Höllenjäger Band 5 Enklave der Verdammten von Des Romero
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Prolog
Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Diese Fragen...
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Höllenjäger Band 5 Enklave der Verdammten von Des Romero
2
Prolog
Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Diese Fragen beschäftigen den Menschen vom Anbeginn der Zeiten. Vor Hunderttausenden von Jahren, als der erste Funken der Intelligenz den Primaten erreichte, bis hin zur Neuzeit, da sich der moderne Mensch als Krone der Schöpfung das Zepter zur Herrschaft über den Planeten eigenmächtig verlieh, hat sich die Motivation seines Tuns nicht grundlegend verändert. Die Suche nach dem Sinn des Lebens ist und war Grundstein seiner Handlungen. Einen Erfolg, indes, kann er nicht verzeichnen. Und so eifert er in seinem anscheinend aussichtslosen Streben falschen Idealen hinterher und tauscht die Suche nach der Sinnhaftigkeit seiner Existenz ein gegen die Erlangung profaner Macht und vergänglichen Besitztums. Aber jetzt, in unserer Gegenwart, wird sein Drang zur Erforschung des Unbekannten - des Nichtsicht- und greifbaren - vielleicht doch noch von Erfolg belohnt, besteht die Möglichkeit, eine Antwort zu finden auf die beiden ultimativen Fragen, deren Beantwortung er hinterher jagt vom Quell der Schöpfung an. Einige wenige haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Sein selbst zu hinterfragen, den nebulösen Schleier herunterzureißen, der unser Dasein zur scheinbaren Nichtigkeit degradiert. Mit Hilfe hoch entwickelter Computertechnologie begeben sie sich auf die Reise in eine Vergangenheit, in der der Homo sapiens nicht mehr ist, als eine verrückte Laune gelangweilter Götter; eine vage Vorstellung nur, deren greifbare Manifestation lediglich Spiel, nicht aber ernsthafte Bedingung ist. Es ist eine Reise, die zu den Ursprüngen führt, die weit über die Schaffung der Erde und des Sonnensystems, ja, selbst der Galaxie hinausgeht. Milliarden Jahre zurück durch 3
den Mahlstrom der Zeit, zurück zu einem Punkt, der einen neuen Anfang markiert - oder das Ende eines Untergangs? Vielleicht ist der Mensch tatsächlich augenblicklich im Begriff zu Ufern vorzustoßen, die er besser nicht betreten sollte... »Tracking-Beam online. Interpolation aktiv. Zielkoordinaten-Polarisationsprogramm initiiert und stabil.« »Wie lange noch?« Sekundenlanges Schweigen, das sich zur Ewigkeit dehnt. »Sagen Sie mir: wie lange noch?« Ungeduld. Beharrlichkeit. Angstvolle Erwartung. Die Stimme wirkt neutral, jedoch bestimmt. Ihre Nuancen sind vielfach interpretierbar. »Nicht mehr lange. Unsere Suche kommt zum Ende. Nach all den langen Jahren...« Nur ein flüchtiger Moment der Stille - diesmal. Dann die Antwort: »Machen Sie weiter...« * »Que-ce que c'est?« Der französische Zollbeamte setzte eine strenge Miene auf und zog die dunklen Augenbrauen zusammen. Das verlieh seinem Gesicht einen Ausdruck, der weder eine spaßige Erwiderung noch eine freche Bemerkung zuließ. »Eine eilige Lieferung für das Bistum.« Vor dem Franzosen stand ein Mann undefinierbaren Alters. Schlank, mit überdurchschnittlich dunkler Haut, langem, schwarzem Haar, das zu einem Zopf zusammengebunden war und strahlend hellen Augen, die flink die Umgebung musterten, ohne auffällig neugierig zu wirken. »Sie sind Engländer?«, fragte der Beamte am Frachtschalter in unverkennbarem, französischem Akzent. Seine Züge wurden kein bisschen freundlicher. »Ich komme aus England«, entgegnete der Mann freundlich. 4
»Sind Sie Priester?« Argwöhnisch musterte der Uniformierte sein Gegenüber. Der Angesprochene lachte. »Nein, oh nein. Ich bin nur ein... Bote.« Das letzte Wort betonte er eigenartig, senkte dabei den Kopf, während die Pupillen seiner Augen nach oben wanderten und den Zöllner aus einem beinahe unmöglichen Winkel in eigentümlicher Intensität musterten. »Sie wollen etwas ausliefern.« Der junge Franzose blickte auf den Lieferwagen. Im Hintergrund schaukelte die Fähre im leichten Wellengang am Pier 8. »Ich möchte mir die Ware ansehen, s'il vouz plait...« »Natürlich.« »Fahren Sie den Transporter vor auf die Markierung.« Die Fähre nach Calais hatte bereits vor einer halben Stunde angelegt. Während der Fahrt waren die Passagiere darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass die Satellitenkontrolle vom Port de Calais ausgefallen war, was bereits die Einfahrt verzögern würde. Zusätzlich gab es Störungen verschiedener elektronischer Systeme, die den verstärkten Einsatz von manuellen Kontrollen nötig machten, was natürlich ebenfalls wieder Zeit kostete. »Que-ce que c'est?«, wiederholte der Zollbeamte, als er die Plane des Lieferwagens hochgeschlagen und seinen Inhalt begutachtet hatte. »Wie ich schon sagte: Eine Lieferung für das Bistum.« Der Reisende von der Insel zeigte keinerlei Unruhe. »Ich will, dass Sie einen Karton für mich öffnen!« »Selbstverständlich...« Der Dunkelhäutige trat vor und wollte eine Box hervorziehen. »Non!«, bellte der Beamte. »Diesen Karton!« Herrisch deutete er eine Reihe tiefer. »Es wird sehr schwierig, ihn hier herauszuziehen«, konstatierte der Engländer.
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»Mais ce n'est pas impossible...«, kam es zurück. Der Franzose grinste breit, als hätte er den Schiffspassagier bereits der illegalen Einfuhr überführt. »Nein, sicher nicht...« Ein weiterer Beamter schlenderte heran. Er hatte den Transporter gewogen und zischte seinem Kollegen im Vorbeigehen mit schelmischem Grinsen zu: »Das wird teuer.« Gemeinsam zogen sie die schwere Pappkiste aus dem Stapel hervor. Gleichzeitig versuchte der Engländer zu verhindern, dass die aufeinander getürmten Kartons in sich zusammenfielen. Die verklebten Laschen wurden flugs aufgeschnitten und hochgeklappt. Zum Vorschein kam ein in der Morgendämmerung dunkel schimmernder Inhalt, der erst im Licht einer Taschenlampe halbwegs erkennbar wurde. Der als letztes hinzugekommene Zöllner griff in die Kiste und förderte ein bauchiges Gefäß zutage, das von fremdartigen, tiefroten Schriftzeichen gesäumt wurde. Er rechnete kurz durch, dass exakt vierundachtzig dieser Behältnisse in einen Karton passten. Sieben in der Länge, vier in der Breite und drei in der Höhe. »Was ist das?«, richtete er den Blick auf den Grenzgänger und formulierte damit zum dritten Mal die Frage, die sein Kollege ebenfalls schon gestellt hatte. »Es handelt sich um Symbole christlichen Glaubens. Sie sollen auf ökumenischen Andachten verteilt werden.« Die beiden Beamten sahen sich flüchtig an. »Und wo soll das sein? Wohin fahren Sie?« »Coulogne, Guînes, Longuenesse...« »Ich hoffe. Sie besitzen dafür entsprechende Frachtpapiere.« Der Mann, dessen Nationalität sich nicht ohne weiteres einordnen ließ, der vermutlich jedoch persischer Abstammung war, reichte sie ihm. Seine Augen strahlten leuchtend weiß, ebenso die Zähne, die sein zurückhaltendes, irgendwie auch hintergründiges Lächeln entblößte. 6
Misstrauisch musterte der Franzose die Akten, blätterte sie oberflächlich durch. Jede Menge Unterschriften und amtliche Stempel. Tag für Tag sah er sie zuhauf. Es gab für den jungen Zollbeamten keinen Grund, argwöhnisch zu sein. Wieso fühlte er trotzdem eine unerklärliche Beklemmung? Er wandte sich seinem Kollegen zu, der an der Ladefläche des Kleintransporters stand und das Innere mit seiner Taschenlampe einer weiteren Prüfung unterzog, als sollte ihm das Verdächtige, das er zu finden hoffte, direkt entgegen springen. »Ich denke, es ist alles in Ordnung.« Der andere nickte beiläufig. »Ganz schön viele Kisten«, murmelte er. »Ist wohl ein größeres Treffen...« Die Taschenlampe erlosch. »Sie können passieren. Die Gebühren entrichten Sie bitte an dem Übergang dort vorne.« Der Dunkelhäutige schloss die Heckklappen des Wagens, stieg ein und startete den Motor. Da klopfte es an die Seitenscheibe. »Un moment, monsieur!« Unmerklich angespannt kurbelte der Fahrer die Scheibe herunter. »Ihre Quittung. Legen Sie sie an der Kasse vor.« »Merci«, antwortete der Perser. Für einen winzigen Augenblick schien sich ein wabernder Schatten hinter seiner dunkelbraunen Gesichtshaut zu bewegen. Der Eindruck war indes so geringfügig, dass er durchaus einem Lidflackern entsprungen sein konnte. Die Gedanken des Schwarzhaarigen hingegen ließen keinerlei Zweifel aufkommen. Es war geschafft! Der Funke unermesslichen Grauens war von der Insel zum Festland übergesprungen! Von jetzt an nahm alles seinen unabänderlichen Lauf. Überall auf dem Globus würde die Erde durchtränkt werden vom Blut der Geschlachteten. Einzig zu dem Zweck, mit ihren unsterblichen 7
Seelen den Hunger unbeschreiblicher Götter zu stillen und die Machtsphäre der negativen Kräfte zu sichern und zu erweitern. Der unergründliche Blick des Persers streifte den Rückspiegel, der die beiden Zöllner zeigte, wie sie sich miteinander unterhielten, um sich bereits den nächsten Einreisenden zuzuwenden. »Hast du eigentlich mal in diese Gefäße geguckt?«, fragte der jüngere Beamte. »Ich meine: Weißt du, was der Typ da transportiert?« Sein Gegenüber legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter und klopfte sie mehrmals. »Da versammeln sich doch bloß ein paar Gläubige, JeanPierre. Was können die schon anrichten...?« * Trotz der Abgeschiedenheit des Ortes vom regen Straßenverkehr und den drängelnden Menschenmassen der City, war es zu keiner Zeit wirklich still. Es war eine andere Art von Geräuschkulisse, die hier in dem feuchten und kalten Gewölbe der Londoner Kanalisation die Sinne stimulierte. Das Tropfen und Plätschern von Wasser schien buchstäblich aus jeder Ecke zu kommen. Auf Dan Farnham wirkte es fast schon betäubend, so dass er es kaum mehr wahrnahm. Doch da waren noch andere Laute! Das Rauschen des Windes, das sich in den tunnelartigen Röhren fing und als gespenstisches Echo tausendfach zurückgeworfen wurde. Als durchdringendes Pfeifen. Als sattes Zischen. Oder als hohles Wimmern. Wie viel Zeit war vergangen seit ihrer Flucht? Eine Stunde? Zwei? Ein halber Tag? Der Versicherungsvertreter hatte jegliches Gefühl dafür verloren. Mitleidsvoll sah er seine schlafende Tochter Jessica 8
an. Er hatte sie mit seiner Jacke zugedeckt, doch war es offensichtlich, dass sie fror. Es konnte nicht lange dauern, bis die Kälte die Müdigkeit vertrieb. Seine Frau Sharon saß apathisch und leicht gekrümmt auf dem nassen Mauerstein, direkt neben Jessica. Sie drückte ihr jüngstes Kind Carol fest an sich. Der gegenseitige Austausch von Körperwärme gab ihnen verhältnismäßige Behaglichkeit. Doch Sharon spürte schon seit längerem das Kribbeln in Händen und Armen, als würde das Blut in ihren Adern anfangen zu gerinnen. Bald würde Taubheit ihre Glieder befallen... »Wie fühlen Sie sich, Mrs. Braxton?« Farnham wandte den Blick von seiner Gattin ab - sie war im Augenblick nicht ansprechbar und dämmerte wie im Halbschlaf dahin - und lenkte ihn auf die Frau zu seiner Rechten. Sie war Lehrerin an der Elementary School und laut ihrer dürftigen Berichterstattung hatte es an ihrer Schule einen ähnlichen Vorfall gegeben wie in der Kirche, die Dan Farnham mit seiner Familie wegen dieser Mitternachtsmesse besucht hatte. Überall waren wie aus dem Nichts diese eigentümlichen, bauchigen Gefäße aufgetaucht. Als er sie das erste Mal bei sich zu Hause gesehen hatte, hatte ihn auf Anhieb ein sonderbares Gefühl beschlichen. Nun aber wusste der Familienvater mit Bestimmtheit, dass sie etwas Furchtbares beinhalteten, das die Menschen nachhaltig beeinflusste und veränderte. Doch woher waren sie gekommen? Welchen Schaden würden sie anrichten? Vielleicht gab es mittlerweile schon gar keine normalen Menschen mehr in der Stadt! Ein entsetzlicher Gedanke! Sie alle würden nie mehr Heim können! Würden ständig auf der Flucht sein, bis sie an Hunger oder Kälte starben. Oder an Schlimmerem...! »Mir ist kalt«, gab die Lehrerin zurück und Farnham zuckte bei den Worten leicht erschrocken hoch, derart vertieft war er in seine Gedanken.
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»Wie soll es jetzt weitergehen? Haben Sie eine Idee?« Die Vierzigjährige zog die Fersen an den Po und umschlang die Knie mit den Armen. Ihre nackten Füße mussten fast erfroren sein. Ihre zerschlissene Kleidung bot nur noch einen mehr als notdürftig zu bezeichnenden Schutz gegen die schleichende Kälte. »Früher oder später müssen wir hier weg!« »Da haben Sie recht«, stimmte Farnham zu. »Wir sollten in Bewegung bleiben.« Er ließ sich von dem Mauervorsprung herunter gleiten. »Wir wollten nur eine kurze Rast machen. Uns von den Anstrengungen unserer Flucht erholen.« Jennifer Braxton schüttelte sich und stand ebenfalls auf. Sie ballte ihre Zehen immer wieder zu ›Fäusten‹, damit sie weiterhin durchblutet wurden. »Meinen Sie, Ihre Frau und die Kinder stehen das durch?« »Ich werde erst alleine vorgehen«, winkte Dan ab. »Die Örtlichkeiten erkunden, verstehen Sie? Erst wenn ich einen sicheren Weg gefunden habe, komme ich zurück, um sie zu holen.« »Und wie wollen Sie sich in diesem Labyrinth zurechtfinden?« Es lag kein Spott in der Frage. Die Frau rückte ihre schmutzverschmierte Brille gerade und breitete die Arme in einer Geste der Ernüchterung aus. Selbst in der nur schwach durch Gitter, Ritze und nicht auf Anhieb erkennbare Öffnungen erleuchteten Dunkelheit waren an die zehn Kanalisationsschächte auszumachen. Jeder konnte in die Freiheit oder aber auch in eine Falle führen. Gemeinsam hatten sie nur, dass man aus dem Gewirr der Verzweigungen nie mehr an den Ausgangspunkt zurückfinden würde. »Hier«, sagte Mrs. Braxton und holte aus einer Tasche ihrer Kostümjacke einige Kreidestücke hervor. »Damit können Sie Ihren Weg markieren.« Dan Farnham schüttelte verblüfft den Kopf. »Haben Sie so was immer dabei?« »Selbstverständlich.« Jennifer Braxton hatte ihre anfängliche Hysterie längst abgelegt und dachte wieder klar 10
und unbefangen. »Die lieben Kleinen in meiner Klasse haben herausgefunden, dass man mit Kreide nicht nur schreiben, sondern sie auch prima als Wurfgeschosse verwenden kann. Dementsprechend werden Sie kaum ein Stück im Unterrichtsraum finden, wenn Sie mal eins brauchen. Ergo...« Sie fächerte zwischen den Fingern einige etwa zentimeterdicke Stücke verschiedenfarbiger Malkreide auf. Anschließend ging sie in die Hocke und ließ sich von dem Vorsprung herunterhelfen. »Ich werde mich beeilen«, bedankte sich Farnham und steckte die Kreidestifte ein. »Wir werden uns beeilen«, korrigierte Braxton. »Wie bitte...?« »Ich komme natürlich mit. Wenn ich mich bewege, ist die Kälte weniger schmerzhaft. Außerdem sehen wir zusammen mehr als Sie alleine.« »Na schön.« Der Versicherungsmakler ging kurz zu seiner Frau herüber, flüsterte ihr zu, dass er nach einem Ausgang suchen und sie, Carol und Jessica anschließend holen wolle. »Mach dir keine Sorgen, Schatz.« Er strich zärtlich über ihre kalten Hände, die die achtjährige Carol wie fünfgliedrige Eiszapfen umklammerten. Sharons Augen schimmerten glasig, ihr Blick wirkte dieser Welt entrückt. Nur für die wenigen Momente, die die treu sorgende Mutter brauchte, um sich auszudrücken, schwand der Eindruck. »Komm bitte schnell wieder, Dan. Wir brauchen dich...« »Und ich brauche euch, Darling.« »Lass uns nicht an diesem Ort sterben, Honey...« Es war ein flehentliches Flüstern. »Daran darfst du niemals denken! Ich werde euch drei mit mir nehmen!« Liebevoll tasteten Farnhams Fingerkuppen über die Wange seiner Ehefrau, bis er sich abrupt zu der Lehrerin herumdrehte. »Wo fangen wir an?«
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Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Aus welchem Loch bin ich denn gekrochen?« Farnham zeigte es ihr. »Gut. Wir gehen ganz systematisch vor. Ich sehe keinen Grund, irgendeinen Tunnel einem anderen vorzuziehen. Also beginnen wir mit dem Stollen dort hinten.« In der Finsternis zeichnete sich der diffus glimmende Kranz einer rechteckigen Öffnung ab. Erst, als die beiden schon mehrere Meter durch knöcheltiefes, übel riechendes Abwasser in dem Tunnel zurückgelegt hatten, erwachte in ihnen der Eindruck, dass das bizarr durch verwinkelte Abluftschächte und Gesteinsspalten sich ausbreitende Heulen des Windes mehr und mehr Ähnlichkeit mit einem eindringlich warnenden Totenchor annahm! * Der kleine Laden mit der schmalen Vitrine wirkte, als wollte er sich vor dem Schein der Straßenlaternen verstecken, indem er sich weit hinter die Häuserreihe zu ducken versuchte. So lag der Eingang tatsächlich völlig im Dunkeln, da er sich gut drei Yards tief im Gebäude befand. Überaus vorsichtig trat Richard Jordan in diesen so entstandenen Korridor ein. Den Sohn des Archäologen Edward Jordan, der von einer unheimlichen, dämonischen Macht namens Amalnacron hingerichtet worden war, beschlich das marternde Gefühl einer in den Schatten lauernden Bedrohung. Die Wurzeln des Schreckens! Der 27jährige holte sich diese Charakterisierung des vor ihm liegenden Ortes seines geistigen Mentors Philip Ravenmoor zurück ins Gedächtnis. Ravenmoor existierte zur Zeit nur als entstofflichtes Wesen. Sein schwer verletzter Körper lag auf der Intensivstation des Mary Abbott's Hospitals in Kensington. Vorausgegangen war die überraschende Attacke einer bösartigen Geistinkarnation Edward Jordans in den Trümmern der zerstörten Siegelkammer. Richard selbst war mit knapper Not und 12
unverschämtem Glück dem Angriff entgangen, während es Höllenjäger Philip Ravenmoor beinahe das Leben gekostet hatte. Körper und Geist regenerierten sich inzwischen allerdings permanent. Na los, klopf an, meldete sich Ravenmoor auf mentalem Wege bei seinem Schützling. Richard legte die letzten beiden Schritte mit angehaltenem Atem zurück. Als seine Fingerknöchel zaghaft gegen das dunkel gebeizte Holz pochten, schwang die Tür knarrend einige Zentimeter nach innen. Der Student schluckte, war gebannt. Sein Herzschlag beschleunigte sich. »Philip...?«, fragte er fast unhörbar. Die Stimme des Freundes blieb stumm. Irgendwie jedoch spürte Richard, dass es nicht nur die bloße Abwesenheit von Geräuschen war, die wie ein gezielter Luftstoß die Flammen der Furcht entfachte. Es waren die Empfindungen seines Mentors, die sich erschreckend real auf ihn übertrugen! Beinahe gleichzeitig - wie als böswillige Bestätigung von Jordans tiefgründigen Ängsten - trat Philip Ravenmoor wieder in sein Bewusstsein. Geh zurück! Kehr um! Die Betonung der Worte ließ Richard schaudern. Geh nicht hinein! Bitte fleh... ich habe
mich geirrt...!
Es klang kleinlaut. Doch der Intensität des gesprochenen Inhalts tat es keinen Abbruch. Allerdings schien die geistige Verbindung zu bröckeln. Sender und Empfänger verloren die gemeinsame Frequenz. Der junge Jordan stupste versehentlich mit der Fußspitze gegen die Tür und stieß sie ein gutes Stück weiter auf. Der Kontakt zu Ravenmoor verschlechterte sich rapide, vergleichbar mit atmosphärischen Störungen beim Empfang eines Radiosenders. Das Phänomen war Richard nicht unbekannt, doch in der augenblicklichen Situation wollte er keinesfalls auf seinen wertvollen Helfer verzichten. Dann war die Verbindung zerstört! 13
Der Höllenjäger in spe war auf sich allein gestellt! Wenn er zurück zum Wagen ging, brachte er zwar sich selbst in Sicherheit, würde aber sein eigentliches Ziel aus den Augen verlieren. Neunzehn Uhr zwanzig! Die Anzeige der Armbanduhr brannte sich in die Netzhaut des Mannes. »So wenig Zeit - und so viel zu tun!« Er schloss die Augen, konzentrierte sich. Die Furcht vor dem Unbekannten durfte nicht die Herrschaft über Geist und Körper gewinnen. »Ich respektiere dich, Philip«, sprach Richard laut und deutlich. »Doch jetzt ist meine Entscheidung gefragt...« Jordans Stimme war gefestigt. Er schirmte sich ab gegen äußere Einflüsse, ließ es nicht zu, dass ein unfassbarer Schrecken die Bastion seiner Tapferkeit zum Einsturz brachte. Er tat einen Schritt vorwärts. Die Tür schwang zur Seite, offenbarte schonungslos die bis dahin verborgene Schwärze der angrenzenden Räumlichkeiten. Keine Ausflüchte mehr!, puschte sich der Student hoch. Das Adrenalin durchfloss seine Venen wie eine Droge.
Ich habe keine Angst mehr! Mehr als sterben kann ich nicht! In diesem fatalen Irrglauben Archäologen ein in die Finsternis!
trat
der
Sohn
des
*
Impressionen IV
Mit demselben Enthusiasmus, mit dem es vor noch gar nicht allzu langer Zeit sein Gefängnis verlassen hat - immer auf der Spur des Fremden, den es in seinen Gedanken mitunter als Freund bezeichnet, ohne den Inhalt der komplexen Begrifflichkeit in vollem Umfang zu verstehen -, widmet es sich seiner Mission.
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Es blickt durch die Augen eines Kindes, wird eins mit seinen Rezeptoren, durchdringt das Gewebe und steuert sein Bewusstsein. Der Fremde ist stets in der Nähe, überlässt ihm jedoch größtenteils die Kontrolle über den jungen Körper. Es fühlt die neue Bedeutung seiner Existenz. Es ist in der Lage, Dinge durch sein eigenes Handeln zu verändern. Es ist vom Diener zum Herrscher emporgestiegen. Anstatt sie zu empfangen, erteilt es Befehle. Und das Kind ist leicht zu dirigieren. Es birgt nicht jene starken Widerstandskräfte, wie sie der alte Mann gehabt hat. Es liest im Geist des Jungen den Gedanken an die Heimkehr zu seinem Vater... und zu einer Frau. Es lockert die Zügel seiner Beeinflussung, bis sein achtjähriger Wirt kurz vor dem Ziel von einer unbekannten Person angesprochen wird. Eine Frau. Aber nicht die Frau aus den Gedanken des Kindes. Nein. Eine Lehrerin. Sie spricht den Wirt an. Nennt seinen Namen. Dennis, denkt es. Ich heiße jetzt Dennis. Es wird ganz kribbelig. Der Name hat für ihn keine besondere Bedeutung. Doch er besitzt einen angenehmen Klang. Besser immerhin als McIntire. So hat der Hagere den alten Mann stets genannt, in dem es vorher gewesen ist. Es unterdrückt den Wunsch, die Sporen seines Freundes in der Lehrerin auszusäen. Es ist viel zu neugierig zu erfahren, wer in dem Haus lebt, das das Kind eigenständig aufgesucht hat. Es findet es heraus. Bereits wenige Minuten später. Und es ist wütend über den physischen Schmerz, den der dicke Mann ihm zufügt. Es muss jene Person sein, die Dennis als Vater bezeichnet hat. Noch wütender ist es aber darüber, dass das Kind - und damit zwangsläufig auch es selbst! - sich nicht wehren kann. Der Kraft des anderen kann es nichts entgegensetzen. Verbissen konzentriert es sich darauf, das Gefäß in Dennis' Händen - seinen Händen - nicht loszulassen. 15
Bis es den Augenblick für gekommen hält, den Deckel zu lüften und die Ableger des Fremden - seines Freundes und Befreiers - zu offenbaren. Nicht alle. Nur einen Teil. Das Schreien und die Schläge enden. Plötzlich sind alle so wie es selbst. Und wie der Fremde, der nun in ihnen brütet. Stolz erfüllt es und es versucht, diesen Eindruck auf die Gesichtszüge seines Wirtskörpers zu übertragen. Ich werde üben müssen, gesteht es sich beim Blick in einen Spiegel ein. Dabei lässt es einen ironischen Unterton anklingen, bereitet zum ersten Mal aus einem Reflexverhalten menschliche Wesenszüge auf. Sein Freund, der Fremde, unterbricht die emotionalen Ausschweifungen ungewohnt rüde und ruft in ihm die eigentlichen Missionsparameter wach. Es ist erschrocken aufgrund der Zurechtweisung. Es hat doch das Vertrauen des Fremden nicht enttäuschen wollen. Es ist doch nur so glücklich gewesen... für einige wenige Sekunden. Hat es denn nicht etwas Glück verdient? Nach der langen Zeit des Dahinsiechens...? Nur für ein paar Momente...? Kann sein... Freund? das denn nicht verstehen...?! Beruhigende Impulse bedrängen es, kämpfen seine aufgewühlten Empfindungen nieder und sensibilisieren es erneut für die eigentliche Aufgabe.
Ja, nur du verstehst mich.
Wie bei ihrer ersten Begegnung spürt es die Geborgenheit. Mit den Sinnen von Dennis erfasst es seine Umgebung, beobachtet schweigend seinen Vater und die zierliche Frau an dessen Seite. In beiden Augenpaaren lodert der brennende Hass seines Freundes auf alles was lebt und Göttern dient, die nicht die seinen sind.
Der Hass ist gut!
Zumindest hat es das einmal geglaubt. Woher kommen plötzlich die Zweifel? Gibt es noch etwas anderes als den Hass? 16
Es beschließt, dieser wichtigen Frage nachzugehen... ... wenn es seinen Auftrag erfüllt hat! Da sind diese Namen: Philip Ravenmoor und Richard Jordan. Es kann sie nicht zuordnen, doch sein Freund weiß genau, dass es sich um schlimme Feinde der neuen Weltordnung handelt. Sie müssen um jeden Preis beseitigt werden!, stimmen seine Gedanken den Einflüsterungen des - fremden...? Freundes zu. Fast gleichzeitig spürt es die Müdigkeit, die seinen jungen Wirt befallen hat. Und obwohl es seinen Ehrgeiz und seinen Tatendurst kaum unter Kontrolle halten kann, beschließt es, dem Kind eine Ruhepause zu gewähren. * Die Umgebung einfach nur unheimlich zu nennen, wurde ihr in keinster Weise gerecht. Jennifer Braxton hatte die Panik regelrecht im Nacken sitzen. Sie fühlte sich beobachtet. Jeden Moment erwartete sie, dass sich eine kalte Hand auf ihre Schulter legte. »Sind Sie noch da, Mister Farnham?« In ihrer Magengrube spürte die Lehrerin ein sonderbares Kribbeln, das ihr gesamtes Inneres vereinnahmen wollte. Ein stechendes Gefühl unkontrollierbarer Furcht. »Direkt hinter Ihnen«, vernahm sie die beruhigende Stimme ihres Begleiters. »Ist ganz schön düster in der Röhre. Das wenige Licht aus den Verbindungsschächten verliert sich fast völlig.« »Ich habe ein Feuerzeug!« Mrs. Braxtons Ausruf hatte etwas Erstauntes. Dass sie nicht direkt daran gedacht hatte! »Sie rauchen?«, erkundigte sich Farnham. »Nein, das ist es nicht...« »Rauchen die Kinder in Ihrer Klasse?« Die Pädagogin lachte amüsiert auf. »Auch das nicht, Mister Farnham...« 17
»Dan.« »Also gut... Dan.« Sie legte eine besondere Betonung auf den Namen. »Ich heiße Jennifer.« Sie lachte erneut. Diesmal irritiert und unsicher. »Es ist ein, hm, guter Bekannter. Ein Sportlehrer. Er raucht. Deshalb habe ich mir ein Feuerzeug zugelegt. Nur für den Fall der Fälle.« »Sie mögen ihn...?« Es war halb Frage, halb Feststellung. Und der Versicherungsvertreter wollte es lediglich wissen, um das Eis zu brechen und die schwarzen Gedanken zu vertreiben. »Ja, Dan. Vielleicht mag ich ihn...« »Es ist schön, jemanden gerne zu haben und zu spüren, dass diese Gefühle erwidert werden.« »Das ist es...« Jennifer Braxton vergaß für wenige Momente, wo sie sich befand. Sie schloss die Augen und ließ die positiven Eindrücke auf sich wirken, die Dan Farnham in ihr erweckt hatte. Vor ihrem geistigen Auge erschien das Gesicht von David Burnett, der ganz offen um sie warb. Sie war schon länger versucht, sich ihm einfach hinzugeben, ohne an die Konsequenzen zu denken. Möglicherweise wollte Burnett sie einfach nur ins Bett kriegen. Jennifer war es egal! Sie war jetzt knapp über vierzig und es war bereits zu lange her, dass sie guten, intensiven Sex mit einem Mann gehabt hatte. Die weit zurückliegende Enttäuschung steckte ihr noch in den Knochen. Mittlerweile aber fand sie, dass es an der Zeit war, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Irgendwie schien gerade jetzt der richtige Zeitpunkt, alle Hemmnisse und Vorurteile abzustreifen. »David...«, hauchte sie abwesend den Namen des Auserwählten. »Vorsicht!« Der Schrei ließ ihre melancholischen Tagträume ins Leere schnellen. Eisige Kälte verdrängte die wärmenden Gedanken. Ihr begehrliches Empfinden wich der grauen Realität. Die frostige, feuchte Luft tat ein übriges, das aufkeimende Gefühl 18
wohliger Wärme in ihrem unterkühlten Körper zu ersticken. Es war nur ein paar Grad über null. »Müssen Sie mich so erschrecken?!« »So bleiben Sie doch stehen!«, überschlug sich Farnhams Stimme. Rabiat packte er die Frau an den Oberarmen und zerrte sie zurück. Ihr noch leicht verschleierter Blick suchte im allgegenwärtigen Dunkel einen Fixpunkt, an dem er sich festsaugen konnte. »Was ist los?« »Geben Sie mir Ihr Feuerzeug!« Die Lehrerin griff in die Innentasche ihrer Jacke. Die Finger tasteten hektisch über Zettel und Kleinstgegenstände. »Ich brauche es - schnell!«, keuchte der Familienvater und zerrte die barfüßige Frau einen weiteren Meter mit sich nach hinten. »Da!« Farnham entriss ihr ohne Kommentar das Feuerzeug. Er legte ihr den rechten Arm um Hals und Schultern, wie um sie zu beschützen, schnippte mit dem Daumen der Linken die metallene Abdeckung des Feuerzeugs zurück und das Zahnrad vor. Der Feuerstein warf Funken und entzündete den benzingetränkten Docht. Die Helligkeit schmerzte in den Augen. Farbige Punkte tanzten auf der Netzhaut. »Dan!«, keuchte Jennifer. »Was, in drei Teufels Namen, ist das?!« »Ich kann es dir nicht sagen«, erwiderte Farnham, dem selbst die Blässe ins Gesicht stieg. »Ich habe in der Dunkelheit nur ein paar ungewöhnliche Reflexe entdeckt und wollte dich warnen.« Unwillkürlich verkrampften seine Finger sich am Körper der Frau. »Das... das... so etwas habe ich nicht erwartet...!« Da pulsierte etwas in der kalten Finsternis. Es hatte sich über den nassen Stein gestülpt und zeigte sich im begrenzten Schein des Feuerzeugs als dunkelrote Masse, die von weißen 19
Schlieren durchzogen war und sich im Deckenbereich der Kanalisationsröhren bis weit außerhalb des Gesichtskreises der beiden Menschen ausdehnte. »Ich weiß nicht, ob ich noch weitergehen möchte...«, stotterte Mrs. Braxton und konnte ihre Augen nicht von dem schrecklichen Anblick lösen.
Es ist wie lebendes, atmendes Fleisch, das von Fett und Sehnen durchzogen wird!, dachte sie schaudernd.
»Mir gefällt es auch nicht«, bestätigte Farnham, um aber gleich darauf einzuschränken: »Trotzdem müssen wir weiter! Ganz gleich, was sich uns in den Weg stellt!« Er blies die Flamme aus, drehte die leicht zitternde Frau zu sich herum und verstärkte seinen Griff um ihre Arme. Die spröde Dunkelheit ließ es zu, dass er direkt in ihre weit aufgerissenen Augen starrte. »Es gibt kein Zurück!«, stieß Dan Farnham hervor und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, wie ernst ihm die Angelegenheit war. »Dieser Gang ist so gut wie der nächste oder übernächste.« Er schien ganz genau zu wissen, welche Gedanken sich hinter der Stirn der erstarrten Frau abspielten. »Überall lauert die Gefahr. Und ich will nur meine Familie unbeschadet in die Freiheit führen.« Es gluckste eigentümlich über und links und rechts neben ihnen. »Ich gehe vor«, bestimmte der Familienvater und schob sich an der Lehrerin vorbei. »Das Feuerzeug stecke ich ein. Es ist gerade hell genug, dass wir ohne Probleme weitergehen können.« Einige Augenblicke lang blieb er reglos stehen. »Wenn du möchtest, kannst du noch umkehren. Ich tue das alles für meine Frau und meine Kinder...« Farnham musste schlucken. Er spürte den Stich unterhalb seines Kehlkopfs, registrierte die daraus resultierende Atemnot und die heißen Tränen, die ihm in die Augen schossen. »Ich bleibe an deiner Seite, Dan!«
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Ihre Stimme klang gefestigt, obwohl die vorherrschende Kälte sie frösteln ließ. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, hätte sie sich in diesen Mann verlieben können. Auch, wenn er verheiratet war. Jennifer Braxton glaubte, diesen Mann besser zu kennen, als sie David Burnett jemals kennen lernen würde. Und das nur aufgrund der widrigen Umstände, die sie auf unverständliche Weise eng miteinander verschweißten. Irgendwo zerplatzten Blasen und gaben eine Flüssigkeit frei, die in das verschmutzte Wasser spritzte oder an den Außenwänden des Tunnels entlang hineintropfte. Angewidert stellte sich Mrs. Braxton auf die Zehenspitzen und ließ sich von dem Versicherungsvertreter ziehen, dessen Schulter sie mit der rechten Hand umklammert hielt und so schnell auch nicht mehr loslassen würde. Um die Vierzigjährige herum blubberte, gluckste und schmatzte es. Sie war froh, dass die annähernde Schwärze der Nacht ihr die eklige Realität mit all ihren widerwärtigen Details vorenthielt. Andererseits war es höchst beunruhigend sich vorzustellen, was um sie herum geschah, aber weitestgehend unsichtbar blieb. Jennifer Braxton hörte das Entsetzliche lediglich. Und der Schauer, der ihren Rücken hinab rann, brachte eine Kälte mit sich, die bedeutend tief greifender war, als die sowieso schon beißende Unterkühlung ihres Körpers. »Ich fühle meine Füße nicht mehr, Dan...« Viel zu viele nicht enden wollende Augenblicke unangenehmen Schweigens reihten sich wie Soldaten einer Militärparade hintereinander auf. Zeit genug, die Kälte in den Knochen weiter hoch kriechen zu lassen. »Reiß dich zusammen!« Das Echo der Zurechtweisung hallte gleich dem Donnerschlag zum Höhepunkt eines Gewitters in alle Richtungen davon. Merklich ruhiger versuchte er seinen Ausbruch zu mildern. »Es ist bald geschafft.« Etwas platschte auf Jennifers Schulter.
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»Igitt!«, schrillte ihre Stimme. Sie tastete mit den Fingern der linken Hand danach und spürte eine klebrige Feuchtigkeit an den Kuppen. Angewidert zog sie die Hand zurück, fischte ein Papiertuch aus der Innentasche ihres Blousons und wischte den Schleim notdürftig ab. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln marschierten sie den Gang entlang. Jeder konzentrierte sich ganz auf die Kälte unter der Haut. Und schließlich besann Jennifer Braxton sich wieder auf einen Gedanken, von dem sie zuvor abgelenkt worden war. »Woher willst du eigentlich wissen, dass wir es bald geschafft haben?«, nahm sie Farnhams Äußerung auf und es war weniger Neugier, sondern die Hoffnung auf eine Bestätigung, die ein rasches Ende ihrer Strapazen ankündigte. Bedrückende Stille. Das Knirschen malmender Zähne. »Du lässt dich nicht verwirren«, konstatierte Dan Farnham und es war kaum erkennbar, dass sich nicht Unsicherheit zwischen seinen Worten versteckte, sondern eine unwiderrufliche Endgültigkeit. Er blieb stehen. »Was - ist - los - ...?«, stotterte die barfüßige Frau. Ihre Zähne klapperten hörbar, bis sie die Kiefer fest zusammenpresste. Es war ruhig. Noch ruhiger als vorher, als ihre Füße noch das Wasser aufgewühlt hatten. »Oh Gott!«, stieß die Lehrerin hervor. Jetzt war es Hitze, ein gefräßiger Steppenbrand, der durch ihr Inneres tobte. »Wir sind zweimal abgebogen! Und haben es nicht markiert!« Sie presste die Handflächen gegen die Schläfen und starrte in die dunkle Brühe, in der sie stand. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Wir müssen zurück! Bevor wir uns völlig verirren!« Kurze, hektische Sätze sprudelten über die Lippen der Pädagogin. »Gib mir die Kreide, Dan!« »Ich habe sie nicht mehr«, gab er gelassen zurück.
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»Was soll das heißen?! Hast du sie etwa verloren...?!« In Mrs. Braxtons Stimme schwang mehr Fassungslosigkeit mit, als ihr Gesicht jemals hätte ausdrücken können. »Nein. Ich habe die Kreidestücke beim Gehen ins Wasser fallen lassen. Du hast es nicht bemerkt.« Farnham sprach mit der Ruhe und Geduld eines Apothekers, der den Beipackzettel eines Medikamentes erklärte. »Ja, bist du denn von Sinnen? Warum hast du das getan?!« »Weil wir sie nicht mehr brauchen.« Er drehte sich um. Undeutlich nahm die Lehrerin den matt schimmernden Schleim auf seiner rechten Gesichtshälfte wahr, wich entsetzt einen Schritt zurück. »Was ist mit dir geschehen, Dan? Was... was hat dieses Zeug! - da mit dir gemacht...?« Farnham legte den Zeigefinger an die Lippen. »Pssst!«, zischte er ihr zu. Sein linkes, freies Auge glotzte sie an wie eine weiße Billardkugel, auf die man einen dicken, dunklen Punkt gemalt hatte. »Wenn du ganz leise bist, kannst du sie hören.« Der Herzmuskel verkrampfte sich in ihrer Brust. Nun wurde wieder die Kälte übermächtig. Zu ihr gesellte sich ein anfangs träge kriechendes Angstgefühl, das sich jedoch rasend schnell ausweitete, den Verästelungen von Adern und winzigsten Äderchen folgte und damit jeden Punkt des Körpers erreichte. »Wen... wen kann ich hören...?« Jennifer bibberte. Sie ahnte, was gleich geschehen würde. Trotzdem stieß sie jeden konkreten Gedanken daran von sich. Da schlurfte etwas durch das Wasser heran - auf sie beide zu! Etwas Großes! Nein, wischte die Lehrerin ihre erste Wahrnehmung beiseite. Es sind mehrere... viele - Menschen! Das spärliche Licht ließ eine Tunnelgabelung nicht weit voraus erkennen. Aus den Öffnungen quollen schwarze 23
Schemen, vereinigten sich mit dem Strom torkelnder Leiber im Hauptgang. Sie haben uns gefunden!, explodierte die Erkenntnis in ihrem Schädel. Alle Mühe war umsonst! Wieder tropfte ein wenig von der zähflüssigen Masse auf ihre Schulter, dann auf ihren Kopf. Es wurde mehr und mehr. So viel, dass sie es mit der bloßen Hand ergriff und von sich herunterriss. Ein zweckloses Unterfangen. Der Schleim drang in Mund, Nase und Ohren. Und mit ihm kam etwas, das Furcht und Kälte weichen ließ. Irgendwann wehrte sich die Frau nicht mehr... Aus dem Halbdunkel reckte sich ihr Dan Farnhams entstelltes Gesicht entgegen. Das weit aufgerissene Glotzauge musterte sie eingehend. »Du bist hier unter Freunden.« Die bedrohlich wogende Menge aus Besessenen hatte sie eingekesselt. »F-R-E-U-N-D-E!«, entwichen die Silben als grausige Töne unzähligen Kehlen. Geisterhafte Echos! Blanker Terror! Kollaps des Verstandes! Jennifer Braxton aber lächelte nur hintergründig. Endlich zu Hause, wehte es erleichtert durch ein Bewusstsein, das nicht mehr ihr alleine gehörte! *
Was ist das für ein Geruch?
Richard Jordan rümpfte die Nase und zog die Brauen zusammen. Auf Anhieb konnte er ihn nicht zuordnen. In seinem Gedächtnis wurden sämtliche Schubladen aufgerissen, um das eigenwillige Aroma zu identifizieren.
Verdammt! Gibt es denn hier kein Licht?!
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Der Sohn des Archäologen hieb auf einen verwaschenen Fleck an der Wand, den er als Lichtschalter einstufte. Und tatsächlich wurde es hell. Na also!, gab er sich innerlich gelassen. Warum nicht
gleich so...
Dieser Geruch... Eine entfernte Erinnerung überlagerte seine Wahrnehmung. War es seine eigene oder glaubte er sie aus Beschreibungen eines Buchs oder Films zu kennen? ... das war BLUT! Alarmiert sah der Siebenundzwanzigjährige sich um. Das eigene Blut pochte in seinen Schläfen. Nichts zu sehen, redete er sich zu und stieß die verbrauchte Luft aus, die er mehr als lange angehalten hatte. Alles machte einen durchaus gewöhnlichen Eindruck, auch wenn das Inventar des kleinen Antiquitätengeschäfts in derartige Kategorien nicht einzureihen war. Richard ließ seinen wachsamen Blick über exotische Skulpturen, ausgefallenen Schmuck und andere Dinge gleiten, für die er keine passende Beschreibung fand. Ein Sammelsurium erlesener Raritäten und ausgesuchter Kuriositäten füllte seinen Gesichtskreis. Unter normalen Umständen hätte er an einem solchen Ort die Zeit vergessen können... »Philip?«, zischte Richard halblaut, in der Hoffnung, dass sich der jenseitige Äther wieder beruhigt hatte und er Kontakt zu seinem Freund und Mentor herstellen konnte. Nichts. Kein Lebenszeichen von Philip Ravenmoor. Andererseits auch keine Andeutung von Gefahr, wie sie die letzten verständlichen Worte des Höllenjägers heraufbeschworen hatten. Richard verzog die Mundwinkel zu einem leicht verunglückten Grinsen: Alles im grünen Bereich, Philip. Kein
Grund zur Panik.
Einer inneren Eingebung folgend verschloss der Student den Eingang und näherte sich beherzt der Hintertür. 25
Fehlt nur noch, dass mir um diese Zeit noch ein paar Kunstliebhaber die Bude einrennen, begründete er seine Ent-
scheidung. Bei seiner weiteren Erkundung wollte er ungestört bleiben. Wenn überhaupt, dann mochte sich in den angrenzenden Räumen Verdächtiges finden. Richard betätigte den Schalter neben der Tür und ließ das Licht im Verkaufsraum verlöschen. Der Schein einer Laterne - zu der nun vorherrschenden Dunkelheit im Innern des Ladenlokals stark kontrastierend fiel in das weit zur Straße vor gelagerte Schaufenster und hüllte einige obskure Objekte in geheimnisvollen Schimmer. Noch im selben Moment krümmte er sich unter einem lang gezogenen, rauen Schmerzenslaut. Der Vorgang war vergleichbar mit dem Einschlag eines Blitzes in einen Funkwellenempfänger, dem durch die Überlastung die Relais durchbrannten. Nur war es kein Blitzschlag, sondern eine Stimme, die den Pegelzeiger eines imaginären Messsensors im Bruchteil eines Augenzwinkerns von null bis weit über den roten Grenzbereich hinaustrieb. G-e-h... Drei Buchstaben! Das Donnern eines einzigen Wortes! ... s-o-f-o-r-t... Was war das?! Wessen Stimme...? ... h-i-e-r... PHILIP! - War das - Philip...?! ... r-a-u-s...! Richards Hand hatte die Klinke bereits heruntergedrückt. Die Tür am gegenüberliegenden Ende des Verkaufsraums schwang nach innen auf. Dieser Blutgeruch... Allgegenwärtig... Obwohl seine Nase sich daran gewöhnt haben musste, spürte der junge Mann einen stechenden Brechreiz. Wie in Trance stürzte er vor. Hinter ihm schlug die Tür ins Schloss. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Der kühle Hauch unfassbaren Grauens ließ seine warme Haut vibrieren. 26
Es war dunkel.
Ich habe keine Angst vor der Dunkelheit!, sagte er sich nachdrücklich. Die Lüge war offensichtlich. Es gab kein Licht in der Dunkelheit. Ohne Licht gab es kein Leben... Kein Überleben! Nur das Sterben... Der junge Jordan riss sich los, wollte die schweren Gedanken mit haltlosen Ruderbewegungen seiner Arme verscheuchen. Rasch jedoch erkannte er die Unsinnigkeit seines Tuns. Die unruhigen Gedanken blieben als unterschwelliges Hintergrundrauschen seines Verstandes. Es verstärkte sich um so mehr, je häufiger seine fünf Sinne auf die Reize der Umgebung ansprachen. Er... ... fühlte die Angst. ... hörte die Schreie. ... roch das Blut. ... sah die Toten. ... schmeckte die Verwesung. Alles das in wechselnder Reihenfolge und unterschiedlicher Intensität. Ich werde sterben!, nahm ein letzter Gedanke in Richards Bewusstsein endgültige Form an. N-E-E-E-E-I-I-I-N!!! Wieder war es wie ein Blitzschlag, der die ausgebrannten Transistoren seiner Körperhülle zur Höchstleistung aufpeitschte. R-a-u-s m-i-t d-i-r!!! Ja, das wird das beste sein. Ich habe hier nichts verloren.
Eine Hand schnellte in einer Reflexbewegung zum Türknauf, drehte ihn. Er ließ sich nach rechts und wieder zurück bewegen. Die Tür jedoch ließ sich nicht mehr öffnen.
Ich bin gefangen...
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Es erfolgte weder eine Erwiderung, noch eine Bestätigung. Richard Jordan spürte das Knistern in seinem Nacken, mit dem sich die Eishand mühsam kontrollierter Panik weiter seinen Rücken hinabtastete. »Und ich lebe noch«, keuchte er angestrengt, aber auch erleichtert. Das Angstgefühl schwand. Die Schreie verebbten. Der Blutgeruch zerfaserte. Die Toten verblassten. Der Verwesungsgeschmack zerfloss.
Bleibt einzig die Flucht nach vorn!
Richards Augen entrissen der Finsternis trübe Konturen. Er tastete nach etwas, das eine Kerze sein mochte. Gleich daneben erfühlte er eine auffällig große Schachtel. Das typische Geräusch beim Schütteln bestätigte ihm, dass sie Streichhölzer enthielt. Er entzündete die Kerze, danach einige weitere und an den Wänden aufgehängte Öllampen. Ihm offenbarte sich ein Szenario unfassbaren Grauens! * Ohne es beeinflussen zu können, sprang Richard Jordan die Furcht an wie eine reißende Wildkatze. Wo, um alles in der Welt, war er gelandet? Auf was hatte er sich eingelassen? Minutenlang verharrte er reglos und ließ die neuen Eindrücke auf sich wirken, versuchte das Gesehene zu verarbeiten und kam zu dem Schluss, dass seine Sinne nur nach und nach der Flut der Wahrnehmungen Herr werden konnten. War es ein Fluch, dass das orangerote Licht ihm offenbarte, was Ohren, Nase, Mund und die sich zusammenziehende Haut lediglich als unvollständiges Mosaik an das Gehirn weiterleiteten? Oder war es ein Segen, dass die Augen die verstreuten Teile dieses grausigen Puzzles sinnvoll vereinten? Richard rang nach Luft wie ein Ertrinkender, über dem das Wasser zusammenschlug. 28
Als erstes sah er die Menschen, die auf blockartigen, tischhohen Quadern schreckliche Bewegungen ausführten... Menschen...? Nein. Verstümmelte, sezierte Kreaturen, denen ein sadistischer Gott versagt hatte, zu sterben! Lebewesen mit menschlichen Formen, größtenteils ihrer Gliedmaßen und Organe beraubt, deren Ächzen, Stöhnen und Schreien nach einem schnellen, gnädigen Tod verlangten. Doch der war ihnen versagt. Ewiges Dahinsiechen. Ewiger Schmerz. Richard würgte und wandte den Blick ab zu diesen Regalen, in denen sich noch viel, viel mehr der Behältnisse undefinierbaren Inhaltes befanden, als im eigentlichen Verkaufslokal. Die Reihen der tiefschwarzen Gefäße mit dem dunkelroten Band unheiliger Schrift verliefen sich außerhalb des Scheins der Öllampen. Es mussten Tausende sein! Das Entsetzlichste aber waren die Wände des Lagerraumes. Nicht, wie erwartet, aus Stahl oder Holz oder Beton gefertigt, sondern aus pulsierendem, lebendem Gewebe. Es schien zu atmen und heftiger zu pochen durch die Anwesenheit des Eindringlings. Zäher Schleim lief über gelbweißes Fett und feucht schimmerndes Fleisch. Ein widernatürlicher Organismus, der, verzehrenden Krebszellen gleich, in den Eingeweiden des Hauses wucherte.
Wie hat sich ein solches - DING! - mitten in der Stadt entwickeln können?, formte sich die Frage in Richard Jordans überlastetem Geist. Wieso hat es niemand bemerkt?
Der Student spürte das unwohle Kribbeln unter seiner Haut, verstärkt durch das gutturale Keuchen der untoten Torsos in seiner unmittelbaren Nähe. Die Münder der abgetrennten Köpfe, die ohne den Resonanzkörper einer Brust stets dasselbe verlangten: Töte uns! Überall nur Blut und vertrocknete Innereien. Abgehackte und aufgeschnittene Arme, Beine und Oberkörper. Die Reste eines Experimentes, das die Ergebnisse für die effizienteste Auslöschung der Menschheit liefern sollte. Hier hatte jemand 29
oder ETWAS getestet, was einem menschlichen Individuum den größten Schaden zufügen konnte. Angewidert wich Richard zurück und spürte warmes, bebendes Fleisch in seinem Rücken. An diesem Ort lebte alles. Selbst der Tod hatte eine unbeschreibliche, neue Form der Existenz gefunden, kreiert von Wesen, die das Leben an sich verspotteten und auf die elektrischen Impulse einer chemischphysikalischen Reaktion reduzierten. Er musste weiter, konnte das körperlich nach ihm greifende Grauen nicht mehr ertragen. Nur weiter. Zum anderen Ende des Raumes, denn der Rückweg war ihm versperrt. Hinein in die flackernde Düsternis, die die abbrennenden Lampen in das Schwarz schmolzen und immer begleitet vom unerträglichen Klagen unschuldig Gefolterter. Eine Öffnung!, hauchte das kollabierende Bewusstsein des Studenten. Ein Ausgang! Seine Hände ergriffen die kalten Streben eines metallenen Geländers, saugten sich an ihnen fest, als wären sie die Verheißung eines neuen Lebens, das ihm sein jetziges Dasein nicht bieten konnte. Tiefer, immer tiefer hinab in die Kälte der Verdammnis, über stählerne Stiegen, die das Poltern seiner Schritte in die entfernten Abgründe eines hämisch lauernden Kerkerlochs leiteten. * Karg ergoss sich das Licht durch die wenigen erleuchteten bleiverglasten Fenster des imposanten Herrenhauses hinaus in die relativ warme Oktobernacht, die einen leisen Hauch des Spätsommers in sich trug. Zu dieser Jahreszeit herrschte in Südengland normalerweise ein anderes Klima. Regenschauer und leichte Böen wechselten sich ab. Aber nicht heute. Allerdings schmälerte die wohlwollende Witterung nicht den düsteren Gesamteindruck, den das Gebäude mit den Spitzdächern, verwinkelten Erkern und flankierenden Türmen 30
vermittelte. Und ein jeder, der als zufälliger Wanderer in seine Nähe kam, der hatte das Gefühl, dass ihm ein schwer zu erfassender Zauber, ja, ein beinah dunkles Geheimnis innewohnte. Weder jene, die dieses Gefühl ignorierten und als übertrieben abtaten, noch die anderen, die ihm nachgaben und ihren Schritt beschleunigten, hätten auf ihre Weise unrecht. Von diesem Haus ging keine Gefahr oder etwas Vergleichbares aus. Gleichfalls war es kein Haus, das auch nur ansatzweise als gewöhnlich zu bezeichnen war. Das Mysterium war vorhanden und nur die wenigsten konnten es tatsächlich spüren und dabei ihre Instinkte leugnen, die ihnen rieten, die Umgebung - aus welchem Grund auch immer - zu meiden. Letztendlich war das Herrenhaus nur Fassade und erfüllte genau den Zweck, zu dem es regelrecht aufgeflanscht war über einem hoch technisierten Komplex unter der Erde: Es sollte ungebetene Besucher fernhalten! Im Innern des Gesteinsmassivs, auf dem das Chalet errichtet worden war, herrschte rege, jedoch kontrollierte Betriebsamkeit, die niemand an diesem gottverlassenen Ort erwartet hätte... erwarten konnte! Es gab eine Halle, fünfzig an fünfzig Meter, mit einer Höhe von geschätzten zwanzig Metern, unterteilt in vier Ebenen, auf denen sich Männer und Frauen in sterilen, weißen Anzügen tummelten und entweder an Computerplätzen saßen oder umhergingen, um fremdartige Apparaturen zu bedienen. Überall das Blinken von Schaltknöpfen, das Surren von Generatoren sowie das Klacken von Elektronengehirnen, die hochkomplexe Rechenvorgänge ausführten. Auf einem mehrere Quadratmeter messenden Plasmabildschirm zeigten sich schillernde Reflexe, die einer entfernten Sternenkonstellation entsprachen. Gleißende Verbindungslinien zwischen jeweils zwei Leuchtpunkten sprangen hin und her, stellten Entfernungen dar und wurden ergänzt durch auf- und abflammende Vektorberechnungen. Zahlenkolonnen erschienen, wurden akribisch aufgezeichnet 31
und ausgewertet, verschwanden wieder und wurden durch neue ersetzt. Allein dieser Anblick war in seiner Gesamtheit, gemessen auch an den ausufernden Dimensionen, mehr als ehrfurchtgebietend. Doch alles in allem konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf eine Plexiglasröhre von eher bescheidener Größe, die auf der dritten Arbeitsebene, ein wenig isoliert von den verwirrenden Gerätschaften, platziert war. In ihr war der teils von einer weißen Decke verhüllte Körper eines Mannes zu sehen, der vollkommen unbewegt auf einer gepolsterten Stahlschiene lag. Um ihn herum - innerhalb der transparenten Röhre - waren verschiedene medizinische Instrumente angebracht, die die Lebensfunktionen des Körpers überwachten und regulierten. Der Mann konnte sich nicht bewegen, weder sehen, hören noch sprechen. Allerdings konnte er sich sehr wohl artikulieren. Über ein unterschenkeldickes Kabel, das in den Glaszylinder eingelassen war und eine Unzahl filigraner Strippen in sich aufnahm, die in Elektroden endeten und über Saugnäpfe und Implantate mit dem Kopf des Mannes verbunden waren, wurden die elektrischen Impulse des Gehirns an einen Rechner weitergeleitet, der diese Informationen zu verständlicher Sprache modulierte. Ein Lautsprechersystem ließ jede gedankliche Äußerung hörbar werden. »Meine Herren, geben Sie mir einen neuerlichen Statusbericht.« Es waren die Worte des Mannes in der Glasröhre, ausgesprochen mit angenehmer, aber synthetischer Stimme von einem Hochleistungscomputer, der selbst im gegenwärtigen Jahrhundert aus einer fernen Zukunft zu stammen schien. »Beendigung der Rechenprozedur in geschätzten sechs Wochen. Plus minus vier Tage.« Diese Antwort eines Mathematikers wurde über ein Kehlkopfmikrofon direkt weitergeleitet. »Endlich!« Der Kommentar des Computers wirkte leidenschaftslos, obwohl er aufgrund seiner Programmierung 32
bemüht war, gefühlsmäßige Stimmungen exakt wiederzugeben. Sicher bestand hier noch Nachholbedarf in der Feinjustierung. »Es hat eine Störung auf höherdimensionaler Ebene gegeben«, wandte ein Astrophysiker der vierten Ebene ein. »Diese ist Ihnen bekannt und könnte Auswirkungen auf unsere Berechnungen haben.« »Amalnacrons Verpuppung«, antwortete der Mann in dem zylindrischen Behältnis. »Die chromatische Transmutation.« Es schien, als wollte sein paralysierter Leib sich aufbäumen. Doch dieser Eindruck währte nur die Zeitspanne eines Lidschlages. »Einhergehend mit der Desorientierung des Siegelbewusstseins. Es hat die Kammer verlassen und springt von Körper zu Körper.« Er machte eine Pause, die der Computer als tiefen Seufzer interpretierte. »Wie ein Kind, das aus seinem Sauerstoffzelt ausbricht und sich in völlig fremder und unbegreiflicher Umgebung wieder findet. - Ja, diese Fakten sind mir bekannt.« Ein erneuter Seufzer. Oder nur eine Denkpause? Oder etwas gänzlich anderes? Der Computer deutete nach eigenem Ermessen. »Was ist mit Philip Ravenmoor?« »Keinerlei Veränderung. Körper und Geist sind getrennt. Die Überlebenschancen gering.« »Jordans Sohn...?« »Ebenfalls unverändert. Der Junge muss ganz schön was mitmachen. Ist immer im Zentrum hyperphysikalischer Ausschläge. Keine Ahnung, wie lange er das noch durchsteht...« »Edwards Tod war ein herber Verlust. Die von uns unbemerkte Manipulation des Siegelsteins von Cor-Shan eine schwerwiegende Niederlage. Zumindest beim momentanen Stand unserer Erkenntnisse.« Stille. Allumfassende Stille, wenn man das Zirpen der Maschinen und das Sirren der Computeranlagen in Abzug brachte.
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Dann wieder die Stimme des reglos daliegenden Mannes: »Sie haben alle gute Arbeit geleistet. Machen Sie Feierabend. Der morgige Tag mag uns neue Fortschritte bringen. Suchen Sie Ihre Quartiere auf und genießen Sie die wenigen Stunden Ihrer knapp bemessenen Freizeit. Ich danke Ihnen für Ihre außergewöhnliche Unterstützung.« Nach und nach wurden die Systeme heruntergefahren. Nur die externen Großrechner blieben in Betrieb und projizierten ihre Daten auf den riesigen Plasmabildschirm, wie sie es schon seit Jahrzehnten taten. Die Wissenschaftler sammelten sich am Expressaufzug, um sich in ihre Domizile des weitläufigen Herrenhauses zurückzuziehen. In der Halle verloschen die Lichter. Ein letzter Reflex huschte über das neben dem Fahrstuhl angebrachte Aluminiumschild: D.C. RESEARCH. Schließlich lag alles im Dunkeln. Auch der Mann in der Plexiglasröhre, der sich nach all der Zeit des Forschens am Ziel seiner Träume sah. Nach all diesen unendlich langen Jahren. Über die Projektionswand zuckten farbige Zahlenwerte und gleißende Lichtbahnen. Die wenigen aktiven Recheneinheiten und Energiekonverter summten. Doch was bedeutete dies schon einem Menschen, der blind, taub und stumm war...? *
Impressionen V
Unversehens wird es aus seinem Dämmerzustand gerissen. Wie lange hat es geschlafen...? Viel zu lange, sagt es sich mit ironischem...? Unterton als Reaktion auf die neuerliche Ungehaltenheit seines Freundes. Vieles ist geschehen, erfährt es von dem Fremden. Die Feinde der neuen Weltordnung befinden sich nun in einem Krankenhaus einige Kilometer entfernt, in einem anderen Stadtteil. Der Zeitpunkt für ihre Auslöschung scheint günstig. 34
Eilends setzt es den jungen, halbwegs ausgeruhten Körper von Dennis in Bewegung, übernimmt die Kontrolle aller motorischen Abläufe und dirigiert seinen Geist. Sein Freund, der Fremde, führt es zielsicher durch die Großstadt, über den Fluss und weiter in Richtung des Hospitals. Sein Wirt durchschreitet die Eingangstür, danach einige Korridore. Schnell und präzise. Eine Krankenschwester kommt ihnen entgegen, die jedoch kein Problem darstellt und den Samen des Bösen in sich aufnimmt. Auch sie ist jetzt auf ihrer Seite. Dennis reicht ihr das Gefäß. Zu dritt legen sie den letzten Flur zurück bis zu einem Vorsprung, hinter dem es die Tür zu jenem Raum weiß, in dem sich Jordan und Ravenmoor aufhalten. Der Mann in dem weißen Kittel, der sich davor aufhält und geduldig auf irgend etwas zu warten scheint, kann sich nicht so schnell besinnen, wie der Keim des wahren Gottes von ihm Besitz ergreift. Die Schwester, die es vorausgeschickt hat, wird von dem Mann aufgehalten, in ein Gespräch verwickelt. Irgendwann wird er wütend. Die Frau dreht sich zur Seite und blickt in Dennis' Richtung. Das ist mein Zeichen, deutet es diese Bewegung und die Worte der Arzthelferin. Es nähert sich dem Wartenden bis auf wenige Handspannen. »Ich bin Dennis«, lässt es den Jungen sagen. »Das ist für dich...« Auch der Arzt ist der Macht aus dem Gefäß nicht gewachsen. Doktor Molesworth - der Name des Mannes, den sein Freund ihm zuwispert - betritt als erster das Zimmer. Hinter ihm die Schwester und Dennis, sein Wirt. Es kennt keine Furcht. Nur die Neugier. Diese Welt hat so viel Neues zu bieten, so viel, das es zu erleben und zu entdecken gibt. Gleichzeitig kann es seinen Freund, den Fremden, tatkräftig unterstützen und dabei dessen Anerkennung gewinnen. Es fühlt einmal mehr, dass es gebraucht wird und ihm eine wichtige Aufgabe zukommt. 35
Die Eindrücke sind schier überwältigend. Nichts sehnt es mehr herbei als die Konfrontation mit den Feinden seines Freundes... - mit seinen Feinden! Um so überraschender erscheint ihm die plötzliche Gegenwehr! Ein Kampf entbrennt. Den Arzt trifft es zuerst. Dieser Mann - Jordan! - muss ihn beim Zurückschnellen von der Bettkante erwischt haben. Er stürzt hinaus auf den Gang. Das ist unser Feind!, sticht es ihm siedendheiß ins Bewusstsein. Sein Freund hat zu ihm gesprochen. Und auch
der auf dem Bett!
Die Zimmertür fällt wuchtig zu. Der jüngere Gegner ist draußen auf dem Flur. Es gruppiert sich mit seinen beiden Mitstreitern um das Krankenlager von... Ravenmoor!, schleudert sein Freund ihm den Namen durch sämtliche Winkel seines Geistes. Philip Ravenmoor! Die Krankenschwester will das Gefäß über dem Feind entleeren... Da wird die Tür wieder aufgestoßen! Jordan erscheint, greift einen Stuhl und streckt Molesworth nieder. Im gleichen Zug die Pflegerin. Der Flakon mit dem schwarzen Plasma fällt zu Boden und zerbricht. Entsetzt schreit es auf. Die Saat kann doch ohne ein Behältnis nicht weiterleben! Sie wird sterben! Der Mann namens Jordan verhält, wirft sich auf den Reglosen und blockt das letzte Aufbäumen des Plasmas - des reinen Blutes seines Freundes - ab. »Wer seid ihr?«, hört es die Frage seines Gegenübers. TÖTE IHN! VERNICHTE IHN! TU ES JETZT! Doch es ist hilflos. Was kann es im Körper des Kindes schon tun? »Wir sind der Neuanfang«, sagt es ruhig statt jeder anderen Aktion. 36
Nach einem knappen Wortwechsel fühlt es, wie Dennis' Kopf von kräftigen Händen herumgerissen wird. Er zerstört meinen Körper!, beherrscht die Panik sein Denken. Seine Ideologie gerät ins Schwanken. Was ist es, das
diesen Gegner so grausam macht... und gleichzeitig so - vertraut...? Ich scheine ihn zu kennen, obwohl wir uns zum ersten Mal begegnet sind...
Verwirrung ist noch das schwächste Gefühl, das sich in ihm breitmacht, als es versucht, den schwankenden Körper des Jungen auf den Beinen zu halten. Eine eigentümliche Verwandtschaft... Der brechende Blick von Dennis projiziert weitere Bilder der Gewalt in sein Bewusstsein. Dieser Jordan durchtrennt mit einem schmalen Messer den Lebensnerv der Krankenschwester. In einem Meer aus Blut bricht sie zusammen. Ebenso ist der Arzt unfähig, ihren gemeinsamen Auftrag durchzuführen. Selbst das Plasma ist nicht in der Lage, den ans Bett gefesselten Körper mit den zerschmetterten Knochen zu reaktivieren. Bin ich gescheitert?, fragt es sich selbst. Werde ich das Wohlwollen meines Freundes verlieren? Es ist jenseits von Gut und Böse. Die Verzweiflung pocht in den Schläfen seines kindlichen Wirts. Pocht in ihm! »Um Mitternacht kommt das Ende der Welt!«, schreit es dem Feind entgegen. »Die Messen... sie werden überall im Land abgehalten. Wir sind überall... Es ist überall...« Seine Aufregung wird gelindert durch das Eingreifen des Arztes und der ausblutenden Krankenschwester. Die Dienerwesen haben allerdings der brachialen Attacke Jordans nichts entgegenzusetzen.
Fliehen! Ich muss fliehen!
Unbemerkt kann es den Raum verlassen, sich in einen dunklen Winkel zurückziehen und auf eine neue Chance warten. Warum hat sein Freund ihm nicht geholfen? Warum hat er diese Eskalation der Ereignisse zugelassen? 37
Und warum ist da dieses eigentümliche Gefühl der Vertrautheit zu seinem schrecklichen Gegner...? Es kann keine dieser Fragen aus eigener Kraft beantworten. So zieht es sich zurück, um sich später um den Mann im Krankenbett zu kümmern... * Fast gleichzeitig erwachten Jessica und Carol aus ihrem Schlaf. Es war nicht die verfliegende Müdigkeit, die die beiden Kinder die Augen aufschlagen ließ, sondern die Kälte der Kanalisation, in die sie sich mit ihren Eltern geflüchtet hatten. Überall nur Feuchtigkeit. Selbst die Luft, die sie atmeten, war mit ihr übersättigt und lag nur wenige Grad über dem Nullpunkt. Der Traum war zur ernüchternden Realität mutiert. Und diese Realität ließ sich nicht mit einem Zwinkern wegwischen. »Mami, mir ist kalt«, brachte die achtjährige Carol mit zittriger Stimme hervor und kuschelte sich an ihre apathisch dasitzende Mutter. Das blonde Mädchen ließ die müden Augen im Halbkreis wandern. »Wo ist Daddy?« Es erfolgte keine Antwort. »Hey, Mum!«, stieß die drei Jahre ältere Tochter Jessica ihre Mutter an. »Was ist los mit dir...?« Wie im Reflex nahm Sharon Farnham ihre Sprösslinge schützend in den Arm. Ihr Blick blieb jedoch starr und glasig. War es der Frost oder einfach nur die Absurdität der Ereignisse, die sie in ihrem Bann hielt? »Mum!« Es war, als ob Jessica um Hilfe rief. »Mum, sag doch was!« Sie zerrte an der Kleidung ihrer Mutter, stubste sie an und schüttelte die Frau energisch durch. Das schien zu wirken. Sharon Farnham trudelte in die Gegenwart zurück, der sie so weit entrückt gewesen war. Ihre Finger krampften sich um die Schultern ihrer Kinder, während sie die Lethargie abschüttelte wie einen Schwarm hungriger
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Insekten. Sie sah ihre älteste Tochter an und ein freundlicher Zug umspielte ihr jugendlich wirkendes Gesicht. »Habt keine Angst. Alles wird gut...« »Mami!«, stieß die blonde Carol weinerlich hervor und vergrub ihr Gesicht in Sharons Armbeuge. Dabei schluchzte sie laut. Sharon Farnham küsste sie auf den Haarschopf und danach Jessica auf die Stirn. »Daddy kommt bald wieder«, flüsterte sie sanft, »und dann gehen wir nach Hause. Wir alle zusammen.« Es war mehr eine Wunschvorstellung, denn ein Versprechen. Doch den Kindern reichte es. Sie konnten den Unterschied nicht heraushören. Ein Geräusch! Nicht dieses allgegenwärtige Tropfen und Plätschern. Nicht das Pfeifen der Luft, die sich in Erkern und Winkeln fing und als vielfach gebrochenes Echo ihre Ohren erreichte... Etwas anderes! Massiv und durchdringend! Irgendwie eine Bereicherung der tristen Geräuschkulisse. Andererseits auch erschreckend neu! »Was war das?«, wisperte Carol und löste sich aus dem Griff der Mutter, darauf bedacht, kein vernehmliches Geräusch zu verursachen, das die Aufmerksamkeit eines Fremden - oder etwas Fremdem! - auf sie lenkte. Auch Sharon war hellhörig geworden. »Kein Grund zur Beunruhigung«, entgegnete sie einschmeichelnd, doch weit davon entfernt, ihre Töchter wirklich beruhigen zu können. »Vielleicht eine Katze...« »Da ist was!«, spie die elfjährige Jessica ihre Furcht heraus. »Da vorne...!« Tatsächlich schälte sich aus einer der Abwasserröhren eine Gestalt heraus. Sie hob sich nur allzu deutlich gegen die herrschende, nur von diffusem Licht aus verwinkelten Scharten erhellte Dunkelheit tief in den Eingeweiden der Millionenmetropole ab.
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Alles in Sharon Farnham spannte sich. Unwillkürlich presste sie Carol und Jessica an ihren unterkühlten Körper und zog die Beine an, wie um einen vermeintlichen Schutzwall aufzubauen, der einen potentiellen Angreifer fernhalten sollte. Eine Illusion - sicher! Aber eine beruhigende. Denn mehr hatte sie einer Gefahr nicht entgegenzusetzen. Und - vielleicht - war auch nicht mehr vonnöten. Vor ihnen stand ein Mensch. Zuerst unbeweglich. Dann zögerlich, aber bestimmter, auf sie zukommend. Das schwache Licht riss immer mehr Details aus der Dunkelheit, entzerrte die verschwommenen, finsteren Konturen, die einem faden Brei der Unkenntlichkeit entstammten. Die kleine Carol war die erste, die ihrer Erleichterung Luft machte. »Daddy, da bist du ja endlich wieder!« * Beim Betreten von Ravenmoors Krankenzimmer wirkte Doktor Greenberg eher konsterniert, als dass er sich in der typischen ›Das-wird-schon-wieder‹-Manier der Götter in Weiß als Herr der Lage präsentierte. Dass der Grund für seine Zerknirschtheit im unselbständigen Verhalten einer Stationsschwester zu suchen war, konnte Philip Ravenmoor weder wissen noch vermuten. Und so führte der Arzt die routinemäßigen Untersuchungen nicht unbedingt oberflächlich, jedoch leicht geistesabwesend durch. Irgendwie war Ravenmoor dann erleichtert, dass der Mediziner bereits nach wenigen Minuten den Raum wortlos wieder verließ, nachdem er die Lebensfunktionen des Patienten und die ordnungsgemäße Arbeit der Apparaturen geprüft hatte. Unvermittelt nahm der Höllenjäger Kontakt zu Richard Jordan auf. Sehr behutsam allerdings, um seinen Schützling nicht zu erschrecken. Das gelang ihm aber nicht einmal ansatzweise. 40
RAFF' DICH AUF, PARTNER! DIE ZEIT DRÄNGT! Jordans Widerstand erfasste Philip wie in einer schmerzhaften Rückkopplung. Unbestimmbar blieb, wer den größeren Schrecken davongetragen hatte. Je weiter der Austin sich von der Kirche entfernte, in der Richard Jordan seine Ermittlungen begonnen hatte, desto stärker empfand Ravenmoor diese entsetzlichen Impulse, die die Präsenz des Bösen ihm sandte. Da war dieser eigentümliche Laden. Philip Ravenmoors Instinkte hatten ihn fast wie von selbst aufgespürt. Und er fühlte die Gefahr mit jeder Faser seines sich regenerierenden, trotz allem zerschmetterten Körpers. Der Junge hatte sich mit seinen Nachforschungen auf der falschen Spur befunden. Die Zeit bis zur entscheidenden Offensive Amalnacrons verstrich unaufhaltsam. Richard brauchte nun alle Unterstützung, die er kriegen konnte. Ravenmoor war sich durchaus bewusst, dass er den Siebenundzwanzigjährigen damit einer unkalkulierbaren Bedrohung aussetzte. Doch es blieb keine andere Möglichkeit. Er würde den jungen Mann führen müssen - direkt in die Höhle des Löwen! Das eigentliche Ziel ist ganz nahe!, hämmerte es in Philips intaktem Bewusstsein. Die Konfrontation unvermeidlich. Er rang mit seinem Gewissen. Noch kann ich Richard
zurückpfeifen. Noch kann ich ihm das Grauen, das ihm bevorsteht, ersparen... Es waren die Zweifel eines Mannes, der
bereits eine verlustreiche Niederlage erlitten hatte. Der wusste, dass auch seine außergewöhnlichen Fähigkeiten und Kräfte erbarmungslos vor der ungestümen Macht der negativen Kräfte kollabierten. Wie konnte er da diesen unbedarften Mann in die Schlacht schicken, um ihn wider besseren Wissens als letzten Trumpf der Loge auszuspielen? Hatte er überhaupt eine Chance? Galt es nicht nur, den Plan von Denningham-Cartlewood auszuführen? Einen Plan mit zahllosen Unbekannten? Das finale Aufbäumen einer schwachen Minderheit, die im Anschluss - wenn der junge Jordan versagte - gnadenlos untergehen würde? 41
Höhere Gewalten waren hier am Werk. Was scherte sie der Untergang einer Zivilisation?
Nicht mehr als die zerquetschte Kakerlake unter meinem Absatz, gab sich Ravenmoor selbst die Antwort. Außer einem Knacken hinterlässt sie nur Ekel. Vielleicht aber sind diese Opfer notwendig, um das Menschsein zu rechtfertigen, überlegte er weiter. Vielleicht - er geriet ins Stocken, um sich zu sammeln - ist gerade Richard dieser auflodernde Funken, der die Flamme der Freiheit aufs neue entzündet... - der T'ott'amh-anuq!
Hin und her gerissen zwischen widersprüchlichen Emotionen und rationalen Erkenntnissen fällte Philip Ravenmoor eine endgültige Entscheidung: Wenn Richard tatsächlich der T'ott'amh-anuq war - jener Streiter gegen die finsteren Horden, der sich jeglicher Begreifens entzog und von dem zu sein der junge Jordan momentan unendlich weit entfernt war -, dann konnte keine Macht dieser Welt seine Weihung und Initiation auf Col'Shan-duur verhindern. Folglich standen seine Chancen ausgezeichnet, das Bevorstehende zu überleben. Zimmerte Ravenmoor sich gerade eine Rechtfertigung zusammen oder hatte er der Weisheit letzten Schluss gefunden? Immer noch blieben Angst und Zweifel. Aber auch der rettende Strohhalm, an den er sich klammerte.
Wie es aussieht bist du gar nicht so hilflos, wie du dir selbst laufend einzureden versuchst... Philip Ravenmoor sprach die Worte zur Beilegung seiner inneren Zerrissenheit.
Dabei hoffte er inständig, dass sich seine eigene Furcht nicht auf den Jungen übertrug. Und ganz plötzlich - auf leisen, klebrigen Spinnenbeinen herannahend - verwandelte sich Furcht in Panik. Es war jener Moment, in dem Richard Jordan den geheimnisvollen Laden betrat. All die guten Vorsätze wurden über Bord geworfen. All die Rechtfertigungen und guten Gründe, die Philip Ravenmoor sich zurechtgelegt hatte, mündeten in einen schwarzen 42
Abgrund der Ausweglosigkeit. Die Präsenz menschenverachtender Bösartigkeit wollte sein Bewusstsein sprengen. GEH SOFORT HIER RAUS...! Es war die pure Verzweiflung, die Ravenmoors mentalen Schrei durchsetzte. Allerdings befielen ihn arge Bedenken, ob diese Warnung überhaupt seinen Schützling erreicht hatte. Irgend etwas störte ihre Kommunikation. Dieses durchdringende Gefühl der Panik... Der Auslöser lag nicht allein in Richards Umgebung. Er war ganz in der Nähe! Schon öffnete sich die Tür zum Krankenzimmer. Zentimeter um Zentimeter wurde sie von außen aufgedrückt, mit der zaghaften und bedächtigen Langsamkeit, die der Bestätigung der grausigsten Vorstellungen zu eigen ist, da der tatsächliche Schrecken sich erst in letzter Sekunde offenbart. Philip Ravenmoor sollte nicht enttäuscht werden. DAS KIND!, rammte ein unter Hochspannung stehendes Katapult die Wahrnehmung seiner Augen gleich einem Zementblock durch seine paralysierten Eingeweide. Es muss
irgendwo draußen gewartet haben, bis Richard gegangen ist!
Der Kopf des Jungen saß auf befremdlich wirkende Weise verdreht auf seinen Schultern. Jordan hatte den Siebenjährigen hart getroffen und dessen Halswirbel zertrümmert. Trotzdem war sein Blick starr auf Ravenmoor gerichtet. Ein grausiger Anblick, der bis ins Mark erschütterte. Dem Höllenjäger, der starr auf dem Bett lag, ging es nicht anders. Doch er war nicht in der Lage, etwas auszurichten. Die Bewegungsimpulse, die sein Gehirn an den Körper sandte, verebbten nutzlos in der reglosen Masse maschinell belebten Fleisches. Nur die nackte Angst raste über bebende Nervenbahnen bis in den letzten Winkel seines Leibes. Die gepeinigten Sehnerven Ravenmoors projizierten Bilder des Kindes, wie es aus einer Metallschale diverse
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Sezierwerkzeuge aufnahm. Dann trat es mit den blinkenden Instrumenten näher an das Bett, immer näher... Ravenmoor wandte sich ab, kniff die Augen zusammen. Oh, Gott!, spritzten die Gedanken des Höllenjägers wie Eiter an die Wände seiner Schädeldecke, tropften zähflüssig daran herab, um ein Echo des Grauens zu entfesseln, das seinen Herzmuskel platzen lassen würde. Die tiefen Schnitte und Einstiche, mit denen das Kind seinen Körper verstümmelte, Muskelfleisch und Sehnen durchtrennte, die Organe zerstückelte, bis das Wunder des Lebens lediglich noch eine Ansammlung tranchierter Einzelteile war, die viel zu schnell ihren roten Lebenssaft ausspuckten wie eine giftige Flüssigkeit, die schnellstmöglich abgesondert werden musste, konnte er kaum wahrnehmen. Philip Ravenmoor ist tot, sagte sich der Höllenjäger nach endlosen Minuten traumatischer Apathie. Ich bin nur noch
Geist, kein Lebewesen mehr...
Eine Erkenntnis, die unweigerlich eine zweite zur Folge hatte: Ohne Körper kann ich nicht existieren! Mir bleiben nur
noch Stunden, bestenfalls Tage, bis mein Bewusstsein erlischt und ich dem Reinkarnationskreislauf zugeführt werde...
Seltsam gefasst nahm Ravenmoor den Siebenjährigen ins Visier, der blutbesudelt neben dem Bett stand und die rot schimmernden Mordwerkzeuge in den kleinen Händen hielt. Der Anblick seines Leichnams hätte Ravenmoor und jeden anderen sich unweigerlich übergeben lassen. Der Kleine hatte ihn förmlich geschlachtet. Trotz allem behielt er die Nerven, als er schwerelos und nicht fassbar im Zimmer schwebte. Wenn es noch etwas zu retten gab, dann hatte er nur eine Chance. Eine winzig kleine. Doch er wollte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Himmel, Richard! Ich kann dir nicht mehr helfen! Aber wenn alles so geschieht, wie ich es mir vorstelle, dann werden wir uns wieder sehen. Nicht in diesem Körper und nicht an diesem Ort. Doch in einer anderen Welt... 44
Was Ravenmoor in diesen schmerzvollen Augenblicken zu seiner eigenen Rettung beitragen konnte war weniger als der berüchtigte Strohhalm, den man dem Ertrinkenden reichte. Es war gefährlich und konnte schlimmstenfalls in der Hölle enden, wo ihn unermessliche Qualen erwarten würden. Die negativen Mächte mochten schon lange auf dieses eher einseitige Vergnügen lauern. Zu oft schon hatte er sie betrogen und sich dem Rad der Wiedergeburt entzogen. Die Unsterblichkeit hatte eben ihren ganz eigenen und pragmatischen Reiz. Ravenmoor würde bis zum Äußersten gehen, um sie sich auch weiterhin zu sichern. Das letzte, was Ravenmoor wahrnahm, als er der Decke des Krankenzimmers entgegenschwebte, um aus dem beengenden Gebäude hinauszugelangen, war der eigentümliche Blick des Kindes, der ihm exakt folgte, als hätte es eine Vorahnung von dem, was der Höllenjäger zu tun beabsichtigte. * Es war kalt, unangenehm feucht und irgendwie auch recht zugig. Richard Jordan zog seinen Pullover am Kopfausschnitt ein Stück höher den Hals hinauf. Dabei betrachtete er die Umgebung, soweit sich Einzelheiten in der Dunkelheit erkennen ließen und Erinnerungen wurden in ihm wach. Erinnerungen an den Gewaltverbrecher Ted Hoggarth, dem er, Richard, weit außerhalb von London in einem ebensolchen Kanalisationsschacht begegnet war. Doch da hatte er es schon nicht mehr mit einem Menschen zu tun gehabt; Ted Hoggarth war zu einem schrecklichen Tentakelwesen mutiert, das unter Amalnacrons Befehl gestanden und ihn hatte vernichten sollen. Stand dem jungen Jordan eine ähnliche Konfrontation höllischer Ausgeburten bevor? Seine Erinnerungen schweiften weiter ab zu jenem verunstalteten Gnom, der vorgegeben hatte, seinen Vater, 45
Edward Jordan, zu kennen. Was war aus ihm geworden? Was hatte er überhaupt mit dieser ganzen scheußlichen Geschichte zu schaffen? War er einer jener heimlichen Drahtzieher, derer sich der Dämon Amalnacron bediente? Richard schüttelte sich angesichts der Vielfalt der Fragen. Unsicher wanderten seine Augen zum x-ten Male über das fleischige Gewebe, das auf dem rissigen Mauerstein wuchs und bedrohlich pulsierte. Er griff unter seine leichte Jacke und berührte den fremdartigen, kupferfarbenen Gegenstand, den er aus den Trümmern der Siegelkammer in der Villa seines verstorbenen Vaters geborgen hatte. Nur ein einziges Mal hatte Richard ihn eingesetzt und das unscheinbare Gebilde hatte sich als zerstörerische und äußerst effektive Waffe erwiesen. Auch wenn er sie - noch! - nicht dosiert einzusetzen vermochte, so verlieh sie ihm in Anbetracht der allgegenwärtigen Schrecken ein nicht geringes Gefühl der Sicherheit. Das leise Platschen von Wasser ließ ihn in der Bewegung verharren, bis er registrierte, dass er es gewesen war, der das Geräusch verursacht hatte, als er das Ende der Metalltreppe erreichte und plötzlich bis zu den Knöcheln in einer undefinierbaren Brühe stand. Sofort sprang Richard auf den Absatz zurück, wobei seine reflexartig zurückschnellende Rechte das sich ständig in auf- und abschwellender Bewegung befindliche Fleisch an den Gewölbewänden streifte. Angeekelt riss er seine Hand an sich, begutachtete die Finger, die mit winzigen Gewebefetzen benetzt waren. Er strich sie an seiner Kleidung ab, doch ihm entging nicht, dass die organische Substanz an jener Stelle, die er berührt hatte, eine überdurchschnittliche Aktivität zeigte. Es bildeten sich feine Bläschen, die sich aufblähten und zerplatzten und dabei stecknadelkopfgroße Fettspritzer versprühten. Sei's drum!, sagte sich der Höllenjäger. Ich muss weiter voran. Und ich weiß, dass dies der richtige Weg ist. Er vermied geflissentlich die Frage, wofür dies der richtige Weg war. Vorsichtig schob sich Richard am Geländer vorbei auf einen zementierten Pfad, der nur wenige Zentimeter über der 46
Abwasserlinie verlief. Er mochte höchstens zwei Handspannen breit sein, doch das genügte dem Siebenundzwanzigjährigen, trockenen Fußes weiterzumarschieren. Eine Zeitlang geschah nichts. Bis er die Stimmen hörte! Sie waren wie ein raunender Chor und sie kamen exakt aus jener Richtung, in die er sich Schritt für Schritt vorwagte. Jetzt erst konnte Richard gegen die Korona diffusen Lichtscheins schattenhafte Bewegungen ausmachen, eine tiefdunkle Masse, die sich ihm näherte und aus dicht beieinander stehenden Schemen bestand. »F-R-E-U-N-D-E...«, echote es von den gewölbten Wänden des Kanalisationsschachtes. Das Wort allein sprach der Situation Hohn. Die unangenehme Intonation, bar jeglichen Ausdrucks, verursachte ein eisiges Kribbeln auf Jordans Haut. Sein erster Gedanke, der untrüglich die Gefahr vorhersagte, ging einher mit dem Griff zu seiner Waffe. Doch diesmal wollte sich das Gefühl der Sicherheit nicht einstellen, das er zuvor bei der Berührung des Metalls verspürt hatte. In diesem Moment, im Angesicht der physischen Bedrohung, erwies sich die dem Objekt zugedachte Schutzfunktion als blanke Illusion. Richard wurde klar, dass es ihm immer noch nicht gelungen war, die Funktionsweise der Schusswaffe zu ergründen. Er hatte sie zwar schon ausgelöst, doch dämmerte ihm, dass dies wohl mehr ein glücklicher Zufall gewesen sein musste. Im Endeffekt war sie nutzlos. Und der junge Mann konnte angesichts der sich unaufhaltsam auf ihn zuschiebenden Meute keine großartigen Experimente anstellen. Die Distanz zu seinen Widersachern würde schnell dahin schmelzen und dann war es für eine Flucht zu spät. Schon wieder wegrennen!, fluchte Jordan in sich hinein.
Wie ein verängstigtes Kind vor dem schwarzen Mann. Ich bin schon eine tolle Hilfe für die Loge.
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So schnell er es vermochte, tastete er sich auf dem
schmalen Vorsprung zur Treppe zurück und erkannte, dass er bereits ein gutes Stück vom Aufstieg entfernt war. Das schaffe ich nicht! Gehetzt blickte Richard über die Schulter. Der teils brüchige, teils spiegelglatte Sims ließ ihn nur sehr langsam vorwärts kommen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ins Wasser zu springen, auch wenn er das unter allen Umständen hatte vermeiden wollen. Was sich unter der undurchsichtigen Oberfläche des Abwasserstroms befand, mochte an Gefährlichkeit weitaus beängstigender sein, als die dahintrottenden Gestalten in seinem Rücken. Darauf musste er es jedoch ankommen lassen und es wäre dem Sohn des Höllenjägers Edward Jordan durchaus gelungen, sich bequem außer Reichweite der düsteren Schemen zu bringen, wenn er nicht durch eine unbedachte Bewegung ausgeglitten und gestürzt wäre. Seine Beine schlugen klatschend in die Zisternenbrühe, während sein Hinterkopf gegen das Fettgewebe prallte und sich schmerzhaft der gemauerte Vorsprung in sein Rückgrat stanzte. »Oh, verdammt!«, presste Jordan erstickt hervor und biss die Zähne zusammen. Er saß bis zur Brust im Wasser, wollte sich auf die Beine stellen, doch der Stich, den diese geringfügige Kraftanstrengung in seiner Wirbelsäule auslöste, ließ ihn stöhnend wieder zusammensinken. Ein paar Sekunden, redete er sich zu, wobei er die schwarze Mauer aus lebenden Gestalten nicht aus den Augen ließ. Nur einpaar Sekunden ausruhen und ich kann aufstehen. Der Schmerz, der sich beim zweiten Versuch wie ein Korkenzieher in seine Nervenenden schraubte, raubte ihm fast gänzlich die Kraft aus den Beinen, ließ seine Muskeln erschlaffen, als bestünden sie aus Gelatine. Seine Arme, die er auf den Sims gestützt hatte, um zusätzlichen Halt zu finden, zitterten vor Anstrengung. Er drehte seinen Körper zur Seite, versuchte, die Belastung zu verlagern und die Wirbelsäule zu entspannen. Doch es half nur wenig.
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»F-R-E-U-N-D-E...«, schallte es ihm hohl entgegen. Es klang wie eine Drohung. Und es kam ganz aus der Nähe. Beinahe vermochte Richard den Lufthauch aus den geöffneten Mündern auf seinem schweißfeuchten Gesicht zu spüren. Das gab den Ausschlag! Ein Schrei entrang sich seiner Kehle und mit schier übermenschlicher Willensanstrengung riss er sich hoch. Farbige Funken tanzten einen wilden Reigen vor seinen geschlossenen Lidern. Heiß durchflutete ihn eine Welle brodelnden Schmerzes. Aber er kam auf die Füße, taumelte zwei, drei Schritte gegen den träge fließenden Strom übel riechenden Brauchwassers. Seine Schuhsohlen saugten sich fest in einer nachgiebigen Masse. Von der Decke tropften schleimige Absonderungen lebenden Fleisches. Irgendwie schien Richard Jordans Umgebung in erregter Aufruhr begriffen! In dämonischer Vorfreude auf ein neues, wehrloses Opfer! Wenige Yards nur noch trennten ihn von den stoisch marschierenden Schemen, deren Gesichter mitunter im Dämmerschein erkennbar wurden. Die Stiche in Richards Rücken pulsten nur mehr in unregelmäßigen Schüben durch seinen Körper. Langsam überwand er seine Schwäche.
Die Waffe! Ich muss sie einsetzen!
Der Eingebung folgte die Tat - und seine Hand griff unter der Jacke ins Leere!
Sie ist weg! Ich habe sie verloren! Sie muss bei meinem Sturz ins Wasser gefallen sein!
Die simple Erkenntnis steigerte sich zu nacktem Entsetzen. Der letzte Rest Hoffnung verlosch gleich einem Kohlefunken im Herbststurm. Richard verlor das Gleichgewicht, als er weiter zurückzuweichen versuchte, seine Füße jedoch nicht rechtzeitig aus dem teigigen Untergrund zu lösen vermochte. Die aufschäumenden Fluten schwappten über seinem Kopf zusammen. Sekundenlang war undurchdringliche Schwärze um ihn herum. Dann durchbrach sein Oberkörper das brackige 49
Wasser. Keuchend rang Richard nach Luft, wälzte sich um die eigene Achse, nur fort von den Unheimlichen, die sich durch nichts aufhalten oder auch nur im Entferntesten stören ließen. Auf allen Vieren kroch und stolperte Jordan der Treppe entgegen. Viel zu weit war sie noch entfernt und der junge Mann konnte sie mehr ahnen als wirklich sehen. Das widerliche Fleischgewebe am Boden der Kanalisation erschwerte zusätzlich sein Fortkommen. Füße, Knie und Hände gruben sich tief in die Masse hinein, bis es Richard einen nachhaltigen Stich ins Herz versetzte und er ungläubig innehielt, nicht sicher, ob er nur einer sadistischen Täuschung des Schicksals erlag. Hart umklammerten seine Finger den ehernen Gegenstand. Doch erst, als er ihn den Innereien der zähen Gewebemasse entriss und mit pochenden Schläfen begutachtete, da war er sich sicher, dass seine Zuversicht real war. Er hatte die Waffe wieder gefunden! Gerade mal zwei Yards von der Stelle entfernt, an der er gestürzt war. Richard konnte sein Glück nicht fassen. Unter den widrigen Gegebenheiten kam das Auffinden des Objekts rätselhafter Herkunft und unbekannter Konstrukteure einem Sechser im Lotto gleich. War es Vorsehung? Hatte ein unsichtbarer Helfer - Philip? - eingegriffen? Oder hatte er tatsächlich aus eigenem Antrieb die sprichwörtliche Stecknadel im Heuhaufen gefunden? Zu gegebener Zeit mochten sich die Fragen von selbst beantworten. Oder in Vergessenheit geraten. Eine Hand griff nach Richard! Kaum, dass er die Berührung spürte, warf er sich in kreiselnder Bewegung nach vorne, tauchte kurz unter und direkt wieder auf. Da standen sie vor ihm! Gestaltgewordenes Grauen! Dem Angesicht der Schöpfung spottende Inkarnationen des Bösen!
Sie wissen, dass ich Ihnen nicht mehr entkommen kann!
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Richards verkleisterte Finger tasteten nervös jede Unebenheit des kupferfarbenen Metalls ab, das sich angenehm in seine Handflächen schmiegte. Wo war der verdammte Auslöser? Seine Gedanken hetzten sich. Und der gespenstische Trupp setzte sich beinahe lautlos wieder in Bewegung. Wenige bange Herzschläge und sie würden Richard eingeholt haben, um sich auf ihn zu stürzen und dem entsetzlichen Kollektiv einverleiben. Es gibt keinen mechanischen Abzug!, wusste Jordan plötzlich, als er sich die Ereignisse in der Siegelgruft in Erinnerung rief. Ich bin der Auslöser! Es ist mein Geist, der die
Waffe aktiviert! - Aber wie?!
Er schloss die Augen, ignorierte das fleischgewordene Grauen um sich herum, konzentrierte sich allein auf den unscheinbaren Gegenstand in seinen verklebten Händen. Noch zwei Schritte! Einer...! »F-R-E-U-N-D-E-!«, trommelte es kalt und durchdringend in seinen Ohren. Dann ein Blitz! Nur den Bruchteil eines flüchtigen Augenblicks während, aber unvergleichlich grell und intensiv. Gleichzeitig ein Hammerschlag, der Richards Körper in seine Moleküle zerlegen wollte. Heulen! Schreien! Klagen! Winseln! Durchsetzt von Verzweiflung und Wut! Aber auch von Erleichterung... Die Sinnesflut ließ Richard keine Zeit, einen klaren Gedanken zu fassen, als es ihn machtvoll von den Beinen riss und einem Gliederpüppchen gleich fortschleuderte. Dumpfes Donnern rollte durch den Gang und verlor sich in dessen Weite. Mehrere Yards weiter durchbrach Jordan mit der Wucht eines Geschosses die Wasseroberfläche, wurde wie ein lebender Rammbock in den Untergrund getrieben. Sein Bewusstsein war nahe daran zusammenzubrechen. Eisern jedoch hielt er seine Waffe umklammert, als sei sie mit ihm verwachsen. Irgendwie schaffte er es noch, sich aufzuraffen und am Geländer auf die untersten Treppenstufen zu ziehen. 51
Ihm war schwindelig und er verspürte den unwiderstehlichen Drang, sich zu übergeben. Gerettet!, war das einzige Wort, das sein Verstand noch in der Lage war zu formen, bevor er die Besinnung verlor. * Das Erwachen aus der Ohnmacht brachte nicht nur die üblichen Begleiterscheinungen wie Mattigkeit und Orientierungslosigkeit mit sich, sondern auch heftiges Brennen in gleichzeitiger Verbindung mit annähernd völliger Taubheit seiner Glieder. Zögerlich erst kam die Durchblutung von Richards Körper wieder in Gang. Und ebenso allmählich zeigten ihm seine Sinne die entsetzliche Verwüstung innerhalb des Gewölbeschachts. Er presste die Lider mehrmals kräftig aufeinander, um den Schleier vor seinen Augen zu vertreiben. Dann zog er sich vollends aus dem Abwasser auf die Stufen und brachte sich in eine einigermaßen bequeme Sitzposition, während ihn die letzten Überbleibsel der Betäubung verließen. Trotzdem zuckte Richard unter dem Anblick, der sich ihm bot, automatisch zusammen. Vor ihm erstreckte sich, soweit im Dämmerlicht erkennbar, ein Schlachtfeld, wie er es sich schlimmer kaum vorstellen konnte. Zerfetzte Körper trieben an der Wasseroberfläche, abgerissene Arme und Beine lagen darum verteilt, abgesprengte Hände und Finger, rohes, aber auch verkohltes Fleisch. Die abgerundete Decke, die steinernen Wände, waren verrußt. Schwarze Fetzen abgestorbenen, verbrannten Gewebes hingen in unheimlicher Formation, löchrig und immer noch dampfend, daran herunter. Der Brandgeruch übertünchte spielend die fauligen Ausdünstungen der Kanalisation. Hatte das alles dieses... dieses kleine - Ding? angerichtet?, stellte Richard eine lautlose Frage. Er wog den harmlos erscheinenden Gegenstand prüfend in der Rechten. Das Metall hatte sich nicht einmal erwärmt. Es war aber auch 52
nicht kalt. Gewöhnlich absorbiert Metall Kälte oder Hitze und leitet sie entsprechend ab. Die Waffe jedoch zeigte stets eine konstante Temperatur. Jordan steckte sie wieder ein. Ein flüchtiger Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass es weit nach Mitternacht war. 2:35 a.m., sagte er sich. »Verflucht! Alles umsonst! Es hat nichts gebracht. Die Mitternachtsmessen sind schon vorbei!« Sichtlich berührt erinnerte er sich an die Worte des Kindes, dem er im St. Mary Abbott's Hospital begegnet war. Wenn es stimmte, was der Junge prophezeit hatte, dann hatte das Böse endgültig Besitz von dieser Welt ergriffen. Richard Jordan spürte erneut, wie bereits viele Male zuvor, dass die Resignation von ihm Besitz ergriff. Er war in eine Sache hineingestolpert, die seinen begrenzten Horizont bei weitem überstieg. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er mit seinem Vater gemeinsam gestorben wäre. Den Torturen, die man ihm auferlegte, war er schlichtweg nicht gewachsen. Er war nur ein gewöhnlicher Mensch, von dem Übermenschliches erwartet wurde. Da konnte er doch nur versagen...? War die Loge der Höllenjäger derart verzweifelt, dass sie ausgerechnet ihm das Schicksal der Menschheit anvertraute? Es konnte nicht sein! Es DURFTE nicht sein!!! Die Zweifel zermarterten Richards Verstand, höhlten das Fundament seines Glaubens aus, der ihm immer noch die Rechtschaffenheit seines Tuns suggerierte. Er krümmte sich zusammen. Das Blut pochte in seinem Schädel. Die Hände zu Fäusten geballt versuchte er, dem Druck in seinen Schläfen entgegenzuwirken. Ein schriller Schrei ließ den Sohn des Archäologen erstarren. Als fernes Echo pflanzte er sich durch die gemauerte Röhre fort, wurde überholt von dem nachfolgenden, noch lauteren Schrei. Richard kam unversehens auf die Beine! Die grüblerischen Gedanken wurden fortgeschwemmt von einer Flut
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aufpeitschender Aggressionen. Sein Adrenalinspiegel schwappte über das Eichmaß. Wenn es etwas zu tun gab, dann hatte er jetzt die Gelegenheit dazu! Er wurde gebraucht! Und es war völlig egal, ob es um den Fortbestand der menschlichen Rasse ging oder um das Überleben eines Einzelnen! Die Mächte der Finsternis hatten ihre gierigen Klauen ausgestreckt! Im Moment ging es um Schadensbegrenzung. Richard wollte seinen Beitrag dazu leisten, dass Amalnacron und seine dunklen Schergen kein allzu leichtes Spiel hatten. Ein grimmiger Zug legte sich auf seine Miene. Und schließlich watete er durch die Kloake zwischen den Leichenteilen dem Ursprung der Schreie entgegen. * »Bist... bist du es, Dan?« Sharon Farnham konnte den Freudenausbruch ihrer Tochter Carol nicht ganz teilen und hielt sie energisch zurück, als diese sich losreißen wollte. Es war zu dunkel, um wirklich etwas erkennen zu können. Die Statur des Menschen, der da aus der Röhre geklettert kam, wies in der Tat Ähnlichkeit mit der ihres Mannes auf. Doch konnte sie sicher sein? Hier, in diesem gottverlassenen Loch, die eigentümlich verwandelten Gottesdienstbesucher auf den Fersen, die sie in ihre Fänge bekommen wollten. Die Kälte, die auf Dauer auch ihre wetterfeste Kleidung nicht abhalten konnte. Alles dies waren Faktoren, die die Frau anfangs lethargisch, nun aber äußerst vorsichtig und mit überempfindlichen Sinnen reagieren ließen. »Du bleibst bei mir, Carol!«, unterstrich Sharon ihre brüske Geste und die Achtjährige gehorchte, warf ihrer Mutter indes einen fragenden Blick aus ihren wasserhellen Augen zu, den diese geflissentlich überging. Nicht einen Augenblick ließ sie den Schatten aus den Augen, der möglicherweise ihr Ehemann war. Ihr Innerstes bis zum Zerreißen gespannt, spürte 54
die Frau die Arme ihrer älteren Tochter Jessica, die sich hilfesuchend um ihre Taille schlangen. »Dan! Wenn du das bist, dann antworte mir!« Sharon Farnham erwartete bebend eine Reaktion. Doch auf eine schwer zu beschreibende Art und Weise wusste sie bereits vor der Äußerung des Schattens, der langsam auf sie und ihre Kinder zuschritt, wie diese ausfallen würde. Und die Angst schnürte ihr für einen flüchtigen Moment die Kehle zu. »Ich - bin - zurück.« Eisige Kälte klirrte in den Worten. Es war lediglich eine Aneinanderreihung von Silben, die - so wirkte es auf sie - zufällig dem Sinn des Gesagten entsprachen. Ähnlich der Eingabe in ein Diktiergerät, das pausenlos denselben Satz zu wiederholen vermochte, ohne ihm einen Ausdruck zu verleihen. Maschinell. Emotionslos. Der Überbringer einer Botschaft, deren Essenz sich ihm selbst verbarg. »Kommt - zu - mir - und - werdet - eins - mit - dem Allmächtigen...« Diese Stimme! Sie gehörte unzweifelhaft Dan Farnham. Er sah auch so aus, jetzt, da Sharon ihn im Halbdämmer als ihren Mann identifizierte. Aber er war es nicht! Er war nicht er selbst, nur eine Hülle, die einen unerfreulichen Inhalt barg. Die kleine Carol hatte ihren Vater nicht anhand seines Äußeren erkannt. Sie hatte in ihrer kindlichen Unbefangenheit einfach nur angenommen, dass er es war, weil vorher niemand anderes durch diese Röhre gestiegen war. Zwangsläufig hatte auch nur er von dort wiederkommen können. »Das ist nicht euer Vater«, sagte Sharon Farnham, wobei sie jedes Wort wie eine erschreckende Offenbarung betonte. »Nicht mehr...« Carol begann zu weinen. Auch sie hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte. Die Äußerung ihrer Mutter tat ein übriges. Sharon Farnham wurde mit einer Wahrheit konfrontiert, der sie hilf- und schutzlos ausgeliefert war. Nur für einen 55
Augenblick lockerte sich ihre Umarmung und es war genau jene Sekunde, die die elfjährige Jessica nutzte, um sich loszureißen und auf ihren Vater zuzustürmen. »Daddy! Daddy! Ich will hier weg! Bring uns nach Hause!« »Jessica! Nein! Bleib da!« Sharons vorschnellende Hand griff ins Leere. »Das ist nicht mehr dein Vater! Das ist ein Monster!« Durch die hastige Bewegung glitt die Frau vom Sockel, fing ihren Sturz in letzter Sekunde ab und konnte gerade noch ihre Jüngste aufschnappen, die sie unbewusst mit sich gerissen hatte. »Lauf nicht weg!«, heulte Carol. »Bitte nicht!« Sharon stand wie versteinert. Wenn sie Jessica hinterherlief, brachte sie sich ebenfalls in Gefahr und überließ ihren blonden Liebling einem grausigen Schicksal. Aber sie durfte doch nicht die eine Tochter opfern, um die andere zu retten! Es waren ihre Kinder! Niemand konnte - durfte! entscheiden, wer zu überleben hatte! Sie schrie auf. Einmal. Und noch ein zweites Mal. Sie würde entweder beide retten oder gemeinsam mit ihnen untergehen. Mit weit ausholenden Schritten setzte sie Jessica hinterher. In einer geisterhaften Zeitlupe überwand Sharon Farnham Meter um Meter, um ihre Tochter wenige Inches vor den ausgestreckten Händen ihres Gatten zu Boden zu reißen und sich seitwärts wegzurollen. Ein enttäuschtes Stöhnen machte sich aus Dan Farnhams Lungen Luft. Doch gleichzeitig visierte er sein neues Ziel an... Carol! Angst schlotternd presste sich das Mädchen an den Vorsprung, beobachtete, wie seine Mutter nur ganz allmählich zur Besinnung kam, sich aufrappelte und Jessica streichelte, die noch gar nicht richtig begriffen hatte, was vorgefallen war. Und Daddy war so nah. So entsetzlich nah! »Mami! Mami! Hilf mir!« Carol schrie wie am Spieß. Sie konnte nicht weiter zurückweichen, andererseits ohne fremde 56
Hilfe nicht auf den Mauersims steigen. Starr sah sie in das Antlitz des Mannes, der einmal ihr Vater gewesen war, mit dem sie gelacht und geweint hatte und der immer für sie da gewesen war. »Tu mir nichts! Bitte, bitte, bitte!« »Hab - keine – Angst«, kam die Entgegnung. Kühl und freudlos. »Komm – zu - Daddy...« Irgend etwas in Sharon Farnham zerbrach. Ob es der Anblick ihrer weinenden Tochter war oder ein tierischer Urinstinkt, der ungeahnte Willensstärke und Kraft in der zierlichen Frau mobilisierte - Sharon Farnham wusste es im nachhinein nicht mehr zu sagen. Die schlummernde Tigerin, die ihr Junges zu beschützen suchte, war erwacht. »Geh weg von meinem Kind, du verdammter Bastard!« Tatsächlich geriet Farnhams Gang ins Stocken, ohne dass er sich allerdings der Stimme in seinem Rücken zuwandte. Das aber genügte Sharon, um sich mit einigen mächtigen Sätzen vorzukatapultieren und ihren Ehemann nieder zu rennen. Hart schlugen beide auf das nasse Pflaster. Carol war zu erschrocken, um eine wie immer auch geartete Lautäußerung von sich zu geben. Schreckensbleich musste sie mit ansehen, wie ihre Eltern sich bekämpften. Dan Farnham gewann die Oberhand, als er seiner Frau den Ellbogen ins Gesicht stieß. Kurz darauf lief Blut aus ihrer Nase, überschwemmte regelrecht Mund und Kinn. Ihre kleinen Fäuste trommelten auf Dans Rippen, ohne jedoch große Wirkung zu zeigen. Farnham kam auf die Füße, trat in mehreren mechanischen Bewegungen Sharon vor die Brust und in den Unterleib, dass sie verkrümmt liegen blieb. Jetzt gab es kein Hindernis mehr zwischen ihm und der Achtjährigen. Carols Herz pochte bis zum Hals. Es versetzte ihr einen Stich direkt in die Seele, ihre Mutter blutend und von Schmerzen gezeichnet auf der Erde liegen zu sehen. Niemals in ihrem Leben würde sie diesen Anblick vergessen können. 57
»Komm - zu – Daddy«, spulte die Gestalt mit dem Aussehen des liebenden Vaters ihren Text tonlos in Richtung des Mädchens ab. Den psychischen Schaden, den die Minderjährige in diesen schrecklichen Minuten davontrug, konnte niemand ermessen. Sie wirkte gefasst. Doch in Wirklichkeit war es die namenlose Furcht, die sie lähmte. Carols Augen wanderten hektisch umher. Sie sah ihre Schwester, die zitternd und zur Bewegungslosigkeit erstarrt dastand. Ihre Mutter, die sich in Krämpfen wand. Und letztendlich Dan Farnham - ihren Vater! -, dessen gefühlstote Miene sie förmlich sezierte. »Endlich - vereint...« Die kleine Carol schlug die Hände vors Gesicht, als könnte sie sich damit dem Grauen entziehen. Ihr Puls wollte explodieren. Allein und verlassen. Die Konsequenz schien dem Kind nicht wirklich bewusst, aber durchaus real. Nur zaghaftes Atmen drang an Carols Ohren, das sich mit dem rauschenden Blut des eigenen Körpers mischte... ... und plötzlich in ein lang gezogenes, überlautes Schleifen mündete, das in einem dumpfen Aufschlag endete. Auch Sharon Farnham hatte es gehört. Sie riss den Kopf herum und erkannte einen weiteren Schemen, der aus der Röhrenöffnung zu Boden gestürzt war und sich mühsam aufrichtete. Diese Lehrerin, jagten sich ihre Gedanken, nun ist sie
auch noch gekommen, um uns allen endgültig den Garaus zu machen... * Das letzte Stück des Ganges war leicht abschüssig und so sehr sich Richard Jordan auch bemühte, das Gleichgewicht zu wahren, so konnte er dennoch nicht verhindern, dass er auf dem glitschigen Untergrund den Halt verlor und dem
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wabernden Rund entgegenschlitterte, hinter dem er den Ausgang der panischen Schreie vermutete. Nach vier Yards spie ihn der Tunnel aus in eine weiträumige Halle. Hart und ungebremst knallte er aus etwa anderthalb Yards Höhe auf feuchten, kalten Stein. Ächzend erhob er sich und was er auf den ersten Blick registrierte, waren die Konturen mehrerer Personen, die sich nur aufgrund kleinerer, erschreckt wirkender Bewegungen - wahrscheinlich auch ausgelöst durch sein plötzliches Auftauchen - von dem herrschenden Halbdunkel absonderten. »Wer immer da ist«, rief Richard kurzatmig, »ich will Ihnen nichts tun!« »Helfen Sie meiner Tochter!«, gellte es dem Höllenjäger entgegen. Es war die brüchige Stimme einer Frau. Sie musste am Ende ihrer Kräfte sein. »Daddy! Nein! Geh weg!« Der Angstschrei eines kleinen Kindes! Richard spurtete los. Vorbei an der wie zur Salzsäule erstarrten Gestalt eines Mädchens, das er aber nur aus den Augenwinkeln wahrnahm. Von ihr schien keine direkte Bedrohung auszugehen. Die Umrisse dreier Menschen schälten sich aus der Finsternis. Einer kauerte am Boden - höchstwahrscheinlich die Frau, die den Hilferuf ausgestoßen hat, schloss Richard intuitiv -, die anderen beiden - ein kleiner und ein wesentlich größerer Schattenriss - standen leicht versetzt. Der größere wandte sich ihm zu. Richard konnte es deutlich erkennen. Beängstigend schnell fraß sich eine Flut kleiner und kleinster Details im matten Licht durch das Dunkel. Es ist der Mann!, war sich Jordan sicher. Er ist die
unmittelbare Gefahr!
Nicht einmal zwei Sekunden hatte die Situationsanalyse gedauert. In vollem Lauf warf sich Richard gegen ihn, riss ihn von den Beinen und gegen einen Vorsprung. Kreischend sprang das kleine Mädchen zur Seite. 59
»Mal sehen, wie Daddy das gefällt!« Er umfasste den Schädel des Mannes mit beiden Händen. Kraftvoll rammte er ihn etliche Male gegen die Mauer. Ein Normalsterblicher hätte längst das Bewusstsein verloren, doch Richard spürte die unmenschliche Kraft in diesem Körper, der einfach nicht erschlaffen wollte. Ein nur zu typisches Merkmal dafür, dass er einen Besessenen vor sich hatte. Wie der Junge im Krankenhaus, erinnerte sich der Siebenundzwanzigjährige. Ich habe ihm das Genick gebrochen
und trotzdem ist er nicht gestorben.
Der fremde Mann leistete kaum Widerstand. Richard Jordan hielt sein blutüberströmtes Gesicht in den Handflächen, riss ihn hoch und versetzte ihm einen harten Stoß mit beiden Handflächen, der ihn außer akuter Reichweite schleuderte. »Nehmen Sie meine Hand!«, keuchte Richard an die Frau gewandt. »Kommen Sie - schnell!« »Dan, oh Dan! Was ist nur aus dir geworden...?« Es war ein tränenersticktes Wimmern. Dankbar ließ sie sich von der gereichten Hand aufhelfen. »Ihre Tochter. Wie ist ihr Name?« Unbehaglich stellte Richard fest, dass sich der mit Dan Benannte wieder erholte. Er würde nicht ruhen, bis er seine Mission erfüllt hatte. Dafür würde Amalnacron sorgen. »Carol. Ihr Name ist Carol...« »Okay«, erwiderte Richard. Er ging in die Hocke, setzte ein Lächeln auf und sprach das Kind an. In dessen Augen flackerte die Furcht. Es war unsicher, was es tun sollte, sah einerseits das vertraute Gesicht des Vaters, andererseits ein ihm unbekanntes. Die Rollen waren vertauscht. Die Reaktionen des verwirrten Mädchens unkalkulierbar. »Carol, komm bitte zu mir rüber. Dir wird nichts geschehen. Deine Mutter ist bei mir.« »Was... was ist mit meinem Papa? Du hast ihn gehauen.« »Dein Papa ist... sehr krank.« Wie konnte Richard einem Kind in diesem Alter die Wahrheit erklären? Wie konnte man
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überhaupt jemandem die herrschenden Zustände erklären? Er war förmlich zu einer Notlüge gezwungen. »Aber ich habe meinen Papa doch lieb.« Das schluchzende Stimmchen war kaum zu verstehen. Die Woge des Mitleids in Jordans Eingeweiden glich einem rollenden Fels. Er zerpulverte jedoch an den Säulen der Beklemmung, die sich beim Anblick des scheinbar vollständig regenerierten Dans turmhoch aufrichteten. Wenn Richard nichts unternahm, würde Carol ihm als erste zum Opfer fallen. »Bitte, Carol, komm her zu mir.« Die Zeit zu handeln wurde immer knapper. »Zum Teufel, Carol, hör, wenn man dir etwas sagt!« Die Frau hatte die Worte in höchster Erregung hervorgestoßen, huschte in verkrümmter Haltung an Richard vorbei, nahm ihre Tochter in die Arme und zog sie an sich. Auch Jordan reagierte ohne Zeitverlust, wippte geschmeidig hoch und sprang auf den Mann zu. Krachend flog seine Faust gegen dessen Kinn, ließ Dans Kopf in den Nacken wegknicken. Dreimal noch schlug er zu, traf erneut das Kinn, die Schläfe und zum Abschluss den Solarplexus. Es würde den Besessenen nicht lange aufhalten, ihnen im Gegenzug aber wertvolle Sekunden zur Flucht verschaffen. »Rennen Sie los! Ich bleibe hinter Ihnen!«, rief Richard. Mehr stolpernd als wirklich rennend erreichte die Frau ihre ältere Tochter. »Wohin jetzt?«, fragte sie außer Atem. Es war ihr anzusehen, dass die psychische und physische Belastung sie vollkommen auslaugte. »Rein in den nächsten Schacht!«, donnerte Jordan. »Du!« - er deutete auf das Mädchen, dessen Namen er nicht kannte »Hilf deiner Mutter!« Sie reagierte nicht. »Tu es - jetzt!!!« Der Höllenjäger sprach mit Macht und das brach den Bann. Nur kurz schüttelte sich das Mädchen, dann war es der Frau behilflich, die kleine Carol hoch zu hieven. 61
Richard indes hielt den Besessenen auf Distanz. Stöße gegen seinen Oberkörper, heftige Tritte. »Macht schneller! Ich kann ihn nicht mehr lange aufhalten!« Der Sohn des Archäologen war bereits ziemlich geschlaucht. Auf einen längeren Kampf war er nicht vorbereitet. Kurz hintereinander verschwanden die Kinder und ihre Mutter in dem Schacht, robbten so gut es ging die flache Anhöhe hinauf und betraten den schmalen Sims, der sie von der schillernden Flüssigkeit plätschernden Abwassers trennte. Erschöpft hockten sie sich nieder und warteten auf die Ankunft ihres Retters. Der ließ auch nicht lange auf sich warten, stemmte sich an dem gemauerten Vorsprung in die Höhe und hinein in den Tunnel. Eine bessere Lösung war ihm nicht eingefallen. Es ging zurück in die Höhle des Löwen. Denselben Weg, den er bereits vorher gegangen war. Und er wusste nur zu gut, wo er endete. Doch alles in ihm drängte darauf, ins Zentrum des Grauens zurückzukehren. Jetzt, da er diese Familie gerettet hatte. Als wäre dieser Schritt eine wichtige Zwischenstation gewesen. Eigenartig... »Keine Zeit zum Rasten«, stieß Richard matt hervor. »Er ist direkt hinter uns.« *
Impressionen VI
Dennis Foucheaux' Augen spiegeln genau dieselbe, eigentümliche Stimmung wider, die der Siegelgeist in den unauslotbaren Tiefen seines Bewusstseins fühlt. Sein Feind der Mensch mit dem Namen Philip Ravenmoor - ist vernichtet, der letzte Lebensfunke erloschen. Doch etwas hat sich von dem sterbenden Körper gelöst, ist zur Decke des Zimmers gestiegen und hat schließlich das Hospital verlassen. Es hat es nicht sehen können, doch mit seinen transzendenten Sinnen deutlich wahrgenommen. 62
Wieder betrachtet es das unansehnliche Resultat seines Tötungstriebes. Doch anstatt, dass Triumph ihn erfüllt, sind da nur wieder diese Zweifel, ob es das Richtige getan hat. Es weiß, dass seine eigentliche Bestimmung eine andere ist, kann sie jedoch nicht näher beschreiben oder irgendwie greifen. Gesichert ist lediglich die Erkenntnis, dass es sich in einer Art Gefängnis befunden hat, bevor der Fremde - sein Freund? (auch bei dieser Klassifizierung meldet sich aus dem hintersten Selbst des Kammerbewusstseins Skepsis) ihn befreite und hinausführte in eine andere - bessere...? - Welt. Es kann den neuen Zustand seiner Existenz nicht beurteilen. Und auch nicht die Mentalität seines Freundes. Der Blick des Kindes, in dem es ein vorübergehendes Zuhause gefunden hat, klebt an der ausgeweideteten Leiche Ravenmoors. Genau wie bei einem unmündigen Kind, das einen bösen Streich ausgeheckt hat und erst im Anschluss das wahre Ausmaß seiner Tat begreift, plagt den Siegelwächter der Argwohn über die Aufrichtigkeit seines Freundes, des Fremden. Dennis, ruft es sich den Namen seines Wirts ins Gedächtnis, der Junge heißt Dennis. Der Tote Philip. Hat sein Freund auch einen Namen? Er hat ihn nie genannt. Es hat ihm selbst nur eine Bezeichnung gegeben, die dem, was er empfunden hat, am nächsten kam. Es ruft nach dem Fremden, doch dieser schweigt. Es mobilisiert alle Kraft und Willensstärke, um einen Kontakt herzustellen. Umsonst... Ganz im Gegenteil nimmt es wahr, dass etwas nach ihm greift. Und allmählich erstirbt sein Widerstand. Der unbekannte Einfluss weckt einen uralten Instinkt in ihm. Er hängt mit seiner Zeit in der Abgeschiedenheit des mentalen Verlieses zusammen, in dem es sich für Ewigkeiten befunden hat. Es wählt diesen Begriff, da ihm jegliches Zeitverständnis fehlt.
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Vollkommen unvermutet aber liegt alles in einer Klarheit vor ihm, die das Siegelbewusstsein in dieser Form noch nie erfahren hat. Es hat eine fest umrissene Aufgabe. Das Martyrium der Einsamkeit hatte einen tieferen Sinn. Dieser ist ihm nun schlagartig bewusst geworden! Zum selben Zeitpunkt meldet sich überraschend der Fremde. Positive Impulse gehen von ihm aus, Lob für das verrichtete Werk. Erst zögerlich, dann energisch weist der Kammergeist ihn zurück. Er ist sich sicher, für einen seiner primären Bestimmung abträglichen Zweck missbraucht worden zu sein. Es ist hin und her gerissen zwischen Enttäuschung, Wut und schließlich Hass! Sein Freund erst hat ihm diese Vielfalt an Emotionen gezeigt und nun wenden sie sich gegen ihn. Es lenkt den untoten Körper des Schulkindes durch die langen Korridore des Krankenhauses und nimmt die Spur von Richard Jordan auf. * Ein siedender Stich raste durch die Nervenbahnen von Denningham-Cartlewoods paralysiertem Körper, ließ ihn sich unter Schmerzen nahe der Erträglichkeitsgrenze aufbäumen. Die Kabelstränge, mit denen er in der Plexiglasröhre wie verwachsen wirkte, schlackerten umher, als wären sie eigenständig lebende und denkende Bestandteile seines Leibes. Der Computer hat es gefunden!, resümierte er in Gedanken und berief sich auf die Informationen, die die Positronenkomponente ihm zukommen ließ. Sie war auf bestimmte Parameter geeicht und musste aufgrund ihrer Programmierung augenblicklich dem Industriellen den neusten Stand der Erkenntnisse mitteilen. LOKALISIERUNG DER PARAENERGETISCHEN EINHEIT.
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Mehr brauchte Cartlewood nicht zu wissen. Über Gedankenbefehl löste er Alarm aus. Nur einige wenige Wissenschaftler mit entsprechender Registrierung würden ihm folgen. Doch mehr als eine kompetente Rumpfmannschaft war auch nicht vonnöten. Nicht einmal fünf Minuten vergingen, bis die Männer und Frauen der Code-Purple-Alarmbereitschaft in die Halle stürmten und gewohnt routiniert ihre Plätze einnahmen. Es gab weder Hektik noch Verwirrung. Jeder wusste exakt, was er zu tun hatte. »Stabilisierung des Ortungsimpulses«, wurde die Stimme einer jungen Frau im Morgenmantel über Kehlkopfmikrofon übertragen. Sie und auch die anderen Anwesenden hatten ihre Quartiere überhastet verlassen und sich nicht die Zeit genommen, ihre Arbeitskleidung anzulegen. Das wurde auch von niemandem erwartet. Der Alarm hatte absolute Priorität. Hier ging es um Sekunden. Denningham-Cartlewood nahm es mit einem ›Sehr gut‹ zur Kenntnis. Hätte er über die Möglichkeit körperlicher Ausdrucksfähigkeit verfügt, so hätte er zufrieden genickt. »Jordan haben wir auch im Visier. Der energetische Streuimpuls ist immer noch messbar. - Er hat schon wieder die Waffe abgefeuert.« Nicht schlecht, Richard, lobte Cartlewood und induzierte dem Computer einen Repressionsbefehl. Damit wurden seine Gedankengänge unhörbar für die anderen. Nicht jeder ist
befähigt, sie zu gebrauchen. Du scheinst wahrhaftig derjenige zu sein, der...
Dann besann er sich auf das eigentliche Vorhaben und setzte alle Mitglieder seines kleinen Krisenstabs davon in Kenntnis: »Meine Damen und Herren, Sie kennen unser Ziel. Das Siegelbewusstsein muss von seinem irdischen Körper befreit werden. Nur dann ist es in der Lage, seine ursprünglichen Aufgaben wieder aufzunehmen. Ich denke, dass es uns durch sein Vorgehen in gewisser Weise in die Hand gespielt hat. Wenn es auf Edward's Sohn trifft, wird 65
dieser es vernichten wollen. Er sieht ja lediglich die Person, die es gerade übernommen hat. Und genau zu diesem Zeitpunkt müssen wir eingreifen. Ich möchte Ihnen noch einmal unmissverständlich einprägen, dass Richard Jordan unser aller Hoffnungsträger ist. Wenn er die Prüfungen auf Col'Shan-Duur besteht, ist er sogar unsere mächtigste Waffe gegen Amalnacron und jene, die hinter - oder über - ihm stehen. Vergessen Sie das bitte niemals, auch wenn ich es bereits unzählige Male gepredigt habe.« Der Industrielle erwartete keine Reaktion auf seine Worte und trotzdem erfolgte eine: »Wir und damit erlaube ich mir, für alle zu sprechen, sind uns der Wichtigkeit des Auftrages bewusst und auch der Verantwortung, die damit einhergeht. Der T'ott'amh-anuq muss leben.« Montgomery Katt, Systeminformatiker und Leiter der taktischen Koordination, sah nur kurz von seinen Kontrollen auf. Fünf Meter neben ihm knipste Mary-Ann Stratford zur Bestätigung mit dem linken Auge und legte einen harten Zug um ihre Mundwinkel. Der Rest der Belegschaft entzog sich Katts Gesichtskreis, da sie auf anderen Ebenen arbeiteten. Doch er war sich sicher, dass sie dasselbe dachten. »Ich danke Ihnen«, kommentierte DenninghamCartlewood knapp die Bemerkung seines Mitarbeiters. »Sir«, kam es von Ebene eins und in der Betonung des Wortes schwang deutliche Besorgnis mit. »Mister Ravenmoors Vital-Implantat sendet keine Signale mehr.« Gregory Anderson war zuständig für die Gesamtüberwachung des Projekts, eine Art Security-Guard und er machte eine lange Pause, bevor er weiter sprach, um noch einmal alle Werte, die ihm seine Konsole zeigte, durchzuchecken. Schließlich aber war er sich sicher: »Philip Ravenmoor ist getötet worden.« »Fahren Sie fort.« »Seine Konditionierung ermöglicht ihm einen Bewusstseinstransfer. Doch ohne Körper wird er nicht lange überleben können. Ihm bleibt nur noch die Möglichkeit...«
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»Reden Sie nicht weiter«, unterbrach ihn der Mann in der eisernen Lunge. »Die Konsequenzen sind mir durchaus bekannt.« Es versetzte Cartlewood einen Stich ins Herz. Ravenmoor hatte ihm näher gestanden als jeder andere Mensch in dieser Halle oder die meisten in seinem Leben überhaupt. Was dem Höllenjäger im schlimmsten Fall bevorstand, das stellte selbst Denningham-Cartlewoods Schicksal weit in den Schatten. Trotzdem ließ er sich nichts anmerken und erwiderte: »Die Prioritäten sind fest umrissen! Der Siegelgeist ist auf Jordans Strukturdaten fixiert. Es gilt, den Jungen endlich seiner Bestimmung zuzuführen...!« * Niemand sagte ein Wort, als Sharon Farnham - zwischen sich und Richard Jordan ihre beiden Kinder führend - sich auf dem schmalen Vorsprung knapp über dem Abwasserkanal vorantastete. Sichernd hielt sie den linken Arm vorgestreckt, falls ihre jüngste Tochter Carol den Halt verlieren und abrutschen sollte. »Wie weit ist es noch?«, brach die Frau schließlich das Schweigen, eigentlich weniger aus Interesse, sondern vielmehr, um die bedrückende Stille aufzubrechen, die einzig begleitet wurde vom Pulsieren des lebenden Fleisches an den Wänden, das den Eindruck beschwerlichen Atmens vermittelte. Zumindest deutete sie die Geräusche in dieser Weise. Und sie machten ihr Angst. »Vielleicht noch hundertfünfzig Yards«, antwortete Richard. Er hatte selbst Mühe, sich zurechtzufinden. Hier, weit unter den vertrauten Straßen Londons, sah alles gleich aus. Außerdem war es zu dunkel, um sich exakt orientieren zu können. Seine Behauptung fußte größtenteils auf den Erkenntnissen, die er während seines Pirschgangs in die entgegen gesetzte Richtung hatte machen können. Und diese waren recht vage. Er hatte sich weder die Entfernung merken können, noch prägnante Details seiner Umgebung gespeichert. 67
Er wollte Sharon Farnham einfach einen Richtwert liefern, auf dem sie aufbauen konnte. Hundertfünfzig Yards waren eine Entfernung, die sich jeder vorstellen konnte. Besser, als ein schlichtes ›Keine Ahnung‹. Zügig ging es weiter, allerdings mit größter Vorsicht. Jordan hatte davor gewarnt, in das trübe Brauchwasser zu geraten, da das klebrige Gewebe auch am Grunde des Kanals wucherte. Ein Kind würde sich kaum aus dem Sog befreien können. Und es würde wertvolle Zeit kosten, es herauszuzerren. Die Gedanken an ihren Ehemann überlagerten für kurze Zeit Sharons Denken.
Dan, oh Dan. Was ist nur mit dir geschehen...? Ich will, dass du wieder so bist, wie du vorher warst... - Ich brauche dich... Wir Ein Schrei! Jessica, ihre ältere Tochter, hatte ihn ausgestoßen. Sharons Arm schoss vor, als die achtjährige Carol aufgeschreckt ausrutschte. Sie fing sie in der Armbeuge auf und presste sie gegen die rußgeschwärzte Wand. Ihr Herz pochte wie wild, bis sie in der schwach erhellten Finsternis die Leichenteile sah, die an ihr vorbei trieben und der Auslöser für Jessicas Angstschrei gewesen sein mussten. »Wir sind gleich da«, versuchte Richard das Kind zu beruhigen und reichte der verstörten Elfjährigen die Hand. Sie ergriff sie zitternd. »Es besteht keinerlei Gefahr«, log Jordan unwillig und rief sich die Schreckenskammer weit oben hinter dem Antiquitätenladen ins Gedächtnis. »In ein paar Minuten sind wir in Sicherheit.« »Mami, Mami!«, heulte Carol auf. »Es ist alles gut«, beschwichtigte Sharon Farnham und streichelte Kopf und Gesicht ihrer Tochter. Sie ging in die Hocke und drückte das Mädchen an sich. »Beruhige dich, Kleines.« Der Treppenaufgang war nahe. Richard packte Jessica an den Hüften und hob sie an sich vorbei, so dass sie das 68
Geländer der aufwärts führenden Stiegen ergreifen konnte. Ihre Hände umschlossen das stellenweise rostige Metall, um es nie mehr loszulassen. Das Mädchen zog sich hoch und hockte sich auf die Trittbleche der kleinen Plattform. Sie wollte nicht so weit vorgehen und lieber auf das Eintreffen der Erwachsenen und ihrer Schwester warten. Erst jetzt sah Jordan diesen einsamen Schatten. Keine zwei Meter neben Jessica. Er hatte sich kaum bewegt und war mit der allumfassenden Dunkelheit verschmolzen. Eine ruckartige Bewegung in dem von irgendwoher einfallenden Dämmerlicht riss seine Konturen aus der Finsternis. Richard registrierte es voller Grauen und erklomm zügig die Sprossen; es galt nun, schnell und besonnen zu handeln. Ein Blick über die Schulter: Sharon und Carol befanden sich knapp unter ihm. Er und die unter leichtem Schock stehende Jessica waren der schattenhaften Gestalt am nächsten, die in extremer Langsamkeit einen Fuß vor den anderen setzte und sich immer mehr der diffusen Beleuchtung preisgab. Eine Frau!, hämmerten Richards Gedanken. Sie hat einige
Yards neben dem Treppenabsatz auf uns gewartet! Als hätte sie geahnt, welchen Weg wir nehmen würden! Das Glucksen der fleischigen Schicht auf den kalten, feuchten Steinen nahm zu. Verschmorte Gewebereste lösten sich von der Decke und schlugen dem jungen Höllenjäger ins Gesicht. Er wischte sie beiseite, warf erneut einen Blick hinter sich und flüsterte Sharon Farnham zu: »Nicht bewegen!« Als er sich wieder umdrehte, sah er nur einen Körper auf sich zuschnellen, dem er diese Geschwindigkeit keinesfalls zugetraut hätte. Instinktiv schossen seine Arme in einer Abwehrreaktion vor und fast gleichzeitig spürte er den Aufprall, der ihn von den Füßen riss. Entsetztes Geschrei dreier unterschiedlicher Stimmlagen war das letzte, was er während seines Sturzes wahrnahm, bevor er die Wasseroberfläche durchschlug und die faulenden Wogen ihn und seinen Angreifer verschlangen! 69
*
West-Indien, Palast von Yashir Pankrath. Zur selben Zeit.
»Dreh den Ton lauter, Rashid.« Der jugendliche Inderin dem weiten, weißen Gewand folgte der Aufforderung ohne Verzögerung. Seine nackten Füße hinterließen kaum ein Geräusch auf dem dunkelroten Marmorboden, als er sich der Bildwand in dem ausladenden Raum näherte und den Lautstärkeregler eines perfekt dem Interieur angepassten Verstärkers hochfuhr. Angenehm verteilte sich der Ton der Nachrichtensendung über ein raffiniertes Boxensystem. »... können wir mit untrüglicher Sicherheit davon ausgehen, dass es sich um die Auswirkungen einer noch unbekannten Epidemie handelt. Die Konsequenzen sind noch nicht absehbar. Aus einigen europäischen Regionen gibt es Notstandsmeldungen; es sind Dringlichkeitsstudien bei anerkannten Forschungsinstituten in Auftrag gegeben. Die Katastrophen- und Seuchenämter fordern die Bevölkerung auf, nicht in Panik zu geraten. Die Lage würde dadurch nur verschlimmert und der Einsatz der offiziellen Kräfte behindert. Das Militär befindet sich allerorten in Alarmbereitschaft. Der Schutz der Zivilbevölkerung ist also zu jedem Zeitpunkt gesichert. Was das schreckliche Phänomen ausgelöst hat, bleibt jedoch weiter fraglich. Ebenso die Erklärung, aufweiche Weise der unerklärliche Virus jegliche normale Handlungsfähigkeit außer Kraft setzt...« Yashir Pankrath lehnte wohlig in den cremefarbenen Kissen seiner mehrsitzigen Rundecke. Entgegen seinem Vasallen zog er eine weniger traditionelle Kleidung vor, zeigte sich in dunkelblauem, weit aufgeknöpftem Seidenhemd und weißer Leinenhose. Dazu trug er schwarze Gucci-Schuhe. Es hat begonnen, flüsterten seine Gedanken. Ernst und doch auf eine seltsame Art erheitert, ließ er seine Finger über den kurz geschnittenen, gepflegten Vollbart gleiten, strich sich 70
anschließend eine Strähne des tiefschwarzen, schulterlangen Haares aus der Stirn. Nichts kann es jetzt mehr aufhalten. »Setz dich zu mir«, wies er Rashid an, der teilnahmslos seitlich des Fernsehschirms stand und ebenso reserviert Wort und Bild in sich aufnahm. Die Stimme seines Herrn jedoch konnte der Inder nicht ignorieren. »Die Männer haben gute Arbeit geleistet.« Yashir legte wie unabsichtlich - einen Arm um die Schulter seines jungen Dieners, spielte mit den Fingerkuppen an dessen Halsansatz. Rashid quittierte es mit einem Lächeln und neigte seinen Kopf, so dass seine Wange Yashir Pankraths Handrücken berührte und darüber strich. »Der Meister wird zufrieden sein«, äußerte der Jugendliche eine Bemerkung. »Ja, das wird er.« Yashir wirkte irgendwie versonnen. »Der große Plan tritt in seine Endphase. Und wir sind die Gewinner...« Rashid erwiderte nichts. Stattdessen streifte er seine weite Robe ab, unter der er vollkommen nackt war und lehnte sich an Pankrath. »... wir werden Sie weiter auf dem laufenden halten«, beendete der Nachrichtensprecher mit angenehm sonorer Stimme die Sendung. Ich kann es mir nicht vorstellen, sinnierte Yashir. Eure Zeit
ist gekommen. Sie lässt sich nicht mehr zurückdrehen.
Im selben Atemzug drehte er sich zur Seite und küsste Rashid auf den Mund. »Lass uns nach oben gehen...« *
Luft! Ich brauche Luft! Richard Jordan war von dem Angriff
der Frau völlig überrascht worden, hatte sich überlisten lassen und kämpfte sich nun - wieder einmal - durch das trübdunkle Abwasser, bis sein Kopf die Oberfläche durchstieß und er den Sauerstoff gierig einsog. Doch noch bevor er klar sehen 71
konnte, spürte der Höllenjäger den Faustschlag an seinem Kinn explodieren, fiel zurück und versank aufs neue in der schmutzigen Brühe.
Jetzt habe ich aber genug!
Es war nicht nur ein innerer Aufschrei, sondern eine Kampfansage. Und er setzte sie umgehend in die Tat um! Wie vom Katapult geschnellt stieß er sich vom Grund des Kanals empor und griff nach vorne, bekam den Hals der Widersacherin zu packen, drückte zu und schoss einen rechten Haken ab. Unter Richards Fingerknöcheln knirschte es. Er presste das Wasser aus den Augen und konnte gerade noch erkennen, dass er die Brille der unheimlichen Gegnerin zertrümmert hatte. Das Wesen strauchelte, suchte nach Halt und stolperte einige Schritte nach hinten. Blut lief aus der Nase der Frau. Verzweifelt versuchte sie, ihren Körper unter Kontrolle zu bringen. Unerbittlich hieb Jordan nach. »Lauf die Treppe weiter hoch!«, wandte sich Richard an Jessica. »Mach schon!« Zweimal noch krachte seine Faust in das Gesicht der Verwandelten. »Und ihr...« - er holte weit aus und winkte Sharon Farnham mit ihrer kleinen Tochter Carol heran - »rennt hinterher! Wartet oben, bis ich nachkomme!« »Gütiger Gott!«, stöhnte die Mutter. »Ich kenne die Frau! Sie ist mit Dan losgegangen, um einen sicheren Ausgang zu finden!« Dan Farnham!, fuhr es Richard siedendheiß durch die Glieder. Er kann nicht weit hinter uns sein! Ein kurzer Moment der Ablenkung nur. Eine geringfügige Irritation. Ein unbedeutendes Nachlassen der Konzentration. Und eine Besessene, die erbarmungslos zuschlug! Sharon Farnham schrie kurz auf, während sie Carol an sich presste und mit ansehen musste, wie es Richard Jordan mit der Wucht eines Keulenschlages erwischte. Seine Kieferknochen knackten unter dem präzisen Faustschlag von 72
Jennifer Braxton, die sich erstaunlich schnell von der Attacke des Höllenjägers erholt hatte. Richard wankte, stürzte jedoch nicht. In seinem Mund schmeckte er Blut, hob den linken Arm zur Abwehr weiterer Schläge und konterte mit dem rechten. Die kleine Carol und ihre Mutter kletterten eng aneinandergedrängt die Leiter hoch zum rettenden Vorsprung, wo Jennifer angstschlotternd kauerte. »Hoch mit dir!«, bellte Sharon verzweifelt. »Renn nach oben!« »Mami, ich kann nicht mehr...« Die Frau klatschte ihrer Tochter die Handfläche ins Gesicht und verabscheute sich dafür. Doch sah sie keine andere Möglichkeit, das Kind zum Aufbruch zu bewegen. Und es half! Mit ungläubig geweiteten Augen sprang die Elfjährige auf die Füße. »Nun lauf doch schon!«, trieb ihre Mutter sie weiter an. »Hassen kannst du mich später.« »Mum, tu ihr nicht weh!«, heulte Carol. Sie konnte noch weniger den Wutausbruch ihrer Mutter verstehen und sträubte sich ein wenig gegen deren Umklammerung. »Schatz, ich werde dir alles erklären. Aber wir dürfen jetzt keine Zeit mehr verlieren.« Ein flüchtiger Moment des Schweigens. »Vertrau mir.« »Ich - will - dir - nichts - Böses...«, hallte es durch den Gewölbegang und lief gleich einem eiskalten Schauer über Sharon Farnhams Rücken. »Aber ich dir«, erklang Richards Stimme leise und undeutlich hinter dem flüchtenden Trio. Es folgte eine Reihe von Geräuschen, die eine heftige Kampfhandlung untermalten. Sharon spürte das Blut hinter ihren Schläfen pulsieren und richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ihre Töchter, die sie um jeden Preis zu schützen gedachte. Weg! Nur weg von hier! Jede verstreichende Sekunde brachte die entzweite Familie weiter fort vom Ort des Geschehens. Dann das Ende der Treppe, eine Tür, die in die Freiheit führte. 73
Wir haben es geschafft!, jubelte Sharon Farnham. Wir sind dem Tod von der Schippe gesprungen!
Jessica war die erste, die die Tür erreichte. Unsicher blickte sie zu ihrer Mutter, wollte nichts falsch machen und sich eine erneute Ohrfeige einhandeln. Sharon schob sich an Carol vorbei, riss die Klinke herunter und stieß die Tür auf. »Jetzt wird alles gut«, sagte sie lediglich. »Bleibt bei mir.« Es war nicht der Weg in die Freiheit, sondern der Pfad in einen neuen Alptraum! *
Starr und unfähig zu einer Lautäußerung, die dem erneuten Schrecken Luft machte, der sie unvermittelt und heftig beim Anblick der Verstümmelten und demontierten menschlichen Leiber befiel, standen Sharon Farnham und ihre beiden Töchter nur unbeweglich mit geweiteten Augen da. Zumindest die Mutter spürte keinerlei Gefahr. Vielmehr empfand sie eine groteske Mischung aus Abscheu und Mitleid. Was hatte man diesen Menschen nur angetan? Gab es denn keinen Gott mehr, der solches Elend und Leid verhinderte? »Schaut nicht hin, Kinder. Ihr braucht euch nicht zu fürchten.« »Ich habe keine Angst, Mami«, wisperte Carol. »Nur ein bisschen. Weil Daddy nicht da ist und uns beschützen kann.« Die elfjährige Jessica wirkte sehr still. Als ihre Mutter sie an der Schulter berührte, schüttelte das Mädchen die Hand trotzig ab. »Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe«, begann Sharon. »Das war aber nicht, weil ich böse auf dich war. Ich hatte nur solche Angst um dich und wusste mir nicht besser zu helfen.« Ihre Stimme war leiser und stockender geworden, als die Augen der Frau sich mit Tränen gefüllt hatten. Sie ging hinter ihrer ältesten Tochter in die Knie, umfasste ihre Hüften
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und drückte den Kopf gegen ihren Rücken. Diesmal ließ Jessica es geschehen. »Ich hab' dich doch so lieb...«, schluchzte Sharon Farnham. »Ich hab' dich auch lieb, Mum«, kam es weinerlich zurück. Jessica drehte sich zu ihrer Mutter herum und umarmte sie herzlich. »Was werden wir denn jetzt tun, wo Dad fort ist?« »Daddy ist nicht fort!«, mischte sich Carol energisch ein. »Daddy kommt wieder zu uns zurück!« »Das tut er nicht. Er ist nämlich tot!« Jessica hatte sich aus der Umarmung ihrer Mutter gelöst und aus zusammengekniffenen Augen ihre kleine Schwester angeschrieen. Carol ballte die Händchen zu Fäusten, ihr Mund wurde zu einem schmalen Strich mit hängenden Winkeln. Dann schoss ihr das Wasser in die Augen, während sie am ganzen Körper zitterte. »Nein! Du lügst! Dad kommt wieder zu uns!« »Hör jetzt bitte auf!«, zischte Sharon der Elfjährigen zu und reichte Carol eine Hand, um sie zu sich zu ziehen. »Mami«, heulte die blonde Carol, »du weißt doch auch, dass Daddy wieder zu uns kommt, oder?« Sharon Farnham spürte den Kloß im Hals. Was sollte sie diesem Kind sagen, das sie flehentlich aus verweinten Augen ansah? Die ganze Szene hatte etwas Widernatürliches, ja, Bizarres, wenn man betrachtete, in welcher Umgebung sich Mutter und Töchter befanden. Doch sie nahmen diese Umgebung nicht wahr. Jedenfalls für den Augenblick. Sie waren eingeschlossen von den eigenen Problemen und diese schirmten sie vorläufig gegen die Umwelt ab. »Wir reden später darüber. Wenn wir wieder zu Hause sind.« Mehr fiel Sharon im Moment nicht ein und es hatte den Anschein, als würde die Achtjährige sich damit zufrieden geben. Lautes Poltern von der Eisentreppe her ließ die drei aufhorchen.
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»Das wird der Mann sein, der uns beschützt hat«, beruhigte Sharon die beiden Mädchen, die reflexartig zusammenzuckten. Tatsächlich dauerte es nur wenige Sekunden bis Jordan am oberen Absatz erschien und keuchend in die Halle kam. »Ihr Mann und diese Frau sind weiter hinter uns her. Ich konnte sie nicht aufhalten.« Der Student kam erst allmählich wieder zu Atem. Er schob Mrs. Farnham und deren Kinder weg von der Tür, um diese zu schließen. »Wir müssen irgendwas davor stellen.« Teilnahmslos blickte Sharon dem jungen Mann nach, der sich an einem schweren Gerätetisch zu schaffen machte, nachdem er die darauf liegenden Leichenteile achtlos beiseite gewischt hatte. »Können Sie mir kurz zur Hand gehen?«, wandte sich Richard an die Mutter. »Bitte? - Ja, sicher. Moment.« Und an ihre Töchter gerichtet sagte sie: »Und ihr bleibt hier stehen und rührt euch nicht von der Stelle. Okay?« Die Kinder nickten stumm. »Teufel, ist das schwer!«, fluchte Sharon Farnham. Richard blickte sie vorwurfsvoll an. »Sie sollten nicht solche Wörter in den Mund nehmen. Nicht an diesem Ort.« Sharon zeigte sich leicht irritiert, zerrte aber auch schon an dem Möbel, um es von der Wand weg und zur Tür hinüber zu schieben. »Das rührt sich nicht von der Stelle.« Jordan sah sich um und erspähte in einer Ecke nahe bei den Sezierinstrumenten einige Werkzeuge. Vermutlich hatte man damit ebenfalls an den Halbtoten herumoperiert; jetzt zumindest konnte Richard mit ihnen die Scharniere lockern, die an der schweren Stahlkonstruktion angeflanscht waren. »Lassen Sie es uns noch einmal versuchen«, wandte sich Richard nach getaner Arbeit an Sharon. Unter der gemeinsamen Kraftanstrengung rissen die Scharniere 76
endgültig aus dem Schranktisch. Ächzend und knirschend bewegte sich das wuchtige Inventar zur Tür und blockierte damit den einzigen Zugang von der Kanalisation her. »Das sollte erstmal ausreichen«, bemusterte Richard die Barrikade, um sich jedoch sofort den Mädchen zuzuwenden. »Wie geht es euch? Ist alles in Ordnung?« Echte Sorge sprach aus seinen Worten. »Bei mir ist alles klar«, antwortete Jessica. Carol hingegen zuckte nur die Schultern. Sie hatte deutlich gesehen, wie Richard ihren Vater geschlagen hatte; von daher wusste sie ihn nicht richtig einzuschätzen und hielt es nicht für erforderlich, die Frage zu beantworten. »Also gut«, fuhr Jordan nach einer Pause fort. »Wir befinden uns zunächst einmal in Sicherheit.« Er sah zu Sharon Farnham, die ihm gegenüber an der Stirnseite des Tisches lehnte. »Es ist an der Zeit, in Ruhe unser weiteres Vorgehen zu planen.« »Und dafür fällt Ihnen kein besserer Platz ein als diese grässliche Halle, Mister?« »Nennen Sie mich Richard. Klingt irgendwie freundlicher als ›Mister‹.« »Verzeihen Sie.« Mrs. Farnham lächelte verlegen und senkte den Kopf. Als sie Richard dann ansah sagte sie: »Ich heiße Sharon.« »Hören Sie zu, Sharon.« Jordan wirkte von einem Moment auf den anderen sehr ernst. »Auch wenn Sie es nicht glauben mögen, sind diese ganzen Geschehnisse der letzten Stunden auch für mich außerordentlich belastend und kaum nachvollziehbar. Lassen Sie uns eine Bilanz der Ereignisse ziehen - und lassen Sie es uns hier machen. Am anderen Ende der Halle befindet sich nur ein Verkaufsraum mit Blick zur Straße. Ich möchte unter keinen Umständen auf unsere Anwesenheit aufmerksam machen. Nicht jetzt. Deshalb sollten wir vorerst diese Halle nicht verlassen, auch wenn alles um uns herum scheußlich und ekelerregend ist. - Verstehen Sie das?«
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»Es hört sich vernünftig an, wenn Sie das sagen«, pflichtete Sharon ihm bei. »Obwohl mich alles dazu drängt, aus diesem Gebäude zu flüchten.« »Mir geht es nicht anders, das dürfen Sie mir glauben. Doch was wir wollen und was wir tun müssen sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Ausnahmsweise sollten wir unser Bauchgefühl ignorieren.« »Dann werde ich das auch noch tun«, seufzte Sharon Farnham. »Es ist schon schwer genug, nicht auf dieses ständige Wimmern, Schmatzen und Glucksen zu achten.« Sie wies mit dem Kinn voraus in die weitläufige Halle, wo die festgegurteten Gefolterten - dem Tode näher als dem Leben leidvolle Klagelaute von sich gaben. Körper und Gliedmaßen ließen sich nur beschränkt bewegen und verursachten in dem Sud aus Blut, Schleim und Eiter, in dem sie lagen, unangenehm wirkende Saug- und Schmatzgeräusche. Die Mutter empfand kein Grauen mehr, nur eisige Beklemmung. Die Kinder hatten sich nach außen hin abgeschottet und sahen nur die Dinge, die ihr selbst erschaffener, kleiner Horizont zuließ. »Dann lassen Sie mal hören, Richard, wie Sie sich unser weiteres Vorgehen vorgestellt haben.« Sharon machte einen regelrecht gelösten Eindruck, der sich fast augenblicklich auf ihre Sprösslinge übertrug; die Mädchen setzten sich im Schneidersitz den Erwachsenen vis-à-vis. Es störte sie nicht, dass der Boden kalt und schmutzig war. Jessica legte die Arme um ihre jüngere Schwester; merklich ließ das Zittern ihres Körpers nach. Beide richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf das folgende Gespräch. Richard bedachte die Kinder mit einem freundlichen Lächeln. »Sharon, vielleicht berichten Sie mir kurz, was sich zugetragen hat. Mir fehlen ein paar Informationen, um mir einen Gesamteindruck zu verschaffen. Wie sind Sie und Ihre Familie in diese Situation geraten?«
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»Nun, die Ökumene hat zu diesen Metten eingeladen. Die Kinder sagten es, als sie aus der Schule kamen. Wir wollten zuerst nicht hingehen, aber irgendwann haben wir uns gesagt, dass die Kinder es wohl recht aufregend finden würden. Um diese Zeit, wissen Sie...?« »Erzählen Sie weiter.« »Ja, nun, im Verlauf der Andacht wurden diese merkwürdigen Behältnisse verteilt...« Richard wurde blass, winkte knapp ab. »Schwarze, bauchige Gefäße? Mit verwirrenden Schriftzeichen oder Symbolen?« Er deutete auf ein beliebiges Regal. »So wie die da?« »Genau...« Mrs. Farnham stutzte. »Sie kennen diese Dinger?« »Nun, ja«, wich Richard aus. »Ich bin ihnen sehr nahe gekommen. Fast schon zu nahe. Ein guter Freund von mir wäre bei dieser Begegnung beinahe draufgegangen.« »Das... tut mir leid.« »Das braucht es nicht. Es geht ihm wieder ganz gut. Glaube ich...« »Ist Ihr Freund sehr schwer verletzt worden?« Jessica hatte die Frage gestellt, nachdem Carol ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte. Offenbar hatte sie nicht selber fragen wollen, obwohl sie Richard nicht mehr so ablehnend wie anfangs gegenüberstand. »Das ist er.« Richard versuchte ein Lächeln; sein Mund jedoch bildete nur einen dünnen, geraden Strich.
Wenn du dich nur melden würdest, Philip, um mir zu sagen, wie es nun weitergeht. Was mache ich mit dieser Frau und den beiden Kindern? Es ist hier viel zu gefährlich für sie und doch weiß ich keinen anderen, keinen besseren Ort. »Kurze Zeit nachdem die Behältnisse ausgeteilt wurden«, brach Sharon Farnham das unangenehme Schweigen und lenkte zurück auf das eigentliche Thema, da sie bemerkt hatte, dass Richard nicht über seine Erlebnisse reden wollte, »begannen sich die Menschen zu verändern. Es ging alles sehr 79
schnell. Dan und ich konnten mit Jessica und Carol gerade noch die Kirche verlassen, bevor sich der Kreis der Besessenen um uns geschlossen hatte. Wir liefen eine geraume Zeit durch die Kanalisation. Als die Kinder und ich eine Ruhepause einlegten, musste Dan unbedingt in Begleitung dieser Lehrerin die Tunnel erforschen, um einen Ausgang zu finden, der möglichst weit weg von der Kirche lag. Er nahm an, dort würden wir alle vor diesen Verwandelten sicher sein. Tja, den Rest kennen Sie. Völlig verändert kehrte er zurück. Er wollte sogar seinen Mädchen etwas antun. Er war nicht mehr er selbst. Nur sein Äußeres gaukelte mir noch den Mann vor, den ich in Erinnerung hatte... nur sein Äußeres...« Sharon lehnte sich nach hinten und legte den Kopf zwischen die Schultern. Eine ganze Weile verharrte sie in dieser Position. Nur Richard Jordan wusste, dass sie ihre Tränen vor ihren Töchtern verbarg. Der Student wechselte einige Sätze mit den Kindern, erkundigte sich nach der Schule, ihrem Zuhause, Hobbys und ähnlichem. »Wie soll es jetzt weitergehen?« Mrs. Farnham unterbrach die Unterhaltung. Ihre Stimme war belegt; aus geröteten Augen fixierte sie Richard. Der hob die Brauen, stand auf und massierte flüchtig seine Knie. Geräuschvoll atmete er ein und sofort wieder aus. »Ich kann es Ihnen beim besten Willen nicht sagen, Sharon.« Der Siebenundzwanzigjährige breitete hilflos die Arme aus. »Ich habe eine Menge übler Sachen erlebt und nur mit viel Glück und fremder Hilfe überlebt. Aber momentan sieht es so aus, als seien uns alle Wege in die rettende Freiheit abgeschnitten. Es geht weder vor noch zurück. Der Kontakt zu meinem Freund, dem einzigen Menschen, der uns helfen könnte, ist abgebrochen. Seine Hintermänner kann ich ebenfalls nicht erreichen. Mein Zuhause ist auf Dauer auch nicht der geeignete Aufenthaltsort, abgesehen von der Tatsache, dass ich gar nicht wüsste, wie wir es ungeschoren erreichen könnten. Und wenn ich Ihre Schilderung richtig
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deute, dann gibt es vielleicht schon auf der ganzen Insel keinen sicheren Ort mehr.« »Gott stehe uns bei«, flüsterte Sharon. Sie ahnte, wie die Zukunft aussah: Es gab keine Rettung! Nirgendwo! Nur ein qualvolles Hinauszögern des Unvermeidlichen. Auf den Knien rutschte sie zu ihren Töchtern herüber und nahm sie beide gleichzeitig in die Arme, drückte sie fest an sich und spürte die Kinderhände und -arme auf ihrem Körper, die auch sie fest umschlangen.
Ich will euch nicht verlieren! Nicht so wie Dan! Ihr müsst immer bei mir bleiben und ich immer bei euch!
»Verflucht!« Jordan fuhr das Poltern durch Mark und Bein, als am gegenüberliegenden Ende der Halle die Tür aufflog, durch die man in das Antiquitätengeschäft gelangte. Schützend stellte er sich vor die am Boden kauernden Farnhams. Die verdammte Tür war doch verschlossen!, wunderte sich Richard. Dann bemusterte er unbehaglich das Kind, das aus großen Augen - in einem grausig verdrehten Kopf - seinen Blick erwiderte. »Du«, sagte der Junge ansatzlos, »ich kenne dich.« Eine Stimme ohne Regung und Emotion. »Jetzt kannst du nicht mehr davonlaufen.« * Zuerst war Richard verwirrt. Was sollte das? Natürlich kannte der Junge - oder was immer er gegenwärtig darstellte - ihn. Allmählich aber begriff der Student, dass der Zusammenhang ein ganz anderer war. Und dieses Etwas, das aus dem Munde des Kindes sprach, bestätigte die Vermutung mit seinen nachfolgenden Worten. »Zwischen uns... gibt es eine unsichtbare Bindung. Ich spüre sie, aber kann sie nicht beschreiben. Und ich fühle die Anwesenheit von anderen, die so sind wie ich...« Die Worte, 81
die der Kehlkopf des Schülers formte, hatten nichts von ihrer maschinell-monotonen Wirkung eingebüßt. »Sie sind überall, aber sie sind nicht mehr sehr viele. Mein - Freund - hat sie vor mir verborgen. Doch nun hat er seine Macht über mich verloren.« Der Junge wirkte abwesend, ließ den Blick durch die Halle schweifen, über die Verstümmelten, die Toten und die, die einfach nicht sterben konnten, bis er Richards Gestalt im Fokus hatte. »Das ist - sein Werk...« In Jordan schlugen Alarmglocken an. Wen meinte der Besessene? Wollte er zum offenen Schlagabtausch übergehen? Verhielt er sich absichtlich so zurückhaltend, um ihn in Sicherheit zu wiegen und dann mit elementarer Macht zuzuschlagen? »Bleib schön stehen, wo du bist«, raunte Richard. Sein Körper spannte sich. Er wusste, wozu der Kleine in der Lage war und wollte nichts riskieren. Schon gar nicht wollte er Sharon Farnham mit ihren beiden Töchtern in Gefahr bringen. »Ich weiß, wer das Dunkel bringt«, folgte die dumpfe Entgegnung. Das Kind setzte sich mechanisch in Bewegung auf Richard zu! Meint er mich? Richard spürte den Druck im Magen. Er würde auch jetzt im Ernstfall keinerlei Skrupel zeigen und versuchen, den Jungen zu vernichten. Er redete sich immer und immer wieder ein, dass er keinen Menschen tötete, sondern ein Wesen, das diesen Körper lange zuvor seiner Menschlichkeit beraubt hatte. Im Endeffekt stand vor ihm ein Toter, dem von finsteren Mächten unheilvolles Leben eingehaucht worden war. »Geht zurück bis an die hinterste Wand und sucht zwischen den Tischen und Schränken Schutz«, wandte sich Richard an seine drei Schützlinge. Auch er selbst wich mit ihnen einige Schritte zurück, blieb dann jedoch stehen und gebot Sharon mit einer Geste, weiter zurückzugehen. Wenn er wirklich die Waffe einsetzen musste, die als kupferfarbenes Halboval in der Innentasche seiner arg mitgenommenen Jacke ruhte, dann durfte kein Mensch in ihrem unmittelbaren 82
Wirkungskreis stehen. Schon tasteten sich seine Finger vor, um blitzschnell den unbegreiflichen Gegenstand herausholen zu können und ihn auf den Feind zu richten. Wenn er sich intensiv auf das Objekt konzentrierte, so mutmaßte der Student, dann sollte es ihm gelingen, den ›Abzug‹ zu betätigen. »Komm mir nicht zu nahe!«, zischte Richard gefährlich leise. Der Siebenjährige versuchte seinem Gesicht einen fragenden Ausdruck zu verleihen. Irgendwie misslang es ihm, diese Empfindung glaubhaft zu übertragen. Weiter setzte er einen Fuß vor den anderen. »Verdammt! Jetzt bleib doch stehen!« Jordans rechte Hand war in der Jackentasche verschwunden, klammerte sich um die Waffe, deren Metall anziehend warm in seiner Handfläche lag. Ein einfacher Reflex nur und er würde sie ziehen und abzufeuern versuchen. Nein! Der Sohn des Archäologen ließ den Gegenstand los, als hätte er sich daran verbrannt. Ich kann es nicht tun! Nicht
schon wieder! Er ist ein Kind! Nur ein Kind!!!
Ließ er sich von der harmlosen Erscheinung, mit der das abgrundtief Böse ihm entgegentrat, wahrhaftig täuschen? Woher kam sein plötzliches Mitleid? War sie Ausdruck seiner Menschlichkeit oder geschickte Einflüsterung teuflischer Entitäten? Wie konnte er das eine von dem anderen trennen? Wie sollte er die Wahrheit erkennen, ohne sich unabsichtlich zur Schlachtbank zu begeben...? Seine Gedanken jagten sich wie durch heftig bewegten Lichtschein huschende Schatten an Häuserwänden. Dennis Foucheaux näherte sich langsam, aber unaufhaltsam. Richards Worte schien er zu ignorieren. Leise klackten die Schuhe des Kindes auf dem Hallenboden. KA - LACK! KA - LACK!
Was, zum Teufel, soll ich tun? KA - LACK! KA - LACK!
Wie er mich anstarrt!
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MAMI! ICH HABE ANGST!
Carol und Jessica! Ihnen darf nichts geschehen!
KA - LACK! KA - LACK! Näher! Immer näher! ER WIRD UNS TÖTEN! Sharon! Ein Blick über die Schulter. Euch darf nichts
geschehen!
KA - LACK! KA - LACK! HILFE! BITTE! HILFE!
Gott steh mir bei! Ich will nicht töten! Aber... - Himmel! Diese Augen! KA - LACK!KA - ...
ICH KANN ES NICHT MEHR ERTRAGEN!!!
... LACK! Richard Jordan explodierte! Sein Schrei ließ das besessene Kind in der Bewegung erstarren; auch Jennifer, Carol und ihre Mutter standen im Bann des Augenblicks, der ihren Beschützer in einen Berserker verwandelte, der mit bloßen Händen die Regale von den Wänden riss, die sorgfältig abgestellten und eigenwillig beschrifteten Urnen hinwegfegte, dass sie laut berstend am Boden zerschellten und ihren grausigen Inhalt freigaben. Das schwarze Plasma zuckte wild gleich Würmern auf kochendem Wüstengrund. Eigenartigerweise kam es dem Tobsüchtigen nicht nahe und auch nicht der Frau mit ihren Mädchen. Auf einen Außenstehenden wirkte es, als hätte Jordan eine Art Schutzwall um sich herum errichtet, der von den schwarz pulsierenden Plasmatentakeln nicht durchdrungen werden konnte. So spritzte die schreckliche Masse umher, zerfiel in unzählige kleine Fragmente, die sich wiederum in winzige Teertropfen zersetzten und schließlich nichts mehr waren als tote Schlacke. Kurz darauf kniete Richard erschöpft nieder. Er hatte lange nicht alle Gefäße zerstört, doch sein Wutausbruch, der dramatischer Gradmesser seiner Verzweiflung war, hatte sich gelegt und dabei erheblich an seinen Körperkräften gezehrt. Lungen und Muskeln waren ausgebrannt. Auf den Augäpfeln 84
lastete ein schmerzender Druck, der Richard rote Schlieren und helle, blitzende Lichter vorgaukelte. Sein Gehör hingegen arbeitete ohne Beeinträchtigung. Und es leitete Informationen an das Gehirn weiter, die eine Welle frostigen Schauderns auslösten. Richard saß auf allen vieren, den Kopf gesenkt, beinahe unfähig, in irgendeiner Weise bewusst auf das dumpfe Klopfen und Stampfen in seinem Rücken und das träge Schlurfen vieler Dutzend Füße weit vor sich aus Richtung des Antiquitätenladens zu reagieren. Er wusste nur zu genau, was gerade um ihn herum vor sich ging.
Die Besessenen! Sie kommen rein! Von allen Seiten! Sie haben uns gefunden und kreisen uns ein. Wenn sie erst die Blockade an der hinteren Tür erst durchbrechen...! Er dachte
den Gedanken nicht zu Ende. Alle Energie aufbietend ballte er die Hände zu Fäusten und stützte sich auf den Knöcheln ab. Angestrengt versuchte er, die Schleier vor den Augen zu vertreiben. »Richard!« Das war Sharons Stimme. »Ich bin bei der Hintertür. Noch hält sie! Kümmern Sie sich um die Typen vor Ihnen!« Die Mutter im Zusammenspiel mit ihren Töchtern bauten die Absperrung weiter aus, stapelten mehr und mehr Gegenstände vor. Es würde nicht lange halten, zumindest aber für etwas Aufschub sorgen. »Machen Sie weiter, Sharon!« Richard spürte die Lebensgeister in sich erwachen. Das beherzte Eingreifen der Farnhams spornte ihn an. »Ihr drei seid klasse!« Der 27jährige federte hoch und erfasste auf einen Blick die Lage. Dennis stand unschlüssig da, drehte sich zu der Horde Besessener um, die insektengleich aus dem Vorraum in die Halle strömten; ihre Zahl war schwer abzuschätzen, die Übermacht hingegen erdrückend und deutlich sichtbar. »F-R-E-U-N-D-E-!«, hallte das Wort in grausiger Verzerrung aus zahllosen Kehlen. Das Kind schaute wieder hinüber zu Richard. War es Angst, die sich in seinem Gesicht zeigte? Beinahe flehentlich 85
kam ihm der Blick aus den pechschwarzen Augäpfeln des Kindes vor. Ich habe keine andere Wahl!, sagte er zu sich selbst. Ich
muss die Waffe aus der Siegelkammer einsetzen. Ich bete, dass ich dazu in der Lage bin...
»Sharon! Gehen Sie in Deckung! Hier ist gleich die Hölle los!« Das Artefakt lag weich in seinen Händen. Über die ausgestreckten Arme hinweg visierte Richard den Tross der unheilig Beseelten an. Sie schoben sich zielstrebig an Dennis vorbei, waren nur noch etwa dreißig Schritte von Jordan entfernt. Die Distanz verringerte sich zusehends. »F-R-E-U-N-D-E-!«, spie es der satanische Chor seinem ärgsten Widersacher dröhnend entgegen. Die furchtbare Sinnverkehrung des Wortes in Anbetracht der Situation verlieh ihm eine ungleich tiefgreifendere Resonanz. Ja... Freunde, wiederholte der Höllenjäger. Wird Zeit euch
dahin zurückzuschicken, von wo ihr niemals hättet herkommen sollen.
Der Mann schloss die Augen, sah das geistige Abbild der Waffe erscheinen und formulierte einen stummen Befehl. Der Befehl hing als rotierendes Kugelgebilde in der Luft. Richard hielt die Luft an, konzentrierte sich auf die Materialisation seines Gedankens und schuf eine mentale Verbindung zu dem rotmetallischen Artefakt, das er auf diesem Wege aktivieren wollte. Seine Sinne zeigten ihm durch die geschlossenen Lider die Annäherung der Todesschwadron. Noch zwanzig Schritte! Fünfzehn! Zehn...! Richard Jordan feuerte den Aktivierungsbefehl ab! * ... und es geschah - nichts! 86
Der Student riss die Augen auf. Verständnislos stierte er auf das kupferfarbene Halboval in seinen vorgestreckten Händen. Die Situation kam ihm bekannt vor und genauso wenig wie damals fand er sie besonders passend. Schon konnten die ersten Besessenen praktisch nach ihm greifen, ohne den jungen Mann allerdings zu berühren. »Helfen Sie uns, Richard!«, schallte die Stimme Sharons herüber. »Die Biester sind gleich durch die Tür! Ich kann die Barrikade nicht länger stützen!« Dass sie es überhaupt konnte, grenzte an ein Wunder und war natürlich hoffnungslos übertrieben. Sharon Farnham lehnte lediglich gegen das monströse Möbelstück, das sich ihr immer mal einige Zentimeter entgegen schob, wenn die Masse der Besessenen dagegen anrannte und bildete sich ein, es auf diese Weise zurückzuhalten. Panik! Allein dieser Begriff war annähernd in der Lage zu beschreiben, was jetzt gerade in Richard Jordan vorging. Zwei, drei Schritte ging er rückwärts, um den zuschnappenden Klauen der Veränderten zu entgehen. Ihre Haltung war mehr als offensichtlich; ihre Unruhe entgegen ihres sonstigen Verhaltens bedrohlich. Richard wusste nur zu gut, dass diese Generation von Verderbten schon kein Schwarzplasma mehr brauchte, um andere zu infizieren. Ihre Körper bildeten nunmehr Behausungen für ihren grausigen Wirt, der von jeder Faser, jedem Muskel und jeder Zelle Besitz ergriff, bis der Leib vollständig aufgezehrt war. So waren unter den Virusträgern auch die unterschiedlichsten Stadien der Verzehrung und Zersetzung zu erkennen. Einige waren kaum mehr in der Lage, den zerfressenen Körper zu dirigieren oder mit den anderen Schritt zu halten. Doch alle diese Kreaturen hatten dasselbe Ziel, wurden von demselben Gedanken angestachelt, den der apokalyptische Dämon Amalnacron ihnen eingepflanzt hatte: Tod den Höllenjägern! Tod Richard Jordan! Tod allem, was lebt!
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Dieser Gedanke hatte eine Macht und zwingende Allgegenwärtigkeit, dass in Richard neben einer ihn plötzlich befallenden Beklemmung ein unglaublich starkes Gefühl der Übelkeit hochkam. Einher damit ging die übermäßige Freisetzung von Adrenalin und Testosteron, die die Aggressivität und den Kampfeswillen des 27jährigen von null bis weit über den Maximalpegel ausschlagen ließen. Nur für aberwitzige Bruchteile von Sekunden verwandelte sich Jordans Inneres in eine brodelnde Zone kochenden Hasses und weit außerhalb jeder Kontrolle stehende Blindwütigkeit. Hinzu kam der Schock der Ausweglosigkeit, gepaart mit der Verzweiflung, seine Schützlinge nicht vor einem grässlichen Ende bewahren zu können. Verzerrte Fratzen, schwarz geifernde Mäuler, tote Augen überall um ihn herum! Der kleine Junge mit den gebrochenen Halswirbeln war längst zwischen den Leibern der Satansmarionetten verschwunden. Krachen. Bersten. Im Anschluss ein Schrei: »Oh Gott Richard! Sie sind durch!« Dann eine blendende Entladung! Ein unerklärlicher Effekt ließ das gleißende Licht aus der Waffe in Richards Händen vor dessen Augen sich in eigentümlich verlangsamter Weise ausdehnen, ähnlich der kreisförmigen Wellenbewegung auf einem Weiher, in den man einen Stein geworfen hat. Auch war diese rätselhafte Erscheinungsform begleitet von absoluter, beruhigender Lautlosigkeit. Eine Oase des Friedens breitete sich in kugelförmiger Gleichmäßigkeit aus und radierte das Grauen behutsam aber nachhaltig aus. Die gleißende Aura überstrahlte die fleischgewordene Finsternis in Form der Horden von Besessenen, fraß sich wie glühender Stahl durch arktisches Eis. Richard nahm ein Gefühl der Geborgenheit in sich auf, wie er es noch niemals zuvor erlebt hatte. Der Zeitlupeneffekt dehnte das tatsächliche Geschehnis in physikalisch widersinniger Weise aus, kreierte eine Zone, die den 88
naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten nicht mehr unterworfen war - und kehrte sich mit irrsinniger Geschwindigkeit und elementarer Wucht wieder um! Das Echo eines Granatwerfers, hundertfach von vibrierenden Metallwänden und turmhohen, schwingenden Resonanzkörpern zurückgeworfen, schmetterte Richard in den Pulk der kanalseits eindringenden Infizierten, die jedoch während des Aufpralls schon von der Strahlung des Artefakts zu Staub zerrieben wurden. Vernichtungswelle um Vernichtungswelle ergoss sich in die Halle, löschte alles unheilige Leben aus und ließ nur verbrannte Gebeine und rußige organische Fragmente zurück. Richard gelang es nur unter Strapazen, sich von dem metallischen Gegenstand zu lösen, der in derselben Sekunde, als er keinen Kontakt zu dem Jungen mehr hatte, sein Zerstörungswerk einstellte.
Was ist mit mir?
Ein eigenartiges Gefühl erklomm den Gipfel seiner Wahrnehmung. Nicht das Chaos um ihn herum stand im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit; er war es selbst. Fasziniert und erschrocken bemerkte er die Veränderung. Er sah hinüber zu den zerfetzten Menschenleibern, die lediglich bedeutungslose Einzelteile einer ehemals wunderbaren Schöpfung darstellten. Lag dort vorne nicht der abgerissene Kopf des kleinen Jungen und zeigten sich nicht gerade jetzt - im Tode - jene friedlichen Züge, die ihm zu Lebzeiten immer versagt geblieben waren? Es war, als lächelte er sanft. Die Seele hatte auf dem sterbenden Körper ihren Abdruck hinterlassen und war gegangen. Schnell noch sah Richard herüber zu Sharon Farnham, zu der achtjährigen Carol und ihrer drei Jahre älteren, großen Schwester Jessica. Die furchtbare Gewalt der Waffe aus der Siegelkammer schien sie nicht oder kaum berührt zu haben. Diese Eindrücke hatte der Sohn des Höllenjägers in nur wenigen, knappen Momenten in sich aufgenommen. Und mehr Zeit war ihm auch nicht verblieben, denn die Halle mit allen 89
Personen und mit allem, was sich darin befand, löste sich unter seinem verständnislosen Blick in ein milchiges Nichts auf. *
Impressionen VII
Es hat ihm keine Mühe bereitet, der Spur seines einstigen Feindes - seines eingeredeten Feindes! - zu folgen. Es spürt diese Schwingungen, die neu und verwirrend, andererseits auch vertraut und beschwingend sind. Es fällt ihm nun unendlich viel leichter, zwischen dem Fremden und dem Mann namens Jordan zu unterscheiden. Dieser Jordan ist nicht böse. Er ist ganz anders als der Fremde, dessen Namen er nie erfahren AMALNACRON!, wispert es in seinem Innern. Es sind die Einflüsterungen jener, die so sind wie er. Die wenigen, die noch existieren. Nun kann er sie hören, denn der Fremde sein Befreier aus dem Kerker der Ewigkeiten und sein neuer Wärter im Gefängnis allverhüllender Finsternis - spricht nicht mehr zu ihm. Irgendwann ist er ganz leise geworden, um schließlich für immer zu verstummen. Jetzt steuert es den Körper des kleinen Dennis auf jenes Gebäude zu, von dem ihm bereits von weitem der Odem des Bösartigen entgegenschlägt. Dieser Empfindung wohnt eine reinigende Ehrlichkeit inne, die ihm eindeutig sagt, dass diese seine Bewertung die einzig richtige ist. Es geht zügig durch den Verkaufsraum, öffnet am anderen Ende eine Tür und weiß bereits Richard Jordan dahinter. Noch während das Kind die Klinke herunterdrückt, ist es freudig erregt, denn es möchte sich dem jungen Mann mitteilen und ihm sagen, wie sehr ihn diese tiefe Bindung zwischen ihnen beiden freut. Es versucht diese Gefühle anhand seiner Mimik und mit Worten zu vermitteln, merkt aber dabei, dass die Möglichkeiten seiner Artikulation weiterer Übung bedürfen. So 90
sieht es wohl auch Jordan, der ihm eher feindselig als freundlich gesonnen entgegentritt. Es ist so dankbar, den einen Menschen gefunden zu haben, zu dem es sich hingezogen fühlt - und wieder führt die Verlautbarung des Gedankens bei seinem Gegenüber zu weiterer Ablehnung. Da ist dieser... Gegenstand. Es nimmt die warnenden Worte Jordans auf, als es sich ihm nähert, schenkt ihnen jedoch keine Beachtung. Und plötzlich gebärdet sich der Mann gleich einem Tollwütigen, schreit, rennt und zerschlägt alles mit bloßen Fäusten. Das Siegelbewusstsein im Körper des Siebenjährigen erstarrt in schierer Fassungslosigkeit. Hat es bei dem Menschen diese Reaktion hervorgerufen? Es hat keine Zeit, nach einer Antwort zu suchen. Die Schergen seines einstigen Freundes, dessen Namen Amalnacron - es nun kennt, sind erschienen, um das begonnene Werk zu vollenden und fortzuführen, was es selbst nicht bewirken konnte: die Auslöschung Richard Jordans! Es ist verzweifelt und ertastet diese starke Emotion auch bei seiner Kontaktperson. Aber was kann es tun? Klein und hilflos ist es, ausgestattet mit viel zu schwachen Kräften, um sich Dutzenden, ja, Hunderten von Dienern Amalnacrons entgegen zu werfen. So bleibt es stehen in dem Meer sich vorbeidrängender Verfluchter, die ihm die Sicht und Bewegungsfreiheit nehmen. Soll denn alles so sinnlos enden, jetzt, nachdem es sicher ist, seine Bestimmung gefunden zu haben? Amalnacron hat ihn aus dem Alptraum des Dahinsiechens befreit, nur um ihn in einen wesentlich schlimmeren Alptraum zu stürzen. Und nun, da es seine anfängliche Befangenheit abgestreift hat, um eine neue Sinnhaftigkeit zu erlangen, da werden alle Hoffnungen unbarmherzig aufs neue zerstört. Das Kammerbewusstsein ermattet allmählich. Die Fragen beißen sich in den eigenen Schwanz; die Antworten sind fern jeglichen Verständnisses.
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Ein Licht erstrahlt! Hell und weiß und von ehrfurchtgebietender Reinheit! Es ist so schön, denkt es und ein neuer Funken Hoffnung wird entzündet, der die Mattigkeit bedrängt und schließlich vertreibt. Es spürt nicht, dass der kleine Dennis Foucheaux wie alle anderen Gestalten zerrissen wird. Es spürt einzig diesen Impuls. Und dieser Impuls löst eine lange verborgene Reaktion aus. Ich bin da!, antwortet der Siegelgeist bestimmt und nimmt seine ursprüngliche Funktion auf. Der Reisende wird
transferiert.
Bevor der Donner der abgefeuerten Waffe gänzlich verhallt ist, zerfließt die Umgebung in dicken Schlieren gelöster Raumzeit. * »Exakt 4:16 a.m.«, bellte Gregory Andersen - lauter, als er es eigentlich vorgehabt hatte. Niemand auf den vier Ebenen der gewaltigen Halle weit unter dem Fundament des Herrenhauses quittierte seine Bemerkung auch nur mit einem flüchtigen Nicken; doch alle Mitarbeiter des Stabes, die durch den PurpleAlert aktiviert worden waren, hatten sie registriert. »Die Lage spitzt sich dramatisch zu, Mr. Cartlewood«, ergänzte er in gemäßigterem Tonfall. »Die biosensorischen Werte in Verbindung mit der zerebralen Tomographie von Jordan lassen darauf schließen, dass er unter der gegenwärtigen Stresssituation kollabieren könnte. Oder er macht erneut Gebrauch von der... Waffe! Unter gewissen Umständen könnte er dem Siegelbewusstsein damit schaden.« »Mir ist durchaus bewusst, dass das nicht geschehen sollte!«, meldete sich Denningham-Cartlewood. Angenehm sonor drang die vom Computer nachempfundene Stimme aus den Lautsprechern. »Wenn jedoch der Transferimpuls zu früh kommt, wird er wirkungslos verpuffen.« 92
Die Sekunden flossen zäh dahin, in denen niemand wagte, einen Laut von sich zu geben. Das Surren der Hochleistungsrechner und Klackern der Tastaturen sowie das unterschwellige Summen von Energiezuleitungen bestimmten einzig die Geräuschkulisse. »Biosensorische Daten kritisch! Zerebrum-Scan alarmierend!« Wieder war es Gregory Anderson, der das Wort ergriff. In seiner Funktion als Projektleiterund Sicherheitskraft gehörte es zu seinen Aufgaben, permanent Statusberichte durchzugeben und auf Risiken und Gefahren hinzuweisen. »Sir, Jordan kann jede Sekunde abfeuern. Geben Sie den Impuls...!« »Warten Sie noch«, gebot der Mann in der Plexiglasröhre. »Es darf keinen Fehler bei der Justierung geben.« Bei dem Impuls handelte es sich um ein Stimulans, das einen niederfrequenten Schwingungsstrom initiierte, der das Siegelbewusstsein anregte, einen Ebenensprung vorzunehmen und als Transportmedium - in diesem Fall nach Col'Shan-duur - zu dienen. Anderson waren diese Umstände durchaus bekannt, die allerdings erst nötig geworden waren, seit das Transfernetz durch die beeinträchtigte Funktion der Siegelkammern immer löchriger geworden und unsicherer zu bereisen war. Sein Drängen zielte auch nicht darauf ab, sich offenkundig aus der Verantwortung stehlen zu wollen, sollte trotz seiner Warnungen etwas schief gehen. Eher im Gegenteil: sein Pflichtbewusstsein legte es ihm schon als unumgängliche Bürde auf, in jedem Fall die Konsequenzen zu tragen. »Bitte, Sir! - Der Impuls...« »Fokussierung unzureichend!«, kam es aus der taktischen Koordination wie als Antwort auf eine unausgesprochene Frage Denningham-Cartlewoods. »Streuwirkung über Toleranz!« »Modulation des Schwingungsstroms abweichend von Frequenzmatrix. Neuberechnung läuft.«
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»Beeilen Sie sich, Miss Stratford«, flüsterte Gregory Anderson in sein Kehlkopfmikrofon. »Wir haben nur eine Chance.« »Und die werden wir nutzen.« Es war die computergenerierte Stimme des Industriellen. Auch wenn dessen Gedanken von der angeschlossenen Rechnereinheit flexibel interpretiert wurden und der Tonfall nicht unbedingt der Intention entsprach - diesmal weckten die Worte Hoffnung. Und dann ging es Schlag auf Schlag. »Feinjustierung matrixkonform und arretiert!« »Schwingungsfokus stabil!« Anderson hörte die Kommandos und blickte gleichzeitig auf seine Ortungsanzeige und die verwirrende Folge verschiedenfarbig blinkender Biodaten.
Jetzt ist jeder Atemzug entscheidend! Jordan verliert die Nerven!
Äußerlich blieb der Security-Mann gelassen. Stirn und Handflächen blieben trocken; selbst der Puls beschleunigte nur minimal. »Mister Cartlewood...«, sagte Anderson wie als Aufforderung. »Das wäre ein guter Zeitpunkt.« Der Mann in der Röhre, dessen Körper allein durch hochkomplexe Maschinensysteme am Leben gehalten wurde, der blind, taub und stumm eher ein Fremdkörper denn ein Bestandteil unserer Gesellschaft war, stand unter einer Anspannung, die kein Mensch, der nur den sensorischen Wahrnehmungen seiner fünf Sinne vertraute, auch nur im entferntesten hätte nachvollziehen können. Er war der Steuermann auf einem Schiff, das in sturmgepeitschter See auf ein Riff zuhielt. Jetzt musste zum richtigen Zeitpunkt das richtige Kommando erfolgen. Dann die Erlösung: »Geben Sie den Transferimpuls!« *
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Eine Pegelscheibe rastete ein. Der Druckschalter in ihrer Mitte löste den Sequenzstart aus. »Was können Sie sehen, Andersen?« Sir DenninghamCartlewood hatte die Frage gestellt. »Das Stimulans hat das Kammerbewusstsein aktiviert.« Er stockte. »Weiter! Hat es auf Jordans Strukturdaten reagiert? Hat es ihn transferiert?« Gregory Anderson gab nicht sofort eine Antwort. »Reden Sie, Anderson! Ist da etwas nicht in Ordnung?« »Nein, nein, Sir!«, beschwichtigte der Projektleiter, um kurz darauf einzuräumen: »Ich glaube es jedenfalls. Zu Ihrer und unser aller Beruhigung kann ich sagen, dass Jordan unterwegs ist.« »Aber trotzdem beunruhigt Sie eine Sache.« »Nun ja, Sir. Richard Jordan ist nicht der einzige, den das Siegelbewusstsein im Schlepptau hat...« »Das ist... völlig unmöglich!«, kam es zögerlich und diesmal hatte der Computer genau die passende Stimmlage getroffen. »Das Bewusstsein ist in jeder Hinsicht auf den jungen Jordan geeicht! Selbst Amalnacron besitzt keine Möglichkeit, daran auch nur das geringste zu manipulieren!« »Es sind zwei energetische Fangarme ausgebildet worden«, berichtete Gregory Anderson fasziniert weiter. »Einer über maximal fünf, sechs Meter. Der andere... Himmel! Die Anzeige hat ihn nicht darstellen können! Die Aufzeichnungswiederholung gibt den Zielpunkt nicht wieder.« Cartlewood gab keinen Kommentar ab. Seine übrigen Mitarbeiter schwiegen ebenfalls. »Wenn ich nur wüsste, was das zu bedeuten hat«, sagte Anderson mehr zu sich selbst. Bedächtig schüttelte er den Kopf und fügte resigniert hinzu: »Ich habe den Eindruck, als wären unsere Probleme gerade unverhältnismäßig angewachsen...« Niemand widersprach.
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*
Eine halbe Stunde vorher, etwa 800 Kilometer südöstlich
Unruhig wälzte sich Dominique Beaumont in ihrem Bett von einer Seite auf die andere. Sie war schon recht früh schlafen gegangen, hatte jedoch die meiste Zeit wach gelegen. Wenn sie für eine Stunde weggedämmert war, dann mochte das schon viel gewesen sein. Die junge Französin strampelte die Daunendecke von sich herunter, streckte alle Viere von sich und starrte seufzend an die Decke. Es war zum Verrücktwerden. Sie spürte mehr als deutlich das kribbelnde Gefühl unter den Lidern und die damit einhergehende Müdigkeit. Aber - zum Henker - einschlafen konnte sie partout nicht. Einen klaren Gedanken zu fassen gelang ihr allerdings ebenso wenig. Es nützte nichts. Sie schwang die Füße aus dem Bett und setzte sich auf die Matratzenkante. Schließlich stand sie auf, rieb sich kurz die Augen und schlurfte in die Küche. Im Kühlschrank griff sie nach einer Flasche Mineralwasser und trank einige Schlucke. »Morgen im Büro bin ich wieder wie gerädert«, murmelte die hübsche Frau mit dem kecken Kurzhaarschnitt unverständlich vor sich hin. Sie nahm sich einen Stuhl, stellte ihn vor das weit geöffnete Wohnzimmerfenster, hockte sich breitbeinig darauf - die Stuhllehne zum Abstützen vor der Brust - und schaute verträumt auf den Quai Claude Bernard. Von ihrer Wohnung im dritten Stock des Eckhauses auf der Rue d'Aguesseau hatte sie einen fantastischen Ausblick auf die Uferpromenaden der Rhone. Das Klima am frühen Morgen dieses 15. Oktobers war für die Jahreszeit sehr mild; Dominique Beaumont war lediglich mit Slip und T-Shirt bekleidet. Was war nur alles geschehen in den letzten Tagen! Schaudernd dachte sie an die Unordnung und Zerstörung in ihrer kleinen Wohnung. Sie hatte beileibe noch keine Zeit gehabt, die Schäden alle zu beseitigen, schließlich war sie erst vorgestern von der Privatmaschine der D. C. RESEARCH auf 96
dem Flughafen abgesetzt worden. Gott, wenn sie überlegte, dass - wie immer es sich auch zugetragen haben mochte - sie drei Wochen in dieser fremden Dimension verbracht hatte, obwohl subjektiv maximal ein Tag vergangen war, dann wollte sich die Französin vor Verzweiflung die Haare raufen. Hätte Philip Ravenmoor sie nicht schonend auf die Wahrheit vorbereitet, sie wäre unter Garantie halb wahnsinnig geworden. Als erstes hatte sie nach der Landung ihren Freund Pierre aufgesucht, dabei noch an die drei Stunden vor seiner Wohnungstür gewartet und das nur, um sich kurzerhand den Laufpass einzufangen. - C'est la vie! Die Angelegenheit mit der Bank war gleichfalls noch nicht ausgestanden. Aus ihrem Briefkasten hatte sie sich die Kontokündigung gefischt mit der dringenden Aufforderung, den Überziehungskredit umgehend zurückzuzahlen. Das kam schon einer mittleren Katastrophe gleich - der Stichtag war nämlich letzte Woche abgelaufen. Bisher hatte Dominique sich also eher mit den realen Dingen in dieser Welt beschäftigt. Jetzt kehrte bemüht vorsichtig die Einsicht ein, dass die negativen Ereignisse der Gegenwart ihren eigentlichen Ursprung in übernatürlichen Geschehnissen der unmittelbaren Vergangenheit fanden. Sie war gewaltsam aus ihrer Wohnung... entfernt worden. Anders konnte man den gespenstischen Vorgang nicht beschreiben, der bei der bloßen Erinnerung eine Gänsehaut auf Dominique Beaumonts Körper hervorrief. Ihr ganzes Leben war aus den Fugen geraten - weitaus schlimmer, als sie es jemals für möglich gehalten hatte. Und niemand hatte eine halbwegs vernünftige Erklärung abgeben können, warum ihr das alles zugestoßen war. Auch Richard nicht. Richard... Auf jedem einzelnen Buchstaben lag eine eigentümliche Betonung. Die junge Frau hatte genau gespürt, dass da etwas zwischen ihnen beiden war. Etwas, das ganz anders war als bei ihr und Pierre. Keine Liebe. Oder leidenschaftliches Begehren. Nein... anders! Ein Band. Eine 97
Verbindung, die metaphysischer Art war. Als hätten sich zwei Seelen gefunden, die viel zu lange voneinander getrennt gewesen waren. Merkwürdig, sinnierte Dominique seltsam berührt. Dass ich das gerade gedacht habe. Zwei verwandte Seelen... Ein Hauch der Ewigkeit streifte sie bei diesem Gedanken. Und sie wusste mit untrüglicher Sicherheit, dass Richard Jordan ebenso empfand. Sie hatte es in seinen Augen gesehen. Seine Verwirrung über diesen unerklärlichen Zustand konnte nicht kleiner sein als die ihre. Von St. André tönte Glockengeläut. Viermal. »Herrje! Ich muss ins Bett. Vielleicht kann ich doch noch ein, zwei Stunden die Augen zu machen.« Aber nein, sie war jetzt zu aufgekratzt. Sich schlafen zu legen hätte keinen Sinn gehabt. Also griff sie nach der Fernbedienung auf dem Wohnzimmertisch und stellte den Fernseher an. TalkshowWiederholungen eigneten sich hervorragend bei Schlafstörungen. Dominique machte es sich auf der Couch bequem, schob sich vier Zierkissen unter den Kopf, zog die Beine an und schlang den rechten Arm um die Knie. Eher lustlos folgte sie den Diskussionen auf der Mattscheibe, was dazu führte, dass ihre Lider nach und nach immer schwerer wurden. Die blendende Entladung entging ihr daher vollständig. Das nur vom Flimmern der Bildröhre erhellte Wohnzimmer wurde in gleißenden Schein getaucht. Doch nur für einen flüchtigen Moment. Ein Spaziergänger, der gerade zur Wohnung der Französin hochgeblickt hätte, wäre lediglich auf eine Erscheinung aufmerksam geworden, die dem Blitzlicht einer Fotokamera ähnelte. Dieser imaginäre Passant hätte jedoch nicht gesehen, wie die TV-Fernbedienung gegen die Tischkante knallte und auf den Teppich fiel. Es war nämlich niemand mehr in dem Appartement, der sie hätte festhalten können!
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* Ein leises, durchdringendes Sirren fing seine explodierenden Sinne ein und schleuderte sie machtvoll zurück. Richard Jordan geriet aus dem Gleichgewicht, konnte sich jedoch abfangen und einen Sturz verhindern. Unter größten Anstrengungen gewann er die Kontrolle über seine Wahrnehmung zurück, die aus schmerzend-grellem Weiß, wummerndem Pochen, nervtötendem Jucken sowie beißenden Säuren und dem Geschmack hoch dosierten Chlors bestand. Vor seinem geistigen Auge fügten sich die letzten Bilder aus der Leichenhalle hinter dem Antiquitätengeschäft zu einem morbiden Film. Fassungslos musste Richard mit ansehen, wie Sharon Farnham und ihre Kinder von Besessenen eingeschlossen wurden. Markerschütternd hallten die schrillen Entsetzensschreie in seinen Ohren nach. »Bitte nicht!«, schrie er inbrünstig heraus und durch das beständig abklingende Pochen in seinem Kopf drang seine eigene Stimme bis tief ins Bewusstsein vor, riss ihn aus seinen Gedanken und lenkte seine Konzentration auf das Hier und Jetzt. »Sie sind tot«, presste der 27jährige hervor und schluckte hart. Seine Lippen bebten; die zu Schlitzen verengten Augen wurden feucht. Du hast alles versucht!, rief er sich selbst zur Räson. Es ist
nicht deine Schuld.
Richard wischte sich die Tränen aus den Augen. Je klarer sie ihm die neue Umgebung zeigten, desto undeutlicher wurden die Gesichter von Sharon, Carol und Jessica, bis sie eins wurden mit dem grauen Schleier des Vergessens. Und dann bot sich dem Studenten ein Umfeld, wie er es sich fantastischer und gleichfalls bizarrer nicht ausmalen konnte. Obwohl er nicht wusste, wo er war, konnte er doch mit absoluter Sicherheit sagen, dass ein solcher Ort auf der Erde nicht existierte, auch wenn er vor wenigen Tagen noch eine ähnliche Behauptung von den fleischdurchsetzten 99
Röhrentunneln der Londoner Kanalisation gemacht hätte. So wundersam anziehend auf der einen Seite und so frostschaudernd abstoßend auf der anderen waren die Eindrücke, dass sie in ihrer unsäglichen Vielfalt nur nacheinander und niemals in ihrer Gesamtheit erfassbar waren. Niemals hatte Richard Jordan das Gefühl tiefster Befangenheit in dieser Intensität gespürt, da Yin - die Beschattete - und Yang - die Besonnte - ihm die Grenzen der Perzeption des Tai-Chi - des Ganzen - aufzeigten. Philip Ravenmoor hatte diese kausalen Abhängigkeiten durch die Polarität unserer dreidimensionalen Wirklichkeit beschrieben. Grobbearbeitete Steinsäulen schraubten sich wie gezwirbeltes Barthaar seltsam asymmetrisch in unvergleichliche Höhen. Sie ähnelten sehr stark blassgelben Knetgummirollen, die von Kinderhand willkürlich geformt und beliebig aneinandergereiht worden waren. Hinzu kamen die erheblichen Unebenheiten eines aus Tiefseeschwamm bestehenden Geländes, das sich als weite Ebene vor Richard erstreckte, dabei seitlich extrem abfiel und direkt vor ihm steil anstieg. Eigenartige Auswüchse bestückten die Ebene und als Richard sich einem von ihnen bis auf Tastreichweite näherte, da erkannte er verblüfft, dass es sich um einen Kabelbaum handelte, der irgendetwas unter ihm mit irgendetwas weit über ihm verband. Unterarmdicke Energiezuleitungen aus einem unbekannten Material waren zu einem meterdicken Bündel zusammengefasst. Der junge Mann ging weiter in die Ebene hinein, folgte dem abfallenden Gelände und bewegte sich auf eine andere Wand aus Steinsäulen zu, die in Bodennähe Öffnungen hatten. Diese ließen auf Tunneleingänge schließen. Das jedenfalls meinte Richard aus der Entfernung sagen zu können. »Ja, richtig! Geh doch bitte weiter.« Jordan blieb wie vom Donner gerührt stehen. Wer hatte da zu ihm gesprochen? Oder hatte er sich die Greisenstimme nur eingebildet? Es war schließlich nicht weiter verwunderlich, wenn die Fantasie innerhalb dieser abstrakten Landschaft 100
angeregt wurde. Obwohl Landschaft an sich nicht der richtige Ausdruck zum Beschreiben der Umgebung war. Mehr und mehr setzte sich bei Richard der Eindruck fest, dass es sich um einen Technologiekomplex handelte, der eine befremdliche Symbiose mit der Natur eingegangen war. »Bravo! Bravo! Ja, ja, die Jugend!« »Wer spricht denn da?« Jordan schaute in alle Richtungen und dann auch nach oben, als könnte er den Sprecher als frei schwebendes Gespenst entlarven. »Weiter! Weiter! Dort vorne.« Dort vorne! - Der Höllenjäger-Aspirant schätzte, dass der Tunnel noch gut zwei Kilometer entfernt war. Und was wollte er eigentlich dort? Er irrte doch nur ziellos umher. Was war das für eine Welt, in der er sich befand? Wie war er hierher gelangt? Die erste Frage meinte er beantworten zu können. Natürlich! Das konnte nur der Ort sein, an dem sich die dunkle Zitadelle befand. Nur hier konnte die Weihung zum Höllenjäger stattfinden!
Ich verstehe es trotzdem nicht! Gerade war ich noch auf der Erde im Kampf mit den Handlangern Amalnacrons, einen Augenblick später finde ich mich auf Col'Shan-duur wieder wenn es sich denn darum handelt.
Widerwillig setzte er sich in Bewegung. Keine zwanzig Minuten später fand er sich vor einer matt beleuchteten Öffnung wieder, die ihm den Weg in einen Gang wies. Dessen mittlerer Durchmesser betrug grob fünfzehn Meter; an den in unregelmäßiger Reihenfolge leicht diagonal angeflanschten, eingekerbten Wülsten vergrößerte er sich nochmals um schätzungsweise drei Meter. Dieses höchstens fünfzig Meter lange Gebilde wirkte auf Richard wie ein Abflussrohr, das durch unfachmännisch angesetzte Verbindungsstücke und Verschraubungen eine zweifelhafte Stabilität ausstrahlte und durch seine proportional große Höhe eher einem Quader denn einem Zylinder entsprach. Ohne große Anstrengung zog sich Richard Jordan an dem Basaltstein hoch, der nahtlos mit dem metallischen Material der Röhre verschmolz. Reichlich verloren kam sich der Mann in 101
dem Segment vor. Seine Aufmerksamkeit richtete sich daher auf eine Art Panzerschott, das wohl den Zugang in andere Bereiche ermöglichte und am Ende des Ganges in eine schwere Stahlverkleidung eingefasst war. Es reichte bis knapp unter die Tunneldecke. Richard stolperte über halb aus dem Boden ragende Rohre, die ihn an das bleiche Gebein prähistorischer Riesenechsen erinnerten. Vor dem Schott angekommen bemusterte er die makellose Verarbeitung, die trotz der dünnen Staubschicht nicht zu leugnen war. Wie dick der Stahl des Tores war, konnte Richard nur anhand der eingestanzten Rechtecke ahnen. Sie reichten eine gute Handbreit in das Material hinein. Ob sie lediglich Verzierung waren oder einen spezifischen Zweck erfüllten, blieb offen.
Ich muss jetzt bloß noch einen Weg finden, auf die andere Seite zu kommen.
»Ich mach auf, Junge«, meldete sich der angenehme Bass des alten Mannes. »Ich mach doch schon auf.« Kaum ausgesprochen ruckte das Tor an. Irgendwo schnappten gewaltige Stahlspangen und Querverriegelungen zurück. Tonnen geschmiedeten Erzes spalteten sich in dreiund viereckige Teilstücke, die nach einem komplizierten System ineinander geschoben worden waren und so eine vielschichtige, nahezu undurchdringliche Barriere gebildet hatten. Innerhalb von Sekunden war der Weg frei und offenbarte eine relativ kleine - zirka drei Meter durchmessende Öffnung. Diese lag gut Richards doppelte Körpergröße über ihm. Sie hatte die Form eines gleichseitigen Dreiecks, das auf einem Quadrat halber Kantenlänge stand.
Wird schwierig, da rauf zu kommen...
»Geduld, mein Junge«, redete die Stimme ihm väterlichbeschwichtigend zu. »Hab doch ein wenig Geduld.« Ein Grollen, als rieben die Flächen eines gespaltenen Gebirgszuges gegeneinander. Gesteinszeilen rauschten vertikal und horizontal ineinander und aneinander vorbei. Sie folgten einem geometrischen Prinzip, das den weit über Richards Kopf 102
befindlichen Durchlass absenkte, so dass der Mann einfach hindurch treten konnte. »Geh ganz bis zum Ende«, forderte der Greis freundlich. »Geh in den kleinen Raum am Ende.« Unter Richards Sohlen knirschte der Stein. Das Geräusch seiner Schritte hallte hohl von den Wänden wider. Und dann betrat er einen Raum, der sich von seinen Abmessungen tatsächlich eher bescheiden ausnahm. Sechs, vielleicht sieben Schritte im Quadrat. Auffällig war auch hier die Kombination aus minuziös bearbeitetem Metall und darin eingelassenen Computerkonsolen, Schaltungen, Kabeln und Rohren mit schroffem, kantigem Naturstein. Besonderes Interesse rief eine abgesetzte Platte bei Richard hervor. Sie schien etwas zu verdecken. Eine unerklärliche Neugier ergriff von Jordan Besitz. Er wollte unbedingt ergründen, was sich unter der Platte verbarg, die sich in Augenhöhe im Winkel von zirka fünfzehn Grad ihm zugeneigt befand. »Ich schließe auf, Junge. Ich schließe schon auf.« Jetzt wurde es Richard aber zu bunt. »Wer, bei allen Heiligen, bist du? Und wo bist du?« »Reg dich doch nicht auf. Junge. - Nicht aufregen«, sagte die dunkle, fröhliche Stimme, als spräche hier der Großvater mit seinem Enkel und sie beantwortete die zweite Frage zuerst: »Ich bin überall, mein Junge. Überall, ja ja.« Nach kurzer Pause, als wollte das Wesen sich über die stumme Verblüffung seines Zuhörers amüsieren, fügte es hinzu: »Ich bin der Schrein, mein Junge. Du kannst mich einfach ›Schrein‹ nennen. - Ja, so kannst du mich nennen.« Damit kam der Schrein seinem Versprechen nach und entfernte die Metallplatte. Auf dem Prinzip eines Rolltores basierend teilte sie sich in der Mitte und verschwand links und rechts in der Konsole. »Ein Bildschirm!«, platzte Richard heraus. »Oder nein... ein Fenster.« Er hatte keinen einzigen Anhaltspunkt für seine Behauptung, doch wusste er, dass sie richtig war. Für das Bild, 103
das sich ihm bot, war diese Feststellung hingegen ohne Bedeutung. Richard keuchte. »Das... das ist die Erde!« Die Planetenkugel füllte die untere linke Ecke der Scheibe aus. Jordan presste sich ganz dicht daran. Er glaubte, sein Herz übersprang jeden zweiten Schlag; sein Atem ging abgehackt und in den Beinen verspürte er eine unnatürliche Schwäche. Er war unfähig, etwas zu sagen, das Gesehene zu kommentieren und damit zu verarbeiten. Auch der Schrein enthielt sich jeglicher Äußerung. Starr vor Entsetzen wurde Richard Jordan Zeuge, wie sich kalte Schwärze über das lebendig-blaue Antlitz der Erde legte. Die Dämonenpest erstickte alles unter dem Mantel des Todes. Und als sie sich den einzig verbliebenen Streifen Blau gefräßig einverleibte, da geschah dies mit der Gewissheit, dass Milliarden Menschenleben einfach verlöscht waren! *
Epilog West-Indien, Palast von Yashir Pankrath
Der hoch gewachsene Inder saß nachdenklich auf der Veranda seines Schlafzimmers im ersten Obergeschoß des Palastes. Die Nacht war sternenklar und brachte leichte Abkühlung nach der schwülen Hitze des Tages. Yashir Pankrath war von einer außergewöhnlichen inneren Ruhe erfüllt, die ihm jeden Tag die nötige Ausgewogenheit schenkte, mit der er sein Leben meisterte. Ein flüchtiger Seitenblick streifte das ausladende Rundbett. Rashid lag in Seidendecken gehüllt auf dem Bauch. Die geschlossenen Augen und die regelmäßigen Atemzüge verrieten, dass er ruhig schlief. Pankrath drehte nun doch den Kopf ganz in Rashids Richtung; sanfte Blicke glitten über den makellosen Körper des jungen Inders. 104
Welche Freude du mir doch immer wieder bereitest,
verlieh der dunkelhäutige Mann seiner Anerkennung Ausdruck.
Freuden, die in dieser Form nur ein Mensch kosten kann...
Betont langsam wandte er sich ab. Seine Augen zogen einen weiten Bogen über das sternengespickte Firmament. »Einzig der Meister mag all die Wunder dieser endlosen Weiten geschaut haben«, sinnierte Yashir Pankrath. »Er wird alles so einrichten, wie es ihm gefällt und den Kosmos nach seinem Willen neu gestalten.« Er sog die würzige, kühle Nachtluft ein und kostete ihren Geschmack auf der Zunge. Dabei schloss er die Lider und formte mit den Fingern beider Hände abstrakte Formen und Figuren, während sein Geist sich meditativ öffnete. Auf diese Art war es ihm möglich, Kontakt mit Amalnacron, dem Allerhöchsten, aufzunehmen. Ein feines Lächeln umspielte die energischen Mundwinkel Yashirs. Der Meister informierte ihn über alles, was sich in den vergangenen Tagen zugetragen hatte und was nicht über die Rundfunk- und Fernsehkanäle ausgestrahlt worden war. Das Blut des Dämons legte sich als schwarzes Leichentuch über die Erde. Er war nicht mehr nur einer; er war alles, was existierte und alles, was je sein würde auf diesem Planeten, den angrenzenden Welten und weit darüber hinaus. »Dein Ende kommt auf Col'Shan-duur, Richard Jordan«, wehte ein Hauch über Pankraths Lippen. »Du bist uns nicht entkommen. Und wir werden alles daran setzen, dass sich die Prophezeiung erfüllt, mein junger, unwissender Layshi-Pan.« Bedeutungsvoll und zutiefst selbstzufrieden fügte der Inder hinzu: »Unsere Vasallen sind überall. Überall! Der alte, verkrüppelte Narr mit seinen Computern und technischen Kunststückchen kratzt gerade einmal an einer Wahrheit, die er in ihrer umfassenden Tragweite niemals wird begreifen können. Und so hat der Meister leichtes Spiel.« Yashir Pankrath erhob sich aus seinem Korbsessel, ging zum Bett und zog sich aus. Dann legte er sich neben Rashid. So jung. So unschuldig. Wieder und wieder besann er sich auf diese Worte, die für ihn beinahe schon den Charakter 105
eines Gebetes hatten. Gütig betrachtete er die friedlichen Züge des Jungen, drehte sich schließlich zur Seite und sah von seiner Schlafstatt aus noch einmal aus dem weit geöffneten Fenster, vor dem sich weiße Schleiergardinen zaghaft hin und her bewegten. Irgendwann würden die Sterne für immer verlöschen. Und dann würde er in der Gewissheit einschlafen, dass sich die Nacht zum letzten Mal über das Land gelegt hatte, weil es keine Sonne mehr gab, die am nächsten Tag aufgehen konnte. Auf dieses Ziel arbeitete er hin. Morgen schon konnte es soweit sein... Ende
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