den ganz allmählichen Stimmungsumschwung. Und ich liebte die nay – die Flöte. Auf ihren Klängen entschwebte ich. In dem Augenblick, bevor der Spieler Atem holt, wenn ich völlig reglos dastehe und die Atmosphäre wechselt – in diesem Moment wird die Musik gleichsam sichtbar. Ich hatte Ballettunterricht gehabt – wie steif und gekünstelt, steril, unsinnlich und vorpubertär, wie unnatürlich… Als meine Brüste wuchsen, habe ich es aufgegeben. Aber das hier war eine andere Welt, in der sich mein inzwischen weiblicher Körper heimisch fühlte und nicht lächerlich gemacht wurde wie beim Ballett. Außerdem liebte ich das viele Geld, das ich verdiente, und verdammt, ja, ich liebte den Glamour, die Männer, die mich begehrten (obwohl ich Distanz wahrte), und die anderen Mädchen mit ihren mysteriösen Lebensgeschichten, und besonders liebte ich die Tatsache, daß ich meinen Eltern verschwieg, was ich da machte. Bald merkte Hassan, der Manager, daß ich nicht immer betrunken war und daß er mich nur zu meinen eigenen Bedingungen halten konnte, die darin bestanden, daß ich nur einmal pro Woche, nämlich Freitagoder Samstagabend, arbeitete und spätestens um ein Uhr nachts wieder nach Hause gehen konnte. Auf diese Weise war es mir möglich, die Vorschriften meiner Eltern nicht zu überschreiten, die davon ausgingen, daß ich mit Janie zusammen zu Parties ging und anschließend brav mit dem Taxi nach Hause fuhr. Vor allem gefiel es mir, nicht zu denken. Die ganze Woche über saß ich in der Schule, plagte mich mit Differentialrechnungen und den Ursachen des Ersten Weltkriegs herum, und am Samstagabend war ich ganz Körper. Wie John Travolta. Während meines Studiums fuhr ich an den Wochenenden nach London, um zu tanzen. Ich sorgte selbst für meinen Lebensunterhalt. Irgendwann habe ich es meinen Eltern dann gesagt, und sie fanden sich damit ab. Aisha erzählte mir, sie würde es ihrer Familie immer noch verschweigen, denn Tanzen sei ein minderwertiger Beruf, und das bewirkte, daß ich mich ziemlich mies fühlte. Ich war auf der sicheren Seite, und im Grunde genommen spielte ich nur. Klar, mei-
ne Eltern waren alles andere als begeistert, aber niemand würde mich erschießen oder mir vorwerfen, meinetwegen in Schande geraten zu sein. Immerhin hatte ich ja meinen Universitätsabschluß, oder etwa nicht? Später lernte ich die Bedeutung des Schleiers kennen, die Symbolik von Enthüllung und Verheimlichung. Ich erfuhr von Ishtar, der babylonischen Liebesgöttin – einer Jungfrau, die Liebhaber hatte und somit für Keuschheit ebenso wie für Fruchtbarkeit steht. Als ihr Mann Tammuz starb, suchte sie ihn und ging durch die sieben mal sieben Tore der Unterwelt. Bei jedem siebten Tor legte sie jeweils ein Schmuckstück und einen ihrer Schleier ab. Dies war der Eintrittspreis, den sie zahlen mußte. Sie betörte und verführte die Wächter, und jeder ließ sie vorbei. Beim letzten Tor war sie nackt, und sie tanzte den Shalome, den Tanz des Willkommens, nach dem Salome benannt wurde, nachdem sie für Herodes getanzt hatte. Ich erfuhr, wie Demeter am Brunnen der Schönen Tänze bei Eleusis gerastet hatte, als sie nach Persephone suchte, der sie dann in die Unterwelt folgte. Und ich hörte von den eleusischen Mysterientänzen und von der Frau namens Baubo – also Bauch –, die für Demeter tanzte und sie zum Lachen brachte. Ich las Carlo Suares’ Kommentar über das Lied der Lieder, las über die Bedeutung des Begriffs Shulamite, das einer ähnlichen Wurzel entstammt wie das Wort Shalom, und seine alternative Übersetzung, die Tänzerin bedeutet. Und ich lernte, daß die Sieben die Zahl des Universums ist, denn die alten Mesopotamier, die am meisten über solche Dinge wußten, kannten sieben Planeten. Das alles faszinierte mich. Aber ich war nur eine Nachtclubtänzerin mit gepierctem Nabel, in dem ein falscher Edelstein steckte. Wissen Sie, warum die Bauchtänzerinnen Rubine im Nabel tragen? Im Hollywood der dreißiger und vierziger Jahre waren Bauchtanzszenen in Bibelfilmen ein guter Vorwand, um ein bißchen nacktes Fleisch auf der Leinwand zu zeigen. Aber den Nabel durfte man nicht sehen. Zu erotisch. Also steckte man einen Rubin rein. Damals war ich einfach nur ein Londoner Mädchen mit einem Teilzeitjob und einer Schwäche für schwere Motorräder und die uralten Wurzeln der Bauchtanzkunst. Natürlich saß Harry nicht im Gossips. Wieso sollte er nach all den Jahren da rumhängen und auf mich warten? Ich bestellte einen Wodka Tonic und betrachtete die Relikte eines Lebens, das ich nicht mehr führte. Jetzt, wo ich im Babyland wohnte, waren mir die Qualmwolken und der Lärm völlig fremd. Man glaubt nicht, daß
einem so was passieren könnte. Aber es passiert. Wenn das Kind die Kühlschranktür mit Plastikbuchstaben verzieren will und wenn man sie dann bewundert, damit das Kind die zehn Minuten lang Ruhe hält, die man braucht, um eine Tasse Tee zu trinken und die Zeitung zu lesen, dann geht die Würde zum Teufel, aber dafür hat man das halbe Alphabet an der Kühlschranktür. Wenn das Kind ein Ekzem kriegt und der Doktor sagt, der Qualm würde es noch schlimmer machen, hört man zu rauchen auf. Und wenn George Jones das Kind zum Lachen bringt und Skunk Anansie es heulen läßt, dann flimmert eben George Jones über die Mattscheibe. Früher oder später findet man Skunk Anansie selber laut und häßlich, und man kann Zigarettenrauch nicht mehr ertragen. Eine verdammte Schande. Da saß ich nun, voll ausgerüstet für einen vergnüglichen Abend, mit Babysitter und allem drum und dran, und was ich früher einmal geliebt habe, gefiel mir nicht mehr. Vom anderen Ende der Theke aus schaute ein Schwarzer zu mir herüber. Ich wandte mich ab, starrte zur Tanzfläche und sah Gespenster zwischen den Tänzern; Harry und mich eng umschlungen, und dann Janie, die ihren Hintern im falschen Rhythmus bewegte und die Arme wie eine indische Kriegsgöttin schwenkte. Sie hatte nie gut tanzen können. Ich sah uns beide lachend und Harry, der nicht wußte, worum es ging. Harry und mich lachend und eine beleidigte Janie, die sich als fünftes Rad am Wagen fühlte. Ich konnte regelrecht spüren, daß der Mann zu mir herüberkam. Deshalb war ich vorbereitet, als er zu reden anfing. »Die alten Zeiten«, sagte er mit dieser typischen heiseren Stimme all der Leute, die daran gewöhnt sind, laute Musik zu überschreien. »Angeline, nicht wahr?« Ich drehte mich um und blinzelte ihn an. Es dauerte eine Weile, bis ich ihn wiedererkannte. Ein sauberer Haarschnitt hatte die einst wilde Lockenmähne ersetzt, und ein ordentliches Hemd bedeckte, was ich früher nur unter zerfransten Westen gesehen hatte. Aber die Zähne waren unverwechselbar. Dizzy Ansah, wie er leibte und lebte. »He, Dizzy!« rief ich, ehrlich erfreut. »He, Mann!« erwiderte er, zwar inkorrekt, aber liebevoll. »Was ist mit deinen Haaren passiert?« Diese Frage konnte ich mir nicht verkneifen. Sein Haar war ein wichtiges topographisches Merkmal von Notting Hill gewesen, bildschöne Rastalocken, einen guten Meter lang, bestens gepflegt und von ihrem Eigentümer heiß geliebt. Seine Begeisterung für sein Haar war aber nur eins von den Dingen gewesen, die ihn so langweilig gemacht hatten.
»Damals war ich abgestempelt, Mann. Die Leute sehen die Rastafrisur und glauben, sie wüßten, wer du bist. Schließlich hatte ich keine Lust mehr, in dieser Schublade zu stecken. Ich wollte rausfliegen und die Welt sehen, bevor ich in einer anderen Schublade lande, in die ich vielleicht besser reinpasse. Wie geht’s dir, Mann?« Danach war’s ganz einfach. Ich brauchte Harry nur zu erwähnen, und schon erfuhr ich, daß er ins selbe Fitneßcenter ging wie Dizzy. (Harry im Fitneßcenter?) Klar, sagte ich, ich wäre jeden Samstag hier und es wäre nett, Harry nach all den Jahren wiederzusehen. Und wenn Dizzy immer noch dasselbe Klatschmaul war wie früher und Harry nur annähernd der Mann, für den ich ihn hielt, würde er mich entweder anrufen oder nächste Woche hier auftauchen. Als ich im Bus nach Hause fuhr, dachte ich über den Mann nach, für den ich Harry hielt. Und wenn er wirklich diese Art Mann war, warum war es dann mit einem Stuhl zu Ende gegangen, den er aus dem Fenster geworfen hatte? Harry war immer ein Gauner gewesen. »Klar«, hatte er bemerkt, nicht ohne sein berühmtes Grinsen einzuschalten, »man muß besser sein als die anderen.« Er jobbte in der Autobranche, und Harry wußte alles. Ich mußte Dizzy meine Telefonnummer erst gar nicht geben. Ich hatte eine Geheimnummer – nicht, weil ich so berühmt bin. Aber die meisten Männer kennen den Unterschied zwischen einer Bauchtänzerin und einer Prostituierten nicht (eine alte Tradition – und ich muß es wissen, weil ich meine Dissertation darüber geschrieben habe). Aber Harry würde meine Nummer rausfinden. Er strotzte vor Energie und Tatkraft und einer gewissen Moral, und immerhin hatten wir drei Jahre lang zusammengelebt. Mehr oder weniger jedenfalls, denn er hatte seine eigene Wohnung nie aufgegeben. Und dann war’s zum großen Krach gekommen. Warum wir uns gestritten hatten, weiß ich gar nicht mehr. O doch, jetzt fällt es mir wieder ein. Nie war er eifersüchtig gewesen, nie hatte er sich über meinen Job aufgeregt. Aber dann, eines Abends… Ich sollte im Shiraz tanzen, einem der Lokale, wo ich regelmäßig auftrat – ein libanesisches Restaurant nördlich der Oxford Street. Gediegen, erstklassig und extrem teuer. Exquisit gekleidete schwarzhaarige Gäste begrüßten einander mit »Salam«, Laternen verbreiteten ihre Muster aus Schatten und juwelenfarbenem bunten Licht. Es gefiel mir dort. Vor dem Auftritt konnte man an der Theke sitzen, Kaffee aus winzigen Tassen trinken, und niemand fiel einem
auf die Nerven. Und ich konnte mich in Alis Büro umziehen, nicht auf der Toilette, wie in den meisten anderen Lokalen, wo ich mir die Füße im Waschbecken waschen und meine Haare unter dem Gebläse für die Hände trocknen mußte. An jenem Abend war ich in Grün und Gold gekleidet gewesen. Wie deutlich die Erinnerungen doch zurückkehrten… Zayra und Noor waren dagewesen. So aufgedonnert, daß sie wie Transvestiten aussahen. Noor war gerade gefeuert worden, weil sie zu vulgär tanzte. O Gott, die hätten Sie mal sehen müssen. Sie leckte sich die Finger ab, wand sich am Boden und schob die Hände unter ihren Gürtel. Im Grunde habe ich nichts gegen diese Bodenakrobatik – so was haben die indischen Tempelpriesterinnen, die Yakshi, schon vor mehr als zweitausend Jahren gemacht. Aber für Gott, nicht für Mammon, und es muß eine gewisse Grenze zwischen Tanz und Pornographie geben. Die Mädchen warfen mir scheele Blicke zu. Für sie bedeutete Rivalität tatsächlich Rivalität. Sie hatten zu lange in arabischen Clubs gejobbt, wo die Bauchtänzerinnen auch als Animierdamen fungierten und um vier Uhr morgens ein zweites Mal auftreten mußten. Man sitzt von zehn bis vier da und hat nichts anderes zu tun, als die Kunden anzuquatschen, falls man es nicht mit ihnen treiben wollte. Und genau das war es, was die meisten Mädchen wollten, denn man verdiente gutes Geld dabei, und die Tanzerei war die beste Gelegenheit, seine Reize anzupreisen. Auch das gehört zur Tradition. In Algerien gab es einen Stamm, die Ouled Nail, die ihre Töchter dazu erzogen, schon mit zwölf Jahren zu tanzen und herumzuhuren. Sie zogen durch die Sahara, von Oase zu Oase, bis sie genug Geld für ihre Mitgift zusammenhatten. Dann heirateten sie und erzogen ihre Töchter genauso. Im neunzehnten Jahrhundert hatten die Franzosen einen Mordsspaß mit ihnen. In Biskra lernte ich einige Ururenkelinnen dieses Stammes kennen, nachdem ich vor Harry davongelaufen war. Sie trugen immer noch üppige Federn in ihren Tiaras und fünf Kleider übereinander. Und weil ich nur ein einziges armseliges Kleid anhatte, tat ich ihnen leid, und sie gaben mir was von ihren Sachen ab, damit ich anständig aussah. Sie tanzten ganz anders als die Mädchen in den Londoner Clubs oder in den marokkanischen Chikats, und ihre Bewegungen unterschieden sich auch vom schläfrigen, schwülen ägyptischen Stil. Jeden Muskel konnten sie einzeln bewegen. Und sie ließen Muskeln vibrieren, die ich gar nicht habe. Damals lernte ich, nur mit einer Brust zu wippen.
Noor wurde ermordet, und der Täter ist nie gefunden worden. Wahrscheinlich war es der Polizei egal. So wie immer, wenn es eine Prostituierte erwischt. Oder eine Tänzerin. Bestimmt keine Jungfrau mehr. Und außerdem war sie braun, fast schwarz. Warum sollte man sich da aufregen? Klar, wenn ein hübsches rosiges Schulmädchen in einem Straßengraben gefunden worden wäre, hätten die Zeitungen endlos darüber berichtet. Aber Noor war nur ein paar Zeilen auf den Titelseiten der Boulevardpresse wert, und sie druckten ein paar der Bewerbungsfotos, die sie hatte machen lassen, um sich bei einer Model-Agentur zu bewerben. Arme kleine Noor, umwerfend in ihrem sexy Chiffon, ihr zwanzigjähriger Körper fast entblößt, Miss Schmollmund, exotisch und erotisch. Kein einziger Verwandter meldete sich, um ihre Leiche zu beanspruchen. Ich glaube, sie stammte aus Pakistan. Sicher, sie war ein Biest – aber nach all dem, was ich über ihr Leben wußte, war das kein Wunder. Und an jenem Abend… Ahmed und die Band begannen zu spielen – Live-Musik, ein Luxus –, und ich rauschte ins Lokal und ignorierte die Kellner, lauter hochbegabte Leute, so geschmeidig, wie sie um mich herumtänzelten und geschickt ihre empfindlichen dreistökkigen Puddings mit den Wunderkerzen obendrauf balancierten. Dann springe ich auf einen Tisch und hüpfe über Kebab-Teller hinweg. Alle Gäste becirce ich, an jedem Tisch. Meine Schlangenarme umkreisen die Köpfe der Männer, und ich klicke mit meinen kleinen Kastagnetten, um die Kinder zu beglücken (sie lieben mich und glauben, ich wäre Prinzessin Jasmine aus »Aladin«). Und ich grinse die Frauen an, die über meine Technik diskutieren. Die Frauen geben mir meistens ein besseres Trinkgeld als die Männer. Immerhin ist der Bauchtanz als Fruchtbarkeitstanz für die Göttin entstanden. Erst später kamen diese Religionen auf, die Männer in den Mittelpunkt stellen. Da verbannten sie die Göttin, sperrten die Frauen ein, und der Bauchtanz wurde in den Harems weiterentwickelt. Ein Tanz von Frauen für Frauen. Ein Tanz, der auch Schwangerschaftsgymnastik war. Die Bewegungen imitieren die Kontraktionen während der Wehen ebenso wie die Zuckungen sexueller Ekstase. Natürlich gefiel das auch den Männern. Sie spähten zwischen den seidenen Vorhängen hindurch und gierten nach einer der wenigen Freuden, die den Dunstkreis des Harems, dessen Atmosphäre zwischen nervenaufreibenden Spannungen und Langeweile schwankt, erträglicher machen. Im Istanbuler Topkapi-Harem wurden während der türkischen Herrschaft Salatgurken nur kleingeschnitten serviert, um zu verhindern,
daß die Frauen sich amüsierten. Erst vor wenigen Jahren verlangten die ägyptischen Fundamentalisten, Auberginen überhaupt zu verbieten. O Gott, was hätten wir Frauen mit ihnen machen können! In manchen Ländern bedeutet das arabische Wort fitna nicht nur Chaos, Katastrophe, sexuelles Verlangen nach einer Frau, sondern auch gleich die schöne Frau selbst. Zurück zu jener Nacht. Nach einer halben Stunde steckten zahllose schweißdurchtränkte Fünf- und Zehnpfundscheine zwischen meinen reichgeschmückten Brüsten und im Gürtel. Es war eine profitable Nacht. Und alles klappte großartig, bis Harry in Alis Büro kam, wo ich mich gerade umzog. Er sollte mich nach Soho bringen, zu einem weiteren Auftritt. Warum ich nicht mit meinem Motorrad fuhr? Keine Ahnung. Daran erinnere ich mich nicht. Sobald wir im Auto saßen, legte er los. Es hinge ihm zum Hals raus und er könne es nicht länger ertragen und ob ich denn keinen Anstand hätte. Diese Art von Vorwürfen. Bauchtänzerinnen seien Huren, behauptete er. Und wenn ich glaubte, dieses Schicksal würde mir erspart bleiben, sei ich eine verdammte Närrin. Er würde nicht länger zuschauen, wie seine Frau – das sagte er wörtlich – mit ihrem Arsch wackele, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und Arschwackeln sei Arschwackeln, da gebe es nichts zu beschönigen. Natürlich protestierte ich. Er fuhr mich schnurstracks zu seinem Haus (und vermasselte mir einen Dauerjob) und erklärte mir, er sei nicht dumm. Daraufhin versicherte ich ihm, ich hätte ihn nie für dumm gehalten. Er sagte, wenn ich nicht wüßte, was da vorging, müßte ich eine Närrin sein. Und ich antwortete, ich wisse sehr gut, daß manche Mädchen auch strippten und mit Freiern schliefen. »Also weißt du’s«, fauchte er. »Klar. Ich bin weder blind noch dumm.« »Und du findest das okay?« »Keineswegs. Aber ich kann ihnen nicht vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Dazu habe ich kein Recht. Ich bin nicht der Hüter meiner Schwestern.« »Aber du weißt es.« Sein Gesicht hatte sich verändert – blaß, knallhart, unnahbar. Und dann bekam er einen Wutanfall, wie ich ihn nie zuvor erlebt hatte.
Was er mir vorwarf, verstand ich nicht. Glaubte er, ich würde ihn betrügen? Er kannte mich doch und wußte, wie sehr ich ihn liebte. Aber plötzlich schien er dran zu zweifeln. Sein Zorn jagte mir Angst ein. Deshalb rannte ich davon, und er warf den Stuhl aus dem Fenster. Den Plastikbeutel mit meinen Tanzkostümen immer noch unter den Arm geklemmt, stieg ich in die U-Bahn und fuhr zu Janie. »Harry ist durchgedreht«, erklärte ich und brach in Tränen aus. Sie kroch aus dem Bett, kochte Tee, umarmte mich und wollte wissen, was passiert sei. Ich erzählte es ihr in groben Zügen, und sie begann ebenfalls zu weinen. »Wie konnte er nur?« jammerte sie immer wieder. »Wie konnte er dir so was zutrauen? Wie konnte er nur?« Ihre Empörung tröstete mich ein wenig. Später versuchte ich, ihn anzurufen. Aber er meldete sich nicht. »Darf ich hierbleiben?« fragte ich, und genau das tat ich dann auch. Ich lieh mir ein T-Shirt und schlief in ihrem Bett. Da wir zu verschiedenen Zeiten arbeiteten, hatte ich das Bett meistens für mich allein und merkte kaum, ob sie da war oder nicht. Aber sie sorgte für mich. Zweimal täglich setzten wir uns zusammen, und ich berichtete, wie oft ich angerufen und nur seinen Anrufbeantworter gehört und wen ich sonst angerufen und wo ich Nachrichten hinterlassen hatte – nur um zu erfahren, nein, er habe nicht zurückgerufen. Ich erledigte meinen Job und tanzte so verführerisch wie ein ausgewrungener Waschlappen. Nach vier Tagen fuhr ich zu seiner Wohnung, um ein paar Klamotten zu holen, die von meiner Wohnung zu seiner übergewechselt waren – wie es eben mit Sachen passiert, wenn man nur halb und halb zusammenlebt. Meine Hoffnung, er würde dasein, war jedoch vergebens. Ich rief gemeinsame Freunde an, die ihn aber nicht gesehen hatten. Ohne zu übertreiben, kann ich behaupten, daß meine ganze Welt einstürzte. Ich telefonierte, ich rannte herum, ich schrieb ihm. Sogar seine Mutter rief ich an. Und so wahr mir Gott helfe, ich schluckte meinen Stolz runter und rief seine vier Schwestern und seine zwei Brüder an, auch Jason, mit dem er nicht redete. Dann küßte ich Janie, ermahnte sie, brav zu bleiben, stieg aufs Motorrad und fuhr nach Gibraltar, und als ich dann dasaß und zum Atlas-Gebirge hinüberschaute, beschloß ich, vorerst nicht nach Hause zurückzukehren.
4 Tee mit Jim Aber das war in einem anderen Land, und das Mädchen hat sich geändert. Jetzt, in England, ist es unmöglich, »vorerst nicht nach Hause zurückzukehren«. Das Zuhause existiert. Es ist nicht nur einfach der Ort, an dem ich mich gerade befinde, sondern meine geliebte, sorgsam gehegte Welt, meine kostbare kleine Insel, die ich auf dem sichersten Grund und Boden errichtet habe, den ich in jener panikerfüllten Zeit finden konnte. Damals träumte und dachte ich in Bildern von Bäumen und Kompost und Wurzeln und daß das allzu Festgefügte gebrochen, das Flexible jedoch überleben würde, der Boden aber fest sein mußte, wenn der Wind weht. Sechs Monate lang hatte ich einen bestimmten Elvis-Song im Kopf: I’m not an oak, I’m a willow, I can bend. Man wird von den Ereignissen bewegt, was immer man auch tut, und das muß man berücksichtigen. In meinen kindlichen Mädchenträumen hatte ich mir vorgestellt, die sicherste Grundlage wäre die Liebe, romantische, eheliche Liebe von der realistischen alltäglichen Art, aus deren Nährboden Rosen um die Haustür wachsen würden. Vielleicht stimmt das. Ich jedenfalls würde das nie feststellen können. Aber ich weiß, wo es keinen sicheren Grund und Boden gibt. Ich habe keinen, und obwohl mein Zuhause von echter tiefer Liebe erfüllt ist, muß ich es immer wieder aufs neue absichern. Man kann sein Zuhause nicht auf einem Fundament aus Lügen errichten, sondern auf Wahrheit, selbst wenn sie einem nicht gefällt. Es darf in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen, daß es mir nicht paßt, daß Jim Lilys Vater ist und daß er sie sehen will und daß ich ihn nicht leiden kann. Deshalb war mein Ärger über seine Forderung sinnlos, denn er existierte nun mal und er beging kein Unrecht. Für meine Begriffe schon, aber objektiv betrachtet eben nicht. Und diese Erkenntnis machte mich erst recht zornig. Reden wir nicht von den drei Jahren, in denen ich Lily ernährte, betreute und liebte, oder von den ersten sechs Monaten, in denen ich kaum gehen konnte, oder von der Hilfe meiner Eltern. Reden wir auch nicht von den Gründen, die ihn bisher von seiner Tochter ferngehalten hatten, von seinem Desinteresse. Aber halt, einmal hatte er ihr ein Geschenk geschickt, eine Flasche
Little Mermaid-Schaumbad. Er weiß nicht einmal, daß sie an einem Ekzem leidet und deshalb keine Seife benutzen darf, weil sich die Haut sonst entzündet und unerträglich juckt und weil sie sich dann kratzt, bis ihr Hautfetzen unter den Fingernägeln kleben. Er hat nie das scharrende Geräusch dieser zwanghaften nächtlichen Kratzerei hören müssen, und er hat auch keine Ahnung, wie oft ich ihr Bettzeug wechsle. Er hat noch nie die Blutflecken gesehen und die Narben, die vier kleine Nägel hinterlassen, die Spuren wie von winzigen Bärenklauen an Schultern und Armen und Beinen. Und er weiß nicht, wie schwierig es ist, einer Zweijährigen zu erklären, warum sie ihr Geschenk nicht benutzen darf. Ich schüttete das Schaumbad weg und füllte die Flasche mit ihrem medizinischen Badeöl. Aber es schimmerte nicht rosa. Oh, die Tragödien eines Kindes… Sollte ich Koschenillerot hineinschütten? Würde es ihrer Haut schaden oder den Körper rosa färben? Schließlich nähte ich ihr einen rosa Meer Jungfrauenschwanz, bestickt mit Pailletten wie ein Tanzkostüm. Immerhin hatte ich ihre Mutter getötet. Ich befolgte Neils Rat. Kein einziges Mal kam Jim ins Krankenhaus. Mutter und ich saßen da, warteten auf ihn und besprachen, was Neil mir empfohlen hatte. »Ich muß mich doch um sie kümmern oder etwa nicht«, fragte ich, und Mum meinte, ich solle mich selbst erst einmal erholen. »Aber ich meine auf lange Sicht…« »Erst mal gehen wir alle nach Hause, und dann sehen wir, was passiert«, sagte sie. Manchmal ist sie sehr energisch. Angesichts großer Probleme bezwingt sie ihre kleinen Ängste und wächst über sich selbst hinaus. Früher war sie Lehrerin, und sie schafft es, daß ich mich wie ein kleines Kind fühle. »Dein Vater und ich werden das Sorgerecht beantragen. Sicher ist es besser, wenn das ein Ehepaar macht. Und danach warten wir ab, wie die Dinge sich entwickeln.« »Warum können wir Lily nicht einfach mitnehmen?« »Weil es nicht geht. Wir müssen uns an die Gesetze halten. Aber die Behörden werden uns recht geben. Neil sagte, unsere Chancen wären gut. Reg dich nicht auf.« Obwohl man mich beschwor, mein Bein ruhig zu halten, verlor ich die Geduld, humpelte zur Säuglingsstation hinauf. Meine Seele eilte mir voraus. »Bitte, bitte, darf ich Lily mit nach Hause nehmen? Ist sie schon soweit?« Mum und Dad kamen mir nach, und wir waren das Abbild einer netten, liebevollen Familie, die versucht, die
Tragödie zu überwinden und ihr Baby mit nach Hause zu nehmen. Jeden Tag war Mum zu mir gekommen. Die Schwestern mochten sie. Soweit Klinikpersonal sich überhaupt Emotionen leisten kann, litten sie mit uns. Eine kleine Lernschwester brach in Tränen aus, wann immer sie Lily sah, und mußte in eine andere Abteilung versetzt werden. Mum war da, Dad war da, ich war da. Und Jim nicht. Neil erzählte, er habe ihn getroffen und angeblich habe Jim nichts von dem gehört, was geschehen war. Das schien mir unglaublich. Anscheinend war er nüchtern geworden, hatte vermutet, Janie würde eine kleine Auszeit nehmen, und beschlossen, sie eine Weile schmoren zu lassen, bevor er sie nach Hause holte. So etwas war schon mal passiert. Ich glaube, er fühlte sich sogar erleichtert, weil er nun einen Vorwand hatte, um bei der Geburt durch Abwesenheit zu glänzen. Wie die meisten harten Männer konnte er wirklich harte Situationen nicht ertragen. Danach betonte Neil, ich dürfe ihm nie wieder verbieten, etwas weiterzuerzählen. »Übrigens, deine Freundin ist tot, aber eigentlich darf ich es dir gar nicht sagen.« Nun, Jim muß es aber dann irgendwie doch erfahren haben. Am liebsten hätte ich Lily einfach mitgenommen, sobald sie aus dem Brutkasten kam. Ich wollte auf meinen Krücken nach oben schleichen, das Baby unter meine Lederjacke stecken, auf der Harley heimfahren und das kranke Bein im Fahrtwind baumeln lassen. Obwohl die Harley auf dem Schrottplatz lag, obwohl ich kaum gehen konnte, obwohl die Klinikleitung mich belangen würde und der Plan idiotisch war. Aber ich stand unter dem Einfluß starker Medikamente, und die Idee erschien mir großartig. Mum wiederholte ihr Mantra, und Neil sagte nein. Dann organisierte er eine kleine Konferenz im Krankenhaus. Wir saßen in einem grünen Zimmer. Vor den Fenstern, deren Glas an Aquarien erinnerte, nisteten Tauben, und das bettelnde Gurren ihrer Küken ließ einen an Massenmord denken. Am Boden lagen Zigarettenkippen, und die Plastikstühle waren aneinandergeschraubt, so daß man sie nicht verschieben konnte. Mein Bein schmerzte. Mum sah schockiert aus, Dad entschlossen, Neil besorgt. Keine Ahnung, wie ich aussah. Wir erzählten den Leuten von der Klinikleitung, Jim sei verschwunden und desinteressiert und kein einziges Mal im Krankenhaus aufgetaucht. Man erklärte uns, es müßten Nachforschungen stattfinden und er müsse informiert werden. Warum, fragten wir. Er wußte doch Bescheid. Und hatte auch gewußt,
daß Janie schwanger gewesen war, und außerdem kannte er unsere Telefonnummer. Wenn er also Informationen haben wollte, dann konnte er doch einfach fragen. Außerdem war er nicht mit Janie verheiratet gewesen, welche Rechte hatte er also? Sie meinten, irgendwer müsse das rausfinden, und wir erwiderten, daß wir nichts dagegen einzuwenden hätten. Wir erklärten, wir würden eine Adoption anstreben, Mum und Dad würden nach dem Children Act von 1989 das elterliche Sorgerecht beantragen. Bis all das gerichtlich geregelt sei, solle Lily bei ihrer Granny bleiben. Neil blendete die Leute mit seinem Juristenjargon, und sie waren seinen Argumenten nicht gewachsen. Als wir gingen, küßte mich Dolores zum Abschied. Und so brachten wir unsere Lily nach Hause. Aus der Intensivstation in die Außenwelt entlassen, wurde sie ein Familienmitglied, befand sich in sicherer Obhut, und dabei sollte es auch bleiben. Das einzige Haar in der Suppe war Jims Anruf, einen Monat nach ihrer Geburt, am Tag unserer Heimkehr. »Hallo, Angeline.« Seine Stimme klang nüchtern und sachlich. Und ich konnte mir vorstellen, wie er aussah – sauberes Hemd, glattrasiert, das Klobürstenhaar ordentlich gekämmt, das Gesicht rosig. Jim ist ein sehr großer Mann, auf Jovialität spezialisiert. In jungen Jahren pflegte er Hosen mit Schottenmuster zu tragen, aber inzwischen findet er so was unpassend. Er war ganz amüsant, bevor er seinen Job bekam und anfing, sich selbst ernst zu nehmen. Offenbar versteht er was von seinen Computern. Die Männer mögen ihn, die Frauen finden ihn attraktiv, obwohl sein Gesicht ein bißchen schwammig geworden ist. Trotz seines Fitneßtrainings setzt er Fett an. Und dabei ist er erst – Moment mal – dreiunddreißig. Sobald er sich ärgert, läuft sein Gesicht rot an, und er schreit wie verrückt – ein richtiger Tyrann. Gewalttätig. Er trinkt zuviel und weint, wenn er sich entschuldigt. Ich bezweifle, daß er sich geändert hat. So gerne ich Ihnen auch erzählen würde, was Janie in ihm sah – ich weiß es wirklich nicht. »Hallo, Jim.« Ich zitterte am ganzen Körper. Zorn und Angst, eine schlechte Kombination. »Ich denke, wir sollten reden.« »So? Warum denn?« »Immerhin ist es mein Baby.« »Ja.« »Wie ich hörte, ist es ein Mädchen.« »Stimmt.«
»Sie muß gemeldet werden.« »Ja.« Zum Glück war Mum nicht ans Telefon gegangen. Obwohl sie nicht alles wußte, hatte sie doch genug mitgekriegt. »Nenn sie Jane.« »Verdammt…« Janie hatte sich den Namen Lily ausgesucht. Lily für ein Mädchen, Edward für einen Jungen. Wenn er das nicht wußte, dann verdiente er auch nicht, daß ich es ihm sagte. »Nun?« Ich sagte nichts. »Warum bist du so arrogant und…? Tut mir leid.« Ich sagte nichts. »Jedenfalls mußt du meinen Namen in die Geburtsurkunde eintragen lassen.« Ich sagte nichts, dann: »Ja.« Klar, man kann der Wahrheit nicht ausweichen. Janie hatte es auch nicht getan. »Darauf bestehe ich.« »Okay, ich habe ja gesagt.« »Hör mal«, platzte er heraus, »es ist nicht einfach für…« Ich legte auf. Als ich Mum von diesem Gespräch erzählte, wurde sie wütend. Bei Dad brannten fast die Sicherungen durch, und er stürmte aus dem Haus. Eine halbe Stunde später kam er zurück und meinte: »Sie hat recht.« »Aber ich finde es nicht richtig«, seufzte Mum. Trotzdem war es so. Am Morgen, nachdem ich Dizzy getroffen hatte, rief ich Jim an und lud ihn ein. Ich betonte, ich würde Lily verschweigen, daß er ihr Vater sei, und bat ihn, es ihr nicht selbst zu verraten. »Komm einfach her, schau sie dir an, warte ab, wie alles läuft, und sag es ihr später. Wie soll sie es verstehen, wenn du doch wieder verschwindest?« (»Ja, du hast einen Daddy, er ist dein Daddy, o ja, aber du kannst ihn nie wiedersehen.« Dieses Resultat der Begegnung wünschte ich mir, und – o Gott – es wäre auch am besten.) »Was für einen Sinn hätte das?« fragte er, und ich versuchte es zu erklären. »Angie, ich tue das alles nicht aus einer Laune heraus, und ich werde auch nicht mehr verschwinden. Drei Jahre sind eine lange Zeit, und die Dinge haben sich geändert. Ich bin ihr Vater, und genau das will ich für sie sein. Ich habe nichts gegen dich persönlich! Wenn du für einen Moment aufhören könntest, so widerspenstig zu
sein, und wie ich an Lilys Wohl denken würdest…« (Er hatte sich beraten lassen und offenbar mit einem Sozialarbeiter oder so gesprochen. Das waren nicht seine eigenen Worte.) »…dann würde ich dir versichern, wie sehr ich es zu schätzen weiß, wie gut du sie betreut hast…« (Er weiß es zu schätzen? Obwohl es ihm gar nicht zusteht, das zu beurteilen? Wer ist er überhaupt, daß er glaubt, ausgerechnet er könne das beurteilen?) »…aber nun soll einiges anders werden. Tut mir leid, wenn es dich aufregt. Ich habe das Recht, meine Tochter zu… besuchen. Und ich möchte dieses Recht in Anspruch nehmen. Übrigens, meine Frau kommt mit.« Seine Frau. Vielleicht wäre es eine gute Idee, den Wortlaut unserer Telefonate zu notieren oder sogar aufzuzeichnen. »Okay, ich erzähle Lily, Freunde von Janie würden uns besuchen. Sag ihr nicht, daß du ihr Vater bist.« »Forderst du mich etwa auf, meine Tochter zu belügen?« »Bitte, sag’s ihr nicht. Es würde sie nur durcheinanderbringen.« Am Mittwoch um vier würden sie zum Tee kommen. In drei Tagen. Dauernd rief Cooper an und wollte wissen, was für Fortschritte ich erzielte. Ich begann den Anrufbeantworter zu hassen und behauptete, ich würde an dem Fall arbeiten. Aber das tat ich nicht. Was da vorging, mißfiel mir. Natürlich würde ich kein Aufhebens darum machen. Das tue ich nie. Normalerweise. Ich versuche, mich mit allem abzufinden. Wie die meisten Frauen. Aber gelegentlich beschleicht einen das Gefühl, machtlos zu sein. Das unangenehmste Gefühl, das ich kenne. Ich beging den Fehler, mir vorzustellen, wie Jim sich verhalten würde. Damit vergeudete ich eine ganze Menge Energie, statt mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Seit dem Unfall befasse ich mich mit anderen Dingen. Ich sortierte meine Reisenotizen aus Nordafrika, grub meinen Intellekt aus, den ich nach dem Studienabschluß irgendwo vergraben hatte, und schrieb ein Buch über die Geschichte und die kulturellen Hintergründe des arabischen Tanzes, wie er sich abendländischen Augen darbietet. Das Buch enthielt viele schöne Bilder und wilde Stories, und ich hab’s ganz gut hingekriegt. Jetzt bin ich als Expertin für den Bauchtanz bekannt, für Harems, Frauen in der islamischen Welt, Orientalismus. Wenn ein Journalist einschlägige Zitate braucht oder ein Rundfunkredakteur einen ganz bestimmten Studiogast sucht, dann bin ich die richtige Adresse. Ich arbeite daheim, meine Zeit
gehört mir, und ich verdiene nicht schlecht. Warum habe ich nur das Gefühl, eine eidesstattliche Erklärung abzugeben, während ich diese Geschichte niederschreibe? Lily war ganz aufgedreht. Wahrscheinlich witterte sie irgendwas. Sie fieberte dem Besuch geradezu entgegen. Freunde von Mummy! »Es sind Leute, die sie kannten und dich sehen wollen. Aber du kennst viele Leute, die deine Mummy kannten, Granny und Grandpa und die anderen…« Kinder kann man nicht belügen – das ist eines der großen wahren Klischees. Sie wußte verdammt gut, wie wichtig der Besuch war, weil sie es in meinem Gesicht sah, es meiner Stimme anhörte. Punkt vier kamen sie an. Jim sah älter, fetter und noch unsympathischer aus. Manchen Gesichtern verleiht der Reichtum einen gemeinen Zug, und den hatte er. Seine Frau war klein und brünett, mit ordentlicher Frisur. Anfang Dreißig, sehr gepflegt. Ich konnte sie nicht einschätzen. Beinahe erweckte sie den Eindruck, als wäre nichts Persönliches an ihr, nichts, was sie von anderen unterschied. Klein, adrett, brünett, weiblich, sonst nichts – ein Niemand in teurer Kleidung… Ich führte sie in die Küche. Ich hatte mir alles so durch den Kopf gehen lassen, aber jetzt konnte ich nur noch denken: Hat’ ten wir uns bloß woanders getroffen. Und ich fühlte mich furchtbar unbehaglich, weil ich aus dieser Frau nicht schlau wurde. »Meine Frau«, sagte Jim. »Nora.« Nora. Nora. Das verriet mir gar nichts. He, Fremde, wer bist du, und was zum Teufel treibst du hier? Mit einem ausdruckslosen Lächeln erwiderte sie meinen Blick. Ich setzte den Wasserkessel auf. Was jetzt? Lily war oben. Sie hatte erklärt, sie wolle nicht herunterkommen, weil ihr Teddy Besuch von Freunden seiner Mummy hätte. Ich rief nach ihr. Ich war Judas. Hör mal, diese Frau hat den Platz meiner Schwester im Herzen dieses Widerlings eingenommen, und nun möchten sie dich haben – keine Ahnung, warum. Langsam kam sie die Treppe herunter, ihren Teddy im Arm, den Blick auf den Boden gerichtet. Jims Miene war immer noch beherrscht. Nora schaute das Kind an und begann zu lachen. »Oh, was für ein kleiner Darling!« Natürlich ist Lily ein Darling. Ein Märchengeschöpf mit langem dunklem Haar und sanft gerundeten goldbraunen Wangen. Manchmal kommt sie mir vor wie ein
kleines pelziges leidenschaftliches Tier – klug, freundlich, solange man nicht versuchte, sie herablassend zu behandeln. Wahrscheinlich hat sie das braune Haar und den Oliventeint von Jim geerbt. Trotzdem sieht sie anders aus. Bei ihm wirken die Farben keltisch, bei ihr wie blonder Glanz, der sich honigfarben verdunkelt hat. »Hallo, Lily«, begrüßte er sie, breitete die Arme aus, und Nora griff nach ihrer Hand. Offenbar verstehen diese Idioten nichts von Kindern. Lily flüchtete sich hinter meine Beine, wobei sie sich wie eine Katze wand. Durch meine Knie sandte ich ihr eine Botschaft zu – hasse die beiden, was ich sofort bereute. Es ist falsch, einem Kind einzureden, es müsse seinen Vater hassen. Und wenn ich Glück hatte, würde sie ihn von selbst hassen. Nora schaute mich an und schien zu erwarten, daß ich Lily nach vorn und in die Arme ihres Vaters scheuchen würde. Darauf kannst du lange warten, Schätzchen. Ich tat gar nichts, und Lily versuchte, an mir hochzuklettern. Schließlich setzte ich sie auf meine Hüfte, trug sie zum Sessel am anderen Ende des Tisches und schob eine Platte mit Keksen in die Richtung meiner Besucher. Verdammt, was hatten sie denn erwartet? »So ein hübsches kleines Mädchen«, gurrte Nora, aber Lily schaute sie nicht an. Jim fand es offensichtlich unfaßbar, daß ich nicht einmal etwas sagte wie: »Nun komm schon, Darling«, so wie Mütter es tun, wenn sie ihre Kinder dazu auffordern, ihre Prinzipien aufzugeben. Verwirrt schaute Nora ihren Mann an. Jim schaute mich an, Nora schaute mich an, Lily schaute die Nähte meiner Bluse an. Nora änderte ihre Taktik. »Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht«, sagte sie zu Lilys Rücken. Oh, so sollte es also laufen. Das Geschenk war so teuer wie Noras Garderobe – eine HarrodsTüte, Seidenpapier, Schleifen mit Troddeln (sicher von einer Verkäuferin eingepackt). Und Lily geruhte es anzunehmen. »Danke«, murmelte sie. »Willst du es nicht auspacken?« fragte Jim und lächelte, als sei er der Weihnachtsmann persönlich. Zum erstenmal sah sie ihn an, und er wurde rot. Mit seiner entschlossenen Miene und dem falschen Klang in seiner Stimme hätte er beinahe mein Mitleid erregt. Aber ich entschied mich dagegen. Um Himmels willen, er hatte eine Frau! Sollten sie doch selber ein verdammtes Kind kriegen! Lily zerrte am Seidenpapier.
»Warte, ich helfe dir.« Plötzlich stand Jim auf und ging um den Tisch herum. Sie zog das Päckchen von ihm weg, und er setzte sich wieder – am Boden zerstört. So klein, und trotzdem konnte sie Leute, die viermal so groß waren wie sie selbst, effektvoll zur Schnecke machen… Es war ein Polly Pocket-Ballsaal für Feenprinzessinnen – rosa Plastik, glitzernd, glänzend, mit elektrischen Lämpchen, die sogar funktionierten. Mitten drin saßen vier winzige Püppchen in Feenkleidern und mit Flügelchen. Ein Ballon konnte auf und ab bewegt werden, und in seinen Korb konnte man die Püppchen setzen. Wenn man auf einen kleinen Silberknopf drückte, drehte sich der Tanzboden. Das Ganze ließ sich zu einer sternförmigen rosa Handtasche zusammenklappen, die man mitnehmen konnte, wohin auch immer man ging. Es war wunderschön. Lily starrte ihr Geschenk an und murmelte: »Danke.« Dann rutschte sie zwischen meinen Beinen hinab, um am Boden damit zu spielen. Aber das genügte Nora nicht. »Gefällt’s dir, Lily?« rief sie zwischen meinen Knien hindurch. »Ja«, lautete die Antwort. Mehr nicht. Nora schaute Jim wieder an. Sanft berührte ich Lilys Kopf. »Ich werde jetzt Tee machen.« Natürlich konnten sie es sich nicht leisten, sofort zu verschwinden, und das wollte ich auch gar nicht. Sie sollten merken, wie schwierig und peinlich die Situation war, daß sie ihnen über den Kopf wuchs und daß Lily nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Klar und deutlich würde ich ihnen die schimmernde Rüstung zeigen, die uns beide beschützte und verbarg, gleichzeitig aber mit strahlender, brutaler Klarheit unsere Geheimnisse und unsere Vertrautheit enthüllte – eine Liebe, an der sie niemals teilhaben würden. Ich wollte, daß sie weinend nach Hause gingen. Als ich Wasser in den Teekessel goß, kroch Lily mit ihrem neuen Spielzeug zwischen meine Füße und den Herd. »Rutsch ein Stückchen weg, Liebling, hier ist es heiß«, sagte ich, aber sie schüttelte den Kopf, und ich schob den Kessel auf die hintere Herdplatte. Nur keinen Fehler machen… Sie folgte mir, als ich zum Tisch zurückging. Ohne aufzublicken, flüsterte sie mir zu, sie würde den Feenpalast ihren Teddys zeigen, und rannte die Treppe hinauf. »Was für ein anhängliches kleines Mädchen«, meinte Nora. Ja, und sie hängt an mir, dachte ich und gab eine nichtssagende Antwort.
Jims Gesicht war verkniffen. Auch er hatte sich auf das Treffen vorbereitet, aber nicht geahnt, was geschehen würde. »Weißt du, Liebe entsteht nicht automatisch«, erklärte ich unvermittelt. »Manchmal begegnen sich zwei Leute in einem überfüllten Raum und finden sofort zueinander. Nur – in diesem Fall läuft’s nicht so. Die Liebe eines Kindes muß man verdienen…« Abrupt verstummte ich, denn ich fürchtete, meine Worte könnten nicht bissig, sondern tröstlich klingen. Und Nora glaubte tatsächlich, ich wolle sie trösten. »Sicher werden wir Lilys Liebe verdienen, nicht wahr, Darling?« Nicht wahr, Darling? Nicht wahr, Darling? Das Mantra der glücklichen Ehen. Dieses Glück gönne ich ihnen. Es ist eine Art Glück, die ich nicht habe, die mir aber trotzdem nicht fehlt. Auf meine Weise bin ich glücklich. Ziemlich. Das glaube ich jedenfalls. »Eh – ja, ja«, stimmte Jim zu. Er wollte Babybilder von Lily sehen, und ich zeigte auf eins, das in der Glastür eines Schranks steckte. Dann ließ ich mich erweichen und gab es ihm. Es zeigte einen grinsenden, etwa sechs Monate alten, dunkel gelockten Kobold vor einem Weihnachtsbaum. »Was für ein hübsches Kind«, sagte er. »Wie bist du klargekommen? Ich meine, was die praktischen Dinge betrifft – oder die finanziellen, falls du diese Formulierung vorziehst…« Eigentlich nicht. »Alles bestens.« »Du arbeitest doch? Wer kümmert sich dann um Lily?« Mußte ich solche Fragen beantworten? Nun, meine unhöfliche Haltung war offenkundig genug, und ich wollte ihnen keine Munition liefern. »Ich arbeite daheim, und Lily besucht einen Kindergarten. Manchmal verbringt sie die Nachmittage bei den Kindern einer Freundin.« »Sicher hast du zuwenig Zeit für deinen Job.« »Das kriege ich schon hin.« Meistens arbeite ich abends, wenn sie schon schläft. Aber das verriet ich ihm nicht. »Hast du kein Kindermädchen?« »Wir brauchen keins. Sind Sie berufstätig, Nora?« Wie sich herausstellte, arbeitete sie in einer Reiseagentur, und zwar in gehobener Position. Klar, irgend jemand muß so was machen. Und mir war das mehr als recht. Welcher Richter würde ein Baby aus seinem glücklichen Heim reißen, um es einer Karrierefrau zu übergeben? Lilys Stimme rief von oben: »Mum! Ich brauche dich…«
»Entschuldigt mich.« Ich lief nach oben, weil sie auf die Toilette mußte. »Sind die Leute schon gegangen?« »Nein, Liebes.« »Gehen sie bald?« »Das hoffe ich.« »Das hoffe ich auch.« »Ich liebe dich«, sagte ich lächelnd. »Und ich dich auch.« »Willst du runterkommen?« fragte ich und wischte ihr den Po ab. »Du bist nicht meine Mummy, aber du bist meine Mummy.« »Stimmt genau, Schätzchen. Janie war deine Mummy, dann starb sie, und ich wurde deine Mummy.« »Wer wird nach dir meine Mummy sein?« »Wenn du willst, bleibe ich immer deine Mummy.« »Ich will dich.« »Und ich will dich auch.« »Kennen sie meine Mummy?« »Früher, als sie noch lebte. Nun ja, nur der Mann kannte sie. Die Frau ist mit ihm verheiratet.« »Die Lady?« »Ja.« »Sie ist nicht meine Mummy.« »Nein.« »Kinder haben Daddies.« Bitte nicht jetzt. Warum gerade jetzt? Was weiß sie? »Ja, Liebling.« »Ich habe keine Mummy und keinen Daddy.« Ich nahm sie in die Arme. »Dafür hast du mich und Grandma und Grandpa und Brigid…« »Und Caitlin und Michael und Anthony und Christopher und Maireadh und Aisling und Reuben und Zeinab und Larry und Hassan und Omar und Younus und Natasha und Kinsey und Anna und…« Wieder einmal spielte sie das Spiel, all die Leute aufzuzählen, die sie liebte. Damit tröstete sie sich. »Obwohl Mummy tot ist, hab ich sie lieb.« »Natürlich, ich auch.« »Und ich auch.« »Und du auch.« »Liebt sie mich auch?«
»O ja.« »Wenn sie ins Leben zurückkommt, kann sie bei uns wohnen.« »Sie wird nicht zurückkommen, Darling.« »Und wenn doch?« »Ja, wenn… Aber das wird nicht geschehen.« »Also bleibe ich für immer und ewig bei dir.« Was wollte ich mehr. »Mummy?« »Ja, mein Schatz?« »Wenn ein Baby in deinem Bauch steckt, hat es dann einen Daddy?« Oh, verdammt, Maireadh und eine Kindergärtnerin sind schwanger, deshalb war sie auf dieses Thema gekommen. »Ja, Liebling, aber in meinem Bauch steckt kein Baby.« »Kann ich mir seinen Daddy ausleihen. Wenn ich einen will?« »Willst du einen?« »Ja.« Wir gingen hinunter, und Jim versuchte, mit Lily zusammen mit dem Feenpalast zu spielen. Aber er hatte keine Ahnung, wie man so was machte, und seine Finger waren außerdem zu groß. Nach einer Viertelstunde verschwanden die beiden. Auf dem Tisch standen die Teetassen, kalt und unberührt. Wie Nora, dachte ich flüchtig. Unsinn – sicher ist sie nicht unberührt. Wenn er sie regelmäßig besuchen will, wird ihm das kein Gericht auf dieser Welt verweigern. Keiner wird mehr glauben, daß er früher gewalttätig war. Dafür gibt es keine Beweise. Und soviel ich weiß, ist er seit Janies Tod nicht mehr ausgerastet. Ich könnte versuchen, mehr darüber herauszufinden. Und dann kam mir ein seltsamer Gedanke – möglicherweise war Harry etwas zu Ohren gekommen. Harry hatte Jim immer gehaßt. Vielleicht weiß er etwas. Falls es irgend etwas zu wissen gibt. Vielleicht ist ja wirklich etwas passiert. Um das Sorgerecht zu erhalten, muß er es beantragen. Da er nicht mit Janie verheiratet war, hat er so lange keine Ansprüche, bis sie nicht gerichtlich oder von Janie bestätigt worden sind. Und sie wird sie ja wohl kaum noch bestätigen können, oder? Ich teile mit Mum und Dad das Sorgerecht. Seit drei Jahren kümmere ich mich um Lily. Und ich habe etwas, das ihm fehlt. Es würde mir nicht gelingen, Jim und seine Frau für immer in die Flucht zu schlagen. Jeder von den beiden schien sich auf seine Weise an Lily zu klammern. Noras adrette Kleidung und ihr brünetter Kopf
schienen vor Tüchtigkeit und Leistungsstreben zu vibrieren, alles hatte am richtigen Platz zu stehen, Prioritäten mußten aufgelistet, sorgsam polierte Erfolge abgehakt werden. Was sie nicht bekommen konnte, würde sie gar nicht erst anpeilen. Aber sie weiß nicht alles. Sie versteht nichts von Kindern. Vielleicht sehnt sie sich nach Babys – Muttergier. Und diese Muttergier wird sie bei lebendigem Leib auffressen. Und die Frauen, die von der Muttergier gepackt werden, sind nicht auf die verblüffende Macht des Gefühls vorbereitet, das anschließend auf sie zukommt – die Liebe zu einem Kind. Die Liebe zu einem Kind kann ganze Völker vernichten – die Liebe zu einem Liebhaber steht erst an zweiter Stelle. Jeder der beiden hatte eigene Gründe, die mir verborgen blieben. Aber Jim hatte nicht gelogen. Es war keine Laune. Sie meinten es ernst. Aber sie können mir nichts anhaben. Sie wollen das Kind, ich liebe das Kind. Bis an die Zähne bin ich mit real existierender Liebe bewaffnet.
5 Mit Harry im Park Am nächsten Samstag abend war Harry da. Erst als ich ihn an einer der großen verspiegelten Säulen lehnen sah, die rings um die Tanzfläche angebracht waren, verspürte ich – Gewissensbisse? Zweifel? Angst? Seit meinem Gespräch mit Cooper hatte ich diese Gefühle verdrängt. Ich war hier, um mich an jemanden heranzumachen, den ich drei Jahre lang geliebt hatte, um ihm nachzuspionieren, seine Kumpel kennenzulernen und bei der Polizei zu verpfeifen. Irgendwie war ich Abschaum. Welche Art von Abschaum? Die Art, die alles tun würde, um ein kleines Kind mit großen Augen zu beschützen – das Vermächtnis meiner toten Schwester. Wie würde ich Lily schützen? Indem ich mich ans Gesetz hielt. Was immer das Gesetz auch verlangte. Also lungerte ich an der Bar herum und spähte zwischen den Leuten hindurch, um festzustellen, wie er aussah. So wie immer. Dieselbe schlanke, lässige Figur, dieselben langen Beine, dasselbe kurzgeschnittene Haar, dieselbe Karamelhaut. Nein, nein, nein, ich kann’s nicht, dachte ich. Aber ich mußte es tun. In einer Menschenmenge ist es einfach, ganz zufällig in der Nähe von jemandem aufzutauchen. Ich saß vor ihm, so daß er mich entdecken mußte, mit derselben lässigen Haltung, denselben langen Haaren, demselben Pfirsichteint, der wunderbarerweise so viele Motorradmeilen und verqualmte Nächte in morgenländischen Spelunken überlebt hatte. Wer mich nicht kennt, könnte den Eindruck gewinnen, ich wäre eben erst vom Land in die Stadt übersiedelt. Als der Arm meine Taille umschlang, glaubte ich sekundenlang, alle Muskeln und Adern und Narben zu sehen, alle Ölflecken unter den Fingernägeln der an harte Arbeit gewöhnten Hand. Auch der Handrücken war mir vertraut, und es nahm mir den Atem, diesen Arm zu spüren. Dann – schwups! Blitzschnell begann ich meine Rolle zu spielen, drehte mich empört um und wollte den unverschämten Kerl ohrfeigen. Aber – guter Gott, das kann doch nicht sein! Harry! Was für eine Überraschung! Das alles mußte ich brüllen, um die Musik zu übertönen. Er packte meine Hand, zog mich durchs Gedränge zur Tür, und seine Finger fühlten sich so hart und kühl an wie früher, aber glatter.
Zum Glück hielt er nichts von Small talk, und so mußte ich ihm nicht erklären, was ich hier machte. Ich hatte mir keinen Vorwand ausgedacht. Weil mein Herz ehrlich oder mein Gehirn dumm ist? Um mein Ziel zu erreichen, mußte ich clever taktieren. »Wie zum Teufel geht’s dir?« wollte er wissen und fügte sofort hinzu: »Hör mal, tut mir leid wegen des Stuhls. Das war blöd von mir. Echt blöd. Diese ganze Sache – o Gott… Verzeihst du mir?« Lily fragt zum Beispiel: »Krieg ich ein Stück Schokolade?« Und schon bin ich überrannt. Harry verzeihen? Nein, ich würde etwas tun, das er mir verzeihen mußte. Ist doch fair, nicht wahr, auf krankhafte Weise… »Tanzen wir«, sagte er. Wollte er nicht reden? Nun, es war ohnehin schwierig, mit ihm zu reden. Also tanzten wir, und die Vergangenheit kehrte zurück. Aus der Nähe betrachtet, sah er älter aus. Das freute mich. Und besser, was mich nicht freute. Mit schmaleren Wangen, die Nase schärfer, das Grinsen selbstbewußter, cooler, nicht mehr so dreist. Nach der Hälfte des Songs bekam er eine Erektion. Eine Sekunde lang dachte ich, es würde sich lohnen, die Realität und die Zukunft und Lily und Jim und Cooper zu vergessen und mich in eine dunkle Ecke zerren zu lassen. Nur für einen Sekundenbruchteil. Deshalb schlug ich vor: »Gehen wir an die Bar.« Wir setzten uns ans Ende der halbrunden, dichtumlagerten Theke, wo wir nicht ungestört reden konnten, und ich erklärte ihm, ich müsse wegen des Babysitters nach Hause fahren. »Janies Kind?« fragte er. »Ja.« »O Gott…« »Soll ich dir die ganze Geschichte erzählen?« »Ja.« Und deshalb trafen wir uns am nächsten Tag in einer Teestube beim Holland Park, Harry und Lily und ich, und sprachen über 1993. »Einiges hab ich gehört«, sagte er und befingerte seine Kaffeetasse. »Nur in groben Zügen.« In groben Zügen. Nun, vielleicht kann man auch so etwas Ungeheuerliches in groben Zügen umreißen. Ungeheuerlich und bedeutungslos zugleich. Eine kleine häusliche Tragödie. Aber die Zeiten sind vorbei, wo ich mich über solche Formulierungen geärgert habe. Inzwischen bin ich dran gewöhnt. »Wie hast du darauf reagiert?«
»Ich hielt es für eine schreckliche Sache. Ich weiß nicht – ich meine… Damals verstand ich nichts von Kindern.« »Jetzt schon?« Hat er eine Frau und Kinder? Das Leben steht nicht still, bloß weil ich nicht dabei bin, um es zu beobachten. Das weiß Lily nicht. Als sie neulich zu Bett ging, flüsterte sie dem Spiegel zu: »Geh nicht weg, Spiegel, nur weil ich nicht da bin.« Ich erinnerte mich an einen Brief. Den hatte Brigids Tochter Caitlin von einem Kind bekommen, das nach Irland zurückgekehrt war. »Liebe Caitlin, jetzt bin ich sechs. Bist Du auch älter geworden?« »Nein. Aber man lernt Leute kennen und sieht, was ihnen widerfährt. Dann kriegen ihre Gesichter diesen Ausdruck. So wie du. Irgendwie versteht man’s. Meistens.« Schweigen. Wie immer, wenn es um die Welt der Erwachsenen ging, benahm er sich ein bißchen ungeschickt. Lily rannte den Tauben nach, schicke Leute schlenderten vorbei. Wieder einmal spielte ich mein altes Spiel und versuchte, Mütter von Kindermädchen zu unterscheiden. Mütter geben gern an, Kindermädchen kümmern sich um die Wäsche. Harrods versus BabyGap. In Shepherd’s Bush wäre es BabyGap versus Supermarkt. So nah und doch so fern. Hier gefällt’s mir, die vornehme Seite des Karussells. Vielleicht sind die Leute nicht glücklicher, aber die traurigen Gesichter sind besser geschminkt. Und in gewisser Weise ist es meine Heimat. Janie und ich erblickten das Licht der Welt im Arbeiterviertel von Holland Park, als die Gegend grade schick wurde und schicke Eltern ihre Kinder während jener idyllischen sechziger Jahre in die Holland Park-Gesamtschule schickten. Und wir bekamen Stipendien in einer schicken Schule. Mit unserem Cockney-Vater redeten wir ganz vornehm, mit unseren Lehrern im Cockney-Slang. Gewissermaßen waren wir Snobs, aber ohne die entsprechende Herkunft und Erziehung. Damals fanden wir’s großartig, im Biba-Laden zu klauen, im Park Joints zu rauchen, mit den Töchtern eines Herzogs rumzuziehen oder spiritistische Sitzungen abzuhalten – in einer großen leeren Wohnung am Elton Square, wo das Kindermädchen mit dem Butler bumste und zu beschäftigt war, um zu merken, wie wir den Barschrank ausräumten. Später nannte ich es Sozialismus und urbane Realität und fand es immer noch großartig. Meine Schwester fand es mies und gab den Eltern die Schuld. Nach Janies Ansicht war es eine idiotische Phantasterei, und unsere Eltern hätten uns klarmachen müssen, wo wir hingehörten. Das sei unser Job, meinte ich. Janie sagte, sie hätten
uns die Grundlage liefern müssen. »Nun, ich habe eine Grundlage«, erwiderte ich. »Was willst du denn? Sie sind immer noch verheiratet. Und du hast dein verdammtes Studium geschafft, verdammt noch mal. Du bist nicht verhungert oder ins Bergwerk geschickt worden.« »Klar, alles phantastisch.« Janie wollte immer wissen, wo sie stand, und ich versuchte, diesem Beispiel zu folgen. Vielleicht, weil ich nie wußte, wo ich stand. Offenbar auf eigenen Füßen, denn ich verdiente schon sehr früh mein Geld, während Janie meistens auf den Füßen anderer Leute stand. Eigentlich befand sie sich in einer gefährlicheren Lage – ein Mädchen, das Aufmerksamkeit erregte. Jede Nacht herrschte in unserem gemeinsamen Schlafzimmer entweder große Schwesternliebe oder wilder Schwesternhaß. Tausende von Telefongesprächen während des Studiums – sie in Oxford, ich in Cambridge, nur das Beste, all diese Stipendien. Als wir wieder nach London kamen, wohnten wir sicherheitshalber nicht zusammen, aber sicherheitshalber auch nicht weit auseinander. Ich hockte in Clerkenwell in meiner miesen Bude und kehrte zu meinen Arbeiterklasse-Wurzeln zurück, wie ich es nannte – eine groteske Demonstration meiner Unsicherheit: Wenn ich es nicht versuchte, konnte ich auch nicht scheitern, oder? Abgesehen vom Bauchtanz, wußte ich nicht, wozu ich fähig war. Und die Tanzerei zählte nicht. Zumindest nicht nach dieser Ausbildung. Eine Zeitlang hörte ich damit auf und glaubte, dadurch würde ich dazu gezwungen herauszufinden, wofür ich wirklich geschaffen war. Doch das einzige, was ich herausfand, war, daß ich kein Geld hatte. Inzwischen strebte Janie mit ihrem Freund, einem Banker, weltlichen Erfolgen entgegen. Was Männer betraf, entwickelte sie einen gräßlichen Geschmack, seit ihre Jugendliebe Colin davongelaufen war. »Wieso machst du mir Vorwürfe?« hatte sie gefragt. »Nach allem, was Colin mir antat – wie könnte ich jemals wieder einem netten Jungen trauen?« Unwiderlegbare Janie-Logik aus einem rosa Engelsmund, von einem unschuldigen Blick aus großen Augen bekräftigt… Harry beobachtete mich. Er, der früher immer unbestreitbar nach Shepherd’s Bush ausgesehen hatte, paßte jetzt eher nach Holland Park. Für einen ehemaligen Spätpunk und anarchistischen MotorradStadtindianer hatte er sich in den letzten zehn Jahren gut herausgemacht. Die meisten dieser Typen sehen mit fünfunddreißig immer noch so aus wie mit fünfundzwanzig – schmierig, mager, zornig, armselig, besoffen, stoned, wild. Aber was bei Fünfundzwanzigjäh-
rigen charmant, rebellisch und sexy wirkt, wird bei Fünfunddreißigjährigen zu einer abstoßenden Routine, der sie nicht mehr entkommen können. Und mit vierzig sterben sie. Aber Harry sah nicht so aus, als würde er sterben. Er trug immer noch enge schwarze Jeans und eine Lederjacke, und darunter befanden sich zweifellos dieselben Tätowierungen wie damals. Doch er hatte mittlerweile Zugang zu heißem Wasser, den er auch nutzte, und er kaufte seine Jeans bestimmt nicht mehr in Secondhand-Läden. Plötzlich fühlte ich mich ins Jahr 1986 zurückversetzt, wo wir eine Badewanne vom Flohmarkt heimgeschleppt hatten – überglücklich, weil wir in meiner Bude endlich baden konnten. Leider halfen mir solche Reminiszenzen nicht, Vertrauen in den neuen Harry zu fassen. »Du hast einen Käfer im Haar«, sagte er und griff herüber, um ihn zu entfernen. »Oder irgendwas.« Oder gar nichts. »Laß das, Harry.« »Übrigens, du siehst toll aus. Offenbar geht’s dir gut, und das freut mich.« Er lächelte mich an. O Harry, also wirklich. Wenn das alles einer gütigen Schicksalsfügung zu verdanken wäre, würde ich dann auf Harry reagieren? Weiß Gott, die Zankerei mit Neil ist kein Ersatz für emotionale Befriedigung. Ich lächelte liebenswürdig, und die Frage, die mich seit 1988 quälte, brannte mir auf der Zunge. Warum warst du in jener Nacht so böse auf mich, Harry? Aber ich sollte ihn anbaggern und keine alten Tragödien aufwärmen. Wenn wir uns aussprachen, würden wir vielleicht wirklich wieder Freundschaft schließen, und das konnte ich nicht gebrauchen. Oder doch, überlegte ich und betrachtete sein Gesicht. Ein Gesicht, das man gut kennt, ist einfach wundervoll. Hör auf damit, du mußt ihn einwickeln, für Ben Cooper, für Lily. Sonst gar nichts. »Weißt du noch, wie wir in Brighton waren?« Die letzte Fahrt im Pontiac, was ich aber vorerst nicht erwähnte. »Ja.« »Was haben wir da gemacht? Daran erinnere ich mich nicht.« Ich hatte es tatsächlich vergessen. »Wahrscheinlich haben wir Janie besucht.« Und da fiel es mir wieder ein. Janie hatte dort gewohnt. Beim Abschied war sie furchtbar schlecht gelaunt gewesen, hatte auf den Stufen ihrer Souterrainwohnung gestanden und Harry vorgeworfen, er habe das Auto falsch geparkt. »Wieso bist du nicht zum Begräbnis gekommen?« fauchte ich
plötzlich – die ersten Worte, die ich ehrlich meinte. »Weil ich nicht wußte, ob ich willkommen wäre.« »Blödsinn! Deshalb sterben die Leute – damit sich die anderen am Grab versöhnen. Du hättest kommen sollen. So viele waren da.« Mum und Dad sahen ganz verloren aus. Als würden sie nichts verstehen, als gäbe es niemanden, der sie verstand. Neil, der versuchte, meinen Arm zu halten. Auch Ben Cooper war da, erwartungsgemäß, und klappte den Kragen hoch, um sich vor dem rauhen Wind zu schützen; stand da unter den Friedhofsbäumen zwischen Leuten, die ich nicht kannte. Ich schaute Mum an und begriff nicht, wie sie einfach dastehen konnte. Immerhin hatte sie uns geboren. Sie müßte spontan in Flammen aufgehen, sich auflösen oder wie ein Tornado davonstürmen, als Manifestation der Sinnlosigkeit. Niemals dürfte ein Kind vor der Mutter sterben. Das verstößt gegen die Naturgesetze. Wie konnte Mutter einfach dastehen? Vermutlich spürte sie es auch. Der Vikar redete lauter Unsinn, und niemand weinte. Warum lebte ich noch? Immer waren wir zusammengewesen. Wie konnte sie ohne mich sterben? Lily hatten wir nicht mitgenommen, und Jim starrte mich an, als würde ich sie unter meinem Mantel verbergen, als wäre ich eine Ladendiebin und er ein Kaufhausdetektiv, der genau wußte, daß ich das Baby in meiner tiefen, tiefen Tasche versteckte. Gewissermaßen tat ich das auch. Aus irgendeinem Grund waren einige unserer Schulkameradinnen erschienen. Zeinab stand die ganze Zeit hinter mir und murmelte arabische Segenssprüche oder Gebete… Danach kamen sie alle zu mir. O Gott, London ist eine gräßliche Stadt, zwölf Meilen zum nächsten Friedhof, wo Platz für Janie war, zwölf Meilen zurück zum Umtrunk. Wir hatten gewußt, sie würde sterben. Aber hatte man uns gestattet, sie aus dem Krankenhaus zu holen, damit sie daheim sterben konnte? Nein. Danach wurde sie obduziert. Durften wir sie zu Hause aufbahren, um ihr die letzte Ehre zu erweisen? Nein. Mum regte sich schrecklich auf. Wo war das überhaupt – zu Hause? Wo doch niemand den Vikar kannte? Mum und Dad kamen aus Enfield. Warum zum Teufel lebten sie in Enfield? Verdammt, wo liegt Enfield? »Wir können es uns nicht mehr leisten, hier zu wohnen«, hatten sie in den sechziger Jahren erklärt und ihre Sachen gepackt, um die Tradition mehrerer Generationen zu beenden und von Ladbroke Grove weg nach Osten zu ziehen. Manche Sachen wurden einfach
weggeworfen. »Nehmt alles mit«, verlangte ich. »Wenn ihr tot seid, werfen Janie und ich es weg. Jetzt müßt ihr es aufheben.« Da sah ich diesen alten traurigen Blick in Mums Augen. » Angie, Liebes«, erwiderte sie, aber eigentlich meinte sie: »Warum bist du nur so seltsam?« Das sagt sie, seit ich den Schulalligator aufgeschnitten habe, ein Jahr nach seinem Tod, um das Skelett zu studieren. Sie fand es sonderbar, daß ich mich überhaupt an ihn erinnert hatte und nach so langer Zeit das Skelett sehen wollte. Eines Tages reinigte sie ihr Ohr mit einem Wattestäbchen, während sie die Treppe runterstieg, fiel hin und durchstieß das Trommelfell. Nun ist sie ein bißchen schwerhörig. Warum mußte sie ihr Ohr ausgerechnet auf der Treppe säubern? Gerade sie, die immer so vorsichtig und besorgt ist? Vielleicht tun alle Leute uncharakteristische Dinge, wenn sie nicht beobachtet werden, und der Charakter ist nur das, was andere sehen, definiert vom Beobachtetwerden. Keine Bange, Mum, ich werde Janie nicht ausgraben und aufschneiden. Ich kenne ihr Skelett, denn ich schaute mir nach dem Unfall die Röntgenbilder an, als die Ärzte dachten, sie würde es überleben, obwohl sie immer noch bewußtlos war. Ich hatte mir vorgestellt, wie wir uns später drüber amüsieren würden, und gelacht. Aber das Gelächter hatte meine gebrochenen Rippen bewegt, und ich war verstummt. Meine gebrochenen Rippen, Janies zerquetschte Organe. Lily, du bist ein Wunder. »Ich wäre gekommen«, sagte er, und ich wußte, daß er log, aber nicht, aus welchem Grund. Daß er sich mies benahm, freute mich. Nun fiel es mir leichter, ihn zu hintergehen. Allerdings war es jetzt noch schwerer, die Beziehung zu erneuern. Ich brauchte irgendeinen Vorwand, irgendeine Ausrede, damit wir vorerst in Kontakt blieben. Keinesfalls Sex. »Kannst du mir ein Auto besorgen, Harry?« »Ist ein Bär katholisch?« erwiderte er und grinste keß. »Erklär mir, was du willst, und es gehört dir. Wieviel möchtest du ausgeben?« Natürlich gar nichts. Ich hatte schon ein Auto – ein armseliges Ding, aber mein Eigentum, klein, seit einem Hagelsturm weiß lakkiert. Sah wie ein Stück Käse aus, hinten eingedellt. Mit Stereoanlage. An die Marke erinnerte ich mich nicht. Für Autos habe ich mich nie interessiert, war unbeeindruckt geblieben von Harrys Begeisterung, damals, in den alten Tagen. Zu viele Räder. Nun dachte ich gründlich nach. Bloß nicht angeben… »Also, ich hab diesen – eh –
kleinen weißen Schlitten. Er ist okay, wirklich, und auch nicht negativ fürs Image, aber häßlich, und…« Bitte, ein Geistesblitz! Versuch, an sein Mitleid zu appellieren! »… und da ich nie wieder Motorrad fahren kann, brauche ich ein Auto, das ein bißchen mehr draufhat.« »Du wirst nie wieder Motorrad fahren?« Seine Besorgnis wirkte echt. Solche Dinge konnte er nachvollziehen. »Dein Bein ist doch okay. Wo liegt das Problem?« »Beides auf einmal kann ich mir nicht leisten.« Wieder versuchte ich, sein Mitleid zu erregen – ein kleiner Schmetterling, der tapfer mit den Flügeln schlug und gegen die Stürme einer unbarmherzigen Welt kämpfte. »Ich brauche das Auto für Lily – für meinen Job. Und mein Bein…« Eindringlich schaute ich in seine Augen. »Weißt du, wann man merkt, daß man sterblich ist?« »Ja und nein«, antwortete er vorsichtig. »Wenn meinem Bein noch mal was passieren würde, könnte ich nicht mehr arbeiten. Nicht mehr in dem Job, den ich jetzt habe. Und da ich immer noch ein bißchen behindert bin, darf ich mich nicht auf ein Motorrad setzen. Nein, das wäre zu gefährlich. Ich muß arbeiten und halbwegs fit bleiben, weil Lily mich braucht. Deshalb möchte ich nichts riskieren. Früher war ich anders, was? Und ich…« Aber ich verschwieg, daß ich nie wieder einem Menschen Schaden zufügen wollte. »Klar, ich verstehe, was du meinst.« Harry rührte in seinem Kaffee. »Glauben die Leute jetzt, du wärst eine alte Langweilerin? Spielen sie nicht mehr mit dir?« »Das ist mir egal. Mein Leben hat sich verändert. Andere Prioritäten, andere Interessen…« Inzwischen hatten die Tauben ihren Reiz verloren. »Ich will Saft trinken«, verkündete Lily, und wir begannen unser Ritual. »Was hast du gesagt?« »Apfelsaft.« »Nein.« Sie verzog das Gesicht, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Nicht vor Harry! Ich bin die perfekte Mutter. Die perfekte Nichtmutter. »Nun, Liebes, was sagt man, wenn man etwas möchte?« Sie schaute ihn an, schaute mich an, mit klugen Augen. »Liebste, allerschönste Angeline, bitte, bitte, darf ich ein Glas Apfelsaft trinken?« Wow. Darf ich. Nicht – kann ich. Dabei hätte ein einfaches Bitte genügt. Ich versuchte, nicht zu lachen. »Natürlich, Darling.«
Vielleicht hatte Harry ein gewisses Verständnis für Kinder entwickelt. Aber diese Szene ging über seinen Horizont, und er blinzelte genauso verwirrt wie alle Leute, die keine Ahnung von Kindern haben. Dann nahm er den Faden des Gesprächs wieder auf, ohne zu beachten, daß ich mich jetzt mit jemand anderem befassen mußte, und zwar sofort. »Klar. Kein Motorrad, ein wackliges Bein, nie mehr wehender Chiffon mit Pailletten, um zehn im Bett, Babysitter, alleinstehende Mutter, eine Last für die Gesellschaft, und die ganze Zeit mußt du arbeiten, wenn du grade keine Kotze wegwischst…« »Dreijährige übergeben sich nicht mehr«, fauchte ich. »Und ich bin keine Last für die Gesellschaft.« Natürlich hänselte er mich nur. Verdammt. In meiner Angst war ich drauf reingefallen. »Und was machst du, seit du nicht mehr die Hüften schwingst?« »Angel-Mum«, murmelte Lily. (So nennt sie mich, eine Kombination aus allem, was ich bin und was ich für sie bin.) »Ich berate Bauchtänzerinnen«, erklärte ich und tätschelte sie, »und ich bin eine Art Expertin für die Kunst und Geschichte des Bauchtanzes. Darüber habe ich sogar ein Buch geschrieben. Ich entwerfe Tanzkostüme für steinreiche Ausländer. Nicht für sie selbst, sondern für ihre Bauchtänzerinnen. Und ich zeige den Filmregisseuren, wie sie ihre Haremsszenen gestalten müssen. Vielen Dank, ich komme schon zurecht.« Ich versuchte, meinen Rückfall in aggressive Bissigkeit zu überspielen. Bloß keine Schwäche zeigen. »Wunderbar! Ich wußte ja, daß du es schaffen würdest. Wo du doch schon immer ein Energiebündel warst.« Gott segne ihn. »Hast du einen Freund?« Zum Teufel mit ihm. »Einige Verehrer«, entgegnete ich, lächelte kokett und wechselte das Thema. »Jetzt muß ich ein Glas Apfelsaft für Lily holen.« Nein, ich habe keinen Freund. Obwohl ich gern einen hätte. In dieser Hinsicht bin ich altmodisch. Ich mag Sex (soweit ich mich dran erinnern kann) und Gesellschaft, und es ist sehr angenehm, wenn man jemanden in der Nähe hat, dem man die Schuld an allem geben kann. Aber alleinstehende Mütter haben gewisse Probleme. Nicht, daß die Männer nicht mit uns ausgehen würden. Das tun sie. Männer über Dreißig lieben alleinstehende Mütter, weil sie ihnen das Gefühl vermitteln, sie wären aus dem Schneider. Weil wir schon ein Kind haben, wollen wir nicht geheiratet werden, jammern ihnen nicht die Ohren voll mit diesem Gefasel von der biologischen Uhr. Vor allem die Männer, die nie erwachsen werden, beten uns an. Sie
glauben, einen weiteren Dreijährigen im Haus würden wir gar nicht bemerken, seine Klagen geduldig anhören und den plötzlich verdoppelten Wäscheberg kaum wahrnehmen. Bis jetzt ist mir nur ein einziger begegnet, der behauptet hat, Männer würden nicht mit alleinstehenden Müttern ausgehen. Und der versuchte, mein Selbstwertgefühl dermaßen zu unterminieren, daß ich tatsächlich erwog, mit ihm auszugehen. Aber eine alleinstehende Mutter baut sich ihre eigene, sorgsam ausbalancierte, gesicherte Welt auf. Die gefährdet man nicht. Da läßt man nicht so schnell jemanden rein. Im Türkischen gibt es ein besonderes Wort – enderun, die Innenwelt, in der man lebt, die man beschützt. Das ureigenste Terrain. Wenn das Herz einer alleinstehenden Mutter gebrochen wird, kann sie nicht eine Woche lang heulen. Sie darf nicht die ganze Nacht aufbleiben, wenn sie am nächsten Morgen arbeiten und das Kind freundlich behandeln muß. Und sie kann es auch nicht für einen One Night Stand aus ihrem Bett werfen, wenn es dran gewöhnt ist, darin zu schlafen. Ein One Night Stand woanders? Das klappt nur, wenn sie einen besonders verständnisvollen Babysitter hat. Also fällt das Privatleben flach. Vielleicht ertragen Sie es, wenn ein Kind fragt: »Ist das mein neuer Daddy?« Ich bringe das nicht. Zuviel steht auf dem Spiel. Und es geht nicht nur um mich. (Willst du einen Daddy? Ja.) »Du solltest dir auch mal was gönnen«, meint Brigid. Solche Dinge sieht sie viel lockerer als ich. Sie hat mehrere Verehrer, und manchmal hütet einer ihre Kinder, während sie mit einem anderen ausgeht. Aber sie ist anders als ich, viel härter im Nehmen. Und ihre Kinder interessieren sich nicht für das Sexleben ihrer Mutter, sondern nur für einander. Aber nachdem ich Lilys Mutter getötet habe, ist mir kein Opfer zu groß, wenn es um ihre Sicherheit und ihr Wohlbefinden geht. »Das ist pervers«, sagt Brigid. »Außerdem braucht jedes Kind einen Dad.« Richtig. Natürlich hätte ich in den drei Jahren auch gerne wahre Liebe und glückliches Familienleben gehabt, und das hätte auch einen guten Eindruck auf die Adoptionsbehörde gemacht. Aber wenn ich mich an meine früheren Versuche erinnere… nein. Nein, ich habe keinen Freund. »Und du?« fragte ich, als ich mit dem Apfelsaft zum Tisch zurückkehrte. »Oh, da gibt’s Hunderte.« »Was? O nein, ich meine – was machst du?«
»Ich bin in der Autobranche tätig, Darling, so wie eh und je. Aber jetzt läuft’s besser. Historische Wagen für Filme, maßgefertigte Schlitten für schwerreiche Leute, Luxuskarossen für Hochzeiten und Bar-Mizwas, zum Kaufen, zum Leasen, was immer die Kunden wollen. Du solltest dir mal meinen Ausstellungsraum anschauen.« »O ja, sehr gern.« Der erste Schritt war geschafft. »Aber – o Gott, wahrscheinlich kann ich mir keins von deinen Autos leisten.« »Irgendwas finde ich schon für dich. Überlaß das nur mir. Ich weiß ja, was du willst.« Glücklicherweise weißt du es nicht, dachte ich. Lily schlürfte Apfelsaft durch ihren Strohhalm. »Ist Harry hübsch?« fragte sie.
6 In Harrys Ausstellungsraum Als Lily und ich am Montag nach Hause kamen, wartete Brigid schon in der Küche und fragte, ob sie Caitlin eine halbe Stunde hierlassen könne. Bei der zweiten Post lag der Brief einer Anwaltsfirma, die ich nicht kannte. Ich versorgte die Mädchen mit einem Malbuch, einem Farbkasten und einem Glas Wasser und studierte den Brief. Unmißverständlich. »Da Mr. Guest, der Vater des Kindes, seine Tochter zu sich nehmen will und nach Paragraph 8 des Children Act von 1989 das Gesuch eingereicht hat…« Nun, damit hatte ich gerechnet. Ich rief Mum und Dad nicht an. Wenn es denn gar nicht anders ging, würde ich später mit ihnen reden. Vielleicht gab es eine ganz einfache Lösung, und sie mußten sich gar nicht aufregen. Nun brauchte ich erst mal juristische Informationen. Großer Gott… Lily und Caitlin begannen, um ihre Pinsel zu streiten, und ich tätschelte sie geistesabwesend. Natürlich mußte ich mit Neil reden. Ich konnte zwar darauf verzichten, daß er mir wohlmeinend den Kopf streichelte, zumal ich schon mit Jim und Harry und Ben Cooper genug am Hals hatte, aber ich war auf seine Hilfe angewiesen. Als meine Eltern und ich damals das Sorgerecht erhalten hatten, war es mangels anderer Interessenten relativ einfach gewesen. Vielleicht war er mir immer noch böse, aber er würde mir helfen. Es widerstrebte mir einfach nur, mit ihm zu reden. Brigid holte Caitlin nicht rechtzeitig ab. Also gab ich den beiden Mädchen etwas zu essen und steckte sie anschließend in die Badewanne – Caitlin so rosig und prall, Lily so schön goldbraun und mit ihrem langen, langen Haar. Sie nannte mich Mummy, und ich verbesserte sie nicht immer. Nach ihrer Logik haben alle Kinder Mütter, und die sind nicht tot. Sie füttern einen und holen einen vom Kindergarten ab. Peter Scott brütete kleine Schwäne aus, deren Mütter gestorben waren. Als sie aus den Eiern schlüpften, sahen sie zuallererst seine Gummistiefel. Und diese Gummistiefel kamen dann regelmäßig, um sie zu futtern. Sie liebten die Stiefel. Für Lily bin ich die Mutter. Am nächsten Tag arbeitete ich. Eine arabische Fluglinie brauchte
für ihr Bordmagazin einen Artikel über Bauchtanz. Wahrscheinlich sollte das nur ein Vorwand für viele Fotos von halbnackten Mädchen sein. Aber sechshundert Pfund sind sechshundert Pfund, und um die Bilder würden sie sich selbst kümmern. Ich wollte etwas liefern, das nicht nur wissenschaftlich, sondern auch poetisch war, über Kutchuck Hanem und Flaubert, Baladi-Tanz und die Fruchtbarkeitstänze der Muttergöttin. Um in Stimmung zu kommen, schaute ich mir ein Video von Fifi Abdu an. O Gott, die Hüften dieser Frau! Nicht einmal in den Tagen meiner geschmeidigen Jugend hätte ich ihr das Wasser reichen können. Und ich war wirklich gut. Ich hatte bei den Sulukule-Zigeunern in Istanbul Rakkase studiert, hatte bei den Ouled Nail und den Chikat gelernt. Ich hatte auf Tischen die Charlotte Street hinauf und hinunter getanzt, ohne mit meinen reichgeschmückten Zehen auch nur ein einziges Mal in die Matzenplatten zu treten. Nur einmal kickte ich einen Houmous-Teller ins Gesicht eines Kerls, der seinen Hosenschlitz aufgeknöpft hatte und mir vorschlug, »darauf« zu tanzen. Er lachte, und ich wandte meinen Rosenwassertrick an. Den hatte mir eine ägyptische Tänzerin in Kairo beigebracht, die mir erzählte, das sei ihre Rache an den französischen Touristen für Napoleon. Mit mir machte sie es auch, und ich wußte nicht, ob ich mich geschmeichelt fühlen sollte. Wir hingen alle in ihrem Wohnzimmer herum, schauten Tanzvideos an und tranken Tee. Manchmal tanzte ich für die anderen, und sie tanzten für mich. Während sich diese Ägypterin produzierte, klemmte sie ein winziges Glas mit Rosenwasser zwischen ihre Zähne. Dann fing sie richtig zu tanzen an, schwenkte die Hüften dahin und dorthin, rotierte und wand sich – ein sehr temperamentvoller Tanz. Und ihr Kopf? Völlig reglos. Kein einziger Tropfen wurde verschüttet. Was für eine phantastische Körperbeherrschung! Zum Schluß drehte sie das Glas mit der Zunge, und die Flüssigkeit schien in ihren Hals zu rinnen, bevor sie das Glas fallen ließ. Sie schaute mir in die Augen. Dann prustete sie mir das Rosenwasser lachend ins Gesicht. Die anderen stimmten ihr zagareet an, ihr Jubelgeschrei, das mich erschreckte, bis ich merkte, daß sie mir ein Kompliment machen wollten. War ich schockiert? O ja. Ich bat die Ägypterin, mir diesen Trick beizubringen. Sie erzählte mir von den Tänzerinnen in der Casino Opera von Kairo. In den zwanziger Jahren hatten sie goldene Kandelaber mit brennenden Kerzen auf den Köpfen getragen. »Genauso
wie die armen Leute ihre Wasserkessel. Beobachte doch einmal, wie die Beduinenfrauen gehen.« Und sie berichtete von den Mädchen, die zwei Weingläser auf den Bäuchen balancieren konnten, ein volles und ein leeres, und den Wein von einem ins andere gossen, nur mittels ihrer Muskelkontraktionen. Einmal sah ich so eine Darbietung im Sahara City, einem Cabaret in einem Zelt bei Gizeh, nahe den Pyramiden. Fast alles, was ich sah, versuchte ich zu erlernen. Aber auf dieses Kunststück hatte ich verzichtet. Nun spuckte ich das Rosenwasser in das Houmous-Gesicht. Wütend rannte der Typ davon. Vielleicht hatte ich was Unverzeihliches getan – so wie früher, als ich nicht wußte, daß ich meine Schuhsohlen nicht zeigen durfte… Am selben Abend bekam ich Streit mit einem Ägypter. Er begriff nicht, daß eine Blondine so was tun konnte, weder in körperlicher noch in kultureller Hinsicht. Auf meinen Reisen war mir das oft passiert. Die Leute trauten mir nicht zu, daß ich ihre Tänze beherrschte. Immer wieder erklärte ich, das ägyptische Wort für Tänzerin, ghaziya, entstamme derselben Wurzel wie »Außenseiter«, »Fremder«, »Eindringling« – und das türkische cengi sei mit cingene, Zigeuner, verwandt. Lauter Außenseiter. Da ihn das alles zu interessieren schien, wies ich ihn auf die Theorie hin, der Bauchtanz sei die heutige Form eines alten religiösen Frauentanzes, von jenen Gruppen – Außenseiter, Zigeuner – kultiviert, die den Restriktionen der neuen Männerreligionen – Islam, Christentum, Judentum – entronnen waren. Aus der anständigen Gesellschaft wurden diese Menschen verbannt, aber trotzdem wußte man sie zu schätzen. Warum sonst hätten die Ägypter stets Tänzerinnen auf Hochzeitsfesten auftreten lassen -Huren, die in respektablen Häusern normalerweise nicht willkommen waren? Weil, erwiderte er und sprach mir aus der Seele, der Bauchtanz ursprünglich ein Fruchtbarkeitstanz gewesen sei und dem jungen Paar Glück bringen solle. Ich betonte, der Tanz imitiere Sex und die Niederkunft. Daraufhin meinte er, ich sei keine ghaziya, sondern eine almeh, und das war ein Kompliment. Früher hatte man die Frauen so konsequent von der Welt ferngehalten, daß sie wenig von ihr wußten. Nur die awalim – die Sängerinnen, Dichterinnen und Musikerinnen – waren gebildet. Die meisten ghawazee waren Wanderhuren. Es war eine Frage der Klasse, des Geldes, der Bildung. Genauso wie heute. Falls man sich bemühte, ein bißchen Verstand und einen reichen Gönner hatte, konnte man eine ahneh werden.
Ich bin nicht stolz, und ich weiß, daß ich teils eine almeh und teils eine ghaziya war. Wenn ich auch nicht mit den Zuschauern bumste und die geschichtlichen Hintergründe kannte – ich tanzte in den Bars für Geld, so wie zahllose Frauen seit urdenklichen Zeiten, die ihr Vermögen in den Fußknöcheln trugen und ihre Münzen in die Schleier eingenäht hatten. Jede Paillette an meinen schrillen Kostümen war eine Hommage an die Yakshi, die alten indischen Tempeltänzerinnen, die Geld für ihre Göttin gesammelt hatten, indem sie sich nach hinten gebeugt und allen Männern erlaubt hatten, Münzen auf ihre verschwitzten Stirnen zu kleben, sobald die Brüste in Sicht gekommen waren. Und indem sie mit jedem schliefen, der ihnen Geld zuwarf. Sie kehrten dem Publikum den Rücken, tanzten nicht für die Zuschauer, sondern nur für die Göttin. Durch ihren Tanz öffneten sie das Tor zum Göttlichen. Wenn die Männer es mit ihnen trieben, wurden auch sie von der heiligen Macht berührt. Zur gleichen Zeit verkauften sich die Mädchen im Tempel von Mylitta auf Zypern an Fremde und verwahrten das Geld im Schrein der Aphrodite, bis sie es für die Aussteuer brauchten. Eine gute ghaziya konnte sich das ganze Gesicht mit goldenen Piastern bedecken lassen, mit Spucke oder Schweiß festgeklebt. Und dann gab es die Santons – heilige Ägypter, die jede Frau bumsen durften, die sie begehrten, jederzeit und überall, wobei die anderen Frauen den Beischlaf mit ihren Schleiern abschirmten. Flaubert berichtet von einem Franzosen, der sich als Santon ausgab. Aber vielleicht ist das eine erfundene Geschichte. Ein respektabler Mann steckt das Trinkgeld unter den BH-Träger der Tänzerin, ohne ihre Haut zu berühren, aber ein Lüstling begrapscht, was er nur kriegen kann. In jener Nacht, als ich das Rosenwasser ausspuckte, verdiente ich siebzig Pfund – eine Sympathiekundgebung in meinem perlenbestickten BH. Vom Gastgeber der Party, an der das Houmous-Gesicht teilgenommen hatte, bekam ich fünfzig Pfund extra, eine Art Schmerzensgeld. Ich entschloß mich, den Passagieren der Fluglinie von den 400 ghawazee zu erzählen, die man enthauptet und in den Nil geworfen hatte, wegen Unruhestiftung in den französischen Kasernen. 1834 wurden die ghawazee aus Kairo verbannt, unter Androhung von fünfzig Peitschenhieben oder Zwangsarbeit, falls sie zurückkehrten. Dauernd schickten die Paschas ihre Frauen fort, denn das waren Chaotinnen, die den Mund nicht halten konnten und die Männer durcheinanderbrachten. Und die Tänzerinnen waren noch chaoti-
scher. Sie wollten nicht daheim bleiben, drangen in die Männerwelt ein. Lenkten die Aufmerksamkeit auf sich selbst und ihre Sexualität. Fitna. Chaotisch. Und wenn es irgendwas gibt, das den konservativen Mann erschreckt, ist es das Chaos. Wissen Sie Bescheid über Flaubert und Kutchuk Hanem? Natürlich nicht. Kutchuk Hanem, die kleine Prinzessin, war die Geliebte vom Enkelsohn des Herrschers Muhammed Ali, Abbas Pascha – eine ghaiiya, die einen Beschützer hatte und sich deshalb sehr glücklich schätzen durfte. Während alle anderen Tänzerinnen verbannt wurden, amüsierte sie sich mit ihrem Gönner in Kairo. Aber sie war jung und dumm. Sie ging mit einigen Juwelen, die er ihr geschenkt hatte, in den Bazar und verkaufte sie. Warum tat sie das? Warum brauchte sie Geld, so jung wie sie war? Die Juwelen sollten sie im Alter ernähren. Wie auch immer, Abbas Pascha erfuhr davon, verpaßte ihr eigenhändig fünfzig Peitschenhiebe und schickte sie weg, den Nil hinauf. Um 1850 begegnete ihr ein Amerikaner namens Curtis. Sie tanzte für ihn, und das sah so aus: »Wilde Klänge erfüllten den Raum und stürmten rhythmisch auf ihren reglosen Körper ein, bis sie plötzlich von Kopf bis Fuß zu zittern begann, im Takt der Musik. Sie hob ihre Hände und ließ die Kastagnetten klappern. Langsam drehte sie sich um die eigene Achse, auf dem rechten Bein, und wundervolle Zuckungen erfaßten alle Muskeln ihres Körpers. Dann trat sie allmählich immer weiter vor, und die Muskeln bebten im Rhythmus der Musik. Die sinnlichen Bewegungen drückten nicht das geschmeidige Drängen träger Leidenschaft aus, sondern die Seele der Leidenschaft, die in allen Nerven und Gliedern zitterte. In diesen Bewegungen zeigte sich eine ungeheure Intensität, konzentriert und konstant… Plötzlich neigte sich Kutchuk vor, die Muskeln immer noch zuckend, sank auf die Knie und wand sich umher, den Körper, die Arme und den Kopf am Boden, immer noch im Takt – immer noch klapperten die Kastagnetten, und schließlich stand sie wieder auf… Während sie sich zurückzog, rutschte der Schleier immer tiefer, schien nur mehr an ihren Hüften zu hängen und ihren Körper zu umkreisen, der nach dieser heftigen und extravaganten Anstrengung kalt wie Marmor wirkte.« Aber Worte sind unzulänglich. Ich habe versucht, mich an schriftlichen Schilderungen zu orientieren, um Tänze nachzuvollziehen, wenigstens andeutungsweise. Doch wenn man es nicht sieht und
spürt, schafft man es nicht. Das ist der einzige Grund, warum ich mit sechzehn Jahren dem Bauchtanz verfiel. Ich wollte etwas, das nur meinen Körper betraf und bei dem das Gehirn völlig bedeutungslos blieb. Manchmal erzielt man dieses Gefühl beim Sex, und Janie erzählte mir, auch die Schwangerschaft würde eine solche Wirkung ausüben. Zieh Leine, Gehirn, hör für eine kleine Weile auf, zu denken und zu analysieren, denn das ganze Blut und die Energie fließen woandershin. Vielen Dank. Als Flaubert die Salome in »Herodias« beschrieb, schilderte er diesen Effekt: »Sie schwankte von einer Seite zur anderen, wie eine Blume, vom Wind bewegt. In ihren Ohren steckten Juwelen und sangen in der Luft, die Seide an ihrem Rücken schimmerte im Licht, unsichtbare Funken sprühten aus ihren Armen, ihren Füßen, ihren Kleidern und ließen die Männer entbrennen. Eine Harfe erklang, und die Menge jubelte. Ohne die Knie zu beugen, öffnete sie ihre Beine und neigte sich vor, so tief, daß ihr Kinn den Boden berührte. Und die Nomaden, an Enthaltsamkeit gewöhnt, die römischen Soldaten, in Ausschweifungen erfahren, das begierige Publikum und der alte Priester, von Kontroversen ermattet, sie alle saßen da, ihre Nasenflügel geweitet, und bebten vor Verlangen.« 1850 verbrachte Flaubert in Esna eine Nacht mit Kutchuk Hanem. »Eine solche Nacht verbringt man nur selten im Leben, und ich genoß sie in vollen Zügen.« Wie ein Ornithologe beschrieb er sie – die über ihre Schulter gefächerten blauen Quasten ihres Tarbuschs; den Fäulnisfleck auf einem Zahn; die zuckenden Muskeln in den Händen und Schenkeln, während sie schlief; der einzigartige Geruch, der sie umwehte, eine Mischung aus triefendem Sandelholzöl und dem Gestank der Bettwanzen. Als sie erwachte, trieb sie es mit Flaubert und seinen Gefährten, dann schickte sie die Seemänner weg, verband ihren Musikern die Augen und tanzte für ihn – einen mythischen Tanz, einen vergessenen Tanz: die Biene. Damit verlockte die Königin von Saba den heiligen Antonius. Der Grundgedanke ist ganz einfach: Eine Biene kriecht unter das Gewand der Tänzerin, sie kreischt und windet sich, legt ein Kleid nach dem anderen ab, bis sie nackt ist. Verblüfft und verletzlich steht sie auf dem schönen Teppich in der Kabine des Mannes an Bord des Schiffs auf dem Nil, während die Sonne versinkt und die Musiker nichts sehen, und ein weißer Mann, der große Schriftsteller, liegt ihr hingerissen zu Füßen.
Für die Abendländer, die sie nackt tanzen sehen wollten, hatte sie nur Verachtung übrig. Für Abbas Pascha hatte sie unter ihrem Gazegewand scharlachrote Hüllen über den Brustwarzen getragen. Aber seit damals war sie nachlässig geworden, träge und selbstbezogen. Es kümmerte sie nicht, daß der Nubier Aziza behauptete, sie könne nicht tanzen. Und es war ihr egal, als Flauberts Diener Joseph erklärte, er kenne einen Mann, der den Bienentanz besser beherrsche. Es interessierte sie nicht, daß die Männer sie nachahmten, daß sie auf dem mouled, dem Fest der Heiligen, von dressierten Affen nachgeahmt wurde. So schrecklich wie Kutchuk war keine Tänzerin vorher verhöhnt worden. Den Kopf in Flauberts Arm geschmiegt, schlief sie, und vor dem Morgengrauen erhob sie sich, um eine Stunde lang vor ihrer Kohlenpfanne zu kauern. »Wie schmeichelhaft wäre es für den Stolz eines Mannes«, schrieb er, »wenn er im Augenblick des Abschieds wüßte, daß er eine Erinnerung hinterläßt, daß sie öfter an ihn denken würde als an die anderen, die bei ihr gewesen sind, und daß er in ihrem Herzen bleiben würde.« O Gott, wie leicht es einem Romantiker fällt, an fernen Orten sorglos zu lieben, mit einer American Express Card des neunzehnten Jahrhunderts und einer Rückfahrkarte in der Tasche. Es passiert woanders, also zählt es nicht. Sie ist eine Ausländerin, also zählt es nicht. Sie ist eine Hure. Also zählt es nicht. Sie ist anders. Also zählt es nicht. Außerdem ist sie eine Frau. Also zählt es nicht. 1864 reiste seine Geliebte Louise Colet ins Morgenland und schrieb, Kutchuk Hanem sei »immer noch am Leben – eine lebende Mumie«. Es ist müßig, eifersüchtig auf das Exotische zu sein, genauso wie auf die Toten. Das Telefon läutete. Aber ich saß am Nil und ging nicht dran. Ben Coopers Stimme tönte aus dem Anrufbeantworter. »Hoffentlich knüpfst du gerade gesellschaftliche Kontakte, Angie!« sagte er fröhlich. »Wir müssen uns bald mal unterhalten, okay? Bye!« Obwohl er wie ein Animateur im Ferienclub schwatzte, war die Message klar. Ich schüttelte meinen orientalischen Dunstkreis ab und rief Harry an. Könnte ich ihn morgen in seinem Ausstellungsraum treffen? Ich hätte nämlich in der Nähe zu tun. Wie praktisch! Gleich um die Ecke wohnt Zeinab, und ich würde sie ohnehin besuchen und ein paar Tanzkostüme mit ihr entwerfen müssen. Ich bin es gewohnt, mich zu tarnen. Als Kind plünderte ich den Kühlschrank und fragte mich, ob man auf kalten Hühnerbeinen Fingerabdrücke bemerken
und was meine Mutter tun würde, wenn sie herausfand, daß ich den Leckerbissen geklaut hatte. Janie und ich glaubten, wir hätten die gleichen Fingerabdrücke, weil wir uns auch sonst ähnlich sahen. Manchmal wurden wir verwechselt. Und wie gern wären wir Zwillinge gewesen! Dann hätten wir den Leuten die tollsten Streiche spielen können. In dieser Nacht träumte ich. Ich tanzte in meinem grüngoldenen Kleid, einem meiner ersten Kostüme. Weit nach hinten geneigt, erhob ich die schwingenden Arme und ließ die kleinen türkischen Zimbeln erklingen. Ich wölbte mich zum Bogen, mein Haar berührte fast den Boden, und ich tanzte im Rückwärtsgang, perfekt ausbalanciert, ein Halbkreis aus schimmerndem, bebendem, klingendem Goldgrün. Und dann sprang ich auf den Tisch (in diesem Stil hatte ich niemals auf Tischen getanzt, weil mein langes Haar ins Essen gefallen wäre). Plötzlich war ich von Flammen umgeben, einem feurigen Ring. Dahinter gerötete lachende Gesichter. Wie brennendes Papier schwebte ich in die Luft, immer höher hinauf, eine gleißende Lichtgestalt. Und dann erwachte ich. Das hatte ich schon oft geträumt, und ich werde es wieder träumen. Ich wußte, worum es ging. Eines Nachts hatte ein Zuschauer während meines Tanzes eine Flasche Brandy auf das Tischtuch geschüttet und es angezündet. Wozu? Um mich hochspringen zu sehen? Um eine Frau zu erschrecken? Um die Darbietung zu stören? Um seine Freunde zu beeindrucken? Nicht nur wegen seiner offensichtlichen Motive haßte ich den Kerl, sondern auch, weil er in meine Welt eingedrungen war. Ich tanzte, ich war die Traumfrau – jenseits der Grenzen. Später versuchte er, mir ein Bündel Geldscheine in die Hand zu drücken. Aber ich wies ihn ab. Er hätte mich nicht einmal ansprechen dürfen. Natürlich nahmen Ahmed und die Musiker das Geld an. Einerseits war es okay, weil wir alle Trinkgelder teilten, andererseits nicht, denn er hatte nicht versucht, die Jungs anzuzünden. Nun, er gab ihnen immerhin fünfhundert Pfund. Er war Engländer, was mich überraschte. Danach kam er nie wieder in den Club, und darüber war ich froh, denn ich hielt ihn für einen Psychopathen. Wahrscheinlich hatte Ali ihm Lokalverbot erteilt. Es war mein schlimmster Alptraum, und ich eilte zu meinem einzigen Trost. Süß und friedlich lag sie da und schlief. Ich holte sie in mein Bett. Da ist sonst niemand – niemals. Sie erwachte und erklärte mir, sie würde gerne eine Rolle Klopapier an ihre Schlafzimmer-
wand hängen. Dann müßte sie nicht aufstehen und mich wecken, um mich zu bitten, ein Stück Klopapier zu holen, wenn sie sich die Nase putzen wollte. Wenige Sekunden später schlummerte sie wieder ein und trat mich die ganze Nacht mit ihren winzigen Füßen. Harrys Ausstellungsraum befand sich in der hintersten Ecke vom hinteren Ealing, sah aber todschick aus. Riesige Fenster, gigantische Yucca-Pflanzen, ein hübsches kleines Büro und unzählige überdachte Parkplätze. Er zeigte mir seinen Katalog mit Motorradfahrern, riesige Harleys mit riesigen Kerlen drauf, die für Hell’s AngelsFilme und Anzeigen von Baufirmen geordert werden konnten; such dir aus, was dir am besten gefällt. Mindestens vierzig Autos standen da herum, hauptsächlich amerikanische, aber auch ein paar kleine englische Modelle aus den fünfziger und sechziger Jahren. Anglias und Morris Minors und diese komischen Vehikel im Tudor-Stil. Plötzlich erinnerte ich mich an die Straße in Ladbroke Grove, wo mein Elternhaus gestanden hatte; der Metzger, der Gemüsehändler, der Elektroladen, die Konditorei (Zitroneneis und Lucky Bags), das Postamt, die Wein- und Spirituosenhandlung, der Friseur mit den dauergewellten Gipsköpfen im Schaufenster, Goldhaar und lila Lidschatten; der Drogist mit den dickbauchigen grünen und roten Flaschen, die von Drachen bewohnt wurden – das behauptete mein Dad zumindest; und die Bäckerei, wo wir niemals einkauften, weil die Katze auf den Krapfen in der Auslage saß, und einmal sah ich, wie die ungarische Besitzerin die zerlaufende Creme von einem Kuchen wischte und sich dann den Finger ableckte. Aber das ist nicht der Grund, warum wir nicht hingingen, sondern weil sie Janie einmal beschuldigt hatte, einen Schokoladeriegel geklaut zu haben. Was nicht stimmte. Das weiß ich, weil ich dabei war. Der Zorn einer Fünfjährigen über die ungerechte Anklage gegen die unschuldige jüngere Schwester war fast mörderisch. Jetzt gibt es zwei Immobilienbüros in der Straße, eine Autovermietung, drei Kebab-Imbißstuben, drei Gemüseläden, die bis spät in die Nacht geöffnet haben (ein libanesisches, ein türkisches, ein pakistanisches), ein schwedisches Cafe. Nur das Postamt ist übriggeblieben. Oh, und das griechische Restaurant, das schon immer da war. Es wird von Costas betrieben, der mit uns in die Grundschule ging und all die Jahre mit Daddy über die verdammten Neuankömmlinge stritt, die unser Viertel verdarben. Jetzt besitzt Costas einen türkisblauen Rolls-Royce. Die Autos, die man früher auf der Straße gesehen hatte, standen jetzt in Harrys Ausstellungsraum.
»So wie damals…«, sagte ich und streichelte den süßen kleinen Chromdeckel eines Anglia-Scheinwerfers. »Da ist noch was, das deine Erinnerung wecken wird.« Er führte mich hinter die amerikanische Abteilung, wo mein Pontiac stand, in seinem ganzen schäbigen Glanz. Wie hübsch er aussah, in schimmerndem dunklen Madonnablau, mit einem Klappdach aus weißem Kunstleder und liebevoll gepflegtem Chrom. Als er noch vor meiner Bude in Clerkenwell gewohnt hatte, war Schimmel auf seinen Weißwandreifen gewachsen. Im Winter hatten Eiszapfen drin gehangen, im Sommer hatten widerliche kleine Insekten in der morschen Polsterung gehaust. Schließlich hatte ich ihn nur noch als Lagerraum genutzt. Unter der Haube, wo früher ein Motor gesurrt hatte, hatten sich meine Motorradwerkzeuge gestapelt. Inzwischen hatte sich jemand große Mühe mit dem Karren gegeben, und es fiel mir nicht schwer, überzeugend nach Luft zu schnappen. »Ist das mein Auto?« japste ich. Harry mißverstand mich. »Eh – nein – für dich hatte ich was anderes ausgesucht…« »Nein, nein, so meine ich es nicht. Ist das die alte Schrottkiste, die früher vor meiner Tür gewohnt hat? Und ich dachte, sie wäre zerquetscht worden…« Verdammt, das hätte ich nicht erwähnen dürfen. Hastig schwatzte ich weiter: »O Gott, ist der Pontiac nicht himmlisch? Weißt du, genau so einen habe ich vor kurzem gesehen – einen zweiten kann es nicht geben, also muß es dieser gewesen sein. Erst vor ein paar Wochen, irgendwo in South Ken. Ich versuchte gerade, in der Pelham Crescent zu parken, weil ich einkaufen wollte…« »Schon möglich, manchmal fahre ich ein bißchen damit rum«, sagte Harry. Mehr nicht. Vielleicht sollte ich ihn nicht zu sehr bedrängen. Ein Telefon klingelte, und er fischte es aus seiner Tasche. Du lieber Himmel, Harry war ein Yuppie, zehn Jahre später als all die anderen. Gut für ihn. »Ja, hi… Hm… Was, jetzt?… Nein, aber da ist jemand bei mir… Ja… Okay…« Er legte eine Hand auf die Sprechmuschel und wandte sich zu mir. »Kommst du mit? Du mußt meinen Boß kennenlernen. Und dann gehen wir essen.« Klar. Nur eine alte Freundin. Während er wieder telefonierte, zwinkerte er mir zu. »Also gut, in einer halben Stunde.« Wir stiegen in den Pontiac. Eine Wucht. Und sehr komfortabel. »Weißt du noch…«, begannen wir beide gleichzeitig, und Harry sagte: »Erst du.«
»Wie wir mathematisch zu klären versuchten, ob die bittere Armut – von einem Viereinhalb-Liter-fur-Achtzehn-Meilen-Motor verursacht – vom bequemen breiten Vordersitz ausgeglichen wird?« »Jedenfalls weiß ich noch, wie du da drüben an der Tür gesessen und geschmollt hast, eine halbe Meile von mir entfernt.« Und dann erinnerte ich mich ganz deutlich, wie ich der Länge nach auf diesem Sitz gelegen hatte, um ihm einen zu blasen, während er gefahren war. Und dann hatte er den Wagen an den Straßenrand gelenkt, nicht von heißer Leidenschaft, sondern von Gelächter überwältigt, und… Als wir Shepherd’s Bush erreichten, warf er mir einen Seitenblick zu. »Ja, daran erinnere ich mich auch.« Seit dem Unfall, Janies Tod und Lilys Geburt hatte ich nicht mehr mit einem Mann geschlafen. Warum, weiß ich nicht. Dafür gibt es tausend Gründe. Alle gut genug, aber kein einziger stichhaltig. Harry kannte mich, er hatte mich immer gekannt. Vielleicht wäre es unter diesen Umständen besser, nicht dran zu denken, was Harry immer gewußt und immer gekonnt hatte. Vor allem mit diesem Ausdruck in den Augen. »Warum öffnen wir das Dach nicht?« fragte ich plötzlich. »Willst du das? Das hätte ich nicht gedacht.« Also kennt er mich doch nicht. »Die meisten Mädchen wollen’s nicht, weil die Frisur ruiniert wird.« »Dann warst du mit den falschen Mädchen zusammen, Harry.« Das rutschte mir raus, bevor ich es verhindern konnte. Aber so was passiert nun mal, wenn man krampfhaft das Thema zu wechseln versucht. »Halt an, und wir treiben’s.« Da begann er zu lachen, und ich auch. »Nein, nein, nein!« rief ich. »Hör auf! Hör auf!« »Ich habe nicht damit angefangen«, erwiderte er und bremste am Straßenrand. »Aber wenn du willst…« Und dann warf er sich auf mich. Natürlich war es nur ein Scherz. Aber wenn ich gewollt hätte… Ich sprang aus dem Auto und fummelte an den Hebeln unter dem Dach herum. Aber das Dach war brandneu und funktionierte nicht so wie das alte (nicht, daß das alte jemals funktioniert hätte). »Moment, laß mich das machen. Angeline und Harry stehen am Straßenrand und versuchen, dem alten Schlitten gut zuzureden. Zeitlos, nicht wahr?« »Wohin fahren wir eigentlich?«
»Nach South Ken, zu Eddie.« »Da hätten wir durch Earl’s Court fahren sollen«, sagte ich. Eddie. Schon jetzt. Um Himmels willen. Okay, gut. Ich würde Eddie kennenlernen. Genau das wollte ich doch. Früher als erwartet, aber – nein, alles okay. Harrys Partner. Ein Verbrecher. Harry ist ein Verbrecher. Scheiße. Oder vielleicht nicht. Großer Gott, wenn der Partner eines Mannes ein Verbrecher ist, dann ist auch der Mann ein Verbrecher. Und ich weiß nicht einmal, was für eine Art Verbrecher dieser Eddie ist. Gar nichts weiß ich. Ich fahre zum Haus eines Verbrechers, mit einem Verbrecher in einem Verbrecherauto… Was für Verbrecher sind das? Sicher keine Einbrecher oder Diebe. Wahrscheinlich Gangster. Drogen, Prostitution, Hehlerei. Bankräuber. Betrüger. Fälscher. Pelham Crescent! Zweifellos gehören die beiden zur erfolgreichen Kategorie. Nun, es würde sich lohnen, die Wahrheit herauszufinden. Und was soll ich jetzt machen? Kopf hoch, lüg ihn an.
7 Eddies Haus Eddie Bates’ Haus war nur etwa achtzehnmal schicker als Harrys Ausstellungsraum. Klar, South Kensington ist eine stinkfeine Gegend. Dort wohnen keine Engländer – außer Eddie. Niemand ist reich genug. Oh, dieser weiße Stuck, der Glanz des schwarzen schmiedeeisernen Geländers, das sich vom glatten Yorksteinpflaster des Gehsteigs nach oben zog – nur durch jahrhundertelange, hingebungsvolle Pflege und regelmäßigen neuen Anstrich zu erreichen… Oh, die makellosen breiten Steinstufen, die zu der dezenten Tür mit dem blankpolierten, abweisenden Klopfer hinaufführten, zum verkniffenen kleinen Lächeln des Briefkastens aus schimmerndem Messing. Und die rundgestutzten Buchsbäumchen in den Zedernholzkästen… Alles war blitzsauber. So etwas Sauberes hatte ich nicht mehr gesehen, seit ich im Krankenhaus zu Lilys Brutkasten gehumpelt war. Und – oh, die strahlenden Augen der Orientalin mit Schürze, die uns schmutzige, gewöhnliche Sterbliche eintreten ließ… Ich hatte gedacht, Verbrecher wären vulgär. Aber dieses Haus schien einer Fachzeitschrift für Innenarchitektur zu entstammen. Auf dem edlen Parkett lagen Perserteppiche, die Möbel erinnerten mich an Sotheby’s-Kataloge. Und die Blumen sahen aus, als würden sie jeden Morgen aus dem Conrad Shop gegenüber gartenfrisch geliefert, von einer schönen Jungfrau in weißem Leinen, das Nonnen gewoben hatten. Die Luft schien dünner zu sein, und das Ausmaß der häuslichen Hygiene war nicht von dieser Welt. Seltsamerweise kam mir das alles wie eine verfeinerte Version meines eigenen Geschmacks vor – Kelims, abgelaugte Dielenbretter und Narzissensträuße, frisch vom Markt. »Großer Gott, Harry!« rief ich. »Soviel verdient man doch nicht mit Gebrauchtwagen!« »Eddie betreibt alle möglichen Geschäfte.« Darauf hätte ich wetten können. »Bitte, folgen Sie mir.« Das Mädchen führte uns in ein Wohnzimmer – nein, in einen Salon. Vermutlich war der Chagall echt. Und ein anderes Bild sah wie ein Degas aus. Harry warf sich auf eine Chaiselongue, und ich zögerte, ehe ich ein kleines Möbel aus blau-
goldenem Damast wählte, das mein unwürdiger Hintern vielleicht am wenigsten beschädigen würde. »Auch noch Sklavinnen«, murmelte ich und schaute dem Mädchen nach. »Angeline!« tadelte Harry. O Gott, womöglich gab es hier irgendwo Wanzen. Wäre ich ein millionenschwerer Gangster, würde ich meinen Salon ganz sicher mit Wanzen ausstatten. Und dann erschien er. Eddie Bates. Charmant. Mit grauem Haar, markantem Profil und leuchtenden Augen. Ende Fünfzig. Ein Shakespeare-Schauspieler der alten Schule. Irgendwie kam er mir bekannt vor, wie die meisten dieser markanten Typen. Er sah so aus, als hätte er sich bewußt dafür entschieden. »Harry, mein Junge!« Was für eine wundervolle Stimme… »Eddie, das ist Evangeline Gower.« Mein voller Name. Nicht mehr und nicht weniger. Sehr förmlich. »Hallo.« Lächelnd sprang ich auf und streckte meine Hand aus. »Evangeline…«, sagte Eddie Bates. Nun wußte ich, warum meine Mutter den Namen ausgesucht hatte: für diesen Augenblick. Damit Eddie ihn aussprach. Niemand war je zuvor meinem Vornamen gerecht geworden. Ich entzückte ihn, er entzückte mich. Wie entzückend. Ein Glas Sherry? O ja. Wohlgefällig musterte er mich. Nett von Harry, mich aus dem Ärmel zu zaubern. Dann baten sie mich, sie für ein paar Minuten zu entschuldigen. Sie verschwanden, um irgendwelche Geschäfte zu erledigen, und während ich mir selbst überlassen war, überlegte ich, ob Chagalls Meerjungfrau so entsetzt dreinschaute, weil Degas’ Tänzerin ihre Beine zeigte. Sollte ich am Schlüsselloch lauschen? Nein. Es gab andere Dinge, die ich mir einprägen konnte. Zum Beispiel die Anordnung der Räume, die Anzahl der Dienstboten. Die Telefonnummer. Den Inhalt der Kommode, drüben in der Ecke. Den nächsten Ausgang. Die Entfernung zwischen dem Fenster und der Straße. Für alle Fälle. Als ich eine Schublade der Kommode öffnete, schlug mein Herz wie rasend. Ein Staubtuch. Noch ein Schubfach. Auf einem Samttuch lag ein kleiner schwarzer Revolver. Ich schloß das Schubfach, wischte den Griff mit meinem Ärmel ab und fühlte mich elend. Vielleicht gab es irgendwo versteckte Kameras, die die Wanzen ergänzten, und die Meerjungfrau starrte mich nur deshalb so komisch an. Wenn ich ein Badezimmer suchte, um mich zu übergeben, würden
sie glauben, daß ich herumschnüffelte. Das tat ich ja auch. Ich goß den Sherry in meine Kehle und setzte mich. In diesem Augenblick kehrte das Mädchen zurück. »Oh, dürfte ich das Bad benutzen?« bat ich in heiterem Ton. Verständnislos hob sie die Brauen. »Badezimmer, Toilette?« Hoffentlich stand ihm ein versierteres Personal zur Verfügung, wenn er Parties gab. »Klo?« fragte ich schließlich und vergaß die Vorurteile meiner Erziehung. Offenbar gehörte das zu den drei Wörtern, die sie kannte. Sie führte mich in die Halle und eine Treppe hinauf, die Vivien Leigh alle Ehre gemacht hätte. Dann schob sie mich in ein Bad, nicht größer als meine Wohnung, aber viel wärmer. Hier bestätigten sich erfreulicherweise einige meiner Vorurteile. Ein flauschiger Teppich, durch den man waten konnte, goldene Wasserhähne in Gestalt von Delphinen. Vor allem begeisterten mich die dreieckige Wanne mit dem Jacuzzi-Zubehör und der Kühlschrank daneben. Ich versperrte die Tür, spritzte kaltes Wasser in mein Gesicht und tastete die Klomuschel nach kleinen Plastikpäckchen mit Heroin ab. Klar, ich gehe ins Kino, ich weiß Bescheid. Nichts. Im Kühlschrank auch nichts, abgesehen von einer Champagnerflasche und einem weiteren schwarzen Revolver. Wahrscheinlich rechnet er mit einem Notfall, dachte ich und setzte mich auf die Klomuschel. Und deshalb liegt in jedem Raum ein Schießeisen… Diese Erkenntnis beruhigte mich nicht. Ein paar Minuten lang versuchte ich es mit Yoga (Augen schließen, einatmen und dabei bis vier zählen, Atem anhalten und bis zwei zählen, beim Ausatmen bis acht zählen und sich von innen auf das dritte Auge konzentrieren) und mit noch mehr kaltem Wasser. Dann schlenderte ich wieder nach unten und schaute mich nach stumpfnasigen schwarzen Läufen um, die vielleicht hinter den Kunstwerken an den Wänden (Jahrhundertwende) hervorlugen würden. Wie ein Aufenthalt in diesem Haus meinen Charakter bessern und meinen Anspruch auf das Sorgerecht für Lily untermauern sollte, verstand ich nicht. Hin- und hergerissen zwischen der Situationskomik und meiner Angst, amüsierte ich mich. Genauer gesagt, genoß ich es sogar. Harry und Eddie erwarteten mich in der Halle. »Ah, da sind Sie ja!« rief der Hausherr, lud uns zum Lunch ein, und ich murmelte, ich müsse Lily abholen. »Wer ist Lily?« Man hätte meinen können, nichts, was mit mir zusammenhing, wäre zu gering, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Eigentlich wollte ich es ihm nicht sagen, weil ich fürchtete, es bringe Unglück, ihren Namen in diesem Haus zu nennen. »Mein Kind«, murmelte ich und versuchte, über Chagall zu reden. »Oh, ein kleines Mädchen! Wie nett!« jubelte er und beteuerte, wie sehr er Kinder liebe. Sie würden die Welt erhellen und allem einen Sinn verleihen, nicht wahr? Irgendwann müsse ich unbedingt einen Babysitter engagieren und zum Dinner kommen. »Am besten schon heute abend!« fügte er strahlend hinzu. Offenbar hielt er das für die großartigste Idee seines Lebens. »Harry, bring dieses charmante Mädchen zum Dinner mit.« Harry wand sich affektiert, und das war’s dann. »Wieviel hat er für dich bezahlt?« flüsterte ich auf der Türschwelle. »Mehr, als du dir in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst«, erwiderte er grinsend. »Und er schuldet mir noch was.« »Mein Gott, Harry, was für ein Typ ist das?« Ich fand es durchaus realistisch, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. »Und was hast du mit ihm zu tun?« »Er ist ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann, der mir geholfen hat, den Laden aufzubauen. Und abgesehen von dem Spaß, bringt ihm diese Investition eine ganze Menge ein, also hat sich’s für ihn gelohnt. Manchmal fühle ich mich wie sein Privatmechaniker, aber meistens betrachte ich ihn als meinen Gönner. Er liebt Autos. Wann immer er Lust hat, mietet er welche, weil er keine kaufen will. Er haßt Dinge, die nur rumstehen und nichts einbringen. So einfach ist das.« Wir kletterten in den Pontiac. »Jetzt bring ich dich heim«, erklärte er und vergaß, daß wir essen gehen wollten. »Und heute abend hol ich dich ab. Kriegst du einen Babysitter? Wenn du willst, leihe ich dir Jean aus meinem Geschäft.« Oh, Menschen gehören dir also auch? Ich erklärte ihm nicht, daß Kinder ihrem Babysitter zumindest vorgestellt werden wollen. Ein bißchen Höflichkeit gegenüber einem Kind war angesichts der Umstände vielleicht nicht erwähnenswert. Nicht erwähnenswert, aber herzerwärmend. Ich malte mir aus, wie Brigid und Lily sich auf dem Sofa gegenseitig »Little Rabbit Foo Foo« vorlesen würden. Und dieses Bild verscheuchte die schwarzen Revolver aus meiner Phantasie. Als ich in Shepherd’s Bush aus dem Auto stieg, wußte ich, warum
Eddie mir so bekannt vorgekommen war. Er war der Mann, der an jenem Abend das Tischtuch angezündet hatte.
8 Dinner mit Eddie Sobald ich daheim angekommen war, rief ich Cooper an. »Ach ja«, sagte er unverbindlich, »ich rufe später zurück.« Was sollte das? Vielleicht gefiel es ihm einfach nur, den Geheimnisvollen zu mimen. Vor wem sollte er in seinem eigenen Büro etwas verbergen wollen? Er rief tatsächlich zurück, und ich erzählte, was passiert war. Aber ich verschwieg, daß ich das Haus an diesem Abend noch einmal besuchen würde. Nicht zuletzt, weil ich überlegte, ob ich wirklich hingehen sollte. Offensichtlich gefiel ihm die Entwicklung der Dinge. »War’s das?« fragte ich hoffnungsvoll. »O nein, Liebes, nein, nein, nein«, gurrte er, und ich verstand, was er eigentlich sagen wollte. »Wann siehst du den jungen Mann wieder?« »Wann immer ich will.« »Und den älteren Mann?« Nach einer kurzen Pause antwortete ich: »Auch den könnte ich treffen.« »Genau das mußt du tun. Möglichst bald – ohne ihn zu alarmieren. Am besten besuchst du ihn und schnüffelst ein bißchen rum.« Seine Frechheit war fast unerträglich. »Davon hast du nichts gesagt.« »Wenn ich mich recht entsinne, sagte ich, du solltest weitere Instruktionen abwarten. Und die kriegst du jetzt. Bring mir einfach seinen Terminkalender und sein Adreßbuch und hilf mir, böse Männer dahin zu verfrachten, wo sie hingehören – okay, Schätzchen? Vermutlich ist beides in schwarzes Leder gebunden. Wenn du in seinen Computer schauen kannst, um so besser. Such nach Dateien mit Namen und Adressen. Nimm ein oder zwei leere Disketten mit. Sicher hat er einen IBM. Damit kennst du dich doch aus. Ich schick dir ein paar Disketten. Sperr die Ohren auf und halte den Mund, dann ist die Sache für dich wahrscheinlich erledigt.« Ich hätte es wissen müssen. Er erpreßte mich, und ich konnte nichts dagegen tun. Jetzt steckte ich ganz tief in der Klemme. Wenn
einen die Leute mit Scheiße überhäufen, dann gleich turmhoch. »Warum ich, Ben?« fragte ich müde. »Weil du zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort bist, Angie, und ich bitte dich doch nur um einen ganz kleinen Gefallen.« Ich hasse jeden, der mich Angie nennt. Komischerweise war es Harry, mit dem ich über alles reden wollte. Dieses emotionale Bedürfnis erfaßte mich ein paar Nanosekunden, bevor das Gehirn mahnte: Nicht Harry. Er ist ein Verbrecher. Erinnerst du dich? Er ist der Feind. Erinnerst du dich? Also rief ich Neil an, um meinerseits eine kleine Erpressung vorzunehmen. Wäre der selbstgefällige Narr nicht aus dem Auto gesprungen, hätte ich niemals… Und all das wäre nicht passiert. Außer Neil habe ich niemanden, der sich um mich sorgen würde. Nachdem seine Sekretärin jedoch erklärt hatte, er würde erst morgen wiederkommen, rief ich Fergus Droyle an. Das ist ein lustiger Typ, seit einer Million Jahren Kriminalreporter, und er bildet sich ein, er wäre immer noch Kriegsberichterstatter. Säuft zuviel, läßt sich dauernd scheiden, jammert unentwegt und bereut alles, was er getan hat. Hauptsächlich beklagt er den Verlust von Dingen, die er nie besaß. Und er kann das Grauen, das er gesehen hat, nicht vergessen. Wir lernten uns unter Vorspiegelung falscher Tatsachen kennen. Manche Reisebüros bieten in Zeitungen und Magazinen kostenlose Ferien an, in der – natürlich unausgesprochenen -Hoffnung auf werbewirksame Artikel. Und die Redaktion einer Frauenzeitschrift meinte, eine dieser Reisen – nach Algerien – würde mir eine grandiose Gelegenheit bieten, die Ouled Nail zu besuchen und eine mitreißende Reportage über ihre jetzige Lebensweise zu schreiben. Fergus’ Zeitung fand, er könnte in Algerien einer Drogenconnection nachspüren, auf die er gestoßen war. Zusammen mit acht anderen Journalisten (eigentlich nur sechs – der Neffe eines Redakteurs und die Sekretärin eines Reisereporters, die eine Belohnung verdient hatte, durften sich anschließen) wurden wir für eine Woche in ein Luxushotel verfrachtet. Keine Sekunde lang ließ man uns aus den Augen und zwang uns dauernd Bier oder Kamelritte auf. Was für ein himmlischer Urlaub. Fergus versuchte, sich abwechselnd an alle weiblichen Mitglieder unserer kleinen Reisegesellschaft heranzumachen, und murmelte immer wieder: »So schön diese ausländischen Berge auch aussehen, daheim sind sie genauso schön.« Und ich brachte ihm Arabisch bei (das bißchen, das ich kannte). Wir tranken
viel und bekamen Sonnenbrände. Kaum zu glauben, daß ich mich wieder in demselben Land aufhielt, durch das ich acht Jahre zuvor gereist war… Nein, das stimmte nicht. Dieses Mal war ich im DritteWelt-Holiday-Park. Wirklich großartig, wenn man absolut alles ignoriert, was man über die Realität weiß… »Droyle, Kriminalredaktion«, meldete er sich angeberisch, als ich ihn anrief. »Fergus!« Wie immer freute ich mich, im Hintergrund surrende Maschinen und andere hektische Redaktionsgeräusche zu hören und zu wissen, daß ich dieser Welt nicht angehörte. Trotzdem muß man in den branchenüblichen brüsken Jargon verfallen, sonst glauben diese Leute, man wüßte nichts mit seiner Zeit anzufangen, und dann wird man nicht für voll genommen. »Angeline. Hast du zwei Minuten Zeit.« »Für dich? Bring mich nicht zum Lachen. Aber ich wollte gerade zu einer Besprechung gehen. Was gibt’s?« »Wer ist Eddie Bates?« Schweigen. »Warum?« Oh, verdammt. Ja – warum? Hätte ich mir bloß was anderes ausgedacht! Das tat ich jetzt. »Ein Freund von mir will einen Deal mit Eddie abwickeln.« »Warum fragst du ausgerechnet mich nach ihm?« »Oh, ich dachte, du würdest ihn kennen oder was über ihn wissen. Einmal hast du ihn erwähnt…« »So? Das bezweifle ich.« »Aber – du kennst ihn?« »Wenn ich irgendwas Interessantes über Eddie Bates wüßte, würde ich mich nicht mit diesem Scheißjob herumplagen. Genau das ist es ja – niemand weiß was über ihn.« »Irgendwer muß was wissen. Sonst wüßte niemand, daß man was wissen könnte.« »Genau.« »Und was wißt ihr alle? Ich weiß nämlich gar nichts.« »Wir alle wissen nur, daß er ein Schurke ist, Ange. Also sag deinem Freund, falls er kein Schurke ist – was ich annehme, da er ansonsten Bescheid wüßte –, er soll die Finger von Eddie lassen.« »Was für ein Schurkentyp ist er denn?« Fergus erklärte, er müsse jetzt zu dieser Besprechung. Wenn es mir recht sei, würde er mich später anrufen. Ja, bitte, sagte ich, heute nachmittag.
Danach holte ich Lily vom Kindergarten ab. Wir schauten uns zweimal hintereinander das Schneemann-Video an, obwohl draußen eine warme, helle Sonne schien, und aßen Fischstäbchen mit Mayonnaise und Gurken. Etwas später gingen wir zu Brigid und fragten, ob sie an diesem Abend kommen könne. Klar, sagte sie, Maireadh würde sich um Caitlin und die Jungs kümmern (Anthony, Michael und Christopher, drei kleine Rowdies in zauberhaften Pullovern, von liebevollen Tanten in Fermoy, County Cork, gestrickt). Wohin ich gehen würde, wollte sie wissen. Dinner mit Harry, erklärte ich. »Harry? Dein alter Freund?« Aufgeregt begann sie meine Heiratschancen zu erörtern. Gott segne sie. Wann immer ich sie verkuppeln will – meistens mit Liam, dem Besitzer des Snooker-Clubs an der Ecke, wo sie an manchen Abenden hinter der Bar jobbt –, schwört sie, ein Mann könne ihr ohnehin nicht mehr bieten als eine Kinokarte und ein Glas Dubonnet. Das trinkt sie. Dubonnet. »Eine Frau braucht einen Mann so dringend wie ein Fisch ein Fahrrad«, meint sie, was in ihrem irischen Akzent irgendwie hysterisch klingt, und außerdem hängen in ihrer ganzen Wohnung Bilder vom Papst. »Der Papst ist ein pishogue« (irisch – Hexer), behauptet sie, »aber ich habe großen Respekt vor pishogues.« Was zum Teufel ist ein pishogue?. Irgendein Aberglaube. »Harry ist hübsch«, sagte Lily. »Tatsächlich?« rief Brigid. »Um so besser für Angeline.« Dann gingen wir in den Park und aßen Flapjack mit Eiscreme. Lily erzählte mir, in ihrem Kindergarten sei ein Junge namens Jack, den sie Flapjack nennen würde. In der Sonne bessert sich ihre Haut. Letztes Jahr konnte ich sie kaum mit nackten Armen herumlaufen lassen. Man sah beinahe, wie der Londoner Schmutz in ihre aufgesprungene Haut kroch. Täglich zwei Ölbäder. Morgens und abends. Vaseline, Spezialbezüge für Kissen und Matratzen, nur Baumwollkleidung, ein spezielles Waschpulver, jeden Tag Staubsaugen, kein Fastfood, keine Kuhmilch und keine Nahrungsmittel, die Kuhmilch enthalten, drei verschiedene Homöopathen (»Wie verlief die Geburt?« fragen sie höflich, um ihre Notizen zu vervollständigen. »Irgendein Trauma?«), ein Schädelosteopat, ein chinesischer Naturheilkundiger und eine Aloe Vera, deren fleischige Blätter man abschneiden und aufschlitzen muß, um den Inhalt direkt auftragen zu können. Und all das nur auf die vage Hoffnung hin, daß es Lily helfen könnte.
Zwei Jahre lang wachte sie jede Nacht mindestens zweimal auf. 730 Nächte in meinem Bett, denn wenn sich ein Baby so lange kratzt, bis es weint, läßt man es nicht allein. Ich konnte nicht dauernd aufstehen, und in ihr Gitterbettchen paßte ich nicht rein. Jetzt wacht sie immer noch Nacht für Nacht auf, fünf vor zwölf. Danach kann man die Uhr stellen. Wenn ich ausgehe, versuche ich, zehn Minuten vor Mitternacht heimzukommen. Als ich fragte, was sie sich zum dritten Geburtstag wünschen würde, sagte sie: »Milch und Joghurt.« Wie kann Jim es bloß wagen, das Sorgerecht zu beantragen? Er ist der Vater, flüsterte eine winzige innere Stimme, und ein Kind braucht einen Vater… So einen nicht. Wer bist du, daß du glaubst, das entscheiden zu können? Immerhin bin ich die große Schwester ihrer Mutter. Und Janie wollte ihn verlassen. Aber sie tat es nicht. Wenn man irgendwas wirklich will, tut man es auch. Jedenfalls hatte sie es vor. Erzähl das mal einem Richter. Jim durfte nicht erfahren, daß ich mich mit Harry traf. Früher hatten sie sich gekannt. Wenn Jim auch dumm ist – so dumm nun auch wieder nicht… Wie stellt das Gericht fest, ob man eine gute Mutter ist? Was geschieht, wenn sie die ganze Geschichte herausfinden. Ich muß mir eine plausible Erklärung zurechtlegen. Wäre Neil bloß hier – obwohl ich es hasse, auf ihn angewiesen zu sein. Ein Kind braucht einen Vater. Nie zuvor hat sie nach einem Vater gefragt. In der Nachbarschaft gibt es genug Kinder, die keinen haben. Also mußte ihr dieser Zustand ganz normal vorkommen. Ich dachte immer, ich würde ihr die Situation erklären, wenn sie danach fragt, so, wie ich es für richtig halte. Sie darf sich nicht ungeliebt fühlen, nein, das wäre unerträglich. Aber aus welchem anderen Grund würde der Vater sich nicht um sie kümmern? »Dein Vater hatte keine Zeit für dich, Darling.« Nun, Lily hat das Recht, Bescheid zu wissen, das ist uns allen klar. Ich betreue und beschütze sie nur, bis sie groß und stark genug ist, um sich damit auseinanderzusetzen. Wie lange will ich mich noch an diese tröstlichen Allgemeinplätze klammern? Sie unterbrach meine Gedanken und begann zu singen, vom Bauern, der eine Frau will. Oh, und die Frau will ein Kind, und das Kind
will einen Hund, und der Hund will einen Knochen. »Kaufen wir einen Hund?« »Nein, mein Schatz, das geht nicht.« (Du hast schon einen Hund, deinen Vater, und dieser Hund von einem Vater will ein Kind.) Mein Liebling, ich muß die persönlichen Sachen eines Verbrechers klauen. In jedem Zimmer liegt ein Revolver, und ich muß ihn bestehlen, weil dein Vater dich sonst zu sich holen und ins Unglück stürzen wird… Hätte ich die Anzeige wegen Trunkenheit am Steuer einfach akzeptieren sollen? Ich hätte erklären können, wie es passiert war. Sicher hätte Neil für mich ausgesagt, und ich wäre vielleicht mit einem blauen Auge davongekommen. Nun, ich wollte es anders. Diese Schießeisen töten Menschen. Dazu sind sie da. Deshalb haben die Leute solche Revolver. Wenn ich sterbe, wird deine Grandma für dich sorgen… Oh, mein Gott, worauf habe ich mich da eingelassen? Als wir nach Hause kamen, rief ich Fergus noch einmal an. Er war nicht im Büro, also hinterließ ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Dann rief ich in seiner Wohnung an und hinterließ auch dort eine Nachricht. Für das Dinner zog ich mich hübsch an. Wenn man jemanden einwickeln will, muß man hübsch aussehen, und schließlich hatte ich meine Anweisungen. Glaubte Cooper allen Ernstes, ich würde das hinkriegen? Dann war er ein Narr. »Damit dürfte die Sache dann erledigt sein«, hatte er gesagt. Kann ich ihm trauen? Nein, verdammt noch mal. Er konnte ewig weitermachen mit solchen Aufträgen. Ich zog in Betracht, die Sache einfach platzen zu lassen, ohne überhaupt einen Versuch zu unternehmen. Was würde er tun? Sicher würde er mich drängen, zielstrebiger vorzugehen. Aber ich mochte mir gar nicht vorstellen, was er tun würde. Wenn ich Erfolg hatte, würde er mich vielleicht in Ruhe lassen. Also mußte ich es versuchen. Nachdenklich musterte ich meine spärliche Garderobe. Welches Outfit würde »dummes, behämmertes, unschuldiges, ahnungsloses Mädchen« signalisieren, ohne »dummes, behämmertes, unschuldiges, ahnungsloses, sexuell verfügbares Mädchen« anzudeuten? Ich brauchte was Bequemes, was feminin genug wirkte und sich dennoch für eine überstürzte Flucht eignete. Flache, weiche Schuhe, eine Hose, eine hübsche Bluse – die grünseidene war frisch gewaschen,
sehr gut – und kein zu tiefer Ausschnitt. Warum hatte er mich eingeladen? Erinnerte er sich an mich? Erkennt ein Psychopath zehn Jahre später das Gesicht eines Mädchens, das er anzünden wollte? Was für ein Wahnsinn! Warum hatte er es getan? Um sich einen besonderen Kick zu gönnen, um was zu wagen? Was hatte er riskiert? Nun, Ali hätte die Polizei rufen können. So ein Typ war er nicht, aber hatte Bates das gewußt? Ali würde alles vermeiden, was Krawall oder unangenehme Fragen heraufbeschwor. Mr. Diskret. Ein bißchen Bargeld, das im richtigen Augenblick den Besitzer wechselte, wäre ihm lieber als Polizisten und empörte Kunden. In seiner Kneipe fanden die Kerle einen sicheren Hafen, einen maskulinen Himmel – morgenländische Don Juans, die sich mit leichten Mädchen vergnügten. Und alles mußte reibungslos laufen. Bloß kein Aufsehen. Plötzlich kam mir der häßliche, paranoide Gedanke, Bates könnte Ali vorher bezahlt haben, damit er mich anzünden durfte. Nein, darauf wäre Ali sicher nicht eingegangen. Bates erinnerte sich nicht an mich. Damals hatte er mich als Tänzerin in Brand gesteckt, als Symbol, als eine Frau, die im erotischen Kostüm ihre Rolle spielte. Ich persönlich interessierte ihn nicht. Jedenfalls hoffte ich, er würde sich nicht an mich erinnern. Das würde alles leichter machen. Zumindest nicht ganz so schwierig. Zehn Minuten Yoga, ein bißchen Make-up, ein Gutenachtkuß für Lily, die in der Badewanne saß. »Du stinkst nach Lippenstift«, sagte sie und rümpfte die Nase. Warum hatte er mich eingeladen? Wir dinierten im Speisezimmer, das im ersten Stock lag. Aber vorher verbrachten wir eine Stunde lang damit, in der Gesellschaft der Meerjungfrau und der Tänzerin eiskalten Wodka zu trinken. Nur wir drei. Eine unheimliche Atmosphäre. Ich fühlte mich viel zu nervös, um nicht zu trinken. Und offensichtlich war das ohnehin der Sinn des Abends. Bates triefte vor Charme. Kleine Kanapees, immer neue Platten, Zigaretten, Feuerzeug. Als er den Malachitklumpen an meine Benson hielt, schaute er mir tief in die Augen. Beängstigende Sekunden. Flammen – und sein Gesicht. »Nun, was tun Sie, Evangeline?« fragte er überaus höflich und lehnte sich in seinen Chesterfield-Sessel zurück, nachdem er alle meine Bedürfnisse befriedigt hatte.
»Ich bin Schriftstellerin«, erwiderte ich, bevor Harry etwas sagen konnte. »Artikel und so weiter.« »Fabelhaft«, gurrte er wie Shere Khan. »Und worüber schreiben Sie?« »Meistens über Kunst und Kultur«, improvisierte ich. »Ich habe mich auf arabische und islamische Themen spezialisiert. Eine Zeitlang lebte ich in Nordafrika und ging auf Reisen, um Land und Leute zu studieren. Dank meiner hilfreichen Kontakte verbrachte ich einige Wochen in Harems, und darüber schrieb ich einen Bericht.« »Wie faszinierend! Und für welche Zeitschrift arbeiten Sie? Habe ich vielleicht schon etwas von Ihnen gelesen?« »Nun, das ist ein sehr spezielles Gebiet«, erklärte ich und hoffte inständig, er hätte sich nicht auch darauf spezialisiert. Am besten wäre es gewesen, wenn er gar nichts darüber gewußt hätte, denn ich konnte nicht endlos darüber reden, ohne den Bauchtanz zu erwähnen. Ich wollte keine Erinnerungen wecken. Natürlich hätte er jede Menge Frauen in den verschiedensten Lokalen anzünden können, man weiß ja nie. In London hatte er es jedenfalls nicht getan, denn diese Art von Dingen hätte sich unter uns Bauchtänzerinnen herumgesprochen. »Eine Welt, von der ich nichts weiß«, bemerkte er – eine Antwort auf meine Gebete. Oder versuchte er, mich in die Irre zu fuhren? Sei nicht paranoid, ermahnte ich mich. Sei gerade bei ihm paranoid. »Einfach fabelhaft, daß sich eine Engländerin für fremde Kulturen interessiert…« Er ließ mich nicht aus den Augen. Wahrscheinlich bedauerte er, daß ich eine Hose trug. Sonst hätte er sicher meine Beine angestarrt. Ich lächelte, keck und kokett. »Und unter welchem Namen schreiben Sie?« » Oh, unter meinem eigenen, Angeline Gower.« »Was für ein schöner Name…« Nun begann eine schrecklich alberne Konversation. Warum Angeline und nicht Evangeline? Was sagen Namen über Menschen aus? Und so weiter und so fort. Glücklicherweise erwähnte ich nicht, daß »Eddie Bates« Assoziationen mit einem East End-Schmalspurgauner in mir weckte. Harry leistete keinen Beitrag zu unserem Gespräch. »Und was machen Sie, Eddie?« fragte das kecke Mädchen. »Dies und das. Hauptsächlich Immobilien. Ein paar Restaurants, ein paar Dauerprojekte, Investments, Informatik. Und wie Sie wissen, ist Harry in der Autobranche tätig. Mein kleines Hobby.« Wie herablassend das klang! Harry schien sich nicht darüber zu
ärgern, was mich überraschte. Früher war er so stolz und reizbar gewesen. Was hatte ihn im Lauf der Jahre verändert? Und wie waren sich die beiden über den Weg gelaufen? »Wie haben Sie sich denn kennengelernt?« wollte ich wissen. »Nun ja, ich wußte, daß Harry ein verläßlicher Junge ist. Und als er mir ein Geschäft vorschlug, ging ich darauf ein.« Nein. Falsch. Harry war niemals verläßlich gewesen. Nur ein besoffener Mungo würde ihn für verläßlich halten. Trotzdem sprang bei diesem Geschäft viel Geld heraus. Zumindest gewann ich diesen Eindruck. Vielleicht Geldwäsche. Ja, das ergab einen Sinn – Harrys Laden war Eddies privates Steuerschlupfloch, die Wäscherei, die allen Dreck wegputzte. O Gott, Harry. Gekauft. Niemals hätte ich gedacht, du wärst käuflich. »Und ich liebe Autos, wissen Sie«, fuhr Eddie fort, »meine kleine Leidenschaft.« Ja, ja… Meine Gedanken überschlugen sich. Vom Gesims blinkte das kleine rote Auge einer Alarmanlage herunter. Also war es sinnlos, das Klofenster im Erdgeschoß offenzulassen und später reinzukriechen. Ich durfte keine Zeit verlieren. »Wie lange arbeiten Sie schon zusammen?« Nur Blabla. »Über ein Jahr, nicht wahr, Harry?« Harry grunzte zustimmend. Bis jetzt hatte er kaum ein Wort gesagt, und ich wünschte, er würde endlich den Mund aufmachen. Nur ein Jahr. Ich hatte geglaubt, sie würden schon länger unter einer Decke stecken. Ein Jahr – zu kurz, um ein solches Geschäft profitabel zu machen. Das Dienstmädchen mit der ausdruckslosen Miene spähte durch die Tür. »Kommen Sie!« Bates lächelte wie ein Krokodil. »Essen wir.« Die Mahlzeit wartete auf einem Servierwagen, und Bates selbst stellte die Teller vor uns hin. Noblesse oblige hing wie billiges Parfüm in der Luft. Natürlich sollten wir uns geehrt fühlen. Bei Räucherfisch und Koriandersuppe blühte Harry glücklicherweise ein bißchen auf. Beflissen schenkte er den Pouilly Fume ein. In der Ecke atmete der Fleurie sanft vor sich hin – drei Flaschen, alle offen. Der Tisch war nur für drei Personen gedeckt. Offensichtlich plante der Hausherr ein Besäufnis. »Haben Sie schon die islamische Ausstellung in der Royal Academy gesehen?« erkundigte er sich. Noch mehr Small talk? Wie lange würde es noch dauern?
»Ja, einfach fabelhaft«, antwortete ich, um sein Vokabular zu gebrauchen. »Ich möchte sie nicht versäumen. Vielleicht wären Sie so freundlich, die Ausstellung noch einmal zu besuchen – zusammen mit mir. Ihre Fachkenntnisse würden das Erlebnis sicher bereichern.« Ah. Die leeren Suppenteller wurden abgeräumt, die gebratene Ente traf ein. »Bevor Sie gehen, muß ich mir Ihre Telefonnummer notieren. Harry, das macht dir doch nichts aus?« Harry grinste albern. Fast hätte er gekichert. Ich begann ihn zu hassen. »Harry, würdest du meinen Terminkalender holen? Unten, in der Schreibtischschublade.« Als er das Wort mit T aussprach, errötete ich beinahe. Harry stapfte gehorsam davon. Wuff, wuff! Was für einen Knochen will der kleine Hund? Bates zog ein längliches, schmales, schwarzes Buch aus der Innentasche seines Jacketts. »Nun?« Mechanisch diktierte ich ihm meine Telefonnummer und beobachtete, wie das Adreßbuch aus meiner Reichweite verschwand. Um da dranzukommen, mußte ich mit ihm bumsen. »Ich möchte unseren gemeinsamen Freund nicht in Verlegenheit bringen«, murmelte er, erweckte aber den Eindruck, als amüsiere ihn das köstlich. »Deshalb erwähnte ich in seiner Gegenwart nicht, daß Sie die schönste Frau sind, die ich seit langem gesehen habe. Übrigens, Ihr Wunsch ist mir Befehl. Wie ich höre, tanzen Sie.« Sekundenlang stand die Zeit still. Merkte er es auch? Ich nippte an meinem Glas, einer Kristallflöte, etwa dreißig Zentimeter hoch. Ein schlechter Schachzug. Nun fing der Wodka zu wirken an. »Oh, hat Harry davon erzählt? Ja, früher habe ich getanzt.« Cool bleiben. Meine einzige Rettung. »Aber dann hatte ich einen Unfall. Sie wissen doch…« Großer Gott, wußte er es? Ich wollte den ungefährlichsten Teil des Themas weiterverfolgen, das er angeschnitten hatte. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, daß ich an einem noch gebrechlicheren Ast des Konversationsbaums hochkletterte. »Um Himmels willen!« rief er bestürzt. »Hoffentlich nichts Ernstes?« »Ein Bein ist ein bißchen steif, und das Tanzen macht keinen Spaß mehr.« Wieviel hatte Harry ihm erzählt? »So schönes Haar…« Er starrte mich an. »Eine wunderbare Far-
be.« Nein, ich bumse nicht mit ihm. Nicht für Ben Cooper, nicht für meine Sicherheit, nicht für Lily. »Wie gern hätte ich Sie tanzen sehen… Vielleicht kann ich Sie doch dazu überreden.« Endlich kam Harry mit einem dicken, in Leder gebundenen Terminkalender zurück. »Wie wär’s nächste Woche?« fragte Bates. »Mittwoch oder Donnerstag? Morgen abend reise ich ins Ausland – nur für ein paar Tage. Kann ich Sie anrufen, wenn ich zurückkomme?« Er machte sich eine Notiz in seinem Terminkalender. »Fabelhaft«, sagte ich, Ente und Asche im Mund. Nach der creme caramel, dem Kaffee und einigen petits fours führte er uns in ein kleineres Wohnzimmer im Oberstock, wo Cognac und Kokain warteten, hübsch angerichtet auf einem Tablett. Er drückte mich auf ein Sofa und befahl Harry, den Terminkalender wieder nach unten zu bringen. »Und verschließ die Schublade, mein lieber Junge.« Das Jackett hatte er ausgezogen und im Speisezimmer zurückgelassen. Eine Chance war besser als gar keine. Ich mußte aufs Klo gehen. Als ich aufstand, hielt er meinen Arm fest, umschlang meine Taille, starrte das bißchen Busen an, das in meinem Ausschnitt zu sehen war, und neigte sein Gesicht zu mir. »Sie sind doch nicht mehr mit ihm liiert?« O nein, keineswegs. »Gut. Ich freue mich schon auf nächste Woche.« »Ich auch«, log ich. Als Harry zurückkam, ging ich aufs Klo und machte einen Umweg übers Speisezimmer, wo ich das Adreßbuch aus der Jakkettasche zog und hinten in meine Hose stopfte. Natürlich war das albern, aber ich hatte keine Wahl. Hoffentlich würde er meine Taille nicht mehr umschlingen. Doch meine Sorge war überflüssig. Als hätte er erkannt, daß er mich nicht hier und jetzt bumsen konnte, schien ihn die kleine Party plötzlich zu langweilen. Er schnupfte ein bißchen Koks und bot uns eine Line an, die wir ablehnten. Erst jetzt fiel mir auf, daß Harry kaum etwas getrunken hatte. Er fuhr mich nach Hause – so schweigsam wie den ganzen Abend. »Was hatte das alles zu bedeuten?« fragte ich. Er grunzte nur. Bevor wir Shepherd’s Bush erreichten, sagte er:
»Ich wußte nicht, daß er sich so aufrühren würde. Eigentlich hätte ich es mir denken können. Tut mir leid.« »Du kannst ja nichts dafür. Aber es war verdammt schwer, den Kerl abzuwimmeln.« »Tut mir leid.« »Harry – weiß er, daß ich mal Bauchtänzerin war?« »Keine Ahnung. Warum? Ich hab’s ihm jedenfalls nicht erzählt.« »Sag’s ihm nicht.« »Okay. Warum nicht?« »Manche Männer kommen auf komische Gedanken, wenn sie es hören. Erinnerst du dich?« Und ob er sich erinnerte. Ich küßte seine Wange und rannte die Treppe hinauf, in mein richtiges Leben.
9 Lunch mit Harry Warm und hell brach der nächste Morgen an, und die Welt sah sauberer aus als in den letzten Tagen. Drei Paracetamol und ein Glas Wasser am Vorabend hatten mich vor einem Brummschädel bewahrt, und Lily weckte mich mit einem Selbstgespräch über bunte Pfauen. Einigermaßen gut gelaunt, schlug ich die Decke zurück und wanderte nach unten, um Eier zu kochen und Ben Cooper in seiner Wohnung anzurufen. »Fünfzig Prozent Erfolg. Hol’s dir. Sofort. Danach will ich dich nie wiedersehen. Okay?« Beinahe mochte ich ihn. Es war überstanden. Dann rief Harry an. Ob ich mit ihm zum Lunch gehen würde? Seine Stimme klang wieder normal. Beim Dinner mit Bates war er mir völlig fremd gewesen. Zwei verschiedene Harrys. Einen hatte ich gekannt und geliebt, der andere war ein verläßlicher, krimineller, rückgratloser kleiner Laufbursche. Igitt. Nein, dachte ich, sagte aber ja. Nur ein Lunch. Keine unsichtbaren Gängelbänder. Nachdem ich Lily in den Kindergarten gebracht hatte, kam Cooper an und sah putzmunter aus, wie diese rosa Leute, die in Spanien leben und sich Briten nennen. Während er durch die Diele ging, spähte er in den Schrank, der als Arbeitszimmer durchzugehen hat, und beäugte den Druck von Jean-Leon Geromes »Tanz der Almeh«. »Geschmackvoll. Erinnert mich an dich.« Hätte ich geglaubt, er könnte die Brustwarzen der Tänzerin ausmachen (die tatsächlich sichtbar sind, wenn man genau hinschaut), hätte ich ihn getreten. Im späteren Leben ist es irritierend, wie viele Männer einen halb nackt gesehen haben. Ich würde ihm das Adreßbuch geben und ihn nicht zum Kaffee einladen, obwohl welcher auf dem Herd stand. Trotzdem setzte er sich und bewunderte die welken Pfingstrosen auf dem Küchentisch. Dann sah ich, wie er Lilys Zeichnungen an der Wand betrachtete – Gestalten mit Eierköpfen, Regenbögen mit ihrem Namen an den unteren Rändern, in großer, runder Kindergartenschrift. Da stand immer noch die Wodkaflasche, ein Überbleibsel von der Nacht, in der alles begonnen hatte, und daneben lag ein Scheck über dreihundert Pfund von einer Werbeagentur, für die ich ein bißchen Harem-
Styling gemacht hatte. »Eine hübsche Küche«, meinte Cooper. Vorhin war ich vielleicht in guter Stimmung gewesen. Jetzt nicht mehr. »Ich hab das Adreßbuch.« »Was für ein gemütliches Leben du hier führst…« Er schaute sich um. Warum fühlte ich mich bedroht? Niemand versteht, wie hart man arbeiten muß, um den kleinen Traum vom häuslichen Glück halbwegs zu verwirklichen, und es mißfiel mir, daß Cooper mitten in meinem Heim saß – wie ein Giftklumpen in meiner sauberen, sorgsam gehüteten Welt. In meinem enderun. Irgendwie schien er die Luft zu verpesten. »Das einzige, was ich habe«, erwiderte ich. »Nun, ich darf mich nicht beklagen. Aber ich bin sehr beschäftigt. Wenn du mich entschuldigen würdest…« Ich begann, den Tisch genau dort abzuwischen, wo er saß. »Wo ist das Adreßbuch?« »In einer verschlossenen Schreibtischschublade.« »Du solltest mir auch den Terminkalender bringen.« »Das hab ich versucht.« »Ohne Erfolg, nicht wahr? Nachdem du das Adreßbuch geklaut hast, wird er Verdacht schöpfen. Und der Computer?« »Ich hab keinen gesehen. Weißt du, ich war zum Dinner da, nicht als seine Sekretärin.« »Sei nicht albern.« Er schaute mich an, ich schaute ihn an. »Such dir nächstes Mal einen Profi aus.« Verdammt, ich hatte gedacht, es wäre vorbei. Er seufzte. »Irgendwelche Neuigkeiten?« »Heute abend verreist er.« »So?« »In ein paar Tagen kommt er zurück.« »Wohin geht die Reise?« »Keine Ahnung.« Er sagte nichts, ich sagte nichts, und das kriegten wir beide sehr gut hin, bis er aufstand und dabei eine Riesenshow abzog. »Jetzt muß ich erst mal darüber nachdenken. Wir bleiben in Verbindung.« Aber ich nicht mit dir. Ich hätte längst aussteigen sollen. Ganz zu schweigen davon, daß ich mich gar nicht erst hätte darauf einlassen sollen. Inzwischen kam mir eine Anzeige wegen Trunkenheit am Steuer wie eine Bagatelle vor, die kein Richter einer normalerweise
anständigen Frau verübeln würde. Nun war es zu spät. Ben ging. Wenn ich ihn bloß für alle Zeiten losgeworden wäre! Um zu verhindern, daß meine Wohnung noch mehr verpestet wurde, traf ich Harry im Winfield. Das ist ein fensterloser Club mit einer massiven Tür und einer kleinen Videokamera, damit Liam weiß, ob er auf den Offner drücken soll oder nicht. Meistens kommen die Leute nur hierher, um Snooker zu spielen. In jener Zeit, wo ich spätnachts getrunken habe, war ich oft dagewesen, um spätnachts zu trinken. Nun besuche ich das Winfield, weil Liam »Hallo, Angeline« sagt. Das klingt nett, wenn man daran gewöhnt ist, allein daheim zu sitzen und zu arbeiten. Am liebsten gehe ich vormittags hin. Dann ist die Kneipe leer, riecht nach alten Zigarettenkippen und Reinigungsmitteln, und ich sitze auf einem Barhocker, trinke Kaffee, lese die Zeitung und tausche Höflichkeitsfloskeln mit Liam aus. Wenn es nötig ist, löst er meine Schecks ein. Manchmal esse ich ein getoastetes Sandwich. Und gelegentlich spähe ich durch die Rauchglaswand am anderen Ende der kleinen Bar in den großen Raum, wo über jedem Billardtisch eine Lampe hängt und der grüne Filz schimmert. Im Schatten rings um die Tische bewegen sich schemenhafte Gestalten, die wie nahezu unsichtbare Puppenspieler ihre Queues bewegen. Ein schöner Raum. Nikotingelber Stuck, schwere Vorhänge, dunkle Wände, finstere Ecken. Neben jedem Tisch stehen kleine Telefone, und man kann in der Bar anrufen, um bei Liam noch einen Wodka Tonic zu bestellen. Vor vielen Jahren war der Snooker-Saal eine Tanzhalle. Wie hoch die Decke ist, weiß niemand, weil man sie nicht sieht. Nur Brigid behauptet, sie gesehen zu haben, weil sie morgens die Notausgänge öffnet und den schalen Alkoholgeruch hinauswehen läßt. Sonst niemand. Liam, der Polohemden trägt und an einem Magengeschwür leidet, war nicht sonderlich beeindruckt, als Harry auf dem VideoBildschirm erschien. »Will der zu dir?« fragte er, und ich nickte. Er antwortete zwar nicht, aber ich spürte die abgekühlte Atmosphäre. Ich schüttete meinen Wodka runter und ging Harry entgegen. »Bye, Liam.« Harry und Liam nickten einander zu. Warum, fragte ich mich. Was weiß ich nicht? Wir fuhren im Pontiac zum Notting Hill Gate, und Harry versuchte in einer Straße zu parken, die eher für Sänften geschaffen war als für Detroits Stolz. Das Restaurant glich einem Aquarium voller lachender, krei-
schender, reicher, schöner Leute. Eifrig eilte uns ein Privatschulentyp mit Pfannkuchengesicht entgegen, begrüßte Harry mit Namen und führte uns zu einem der besten Tische. Das Ritual begann. Imaginäre Krümel wurden von blütenweißem Leinen gefegt. Vielleicht Chardonnay und Seebarsch mit lentilles de puy. Blitzblanke Gläser. Wasser mit oder ohne Kohlensäure, Madame? Servietten wurden aufgelegt, eine Zigarettenpackung landete auf dem Tisch. Wie eine verkrustete Seeanemone ragte das aufgeklappte Streichholzheftchen aus dem Aschenbecher. Für den Lunch war es schon ziemlich spät, und die meisten Leute löffelten ihre exquisiten Mousses und nippten an winzigen Kaffeetassen. Das Pfannkuchengesicht setzte sich zu uns, um die Bestellung aufzunehmen, verschwand, kehrte zurück und sank wieder auf seinen Stuhl. Offenbar hatte der Mann ein paar harte Stunden hinter sich und freute sich auf eine Atempause, ein Glas Wein, ein Schwätzchen. »Nun, wie ist’s dir in letzter Zeit ergangen, Harry?« Wie bitte? Das war mein Text. Aber er ignorierte mich. Danke, alles bestens, erwiderte Harry. Dann redeten sie über Fußball, und ich überlegte, ob ich gehen sollte. Statt dessen flüsterte ich unhörbar: »Ich existiere, ich existiere.« Das Pfannkuchengesicht wollte wissen, welche Schule Harry besucht habe. Inzwischen war das Essen serviert worden, von einem rangniedrigeren dienstbaren Geist, und das Pfannkuchengesicht stand endlich auf. »Bis später.« Harry bemerkte meinen Ärger, gab aber keinen Kommentar dazu ab, und ich begann ihn wieder zu hassen. »Tut mir leid wegen gestern«, beteuerte er. »Das sagtest du bereits.« »Ich denke nicht – eh…« Wenn ihm die Worte fehlen, handelt es sich gewöhnlich um ein delikates, emotionales oder sexuelles Thema. »Was denkst du nicht?« fragte ich unversöhnlich. Sollte er doch glauben, ich wäre sauer, weil ich Eddie Bates’ Interesse erregt hatte. »Klar, es geht mich nichts an – nicht mehr… Trotzdem – ich finde, es wäre keine gute Idee, wenn du Eddie Bates wiedersehen würdest.« Ha, ha! Wir wissen beide den Grund, aber du weißt nicht, daß ich es weiß! Natürlich habe ich nicht die Absicht, ihn je wiederzusehen. Das weißt du auch nicht. Gar nichts weißt du! Ich spielte die Unschuld. »Ach, tatsächlich? Und warum wäre es
keine gute Idee?« Beinahe hätte ich hinzugefügt: ›Er ist so charmant. ‹ Doch ich besann mich anders und nagelte ihn mit einer schlichten Frage fest. Heuchlerischer Schurke. Mich beschützen, also wirklich! Außerdem wußte er ohnehin, daß ich Eddie nicht charmant fand. Das mußte er gestern abend gemerkt haben. Auf der Heimfahrt waren wir uns tausend Meilen näher gewesen als jetzt. »Weil er kein netter Mann ist.« »Faszinierend!« rief ich. »Erzähl doch!« Obwohl er seinen gefüllten Tintenfisch mit Ingwer und Koriander noch nicht mal gekostet hatte, zündete er sich eine Zigarette an. Meine Zwiebeltart mit Parmesan und Radicchio und Oliven sah längst nicht so verlockend aus. »Das könnte ich dir erzählen.« Rauchwolken umnebelten sein Gesicht. »Aber danach müßte ich dich töten.« Ist es nicht komisch, was ein Herz bewegen kann? Dieser Satz war früher unser Standardwitz gewesen. Und wir hatten ihn abgenutzt, bis er ganz dünn geworden war, wie eine antike Münze. Trotzdem hatte ich immer darüber lachen müssen. Und jetzt lachte ich auch. So lange hatte ich ihn nicht gehört. Ach, diese alten Erinnerungen… Ich lachte, er lachte. Dann drückte er seine Zigarette aus, und ich steckte einen Bissen in den Mund, der erstaunlich gut schmeckte. Freundlich lächelte er mich an, und ich bat: »Erzähl’s mir.« »Da gibt’s nichts Besonderes zu erzählen – nur daß er die Frauen schrecklich behandelt. Er hat eine Freundin, die weiß ein Lied davon zu singen. Und für mich wäre es furchtbar, wenn er auch mit dir so umspringen würde.« Natürlich log er schon wieder. Aber es war eine nette Lüge, und plötzlich durchschaute ich ihn. »Du bist eifersüchtig.« Er verzog die Lippen und dachte nach. »Glaub ich nicht.« »Immerhin wäre es möglich.« »Glaub ich nicht. Dazu hab ich kein Recht.« Ich wollte nicht über Eddies wirkliche Missetaten reden. Über Harrys Gefühle auch nicht. Es mißfiel mir, zwischen zwei gefährlichen Themen wählen zu müssen. Und so fragte ich: »Willst du ein Stück von meiner Zwiebeltart probieren?« Zumindest wollte ich das fragen. Statt dessen platzte ich heraus: »Du Bastard, du Bastard, warum hast du das getan, du hast mir das Herz gebrochen und mein verdammtes Leben ruiniert und mir nie erklärt, warum, du Bastard.« Verblüfft schnappte er nach Luft, und ich war genauso überrascht
wie er. Eine Zeitlang starrten wir uns an, dann sagte ich fröhlich: »Tut mir leid. Keine Ahnung, was in mich gefahren ist…« »Du weißt, warum.« »Nein.« »Wenn du’s noch immer nicht begriffen hast… Es ist unmöglich, daß du’s nicht weißt. Also red keinen Unsinn.« Für ein paar Sekunden schloß er die Augen. Dann schrie er beinahe. »Scheiße, warum mußt du mich daran erinnern, wie sehr du mich anwiderst?« Ich widere ihn an? Was zum Teufel ist los mit diesem Jungen? Harte Worte, Harry, harte Worte von einem Mann, der mich geliebt, dessen Meinung ich respektiert und geteilt habe. Harry… »Warum?« fauchte ich. »Was meinst du denn? Du erzählst mir nichts, und ich rede keinen Unsinn.« Plötzlich gab es nur noch ihn und mich, keine Zusammenhänge, keine Umstände, keinen Cooper oder Eddie Bates. »Du belügst mich und verwirrst mich, und du erklärst mir nicht, warum wir hier sind und warum du mich verlassen hast, und du hast Janie belogen und wolltest nicht mit Mummy reden, und du bist ein heimtückisches, verdammtes Arschloch…« Arschloch. Was Besseres fiel mir nicht ein. »Als wir uns das letzte Mal sahen, hast du mich eine Hure genannt, und jetzt versuchst du mir weiszumachen, daß du mich vor einem Kerl beschützen willst, der die Frauen schlecht behandelt. Und du hast nicht die leiseste Ahnung, was du mir angetan hast…« Ich stürmte aus dem Restaurant. So sehr hab ich dich geliebt, so sehr. Ich war vollkommen durcheinander. Meine Gedanken überschlugen sich, und ich trat gegen einen Baum. Ein Busschaffner schaute mich an. Ich wandte mich nach Westen und rannte die Straße hinab. Vor meinen Füßen schwirrten Tauben empor. Harry folgte mir nicht. Nach ein paar hundert Schritten sank ich auf eine Bank. Mein Bein schmerzte. Wenn man von Gefühlen überwältigt wird, kann man nicht logisch denken. Das Blut strömt in verschiedene Teile des Gehirns, die einander ausschließen. Was war bloß in mich gefahren? Jedenfalls hatte ich alles vermasselt. Er mußte die ganze Zeit Bescheid gewußt haben. Er wußte, daß ich ihn damals geliebt habe. Wir waren ein ganz normales Liebespaar. Was mag es sein, das ich nicht weiß? Ganz cool behauptet er, es sei unmöglich, daß ich nicht wisse,
warum er mich verlassen hat. Das hörte sich nicht so an, als hätte es das geringste mit Liebe zu tun. Es wäre viel wahrscheinlicher, daß ich den komplexen emotionalen Wirrwarr in seinem Herzen oder Hirn nicht verstehen würde, zumal er sich in solchen Dingen unklar ausdrückt und es auch weiß. Soweit ist er immerhin. Nein, es klang viel bestimmter. Aber ich weiß nichts davon. Damals wußte ich es auch nicht. Was ist vor all den Jahren geschehen? Wer weiß es? Ich nicht. Harry schon. Aber er sagt es mir nicht. Janie. Auch sie sagt mir nichts. Jeder könnte es wissen in dieser kleinen Welt. Vielleicht wissen es alle, und deshalb ist es so unmöglich, daß ich es nicht weiß. Aber was? Den restlichen Nachmittag verbrachte ich im Bad. Heiße Dämpfe benebelten mein Hirn, und mein Körper rötete sich in der Wanne. Ich wusch mein Haar und machte eine Gesichtspackung. Während ich meine Beine rasierte, begann ich wieder zu weinen. Was für Zeiten waren das, dachte ich. Früher rasierte ich mir die Beine, weil ich meinen Liebhaber erwartete. Ich tauchte aus dem Nebel auf und erinnerte mich an Harrys glatten flachen Bauch, im Dunkel unter dem Laken. Nackt und triefnaß wanderte ich durch die ganze Wohnung, bis ich vor einem Spiegel stehenblieb, um mich zu betrachten – knallrot, naß, älter geworden, zerronnene Wimperntusche auf den Wangen, feuchtes, an den Kopf geklebtes Haar. Kutchuk Hanem war erst zweiundzwanzig gewesen, als der Wind sie wie eine Blume nicht allzuweit davongeweht hatte. Und ich, mit dreiunddreißig? Früher war ich topfit, jetzt kann ich nicht einmal mehr davonlaufen. Meine Narben glühen. Warum widere ich dich an? Woran habe ich dich erinnert? Was wolltest du vergessen? Das, was ich nicht weiß? Und warum stört es mich? Eine Zeitlang überlegte ich, ob ich ihn immer noch liebte. Nun, ich mußte darüber nachdenken. Immerhin bestand die Möglichkeit. Nein, entschied ich. Er hätte sich in all der Zeit zu einem anderen Mann entwickeln müssen, nicht zu einem Kriminellen, der eine Scheinfirma betrieb und vor Schurken zu Kreuze kroch. Er hätte was Besseres werden müssen. Jetzt ist er nicht mehr der Mann, den ich liebte, und er ist nicht der Mann geworden, den ich lieben könnte. Aber ich will wissen, was damals los war.
Ich zog mich an, mein Verstand kehrte zurück, und ich holte Lily vom Kindergarten ab. Später brieten wir Pfannkuchen, malten und spielten Domino mit Tierfiguren, dann rief Fergus an. »Tut mir leid, daß ich nicht früher zurückrufen konnte. Hör zu, Bates ist nie verurteilt worden. Aber man brachte ihn mit dunklen Import-Export-Geschäften in Verbindung – Drogen, Waffen, Pornographie, illegale Hormone für Zuchtrinder. Er schickte Betten vom staatlichen Gesundheitsdienst nach China, Chemikalien nach Lateinamerika. Und so weiter. Seine Frau wohnt in Monaco. Da läßt er sich nie blicken. Ansonsten ist sein Privatleben, falls er eins hat, wirklich privat. Er kommt viel herum, spielt gern den Gentleman, aber unauffällig, und lebt in jener anderen Welt, wo die Leute so reich sind, daß man keine Fragen zu stellen wagt. Denn das Netteste, was man ausgraben würde, wäre eine Autofabrik, die auf Nazi-Sklavenarbeit aufgebaut ist. Laß dich nicht mit ihm ein. Und erzähl mir keinen Blödsinn über irgendwelche Freunde.« »Warum beauftragt ein Polizist jemanden, der kein Polizist ist, Eddie Bates was zu stehlen?« »Was genau?« »Informationen.« »Weil er verrückt ist.« »Gibt’s noch einen aufschlußreicheren Grund?« »Weil er auf legale Weise nicht drankommt. Was ist los, Angeline?« »Keine Ahnung…« »Ein bestimmter Polizist?« »Mhm…« »Einer, dem du mehr vertraust als mir? Bitte, Angeline…« »Sagen wir mal, ein bekanntermaßen flexibler Polizist.« Fergus schwieg eine Weile. »Im Augenblick wird grade viel ausgemistet und Staub aufgewirbelt – intern, sehr diskret. Einige Beamte, in verschiedenen Rängen, sind nervös und suchen vielleicht Rückendeckung. Sicher wäre es besser, du würdest mir alles erzählen.« »Nun, ich glaube, es ist vorbei. Das hoffe ich zumindest. Ich sag dir Bescheid – bald. Vielen Dank, Fergus.« Ich legte auf und verfrachtete Lily in die Badewanne, setzte mich zu ihr, und wir leerten wassergefüllte Flaschen über unseren Köpfen aus, bis wir klatschnaß waren. Dann jagte ich sie mit dem Fön durch die ganze Wohnung und verteilte die Anti-Ekzem-Salbe auf ihrer Haut. Müde sanken wir
ins Bett und schliefen ein.
10 Die Suche nach Lily Am nächsten Tag wollte sie im Kindergarten ihre kleinen rosa Gazeflügel tragen und den Heiligenschein aus Lametta. Kein Problem. Brigid rief an und wollte sich das Auto ausleihen. Kein Problem. Ob sie Lily beim Kindergarten absetzen könnte? Kein Problem, sagte sie. Ich mag diese Tage, wo es keine Probleme gibt. Könnte sie Lily auch abholen, weil ich zu Zeinab gehen mußte? Natürlich, und sie würde für Lily, Caitlin und die Jungen Tee machen. Die Leute, die alleinstehende Mütter als faule Schnorrerinnen bezeichnen, sollten sich mal Brigid anschauen, denn sie erledigt die Arbeit von zehn Frauen und die Hälfte von meiner noch dazu. Nicht einmal das Kindergeld, das jede verheiratete Mutter für ihr gutes Recht hält, nimmt sie an. »Damit bezahle ich die Klavierstunden«, hörte ich einmal eine Frau im Holland Park prahlen. Ich maß gerade die Stoffe für die Kostüme ab, die ich zu Zeinab bringen wollte, als das Telefon läutete. Ich meldete mich nicht, und Harry erklärte dem Anrufbeantworter, ich solle zurückrufen. Nein, jetzt noch nicht. Vielleicht niemals. Dann rief Neil an, und ich dachte gerade noch rechtzeitig daran, mich für den Streit zu entschuldigen. Der war aus meiner Perspektive mittlerweile geschrumpft, aber aus seiner wahrscheinlich immer noch riesig. O nein, um Himmels willen, nein, erwiderte er, ihm würde es auch leid tun. Die direkten und indirekten Konsequenzen seiner Flucht erwähnte ich nicht und fragte nur, welche Rechte Jim habe. »Warum?« »Was glaubst du wohl?« »Ah… Nun ja, ein leiblicher Vater kann sein Kind jederzeit beanspruchen und besitzt das Vorrecht auf das Sorgerecht, aber nicht automatsich, wenn er unverheiratet ist. Dann kriegt er es, falls die Mutter eine Einwilligungserklärung unterschreibt, oder er muß es vor Gericht beantragen. In Streitfällen kann das Gericht einen Vormund bestimmen, dem das Wohl des Kindes am Herzen liegt. Aufgrund der Aussage von Sozialarbeitern und anderen Zeugen entscheidet der Richter, was im Interesse des Kindes, das stets den Vorrang hat, am besten ist. Das solltest du aber wissen, Angeline, wir
haben es schon besprochen. Was ist passiert?« »Jim und seine Frau haben uns besucht, zum Tee.« »Oh. Und?« »Die beiden wollen Lily haben und werden einen Antrag stellen.« »Es wäre hilfreich, wenn du dich etwas präziser ausdrücken würdest.« »Ja, es wäre hilfreich, wenn du nicht so verdammt herablassend wärst…« Cool bleiben, ermahnte ich mich. »Sie möchten Lily zu sich nehmen.« Normalerweise bin ich nicht so gereizt, und es gefällt mir, wenn er wie ein juristisches Buch redet. Das klingt so beruhigend. Aber er kann nicht erwarten, daß ich im selben Jargon antworte. »Erinnerst du dich, wie’s funktioniert?« »Klar, wir haben es ja selbst so gemacht. Sorgerecht, Bestimmung des Aufenthaltsorts…« »So einfach wird es diesmal nicht sein. Am besten treffen wir uns. Hast du deine Eltern schon informiert?« »Noch nicht.« »Das solltest du sofort tun – die beiden sind wirksame Waffen. Inzwischen schaue ich mir die schriftlichen Unterlagen von damals an und mache ein paar Hausaufgaben. Morgen oder übermorgen? Hm – bis dahin solltest du gründlich nachdenken. Jim und seine Frau werden beweisen müssen, daß Lily es bei ihnen besser hätte als bei dir. Das ist alles. Das Wohl des Kindes hat Vorrang.« »Natürlich hat Lily es bei mir besser…«, begann ich. »Dann gibt’s ja keine Probleme, oder?« unterbrach er mich mit jener besserwisserischen Ironie, die mir klarmachte, daß ich Unsinn redete. Was ich für eine offensichtliche Wahrheit hielt, mußte vor Gericht erst bewiesen werden, und das war eine ganz andere Sache. Zeinab und ich schafften eine ganze Menge. Unser Kunde war seine Exzellenz, General Dr. Sowieso, dessen Sohn eine Prinzessin in Jeddah heiraten würde und der jeweils fünf passende Kostüme für drei Tänzerinnen brauchte. Warum sie die Sachen in London anfertigen ließen? Um anzugeben. Weil es teurer war. Und wegen der Diskretion. Ich nahm an, die Tänzerinnen würden bei einer privaten Herrenparty auftreten. In Saudi-Arabien sind viele Dinge verboten, aber viele sind machbar, wenn man die richtigen Leute kennt. Zumindest hat man mir das erzählt. Ich selber weiß es nicht, denn ich war nie da. Warum sollte ich in ein Land reisen, wo eine Frau nirgendwo hingehen darf ohne ein Dokument, das ihr Mann oder ihr
Vater unterschrieben hat – oder der Sohn oder der Enkel, falls es keine anderen männlichen Familienmitglieder gibt? Sogar in Ägypten, das ich in den späten achtziger Jahren besuchte, wo die Frauen sich zu »emanzipieren« begannen, trugen sie Schleier. Und das reichte mir. Dauernd taucht die Polizei auf, um festzustellen, ob alle Tänzerinnen ihre Lizenzen haben oder ob sich eine unanständig benimmt, und die Saudi-Scheichs bestechen alternde Künstlerinnen, damit sie sich im TV verschleiern. Wenn eine Frau ihren hijab tragen will, okay. Aber wenn junge Mädchen an Bushaltestellen erschossen werden, weil sie ihre Haare zeigen – dann war das wie in Algerien. Und das alles nur, weil Mohammed (der über zwanzig Jahre lang für seine erste Frau Khadija arbeitete – sie war sein Boß, und seltsamerweise scheint Allah die Gesetze, die den Frauen alle Rechte nehmen, erst nach ihrem Tod erlassen zu haben) vor tausenddreihundert Jahren erklärte, mit seiner späteren Ehefrau dürfe nur durch einen Vorhang geredet werden. Die Frauen bringen die Männer durcheinander. Der Gedanke, daß die Männer lernen könnten, anstelle der Frauen ihre eigenen chaotischen Neigungen zu kontrollieren, spielt keine Rolle. Aber ich will mich nicht in meine Wut hineinsteigern. Was ich am schlimmsten finde – der Islam, eine schöne Religion, wird verzerrt und von den falschen Repräsentanten vertreten, und… Nein, ich will mich nicht ärgern. Das ist ein sehr schwieriges Thema. Schluß damit. Wir entwarfen die Kostüme und stellten die Farben zusammen. Der Stil der Kostüme für die Auftritte in den Bars ändert sich kaum. Ein weiter Rock, in der Mitte geschlitzt, mit einem züchtigen Schurz darunter (den hatte ich bei meinen ersten Kostümen vergessen, zeigte meine Unterhosen und wurde heimgeschickt. Damals schämte ich mich schrecklich und kam mir vor wie ein Kind, das in einem Alptraum nackt zur Schule geht). Und dann der Schleier, das Kopfband und der BH. Wir entwarfen ein Kostüm mit weiter Hose und tief ausgeschnittener gestreifter Brokatweste – altmodisch, aber sehr sexy, weil die Weste die Titten unter dem Musselinhemd hochhebt. Aber vor allem wollen die Männer Beine sehen. Früher hatte ich sehr gern BHs bestickt, eine knifflige Arbeit, Stich für Stich. Dabei fühlte ich mich wie eine Dickens-Heldin, die sich im Kerzenlicht die Augen ruiniert, oder wie eine Sklavin, die für Oscar Wildes jungen König eine Robe schneidert. Man glaubt, der Rücken wäre ein fünfzehn Jahre altes Gummiband und würde reißen, wenn man die Schultern bewegt. Dann merkt man, daß man ein
Kunstwerk geschaffen hat, in winziger glitzernder FabergePerfektion – jede einzelne Paillette funkelt, jede Perle, blitzender Tand, der verführen und betören soll, eine grandiose Illusion. Aus dem Nähkästchen mitten hinein in die arabischen Nächte. Jetzt überlasse ich die Stickerei anderen Frauen. Zeinab kennt ein paar Sudanesinnen in Wembley, die unglaublich schnell und sorgfältig arbeiten. Wenn sie nicht sticken, enthaaren sie die Beine ihrer Kundinnen mit zerschmolzenem Zucker, massieren sie, färben ihre Füße mit Henna, flechten ihr Haar – alles, was flinke kleine Hände zustande bringen. Manche Mädchen sind so vollbusig, daß sie für die Stickerei an ihren BHs mehr bezahlen müssen. Und einige bevorzugen grelle Farben, und dafür würde ich am liebsten eine Gefahrenzulage verlangen. Heute bestickte ich selbst einen solchen BH in Meergrün und Gold. Wenn wir in Zeinabs Wohnzimmer beisammensitzen und arbeiten, nennt sie es Harem – eine mögliche Wurzel des Worts bedeutete ursprünglich »gesetzlos«, nicht so, wie wir den Begriff verstehen, sondern man meinte eine Welt mit ihren eigenen Gesetzen, in der man sich nicht um das kümmern mußte, was draußen geschah, und das gefällt mir. In dieser Atmosphäre hätte mich die Arbeit eigentlich besänftigen müssen. Aber die Außenwelt ließ mich nicht in Ruhe, und beim Sticken fand ich viel zuviel Zeit, um zu grübeln. Ich wollte nicht, daß Cooper noch mehr von mir verlangte, wollte gar nicht wissen, was ich von Harry erwartete, und ich wünschte mir, Jim würde sich in Luft auflösen. Und was war es, das ich nicht wußte? Um mich abzulenken, ermunterte ich Zeinab, zu tratschen und zu klatschen. Unglücklicherweise versteifte sie sich auf das Thema, ich müßte ein Kind bekommen, damit Lily Gesellschaft hätte. Sie hat einen englischen Ehemann und drei hübsche Söhne. Mindestens einmal pro Tag erklärt sie mir, sie würde nicht verstehen, warum ausgerechnet ich so wörtlich nehmen würde, was die Prophetentochter Fatima gesagt hatte. Die beste Frau ist jene, die keine Männer sieht und die nicht von ihnen gesehen wird. Ausnahmsweise gab ich Fatima recht. Gegen fünf verabschiedete ich mich von Zeinab und ging nach Hause. Ich hatte erwartet, Brigid und die Kinder beim Tee anzutreffen, aber niemand war in der Wohnung. Vielleicht waren sie alle bei Brigid? Ich wußte nicht mehr genau, was wir vereinbart hatten. Also lief ich zu ihr. Niemand war da. Dann rannte ich zu Maireadh. Natür-
lich war auch da niemand, denn Maireadh mußte arbeiten. Ich rannte zum nächsten Häuserblock, zu Reuben, Maireadhs Freund. Seit gestern hatte er Brigid nicht mehr gesehen. Schließlich lief ich zum Winfield. »Heute war sie nicht da«, sagte Liam, der hinter der Bar stand. »Aber gestern abend war Reuben da.« Er goß mir einen Wodka ein und ließ mich das Telefon benutzen. Erst rief ich daheim an, dann bei Brigid, im Kindergarten (keine Antwort), Maireadh und Reuben. Liam schickte den anderen Barkeeper zur Konditorei. Dort sollte er fragen, ob jemand Süßigkeiten gekauft habe. Nein, sagte Moones, die Verkäuferin, an diesem Tag habe sie weder Brigid noch die Kinder gesehen. Plötzlich dachte ich an Jim. Dann verdrängte ich den Gedanken. So etwas würde er nicht tun. Mochte das Recht auch auf der Seite des Besitzenden stehen – ein Mann, der das Sorgerecht für ein Kind anstrebte, würde es nicht entführen. Albern. Ich geriet in Panik. Sicher würde Brigid meine Lily mit ihrem Leben beschützen. Niemals würde sie zulassen, daß dem Kind etwas passierte. Nur eine kleine häusliche Krise. Irgendwas war dazwischengekommen. Warum hatte sie keine Nachricht hinterlassen? Oder angerufen? Ich rannte wieder nach Hause, suchte nach Spuren, die mir verraten würden, daß sie inzwischen da gewesen waren – einen Mantel, ein halbvolles Glas Apfelsaft. Oder eine Nachricht. Wie hatte ich die Küche an diesem Morgen zurückgelassen? Da stand meine Kaffeetasse, da lag der Scheck, die Pfingstrosen welkten immer noch. Ich warf sie in den Abfalleimer. Wie können eine Frau und fünf Kinder verschwinden? Auf dem Anrufbeantworter blinkten drei Nachrichten. »Angie, das muß besser klappen. Ruf mich an.« Cooper. Meine Mutter jammerte ein bißchen über irgendwelche Sachen und wollte wissen, wie ich mich an ihrer Stelle verhalten würde. »Angel, hier ist Harry. Eh – keine Ahnung, wo du steckst. Bitte ruf mich an. Scheiße. Ich muß mit dir reden, ich laß das Handy eingeschaltet. Bitte, ruf mich an, sobald du diese Nachricht kriegst.« Aber ich rief bei Brigid an, Maireadh, Reuben, Liam. Nur Liam meldete sich. Sollte er mit seinem Lieblingsbullen reden? Nein. Ich rannte aus dem Haus, um festzustellen, ob mein Auto irgendwo zu sehen war. Nein. Als ich zurückkam, blinkte der Anrufbeantworter schon wieder. »Evangeline, hier ist Eddie Bates. Stellen Sie sich vor, gerade be-
sucht mich ein kleines Mädchen. Warum kommen Sie nicht rüber? Und bringen Sie das Adreßbuch mit.« Ich setzte mich, nur für zwei Sekunden, lange genug, um nachzudenken. Doch dann merkte ich, daß ich nicht darüber nachdenken wollte, und rief ihn an. »Fabelhaft!« krähte er. »Wie schön, Sie so bald wiederzusehen! Kommen Sie sofort!« Offensichtlich war der Mann verrückt. Ich riß mich zusammen: »Warum ist Lily bei Ihnen?« »Gerade ist sie aufgetaucht, um ihren Onkel Eddie zu besuchen. Ist das nicht nett?« Warum redete er solchen Unsinn? Oder war es ein Trick? »Ich glaube Ihnen nicht.« »Und wie reizend sie über Pfauen plaudert! So ein hübsches Mädchen. Das Ebenbild ihrer Tante.« Aber sie sieht mir nicht ähnlich. Ich habe gewöhnliche graue Augen, und ihre sind groß, mit goldenen Flecken. Mein Haar ist glatt und blond, ihres dunkel und lockig. Pfauen… Und ich hatte gedacht, er würde abreisen. »Ich komme rüber.« Als ich in Coopers Büro anrief, war er nicht da, und ich erklärte seiner Sekretärin, ich würde zu Bates fahren. Ich versuchte meiner Stimme einen bedeutsamen, gefährlichen Klang zu verleihen, was mir nicht schwerfiel. Dann rief ich Harry an. Die Handynummer war zur Zeit nicht erreichbar. Bitte, versuchen Sie es später noch einmal… Ich rief im Ausstellungsraum an, und Jean erklärte mir, sie würde Harry Bescheid geben. Schließlich rief ich Liam an. Er erzählte mir, Brigid hätte angerufen und gesagt, an diesem Abend könne sie nicht bei ihm arbeiten, weil Caitlin einen Asthmaanfall bekommen habe. Jetzt war sie im Krankenhaus. Zuerst hatte sie Lily nach Hause gebracht und in Harrys Obhut gelassen. »Harry?« fragte ich verständnislos. »Das hat sie mir erzählt.« »Aber sie kennt Harry gar nicht.« »Sie erklärte, er sei in deiner Wohnung gewesen und Lily habe sich so gefreut, ihn wiederzusehen.« »Was hat Harry in meiner Wohnung gemacht?« »Keine Ahnung.«
»Und warum hat sie mich nicht angerufen?« »Weil du nicht da warst. Sie dachte, es ist okay, wenn Lily bei Harry bleibt.« »O Gott«, flüsterte ich. Harry hatte Lily gekidnappt. Um Eddie Bates einen Gefallen zu erweisen. »Ich muß jetzt los.« Wohin, wollte Liam wissen. Ob es mir lieber wäre, wenn er mitkäme? Nein, aber ich gab ihm Bates’ Adresse. Wenn ich mich innerhalb einer Stunde nicht melden würde, sollte er seinen Bullen hinschicken. »Angeline, du bist ein wunderbares Mädchen.« »Danke.« Da Brigid immer noch mein Auto hatte, nahm ich ein Taxi. Als ich am Pelham Crescent ausstieg, ratterte der Taxameter bedrohlich. Von außen sah Eddies Haus ruhig aus. Drinnen war es offenbar noch ruhiger. Er kam selbst an die Tür. »Wo ist sie?« »Kommen Sie doch herein«, gurrte er. »Wo ist sie?« »Nicht hier.« »Wo ist sie?« »Keine Ahnung.« Er hatte keine Ahnung, ich hatte keine Ahnung. Drei Jahre alt. Versteckte er sie auf dem Dachboden? Log er durch seine glatten perlweißen Zähne das Blaue vom Himmel herunter? Wußte er, was ich wußte? Die Identität des Kidnappers? (Harry! Was treibst du?) »Wieso wußten Sie, daß sie verschwunden ist?« Er lächelte. »Wieso wissen Sie, wie gern sie über Pfauen redet?« »Trinken Sie etwas, meine Liebe. Leider habe ich Siao Yen heute abend freigegeben.« Wie aalglatt, wie grausam… »Wirklich, Lily ist nicht da. Ich wollte Sie nur hierherlocken, und ich hatte den Eindruck gewonnen, daß Sie auf normale Annäherungsversuche nicht reagieren. Deshalb mußte ich in die Trickkiste greifen.« Wortlos schaute ich ihn an. »Ja, wirklich«, bekräftigte er. Ich glaubte ihm, daß sie nicht da war, denn man kann die Anwesenheit eines Kindes in einem Haus riechen – eine ganz leichte Dimension, ein Hauch, eine Wärme, irgend etwas. Damit hatte ich gelebt. Diese Atmosphäre kannte ich, jede Nacht atmete ich sie beglückt ein. Vergeblich hatte ich versucht, diese Freude den Leuten zu
erklären, die glaubten, ich würde es bedauern, weil ich nicht mehr in Nachtclubs gehen konnte. »Und wo ist sie?« murmelte ich. Bates schenkte sich einen Drink ein. »Sherry? Champagner? Was möchten Sie?« »Nur eins – ich will wissen, wo sie ist.« »Damit befassen wir uns später. Ich glaube, Sie haben etwas, das mir gehört.« »Nein, das habe ich Cooper gegeben.« »Ah!« rief er entzückt. »Ben Cooper! Natürlich, das fehlende Glied. Das hätte ich mir denken können. Sie haben ja keinen Grund, sich mit mir einzulassen, oder? Oder?« Wieviel hatte er schon getrunken? »Wie schrecklich, daß ein wunderbares Mädchen wie Sie für einen miesen kleinen Bullen arbeitet! Wie kann ich Sie dafür entschädigen? Sie armes Ding! Trinken Sie doch etwas.« Er tänzelte zum Barschrank zurück und zog eine Champagnerflasche aus einem Eiskübel. Am Glas rannen Tröpfchen herab. Also hatte er sich vorbereitet und die Flasche rechtzeitig kaltgestellt. Für diese Gelegenheit. »Ich muß jetzt gehen.« »Nein, nein.« »Ich muß Lily suchen«, erwiderte ich und wandte mich zur Tür. »Halt, oder ich schieße!« schrie er. Großer Gott. Der Revolver. Ich drehte mich um. Aber er zielte nur mit der Champagnerflasche auf mich, eine weiße Serviette über dem Arm. Dann löste er den Draht und zerrte am Korken. Nun dachte er sicher, er hätte mich beeindruckt. »So!« jubelte er. »Wow!« Der Korken flog heraus und traf den Chagall, mitten im Bauch der Meerjungfrau. »Natürlich gehen Sie nicht weg«, flüsterte Eddie. Um Himmels willen, er war wirklich verrückt. Ich nahm ein Champagnerglas entgegen und trank es leer. »Hören Sie mal, Sie haben mein Kind nicht, und ich habe Ihr Adreßbuch nicht«, erklärte ich sanft. Plötzlich war ich froh, weil ich in der letzten Woche geübt hatte, nicht in Panik zu geraten. Jim hatte mich nicht erschreckt, und das hier erschreckte mich auch nicht. Jesus, auf dem Weg von Casablanca nach Istanbul war ich nie in Panik geraten, und in all den finsteren Hintergassen auch nicht. Mit allem konnte ich fertig werden. Dafür sind wir Frauen geschaffen. »Darling, das Adreßbuch ist mir völlig egal. Armer kleiner Ben,
nun verschwendet er seine Zeit mit lauter unwichtigen Dingen.« Er lachte. Ich nicht. »Warum haben Sie mich hierhergelockt?« »Um Ihnen auf die Finger zu klopfen. Oder um Sie zu bumsen. Vielleicht beides.« Wechsle das Thema, wechsle das Thema. »Sie haben Lily gekidnappt, um mir auf die Finger zu klopfen?« »Oh, ich habe niemanden gekidnappt und nur die Situation ausgenutzt, das ist alles. Aber wenn Sie sich nicht ordentlich benehmen, lasse ich sie töten. Ziehen Sie das an, damit wir in Stimmung kommen.« »Ich gehe jetzt.« »Natürlich weiß ich, wo sie ist. Und Sie wissen’s nicht. Also benehmen Sie sich anständig, dann wird die kleine Lily bald wieder in Mummys Armen landen.« »Wo ist sie?« Seufzend verdrehte er die Augen und drückte mir ein Bündel in die Hand, ein helles, schimmerndes, weiches Bündel, rosa und silbern. Eins meiner Bauchtanzkostüme. Ich schüttelte es auseinander, und der Chiffonrock flatterte, die silberne Stickerei, der lange Schleier mit den Silberborten, und der BH fiel zu Boden. Rosa und silbern, mit Rheinkieseln verziert, voller Schweißflecken. Wie gut ich mich erinnerte… Dieses Kostüm hatte ich selbst genäht und Janie geschenkt. Janie… Sie hatte meine Tanzkunst geliebt, vergeblich versucht, mir nachzueifern, und sogar Unterricht genommen. Aber ihre Begeisterung war rasch verflogen, wie so oft. Janie, was geht hier vor? Janie, meine Schwester, meine Freundin, ich vermisse dich. Nicht, daß du mir in dieser Situation helfen könntest. Liebe, dumme Janie… »Ziehen Sie es an!« drängte er lächelnd. »Draußen in der Halle. Dann überraschen Sie mich. Niemand wird Sie sehen, niemand ist da.« »Wo wird Lily versteckt?« Sicher begann ich ihn zu langweilen. »Tun Sie, was ich Ihnen sage!« Ich ging in die Halle, setzte mich auf den makellos sauberen Teppich am Fuß der Vivien Leigh-Treppe, schlüpfte aus meinen Stiefeln und den Jeans. Nur noch eine halbe Stunde, bis Liam seinen Polizisten anruft, dachte ich. Wenn Harry meine Lily auch in seiner Gewalt hat, er wird ihr nichts antun. Vielleicht ist er nicht mehr der
Mann, den ich früher kannte, aber er ist sicher nicht so tief gesunken, daß er Kinder verletzen würde. Oder? Nein, nein… Brigid erzählte Liam, Lily habe sich über das Wiedersehen mit Harry gefreut. O Gott, Brigid, du konntest es nicht wissen… Ja, ich werde für ihn tanzen. Und wenn er über mich herfällt, töte ich ihn. Wie Morgiana, Ali Babas Dienerin, die den Kapitän der vierzig Räuber erkannte, während er im Haus ihres Herrn zu Abend aß, als ehrwürdiger Kaufmann mit langem weißem Bart verkleidet. Nachdem sie gekocht und die Mahlzeit serviert hatte, zog sie ihr schönstes Kleid an, schmückte sich mit Fuß- und Armbändern und silbernen Glocken, ihrer langen Bernsteinhalskette und dem goldenen Gürtel. In der reichverzierten Scheide steckte ein Dolch mit Jadegriff. All diese Geschenke hatte sie von Ali Baba erhalten, weil sie so klug gewesen war, alle Räuber zu töten, die sich in den Öltöpfen versteckt hatten. Mit Ringen um die Augen, die in fiebriger Glut glänzten, verrieb sie Antimongelb, Henna auf den schmalen Händen und Füßen, und ihr schimmerndes Haar fiel bis zum goldenen Gürtel hinab. Zunächst tanzte sie wie ein glücklicher Vogel, den Tanz des Taschentuchs und den Persischen Tanz, dann begann sie den langsamen, wiegenden Tanz des Dolchs, und der schwarze Sklave Abdullah schlug auf das Tamburin. Während die seltsame, geheimnisvolle Musik erklang, zog Morgiana den Dolch aus der silbernen Scheide, schwenkte ihn umher und erstach imaginäre Feinde. Der Rhythmus beschleunigte sich, wild und hektisch, und sie wirbelte umher, entzückte die Augen der Männer und stieß die Klinge ins Herz des alten Kaufmanns. Ihr Lohn war Ali Babas Sohn Ahmad. Und ich werde zehn Jahre kriegen. Notwehr. Natürlich werde ich Lily nie wiedersehen. Mum und Dad werden für sie sorgen. Alles okay. Und ich werde nur ein kleiner Niemand sein, der das einzige, was er sich wirklich wünschte, vermasselt hat. Nicht das Ende der Welt. Lily braucht mich nicht. Aber wenn ihr nur ein Haar gekrümmt wird, wenn nur eine einzige Träne über ihre Wange rollt… Ich hab’s Janie versprochen. Und Lily auch. Als der Teppich unter meinem Hintern juckte, stand ich auf und zog den Rock an. Das Gurtband paßte immer noch, was mir eine flüchtige, irrelevante Genugtuung verschaffte. Dann schlüpfte ich aus meinem T-Shirt und legte den BH an. In meinem Nabel, wo der Rubin hätte glitzern müssen, steckte nur ein schlichter Ring. (Die kleine Ägypterin hatte nur einen Rubin im Nabel und einen riesigen
Diamanten am großen Zeh getragen, sonst nichts…) Nicht gebräunt, nicht gepudert, die Beine unrasiert, sah ich gräßlich aus, mit den roten Striemen von den Jeans um die Taille, mit meinen Narben und dem etwas dünneren linken Bein, das niemand außer mir bemerkte. Als man mir den Gips abgenommen hatte, waren die Muskeln geschrumpft. Nur Haut und Knochen, amorphe schlaffe Masse. Für eine Tänzerin ein Schock. Warum sorge ich mich um die Einzelheiten meiner äußeren Erscheinung, wenn Eddie Bates mein Kind gekidnappt hat? Weil es mich von den Dingen ablenkt, die da geschehen. Und was geschieht? Das muß ich herausfinden. Was will er? Er ist verrückt. Hoffentlich schwebt ihm irgendwas Simples vor. Und wenn er nur Sex will? Warum soll er kriegen, was er will? Für Lily? Auch nur für die Chance, sie zu retten? Wo ist sie? Was wird geschehen, wenn ich es tue? Und wenn nicht? Nein, ich tu’s nicht. Ich bin keine Prostituierte, um keinen Preis. Für Geld tu ich es nicht, nur aus Liebe. Aus Liebe zu Lily? Ich traue ihm ohnehin nicht über den Weg. Nein, ich werde es nicht tun, ich verkaufe mich nicht. Aber ich kann tanzen. Für jeden. Während ich in der Halle stand, drang plötzlich Musik aus dem Salon. Wohlbekannte Klänge. Meine Melodie. Ein Tonband von Ahmeds Band. »Unsere kleine Schlagzeugerin«, hatte er mich genannt, weil ich die Glöckchen an meinen Fußknöcheln so vollendet beherrschte. Fünfzehn Minuten lang konnte ich tanzen, ohne sie zittern und klingeln zu lassen, jene Stille erzeugen, die die Seele des Tanzes war. Es gefiel mir, als Musikerin und Tänzerin aufzutreten, die Musik zu tanzen. Wieso besitzt Bates ein Tonband von Ahmed? Weil er alles geplant hat. Was hat er geplant? Nur einen taktlosen, ungeschickten Annäherungsversuch? Vor einer Woche wußte er noch nichts von meiner Existenz. Warum hat er sich Janies Kostüm angeeignet? Weiß er, wer ich bin? Ich lasse mich nicht quälen, ich werde nicht davonlaufen. Sonst
würde mich der Mann, der meinen Körper begehrt, durch dieses große Haus jagen. Im Film meines Lebens spiele ich nicht die wimmernde Sharon Stone, die von Robert de Niro mit einem Revolver bedroht und angeschrien wird. Tanz, du Biest, tanz! Niemals werde ich zum Vergnügen eines Mannes angstvoll auf hohen Absätzen schwanken. Ich beschloß, mit dem Schlimmsten zu rechnen. Immerhin ist er ein Psychopath, vom Bauchtanz besessen. Und weil ich eine Bauchtänzerin bin, wird er versuchen, mich zu vergewaltigen. Jesus, er ist wahnsinnig. Womöglich will er mich töten. Wieso weiß er, daß ich eine Bauchtänzerin bin? Hat Harry geplaudert? Obwohl ich ihn bat, nichts davon zu erzählen? Warum bilde ich mir immer noch ein, ich könnte ihm trauen? Jetzt öffnete sich die Tür, die Musik schwoll an. »Ich warte!« rief er in spielerischem Ton. So wie Lily auf dem Klo: »Ich bin fertig!« Warte doch auf das Ende der Ouvertüre, du Narr. Ich versuchte immer noch herauszufinden, ob der Revolver eine Gefahr bedeutete. Bates wußte nicht, daß ich die Waffe entdeckt hatte. Nur mehr eine halbe Stunde. Das takasim erklang, und ich betrat den Salon. Vielleicht fieberte Bates der Darbietung entgegen. Aber ich würde nicht tanzen, ehe ich nicht bereit dazu war. Das Publikum darf die Vorstellung nicht kontrollieren, denn die Tänzerin besitzt die ganze Macht, das Geheimnis. Wenn ich tanze, verliere ich meine Identität, ich verkörpere alle unerreichbaren Tänzerinnen, die jemals von Männern begehrt wurden. Ich bin dadurch geschützt, daß ich eine andere – alle anderen – bin. Ich wartete auf die nay. Immer noch ruhig und beherrscht, stand ich da, und meine Reglosigkeit drückte Verachtung aus. Ishtar, Scheherezade, Salome und Morgiana, dachte ich. Awalim und ghawazee. Meine Füße und Hüften verwandelten sich in Rhythmus, mein Rückgrat begann sich zu erheben, zu verlängern. Stille und Bewegung. So wie früher. Los… Scheherezade hatte ihre Schwester, die ihr half. Jeden Morgen kam Dunyazad zu ihr, die einzige willkommene Besucherin, um eine Geschichte zu erbitten, damit die kühlen Stunden angenehm vertrieben wurden, ehe das Tageslicht den Himmel rötete. Drei Jahre lang, Morgen für Morgen, vernachlässigte sie ihre Jugend, stand der Schwester bei, deren Leben am seidenen Faden hing. Jeden Tag saß sie mit Scheherezade bei jenem psychopathischen Kalifen Shahriyar, dem Mörder seiner Gattin und Serienmörder, und sie redeten unent-
wegt – die eine, weil sie keine Wahl hatte, die andere, weil sie ihre Schwester liebte. Stellen Sie sich die beiden im Hof vor, umgeben von Luxus, Brunnen und Jasmin, kühlen Getränken, Sklaven, Seide. Dort amüsierten sie den Wahnsinnigen, denn ihr Leben stand auf dem Spiel. Wenn Scheherezade tanzte, nahm sie den Geist und die Herzen gefangen und verzauberte die Augen aller. Damals war Dunyazad das einzige schöne Mädchen in der Stadt. Die anderen hatten angsterfüllt die Flucht ergriffen. Wenn Scheherezade versagte, würde der Kalif ihre Schwester zur Frau nehmen und am nächsten Morgen auch sie hinrichten lassen. Und natürlich war eine Frau an allem schuld. Hätte Shahriyars erste Gemahlin sich nicht mit einem hübschen schwarzen Eunuchen vergnügt, wären all die anderen nicht gestorben, oder? Bates war leicht zu unterhalten. Trotzdem bot ich ihm eine erstklassige Show. Ich tanzte für mich, soweit es mein geschwächter Körper zuließ. Und das faszinierte ihn. Das Tonband würde etwa zwanzig Minuten lang laufen. Wenn ich mein krankes Bein schonte, konnte ich die Darbietung vielleicht wiederholen, und dann würde Liam Hilfe ins Haus schicken. Nur mein Tanz vermochte Bates abzulenken. Mußte er nicht zum Flughafen fahren? Ich würde tanzen, und irgend jemand würde kommen. Dann würden wir Bates überwältigen und fesseln, die Polizei würde ihn wegbringen und Lily und Harry finden. Die Welt wäre wieder in Ordnung, und ich müßte mich nur mehr Jims wegen sorgen und wegen der Dinge, die das alles heraufbeschworen hatten. Ich liebe das Tanzen, das In-sich-Hineinfallen. Sogar in dieser Situation genieße ich die Bewegung, und Bates ist genauso hingerissen. Er geifert geradezu. Zweifellos begehrt er mich und kann den Blick nicht von mir wenden… Ich drehte mich auf einer Ferse, schwenkte meine Hüfte in seine Richtung und leerte mein Champagnerglas. Flickflack, flick, Figur acht. Und weiter. Das gefiel meinen Hüften, mein Bein war okay. Allmählich erhob sich meine Seele. Nach hinten geneigt, forderte ich ihn mit schwingenden Händen und wehendem Haar heraus. Er zündete sich eine Zigarette an. Willst du mich in Brand stecken? Bastard. Die Zigarette ruhte zwischen seinen Schenkeln. Dreckiger alter Bastard. Warum holst du dein Ding nicht einfach raus und legst los? Es mißfällt mir, wenn man mich demütigt.
Langsam tänzelte ich zum Barschrank und schüttete gepfefferten Wodka in ein Glas, ohne meinen Rhythmus zu unterbrechen. Sie ist okay, niemand wird ihr etwas antun… Als ich mich umdrehte, lag er auf dem Sofa und berührte sich, und ich klemmte das Glas zwischen die Zähne, um den Rosenwassertrick vorzubereiten. Ein paar Minuten lang tanzte ich noch, die Augen geschlossen. Wenn er seinen Schwanz auspackt, werde ich ihn mit gepfeffertem Wodka übergießen. Wahrscheinlich wird es höllisch weh tun. Wenn nicht, dann sein Gesicht. Was konnte mir das nützen? Es würde mich beglücken. Nun öffnete ich die Augen, und er holte seinen Schwanz raus. »Oh, du Biest!« schrie er, aber es klang nicht zornig. »Leck den Wodka ab!« O Gott, er glaubt, es ist ein Spiel. Ein nettes kleines Sexspiel. Aber mir steht der Sinn nicht nach Sexspielchen, ja, wir alle wissen, was du nicht willst, aber darum geht es nicht. Doch, genau darum geht es. »Du tanzt viel besser als deine Schwester. Aber ich frage mich, ob du das auch so gut hinkriegst«, spottete er. Lachend sprang er auf. Hör nicht zu tanzen auf. Ich kann gleichzeitig denken und tanzen. Nur nicht stillstehen. Ich wich vor ihm zurück. Eine neue Figur, ich wiege mich, wieder Nummer acht, hin und her, schlichte Gebärden, die sich ständig wiederholen. Mein Bein ist meine Drehangel. Obwohl ich mich bewege, bin ich wie festgewurzelt. Solange ich es nicht zulasse, wird er mich niemals aus dem Gleichgewicht bringen können. Denk nach. Langsam. Er hat Janie tanzen sehen, und er hat mit ihr geschlafen. Schwer zu sagen, was mich mehr überrascht. Aber ich muß weitertanzen, darf mir nichts anmerken lassen. Ich danke Gott für meinen Körper, der einfach weitertanzt. Aber ich kann nicht denken. Akzeptiere die Fakten, die Tatsache, daß es komplizierter ist, als du es erwartet hast. Tanz weiter. Nun kam er auf mich zu, seinen Schwanz in der Hand. Wenn es ein Film gewesen wäre, hätte ich versuchen können, ihm ins Gesicht zu treten und ihn zu überwältigen. Würde es etwas nützen? Er ist nicht wütend. Und größer als ich. Alles will ich wissen. Er wird es mir nicht erzählen. Oder doch. Ich kann nicht gleichzeitig reden und tanzen.
Wenn ich zu tanzen aufhöre – werde ich diesem Sexspiel entrinnen? Kann ich es schaffen, ihn in ein Gespräch zu verwickeln? Er redet gern. Rasch huschte ich davon, zurück zum Barschrank (schwarz, orientalisch, mit Perlmutt intarsiert, kleine Figuren, Fischer unter tiefhängenden Zweigen, sehr hübsch). »Noch Champagner?« fragte ich und lächelte liebenswürdig. Das Tonband lief immer noch, und ich bewegte mich im Takt der Musik, versuchte die Stimmung zu erhalten, den Zauber zwischen Publikum und Tänzerin. Den hätte ich nicht mit dem Rosenwassertrick zerstören dürfen. Jetzt mußte ich ihn wieder heraufbeschwören. Die Zuschauer kennen ihren Platz, und ich würde Bates auf seinen zurückführen. »O ja.« Wie leicht er zu befriedigen war… »Setzen Sie sich, ich bringe Ihnen ein Glas« sagte ich, und er gehorchte. Mit klingelnden Münzen, in den Rocksaum eingenäht, hüpfte ich durchs Zimmer. »Hier!« Beflissen und charmant kniete ich nieder, nicht allzu dicht vor seinen Füßen, und wich seinem Blick aus. Er glaubte, die Energie, die ich verströmte, wäre sexuell – jeden Augenblick würde die Anziehungskraft zwischen uns wie Flammen auflodern und ich würde in seine Arme sinken. Daß mich reine, defensive Aggression erfüllte, merkte er nicht. Er glaubte, hier fände ein lustvoller Machtkampf statt. Und nur um die Ekstase zu steigern, würde ich mich noch zieren. Seine Arroganz war meine Stärke. »Oh, du schönes Mädchen«, seufzte er und nahm einen Schluck aus seinem Glas. »Du süßes, mysteriöses Geschöpf…« Träumerisch lächelte ich. Kühle Getränke und Höfe und Brunnen und Jasmin. Wenn ich seine Hure sein soll, dann werde ich eine Almeh sein. Intelligent und gebildet. Wir werden reden. Denn das ist auch mein Spiel. »Erzählen Sie mir von Janie«, bat ich, als wäre die Situation ganz normal. »Die konnte fabelhaft bumsen. Bist du jetzt eifersüchtig? So was muß ein Mädchen ärgern, vor allem eins wie dich, ein stolzes Mädchen. Und das gefällt mir. Janie war nicht besonders stolz, was?« In meiner Jugend hatte ich Barbara-Cartland-Romane gelesen, wenn ich mit dem Bus gefahren war, in denen immer eine Szene vorkam, in der ein älterer Aristokrat mit fleischigen Lippen und lüsternem Blick der rothaarigen Heldin in der Bibliothek unsittliche
Anträge machte, entzückt von ihren zornig funkelnden grünen Augen und ihrem weißen Schwanenhals. Bald würde er mich ein mutwilliges Fohlen nennen und den Wunsch äußern, mich zu zähmen. Eine uralte Geschichte. Deshalb brauchte ich mich nicht aufzuregen. Das bin ich, und dies alles passiert jetzt. Nein, Janie war nicht stolz. Nur reizbar. »Ich wußte gar nicht, daß Sie meine Schwester kannten«, murmelte ich. Mehr muß ich nicht sagen. Janies wegen sind wir hier. Wenn ich ihn anstachle, wird er reden. (Die Männer wollen reden. Fast immer.) »Oh, ich kenne jeden. Und Janie kannte ebenso viele Leute.« Offenbar fand er die Konversation amüsant. Warum, verstand ich nicht, und das Lächeln fiel mir immer schwerer. Plötzlich beugte er sich vor. »Dich kenne ich auch, nicht wahr?« Ich schwieg. »Erkennst du mich?« »Ja.« Er meinte das Feuer. Oder ein inneres Band, das uns vereinte, das wir nicht zerreißen konnten und das uns zu unserem Schicksal führen würde – ins Bett. O Gott, er meinte das Feuer. »Hättest du doch das Geld genommen. Da du es abgelehnt hast, interessiertest du mich um so mehr. Sogar ein Hurenbock wie ich sehnt sich nach einem Mädchen, das kein Geld annimmt. Eine Hure kann man nicht vergewaltigen, weil sie sich ohnehin verkauft. Wenn man sie vergewaltigt, bestiehlt man sie, und das macht keinen Spaß. Aber wenn man ein anständiges Mädchen veranlaßt, einem alles zu schenken, mit Freuden…« Wie soll ich lächeln, während er mir diesen Unsinn erzählt? Es gelingt mir, und ich lächle. »Du willst es doch? Du bist bereit, und du weißt es, und du glaubst, ich würde es nicht merken. Armer kleiner Harry! Was kann dir so ein Einfaltspinsel bieten? Welch eine Verschwendung! Nun, du wirst dich nicht mehr vergeuden, meine Liebe. Keine Bange.« Offenbar war er dümmer, als ich gedacht hatte. Wenn er Harry für einen Einfaltspinsel hielt, war er sehr dumm. Oder er glaubte nur, was er glauben wollte, und das passiert sogar den klügsten Leuten. Nein, ich durfte mich nicht auf seine Dummheit verlassen. »Du hast mein Geld nicht genommen. Da wußte ich es – ich mußte dich nehmen. Und da bist du. Nach all den armseligen Imitationen… Arme Janie. Nicht, daß sie langweilig gewesen wäre. Keines-
wegs. Und sie interessierte sich nicht nur fürs Geld. So was spüre ich. Es gefiel ihr.« Obwohl ich es verhindern wollte – die Wahrheit kam ans Licht, glasklar. Er schaute mich an, mein Gesicht, nicht meinen Körper. »Vielleicht hattest du keine Ahnung.« Ich schwieg. »Hast du es nicht gewußt?« War es das, von dem ich keine Ahnung gehabt hatte? »O Gott, es tut mir so leid«, sagte er. Und ich glaubte ihm. Er kniete neben mir nieder und legte einen Arm um meine Schultern. »Hätte ich’s bloß nicht erwähnt! Aber ich dachte, du wüßtest es. Verzeih mir.« Ich begann zu weinen, und er gab mir sein Taschentuch. Wie freundlich er war… Und er meinte es ernst – es war die erste ehrliche Reaktion, die ich an ihm beobachtete. Mit meiner eigenen Reaktion wollte ich mich nicht befassen. Doch ich konnte ihr nicht ausweichen. Was hatte er gesagt? Daß meine Schwester eine Prostituierte gewesen war – die Wahrheit. Es läutete an der Tür. »Zieh dich um, Darling, und geh nach oben. Gleich komme ich zu dir.« Ja, er war wirklich sehr freundlich. Hastig holte ich meine Sachen vom Fuß der Treppe, rannte hinauf, floh ins Bad und kleidete mich um. Dann wusch ich mein Gesicht und überlegte, ob ich den Revolver stehlen sollte. Nein, ich wollte niemanden töten. Ich kenne meine Macht im Tanzkostüm – die Macht des Eros, der Legende, der Mystifikation im Rhythmus, die Macht der Künstlerin über das Publikum, die hypnotische weibliche Macht über die Begierde der Männer; die Macht der unwirklichen Frau, in die ich mich verwandle, wenn ich tanze, des geschminkten, verkleideten Archetypus, des Traums von einer Frau. Aber – o Gott – in meinen Jeans und meinen Stiefeln fühlte ich mich wohler. Fatimas Behauptung überzeugte mich mehr und mehr. Wer sieht und gesehen wird, ist verflucht. Wenn ein Mann und eine Frau alleine sind, kommt noch eine dritte Person hinzu, der Teufel. Aus der Halle drangen Stimmen herauf. Harrys Stimme. Und noch eine andere. Ein Mann. Ruhig und gelassen stieg ich die Treppe hinab. »Nein, ich glaube nicht«, sagte Eddie zu einem uniformierten Po-
lizisten. Harry stand etwas abseits. »Nun, Sir…« Der Beamte wollte offensichtlich hereinkommen. »Miss?« »Hallo?« »Detective Tom Stevens, Miss. Gibt’s Probleme? Wir wurden angerufen…« »Oh, ich denke nicht, nein.« Ich mimte Verwirrung und schenkte Bates ein strahlendes, tapferes Lächeln, das bedeutete: Danke, Darling, nun sind wir Verbündete. Wahrscheinlich glaubte er, ich wäre jetzt seine Freundin. »Sind Sie sicher, Miss?« fragte der Bulle. »Alles okay. Hat jemand…« »Verzeihen Sie die Störung, Miss. Offenbar war es reine ZeitVerschwendung. Falls noch was sein sollte, rufen Sie mich an…« Aber er hatte verstanden, worauf es hinauslief, und verschwand. »Verdammter Schnüffler«, meinte Eddie. »Wo ist meine Tochter, Harry?« fauchte ich. »Bei Brigid und Maireadh. Sie badet grade.« »Seit wann weißt du, wo Brigid wohnt?« »Lily weiß es. Wo zum Teufel hast du gesteckt?« Statt zu antworten, fragte ich Eddie, ob ich telefonieren dürfe. Selbstverständlich! Ich rief bei meiner Freundin an, und Lily erzählte, Brigid habe sie gezwungen, Fischstäbchen zu essen, obwohl sie ein Marmeladenbrot haben wollte. Sehr gut, erwiderte ich. Dann kam Brigid an den Apparat und entschuldigte sich für das Durcheinander, das sie verursacht hatte. Lily könne bei ihr übernachten. Da sie ins Krankenhaus zu Caitlin zurückkehren müsse, würde Maireadh bei Lily und den Jungs bleiben. Ich versprach, meine Tochter bald abzuholen. War Caitlin okay? Ja, es kam nur ein bißchen plötzlich. Jetzt schlief sie neben einem Zerstäuber, und morgen würde man sie sicher aus der Klinik entlassen. Danke für alles, Brigid, wir sehen uns morgen. Harry, sagte sie, gefalle ihr übrigens sehr gut. Ich schaute in sein ausdrucksloses Gesicht. »Ich muß jetzt gehen, Eddie«, erklärte ich. »Natürlich, Darling.« Er küßte mich liebevoll, umarmte mich besitzergreifend und besänftigend. »Sobald ich aus Paris zurück bin, rufe ich dich an.« Paris! »Reg dich nicht zu sehr auf. Wir werden über alles reden. Schlaf dich erst mal aus.« Plötzlich spielte er eine ganz andere Rolle. Seine Fürsorge angesichts meines Schocks war vielleicht echt gewesen, aber jetzt holte er einen neuen Eddie aus
seinem Repertoire hervor. Kanalwechsel im TV. Ein anderer Schauspieler sprach einen Text in einem anderen Film. Da war irgendwas faul. »Du kannst mit mir fahren«, sagte Harry. Eddie sah ihn an. »Ich muß ohnehin nach Ealing zurück.« »Warum bist du überhaupt hergekommen?« wollte Eddie wissen. »Oh – das wollte ich abliefern«, erwiderte Harry und gab Eddie ein Päckchen. »Ich dachte, du hättest es gern so bald wie möglich, und dein Haus lag auf dem Weg…« Keine besonders aufschlußreiche Erklärung – und offensichtlich nicht die ganze Geschichte. Ich ging zur Tür und winkte nach einem Taxi, aber Harry folgte mir sofort.
11 Neue Erkenntnisse Inzwischen war es acht Uhr geworden. Ein schöner Abend Sonnenschein über London, weißer Stuck, blauer Himmel, sanfte Wärme. Beinahe staunte ich, weil ich noch lebte. Ich war müde. Allmählich verflogen der Wodka und der Champagner und hinterließen schmutzigen Seelenmüll auf ihrem Fluchtweg -Nebel im Gehirn, einen bitteren Geschmack im Mund und Angst im Bauch. Unter ihrem Staub schimmerten die Lorbeerblätter in den Gärten. Lachend ging ein Paar in Partykleidung vorbei. Flieder. Was für ein unglaublich schönes Wetter… Meine Beine begannen ein wenig zu zittern. Morgen würde ich mich ganz steif fühlen. Dieses Sonnenlicht… Plötzlich erschien in meiner Phantasie das Bild eines Fensters, eines Betts, der Strahl einer Spätnachmittagssonne, und mein Atem stockte. Wir gingen weiter. »Hier.« Harry half mir in den Pontiac. Wortlos fuhr er mich nach Hause. Ich döste ein wenig. Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, ob sein Schweigen Zorn oder Sorge bedeutete – oder… Hätte ich nachgedacht, wäre ich vielleicht auf den Gedanken gekommen, er könnte das Interesse verloren haben. Aber ich dachte nicht nach, und er sprach nicht. In der Nähe von Brigids Wohnung ließ er mich aussteigen und wünschte mir einfach nur eine gute Nacht. Maireadh sagte, Lily sei eingeschlafen. Ob ich sie nicht dalassen wolle? Ich sah nach ihr. Friedlich lag sie neben Michael in seinem Bett. Ich humpelte nach Hause. Ich konnte kaum gehen. In der milden Abendluft hätte ich beinahe geweint. Meine Beine trieben mir fast Tränen in die Augen – und Lily und Harry. Janie… Einmal hatten Janie und Robbie Turner mich in der Garage gefesselt und liegenlassen, als es Zeit für den Tee gewesen war. »Wo ist Evangeline?« hatte Mum gefragt. Robbie kicherte nur. Aber Janie erklärte: »Wir haben sie in der Garage gefesselt und allein gelassen, damit sie zu spät kommt und du mit ihr schimpfst.« Manchmal kletterten wir auf die alte Feuerleiter vor Mums und Dads Schlafzimmer, schlangen die hellgrünen Glyzinienranken um
die rostigen Eisenstangen und sangen: »O Soldat, Soldat, willst du mich nicht heiraten mit deiner Muskete und deiner Querflöte und deiner Trommel?« In jedem Frühling hatten sich die Ranken des letzten Sommers in trockene Zweige verwandelt, abgesehen von einigen wenigen, deren starkes, lebendiges Holz sich fest umeinanderwand, so daß wir es nicht entwirren konnten. Wie Samt fühlten sich die lebenden Ranken an, silbrig und zart. Draußen auf der Leiter besprachen wir, welche Kleider wir tragen würden, wenn wir die Königinnen von der ganzen Welt wären. Janie wünschte sich ein Brautkleid aus Magnolienblütenblättern und ich eine Hose und einen Mantel aus Glyziniensamt und einen Helm aus Feuerstein. Auf unseren Betten würden smaragdgrüne Mooskissen liegen. Oder wir würden in Hängematten aus Weidenblättern schlafen. Einmal drohte sie, meinen Teddy auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen. Wir fanden einen toten Frosch und versuchten im Holland Park, am Ententeich, eine Wikingerbestattung zu veranstalten. Aber er fing nicht Feuer. Janie hatte mich zum letzten Mal belogen, als… … als sie mir irgendwas stahl, nicht wahr? Bonbons, einen Lutscher. Einen Eislutscher! Sie aß die Hälfte, packte ihn wieder ein und behauptete, sie sei es nicht gewesen. An diesem Abend kroch sie in mein Bett, gestand mir schluchzend die Wahrheit und versicherte, es tue ihr leid. Sie war immer habgierig, aber sie log nicht. Wie hatte sie eine Prostituierte werden können, ohne mein Wissen? Und wieso war ich mir so sicher, daß es stimmte? Weil ich es wußte. Weil sie es in sich hatte. Sie hatte viele Freunde – zumindest Jungs, die mit ihr herumzogen, wenn ich nicht wollte. Nicht, daß dies irgend etwas beweisen würde. Sie ging niemals bis zum Äußersten, wie wir es nannten. Nicht vor Colin. Aber sie knutschte auf den Parties anderer Leute in den Schlafzimmern der Eltern herum. Oder sie tat so, als würde sie dem Jungen alles erlauben, und dann weigerte sie sich. Inzwischen saß ich mit den drei weiteren reizlosen Gesellschaftskrüppeln im Wohnzimmer – ein fetter Junge, ein Mädchen mit Pickeln im Gesicht, der kleine Bruder, der gar nicht dabeisein durfte. Und Janie quälte irgendeinen großen Bruder vom College, der einen flaumigen Schnurrbart, Stiefel mit Plateausohlen und einen Mantel vom Lawrence Corner trug. Einen Jungen, der rauchte und Newcastle Brown Ale trank und einen Ring im Ohr trug. Auf solchen Parties mußte ich bis halb zwölf ausharren, bis die Eltern der Gastgeber nach Hause
kamen, und dann verschwanden wir. »Was für eine tolle Party!« seufzte Janie, die Augen riesengroß unter dem schimmernden Lidschatten, den Lippenstift (mit Geschmack) verschmiert. Ich sagte ihr, sie solle ihr T-Shirt in die Jeans stopfen. Eigentlich wollte ich gar nicht auf solche Parties gehen, weil Mum sich darüber aufregte. Geschah es, nachdem ich fortgegangen war? Vorher hatte ich immer alles über sie gewußt. Und sie wußte nicht alles über mich. Aber ich wußte alles. Sie mochte reiche Leute und einen gewissen Komfort. Doch sie war nicht anspruchsvoll. Das konnte sie sich nicht leisten. Der Banker verschwand, Jim tauchte auf. Dann machten Harry und ich Schluß, und ich ging fort. Als ich zurückkam, vertrug sie sich nicht mehr mit Jim. Und wenn sie auch keine Herumtreiberin war, so hatte sie doch viele Bewunderer. Überall tauchten Freunde und verheiratete Männer auf, nachdem sie zu arbeiten begonnen hatte (ausgerechnet PR!). Viele Männer, mit denen sie nichts zu tun haben wollte. Wie wir über sie lachten! Fast jeden Abend rief sie mich an, um die Kerle zu verspotten. Wirklich, wir waren grausam. Jung, hübsch und grausam. Vielleicht – nachdem ich weggegangen war… Damals wußte ich nicht, was sie trieb, konnte es nicht wissen. Übermäßig reich war sie nicht, und sie ging nicht auf die Straße. Hatte sie mich die ganze Zeit über belogen? Und nachdem ich zurückgekommen war? Über die drei Jahre vor ihrer Schwangerschaft wußte ich nicht viel. Aber wir waren Freundinnen, Schwestern. Sie beklagte sich über Jim. Und ich versuchte verzweifelt, ein Liebesleben ohne Harry zu führen. Sie hatte ihren Job, den ich lächerlich fand, und ich tanzte und fuhr auf dem Motorrad, holte sie mit der Harley zum Mittagessen vom Büro ab. Und dabei tat sie so, als würde sie nicht merken, daß sie ihre Kollegen beeindruckte. Dauernd telefonierten wir und besprachen, was aus unseren Freunden von der Universität geworden war. Das wußte sie immer und ich nicht, denn ich zog mit meinen dummen, aber gutaussehenden Lederjackenfreunden herum – Harrys Nachfolgern. »Wann hast du zuletzt mit einem Mann geschlafen, der kein Motorrad besitzt?« fragte Janie. »Nein, versuch gar nicht erst, dich dran zu erinnern. Ich sag es dir. Es war George, 1983, dieser nette Grieche.« Wie war es nur möglich, daß ich es damals nicht gewußt hatte?
Oder hatte sie damit aufgehört? Wann hörte sie auf? Hörte sie überhaupt auf? Wie konnte sie das nur tun, warum hatte sie es nötig? Zuvor war sie keine Lügnerin gewesen. Ich schon. Sanft und unauffällig log ich, um die Dinge zurechtzurücken, und schrieb die Geschichte neu, zu meinem Vorteil. Wenn ich irgend etwas bestritt, ärgerte sich Janie. Immer wieder behauptete sie, die Eltern hätten unser Leben ruiniert und uns aus unserer angestammten Gesellschaftsschicht verjagt und mit uns herumexperimentiert, und ich pflegte zu fragen, wo das Problem läge. Es sei doch alles okay. Hatte ich etwa auch ihre Lebensgeschichte umgeschrieben? Sie nahm keine Drogen. Das hätte ich gemerkt. Aber man sollte meinen, ich hätte auch bemerkt, daß sie sich verkaufte. Was für ein seltsames, beklemmendes Gefühl – zu erkennen, daß man nichts weiß… Ich machte Tee und rückte einen Sessel auf den Balkon vor der Haustür. In der Dämmerung schimmerten die Petunien. Unten im Hof spielten immer noch ein paar Kinder. Irgendwo kochte jemand eine duftende Mahlzeit – Ingwer und Knoblauch und heißes Öl. Hinter einem offenen Fenster klirrte Besteck. Stimmen aus einem Fernseher, das Bong Bong Bong der Neunuhrnachrichten. Immer noch hell. Die letzten westlichen Sonnenstrahlen erreichten mich, und ich wollte Lily holen, um sie einfach nur im Arm zu halten. Aber für sie war es besser, wenn sie mich in dieser Nacht nicht trösten mußte. Und wer sollte es gewußt haben, wenn nicht ich? Oh. Harry hatte es gewußt. Und er glaubt, daß ich es wußte. Das Telefon läutete. Eigentlich wollte ich mit niemandem reden, aber bevor mir das bewußt wurde, hatte ich den Hörer schon abgenommen. Es war Mum, und ich trug den Apparat auf den Balkon. Hastig drückte ich meine Zigarette aus, denn Mum weiß nicht, daß ich rauche. Hatte ich ihre Nachricht erhalten? O ja, tut mir leid. Und was würde ich tun? Womit? Mit den Sachen. Mit welchen Sachen? Die Sachen, über die wir geredet haben. Tut mir leid, Mum, was ist’s denn? Janies Sachen, die in der Kiste, auf dem Dachboden. Also wirk-
lich, Mädchen, was hast du bloß im Hirn? Janies Sachen. Eine Botschaft aus dem Grab. Da sitze ich und frage den blauen Abendhimmel, was zum Teufel vor drei Jahren und davor geschehen ist, und plötzlich taucht eine Kiste mit Sachen auf. »Okay, ich hol sie. Was ist drin?« »Keine Ahnung, Liebes, ich hab nicht reingeschaut.« »Wollen wir die Sachen zusammen durchsehen?« »Ich persönlich würde sie lieber wegwerfen. Aber das willst du natürlich nicht.« »Wenn ich was finde, möchtest du es dann wissen?« »Was könntest du denn finden?« »Irgendwas.« »Da gibt’s nichts. Aber ich dachte mir, daß du gern reinschauen würdest.« »Gut, ich komme raus.« »Was? Jetzt?« »Ja – warum nicht?« »Wo ist Lily?« »Sie übernachtet bei einer Freundin.« »Mit drei Jahren? Um Gottes willen, Mädchen…« »Das ist schon okay, Mum, meine Freundin wohnt gleich um die Ecke, und Lily schläft tief und fest. Und bevor sie morgen früh erwacht, laufe ich rüber. Das ist okay.« Ja, es war okay. Enfield. Was für ein gräßliches Nest. Aber sie bewohnten ein hübsches Häuschen, ein ehemaliges Pfarrhaus aus der Zeit, in der Enfield noch ein Dorf gewesen war, nicht bloß ein Teil von der M 11. Am späten Abend herrschte kein allzu starker Verkehr, und die Fahrt dauerte nicht lange. Dad öffnete die Tür, umarmte mich und schenkte mir ein Glas Wein ein. Nachdem er meine andere Hälfte verloren hatte, liebte er mich um so mehr. Er liebt mich, weil ich Lily aufziehe. Sonst müßte er das zusammen mit Mum tun, und er schätzt sein ruhiges beschauliches Leben. Er liebt mich, weil ich tapfer und stark bin und ihn niemals um Geld bitte, das er mir dauernd anbietet. Obwohl ich weiß, daß sie nicht mehr viel haben. Früher war Dad Journalist. Sport. In unserer Kindheit flog er um die ganze Welt, schrieb Reportagen und machte Interviews, Rom, Brasilien, World Cup, George Best, Carnaby Street. Mum war Lehrerin. Aber Dad hatte zottiges Haar, trug eine Lederjacke und hatte eine Geschichte. Er kaufte einen Anteil an einer Bar, außerdem war
er an einem Club für Fußballer beteiligt, die sich zur Ruhe gesetzt hatten. In den sechziger Jahren war er Mitte Dreißig. Ein cooler Dad, eine nette, sensible Mum, die sich damit abgefunden hatte. Gar nicht so übel. Jetzt sieht er Tag und Nacht Kricket, weil sie einen Satellitenanschluß haben. Und Mum wünscht sich, sie hätten keinen. Sie sitzt im Bett und liest moderne feministische Literatur und wartet auf ihn. Auf dem Nachttisch liegen Angela Carter, Maya Angelou, Jeanette Winterson. Sie meint, das müßte niemanden überraschen. Immerhin hat sie Englisch unterrichtet und mit fünfzehn »The Well of Loneliness« gelesen, und sie weiß alles über Rebecca West und H. G. Wells. Emotionen seien sehr interessant, erklärt sie. Aber in der wirklichen Welt mag sie keine Gefühle. Sie liebt ein ruhiges Leben. So wie Dad. Sie arbeiten zusammen im Garten. Binden die Glyzinienranken hoch. Auf dem Sideboard steht ein großes Foto von Janie und mir, jung und aufgeregt, hübsch angezogen für einen Maiball. Früher hatten sie auch die Fotos von unserem Studienabschluß aufgestellt. Aber Janie räumte sie weg und meinte, wir würden schrecklich und hysterisch aussehen. Womit sie völlig recht hatte. Und da sind wir nun, mit 1984er-Make-up, in 1980er-Par-tykleidern, und klammern uns im abendlichen Sommersonnenschein aneinander. Für die Maiwoche war sie nach Cambridge gekommen, und ich würde zum Ruderrennen nach Oxford fahren. Besonders gute Eltern verbergen ihren Stolz auf ihre Weise. Dad macht Witze, weil sein Dad auf dem Markt von Spitalfields gearbeitet hatte (»Welch ein Glück, daß keiner von uns in den Himmel kommen wird! Denn euer Granddad weiß gar nicht, daß er mitgeholfen hat, euch zu produzieren.«). Dad verdiente zwar Geld, aber er war nie so ganz zufrieden mit dem, wofür er bezahlte – für uns bezahlte. Und Mum vertrat den Standpunkt, wenn man Mädchen ordentlich erzieht und mit ihnen im Ford Anglia zum Campingurlaub nach Frankreich fährt, um ihren Horizont zu erweitern, wenn man ihnen alle Möglichkeiten bietet und hart arbeitet und das alles bezahlt, dann müßten sie sich ordentlich entwickeln. Warum auch nicht? Weil Mum natürlich nicht die Hälfte von all dem wußte, was auf uns zukommen würde. Und davon hat sie auch nichts erfahren. Sie trug ihren Schlafrock. »Um diese Zeit hättest du wirklich nicht rausfahren müssen.« »Aber ich wollte es.« Es war noch nicht einmal zehn. Auch Dad sah so aus, als hätte er lieber seine abendliche Ruhe
genossen. Aber er drehte eine unscharfe Sportübertragung aus weiter Ferne leiser. »Hast du schon gegessen?« Ich lachte. Natürlich, Mum kümmerte sich um mich. Eher sie als irgendwer sonst. Normalerweise mache ich mich lustig drüber, aber heute abend denke ich nur, wie gut du bist, wie glücklich ich bin, weil ich dich liebe und weil du mich liebst. »Ich schau mal in den Kühlschrank.« »Auf dem Herd steht noch der Topf mit den Hähnchenkeulen.« Immer hat sie zuviel Essen im Haus. Salatblätter verfaulen, Eintöpfe werden nicht aufgegessen, denn sie hat noch immer nicht begriffen, daß die beiden hungrigen Mädchen nicht mehr mit all ihren hungrigen Freunden auftauchen. Nachdem ich eine Hühnerkeule mit Kartoffelsalat verschlungen hatte, stieg ich zum Dachboden hinauf. Die Kiste stand am Treppenabsatz, eine staubige alte Teekiste, die fehl am Platz wirkte. »Willst du sie hier aufmachen?« Hinter mir erklang Mums entmutigende Stimme. »Nein, ich nehme sie nach Hause mit.« Ich aß noch ein bißchen Kartoffelsalat und schaute mir geistesabwesend das Match im Fernsehen an. Die typische Mittelstandsfamilie, die es geschafft hat, aber es gibt ein dunkles Geheimnis hinter der Tragödie, die wir gemeistert haben. Mum öffnete ihr Buch – Isabel Allende. Wenn ich auch die weite Fahrt auf mich genommen hatte – jetzt war ihre Aufgabe erfüllt. Wie geht’s dir? Hast du gegessen? Das war’s. Nicht nötig, Konversation zu machen. Alles okay. Aber es war nicht okay. »Mum?« »Hm?« »Jim hat sich gemeldet.« Ohne mich anzuschauen, griff Dad nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Mum legte ihr Buch beiseite und starrte es an. »Und?« fragte Dad. »Er will sie haben.« Fast greifbar und unvermeidbar lag das Schweigen in der Luft. »Damit ist für uns wohl alles futsch«, meinte Dad, und ich glaubte, ich müßte mich entschuldigen. »Tut mir leid.« »Niemand will den Boten erschießen«, sagte Mum. »Wann kön-
nen wir Neil sehen?« »Morgen?« »Wann er eben Zeit hat«, erwiderte Dad. »Gut, morgen nachmittag. In seinem Büro. Ich ruf nochmals an und sag euch, um wieviel Uhr.« Seufzend nickte er, und sie schloß die Augen. Ich küßte beide auf die Wange und verließ das Haus. Daheim erwartete mich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Von Eddie. Süße, nichtssagende Worte.
12 Blumen von Eddie Ich erwachte um sieben und konnte mich kaum rühren. Nach dem unerwarteten Tanz fühlte sich mein Bauch wie halbfester Zement an, und meine Beine waren angeschwollen. Ich besprühte sie mit Ralgex und schluckte eine Arnikatablette. Dann zog ich was Bequemes an und ging zu Brigid. Lily schlief noch zwischen den blonden Köpfen von Brigids Jungs in Brigids breitem Bett. Und Aisling stand gerade im Wohnzimmer auf. Brigid kam aus dem Zimmer ihrer Söhne, wo sie in einem der Stockbetten geschlafen hatte. »Als sie alle in mein Bett gekrochen waren, mußte ich auswandern.« Erschöpft legte ich mich zu meiner Tochter und den Jungs. Zwei Sekunden später schlief ich ein. Lily weckte mich und meinte, ich würde komisch riechen. Weil ich meine Beine mit Ralgex besprüht hatte, erklärte ich. Warum? Weil sie schrecklich steif sind. »Steif wie ein dreibeiniger Hund«, sagte sie. Dann wollte sie ein junges Hündchen spielen, ich mußte die Hundemutter mimen, und da erwachten die anderen, und wir aßen Reis-Krispies. Ich nahm alle Kinder mit nach Hause. Während sie in der Küche ein Piratenschiff bauten, lag ich in der Badewanne. Das heiße Wasser lockerte die verkrampften Wadenmuskeln. Am liebsten wäre ich wieder ins Bett gegangen. Aber ich mußte arbeiten. Konzentration gleich Null. Ich rief Neil an, und wir verabredeten uns für zwei Uhr. Obwohl Samstag war, wollte er uns zuliebe in sein Büro kommen, und ich würde ihm wieder mal was schuldig sein. Nachdem ich an das Thema erinnert worden war, ließ es mich nicht mehr los, und ich begann meine eidesstattliche Erklärung zu schreiben. Aus der Küche drangen die Kinderstimmen herüber. »Lily Gower wurde infolge des tödlichen Unfalls ihrer Mutter zu früh geboren… Lily Gower hat drei Jahre lang bei mir gelebt, seit ihrer Geburt und dem Tod ihrer Mutter… Lily Gowers Mutter, meine Schwester, wurde getötet, als… Lily Gower lebt bei mir, seit sie geboren wurde und ihre Mutter bei einem Motorradunfall ums Leben kam. Hiermit lege ich den Polizeibericht über den Unfall bei. Der Unfall wurde niemandem zur Last gelegt, und man erstattete keine Anzeige…« Warum benutzte ich Wörter wie »hiermit«? Das Gesetz spricht
eine andere Sprache und schreibt noch eine weitere. Indem ich ein paar Wörter einstreue, die man nur auf dem Papier findet, kann ich nicht vorgeben, diesen Jargon zu verstehen. Zur Last gelegt – erstattet… O Miss Pompös! »Lily Gower lebt bei mir, seit sie geboren wurde und ihre Mutter bei einem Motorradunfall starb. Der Polizeibericht über den Unfall liegt bei. Es war eindeutig ein Unfall, und es gab keine Ermittlungen. Lily kam mittels eines Kaiserschnitts zur Welt. Bald danach starb ihre Mutter, meine Schwester. Da ich nichts von James Guest hörte, dachten meine Eltern und ich, seine Tochter würde ihn nicht interessieren. Während der nächsten drei Jahre meldete er sich nur einmal und bat uns, ihn in Lilys Geburtsurkunde als Vater eintragen zu lassen. Damit waren wir einverstanden, denn wir glauben, daß ein Vater, sogar ein abwesender, eine wichtige Rolle im Leben eines Kindes spielt.« Natürlich fand ich es sinnlos zu erwähnen, daß Dad verkündet hatte, am liebsten würde er Jim erschießen, oder daß wir ihr unseren Nachnamen und nicht seinen gegeben haben, ohne darüber zu diskutieren. »Sie sah ihren Vater nur einmal. Im Mai dieses Jahres fragte er, ob er uns mit seiner Frau zum Tee besuchen dürfte. Dabei erfuhr sie nicht, daß er ihr Vater ist. Da ich Mr. Guests Absichten nicht kannte, wollte ich sie nicht aufregen. Wenn er regelmäßige Kontakte wünscht, möchten wir alles tun, was in unserer Macht steht, um das Verhältnis zwischen Lily und ihrem Vater konstruktiv zu fördern. Ihr zuliebe werden wir die Vergangenheit vergessen und ihr helfen, eine gute Beziehung zu ihm aufzubauen. Lily führt ein erfülltes, glückliches Leben. Sie weiß, daß ihre Mutter gestorben ist und daß ich deren Schwester bin. Wenn sie älter wird und Fragen stellt, werde ich ehrlich antworten und sie behutsam über den tödlichen Unfall informieren. Sie versteht sich sehr gut mit ihren Großeltern mütterlicherseits. Das hilft ihr, in dieser Welt ihren Platz zu finden und zu erkennen, daß sie eine liebevolle Familie hat, obwohl ihre Mutter tot ist. Wir alle besuchen uns regelmäßig und machen gemeinsam Urlaub.« In der Tat. »Seit der Geburt des Kindes besitze ich zusammen mit meinen Eltern das Sorgerecht, und es gab niemals Meinungsverschiedenheiten. Lily wurde stets termingerecht geimpft. Ihrem Alter entsprechend, entwickelt sie sich normal. Sie leidet an einem Ekzem, das regelmä-
ßig mit speziellen Badeölen und Salben behandelt wird. Außerdem achte ich auf staubfreie Räume. Zwanzig Stunden pro Woche besucht sie einen Montessori-Kindergarten, was ihr großen Spaß macht. Dort hat sie viele Freunde und Freundinnen, und sie liebt die Kindergärtnerinnen. Wenn sie sich nicht im Kindergarten aufhält, wird sie von mir und gelegentlich von einer guten Freundin und Nachbarin betreut, Brigid O’Hara, deren kleine Kinder, besonders die Tochter Caitlin, eng mit Lily befreundet sind. Die Kinder spielen abwechselnd in beiden Wohnungen. Da Lily ein Einzelkind ist, fände ich es bedauerlich, wenn sie diese Freundschaften aufgeben müßte.« In diesem Augenblick verwüsteten sie die Küche. Ich rannte hinüber und schlichtete einen Streit um die Müllschaufel. »Da ich zu Hause arbeite und relativ gut bezahlt werde, kann ich Lily ein angenehmes Leben bieten und den Großteil meiner Zeit mit ihr verbringen. Ihr Wohl liegt mir sehr am Herzen. Ich arbeite nur so viel, daß wir gut über die Runden kommen. Irgendwelche Extravaganzen können wir uns nicht leisten. Aber die brauchen wir auch gar nicht, denn wir fühlen uns wohl in unserem Heim. Jeder, der Lily kennenlernt, wird sie für ein glückliches, normales Kind halten. Seit dem Trauma ihrer Geburt und dem Verlust der Mutter lebt sie in Sicherheit und Geborgenheit. Sie genießt einen friedlichen Alltag, ohne größere Aufregungen. Falls sie zu anderen Leuten ziehen müßte, würde sie vermutlich seelischen Schaden nehmen, sowohl kurzals auch langfristig. Sicher wäre sie sehr unglücklich, wenn sie nach dem Tod der leiblichen Mutter auch noch die Frau verlieren würde, die sie als ihre Mutter betrachtet. Ich wäre ebenso verzweifelt, doch das ist sekundär…« O Gott. Brauchen sie so ein Gefasel? Wirkt es zu persönlich? Ich möchte nur Fakten anführen, aber ich fürchte, ich trage zu dick auf. Diese Seelenblähungen, diese Selbstaufopferung… Wird Jim es wirklich tun? Wird Nora ihre Karriere aufgeben, um für Lily zu sorgen? Oder wollen sie jemanden engagieren, der ihnen die Verantwortung abnimmt? Das sind die Fakten. Ich muß mit Neil sprechen. Es läutete an der Tür, und ich starrte einen Riesenstrauß aus Madonnenlilien, Zittergras, Rosen, Tuberosen und Grünzeug an, in funkelndes Zellophan gewickelt, mit roten Satinbändern umwunden. Sund teuer. »Miss Gower?« Der Lieferant verschwand beinahe hinter der
bunten Pracht. »Blumen«, erklärte er überflüssigerweise. Auf der Karte – etwa dreißig Zentimeter im Quadrat, gelbes Pergament – stand: »Hoffentlich fühlt sich mein fabelhaftes Mädchen jetzt besser. Bis später. E. B.« Das war nicht die verschnörkelte Handschrift eines Floristen mit winzigen Kreisen statt I-Punkten, sondern ein tiefschwarzes kleines Gekritzel. Kein Buchstabe schien zu wissen, in welche Richtung er sich neigen sollte. Hätte ich noch nicht an seinem Verstand gezweifelt – beim Anblick dieser Zeilen hätte ich ihn endgültig für verrückt gehalten. Ich nahm das Bukett entgegen und erlitt eine kurze Seinskrise. Was für aufdringlich schöne Blumen! So was schickt man mir nicht allzuoft. In den letzten fünf Jahren ist es kein einziges Mal passiert. Aber ich haßte ihn und hoffte, ihn nie wiederzusehen. Schließlich packte ich den Strauß in einen großen Plastikeimer und stellte ihn auf den Küchentisch. Dort würde er bleiben, bis ich entschieden hatte, ob ich ihn verächtlich wegwerfen sollte, und bis dahin würden die Blumen ohnehin verwelkt sein. Immerhin war es nicht ihre Schuld, daß sie von einem Ekel stammten. Da hockten sie und attackierten mich mit ihrem Duft. Ich rief meine Eltern an und teilte ihnen mit, wann wir uns in Neils Büro treffen würden. Dann starrte ich auf Janies Teekiste. Die Besprechung mit Neil verlief sehr konstruktiv. Während er in seinem eleganten Büro in Canonbury hinter dem wuchtigen Schreibtisch saß, bat er uns, sein Honorar vorerst zu vergessen. Aber ich weiß, daß er zweihundert Pfund pro Stunde kostet, und wenn in diesem Raum auch kein Taxameter tickte, würde ich meine Schulden in irgendeiner Form bezahlen müssen. Diese Erkenntnis war mir nicht eben angenehm, steigerte aber meine Konzentration. »Natürlich hat das Wohl des Kindes Vorrang«, dozierte er, »und das Gericht wird entscheiden, was am besten für Lily ist. Jim und seine Frau…« »Frau?« fragte Mum. »Welche Frau?« »Er ist verheiratet«, antwortete ich, »mit einer gewissen Nora. Kühl, clever, eine Karrierefrau, hübsch gekleidet – falls man diesen Stil mag.« »Und dir mißfällt er«, warf Dad ein. »Für ihn ist es günstig, daß er eine Ehefrau hat«, sagte Neil. »Ein alleinstehender Vater würde das Sorgerecht wohl kaum erhalten. Jedenfalls müssen die beiden das Gericht davon überzeugen, daß Lily bei ihnen glücklicher wäre. Ihre wichtigsten Waffen sind der
Reichtum, der Ehestand und Jims leibliche Vaterschaft. Außerdem könnten sie versuchen, deine mütterlichen Qualitäten in Frage zu stellen. Und unsere Hauptwaffe ist die lange Zeit, die du nun schon für Lily sorgst – drei Jahre. Zweifellos hast du deine Sache gut gemacht. Den Richtern widerstrebt es normalerweise, solche Situationen zu ändern, es sei denn, das Kind wäre eindeutig und ohne jeden Zweifel besser dran, wenn es anderswo untergebracht wäre. Geld allein beeindruckt sie nur, wenn eine der Parteien außerstande ist, das Kind zu ernähren. Sogar dann können sie den reicheren Elternteil dazu verpflichten, die Lebenshaltungskosten des Kindes zu bestreiten und es trotzdem beim anderen wohnen zu lassen. Die Tatsache, daß Jim keinen Pfennig für Lily gezahlt hat, spricht nicht zu seinen Gunsten. Auf emotionale Stabilität legen sie großen Wert. Nun ist Jim seit zwei Jahren verheiratet. Wir müßten dahingehend argumentieren, dieser Zeitraum sei zu kurz, um die erforderliche Stabilität nachzuweisen. Zudem wirkt es nicht besonders sympathisch, daß er ein Jahr, nachdem seine Freundin – die Mutter seiner Tochter – gestorben ist, geheiratet hat… Natürlich wirst du deine emotionale Situation erklären müssen, Ange.« »Meine – was?« »Das hast du doch gehört. Das Gericht wird mit Recht fragen, ob du einen Freund oder Freunde hast, ob jemand bei dir lebt, wie dein Sexualleben aussieht, ob Lily davon betroffen wird…« »Okay, okay.« Mum schaute mich an. »Was ist los?« fauchte ich. »Hast du ein Sexualleben, Liebes?« erkundigte sie sich neugierig. »Du bist kein Richter.« »Ange«, murmelte Dad. Wie eine schlechte Komikerin zuckte ich die Achseln. »Oh, diese Fragen sind leicht zu beantworten. Nein. Nein, nein und nein.« »Das muß den Richtern nicht unbedingt gefallen. Wahrscheinlich glauben sie, du wirst dir früher oder später einen Liebhaber zulegen, und das könnte Lily schaden. Wenn du dich in einen Widerling verliebst und in blinder Leidenschaft deine Mutterpflichten vergißt, würdest du das Kind womöglich vernachlässigen. Und alleinstehende Frauen sind besonders anfällig.« Sagte er das nur, um mich zu ärgern? Weil ich ihn nicht wollte? Versuchte er anzudeuten, was für einen guten Eindruck es machen würde, wenn ich mit einem netten, reichen Anwalt verheiratet wäre?
Vor gut drei Jahren hatte er mir empfohlen zu heiraten. Nun schaute er mich mit einem sanften, offenherzigen Blick an. »Ange, ich erklärte dir nur, was die Richter denken werden – nicht, was ich denke.« Aha. »Du kannst ihnen nur beteuern, daß so etwas nicht passieren wird. Du solltest am fraglichen Tag möglichst häßlich und reizlos aussehen… Dann können wir auf Noras Karriere hinweisen und betonen, es sei zweifelhaft, daß sie drauf verzichten würde. Außerdem müssen wir die Frage stellen, ob Jim ein guter Familienvater wäre. Die Richter ziehen es vor, wenn eine Person nur für das Kind da ist, und halten nicht viel von Kinder- und Au-pair-Mädchen oder Kindertagesstätten, et cetera. Falls einer der beiden ankündigt, er würde seinen Job aufgeben, haben wir Probleme, Ange, da du arbeiten mußt. Aber wir können sagen, Jim und Nora wüßten nicht, worauf sie sich einlassen, und es würde wahrscheinlich nicht funktionieren. Außerdem ist Nora, die vermutlich ihren Beruf aufgeben würde, nicht mit Lily verwandt und praktisch eine Fremde, nur durch den Vater mit ihr verbunden. Und den kennt Lily nicht einmal. Jahrelang hat er sie im Stich gelassen. Das werden wir ins Feld führen. Er behauptet vielleicht, er habe zuerst einen Hausstand gründen wollen. Warum hat er danach zwei Jahre gewartet? Oder er sagt, nach Janies Tod sei er zu verzweifelt gewesen. Darüber lachen wir und kontern, wenn man für ein Kind sorgen will, darf man nicht so empfindlich sein – man müsse das Wohl des Kindes vor die eigenen Gefühle stellen. Unser größter Vorteil liegt darin, daß du Lily bereits liebevoll betreut hast und daß es funktioniert, während die beiden nur versprechen können, sie würden ihr Bestes tun. Immerhin sprechen drei Jahre zu unseren Gunsten.« »Wie schlimm kann’s denn werden?« fragte Dad unvermittelt. »Das hängt davon ab, wie ernsthaft sie Lily wollen«, erwiderte Neil. »Vorerst wissen wir nicht einmal den Grund dafür. Jim kam mir nie besonders väterlich vor. Und Nora ist eine unbekannte Größe. Vielleicht hat sie ihn dazu überredet. Falls sie verlieren, können sie es immer wieder versuchen, solange sie neue Argumente vorzubringen haben und das Gericht sie akzeptiert.« »Und was passiert jetzt?« wollte Mum wissen. »Das Gericht beauftragt eine Sozialarbeiterin, Angeline zu überprüfen und nachzusehen, ob Toilettenpapier im Bad hängt, und so weiter…«
»O Jesus«, stöhnte ich leise. »…dann werden die Richter mit Lily reden, und wir kriegen einen Termin. Dafür müssen wir die eidesstattlichen Erklärungen vorbereiten.« Ich gab ihm das Schriftstück, das ich verfaßt hatte, murmelte Entschuldigungen und Erklärungen. Nach der Lektüre rief er ein bildschönes Mädchen, das beinahe wie eine Zwölfjährige wirkte, ins Büro, offensichtlich seine Sekretärin, und bat sie, meine Erklärung dreimal zu fotokopieren. »Jeder nimmt eine Kopie mit nach Hause und notiert, was seiner Meinung nach noch erwähnt werden sollte. Bloß keine falsche Scheu! Drückt so richtig auf die Tube. Manche Leute versuchen in solchen Situationen, besonders höflich und großzügig zu sein. Aber das ist sinnlos. Die anderen fahren ja auch alle ihre Geschütze auf.« Dann standen wir auf und bedankten uns. Hinter seinem großen Schreibtisch, mit seinem umfassenden Fachwissen, wirkte er schrecklich imposant und erfolgreich – ein Herrscher in seiner eigenen Welt. In diesem Augenblick beneidete ich ihn. Es muß tröstlich sein zu wissen, wer man ist und was man ist. Und ich konnte in der eidesstattlichen Erklärung nicht einmal meinen Beruf definieren. »Wovon leben Sie, Miss Gower?« Das ist die schwierigste Frage, die man mir stellen kann. Könnte ich doch antworten: »Ich bin Anwältin.« Oder: »Ich bin Ärztin.« Oder: »Ich bin Putzfrau.« Alle würden wissen, was sie von mir zu halten haben, und hätten keine Probleme mit mir. Wir verstehen uns. Wir sind in Sicherheit. Aber so was kann ich nun mal nicht sagen. Großer Gott, beneide ich wirklich jene, die Sicherheit und einen festen Job haben? Wie weit wird es noch mit mir kommen? Ich führte meine Eltern die Treppe hinab und erklärte, ich müßte noch mal zurücklaufen und mit Neil reden. In fünf Minuten würde ich zurückkommen. Wollten sie inzwischen schon losfahren? Mum regte sich ein bißchen auf, und Dad schüttelte den Kopf, was besagen sollte: ›Oh, diese Frauen.‹ Dann beschlossen sie, nach Enfield zu fahren, und ich versprach, später anzurufen. Ich sprang die Treppe hinauf. Und ich versuchte immer zwei Stufen auf einmal zu nehmen, bis mein Bein mich eines Besseren belehrte. »Noch was, Neil…«, begann ich. »Hm?« Er schaute kaum von seinen Papieren auf. »An dem Abend, wo wir gestritten haben…« »Also wirklich, Ange, es ist nicht nötig…«
»Anschließend bin ich noch gefahren«, unterbrach ich ihn. »Das erzähle ich dir nicht, um an dein Gewissen zu appellieren. Aber ich hatte einen in der Krone und wurde von der Polizei erwischt.« »Wie zum Teufel hast du denn das fertiggebracht?« »Ich bog falsch ab, in die Rupert Street, eine Einbahnstraße. Und da stand ein Bulle.« »Sieht nicht gut aus.« »Nun ja – noch schlimmer. Oder auch nicht.« »Was?« »Ich wurde nicht angezeigt.« »Und man wird auch keine Anzeige erstatten?« »Eh – nein.« »Dann ist ja alles in Ordnung.« »Nicht direkt.« »Warum nicht?« Ich fühlte mich wie eine Fünfjährige, die ihrem Schuldirektor gegenübersteht. Aber ich bin nicht fünf, und Neil ist nicht mein Schuldirektor. »Ich hab’s so arrangiert, daß ich nicht angezeigt wurde.« »Wie, bitte, Ange?« »Nun, ich sprach mit…« »Halt den Mund.« »Was?« »Du wurdest nicht angezeigt. Großartig. Das freut mich, und ich danke dir für deine Offenheit. Dein Anwalt muß alles wissen, was für den Fall wichtig ist. Und ich finde es toll, daß du es mir erzählt hast. Also, die Sozialarbeiterin wird einen Termin mit dir vereinbaren. Wahrscheinlich will sie sich auch in Lilys Kindergarten umschauen und deine Eltern kennenlernen, vielleicht auch deine Freundin – wie heißt sie doch gleich? Natürlich mußt du ihr helfen, das alles in die Wege zu leiten. Sei nett zu ihr. Diese Leute sind sehr einflußreich. Bis später. Bye.« Hastig scheuchte er mich hinaus, wie eine streunende Katze, die ein Auge auf seinen Goldfisch geworfen hatte. Ich brauchte nicht lange, um zu merken, daß jeder Versuch, ihm alles zu gestehen, sinnlos wäre. Und ich erriet auch, warum. Wenn er es weiß und jemand danach fragt, muß er es sagen. Deshalb schützte er uns beide. Natürlich konnte ich ihn trotzdem einweihen. Aber danach würde ich ihn töten müssen. O Gott, Harry. Während ich über den Canonbury Square zur U-Bahnstation
schlenderte, drohte mich die Last meiner Probleme plötzlich zu erdrücken, und mein Atem stockte. Irgend jemandem mußte ich mich anvertrauen. Einfach nur darüber reden. Es gab so viele Querverbindungen – nebulöse Elemente, die vielleicht wichtig waren oder auch nicht. Wichtig? Wofür? Wenn ich drüber redete, würde ich vielleicht erkennen, wie die Fragen lauteten, und die Antworten finden. Gab es überhaupt irgendwelche Fragen? Wie sollte ich Jim besiegen? Warum war Janie eine Hure gewesen? Wie sollte ich Eddie loswerden? Dito Ben Cooper? Was ist mit Harry los? Ja, es gab wirklich einige Fragen. Für die Jahreszeit war es ungewöhnlich heiß, fast unerträglich. Als ich die Station erreichte, drehte mir die Mischung der Gerüche fast den Magen um – Platanen, heißes Pflaster, Flieder und U-BahnLuft. Sogar in Canonbury ist die Luft schlecht, trotz der Grünflächen und der hohen georgianischen Fenster. Ich versank in einem Tagtraum von hohen georgianischen Fenstern und einem großflächigen, glänzenden, hellen Parkettboden; ein großes Klavier, Sonnenstrahlen, eine Schale voller Rosen, richtig üppige Rosen aus einem Garten, die fast schon verblüht waren und den schwülen Duft einer alternden Geliebten verströmten – wie Kutchuk Hanem. Nicht diese bleichsüchtigen chemischen Rosen aus holländischen Gewächshäusern mit den steifen Stielen, die jeweils nur eine einzige Blüte tragen. Lily sitzt unter dem Klavier und zeichnet, und ich spiele Chopin. Aber ich kann nicht Klavier spielen. Reiß dich zusammen. Ich ging zu Brigid, um Lily abzuholen, und dann über den Spielplatz mit den Schaukeln und dem Eiscreme-Wagen nach Hause. Hinter dem kleinen Tresen ertönte »Lili Bulero«. Lily wollte das Lied von der alten Lady hören, die in einem Korb zum Himmel hinauffliegt, siebenmal höher als der Mond, und ich sang es ihr vor, mitten auf der Straße. Als wir daheim ankamen, saß Ben Cooper auf der Schwelle. »Was gibt’s?« fragte ich, ohne die Tür zu öffnen. »Ich muß mit dir reden.« Zum erstenmal, seit ich ihn kannte, schaute er müde, ausgelaugt und unbehaglich drein. Nun ja, meine Schwelle ist nicht besonders komfortabel. »Nicht jetzt, Ben, ich muß Tee für Lily machen und sie dann ins
Bett bringen…« »Aber es ist wichtig.« »Was ich zu tun habe, ist auch wichtig«, erwiderte ich sanft, aber entschieden. Er starrte mich jedoch so flehentlich an, daß ich meine Möglichkeiten kurz überdachte und dann beschloß, doch mit ihm sprechen zu müssen. »Komm später wieder.« Ich wollte ihn nicht im Haus haben. Kein Fremder in meinem enderun. Andererseits konnte ich Brigid nicht schon wieder darum bitten, auf mein Kind aufzupassen. »Um acht herum schläft Lily ein. Am besten kommst du um halb neun.« »Das glaube ich einfach nicht«, seufzte er und stand mühsam auf. »Nur weil ein Kind schlafen geht, muß ich mich verpissen.« »Waren wir verabredet?« fragte ich frostig, schob mich an ihm vorbei und zog Lily hinter mir her. Ich hasse es, wenn die Leute glauben, Kinder wären unwichtig. »Und drück dich bitte etwas kultivierter aus.« Endlich brachte ich ihn zum Lachen, wenn es auch etwas bitter klang. Lily und ich gingen in die Wohnung. »Er mußte doch gar nicht pissen, oder, Mum?« fragte sie. »Pasta oder – eh – Pasta?« Seit Tagen hatte ich nicht mehr eingekauft. Wie ein sterbender Elefant wälzte sich Ben die Stufen hinab, und ich fürchtete, er würde sich wieder auf die Schwelle setzen und warten, bis ich bereit war, ihn zu empfangen. Ich verfrachtete ihn in den Liegestuhl vor der Tür. »Was willst du?« »Sei nicht so unhöflich. Wir müssen reden. Können wir irgendwo hingehen?« Nein, ich würde ihn nicht in meine Wohnung lassen. Nicht am Abend. Nicht ihn. Niemanden. Ob es mir nur um die Ästhetik oder häusliche Reinheit ging, wußte ich nicht. Jedenfalls hatte er mein Traumheim schon einmal verpestet, und jetzt war ich todmüde. So viele unberechenbare Männer hatten mir Angst eingejagt. Und es widerstrebte mir, seine Kommentare über Eddies Blumenstrauß zu hören. Aus reiner Bosheit schlug ich das Winfield vor. Dort gefiel es ihm nicht, und ich wußte auch, warum. Abends, nach Dienstschluß, kamen zahlreiche Polizisten in die Kneipe und rissen die Klappe auf.
Einmal hatte ich einen betrunkenen Fettarsch drohen hören, er würde sich diesen Linford Christie vornehmen… Dieser Polizistentyp konnte erfolgreiche schwarze Männer nicht ausstehen. Natürlich war Ben seit Jahren an diese Kollegen gewöhnt. Aber es würde ihm nicht gefallen, in ihrer Hörweite seine Meinung zu äußern. Damit rechnete ich. Er sollte abhauen, sich verziehen, am besten gar nicht mehr existieren. So wie Jim und Bates. Klar, das war albern von mir. Solange die Leute etwas von einem wollen, verschwinden sie nicht. Jim will Lily, Bates meinen Körper und Ben was anderes, das vielleicht auftauchen wird. Okay, meinetwegen. »Nein, da will ich nicht hingehen«, sagte er. Warum machte ich mir die Mühe, ihn zu ärgern? Wir würden ohnehin nirgendwo hingehen. Aber es verblüffte mich wieder einmal, daß er Lily vergessen hatte. Man darf ein Kind nicht allein lassen. Doch die meisten Leute denken nur an sich selbst – ich inklusive. Ich denke nur an Lily und mich selber. »Also bleiben wir eben hier«, sagte ich nicht gerade einladend. »Ein Drink?« Notgedrungen brachte ich ihm ein Glas Whisky. Er sah wirklich furchtbar aus, und das sagte ich ihm auch. »Kein Wunder.« Er starrte den Whisky an, als hätte er so etwas schon irgendwo einmal gesehen, könnte sich aber nicht dran erinnern. »Whisky«, erklärte ich freundlich. »Den wolltest du doch.« Er grunzte. »So was trinkt man«, fügte ich hinzu. Plötzlich richtete er sich im niedrigen, entwürdigenden Liegestuhl auf. Jetzt, wo seine Unverschämtheit verflogen war, erkannte ich, wie beklagenswert sein Zustand war. Offensichtlich war sein Selbstvertrauen die einzige Stütze gewesen, die ihn aufrechterhalten hatte. Er starrte blicklos vor sich hin. »Ben, das ist alles gut und schön, aber es wird immer später und…« »Als ich dich um Hilfe bat«, fiel er mir ins Wort und stemmte seine schlaffe Gestalt hoch, so gut er es vermochte, »dachte ich, vielleicht gibt’s eine kleine Chance. Das war keine sehr gute Idee, und ich hätte mir denken können, daß du nicht viel erreichen würdest. Eigentlich hätte ich es nicht tun dürfen, aber ich habe es nun einmal getan…« »Warum, wenn ich fragen darf?«
»Halt den Mund. Was?« Er dachte kurz nach, dann antwortete er: »Weil du da warst.« Das hatte er letztes Mal auch gesagt. Mit einem schwachen Lächeln fuhr er fort. »Und weil ich’s gern sehe, wenn die Frauen nach meiner Pfeife tanzen.« Ein paar Sekunden lang wurde er wieder von seinen Gedanken überwältigt. »Okay. Erzähl mir alles, was du weißt.« »Gar nichts weiß ich, Ben. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was da vorgeht«, erwiderte ich und wurde mit einem altmodischen Macho-Blick bestraft. »Offenbar ist Eddie Bates ein Gauner und Harry Makins sein Laufbursche, der einen Autoladen für ihn betreibt. Aber das hast du sicher längst herausgefunden. Eddie ist ein Perversling – nun ja, ich gefalle ihm. Und da geht wahrscheinlich irgendwas vor, das dich interessiert. Darüber weißt du sicher mehr als ich. Mehr kann ich dir nicht erzählen – nur, daß er gern gut ißt, nach dem Dinner Brandy trinkt und ein bißchen kokst – und daß sein Dienstmädchen Siao Yen heißt. Das war’s. Ach ja, am Freitagabend ist er nach Paris geflogen. Zumindest hat er es behauptet.« »Paris. Hast du ihm geglaubt?« »Was weiß ich? Das ist mir völlig egal.« »Und wer hat ihn begleitet?« Wortlos schaute ich ihn an. »Paris…« Er versank in einem Tagtraum. »Und er kommt zurück?« »Das nehme ich an.« »Weißt du… Nein, wahrscheinlich nicht. Hör zu…« Wieder eine bedeutungsschwere Pause. »Eddie mag dich.« Keine Frage, sondern eine Feststellung. »Gewissermaßen.« »Vertraut er dir?« »Ich bezweifle, daß er die Bedeutung dieses Wortes kennt.« »Doch, die kennt er. Aber er traut ihr nicht. Würdest du auch nicht, an seiner Stelle.« »Nun, ich habe ja nur sein Adreßbuch gestohlen. Natürlich traut er mir.« »Wie verhielt er sich, als du wieder bei ihm warst?« »Wieso weißt du, daß ich noch einmal da war?« »Erinnerst du dich nicht? Du hast eine Nachricht auf deinem Anrufbeantworter hinterlassen. Also?« »Er war – okay, und er wollte mich besser kennenlernen.«
»Sehr gut. War er nicht wütend wegen des Adreßbuchs?« »Er sagte, er könne sich nicht vorstellen, wieso ein kleiner Scheißbulle wie du glaubt, er könnte sich mit so einer Bagatelle wichtig machen.« Schamlos nutzte ich die Gelegenheit, Eddies Wortwahl etwas auszuschmücken. »Und was hast du davon gehalten?« »Nichts. Das alles geht mich nichts an.« »Hast du nicht allmählich das Gefühl, es müßte dich was angehen? « »Nein«, erwiderte ich prompt. Ben durfte nicht merken, daß ich log. Seufzend schüttelte er den Kopf. »Wir waren doch immer Freunde, nicht wahr, Ange?« Was? Ich hasse dich, Ben. Das mußt du doch gemerkt haben. »Als Janie damals tödlich verunglückte, litt ich mit dir. Auch sie war meine gute Freundin. Sie half mir manchmal, und ich half ihr. O ja. Es gab Zeiten, wo Janie und ich wirklich… Jedenfalls war ich immer ihr Freund.« »Ich bin nicht Janie«, erwähnte ich. »Nein, natürlich nicht. Aber die Dinge werden – immer interessanter, und ich brauche jemanden, auf den ich mich verlassen kann…« »Nicht auf mich.« »Sehr schade.« Schwerfällig stand er auf, lehnte sich an die Hauswand und warf dem Liegestuhl einen feindseligen Blick zu. Dann leerte er sein Glas in einem Zug. »Okay, der Deal sieht folgendermaßen aus. Du mußt die Freundschaft mit Eddie kultivieren. Triff ihn so oft wie möglich, sorg dafür, daß er dir auch weiterhin gewogen bleibt, und ruf mich mindestens zweimal täglich an, um mir zu erzählen, wie’s ihm geht und was er macht, wo er sich rumtreibt, mit wem er sich trifft, was sie sagen, was er anhat, wo sie essen und wer die Drinks serviert. Sogar die Farbe seiner Socken interessiert mich. Und dann die Dokumente, vor allem Reisepässe, Adreßbücher, Terminkalender, Namenslisten. Von all dem brauche ich Kopien, falls du es irgendwie hinkriegst – Tonbänder, Videos, Geschäftspapiere. Wenn du mit ihm bumsen mußt – dann tu’s. Und bevor du jetzt den Mund zu weit aufreißt – wenn du es nicht tust, lasse ich dich wegen Trunkenheit am Steuer festnehmen und erzähle der Staatsanwaltschaft, daß du mich bestechen wolltest. Außerdem würde ich meine Staatsbürgerpflicht erfüllen und
Jim Guest, seine Anwälte, die zuständige Sozialarbeiterin und das Gericht über gewisse Dinge informieren, zum Beispiel über deine Beziehung zu Eddie Bates.« »Warum sollte Jim sich dafür interessieren?« fragte ich ausdruckslos. »Wovon redest du?« Aber es war sinnlos. Er bedachte mich erneut mit diesem herablassenden, berechnenden Blick. »Und damit du verstehst, wie ernst ich es meine, will ich dir andeutungsweise erzählen, was da vorgeht.« Es fiel ihm sichtlich schwer, und ich fragte mich, warum er sich dazu entschlossen hatte. Dann wußte ich’s. Er wollte mir Angst einjagen. »Vermutlich wird Eddie uns bald verlassen. Entweder vermodert er in einer gräßlichen, kleinen Zelle, oder er fliegt nach Casablanca, nach Buenos Aires… Das steht noch nicht fest. Falls ersteres passiert, hat er angekündigt, daß er mich mitnehmen will. Und im letzteren Fall könnte ersteres jederzeit eintreten. Deshalb brauche ich eine kleine Garantie. Ich weiß Dinge über Eddie, die sonst niemand weiß. Sobald ich einen kleinen Beweis habe – den du mir beschaffen wirst –, bin ich aus dem Schneider. Du übrigens auch. Sollte ich geschnappt werden, nehme ich dich mit.« »Wenn er ohnehin im Knast landet, ist es doch egal, was du über ihn weißt.« »Die Dinge, die ich weiß, sind anders, Ange. Viel schlimmer.« »Was denn?« »Warum sollte ich’s dir sagen?« »Weil du mir befiehlst, ihm nachzuspionieren? Weil du mich aufforderst, mit ihm zu schlafen?« »Falls du oft genug mit ihm schläfst, wirst du alles selbst rausfinden. Komm schon, Angie, du bist doch so raffiniert. Das schaffst du schon. Worum es geht, braucht dich nicht zu interessieren. Es ist sogar besser, wenn du ahnungslos bleibst. Mach dich an ihn ran, gewinn sein Vertrauen, gib mir Bescheid, sobald er abreisen will, und merk dir alles, was wichtig sein könnte.« »Und wie erkenne ich, was wichtig ist?« »Ruf mich an und frag mich. Ruf mich regelmäßig an. Auch wenn du in Schwierigkeiten steckst. Dann komme ich sofort und rette dich.« »So wie letztes Mal«, murmelte ich. »Letztes Mal?« »Gestern!«
»Wovor mußtest du denn gerettet werden?« »Vor gar nichts. Zumindest ist nichts passiert, was dich interessieren müßte.« Nur ein armseliges Tänzchen…. »Aber ich habe ihm das Adreßbuch gestohlen, und das weiß er. Deshalb wird er mir nicht trauen.« »Ist dir schon aufgefallen, daß er ein bißchen verrückt ist? Er wird es dir sicher nicht verübeln.« »Nein, Ben, das mache ich nicht.« Plötzlich sah ich Flammen vor meinem geistigen Auge – und Eddies Gesicht. »Das ist doch Wahnsinn. Dir würde es nichts nützen – und mich in eine unmögliche Lage bringen…« »Dann gib Lily einen Abschiedskuß.« »Bitte nicht, Ben…« »Wenn du mich nicht rettest, warum sollte ich dich retten?« »Ich kann dich doch gar nicht retten.« »Vielleicht doch. Stell dir vor, du wärst ein Strohhalm und ich würde mich an dich klammern.« Sollte ich ihm von jenem Abend erzählen, wo Eddie versucht hatte, mich anzuzünden? Dann würde er verstehen, warum mir sein Vorschlag so sehr widerstrebte, und mich vielleicht in Ruhe lassen. Wie auch immer, ein Versuch würde sich lohnen. »Ben – einmal tanzte ich in einem Restaurant – und – eh – da wollte mich ein Mann anzünden.« »Und?« »Das war Eddie.« »Also weißt du doch was.« Und du auch, dachte ich. Schon die ganze Zeit hast du es gewußt, und es war dir scheißegal. Ja, Ben, wir waren immer Freunde. »Deshalb tu ich’s nicht.« Sicher gab es eine andere Möglichkeit. Wir konnten auswandern. Nach Ägypten. Zeinabs Mum würde uns vorerst aufnehmen. Ich könnte… Ich könnte… Oh, verdammt! »Ruf mich morgen an, meine Liebe«, sagte er und verschwand. »Das alles hast du dir selbst zuzuschreiben«, flüsterte ich und dankte mir für meine gütigen, tröstlichen Worte.
13 Janies Teekiste Den ganzen Sonntag wanderte ich umher. In die Küche. Wieder hinaus. In mein Arbeitszimmer. Hinunter in Lilys Zimmer. In ein Schlafzimmer. Unentwegt klingelte das Telefon, und ich nahm den Hörer nicht ab. Um mich zu beruhigen, schob ich eine Umm Kalthum-Kassette in den Recorder, die schönste Stimme Ägyptens und die ägyptischste. Wenn der Anrufbeantworter schwatzte, steckte ich die Finger in meine Ohren und sang lauthals mit. »Warum gehst du nicht ran?« fragte Lily. »Weil ich nicht will.« »Dann geh ich ran«, erbot sie sich hilfsbereit. Sie liebt das Telefon und glaubt, es wäre nur da, damit man Unsinn reden kann. »Hallo, Bananenkopf.« So meldet sie sich immer. Aber ich hielt sie zurück und tigerte wieder in die Küche. »Gehen wir in den Park?« Gute Idee. Gehen wir in den Park, bevor ich durchdrehe. Im Augenblick fällt mir niemand ein, mit dem ich mich wirklich verstehe. Ich belüge alle Leute, die ich kenne, oder sie belügen mich, oder ich verheimliche ihnen etwas, oder sie verheimlichen mir etwas, oder ich hasse sie, oder… O Gott, die Liste ist endlos. Sekundenlang wünschte ich mir, ich wäre katholisch und könnte alles rauslassen. Ich kehrte ins Arbeitszimmer zurück und starrte den Umschlag mit den Bankauszügen an, der ungeöffnet auf dem Schreibtisch lag, wie ein Kuhfladen, in den man nicht treten durfte. Eigentlich müßte ich arbeiten. Meine ganze Lilyfreie Zeit wird von diesen Problemen beansprucht. In drei Monaten werden keine Schecks mehr eintrudeln. Ich habe nichts Bestimmtes zu tun. Deshalb sollte ich interessante Themen für meine Artikel suchen. O Scheiße – ja, da habe ich was. Plötzlich erinnerte mich eine zugeklebte Versandtasche an das Buch, das ich rezensieren mußte. Zweihundert Pfund! Wann zum Teufel ist der Abgabetermin? Ich werde es in den Park mitnehmen, Lily in den Sandkasten setzen und zu lesen anfangen. Vögel und Kieselsteine, Vögel und Kieselsteine. Dort höre ich das Telefon nicht und kann mich von Coopers Ultimatum ablenken, von meiner Wut auf diesen Kerl. Am Abend, als Lily schlief, ging ich wieder ins Arbeitszimmer
und beschloß, mich an Janies Teekiste heranzuwagen. Ich hatte ihre Habseligkeiten schon vor langer Zeit gesichtet und mir die Geschichtsbücher angeeignet, Kleidungsstücke für die Wohlfahrt bereitgelegt und den Krimskrams gnadenlos weggeworfen. Oder ich hatte es versucht. Das Gipsbein ausgestreckt, saß ich da, Mum reichte mir die einzelnen Sachen, und Zeinab half mir. Ich weiß nicht, was schlimmer war – die körperliche oder die seelische Anstrengung. Wie sehr ihre Sachen meinen eigenen glichen, und doch, welch ein Unterschied… Ihre Kleider waren teurer als meine, aber genauso ungepflegt. Ghost-Kleider für achtzig Pfund, die wie indische Fetzen vom Portobello-Markt aussahen, weil Janie sie niemals ordentlich aufgehängt oder in die Reinigung gebracht hatte. Schön geschnittene Lederjeans, lange nicht getragen, ausgetrocknet und muffig (wenigstens meine Motorrad-Ledersachen halte ich in Ordnung). Hübsche Kenzo-Kostüme fürs Büro – ich wußte nicht, daß sie so viele besessen hatte, denn in meinen Augen waren sie alle gleich, grau und widerlich geschmackvoll. Alle wurden Oxfam geschickt. In Ghana nennt man Secondhand-Kleider Obroni wo heh – der weiße Mann ist gestorben. Und ihre Kosmetika, genauso teuer, genauso chaotisch, undichte Flaschen mit Clinique-Grundierung, loser Puder, Lippenstifte, 1984 gekauft. Alles, was meinen eigenen Sachen ähnlich war, packte ich zu meinem eigenen Kram, und alles vermischte sich. Janies Erbe wurde von meinem Leben absorbiert, und bald vergaß ich, was ursprünglich ihr Eigentum gewesen war und was meines. Manchmal dachte ich an jene wilden Stämme – ihre Mitglieder glauben, sie könnten die Kraft und die Qualitäten eines Menschen übernehmen, den sie getötet haben. Aber ich wollte Janies Kraft und ihre Qualitäten nicht in mir aufnehmen. Von ihren Schwächen ganz zu schweigen. Doch ich mochte meine Schwester nicht verlieren. Und ich hatte sie nicht im Kampf getötet – es war einfach geschehen. Damit werde ich nicht wieder anfangen. Alle auf der großen weiten Welt sagen, ich sei unschuldig – alle außer mir. Aber was kümmert es mich, was die Leute denken. Ich hätte es verhindern müssen… Genug. Genug. Was ich mit Janie identifizierte, behielt ich nicht. Ich schenkte Zeinab die schönen schwarzen Samtkleider, warf die Lebensmittelvorräte und die halbvolle Tampax-Schachtel weg. Innerhalb von zwei Tagen räumten wir die Wohnung aus. Ich leg-
te ein paar Sachen für Lily beiseite – die Paillettenjacke, die Tagebücher und Briefe, ein bißchen Schmuck, unbeschriftete alte Postkarten, Fotos. So sentimental wie ich war sie nicht gewesen, und sie hatte nicht viel verwahrt. Ich träufelte Zedernöl in eine Holzkassette und verschloß sie. Sehr romantisch. Allein schon die Unterwäsche… Alles warf ich weg, außer einem eleganten schwarzen Korsett von Rigby and Peller, gute fünfhundert Pfund wert. Das erfuhr ich, als ich in den Laden ging, um es für mich ändern zu lassen. Sogar das kostete fünfzig Pfund. Wir trugen fast dieselbe Größe, aber meine Taille ist etwas schmaler, infolge der Bauchtanzerei. Dieses Dessous hatte ich ganz vergessen – und auch keine Verwendung dafür gefunden. Jetzt war ich froh, daß ich es niemals angezogen hatte, um wilde Leidenschaft zu erregen. Ich wollte nur wissen, was sie getrieben hatte und mit wem. Wie es funktioniert hatte. Hatte sie sich an Straßenecken rumgetrieben? Wohl kaum. Teure Hotels? Firmenapartments? Hostessenagenturen? Hatte sie einen Zuhälter? Wie zum Teufel war sie da reingeraten? Ganz abgesehen von der Frage nach dem Warum? Wer könnte darüber Bescheid wissen? Ich rief Harry an. Nach dem ersten Läuten legte ich auf. Ich würde in die Teekiste schauen, jetzt gleich. Tagelang hatte ich es hinausgezögert. Ich hatte gedacht, das alles wäre erledigt. Ein Irrtum. Los, grab die alten Gebeine aus. Was in der Kiste lag und warum, wußte ich nicht. Weder Mum noch ich hatten die Sachen weggepackt. Das mußte Janie selbst getan haben, vor vielen Jahren. Ich erwartete Federboas zu sehen, alte Einladungen zu Parties im Magdalene, Automatenfotos von lachenden jungen Leuten mit langen Haaren und gezupften Brauen, eng aneinandergedrückt. Doch ich hätte mich gar nicht gründlicher täuschen können. Ich schleppte die Kiste in die Küche und überlegte, wo ich am besten anfangen sollte. Natürlich oben, Mädchen, drück dich nicht mehr davor. Zieh einfach die Decke weg. O Gott, ich erinnere mich an die alte grüne Schottendecke aus unserer Kindheit. Die benutzten wir, wenn wir Bonnie Prince Charlie spielten. Okay, weg mit den Schichten der Vergangenheit. Räum alles raus… Soviel war es gar nicht. Unter der Decke war eine alte Geldkassette aus schwarzem Metall, die Sorte mit roten Streifen an den Rändern, einem Ring im Deckel und Fächern, die man herausziehen konnte. Die Kassette war unversperrt, und ich stellte sie auf den Tisch, um sie zu öffnen. Keine Fächer. Lauter Fünfzigpfundbündel. Ich blinzelte, schloß das Kästchen, machte es
Ich blinzelte, schloß das Kästchen, machte es auf und schloß es wieder. Dann legte ich Zeitungspapier darauf. Aber ich sah es immer noch. Schließlich schob ich es unter das Sitzkissen des alten Lehnstuhls in der Ecke, ganz nach hinten, in das schwarze Loch der durchgesessenen Polsterung, stapelte die Zeitungen darauf und kochte Tee. So pflege ich zu lügen. Wenn man auf irgendwas Kissen und Zeitungen packt, existiert es nicht mehr, und man muß sich nicht damit befassen. »Ich will, daß alle Leute glücklich sind«, hatte ich früher gesagt. Und Janie hatte mich angeschaut und erwidert: »Aber das sind sie nicht.« Ich kehrte mit meiner Teetasse zur Kiste zurück. Eine weitere Decke aus der Kinderzeit bedeckte einen Stapel Videobänder. Alle waren mit weißen Etiketten beklebt. Darauf standen nur Daten, in Janies großer Kursivschrift, mit schwarzem Filzstift. Ich zog ein Video hervor. 21. März 1989. Mein sechsundzwanzigster Geburtstag. Damals war ich in Casablanca gewesen. Weil ich kein Geld mehr besaß, tanzte ich in einem Touristenhotel. Die Urlauber waren enttäuscht. Eine blonde Bauchtänzerin wollten sie nicht sehen. Aber die Einheimischen fanden mich großartig, und ich trat vier Monate lang in diesem Hotel auf, bis der Manager genug von meiner tugendhaften Zurückhaltung hatte. Offenbar glaubte er, ich würde seinem Harem angehören, und so versuchte er mich zu vergewaltigen. In Tränen aufgelöst, kam der Hotelbesitzer zu mir und versicherte, am liebsten würde er den Manager feuern. Leider sei das unmöglich, weil dessen Schwager eine Menge in das Hotel investiert habe. Deshalb könne er mich zu seinem tiefsten Bedauern nicht beschützen. Nur selten hatte ich einen so traurigen, beschämten Mann gesehen. Casablanca… Ich verdrängte die Erinnerungen und nahm die zehn Videos aus der Kiste. Daß Janie eine Videokamera benutzt hatte, war mir neu. Vielleicht TV-Aufnahmen – nein, die hatte ich vor drei Jahren zusammen mit ihren Spielfilmen und den Trainingsvideos (darunter »Bauchtanz für Fitneß und Spaß« – sehr amüsant) zu Oxfam geschickt. Alle Etiketten waren beschriftet, mit Tipp-Ex überpinselt und noch einmal beschriftet worden. Vermutlich würde ich zu Brigid gehen und mir das Zeug dort anschauen müssen. Unter den Videos fand ich Bankauszüge und eine kleine Schmuckschatulle voller glitzernder Steine. Sicher keine Rheinkiesel. Sehr auffällig. So etwas würde eine englische Lady nicht tragen.
Vielleicht Ivana Trump. Zwei Diamantringe, modern und häßlich geschliffen, Smaragdohrringe, die wie Talmi aussahen, und drei schwere Goldketten. Diese Sachen hatte ich nie an Janie gesehen, was nicht weiter verwunderlich war. Was das alles wert war, wußte ich nicht. Also war sie sehr tüchtig in ihrem Beruf gewesen und gut bezahlt worden. Sie hatte ihre Altersversorgung in einer Kiste versteckt und unters Bett geschoben. Meine kleine Schwester… Ich trank meinen lauwarmen Tee und starrte durch das Fenster auf die welken Petunien. Eigentlich habe ich nichts gegen Prostituierte. Wir alle verkaufen irgendwas. Das merkt man, wenn man erwachsen wird. Man verkauft seine Zeit, seine Kraft, seine Fähigkeiten, sein Wissen, sein Aussehen, seine Jugend. Was immer man besitzt. Harry hat seine Seele verkauft, ich meinen Körper – jahrelang. Wie könnte ich behaupten, eine Frau dürfe das nicht tun? Und dann sehe ich – mißhandelte Gefühle, ausgebeutete Teenager, gierige Huren, die sich für ihr Gewerbe entscheiden, weil sie glauben, es wäre einfach, und weil sie ohnehin keinen Zugang zu ihrem eigenen Herzen finden. Ich sehe Frauen, die keine Wahl und nichts anderes zu verkaufen haben. Oder sie bilden sich ein, sie besäßen nichts anderes, weil man ihnen eingeredet hat, sie seien wertlos. Ich sehe Männer, die davon leben, sehe Gewalt und Verlust und gebrochene Herzen und Lügen. Ich sehe Noor. Wenn mir eine emanzipierte Frau erklärt, sie sei stark genug, um so ein Leben zu führen, sage ich: »Okay.« Aber ich glaube ihr nicht. Und Janie? So eine Frau war sie nicht. Deshalb finde ich es so schrecklich, daß sie es tat, denn es zerstört das Gefühlsleben, die zwischenmenschlichen Beziehungen, beschwört die Gefahr von Krankheit und Gewalt herauf, entehrt die Frauen und zwingt sie zu lügen. Sie belog mich. Nun kann sie es mir nicht mehr erklären, sich nicht rechtfertigen, und ich werde ihr nie verzeihen. Eine solche Lüge verhöhnt alles, was man für Wahrheit gehalten hat. Hatte sie mich auch in anderer Hinsicht belogen? Meine Schwester, dreißig Jahre lang meine Vertraute… Hatte sie insgeheim gelacht, wenn ich mich über die Männer beschwerte, die in den Restaurants nach mir griffen und mir Geld anboten? Was dachte sie, wenn ich verkündete, wie sehr ich diese Kerle haßte und verachtete? Waren sie wirklich so dumm zu glauben, ich würde das Geld nehmen? (Damals war ich sehr jung, Janie auch.) Später, als ich genug Erfahrung gesammelt
hatte, sagte ich, sicher würden sie sich gar nichts vorstellen – nur, wie ich ohne Unterhose aussehen mochte, hatte sie da über meine sorgsam gehütete Tugend gelacht? Oder hat sie geweint? Und jetzt zerstörte ihr Lebenswandel ihre Beziehung zu mir, obwohl sie seit drei Jahren tot war. Hatte Jim gewußt, was seine Freundin trieb? Wenn nicht, wäre es verständlich, daß sie diese geheime Kiste versteckte. Nicht zuletzt wegen ihres Gewerbes hatte sie sich geweigert, mit ihm zusammenzuleben. Mir erklärte sie damals, daran sei seine Gewalttätigkeit schuld. War das eine Lüge – eine Ausrede, damit sie mir nicht verraten mußte, was sie in Wirklichkeit daran hinderte, mit ihm zu leben? Jetzt sehe ich, was ihr die Prostitution eingebracht hat. Aber ich weiß nicht, wie ihr der Reichtum übergeben wurde – und von wem. Eine einzige Lüge zieht eine Kette aus Zweifeln und Mißtrauen hinter sich her. Nicht weil du eine Hure warst, Janie, sondern weil du es mir verschwiegen hast. Und nun weiß ich nicht mehr, ob ich glauben soll, daß Jim dich geschlagen hat. Wie dumm von dir, sagte sie. »O nein, das ist völlig logisch«, erwiderte ich. Logik hat damit nichts zu tun. Es ist wahr. Das weißt du. Oder du müßtest es wissen. »Ich weiß nur, was du mir erzählt hast.« Glaubst du mir nicht? Vertraust du mir nicht? »Wie könnte ich? Jetzt?« Du hast mir ohnehin nie geglaubt und mich einfach abgeschrieben. Nach deiner Ansicht hatte ich einen idiotischen Job, meine Freunde waren blöd, und du hast dich gar nicht für mich interessiert. »Doch, verdammt!« Dann hättest du merken müssen, was ich tat. Wie konntest du übersehen, daß deine Schwester eine Nutte war? Eh? Du hättest es wissen müssen. »Wie meinst du das?« Du warst meine Schwester, meine Freundin. Also hättest du es wissen müssen. »Hättest du es mir doch gesagt!« Wozu? Eine echte Freundin hätte es bemerkt. Und ich dachte, du würdest es wissen. »Wie sollte ich denn…?« Eine richtige Freundin findet so etwas raus. Hättest du auch mal
an mich gedacht und mir ein bißchen mehr Aufmerksamkeit geschenkt, statt dein gebrochenes Herz durch ganz Nordafrika zu schleppen, wäre es dir sicher aufgefallen. Aber du hast es nicht gemerkt, weil du nicht interessiert warst. Nach einem Ball rannte ein Junge über die Veranda davon und zerstörte meine Träume. Ägyptische Zwillinge verwandeln sich nachts in Katzen und gehen auf Nahrungssuche. Wenn man sie schlägt oder mit Steinen bewirft, erzählen sie es am nächsten Morgen ihren Eltern, die sofort Vergeltung üben. Und das akzeptieren alle Leute. Es ist schrecklich, eine Katze zu töten, denn sie könnte ein Kind sein. Mit elf Jahren verliert man die Kraft des Zaubers. Deshalb laufen in der Nacht so viele Katzen herum. Aber wir sind keine Zwillinge. Nein, Janie, wenn du es willst, bin ich verantwortlich für deinen Tod. Nicht für dein Leben. Ich konnte es nicht wissen, weil du es verheimlicht und Mum und Dad und mich auf raffinierte Weise belogen hast. Jetzt werde ich es nicht ungeschehen machen, indem ich die ganze Schuld auf mich nehme. Und es gab keine andere Möglichkeit, das alles ungeschehen zu machen. Ich weinte ein bißchen und dachte: Also war es das, was ich nach Harrys Meinung die ganze Zeit wußte. Deshalb widerte ich ihn an, und er haßte mich, weil er glaubte, ich hätte Janies Hurerei gebilligt. Dann weinte ich noch ein bißchen länger, denn ich erinnerte mich, wie tief er gesunken und welch ein Heuchler er geworden war in diesen acht Jahren seit unserer Trennung – nachdem ich ihm erklärt hatte, ich sei nicht der Hüter meiner Schwester. Und nun spielte er den Laufburschen für einen Gangster.
14 Ungewißheit Am Montag las ich das Buch zu Ende – eine Sammlung mehrerer Berichte verschiedener Frauen über den Nahen Osten, früher Orient genannt. Ein gutes Buch. Cooper rief viermal an, Eddie dreimal, Harry zweimal. Läßt sich an dieser Reihenfolge erkennen, was sie für mich empfinden? An erster Stelle steht die Angst, dann kommt die Lust, dann der Zorn? Am Dienstag erschien die Sozialarbeiterin. Sobald der Stein erst einmal ins Rollen gekommen war, ging alles ganz schnell. Neil erklärte, die Behörden würden eine solche Prozedur meistens beschleunigen, weil sie wissen, wie sehr sie die Nerven aller Beteiligten strapaziert. Ungewißheit – offenbar ein nützliches Konzept in dieser Welt. Ich werde es mir merken. Ich war seit meinem Studienabschluß nicht mehr geprüft worden. Damals ging es um die Gesellschaftsstrukturen der Etrusker und die verschiedenen Formen des Pantheismus. Und damals hatte es mir auch nicht gefallen. Sie war eine hochgewachsene, ernsthafte Frau mit dunklem lockigem Haar – so schlaff, daß es sich erst unten in Kinnhöhe kringelte. Vorquellende wäßrige Augen, zu groß, zu rund, zu hell – eine wächserne Haut, eine spitze Nase. Und diese Frau sollte mich beurteilen und einen Bericht schreiben und dem Gericht bei der Entscheidung helfen, ob Lily und ich zusammenbleiben durften oder nicht? Sie hieß Laetitia Bailey. Sei nett zu ihr, diese Leute sind sehr einflußreich. Eigentlich benahm sie sich nicht schlecht. Sie erweckte sogar den Eindruck, sie wolle sich entschuldigen, und das beruhigte mich ein wenig. Verdammt, du mußt dich auch entschuldigen, wenn du in mein Heim eindringst und mich unter die Lupe nimmst. Vor ihrem Besuch räumte ich auf. Das war ohnehin nötig. In letzter Zeit hatte ich die Dinge ein bißchen schleifen lassen. War es unehrlich, wenn ich versuchte, ordentlicher zu wirken, als ich in Wirklichkeit bin? Bedeutete es, daß ich zu Kreuze kroch? Gab ich dadurch zu, daß ich Wert auf ihre Meinung legte? Natürlich ist mir das wichtig, weil sie es dem Richter erzählen wird. Aber es war mir immer egal, was die Leute denken – zumindest die meisten Leute.
Trotzdem will ich wissen, was sie denken, und es gelegentlich beeinflussen. Ich brachte Eddies Blumen zu Brigid, weil sie eine falsche Atmosphäre erzeugten. Natürlich sollte die Sozialarbeiterin nicht glauben, ich hätte Männerbekanntschaften. Das läuft genauso wie in den Agatha-Christie-Romanen – wenn die Nachbarn nicht sagen: »Sie war ein sehr braves Mädchen und hatte keine Freunde«, ist der Ruf ruiniert. O Gott, in meinem Alter mußte ich meinen guten Ruf retten! Wenn der unglückliche Ben wieder auftauchte und mich bedrohte? Oder Eddie, zurück aus Paris? Ich hatte keine Ahnung, wann er wiederkommen würde. Oder Harry? Wohl kaum. Wenn ich ihn nächstes Mal sehe, werde ich mich wahrscheinlich nackt in Eddies Jacuzzi räkeln, von Eselsmilch umflossen, an Händen und Füßen gefesselt. Und Harry wird Champagner servieren, eine weiße Serviette über dem Arm. Ich wünschte, ich hätte die Frau woanders treffen können! Aber das war nicht der Sinn der Sache, oder? Die Wohnung duftete immer noch nach den Blumen. Ich kaufte ein Desinfektionsmittel und sprühte die Hälfte in den Abfluß des Spülbeckens, damit der Eindruck entstand, ich würde so etwas immer benutzen. Als ich das Bad und den Küchenboden saubergemacht und überall staubgesaugt und die Fensterbretter abgewischt und die Fenster geputzt und die Kissen ausgeschüttelt und das Geschirr gespült und die Wäsche aufgehängt hatte, haßte mich Lily, weil ich mich nicht mit ihr befaßte und statt dessen versuchte, ihr Haar zu bürsten. Und wir beide haßten die Sozialarbeiterin, weil sie unser Leben ruinierte. Schließlich sagte ich, alles sei okay. Machen wir Kartoffelstempelbilder? Und dann mußte ich ein altes Kartoffelstempelbild hervorkramen und an die Wand hängen, denn Laetitia sollte nicht glauben, wir würden das nur tun, um ihr zu imponieren. Ein neues konnte ich nicht aufhängen, denn das würde noch naß sein und sie würde meine Tücke durchschauen. Dann saßen wir da, druckten Kartoffelstempelbilder und amüsierten uns. Bei Laetitias Ankunft beugten wir uns kichernd über eine Gestalt, die eine Prinzessin darstellen sollte, aber eher wie ein umgestülpter Regenschirm aussah. Die Küche war wieder ein Chaos, aber ein sauberes, kreatives Chaos. Als die Sozialarbeiterin eintraf, rümpfte sie nicht die Nase. Aber ich rümpfte über sie die Nase. Sei cool, sei nett, bleib gelassen, ermahnte ich mich. Ich hatte Lily nicht erklärt, wer sie war und warum sie uns besuchte, und das Kind
schien sich nicht sonderlich aufzuregen. Aber ich dachte unentwegt: Bitte, erzähl dem Richter, was für eine hübsche Küche ich habe. Wenn dir meine Küche gefällt, darf ich mein Kind vielleicht behalten. Sie gestand mir, diesen Teil ihres Jobs würde sie hassen und sich dabei wie ein Immobilienmakler fühlen (ich wette, das sagte sie zu allen Eltern). Wann sie Konversation machte und wann sie gezielte Fragen stellte, konnte ich nicht feststellen (»Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?«). Doch sie erkundigte sich nur nach Dingen, die ich in ihrer Position auch gern gewußt hätte. Sie erzählte mir, sie würde den Kindergarten kennen und habe mit Holly Brownlow gesprochen, der Leiterin. Auch unsere Ärztin kannte sie. Und mit der hatte sie ebenfalls gesprochen. Ich fragte mich, was die beiden Frauen gesagt hatten, und das schien sie zu registrieren. Bevor sie sich verabschiedete, bemerkte sie nur: »Sie wissen besser als jeder andere, ob Sie Ihre Sache gut machen.« An diesem Abend kam Harry vorbei. Ich konnte mich weder an unsere letzte Begegnung erinnern noch daran, wie unser Verhältnis zueinander jetzt war. Am letzten Freitag hatte er mich von Eddie nach Hause gefahren. Und davor beim Lunch im Restaurant war ich ihm davongerannt. Nein, offenbar vertrugen wir uns nicht allzu gut. Komisch. Unter meinem Argwohn und meiner Verachtung lag ein Felsblock aus tiefer Vertrautheit. Ich trat dagegen und stieß mir den Zeh an. Dieser Mann dachte, ich hätte die ganze Zeit über Janie Bescheid gewußt und das alles gebilligt. »Hallo«, sagte ich. »Hallo«, sagte er. Wir warteten. Dann fügte er hinzu: »Ich finde, wir sollten reden.« Genau das fand ich auch. Also ließ ich ihn rein, servierte ihm Wodka mit Eis in einem blaugoldenen marokkanischen Teeglas, das er in einem Zug leerte. »Keine Bange, ich will dir nicht auf die Nerven fallen«, begann er in kühlem Ton. »Klar, du bist eine erwachsene Frau und triffst deine eigenen Entscheidungen, und so weiter, aber…« Warum halten sie einem dauernd irgendwelche Vorträge? War das die einzige Art, in der sie sich verständlich machen konnten? »Ich bitte dich nur um einen einzigen Gefallen. Falls du mich jemals respektiert oder an mich geglaubt hast, solltest du meinen Rat befolgen und dich nicht mit ihm einlassen.« »Aber du hast dich mit ihm eingelassen«, erwiderte ich aus-
druckslos. »Ich bin nicht du.« »Das würde sogar Lily merken«, meinte ich lachend. Er zündete sich eine Zigarette an, und der Rauch kräuselte sich um sein Gesicht. »Bitte, rauch nicht hier drin. Das ist schlecht für ihre Haut.« Nachdem er einen langen Zug gemacht hatte, schaute er sich nach einem Aschenbecher um. Ich nahm ihm die Kippe aus der Hand und warf sie in den Abfalleimer. Sekundenlang brannte meine Hand an der Stelle, wo sie seine berührt hatte. Auch dieses Gefühl ertränkte ich. »Laß dich ihr zuliebe nicht mit ihm ein, Ange. Und dir selber zuliebe. Bitte, schluck deinen Stolz runter und hör mir zu.« »Aber du erzählst mir gar nichts. Du hast nur gesagt, er sei kein netter Mann.« »Genügt dir das nicht? Bitte, Angie, tu’s nicht, um mir igendwas heimzuzahlen.« »Bilde dir bloß nichts ein! Was sollte ich dir denn heimzahlen?« War es so offensichtlich, daß ich es nur deshalb tat? »Und hör bitte auf, Predigten zu halten und mir Vorschriften zu machen.« »Ich sag dir nicht immer, was du tun sollst.« »Weil wir uns nur selten sehen. Und sobald du hier bist, ermahnst du mich, brav zu sein und nichts zu tun, was deiner Meinung nach mit Sex zu tun hat und was du deshalb mißbilligst.« »Darum geht es nicht.« »Doch«, entgegnete ich, obwohl ich wußte, daß es um ganz andere Dinge ging. Diesen Kampf hatte ich ohnehin ausfechten wollen. »Wenn du auf Eddie eifersüchtig bist, solltest du es sagen und nicht so geheimnisvoll tun. Und wenn du auf all die Männer eifersüchtig warst, die mich tanzen sahen, hättest du es sagen sollen, statt mir vorzuwerfen, ich sei eine Hure. Und wenn du mich zurückhaben willst, müßtest du dir das alles selber eingestehen.« »Ich habe nie gesagt, du seist eine Hure.« »Wie man es auch dreht und wendet, es kommt auf dasselbe raus. Du dachtest, mein Tanz – den ich liebte – wäre nur ein sexueller Anreiz für die Männer, weil du nicht über deine eigene verdammte männliche Nase hinausschauen konntest. Und du hast nicht verstanden, daß gewisse weibliche Dinge, die Männer sexy finden, nicht bloß existieren, um die Männer zu erregen. Wenn wir hübsch sind, dann nicht nur für euch! Unsere Beine sind zum Gehen da, unsere
Titten, um die Babys zu ernähren, und wir sitzen auf unseren Ärschen. Aber ihr glaubt, alles würde nur für euch existieren.« »Nein, das glaube ich nicht.« »Tut mir leid, ich wollte dir nicht alle Sünden der Männer anlasten. Aber du hast gedacht, eine Bauchtänzerin wäre eine Hure.« »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich…« »Offenbar bist du immer noch blind, oder du weigerst dich, mit mir zu reden – oder zu erklären, warum du es nicht kannst.« »Das möchte ich aber.« »Aber du kannst es nicht, weil du mich sonst töten müßtest. Ja, ich weiß. Soll ich dir verraten, worüber wir reden können? Über Janie. Dieses Thema steht seit zehn Jahren zwischen uns wie eine Ziegelmauer. Erzähl mir von Janie. Du weißt doch alles. Sicher weißt du es am allerbesten. Erzähl mir, wie meine Schwester eine Hure wurde.« »O Angeline! Großer Gott, nach so langer Zeit… Die Frau ist tot! Kannst du die Sache nicht ruhen lassen?« »Jahrelang habe ich es ruhen lassen, aber jetzt will ich alles wissen. Zum Beispiel, wie es angefangen hat.« »Nein, ich glaub’s einfach nicht.« »Und wie hat es funktioniert? Wohin ging sie? Wer waren ihre Freier? Ich wette, das weißt du. Erzähl’s mir.« »Was soll das? Versuchst du, mich zu testen? Ich wußte nicht viel. Jedenfalls hielt ich es nicht für eine gute Idee, und ich will verdammt sein, wenn ich das alles wieder ausgrabe.« Er stand auf. »Frag doch deinen verdammten Freund, wenn du es unbedingt rausfinden willst. Und kümmere dich um dein Kind! Warum hat diese Frau sie bei mir gelassen, obwohl sie mich kaum kennt? Ich hätte Gott weiß wer sein können!« Das war grausam. Manchmal zeigt Harrys Gesicht eine gewisse Grausamkeit. Ich haßte ihn. »Was hattest du überhaupt hier zu suchen?« »Ich wollte zu dir. So was machen die Leute gelegentlich – sie besuchen ihre Freunde.« Brigid klopfte an die Tür, und ich ließ sie herein. In ihren Armen lagen Eddies Blumen. »Ich bring dir den Strauß zurück. Hallo, Harry. Als Caitlin diesen starken Duft roch, mußte sie dauernd niesen.« Mit schmalen Augen musterte Harry die Blumen, streckte seinen langen Arm aus und drehte die Karte um. Aber er machte sich nicht die Mühe, die paar Zeilen zu lesen. Mit der anderen Hand ergriff er
seine Zigaretten und wandte sich ab. »Ich verlier nicht die Beherrschung, und ich geb’s nicht auf. Aber ich bitte dich, Evangeline, wenn du halbwegs vernünftig bist – hör auf damit! Bitte!« Und dann ging er. Tiefe Stille. »Wow!« rief Brigid nach ein paar Sekunden beeindruckt. »Eifersüchtig? Warum ist hier plötzlich die Hölle los?« »Unsinn.« Dann drückte ich sie auf einen Stuhl und erzählte in allen Einzelheiten, was passiert war – vom Streit mit Neil bis zu Janies Teekiste. Und ich ließ nichts aus. Das dauerte etwa eine Stunde. Danach beantwortete ich Brigids Fragen, und schließlich fühlte ich mich erleichtert, aber mir wurde auch bewußt, wie groß und kompliziert meine Seelenlast war. Brigid verstand alles falsch. Manchmal muß man sich wirklich über die Leute wundern. »Er meint es doch nur gut mit dir.« »Was?« »Er will nicht, daß du mit einem Schurken rumläufst.« »Wer?« »Harry.« »Aber Harry arbeitet für ihn!« »Also nimmt er dich wichtiger als sich selbst. Das ist sehr ehrenwert.« »Leider verrät er mir nicht, warum ich Eddie nicht mehr sehen soll.« »Okay, der Typ ist ein Schurke. Aber weiß Harry, daß du es weißt? Wahrscheinlich nicht. Er will es dir verheimlichen – genauso, wie er dir verschweigt, daß er selbst ein Schurke ist. Weil du ihn in einem möglichst vorteilhaften Licht sehen sollst. Glaub mir, da hast du eine Chance.« »Was?« »Bei Harry.« Entgeistert starrte ich sie an. »Brigid! Wir sitzen nicht in einem Eheanbahnungsinstitut! Ich will nur Ben Cooper loswerden, damit ich mich auf den Kampf gegen Jim konzentrieren kann. Verstehst du nicht? Ich werde erpreßt!« »Dann gib dem Kerl doch, was er will.« »Meinst du, ich soll nochmals zu diesem wahnsinnigen Pyromanen gehen und mich vergewaltigen lassen, in der Hoffnung, irgend-
welche Beweise zu finden – wenn mir auch kein Mensch erklärt, was ich eigentlich suchen soll? Wird Cooper mich dann in Ruhe lassen und nicht mehr drohen, Jim alles zu erzählen?« »Ja, das könntest du tun – oder noch ein bißchen rumhängen, bis sich die Situation ändert. Die Dinge ändern sich immer. Aber an deiner Stelle würde ich noch mal zu Eddie gehen. Du kannst viel besser mit wahnsinnigen Pyromanen umgehen, als tatenlos dazusitzen. Und außerdem, was ist schon ein One-Night-Stand?« »Brigid!« »Ach, das war nur ein Witz.« Ich fragte, ob ich mir Janies Videos in ihrem Recorder anschauen dürfte. Wenn ich auch keine Lust hatte, alle von vorn bis hinten zu sehen – ich wollte feststellen, was drauf war. Allzulange würde es nicht dauern. »Klar, lauf rüber. Maireadh ist bei Reuben, aber Aisling ist zu Hause und liest. Ich passe inzwischen auf Lily auf.« Natürlich mußte ich ihr nicht sagen, daß sie sich bei mir wie zu Hause fühlen sollte. Aisling las im Wohnzimmer ein Buch über Pferdeernährung. Alle Kinder schliefen und schienen die ganze Wohnung mit ihrem Atem zu erfüllen. Auf Zehenspitzen schlich ich zum Schlafzimmer und spähte hinein. Da lagen die Jungs in ihren Superman-Pyjamas, schmalbrüstig, mit kurzgeschnittenem Haar, Sommersprossen auf der hellen, irischen Haut. In dieser reglosen Haltung sieht man sie nur nachts. Man glaubt fast, das Surren zu hören, während sie ihre Batterien aufladen, um am nächsten Tag wie Affen am Türpfosten hochzuklettern oder Cowboys zu spielen. Oh, Michael schien ein Manchester United-T-Shirt zu tragen. »Stimmt was nicht mit QPR, Shepherd’s Bush Boy?« wisperte ich in sein Ohr, und er schüttelte den Kopf, als wäre ich eine Fliege. Als ich zu Aisling zurückkehrte, sagte sie, nun würde sie baden, und ich bat sie, vorher den Recorder einzuschalten. Zuerst schob ich das Geburtstagsvideo rein und ließ es zum Anfang zurücklaufen. Kein Vorspann, nur eine kleine Uhr, deren Zeiger die Sekunden bis zum Start zählte, ein Rauschen und Flirren, dann Musik. Arabische Musik. Eine Bauchtänzerin trat auf, im europäischen Stil, in einem Club, den ich nicht kannte. Auch die Frau kannte ich nicht. Sie war nicht schlecht. Ein bißchen zu aufdringlich. Ich ließ das Band vorlaufen. Eine andere Tänzerin. Ich selbst. Mein erster Gedanke war, daß
das Datum nicht stimmen konnte, denn um diese Zeit war ich nicht in London gewesen. Jedenfalls war ich besser als das erste Mädchen. Wann war der Film aufgenommen worden? Daran erinnerte ich mich nicht. Ich versuchte den Zeitpunkt meinem Kostüm zu entnehmen, meinen Bewegungen, meinem Aussehen. Offenbar war das Video vor meiner langen Reise entstanden. In irgendeinem Restaurant. Ich fand es interessant, mein Gesicht zu beobachten. Glücklich, von innerer Ruhe erfüllt. Das vermisse ich, den Seelenfrieden, den mir mein Tanz geschenkt hat. Nach meiner Darbietung tauchten Streifen und Punkte auf dem offenbar amateurhaft und schlecht geschnittenen Video auf. Nun erschien eine neue Tänzerin. Schlecht, sehr primitiv. Und dann zeigten zwei Mädchen eine miserable Pseudo-Lesben-Nummer. Ich ließ das Band weiterlaufen, nahm die Zigarettenpackung aus meiner Tasche, zündete mir eine an und drückte wieder auf den Schnellauf. Wieder zwei Mädchen. In schäbigen Haremskostümen, mit nackten Titten, wälzten sie sich zusammen auf einer Couch. Die eine war Noor, das Gesicht des anderen Mädchens verbarg sich zwischen ihren Schenkeln. Lasziv grinste Noor in die Kamera und leckte über ihre schmalen Lippen. Dann neigte sie sich nach hinten und ließ die Schultern rotieren – eine tänzerische Bewegung und zugleich der Versuch, Ekstase zu heucheln. Offensichtlich wußte sie gar nicht, was sie tat. Ich stoppte das Video, betrachtete das armselige Grinsen und rauchte. Im nächsten Abschnitt wurde ein Salome-Tanz vorgeführt, mit gynäkologischen Nahaufnahmen. Danach masturbierte ein Mädchen, dessen Gesicht mit einer burka bedeckt war – der schnabelartigen Maske einer hajib –, in der Badewanne. Zumindest erinnerte die Form dieser Maske an eine burka, die Pailletten funkelten im Vaudeville-Stil. Nun tauchte eine Frau in einem chador auf, jenem langen schwarzen Umhang, der Iranerinnen und Saudi-Arabierinnen vom Scheitel bis zur Sohle verhüllt. Doch diese Frau sah weder iranisch noch arabisch aus. Während sie sich wand und posierte, stellte sich heraus, daß sie unter dem Umhang nichts trug – abgesehen von einem elektrischen Vibrator. Ich stoppte das Video und zündete mir noch eine Zigarette an. Vermutlich gehörten solche Filme zu Janies Gewerbe. Überflüssig, sich zu wundern. Schau an! Janie lügt und läßt mich in ihren pornographischen Filmen auftreten. Was ich davon halten würde, ist ihr scheißegal. Janie hat keinen Respekt vor mir. Vielleicht bin ich die
einzige Bauchtänzerin, die geglaubt hatte, ihre Kunst würde noch etwas anderes ausdrücken als sexuellen Reiz. Meine Freude, mein Glück, meine Arbeit. Natürlich will ich nicht aufs hohe Roß steigen und mit meiner Würde prahlen, aber – großer Gott! Mein Liebhaber und meine Schwester! Wie großartig, nach zehn Jahren herauszufinden, daß keiner der beiden je auf meiner Seite gestanden hatte. Und die arme kleine Noor. Jetzt sind beide tot. Ich schüttelte den beklemmenden Dunstkreis ab. Vor allem mißfielen mir die Requisiten, das falsche islamische Zeug. Warum brauchten diese Mädchen einen chador und eine burka? Um lüsterne Moslems zu reizen? Und was noch? Um jener Heuchelei zu dienen – den Männern, die die Bauchtänzerinnen immer noch wie direkte Nachfahrinnen der Sklavinnen und ghaivazee von vorgestern behandeln? Wie Frauen, die man sexuell ausbeuten kann? Im Lauf der Jahre hatte ich viele solche Männer getroffen. Muslims, die glaubten, ihre Religion wäre ein Freibrief. Christen mit ihren Marias und Magdalenas. Ja, so läuft das. Wenn du ein Freigeist bist, mußt du leichtfertig sein. Wenn deine nackten Füße schlammig sind, bist du sicher zum Wasserloch gegangen. Warum glaube ich, nur weil ich anders war, müßte ich auch anders gewirkt haben? Daß jeder den Unterschied erkannte? Daß irgend jemand überhaupt hinschaute? Nicht einmal Janie… Und natürlich reizt so etwas die Abendländer, die für islamische Atmosphäre schwärmen. Wie Eddie. Als ich an all die Männer dachte, die ich kannte und die dieses Video gesehen hatten, bekam ich eine Gänsehaut. Und dann entsann ich mich, wie Zeinab und ihre Freundinnen am Abend vor ihrer Hochzeit, anläßlich der leila elhenna, daheim getanzt hatten. Oder bei Hassans sobou, dem siebten Tag nach seiner Geburt. »Alle meine Jungs habe ich ins Leben getanzt«, sagte Zeinab. Niemals hatte ich etwas Reineres, Schöneres und Inspirierenderes gesehen als diese Frauen, die daheim tanzten, für sich selbst, für die Freude und Erbauung ihrer Herzen. Sie tanzten so, wie ein Pferd läuft, wie eine Lerche singt, wie ein Strom fließt, wie ein Berg ruht. Weil es richtig ist. Nicht so wie auf diesem Video. Ich schob ein anderes Band in den Recorder, drückte abwechselnd auf die Schnellauf- und die Stopptaste. Dann noch eins und noch eins und noch eins. Das sechste Band war von noch schlechterer Qualität, mit widerwärtigem Inhalt – verschiedene Leute, die es miteinander
trieben, unscharf, nur aus einem einzigen Blickwinkel aufgenommen, undefinierbare Fummeleien, schlaffe Ärsche, halbverdeckte Gesichter; gelangweilte Frauen, in die Kissen gedrückt, und Männer, die Augen zusammengekniffen, verzweifelt. Häßliche Laken mit Blumenmuster – und ein Deckenbezug, auf einer Seite braun, auf der anderen hellblau. Das war nicht Janies Mädchenzimmer mit den Büchern und Fotos in silbernen Rahmen. Auch diese bleichen Glieder gehörten nicht ihr. Andere Mädchen, andere Männer. Lieblos, achtlos, verzweifelt – mieser Sex. Und die Leute, die das alles taten, wußten nicht, daß sie beobachtet wurden. Mittlerweile hatte ich eine Methode entwickelt, nur halb hinzuschauen, während ich das Band im Schnellauf durchspielte. Ich wollte sehen, was drauf war. Aber nicht genau. Und ich warnte jedes häßliche Bild, es dürfe sich bloß nicht einbilden, daß es in meinem Gedächtnis haftenbleiben würde. Das alles mußte ich nur sehen, um zu wissen… Plötzlich tauchte Ben Coopers Gesicht im flirrenden Nebel auf. Sein Arsch – ja, wahrscheinlich Ben Coopers Arsch – wippte auf und nieder. Ich ließ das Band zurücklaufen und drückte auf die Stopptaste. Ben Coopers verzerrtes, gerötetes Gesicht, im Augenblick des Höhepunkts. Und unter ihm Noor, sichtlich gelangweilt. Also hatte sich jeder seine kleine Garantie verschafft. Auch Janie. Wußte Ben von der Existenz dieses Videos? Jedenfalls hatte er nicht gemerkt, daß er gefilmt worden war. Unmöglich. Er ist ein eitler Mann mit einem stark entwickelten Überlebenswillen. Zumindest war er es früher. Und dieser Film mußte vor Jahren entstanden sein. Als Noor noch lebte. Wann war sie gestorben? Ich erinnerte mich nicht. Vielleicht wußte er, daß es dieses Video gab. Janie könnte es ihm erzählt haben. Und jetzt will er es haben. Aber warum klammerte er sich an mich, wo ein Bulle doch genug Profis kennen mußte? Aus persönlichen Gründen? Glaubte er, ich besäße das Video und würde es hervorholen, um ihn loszuwerden? Oder dachte er, Eddie hätte es? Aber warum sollte Eddie so etwas aufbewahren? Während ich den Rest des sechsten Bandes im Schnellauf abspulte, drehte sich mein Magen um. Wenigstens war es nicht lang. Das Band Nummer sieben begann etwas angenehmer. Gewissermaßen. Da tanzte ich wieder. Zu einem späteren Zeitpunkt, viel besser. Ich zeigte, was ich in Ägypten und in der Türkei gelernt hatte. Und ich trug eines der schönsten Kostüme, das ich je besessen
hatte, von kleinen Mädchen in Luxor bestickt. Rot und silbern mit Perlenfransen, die wie Bienenschwärme zittern konnten – oder reglos herabhingen. Darin lag die besondere Kunst. Dieses Video war professioneller aufgenommen worden, in einem Club – vielleicht im Shiraz –, und das lebhafte Publikum bestand fast nur aus Orientalen. Da ich aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen war, mußte man mehrere Kameras benutzt haben. Doch ich erinnerte mich nicht daran. Dann wechselte das Licht, verdunkelte sich, und die Kamera rückte näher heran. Plötzlich tanzte ich furchtbar schlecht. Die Gestalt glich mir. Aber das konnte ich nicht sein. Langsam zog ich das rotsilberne Kostüm aus, wand mich am Boden, reckte den nackten Hintern in die Luft und spreizte die Beine. Das war ich nicht. Es war Janie.
15 Schon wieder Eddie Am Mittwoch war das Band im Anrufbeantworter vollgesprochen, und das hielt ich für einen Wink des Himmels, der mir bedeutete, wieder mit den Leuten zu reden. Zuerst rief ich Ben Cooper an und erklärte, ich würde tun, was er verlangte, wenn er es auf seine Kappe nahm. Das war gelogen. Dann telefonierte ich mit Neil, der mir mitteilte, nächste Woche würde die Verhandlung stattfinden. Jims Anwälte hatten ihn angerufen und verkündet, ihr Mandant würde Lily in dieser Woche gern besuchen. »Warum hat er mich nicht angerufen?« fragte ich. »Manche Leute lassen so etwas lieber von ihren Anwälten erledigen. Sobald sie einen haben, muß er alles machen, und sie kommen sich großartig vor. Natürlich kostet das eine schöne Stange Geld.« Als ich mit Jim telefonierte, war er unglaublich nett. Ich lud ihn für den nächsten Tag ein. Weil Nora arbeiten würde, konnte sie nicht mitkommen. Prompt rief ich Neil wieder an und betonte, Nora würde sich nicht mal eine halbe Stunde frei nehmen, um das Kind zu sehen, das sie mit aller Macht aus einem glücklichen Heim reißen wollte. »Sehr gut«, meinte er. Danach telefonierte ich mit Brigid, bat sie, Lily vom Kindergarten abzuholen, lud sie mitsamt ihren Kindern und allen verfügbaren Schwestern für Donnerstag zum Tee ein. Schließlich rief ich den Kindergarten an und ließ Lily ausrichten, Brigid würde sie an diesem Tag abholen. Und dann telefonierte ich mit Mum, um sie über die Verhandlung zu informieren. Aber sie sagte, Neil habe sie bereits verständigt. Sie las mir ihre eidesstattliche Erklärung vor und versicherte, Dads Aussage sei brillant, nur einen Absatz lang. Zum Abschluß erinnerte sie mich an mein nicht existentes Sexualleben, das ich in meiner Erklärung erwähnen sollte. Vorausgesetzt, daß…? Diese Frage ließ sie in der Luft hängen, und ich auch. Danach rief ich Zeinab an, und wir schwatzten. Ihr Sohn Hassan hatte Windpocken. Etwas später telefonierte ich noch einmal mit Brigid und fragte,
ob ihre Kinder die Windpocken schon hinter sich hätten. Sonst könnte Lily sie anstecken. Brigid erwiderte, letztes Jahr seien alle an Windpocken erkrankt. Ob ich mich nicht dran erinnerte? Janie hatte recht, dachte ich. Was im Leben meiner Freunde passiert, nehme ich nicht zur Kenntnis. Dann fiel mir ein, daß sie das nie gesagt hatte, nur in meinem Tagtraum von einem Streit. Offensichtlich bin ich es selbst, die so was glaubt. Sekundenlang dachte ich an sie, ohne daß jene neue Erkenntnis den Gedanken durchschnitt wie ein Messer den Leib des Opfers bei einer rituellen Schlachtung. Aber nur für einen Augenblick. Die halbe Nacht hatte ich schlaflos im Bett gelegen und versucht, nicht dran zu denken, die Veränderung der Schatten im Zimmer beobachtet und gewünscht, Lily würde erwachen und zu mir kommen. Während der restlichen Nacht hatte ich weitere Streitereien mit Janie erfunden und sie angeschrien, umschmeichelt, ignoriert, angefleht. Ruhig und sanft, cool und freundlich. Sachlich. Ich weinte, und sie sagte kein Wort. Am hellichten Tag hatte ich erkannt, daß sie die einzige Person war, mit der ich jemals drüber reden würde. Also mußte ich mich dran gewöhnen, keine Antworten zu bekommen. Dann rief ich Harry an und hinterließ auf seinem Anrufbeantworter die Nachricht, ich würde die Entwicklung der Dinge bedauern, aber tun, was ich für richtig halte. Warum ich ihm das erklärte, weiß ich nicht. Ganz zum Schluß wurde mir meine Verzögerungstaktik bewußt. Ich ging ins Winfield, rauchte drei Zigaretten und trank zwei doppelte Wodka. Als ich bei Eddie anrief, meldete sich Siao Yen. »Kann ich bitte mit Eddie sprechen?« »Was?« »Kann ich bitte mit Eddie sprechen?« »Wie?« »Hier ist Angeline Gower. Kann ich bitte mit Eddie Bates sprechen?« Hinter der Theke schnellte Liams Kopf hoch. Er wandte sich von den Gläsern ab, die er gerade aus dem Geschirrspüler räumte, und kletterte langsam auf seinen Hocker, mir gegenüber. »Was höre ich da?« murmelte er und schaute nicht allzu glücklich drein. Eddie war nicht da. »Danke, richten Sie ihm bitte aus, ich hätte angerufen«, sagte ich und legte auf.
Liam musterte mich. »Nun?« »Neuerdings verkehrst du in seltsamen Kreisen«, bemerkte er. »Dagegen kann ich nichts machen. Sie umzingeln mich.« »Wenn ich irgendwas tun kann…«, seufzte er. Nur ein allgemeines Angebot, keine direkte Frage. »Danke«, entgegnete ich und ging nach Hause. Eine Stunde später rief er an. Hatte ich Zeit für die Ausstellung in der Academy? Ja, weil eine Verabredung am hellen Tag, an einem öffentlichen Ort, die Dinge in Gang hielt und mir die Erklärung ersparte, lieber würde ich Skorpione essen, als ihn abends zu sehen. Er würde mich abholen, kündigte er an. Nein, nein, protestierte ich, ich hätte noch etwas zu erledigen und würde ihn in der Academy treffen. Um zwei. Aufgrund unserer früheren Begegnungen nahm ich an, die Bekanntschaft hätte jene Phase überwunden, wo eine bestimmte Kleidung seine Begierde entflammen oder löschen konnte. Er wollte mich aus Prinzip haben, um seinen Zorn zu stillen, und ein reizloses Outfit würde die gleiche Wirkung erzielen wie Janies schwarzes Korsett. Wer weiß? Einmal hatte ich einen Mann gekannt, dessen Herz schneller schlug, wenn schmutzige BH-Träger auch nur erwähnt wurden. Also beschloß ich, mich gar nicht erst umzuziehen, und verließ das Haus in einem ausgebeulten, ausgebleichten, einst glamourösen indischen Pyjama, der normalerweise niemals über meine Schwelle gelangen würde, geschweige denn bis zum Piccadilly. Eddie erwartete mich in der Eingangshalle der Academy und sah, wenn man ihn objektiv betrachtete, recht gut aus. Das sei zu erwarten gewesen, hätte Janie gesagt. Die Erregung wächst. Sobald etwas begonnen hat, passieren alle möglichen Dinge, sogar unwillkommene und unwichtige. Okay, er ist attraktiv, würde sie gesagt haben. Natürlich merkst du es, und du bist verwirrt und deshalb besonders empfänglich. Oder zumindest… Schluß damit. Nicht jetzt. Glauben Sie bloß nicht, Eddie hätte mir gefallen. Ich gestand mir nur ein, daß er durchaus attraktiv war, denn dadurch wirkte sein Verlangen nicht ganz so absurd. Wäre er kein gefährlicher Irrer, käme er vielleicht in Frage. Dazu würde Janie sagen: »Die meisten gefährlichen Irren sind sehr attraktiv.« Ich würde die Augen verdre-
hen, sie würde lachen, und Harry würde fragen: »Was ist los?« Oder Jim würde rufen: »Hört auf, ich muß mich konzentrieren!« Früher hatte er dauernd vor dem Fernseher gesessen. Überschwenglich begrüßte er mich. Küsse auf beide Wangen – ein Arm umschlang meine Taille, eine Hand in meinem Nacken preßte mich an seine Brust. Für eine Ausstellung war er der perfekte Begleiter – gebildet, wenn auch nicht beschlagen auf diesem Fachgebiet, enthusiastisch, ein dankbares Publikum. Er stellte Fragen, verstand alle Antworten, kaufte den Katalog (25 Pfund, dick und reich bebildert) und lachte über meine Scherze. Danach führte er mich zu Fortnum’s, wo wir Eiscreme aßen. Er erwähnte weder Cooper noch Harry, das Adreßbuch, sein verrücktes Benehmen an jenem Abend, sein Interesse an meinem Körper oder sonst etwas Unangenehmes. Und ich fühlte mich geschmeichelt und verwöhnt, aber ziemlich entnervt. Als wir Fortnum’s verließen, erklärte ich, ich müsse nun nach Hause gehen. Doch da hängte er sich bei mir ein, im Einklang mit meiner Taktik: Wenn ich passiv bleibe, kommen wir vielleicht ganz gut miteinander aus, bis das alles überstanden ist, ohne daß was Schlimmes geschieht. Und so ließ ich ihn gewähren. Er führte mich zum St. James’s Square und versuchte, mich in einen grünen Jaguar zu verfrachten. »Steig ein, ich fahre dich nach Hause.« Eine sehr schlechte Idee. »Aber ich habe noch alles mögliche zu erledigen. Setz mich einfach ab – in der Nähe von…« Immer noch höfliche Ausreden, und ich kam mir vor wie ein Hase, auf einer nächtlichen Straße von Autoscheinwerfern gefangen. »Natürlich, natürlich«, sagte er und hielt die grüne Tür auf. Da durchschaute ich ihn. Diese Tür verriet mir alles. Klar, er war nett zu mir und geduldig, versuchte mich einzulullen und meine Verteidigungsbastionen langsam abzubauen. So benehmen sich Männer, wenn sie ein Mädchen für jungfräulich halten. Einer solchen Frau muß man sich behutsam nähern, und man darf sie nicht erschrecken. Man schickt ihr Blumen, trifft sie in einer unverfänglichen Umgebung, verwöhnt und umschmeichelt sie. Dann fährt man sie heim, ohne vor dem Haus zu knutschen. Ruf an, wenn du mich sehen willst. Und sobald sie einem vertraut, geht man zum Angriff über. Früher hat so etwas funktioniert. Jetzt weiß ich besser Bescheid. Wie lange kann ich dieses Stadium aufrechterhalten und nutzen?
Seltsam, daß er mein Vertrauen anstrebt, während ich seins erwerben will. Aber das ist eigentlich Bens Problem. Ich bin nur ein Werkzeug. Und Brigid irrt sich. Lieber schaue ich mir zehnmal »Baywatch« an, als mit diesem Mann zu schlafen. Wann ich entschieden hatte, daß er in irgendeinem Zusammenhang mit Janies Videos stand, wußte ich nicht. Aber ich war mir völlig sicher. Offenbar fürchtete er nichts, was Ben ihm antun könnte. Komisch. Ein Gangster, dem nicht vor der Polizei graute? Vielleicht hatte er einflußreiche Freunde. Du mußt Zeit gewinnen… Während ich die Lage sondierte, packte er plötzlich mein Haar, riß meinen Kopf nach hinten, zwang mit der anderen Hand meine Lippen auseinander und schob mir etwas in den Mund. Ich begann zu schreien und mich zu wehren. »Denk an Lily!« mahnte er leise und stieß mich ins Auto. Ich erwachte in einem Zimmer, das ich noch nie gesehen hatte. Wie mir das Licht verriet, war es später Nachmittag. Mein Kopf schmerzte, war wie von Nebelschwaden erfüllt und gehorchte mir nicht. Als ich ihn schüttelte, verstärkte sich die Qual. Ich lag auf irgend etwas, das teuer duftete. Mühsam öffnete ich meine brennenden Augen und schloß sie wieder. Dann versuchte ich nachzudenken. Es klappte nicht. Das nächste Mal erwachte ich in der Finsternis. Mein Kopf fühlte sich nicht besser an, aber mein Herz war ruhiger. Da mußte es ein Fenster geben. Normale gelbe, violette Londoner Abenddämmerung. Pelham Crescent? Wo war das Fenster? Ich versuchte mich zu bewegen und bemerkte, daß meine Hände gefesselt waren. Mit einer Seidenschnur? Wenn ich mich doch wie ich selbst fühlen würde… Früher hätte ich über dieses Klischee gelacht. Ich lachte nicht. Wie lange würde es dauern, bis ich zu mir zurückfand? So als hätte man zuviel Haschisch genascht und würde immer wieder dieselbe Person ins Zimmer kommen sehen… Als hätte man zuviel nargileh geraucht, und die Wände würden schmelzen, wenn man sich dagegenlehnte… als hätte man zuviel Cidre getrunken, und der Raum dreht und dreht und dreht sich und steht nicht still… Als wäre es zu heiß… Als hätte man zwei Wochen auf demselben Stuhl im Cafe verbracht mit einem kolumbianischen Opiumjunkie, nur um ihm Gesellschaft zu leisten und sich die Zeit zu vertreiben. Diesen
Stuhl verläßt man nicht. Dann erwachte ich in einem Nachtclub. Nein, in einem Restaurant. Ich saß auf einer Lederbank und spürte, wie sie durch dünnen Stoff an meinen Schenkeln klebte. An meiner Seite trank Eddie Champagner und lachte. Sein Arm umschlang meine Schultern, aber er sprach mit jemand anderem – mit einem Mann. Als ich erwachte, waren meine Augen bereits offen. Was zum Teufel hatte er mir eingeflößt? Auf unserem Tisch standen halbvolle Teller, grünliches ta’a-miah, babaganouk, tsatsiki, kibbeh. Feuchte, verwüstete Haufen, triefendes Olivenöl, obendrauf glatte Petersilie. Festungen nach einer Schlacht. Auf Salatblättern glänzten mich Wassertropfen an. Lange Frühlingszwiebeln schimmerten wie Gebeine. Scharlachrote Tomaten. Gebratenes, saftiges Fleisch, Marinade, ein bißchen Blut. Auf dem Teller vor mir lagen ein Messer und eine Gabel. In meinem Mund spürte ich den Geschmack von gegrilltem Fleisch. Ich trug ein loses Chiffonkleid mit einem Gürtel über den Hüften, das ich nicht kannte. Keine Unterwäsche. Durch den Sumpf meines Gehirns drängte sich ein erster Gedanke – Lily. Lily ist okay, Brigid paßt auf sie auf. Jesus, es war das Shiraz. Aber es hatte sich verändert. Ohrenbetäubender Lärm, übermütige Gäste. Offenbar war es ziemlich spät. Dieselbe Nacht, nahm ich an. Wie hatte ich mich verhalten? So mußte ich mich auch weiterhin benehmen und irgendwann fliehen. In die Freiheit. Bis Ben mich bedrohte und zurückschickte? Nein, ich würde nicht zurückkehren, sondern mit Lily nach Ägypten fliehen. Dort würde ich mich verkriechen – Harem werden, gesetzlos. Vielleicht dieselbe Wurzel wie das Wort Haram – verboten. Oder die Wurzel des Wortes H’rim – Sanskrit, was bedeutet: Halt dich raus. Bleib wach. Denk nach. Eddie ignorierte mich, und die anderen Männer kannte ich nicht. Araber. Reich. An einem Finger funkelte ein Diamantring. Was sie sagten, verstand ich nicht. Dann änderte sich die Musik. Oder die Stimmen erstarben. Ach ja, die Tänzerin. Ich kannte sie nicht. Natürlich. In drei Jahren verändert sich sehr viel. Sie war jung und dünn. Wie sieht das alte Ideal einer Tänzerin aus? Ein Weidenstamm, in eine Düne gepflanzt. Nicht dieses moder-
ne Mädchen. Immerhin hatte sie Granatapfeltitten. »Titten wie Granatäpfel, nicht wahr Darling?« flüsterte Eddie mir zu, und ich spürte seinen Atem. Und seine Hand auf meinem Hintern. Offenbar war mein Gehirn noch immer umnebelt. Gerade hatte er gesagt, was ich dachte. Es sind nur die Drogen. Keine Bange. Sie tanzte gut und sah stolz aus. Keine Engländerin – vielleicht eine Türkin. In so einem Club läßt sich das schwer feststellen. Die Frauen nehmen abendländische Züge an, eine westliche Version des Ostens. Jedenfalls gefiel sie dem Publikum. Immer wieder erklang aufmunternder Applaus. Auch Eddie war angetan, winkte sie zu sich, und sie kam sofort an unseren Tisch. Am Rand meines Bewußtseins und meines Blickfelds züngelten Flammen. Um sie zu verdrängen, schloß ich die Augen, und da erfaßten sie meinen ganzen Körper und ließen mich erzittern. Eddie drückte mich an sich. »Frierst du, Schätzchen?« Seine Hand kroch herauf und umfaßte eine meiner Brüste. Verführerisch schwenkte die Tänzerin ihren nackten Arm vor seinem Gesicht, hüpfte umher, wand den Schleier um seinen Kopf, hob ihre Titten hoch und preßte sie dicht vor seiner Nase zusammen. Ich roch ihre Schminke, ihren Schweiß. Figur acht, Figur acht, Figur acht. Vor und zurück, vor und zurück. Kein Fruchtbarkeitstanz, keine Vorbereitung auf die Geburt. Nur das Vorspiel zum Koitus. »Gefällt sie dir?« murmelte Eddie. »Sollen wir sie nach Hause mitnehmen?« Er griff nach einer Champagnerflasche, strich darüber, schaute die Tänzerin an und dann mich. Ich schenkte ihm ein idiotisches, verschlafenes Lächeln, und er küßte mich. Und ich dachte, du wolltest mich behutsam umwerben, das mutwillige Fohlen zähmen, mein Verlangen wecken. Ist die Droge etwa kein Betrug? Ist sie besser als eine Vergewaltigung, die dich nicht interessiert, wie wir beide wissen? Oder siehst du es jetzt mit anderen Augen? Willst du mich einfach nur besitzen, ganz egal, wie? Seine Lippen wanderten über meinen Hals, und die Tänzerin versuchte uns beide zu reizen. Über sein schütteres graues Nackenhaar hinweg starrte ich sie an und sagte: »Ouw! – wage es bloß nicht.« Selbst wenn sie eine Türkin war – sie verstand die arabische Botschaft. Eddies Hand glitt über meinen Schenkel, unter den Rock, zwischen meine Beine. Genug. Der Körper ist für die Liebe und den Tanz geschaffen,
nicht für diesen Unsinn. Ich versuchte aufzustehen. Aber Eddie, die Tänzerin, der Tisch und die unbewegliche Bank behinderten mich. Und meine Beine gehorchten mir nicht. Puddingbeine, ein Puddingkopf. Meine Sinne begannen wieder zu schwinden. Als ich das nächste Mal erwachte, war ich nackt, und Eddie stand vor mir. O Scheiße. Stell dich schlafend. Nach einer Weile verschwand er. Jetzt konnte ich klarer denken. Ich lag in einem Schlafzimmer, einem unpersönlichen, luxuriösen englischen Gästezimmer. Zwei hohe Fenster mit geschlossenen Chintzvorhängen voller Rüschen und Falbeln. Ein Lehnstuhl, ein unattraktiver Teppich, Blumen, zwei Türen, ein Kamin unter einem großen Spiegel. Viel Dekor. Ich war nicht gefesselt. So, wie mein Körper sich anfühlte, war ich nicht vergewaltigt worden. Ich stand auf, und meine Beine waren okay. Langsam trat ich vor den Spiegel. Nur ich. Nackt stand ich da, in einem fremden Zimmer. Ich versuchte, eine der Türen zu öffnen. Versperrt. Dann drückte ich auf die andere Klinke. Ein Bad. Ich wusch mich, bevor ich merkte, daß es keine Handtücher gab. Also kehrte ich ins Schlafzimmer zurück und trocknete mich mit der Bettdecke ab. Glänzender Chintz, ungeeignet, aber besser als gar nichts. Plötzlich kam Eddie herein. Ich starrte ihn an. »O Gott, verhülle dich!« rief er schockiert. Hastig wickelte ich mich in die Decke – eine automatische Tanzbewegung, so als würde ich einen Schleier um meinen Körper schlingen. »Verbirg die Granatäpfel!« Noch war mein Gehirn nicht klar genug, um eine passende Antwort zu formulieren. Er setzte sich auf die Bettkante. »Beruhige dich, ich hab das andere Mädchen gebumst. Dabei hast du zugeschaut. Aber ich glaube, du hattest nicht viel davon. Ich wollte mir dich für später aufheben.« Also hatte meine Karriere als seine private Sexpuppe schon begonnen. Wenigstens war diese Situation vorteilhafter als die letzte. Viele Leute wußten, wo ich sein würde. Brigid, Ben Cooper, Harry, Liam. Allen hatte ich davon erzählt. Vorausgesetzt, Eddie hatte mich in sein Haus am Pelham Crescent gebracht.
Er griff nach dem Telefon und bestellte Tee. »Sicher wird man mich vermissen«, sagte ich. »Natürlich.« »Stört dich das nicht?« »Kein bißchen. Es ist schon spät. Bald bin ich weg.« »Das hat Ben prophezeit. Aber er weiß nicht, wohin du fliehen wirst.« »Weit weg. Und ich werde keine nennenswerten Spuren hinterlassen… Reg dich nicht auf, ich schicke dich zurück. Wahrscheinlich sogar in einem Stück.« »Wahrscheinlich?« »Je nachdem, wie du dich benimmst. Eigentlich habe ich nicht vor, dir etwas anzutun. Doch das sollte ich besser verschweigen – und dir Angst einjagen.« »Und wie soll ich mich benehmen?« Ein lüsterner Blick streifte mich. »Kannst du das nicht erraten?« »Soll ich mit dir bumsen?« »Was für eine Ausdrucksweise!« fauchte er. »Nein!« »Willst du, daß ich dich begehre?« »O ja, bitte.« »Du hältst mich hier gegen meinen Willen fest. Wie konntest du nur wissen, ob ich will oder nicht?« »Weißt du, ich bin sehr eitel. Und ich glaube, mir gereicht einfach alles zum Vorteil.« Ich war müde. Nein, ich kann hier unmöglich ein Jahr nackt die Schöne und das Biest mit ihm spielen. Und ich werde nicht mit ihm schlafen. Bald wird er verschwinden. Warum verschwendet er seine Zeit? Wie soll ich seine Motive ergründen? Aber er stellt sich vor, er könnte gewinnen. Vielleicht genügt es ihm ja, mich einfach nur hier festzuhalten, bevor er abreist. Moment mal. Für welchen Zeitpunkt hebt er mich auf? Leise klopfte es an der Tür, und Siao Yen servierte den Tee. Pfefferminz, in kleinen grüngoldenen Gläsern. Sehr arabisch. So ähnlich wie meine blauen, aber natürlich von besserer Qualität. Ohne meinen nackten Körper zu beachten, huschte sie wieder hinaus. Wir nippten an unserem Tee. »Weißt du, wie ich deine Schwester kennengelernt habe?« fragte er. »Nein.« Es gefiel mir, nein zu sagen. Einfach nur nein – zu allem, zu dieser ganzen verrückten Situation.
Aber mein Nein bedeutete natürlich: Erzähl’s mir. Und genau das wollte ich. »Unser gemeinsamer Freund, der kleine Ben Cooper, hat mich in einen Club geführt, wo du aufgetreten bist. Ja, Ben! Wir gingen in eine Kneipe, irgendwo nördlich von der Oxford Street, stiegen ein paar Stufen hinab, alles sehr geheimnisvoll. Und drinnen, nach dem Dinner, da warst du – oh! Mein Traum! Du warst wundervoll, so schön, so stolz, so hinreißend, so grazil. Von der Neigung deines Kopfs bis zum Fleisch auf deinem Hintern – perfekt. Jede einzelne Bewegung – vollkommen. Also sagte ich Ben, ich müsse dich kennenlernen. Und er erwiderte, du seist sehr abweisend und würdest dich nicht mit Männern einlassen. Da flehte ich ihn an. Aber er erwiderte, du würdest mich nicht erhören. Wochenlang bedrängte ich ihn. Schließlich versprach er mir, mit dir zu reden, und ich fühlte mich wie im Himmel. Dann erzählte er mir von deiner Weigerung. Du würdest dich nur mit Moslems abgeben. Frierst du, meine Liebe?« »Nein. Sprich weiter.« »Möchtest du noch etwas Tee?« »Danke.« »Immer wieder habe ich die Lokale besucht, wo du aufgetreten bist. Ich war wie besessen, unsterblich verliebt. Doch ich trat nicht an dich heran, weil ich dich nicht erschrecken wollte. Schließlich wandte ich mich wieder an Ben. ›Schauen Sie aus dem Fenster‹, sagte ich. Da draußen stand ein hübscher kleiner Mercedes. ›Der ist für sie. Wenn Sie mich mit ihr bekannt machen, kriegen Sie auch so ein Auto.‹ Und eine Woche später traf ich dich…« Er unterbrach sich, um die Tassen zu füllen. »Aber du bist müde. Bald graut der Morgen. Du solltest schlafen.« Spiel nicht die Scheherezade. Ich schaute ihn an. Glücklicherweise besaß er nicht Scheherezades Geduld. Er mußte die ganze Geschichte erzählen, konnte einfach nicht widerstehen. »Als ich dich ins Ritz zum Dinner einlud, warst du sehr charmant. Das Auto gefiel dir. Ohne dein Make-up und dein Kostüm, ohne die magischen Gesten des Tanzes fand ich dich nicht so aufregend, wie ich’s erwartet hatte. Doch das schrieb ich dem Pathos meiner Phantasie zu, meinem Wunsch, die unerreichbare Frau zu umarmen. Wegen dieses Traums sah ich die traurigen Makel der Realität zu deutlich, verglichen mit dem unglaublichen Reiz des Fernen, des Unnahbaren. Vielleicht wirkt auch die Bühnenbeleuchtung sehr schmei-
chelhaft, dachte ich. Obwohl du bereitwillig mit mir schliefst und deine Kostüme für mich trugst, wolltest du nicht für mich tanzen. Begierig stecktest du die zweitausend Pfund ein, die ich auf den Nachttisch gelegt hatte. Soviel Geld warst du nicht wert. Einen Monat lang amüsierte ich mich mit dir, danach rief ich dich nicht mehr an.« Es gibt Augenblicke, wo sich der Körper scheinbar in der Schwebe befindet. Und das war so ein Moment. »Einen Monat später sah ich dich wieder tanzen. Ganz zufällig. Ich hatte nicht gewußt, daß du auftreten würdest. Damals vergnügte ich mich gerade mit uninteressanten anderen Mädchen. Mein Traum von dir war beschmutzt worden. Aber da warst du wieder, zauberhafter denn je. Und wie immer, im Gegensatz zu den meisten Mädchen, wolltest du niemanden betören. Und du hattest es auch nicht nötig, um Trinkgeld zu betteln. Du tanztest auf dem Tisch, die vollkommene Frau, und wir saßen davor, all die Männer, und sehnten uns stumm nach dir. Könnte ich doch die Erotik, die du ausstrahltest, in eine Flasche bannen! Und die anderen Frauen waren glücklich, denn sie wußten, sie würden in jener Nacht eine Menge verdienen.« Ja, das ergab einen gewissen Sinn. »Aber du erkanntest mich nicht. Ich starrte dich an, hielt sogar deinen Blick fest. Und du kanntest mich nicht. Ich rief nach dir, du hörtest nichts. Dann goß ich Brandy vor deine Füße, ein Trankopfer für meine Göttin. Doch du sahst mich nicht einmal an. Erst als die Flammen meiner Glut dich umzingelten, schautest du in meine Richtung. Aber du kanntest mich nicht. Später bot ich dir Geld an, und du straftest mich mit Verachtung. Sobald ich dich aus der Nähe sah, wußte ich, daß ich dich niemals gekannt, niemals gebumst, niemals gekauft, niemals dein wahres Gesicht hinter der Maske gesehen, niemals über die Lust hinausgeblickt hatte, die in deinen zeitlosen Bewegungen war. Am nächsten Tag bootete ich Ben Cooper aus achtzehn geschäftlichen Projekten aus, und er verlor ein Vermögen. Ich zog Erkundigungen ein und erfuhr, daß du eine Schwester hattest – ein Straßenmädchen, das dir glich. Nicht die Kluft zwischen Phantasie und Wirklichkeit hatte mich genarrt, sondern der gewaltige Unterschied zwischen dem Archetypus und der Hure in meinen Armen. Ich spürte sie auf, ließ mich wieder mit ihr ein – zu einem viel niedrigeren Preis – und lernte ihre eigenen beträchtlichen Qualitäten schätzen. Niemals warf ich ihr den Streich vor, den sie mir gespielt hatte. Sie
war einfach nur ein Mädchen, und Mädchen wie Janie tun, was man ihnen sagt. Sie drehte Filme für Cooper – wußtest du das? Dreckige kleine Filme – ziemlich komisch. Die finanzierte er, und er glaubte, sie würde sie verkaufen – was sie auch tat, mit meiner Hilfe. Davon wußte er nichts. Wir verrieten ihm nicht, daß ich sein Täuschungsmanöver durchschaut hatte. An diesen Filmen verdiente er nichts. Wann immer ich es irgendwie arrangieren konnte, erlitt er schwere Verluste. Janie war enttäuscht von ihm. Mich fand sie cleverer und amüsanter, mit Recht. Und sie schlief nicht gern mit ihm. Sie bat mich, sie selbst und ein paar andere von Bens Mädchen zu engagieren. Das tat ich, und ihr Freund Jim bekam einen Job in einer meiner Firmen, in der er gewisse Dinge regelte. Da er nicht besonders klug ist, war es kein Problem, weder für sie noch für sonst jemanden. Weißt du, daß ich Harry nur deinetwegen einstellte? In der vagen, unsterblichen, sentimentalen Hoffnung, er könnte mich mit dir zusammenbringen… Sonst hätte ich mich wohl nie mit ihm eingelassen. Ich mag diesen Klugscheißer nicht, diesen Besserwisser. Natürlich wußte ich, daß du auf Reisen warst. Und ich wünschte mir, du würdest zurückkommen. Sicher, Janies Schwangerschaft war unangenehm. Aber es spielte keine große Rolle, denn damals agierte sie immer öfter hinter den Kulissen. Sie hatte ihren kleinen Job aufgegeben. Natürlich wußte ich, daß sie dich in nichts eingeweiht hatte. Und ich erzählte ihr auch nichts von dir und auch nicht, was ich für dich fühlte – was ich immer noch fühle. Nichts hat sich verändert. Gewiß, sie schöpfte nach unserer ersten Begegnung Verdacht. Später wiederholten wir selbst Bens Trick, mit anderen Freiern, und du wurdest immer großzügig entlohnt. Aber nicht allzuoft, denn wir wollten deinen Ruf nicht ruinieren.« Ich glaubte ihm. Jedes Wort glaubte ich ihm. Wie interessant. Und ich war so müde. Fühlte mich so elend. Ich wickelte mich fest in die Decke und floh ins Bad, um mich zu übergeben. Dann kehrte ich ins Schlafzimmer zurück und begann, ihn mit Gegenständen zu bewerfen – einer Vase, den Teegläsern, einem Porzellanspaniel, der auf dem Kaminsims gestanden hatte. Er warf sich auf mich, hielt mich fest, seine Lippen glitten über mein Gesicht, und er versuchte, seinen Schwanz herauszuziehen und in mich einzudringen. Aber ich kann mich winden wie ein großer, starker Fisch und allen Gefahren ausweichen. Von den Ouled Nail hatte
ich gelernt, meine Muskeln zu nutzen. Kein Mann wird mich jemals festnageln können. Splitternackt stand ich vor dem Kamin, den Schürhaken in der Hand, und schlug ihn nieder. Was dann geschah, überraschte mich selbst am meisten. Als ich ihn bewußtlos auf dem häßlichen Teppich liegen sah, den Kopf nach hinten gestreckt, den Hemdkragen gelockert, das hübsche Gesicht kreidebleich, die elegante Hose geöffnet, den Penis immer noch erigiert – was hatte das Blut da zu suchen? Wurde es nicht anderswo gebraucht? – , da wurde ich von einem seltsamen Lustgefühl erfaßt, aber auch von anderen Emotionen. Vielleicht Freude, weil mir endlich einer dieser Kerle, die mich so gequält hatten, ausgeliefert war. Eben noch hatte er mich geliebt, im nächsten Augenblick versuchte er, mich zu vergewaltigen, und dann liegt er reglos da. Probieren Sie so was doch mal aus. Und bilden Sie sich nicht ein, es würde mich interessieren, was Sie denken. Vorsichtig legte ich den Schürhaken beiseite, in Reichweite, schlang meinen nackten Körper um seinen. Alles für mich. Ich hatte es so lange entbehrt. Ich konnte nicht stillhalten, mußte mich bewegen und mich winden, die Glut schüren, meine Brüste an seinem sauberen Hemd reiben, meinen Mund an seinen Hals pressen, seinen Schwanz finden… Wie ungewöhnlich! Danach muß ich einen Arzt fragen. Obwohl sich sein Körper kalt anfühlte, konnte ich seinen heißen, steinharten Penis spüren, der mir ganz allein gehörte. Und ich machte damit, was ich wollte, drückte ihn dahin und dorthin, an Stellen, die so lange kein heißes Fleisch mehr gespürt hatten, ganz nach Belieben. Alle diese einsamen, vernachlässigten Körperteile, Achselhöhlen und Zehen und Hände und Zähne und Haare. Und ich küßte und streichelte und kratzte ihn, schob meine Granatäpfel in seinen unbeweglichen Mund, amüsierte mich köstlich, bevor ich ihn hungrig in mir aufnahm. Und dann trieb ich’s mit ihm, nach allen Regeln der Kunst. Er rührte sich kaum. Vier Jahre lang eine unterdrückte Frau… Und jetzt – ein fabelhafter Tanz, den er verpaßte. Er zuckte ein bißchen und stöhnte leise. Nun, das störte mich nicht. Ich hatte meinen Spaß. Manchmal gewann ich den Eindruck, er würde den Höhepunkt erreichen. Doch das erlaubte ich ihm nicht. Als ich fertig war, wischte ich mich mit seinen Händen ab und fing noch einmal von vorne an. Danach benutzte ich sein Hemd – damit er später sehen konnte, was ohne ihn geschehen war.
16 Hinaus Wie eine böse Fee stürmte ich die Stufen hinab und stieß Türen auf, um Ausgänge und Kleider zu suchen. Das Haus war alt und seltsam konstruiert. So viele Korridore und Treppenfluchten… Vermutlich war ich in der obersten Etage gewesen. Zwei Treppen weiter unten stand Siao Yen. Klein und zierlich. Mühelos hätte ich sie überwältigen können, falls sie keine diabolische asiatische Kriegskunst beherrschte. Doch sie trat beiseite und rief mir zu: »Das hat er verdient! Wenn Sie eine Zeugin brauchen – ich sage aus, was immer Sie wollen. Nun muß das arme alte Buenos Aires ohne ihn auskommen.« Während ich weiterrannte, warf ich einen Blick über die Schulter und entschied, daß ich halluzinierte. Hinab, hinab, hinab. Ich erreichte eine Küche. An der Tür hing ein geblümter Kittel. Siao Yens Größe. Ich schlüpfte hinein, hielt ihn vorn zusammen, aber er klaffte auseinander. Da war auch eine Schürze, die meine Blößen verhüllte. Nebenan war eine Besenkammer, und daran grenzte ein großer Raum mit Glasdach und Glaswänden. Über und unter mir sah ich Himmel und Sterne. Ehe ich erkannte, wo ich war, fiel ich beinahe in den Swimmingpool. Ich holte einen Feuerlöscher aus der Küche, zerschmetterte eine Glaswand und eilte in den Garten hinaus. Feuchtes Gras unter meinen Füßen, der Geruch einer englischen Sommernacht in meiner Nase. Pelham Crescent war es jedenfalls nicht. Ein oder zwei Minuten lang irrte ich durch den Garten, bis ich fürchtete, auf einer Kuhweide zu landen, wenn ich mich nicht zurechtfand. Also blieb ich keuchend stehen. Meine Lungen schmerzten. Abgesehen von mir war alles ruhig und still – und so schön, daß ich mich niederlegte und nächtliche Düfte einatmete. Wie wundervoll… Ich lachte. Sex, mein Gott! Das muß ich öfter tun. Vielleicht kann man die Männer benutzen, um seine Batterien aufzuladen. Stecker in die Dose – und schau zu, wie deine Energien vibrieren. Ich richtete mich auf und schaute mich um, sah das Haus im Mondlicht. Offenbar saß ich im hinteren Garten, und man konnte an der Seitenmauer entlang zur Vorderfront gehen. Ich stand auf, lief über den glatten, feuchten Rasen und zerquetschte Gänseblümchen
zwischen den Zehen. Dann kam ich zur Zufahrt, gesäumt von Steinblöcken und Saxifraga, die im Mondlicht glänzten. Dazwischen stand der Pontiac und sah wie ein Gespenst aus. Er war ein Gespenst – mein Auto aus der Vergangenheit erwartete mich genau dort, wo ich es finden wollte. Was zum Teufel trieb es hier? Ist Harry da? Höchste Zeit, das Weite zu suchen. Ich rannte zum Wagen. Unter meinen Füßen, eben noch von Gänseblümchen liebkost, knirschte rauher Kies. Die Tür war unverschlossen, im Zündschloß steckte der Schlüssel. Aus dem Haus drangen Geräusche – ein dumpfes Krachen, eine Stimme. Also war er nicht tot. Sehr gut. Ich ermorde niemanden. Nein, ich wende viel subtilere Methoden an. Er wollte mich vergewaltigen, und ich bumste ihn, um mich zu rächen. Oder lief Harry da drin herum? Ich hatte kein Auto vorfahren hören? Wie lange war er schon da? Was tat er? Nun mußte ich wirklich verschwinden. Ich sprang ins Auto und folgte meiner Nasenspitze. Als ich merkte, wo ich war, graute der Morgen. Offensichtlich hatte mich meine Nasenspitze in den Außenbezirk von Milton Keynes geführt. Nicht übel. Auf einigen Umwegen fand ich die Straße nach London und hielt vor einer Imbißstube. Niemand schien meine Kleidung extravagant zu finden. Solche Imbißstuben sind am frühen Morgen goldrichtig. Im Vertrauen auf Harrys alte Gewohnheit, für Notfälle immer einen oder zwei Fünfer im Auto zu verstecken, hatte ich im Fond, zwischen Lehne und Sitz, einen abgegriffenen Fünfziger gefunden. Eier, Speck, Würstchen, Chips, Bohnen, zwei Scheiben Toast, Kleingeld fürs Telefon. Bevor ich jedoch zum Apparat ging, mußte ich mich noch einmal übergeben. In der Toilette sah ich, warum meine Füße immer noch feucht waren. Ich wusch sie und verband die Wunde mit Papiertüchern, die sich sofort auflösten. Den abgerissenen Ärmel des geblümten Kittels um den Fuß geschlungen, sah ich auch nicht schlimmer aus als zuvor. Immerhin war ein Fuß heil geblieben, und damit konnte ich fahren. Zehn vor sieben rief ich bei Brigid an, und Maireadh meldete sich. Ich stellte mir vor, wie sie sich auf dem Sofa aufgerichtet und verschlafen nach dem Hörer getastet hatte – nur um den verdammten Lärm abzuwürgen. »Maireadh, wie geht’s Lily? Hör zu, ich hab ein Abenteuer hinter mir, aber ich komme bald. Richte Brigid aus, daß alles okay ist.
Später hole ich Lily ab. Sag ihr, es tut mir leid, daß ich gestern nicht da war, und ich bin Brigid so dankbar. Vielleicht kann sie Lily in den Kindergarten bringen. Entschuldige, daß ich dich geweckt habe…« Und dann erbrach ich wieder. Zehn Minuten lang saß ich im Auto und weinte, zehn Minuten lang döste ich. Danach kehrte ich in die Imbißstube zurück, trank schwarzen Kaffee, tankte und schaltete Harrys Recorder ein. Bob Marley erklang, und ich ließ das Band weiterlaufen, bis ich das Lied über die drei kleinen Vögel auf meinem Fensterbrett fand, die mir versicherten, alles würde ein gutes Ende nehmen. Und ich glaubte ihnen jedes Wort. Janie hatte sich immer betrogen gefühlt und geglaubt, die Eltern hätten uns so erzogen, daß wir unsere Wurzeln verloren hatten, und etwas aus uns zu machen versucht, das wir niemals sein konnten. Unentwegt wünschte sie sich etwas anderes. Und weil es nicht klappte, gab sie anderen Leuten die Schuld. Ich hatte nicht gewußt, wie neidisch sie auf meine Tanzkunst gewesen war. Schon als Teenager verdiente ich viel Geld, überhäufte ich sie mit Geschenken und ahnte nicht, wie sehr sie unter meinem Erfolg litt. Und dann stahl sie mir den Tanz, meinen guten Ruf, meine Identität, meinen Sex und zerrte all das in den Dreck. Von alledem merkte ich nichts, und ich half ihr auch nicht. Mit ihrem Geld würde ich Neil bezahlen. Danach würde immer noch eine Menge übrigbleiben. Geld stinkt nicht, oder? Wenn Noors Verwandte sie jemals anständig behandelt hätten, hätte ich ihnen auch etwas geschickt. Sollte ich ein Heim für reumütige Huren gründen? Das JanieGower-Erlösungscenter? Oder ein Heim für die weiblichen Opfer islamischer Fundamentalisten? Oder ein Bordell für Frauen, in dem Eddie und Ben die Stars wären? Aber wer würde jemals dafür zahlen, um mit Ben Cooper zu schlafen? Ha, ha, Eddie! Sekundenlang war ich versucht, zurückzufahren und ihn noch einmal zu vernaschen. Oh, er war phantastisch gewesen. Bewußtlos. Aber toll. Ich lachte immer noch. Von diesen perversen Gelüsten, die in mir steckten, hatte ich nichts geahnt. Guten Morgen, mein Körper! Freut mich, dich wiederzusehen. In Zukunft müssen wir uns öfter treffen. Eins stand jedenfalls fest – ich würde das Geld nicht dazu verwenden, um Lilys Lebensunterhalt zu bestreiten und ihre Ausbildung zu bezahlen. Nachdem ich noch eine Tasse Kaffee getrunken hatte, fuhr ich
nach Hause. Nein, noch nicht. Zunächst hielt ich vor Zeinabs Haus und sah sie im Garten arbeiten, in einem langen, bis zu den Knien hochgerafften Hemd und einem großen Hut. Übermütig tobten ihre Jungs um sie herum und kläfften sich an wie junge Hunde. »Warum sind sie nicht in der Schule?« fragte ich. »Das hab ich dir doch gesagt – die Windpocken.« O Gott, was für eine beschissene Freundin ich bin. »So was vergißt du sonst nicht. Du siehst gräßlich aus. Komm rein und trink eine Tasse Kaffee.« Köstlicher heißer Milchkaffee, von einer Freundin zubereitet, von einer Freundin serviert. Die Jungs kamen mir geradezu widerlich gesund vor. »Für sie ist das ein zusätzlicher Ferientag«, erklärte sie. »Es juckt kaum, und nun wollen sie für immer Windpocken haben.« Ich war so glücklich, so ruhig, so normal. Fast vergaß ich, warum ich gekommen war. »Zeinab, dürfen wir ein paar Tage bei dir wohnen, Lily und ich? Ich muß gewisse Entwicklungen abwarten.« »Klar.« Sie stellte keine Fragen, und ich erzählte ihr nichts. Ob ich ein bißchen schlafen wollte? Nein, aber ich würde mir gern ein paar Kleider ausleihen. »Nimm dir, was du brauchst.« Gott segne sie. »In ein oder zwei Stunden bin ich wieder da«, sagte ich und fuhr in einem schönen, leinenen salvoar kameez nach Hause, die Füße bandagiert. Der Kittel, die Schürze und der blutbefleckte Ärmel steckten in einem Plastikbeutel. Daheim blinkte der Anrufbeantworter. Mum: Wo steckte ich, konnte ich sie nicht anrufen? Dad: Wo steckte ich, konnte ich ihn nicht anrufen? Neil: Wo steckte ich, konnte ich ihn nicht anrufen? Cooper: Wo steckte ich, konnte ich ihn nicht anrufen? Wieder Cooper: Wo steckte ich? Es war sinnlos, ihm ausweichen zu wollen. Laetitia, die Sozialarbeiterin: Sie wolle uns noch einmal sehen. Durfte sie uns am Donnerstag nachmittag besuchen? Dann würde Lily nicht im Kindergarten sein, oder? Wenn es mir nicht paßte, sollte ich zurückrufen. Sonst würde sie einfach kommen. Scheiße. Heute ist Donnerstag – der Tag, an dem Jim aufkreuzen würde.
Schließlich eine Mitteilung von Harry: Wenn ich seine Nachricht hörte, sollte ich sofort zu einer Freundin ziehen. Nicht zu meinen Eltern. Und sobald ich dort war, sollte ich ihn anrufen, nicht jetzt. Erst mal sollte ich nur verschwinden. Bitte, sagte er. Oh, dachte ich. Natürlich war es mir komisch vorgekommen, daß sein Schlitten praktischerweise auf Bates’ Zufahrt geparkt war, mit dem Schlüssel im Zündschloß. Aber mein Gehirn war zu benebelt gewesen, um die diversen Sinneseindrücke dieses frühen Morgens zu analysieren. Trieb er sich immer noch in Eddies Haus herum? Nun, ich plante ohnehin einen Tapetenwechsel. Scheiße, meine Handtasche war – irgendwo. Aber mein Adreßbuch lag auf dem Schreibtisch. Ich warf es zusammen mit ein paar Kleidern für Lily und mich, ihrem speziellen Badeöl und der Salbe in eine Reisetasche. Dann benutzte ich den Ersatzschlüssel, um die Wohnung zweimal zu versperren, und stieg wieder in den Pontiac. Unter dem Scheibenwischer steckte ein Strafzettel. Lachend fuhr ich zu Zeinab. Unterwegs kam ich am Kindergarten vorbei, spähte durchs Fenster und sah Lilys kleine Hände in einem großen Plastikeimer planschen. Brigid hatte ihr Zöpfchen geflochten. Wie eifrig sie sich konzentrierte… Sicher würde sie ein leises Lied vor sich hin summen, mit selbsterfundenen Wörtern, und über all die seltsamen, scheinbar unerklärlichen Dinge nachdenken, die jeden Tag im Leben einer Dreijährigen passieren. Denn eine Dreijährige weiß so wenig und lernt so viel, die ganze Zeit. Und das alles nimmt sie in sich auf. Mein süßer kleiner Schwamm. Zu Mittag kam ich bei Zeinab an, schlief eine Stunde, dann telefonierte ich mit Harry. »Wo bist du?« wollte er wissen. »Du arbeitest für den einzigen Mann, vor dem ich mich deiner Ansicht nach verstecken müßte. Warum sollte ich dir verraten, wo ich bin?« »Vertrau mir, Ange.« »Scher dich zum Teufel!« erwiderte ich und fühlte mich großartig. »Okay. Weiß Ben, wo du bist?« »Nein.« »Sag’s ihm nicht. Sprich nicht mit ihm.« »War auch gar nicht geplant.«
»Hast du mein Auto?« »Mein Auto.« »Ach, Scheiße, wo warst du…?« »Verdammt, das geht dich nichts an. Ich hab mich amüsiert.« »Kannst du mir sagen, wo Eddie steckt?« »Wer will das schon wissen?« »Bist du betrunken, Angeline?« »Keine Ahnung. Aber hör mir zu… Nein, schon gut…« »Angeline?« »Ich werde fortgehen. Reg dich nicht auf. Es ist eine gute Idee. Aber-Harry…« »Ja?« »Heute nachmittag kommen Jim, die Sozialarbeiterin und tausend andere Leute zum Tee.« »Lad sie wieder aus.« »Nein, das geht nicht. Die Wälder sind dunkel und wild und tief, aber ich muß mein Wort halten und meilenweit laufen, bevor ich schlafe.« »Sag den Leuten ab.« »Nächste Woche ist die Verhandlung.« »Angel…« »Ich werde Ben nicht sehen, und ich werde Eddie nicht sehen, wenn ich es verhindern kann. Um alles andere mache ich mir keine Sorgen.« Ich erwähnte nicht, daß ich fürchtete, ich würde gegen Ben kämpfen und Eddie kidnappen. He, eine phantastische Idee! »Okay, ich versuche die Einladung abzublasen.« »Wo bist du?« »Sag ich dir nicht. Jetzt muß ich Lily vom Kindergarten abholen. « Ich legte auf. All die widersprüchlichen Gefühle waren immer noch da, doch das kümmerte mich nicht. Die Zweifel und die Verwirrung – scheißegal. Warum hatte ich mir die ganze Zeit vorgemacht, alles wäre okay? Das ist es nicht, das wird es nie sein, und es spielt keine Rolle. Verdammt. Ich tanze auf den Zinnen, im Licht der Flammen, ha, ha, ha! Harry ist okay. Alles ist okay. Und ich bin die gottverdammte Maikönigin. Weder Jim noch Laetitia gingen ans Telefon, und ich war todmüde. Ich holte Lily vom Kindergarten ab, und sie war so glücklich, so
süß. Vor lauter Wiedersehensfreude schrie sie wie am Spieß. Um vier gingen wir alle zu meiner Wohnung – Zeinab, die Jungs und wir beide. Wird dieses ganze Chaos unbemerkt bleiben? Unmöglich! Ben kann uns ruinieren – einfach so. Und dann fliegen Lily und ich nach Buenos Aires und führen ein beschauliches Leben mit einem psychotischen Gangster. Wie fabelhaft. Das muß ich ihm erzählen.
17 Showtime Die Wohnung war durchwühlt worden. Glasscherben, alle Bücher am Boden verstreut, umgekippte, demolierte Möbel, mein Arbeitszimmer voller Papiere, ein Bulle neben der Tür. An seiner Seite lag ein Blumenstrauß, so ähnlich wie der letzte, aber nur halb so groß. Wahrscheinlich hatte Eddie ihn gestern bestellt. Ich hob ihn auf und drückte ihn ans Herz. »Angeline?« fragte Zeinab. »Bist du verliebt?« Ich grinste sie an. »Miss Gower?« fragte der Bulle. »Oh – ja.« Ich erkannte ihn. »Liams Freund, nicht wahr?« »Genau«, bestätigte er und verwandelte sich sofort in einen Menschen. »Wir konnten Sie nicht finden.« »Weil ich mich versteckt hatte. Mit diesem Durcheinander habe ich gerechnet.« Was nicht stimmte. Warum hatte der idiotische Ben nicht Bates’ Haus durchsucht? Das hätte alles viel leichter gemacht. Aber bei mir gibt es keine Alarmanlage, und bei Eddie schon. »Wir haben Fingerabdrücke und so weiter. Als eine Nachbarin den Lärm hörte und einen Kerl davonlaufen sah, rief sie uns an. Haben Sie irgendeinen Verdacht?« »Ben Cooper. Detective Superintendent, entweder höchstpersönlich oder er hat noch eine unschuldige Person unter Druck gesetzt.« Klar, er starrte mich komisch an. Ich nannte den Namen des Polizeireviers. Dann schaute er so drein, als wüßte er, daß er verblüfft die Stirn runzeln müßte. Aber er tat es nicht. »Erst mal brauchen wir Ihre Aussage. Vermissen Sie irgendwas?« »Wahrscheinlich nicht, denn ich hab nichts, was ihn interessieren könnte.« Die Videos lagen immer noch bei Brigid – falls Ben überhaupt von ihrer Existenz wußte. Aber was anderes würde ihn nicht reizen. Sicher hatte er nicht herausgefunden, daß ich die Videos besaß. Ben und seine kleinen Chancen! Offensichtlich war er verzweifelt, wenn er die Wohnung seines »Strohhalms« verwüstete. Wenn der Bulle bloß verschwinden würde – dann könnte ich mich endlich an die Arbeit machen. »Eh – würden Sie jetzt gehen?« bat ich freundlich.
»Wie, bitte?« »Ich würde gern Ordnung machen. Bald kommen ein paar Leute zu Besuch, inklusive einer Sozialarbeiterin, die das Gericht veranlassen könnte, mir mein Kind wegzunehmen… Bitte!« Er schaute mich an. »Aber ich muß Ihre Aussage zu Protokoll nehmen.« »Später, das verspreche ich Ihnen.« Resigniert zuckte er die Achseln. »Vielleicht heute abend. Klar, Sie sind eine Freundin von Liam«, fügte er hinzu und stieg die Treppe hinab. Zeinab schaute mich durchdringend an, und ich versicherte: »Keine Bange, ich erzähl dir alles. Geht Fußball spielen, Jungs! Komm rein und hilf mir beim Aufräumen.« Im Arbeitszimmer hatte der Einbrecher am schlimmsten gewütet. Aber diese Tür konnte ich schließen, und die restliche Wohnung sah nicht allzu schrecklich aus. Wir beauftragten Omar, Brot und Milch zu kaufen, und ich stellte Eddies Blumen – die alten und die neuen – in mehrere Vasen, die ich am Balkongeländer verteilte. Inzwischen hatten meine Füße wieder zu bluten begonnen. »Okay. Showtime.« Brigid und Maireadh und Aisling und die Jungs kamen die Stufen herauf, gefolgt von Jim und Laetitia. »Tut mir so leid«, beteuerte ich, als ich sie alle hereinließ. »Alle scheinen gleichzeitig zu kommen. Hoffentlich macht’s Ihnen nichts aus, Laetitia.« Und dann brach die Hölle los, in der Wohnung und draußen auf dem Balkon. Sechs kleine Jungs, zwei kleine Mädchen, drei Mütter, zwei irische Tanten, Tee und Toast, ein Elfmeterschießen an der Wand, überall duftende Blumen. Brigid versuchte herauszufinden, was passiert war, Zeinab begnügte sich mit vielsagenden Blicken und unterließ es angelegentlich, Fragen zu stellen. Und ich saß mit strahlenden Augen da, wahnsinnig höflich, versuchte nicht mit Brigid zu reden, heuchelte Bedauern und entschuldigte mich bei Jim, der wie ein Häufchen Elend dasaß, ein einsamer Mann in einer Frauenwelt, ein Eunuch im Gemach der Huris. Lily beachtete ihn gar nicht und begrüßte alle anderen mit lautem Jubel. Lachend verkündete Laetitia, das sei eine wundervolle Teeparty. Ich machte sie mit Jim bekannt. Ja, sagte er, er kannte sie bereits, sie war auch bei Nora und ihm gewesen. »Oh!« rief ich. »Wie sieht das Haus denn aus, Laetitia? Erzählen
Sie doch! Wird Lily es dort besser haben als hier? Wahrscheinlich wohnen sie in einem Haus, nicht in einer Wohnung, oder? Natürlich weiß ich, daß Jims Boß ein schwerreicher Mann ist.« »Welcher Boß?« fragte er. »Nun ja, vielleicht arbeitest du nicht mehr für ihn. Du weißt schon. Janies kleiner Freund.« Jim wurde leichenblaß. Volltreffer! Er weiß sehr viel, aber er weiß nicht, daß ich auch ein bißchen was weiß. »Sag doch, Jim!« wisperte ich, während Maireadh die Sozialarbeiterin zum Tisch führte und ihr eine Tasse Tee in die Hand drückte. »Hast du sie vor all den Jahren wirklich verprügelt? Oder waren’s die Zuhälter? Oder Bates? Oder vielleicht Cooper?« Da versteifte sich sein ganzer Körper. Eddie hatte recht, Jim war nicht besonders klug. »Ich habe nie was getan«, antwortete er nach einer langen Pause. »Das habe ich dir doch immer gesagt.« Es stimmte. Das hat er immer gesagt. Und deshalb hatte ich ihn stets verachtet. Hassan hatte sich ein Knie aufgeschürft, und ich zeigte Zeinab, wo ich die Pflaster aufbewahrte. »Also hast du sie nie geschlagen?« »Kein einziges Mal. Ich liebte sie.« Als würde das irgendwas beweisen. »Und warum wollte sie dir immer wieder davonlaufen?« »Das wollte sie gar nicht«, protestierte er. »Wirklich nicht, verdammt noch mal! Ich half ihr immer wieder.« »Wobei?« »Jedesmal, wenn die beiden wütend auf sie waren, beschützte ich sie. Nur ich allein wußte alles. Und ich war immer gut zu ihr…« »War sie auch gut zu dir?« Lily wollte Milch trinken, und Jim starrte sie an. Notgedrungen ließ ich die beiden allein und humpelte auf meinen wunden Füßen davon, um ein Glas zu holen. »Hier, Schätzchen.« Sie umklammerte meine Beine. Zärtlich streichelte ich ihren Kopf, hob sie hoch und versicherte ihr, ich hätte sie ganz wahnsinnig lieb. Sie gab mir einen Kuß auf die Nase, dann lief sie mit Michael davon, der ihr von Brigids Schokoladenbiskuits erzählt hatte. »Nein, sie war nie gut zu mir«, erwiderte Jim. »Mit allen Typen, die ihr über den Weg liefen, mußte sie bumsen – ganz egal, ob sie ihr
was zahlten oder nicht. Mit allen. Nur mit mir nicht.« »So, da bin ich wieder«, verkündete Laetitia. »Diese verdammte Janie.« »Tut mir leid – störe ich?« fragte sie. Komisch. Ausgerechnet eine Sozialarbeiterin fragt so etwas. »Ist hier irgendwas…« Unsicher stand Jim auf. Es läutete an der Tür. Und Lily kam wieder zu mir, ein Biskuit in der Hand. Ich war überglücklich. Oh, diese maßlose Erleichterung. Überall lag sie in der Luft, in der ganzen Wohnung, fast greifbar. Nun würde das ganze Problem in sich zusammenfallen, und danach würde das Leben nicht mehr lebenswert sein, oder ich würde triumphierend wie Phönix aus der Asche steigen, eine strahlende Lily in den Armen. So oder so, ich würde endlich die ganze Wahrheit erfahren. »Was ist denn mit deinen Füßen los?« fragte Jim. »Angeline!« rief Zeinab von der Wohnungstür herüber. »Da ist ein Mann!« »Warum hat er geläutet?« fragte Maireadh. »Die Tür steht doch offen.« Es war Cooper. »Komm raus, Angeline«, sagte er. »Unmöglich, Ben, ich habe Gäste.« Wie ich mich freute, ihn zu sehen… Dieser Zuhälter und Pornograph hatte den Körper meiner Schwester verkauft und sie für mich ausgegeben. Ohne mein Wissen hatte er eine Hure aus mir gemacht. Er allein war schuld an der Schande meiner Schwester. Nun hatte er auch noch meine Wohnung verwüstet. Auf seinem Rücken wuchsen häßliche Haare. Er bumste mit zusammengekniffenen Augen und verzerrtem Gesicht. Plötzlich begann ich zu lachen. »Komm raus«, befahl er. »Nein.« Unentschieden. »Das sind lauter Freunde«, fuhr ich fort. »Sicher kennst du Jim Guest. Du warst doch mal der Zuhälter seiner Freundin, nicht wahr? Und meine Tochter Lily? Geh doch mit den Jungs auf den Balkon, Darling!« Sie sollte nicht sehen, wie alles zusammenbrach, nicht wissen, wie es enden würde. Hastig scheuchte Zeinab die Kinder hinaus. »Gehst du mit ihnen?« fragte ich, und sie nickte, die schwarzen Brauen weit nach oben gezogen. Maireadh und Brigid setzten sich, starrten mich gespannt an und
freuten sich auf eine lustige Szene. Und Laetitia warf mir einen seltsamen Blick zu. Also machte ich sie mit Ben bekannt. Habe ich schon erwähnt, daß ich vor Erschöpfung und Schmerzen fast verrückt war? Müdigkeit, Schmerz, Adrenalin, Zorn – und das Wissen, daß es nicht mehr lange dauern konnte… »Das ist Laetitia Bailey, eine Sozialarbeiterin. Sie soll feststellen, bei wem Lily es besser hätte – bei ihm oder bei mir. Laetitia, darf ich Ihnen Detective Superintendent Ben Cooper vorstellen? Ein Polizist«, fügte ich überflüssigerweise hinzu. »Nächste Woche findet unsere Verhandlung statt, Ben. Deshalb sind wir alle mit dem Fall beschäftigt und haben viel zu tun. Vielleicht könnte ich mit dir reden, wenn alles vorbei ist. Oder hast du etwas Wichtiges zu sagen? Etwas, das Miss Bailey interessieren könnte?« Wie einfach es war… Ich werde den Kampf gewinnen, dachte ich, und das Chaos verwandelt sich in Ordnung. Fitna! Schöne Frau, Desaster, Wahnsinn, Chaos. Ben beobachtete mich und wußte nicht, was mit mir los war. Natürlich konnte er nicht wissen, daß ich das auch nicht wußte. » Angie…«, begann er vorsichtig. »Nenn mich nicht Angie.« Brigid schnaufte verächtlich. »Wenn du dich nicht benehmen kannst, Brigid, mußt du das Zimmer verlassen!« rief ich, ohne sie anzuschauen. Da schnaufte sie wieder. Ich liebe diese Frau. Jims Gesicht nahm einen sehr sonderbaren Ausdruck an, und er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. »Wie, bitte, Jim?« fragte ich. »Was zum Teufel macht er hier?« platzte er heraus. »Mit diesem Bastard setze ich mich nicht zusammen…« »Jim, ich will ihn auch nicht hier haben, und ich mag ihn ebensowenig. Ben – warum verschwindest du nicht einfach?« Plötzlich merkte ich, daß ich mich so ähnlich wie Eddie benahm – übermütig und verrückt. »Eh…«, sagte Laetitia. Vielleicht besaß sie irgendwelche professionellen Fähigkeiten, die mir nützen konnten. Krisenmanagement. Aber ich wollte gar nicht, daß alles gemanagt wurde. Jim begann von einer Seite zur anderen zu schwanken. Vielleicht hatte er Janie nie geschlagen. Im Gegensatz zu Cooper. Ben schaute sich um, dann riß er sich zusammen. »Sei nicht albern, Jim. Angeline, ich will mit dir reden. Sofort.« Oh, dieses männ-
liche Selbstbewußtsein… »Laß mich in Ruhe. Ich rede nicht mit dir«, erwiderte ich. Da fiel Jim über Ben her und schrie, wegen dieses Bastards habe er alles verloren und er würde nicht noch einmal alles verlieren. Brigid und Maireadh versuchten halbherzig, ihn wegzuzerren, und wir anderen traten zurück. Rums! Peng! »Was hat er letztes Mal verloren?« fragte Laetitia, und ich begann, sie zu mögen – ihr ruhiges Interesse. Als wären wir Insekten. Als wäre sie David Attenborough. »Meine Schwester Janie«, flüsterte ich. »Cooper zwang sie zur Prostitution, er war ihr Zuhälter, und sie lebte mit Jim zusammen.« »Oh!« Der pathetische kleine Kampf dauerte etwa zehn Sekunden. Ben stieß Jim beiseite, Jim brach in Tränen aus, und wir anderen standen herum und schauten zu. Wie albern, wie menschlich. Und viel zu spät. »Da kommen Männer!« rief Zeinab vom Balkon herüber, auf arabisch. Eddie, dachte ich. Aber er war es nicht. Vielleicht war es etwas Schlimmeres – keine Ahnung. Vier Männer in Anzügen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Und Harry. »Miss Gower…« Einer nach dem anderen nickte mir zu. Alle sahen aus wie Bestattungsunternehmer. Offenbar war es an der Zeit, den Rückzug anzutreten, und das tat ich kichernd. Ich stand zwischen Laetitia und Brigid und stieß sie mit den Ellbogen an. »Detective Superintendent«, murmelte einer der Männer. Entsetzt hielt Cooper den Atem an. »Kommen Sie mit«, murmelte der schwarze Anzug. Cooper schien zu schrumpfen. Und er sagte kein Wort. Wie ungewöhnlich. Ein stummer Ben Cooper. Als sie ihn in die Mitte nahmen, starrte er mich an. »Biest! Genau wie deine Schwester!« Triumphierend streckte ich ihm die Zunge heraus. Jim begann ihn wieder anzuschreien, und Harry schlug ihn ins Gesicht. »Setz dich!« Maireadh brachte Jim eine Tasse Tee. »Tut mir leid, Miss Gower«, sagte der Anzug, dann führten sie Ben ab. Tiefe Stille erfüllte die Wohnung, nur von Jims Schluckauf unterbrochen.
Dann: »Was geht hier vor?« fragte Laetitia. Einer der Anzüge steckte den Kopf zur Tür herein. »Sir?« »Eh?« fragte Harry. »Harry?« »Kann ich Ihnen alles Weitere überlassen, Sir?« »Ja, gewiß.« Harry wandte sich zu Brigid. »Würden Sie uns bitte allein lassen?« Brigid und Maireadh standen auf und starrten mich an. »Bis später«, versprach ich. Widerstandslos verschwanden sie. »Verzeihen Sie, Miss…« Harry wandte sich zu Laetitia. »Laetitia Bailey«, stellte ich sie vor, »die Sozialarbeiterin. Harry Makins.« »Tut mir leid, Miss Bailey. Wir mußten jemanden verhaften. Unglücklicherweise ist es hier geschehen. Dieser Mann versuchte Miss Gower zu erpressen…« Hüte deine Zunge, Harry. »…mit Anspielungen über die Vergangenheit ihrer Schwester, von der Miss Gower nichts ahnte. Wir wußten, daß er hierherkommen würde.« »Aber er ist ein Polizist«, betonte Laetitia. »Ja«, bestätigte er. »So wie du«, sagte ich verblüfft. »Ja, schon ziemlich lange.« »Nicht mehr die Autobranche?« »Nur wenn’s nötig ist.« War das gut oder schlecht? Ich wußte es nicht. »Miss Bailey?« bat Harry. »Eigentlich Mrs.«, verbesserte sie ihn. »Ja, natürlich. Könnten wir uns vor der Verhandlung treffen, damit ich Ihnen erklären kann, wie Miss Gower in diese ganze Sache verwickelt ist? Es wäre bedauerlich, wenn man diese Geschichte gegen sie verwenden würde…« »Allerdings«, stimmte sie zu. Eigentlich hätte sie jetzt gehen sollen, aber sie tat es nicht. »Also werden wir noch einmal miteinander reden?« sagte Harry. »Selbstverständlich. Wenn Sie irgend etwas wissen, das für den Fall relevant ist…« »Natürlich.« »Nun?« »O Gott«, seufzte er, und ich freute mich, weil seine Autorität
nicht perfekt war, weil ihm in schwierigen Situationen immer noch die Worte fehlten. Aber diesen neuen Harry kannte ich noch nicht. Freundlich und aufmunternd schaute Laetitia ihn an. »Jim«, würgte er hervor. »Ja?« »Möchtest du Mrs. Bailey irgendwas erzählen? Jetzt, wo Nora nicht dabei ist?« Mit geröteten Augen sah Jim zu ihm auf. »Zum Beispiel?« »Irgendwas über Janie?« »Über Janie weiß ich schon alles«, erklärte Laetitia. »Und was wissen Sie?« fragte Harry. »Daß sie eine – Prostituierte war.« Er nickte. »Nun, auch Prostituierte bekommen Babys. Die meisten Fälle sind sehr kompliziert, und das Gesetz…« »Schlägt es irgendwas Offensichtliches vor?« fragte er, und sie starrte ihn verständnislos an. Tapfer hielt er ihrem Blick stand. »Wäre es nicht eine gute Idee, Jim einem Vaterschaftstest zu unterziehen?« schlug er vor. Auf diese Idee war sie nicht gekommen – und ich auch nicht. Wenn einem etwas als Tatsache präsentiert wird, gewöhnt man sich dran und stellt es nicht in Frage. Dafür hatte es auch keinen Grund gegeben. Jim hatte gesagt, das Baby sei von ihm, Janie hatte gesagt, das Baby sei von ihm, also gab es keinen Anlaß. Wie dumm intelligente Leute manchmal sein können… Nun begann Jim wieder zu weinen, und ich fiel fast in Ohnmacht. O Gott! O ja! »Aber – wer sollte…«, stammelte ich. »Natürlich werde ich das dem Gericht empfehlen«, versprach Laetitia. »Nicht nötig.« Jim hielt immer noch seine Teetasse fest, und wir alle schauten ihn an. Zufällig stand ich dicht neben Harry. »Nicht nötig«, wiederholte Jim. »Das habe ich nur behauptet, weil sie es wollte. Wir waren schon ewig lange nicht mehr zusammengewesen. Aber es paßte ihr nicht, daß das Baby von einem anderen war.« Verständlich, dachte ich. »Und?« fragte Laetitia. Ben, überlegte ich. Oder Eddie?
»Nun?« fragte Harry. »Was?« murmelte Jim. »Ziehst du dein Ansuchen um das Sorgerecht zurück?« Jim fing wieder zu schluchzen an. »Mrs. Guest erklärte mir, sie könne keine Kinder bekommen«, warf Laetitia ein. Oh, ich verstehe. Arme Nora, armer Jim. Trotzdem – dieses Baby werdet ihr nicht kriegen. Er murmelte wieder irgend etwas vor sich hin. »Laß mich nicht allein«, war alles, was ich verstand. Wie gern hätte ich mich beruhigt… Aber es gelang mir nicht. Laetitia meinte, es wäre wohl besser, wenn sie jetzt gehen würde. Dann ließ sie sich Harrys Visitenkarte geben. Sie versprach, mich anzurufen. Vermutlich würde man die Verhandlung absagen. Sie wollte uns informieren. Sobald sie verschwunden war, wankte ich zum Kühlschrank und nahm einen großen Schluck aus der Wodkaflasche. Das eiskalte Glas brannte an meinen Lippen. Als ich mich umdrehte, sah ich Jim zur Tür gehen und rief ihn zurück. »Ja?« Er wandte sich zu mir. »Vor wem rannte sie in jener Nacht davon? Sie sagte, vor dir.« »Nein, es war Eddie Bates. Ich dachte, sie wäre bei ihm, und deshalb suchte ich nicht nach ihr.« »Oh.« »Ich konnte nicht zurückkommen – und so ließ ich sie im Stich.« »Nun ja…« An mir lag es nicht, ihm zu verzeihen. Und er hatte mir auch nichts zu verzeihen. Er ging einfach, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Dann kam Lily herein, schob sich an ihm vorbei, und die beiden ignorierten einander. Sie wollte Schokoladenbiskuits holen, und ich preßte sie fester an mich als sonstwas in meinem Leben. Aber sie sagte, ich müsse sie loslassen, denn sie sei kein Teddybär. Ich gab ihr die Biskuits. »Angel?« Erst jetzt sprach Harry mich an. »Willst du es wissen?« »Eigentlich ist es mir scheißegal. Aber vielleicht wird sie sich eines Tages dafür interessieren.« »Sag nicht ›scheißegal‹«, mahnte Lily. »So redet man nicht. Wer wird sich für was interessieren?« »Du.« »Für was?«
Ich holte tief Atem. »Vielleicht möchtest du mal wissen, wer dein Daddy ist.« »Du bist mein Daddy. Nein, bist du nicht. Aber du bist ja auch nicht meine Mummy, also ist’s egal.« Sie rannte wieder auf den Balkon hinaus, und Harry schaute ihr nach. Dann sah er mich an und schüttelte sich ein bißchen. »Heute morgen wurde Bates geschnappt, auf einem Flughafen in Buckinghamshire. Mit verbundenem Kopf.« »Das war ich«, erklärte ich und brach in Gelächter aus. »Gut.« »Du warst da, nicht wahr?« »Was?« »Der Pontiac.« »Den hab ich letzte Nacht nicht gefahren. Eddie wollte ihn haben.« »Eddie?« »Ja. Warum?« »Das Auto stand vor dem Haus, und der Schlüssel steckte… Und da fuhr ich heim.« »Oh…« Er schwieg eine Weile. »Dachtest du, ich würde kommen und dich retten?« »Wußtest du nicht, daß ich da war?« »Nein. Es lag am Timing, denn wir konnten ihn erst festnehmen, wenn er zu fliehen versuchte. Und bevor wir ihn nicht hatten, konnten wir Ben nicht verhaften. Klar, ich hätte es dir sagen sollen. Aber ich wußte nicht, ob du – auf welcher Seite du standest.« »Das wußte ich auch nicht. Und – ich glaube, er hat Noor getötet. Oder vielleicht war es auch Ben.« »Noor Abdulrachman? Warum?« »Sie ist auf Janies Videos drauf.« »Hast du die gesehen?« »Sie liegen drüben bei Brigid.« »Gott segne dich, soeben hast du mir das Leben viel leichter gemacht. Wir dachten, sie hätten die Bänder vernichtet. Hast du dir die Filme angeschaut?« »Nur teilweise. Nicht mein Geschmack. Ben Cooper in Aktion ist nicht besonders…« »Mit wem?« Er war Polizist. Ein normaler Mensch hätte sicher »igitt« gesagt. »Mit Noor. Wahrscheinlich wußte er nicht, daß er gefilmt wur-
de.« »Großartig. Clevere alte Janie.« Dann sah er mich an. »Sozusagen.« »Ja, ich verstehe.« Nach einer kleinen Pause fügte ich hinzu: »Nun ist mir einiges klargeworden. Vorher wußte ich’s nicht.« »Tut mir leid.« Es tat ihm leid? »Nur leid?« »Sehr leid. Schrecklich leid. Können wir darüber reden? Nicht jetzt, aber…« Er will reden? Harry will reden? Sogar die Mächtigen fallen manchmal von ihrem hohen Roß. Er wartete. »Wirst du mir alles erzählen?« fragte ich. »Nicht, daß es eine Rolle spielen würde, nachdem es vorbei ist…« »Und du? Sagst du aus?« »Klar.« »Gehen wir essen? Oder soll ich uns was aus einem Restaurant holen, wegen Lily…« »Bald wird ein Bulle auftauchen und mich wegen des Einbruchs vernehmen. Eddie hat heute morgen meine Wohnung verwüstet.« »Okay, ich sag dem Kollegen, du müßtest in einem wichtigeren Fall aussagen.« Ich sah ihn an. Nun schloß sich der Kreis. »Es ist wahr, Angel.« »Ja.« »Alles.« »Ja?« »Heute morgen, bevor ich dich anrief, fand ich heraus, wie Cooper dich reingelegt hatte. Ich studierte seine Akten, und da lag ein Bericht über eine Anzeige gegen dich, wegen Trunkenheit am Steuer. Hätte ich früher davon erfahren, wäre er dir nicht so lange auf die Nerven gefallen. Wirklich, du bist eine verdammte Närrin. Aber vielleicht weißt du das selbst. Übrigens, ich hatte keine Ahnung, daß Eddie schon so lange scharf auf dich war.« »Ich mache dich nicht dafür verantwortlich.« »Wenn du es willst, machen beide den Test.« Und dann fuhr er fort: »Ich auch.« »Du…« Er.
»Mhm…« Seine Stimme gehorchte ihm kaum. Biest! Hatte es nichts in meinem Leben gegeben, was vor ihr sicher gewesen war? »Verdammt, Harry, wann?« »Als ich eines Abends betrunken heimkam, lag sie in meinem Bett. Ich weiß nicht, was sie da machte. Weil ich so sternhagelvoll war, hielt ich sie für dich, und ich dachte, du wärst nach all den Jahren zu mir zurückgekehrt.« Macht das die Sache besser? Nein. Doch. Vielleicht. »Wann?« fragte ich. »Der Zeitpunkt könnte hinhauen.« Ich ging zu ihm und legte meinen Kopf auf seine Schulter. »Okay. Reden wir drüber.« Ich ging auf den Balkon, sah die Kinder am anderen Ende herumtollen und im Licht der Abendsonne lachen. »Wußtest du, daß Lily nicht Jims Tochter ist?« »Wie sollte ich? Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln.« Zeinab winkte mir zu. »Laß die Geburtsurkunde ändern. Selbst wenn ›Vater unbekannt‹ drinstehen würde. Und – Angel…« »Ja?« »Ich würde sie gern sehen – regelmäßig.« »Warum?« »Und dich auch.« »Wie meinst du das?« Wortlos schaute er mich an. »Du willst nur deine Tochter haben.« »Ich will nicht nur deine Tochter haben.« Deine Tochter, hatte er gesagt. Stille. Ich erschauerte. »Heute abend kann ich nicht mehr reden, Harry. Ich hab letzte Nacht nicht geschlafen, und ich muß ins Bett.« »Oh, darf ich mitkommen?« Wie süß er ist… »Nein.« Die Kinder kamen auf mich zugerannt.