Rainer Stange Claus Leitzmann (Hrsg.) Ernährung und Fasten als Therapie
Rainer Stange Claus Leitzmann
Ernährung und Fasten als Therapie
Mit 35 Abbildungen
1 23
Dr. Rainer Stange Abt. f. Naturheilkunde Charité Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin und Immanuel-Krankenhaus Königstr. 63, 14109 Berlin-Wannsee
Prof. Dr. Claus Leitzmann Institut für Ernährungswissenschaft Justus Liebig Universität Wilhelmstr. 20, 35392 Gießen
ISBN-13
978-3-540-88809-3 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Springer-Verlag GmbH ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Verlag Berlin Heidelberg 2010 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichenund Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Ulrike Hartmann, Heidelberg Projektmanagement: Ulrike Niesel, Heidelberg Copy-Editing: Dr. Doortje Cramer-Scharnagl, Edewecht Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Satz: medionet Publishing Services Ltd., Berlin SPIN: 12540556 Gedruckt auf säurefreiem Papier
22/2122/UN – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Abgesehen von Krisensituationen hatte die wohlhabende Bevölkerung schon immer genügend Nahrung zum Essen und Trinken. Heute leben nicht nur in den Industrieländern, sondern in allen Regionen der Erde Wohlstandsbürger, die sich ausreichend mit Lebensmitteln versorgen können. Dabei fällt es vielen immer schwerer, aus einem fast unüberschaubaren Angebot die für Gesundheit und Wohlbefinden geeigneten Lebensmittel auszuwählen und entsprechend zuzubereiten. Erschwerend kommt hinzu, dass die verarbeiteten Lebensmittel, die bis zu 90% des täglichen Verzehrs ausmachen, zu viel Energie in Form von Fett und Zucker, aber auch zu viel Protein enthalten und dass zu viele zuckerhaltige Getränke konsumiert werden. Gleichzeitig gibt es eine zu geringe Aufnahme von unerhitzter Frischkost, Ballaststoffen sowie sekundären Pflanzenstoffen. Die in dieser Form praktizierte Ernährungsweise gilt neben einer Reihe anderer Lebensstilfaktoren, wie geringer körperlicher Aktivität und Rauchen, als Ursache der heute weit verbreiteten sogenannten ernährungsabhängigen Erkrankungen, die auch ernährungsbedingte oder noch besser ernährungsassoziierte Krankheiten genannt werden. Diese auch als Zivilisationskrankheiten bezeichneten Erkrankungen gelten als ernährungsassoziiert, wenn nachgewiesen werden kann, dass eine bestimmte Ernährungsweise zu der jeweiligen Krankheit führt. Als ernährungsassoziiert gelten auch Erkrankungen, bei denen die Ernährung einen von mehreren Risikofaktoren darstellt oder wenn eine bestimmte Ernährung erfolgreich präventiv oder therapeutisch eingesetzt werden kann. Da viele Erkrankungen multifaktoriell bedingt sind, ist der Anteil der Ernährung an ihrer Entstehung meist nur grob einzuschätzen. Ernährungsassoziierte Krankheiten sind global weit verbreitet und stellen die Hauptursache für Todesfälle dar. So ist etwa die Hälfte aller Todesfälle in Deutschland auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurückzuführen, die die deutlichste Assoziation zur Ernährung aufweisen. Mehr als 50 % der Erwachsenen in westlichen Industrieländern sind übergewichtig; die Zunahme der Adipositas bei den Kindern ist erschreckend. Krebs verursacht etwa ein Viertel aller Todesfälle und etwa 7,5 % der Deutschen leiden an Diabetes mellitus Typ 2 – mit einer erheblichen Dunkelziffer. Ernährungsassoziierte Krankheiten verursachen über ein Drittel aller Kosten im Gesundheitswesen und belasten die Volkswirtschaft durch Arbeitsausfall, Invalidität und vorzeitigen Tod. Außerdem vermindern diese Krankheiten die Lebensqualität der Patienten und ihrer Angehörigen. Um diese Situation zu verbessern, muss die Prävention von Krankheiten in den Vordergrund gestellt werden. Die üblichen Maßnahmen wie Aufklärung und Beratung konnten bisher keinen durchschlagenden Erfolg aufweisen. Neben falschen Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung stehen geschickte Lebensmittelwerbung und finanzkräftige Interessengruppen diesem Anliegen im Wege. Deshalb ist es weiterhin und zusätzlich erforderlich, die bestmögliche Therapie für Patienten mit diesen Krankheiten bereitzuhalten. Diese besteht neben anderen Maßnahmen besonders in einer Umstellung auf eine gesundheitsfördernde Ernährung. Die Herausgeber des vorliegenden Buches waren bemüht, die bewährten Ernährungskonzepte einschließlich des Fastens für die Therapie von ernährungsassoziierten Krankheiten in knapper Form anzubieten. Sie sehen sich bewusst in der Tradition naturheilkundlicher Ernährungskonzepte, in denen beispielsweise vegetarische Ernährungsformen von jeher
VI
Vorwort
einen höheren Stellenwert hatten. Eine Abgrenzung zu „konventionellen“ Konzepten fällt jedoch zunehmend schwerer, wie die Kapitel zu Bluthochdruck oder Nierenerkrankungen zeigen. Dieses mag in einer Tendenz begründet sein, in der sehr alte, eher intuitiv abgeleitete Empfehlungen aus der Naturheilkunde allmählich fundierte Begründungen erfahren und so für die Ernährungsmedizin nachvollziehbar werden. Dies betrifft beispielsweise die Bedeutung der Ballaststoffe oder die allgemein höhere biologische Wertigkeit der in Pflanzen enthaltenen Fettsäuren. Spätestens bei der Frage, ob „Fasten als Therapie“ sinnvoll ist, scheiden sich jedoch wieder die Geister. – Dabei sind Ernährung und Fasten wichtigste Bestandteile naturheilkundlicher Therapie. Das Buch ist für alle im Gesundheitswesen tätigen Personen konzipiert, wie niedergelassene Ärzte inklusive Ärzte für Naturheilverfahren, Heilpraktiker sowie Studierende der Medizin und Ernährungswissenschaft. Die praktischen Handlungsvorschläge sind auch für Mittlerpersonen in der Beratung zweckdienlich. Fundierte Kenntnisse in der Ernährungstherapie sind wegen der weiten Verbreitung ernährungsassoziierter Krankheiten zunehmend von Bedeutung. Ein Teil der Autoren kann auf gewachsene Arbeitszusammenhänge u. a. im Rahmen der Herausgabe des Loseblatt-Systems „Naturheilverfahren und unkonventionelle medizinische Richtungen“ aufbauen, herausgegeben von M. Bühring und H. Kemper (Springer-Verlag Heidelberg 1993–2006). Vor diesem Hintergrund konnten leicht neue Autoren gewonnen werden. Wir bedanken uns beim Springer-Verlag, der mit der Herausgabe dieser Buchreihe sein kontinuierliches Engagement für die Naturheilverfahren unter Beweis stellt, und im speziellen Fall für die gute Zusammenarbeit bei diesem Band mit der Planung von Frau Ulrike Hartmann und dem Lektorat von Frau Doortje Cramer-Scharnagl. Anregungen für die nächste Auflage nehmen wir gerne entgegen. Berlin und Gießen, November 2009
Rainer Stange Claus Leitzmann
VII
Inhaltsverzeichnis I
Grundlagen
1
Die Geschichte naturheilkundlicher Ernährungskonzepte . Claus Leitzmann, Rainer Stange Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 1.2 1.3 1.4
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8
3
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
Ernährungsphysiologische Grundlagen und Prinzipien vollwertiger Ernährung Helmut Oberritter Haupt- und Mikronährstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Energiegehalt und Nährstoffdichte von Lebensmitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Optimale Nährstoffzufuhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umsetzung präventiv-medizinischer Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologische und soziologische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzehrempfehlungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alternative Kostformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8
Ernährungsberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marion Burkard, Karl Huth Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden zur Untersuchung des Ernährungsverhaltens Die Arzt-Klienten-Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen der Ernährungsberatung . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen der Klientenberatung . . . . . . . . . . . . . . Ratschläge für die praktische Beratungssituation . . . . . Rückfallprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II
Nahrungsmittelinhaltsstoffe
4
Sekundäre Pflanzenstoffe in Lebensmitteln Claus Leitzmann Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carotinoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phytosterine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Saponine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polyphenole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phytoöstrogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Protease-Inhibitoren . . . . . . . . . . . . . . . . . Monoterpene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glukosinolate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
3 4 5 6 11
13 14 17 17 18 22 22 26 26
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
. . . . . . . . . . . . . . .
30 30 35 36 37 42 44 44
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
. . . . . . . . . .
50 51 51 52 53 54 55 56 56 57
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
VIII
Inhaltsverzeichnis
4.11 4.12 4.13
Sulfide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere sekundäre Pflanzenstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 57 58
5
Ballaststoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claus Leitzmann Definitionen und Einteilungen . . . . . . . . . Ballaststoffzufuhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiologische Wirkungen . . . . . . . . . . . . Empfehlungen für die Ballaststoffaufnahme . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
. . . . .
62 64 64 69 70
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6
7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8 7.9
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
Substanzen in fermentierten Lebensmitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claus Leitzmann Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderungen von Milch während der Fermentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungen fermentierter Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Wirkungen bei gastrointestinalen Entzündungen und Infektionen . . . . . . Einflüsse auf Krebserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
Prophylaxe und Therapie mit Fischölfettsäuren . . . . . . . . . Olaf Adam Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stoffwechsel und Funktion mehrfach ungesättigter Fettsäuren Mehrfach ungesättigte Fettsäuren in unserer Nahrung . . . . . . Eicosanoidbildung beim Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fischölfettsäuren hemmen die Eicosanoidsynthese . . . . . . . . Weitere Wirkungen der Fischölfettsäuren . . . . . . . . . . . . . . . Nebenwirkungen der Fischölfettsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . Therapierichtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
III
Formen der Ernährungstherapie
8
Vollwert-Ernährung – eine naturheilkundliche Ernährungsweise . . . . . . . . . . . . . . . Claus Leitzmann Grundlegende Gedanken: Ernährung in Prävention und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung und Definition der Vollwert-Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vollwert-Ernährung – eine zeitgemäße und nachhaltige Ernährungsweise . . . . . . . . . . . Besonderheiten der Vollwert-Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vollwert-Ernährung und Werner Kollath . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernährungskonzept der Vollwert-Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktische Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vollwert-Ernährung – ein Naturheilverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Umstellung auf Vollwert-Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 8.9 8.10
74 74 75 78 79 82
86 87 87 90 90 92 93 93 101
107 108 109 109 110 111 113 117 117 119 120
IX Inhaltsverzeichnis
9 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6
10 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 10.7 10.8 10.9
11 11.1 11.2 11.3
12
Vegetarische Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claus Leitzmann Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Entwicklung des Vegetarismus . . . . . . . . . . . . . . . Ernährungsphysiologische Bewertung vegetarischer Kostformen Gesundheitszustand von Vegetariern . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . 123 . . . . . .
Haysche Trennkost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Edmund Semler, Thomas Heintze Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung des Hay Systems – William Howard Hay, M. D. Übersäuerung als Krankheitsursache . . . . . . . . . . . . . Die Nahrungsmittelauswahl/Richtlinien der Trennkost . . Entwicklung der Hayschen Trennkost in Deutschland . . . Indikationen für Trennkost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernährungswissenschaftliche Bewertung . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 . . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie Grundlagen und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hellmut Lützner Physiologie des Fastens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Françoise Wilhelmi de Toledo Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
182
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195
12.1 12.2 12.3 12.4
IV
Ernährung bei bestimmten Patientengruppen
13
Nahrungsmittelunverträglichkeiten . . . Claus Leitzmann Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nahrungsmittelallergien . . . . . . . . . . . . Pseudoallergien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enzymopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . .
14 14.1 14.2
138 139 140 142 144 151 152 160 161
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
Mediterrane Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Michalsen Studienlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte der Tradition und der Vollwertigkeit in der mediterranen Ernährung . . . . . . . . . . Kofaktoren der mediterranen Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13.1 13.2 13.3 13.4 13.5
124 126 128 131 134 135
199 200 202 203 203
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 . . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
208 208 212 213 218
Hypertonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Rolfdieter Krause Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Ernährungstherapie der Hypertonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
X
Inhaltsverzeichnis
14.3 14.4
Lebensstilmodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225 226
15
Nierenerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolfdieter Krause, Irmgard Landthaler Häufigkeit, Einteilung und Verlauf von Nierenerkrankungen Ernährungstherapeutische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
230 230 237
15.1 15.2 15.3
16 16.1 16.2 16.3 16.4 16.5 16.6 16.7
17 17.1 17.2 17.3 17.4 17.5 17.6
18 18.1 18.2 18.3 18.4 18.5 18.6
19 19.1 19.2 19.3 19.4 19.5 19.6 19.7 19.8 19.9
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dyslipoproteinämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marion Burkard, Karl Huth Definition und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typen der Dyslipoproteinämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernährungstherapeutische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einfluss der Fette auf Serumcholesterin- und Triglyzeridspiegel . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss anderer Nährstoffe auf die Serumlipidkonzentration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsätzliche ernährungstherapeutische Maßnahmen bei primären Hyperlipidämien . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
239
Hyperurikämie und Gicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marion Burkard, Karl Huth Definitionen und Charakteristika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Purin- und Harnsäurestoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einfluss von Nahrungsmitteln auf Hyperurikämie, Uratsteine und Gicht . . . . . . . . . . Diätetische Maßnahmen bei Hyperurikämie und Gicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diätetische Maßnahmen zur Therapie und Prophylaxe von Harnsäuresteinen . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marion Burkard, Karl Huth Problematik und Perspektiven . . . . . . . . Prävalenz der Adipositas . . . . . . . . . . . . Definition und Klassifikation der Adipositas Ursachen der Adipositas . . . . . . . . . . . . Strategien zur Gewichtsreduktion . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .
240 242 242 243 247 251 252
256 258 260 264 268 269
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 . . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marion Burkard, Karl Huth Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generelle Aspekte einer diabetesgerechten Kost . Diabetes und Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung der Kohlenhydrate . . . . . . . . . . Die Bedeutung der Eiweiße . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung der Fette . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung des Alkohols . . . . . . . . . . . . . . Sonstige Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
272 272 273 275 277 282
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 . . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
286 286 287 289 294 295 297 298 298
XI Inhaltsverzeichnis
20 20.1 20.2 20.3 20.4 20.5 20.6
Chronisch entzündliche Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Stange Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlegende Möglichkeiten: Entzündungshemmung durch Ernährung? . . . . . . . . . . . Ansätze in ihrer historischen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel chronisch entzündliche Gelenkerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel multiple Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
301 302 302 302 306 307 310
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
XII
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Olaf Adam
Dr. Andreas Michalsen
Ernährungsmedizin / Physiologikum der LMU Ludwig-Maximilians-Universität München Pettenkoferstraße 12–14 D-80336 München
Abteilung für Naturheilkunde Charité Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin und Immanuel-Krankenhaus Königstraße 63 D-14109 Berlin-Wannsee
Dr. Marion Burkard Kölner Straße 7 D-76829 Landau
Dr. Helmut Oberritter Schweifelder Straße 30a D-53578 Windhagen
Dr. Thomas M. Heintze Am Wäldchen 8 D-35043 Marburg
Dr. Edmund Semler Haydngasse 9 A-2292 Engelhartstetten
Prof. Dr. Karl Huth Stettenstraße 21 D-60322 Frankfurt
Dr. Rolfdieter Krause KfH Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation e. V. KfH-Nierenzentrum Turmstraße 20a D-10559 Berlin
Irmgard Landthaler Praxis für Ernährungsberatung Neuhauserstraße 15 D-80331 München
Prof. Dr. Claus Leitzmann Institut für Ernährungswissenschaft Justus-Liebig-Universität Gießen Wilhelmstraße 20 D-35392 Gießen
Dr. Hellmut Lützner Forellenweg 12 D-88662 Überlingen
Dr. Rainer Stange Abteilung für Naturheilkunde Charité Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin und Immanuel-Krankenhaus Königstraße 63 D-14109 Berlin-Wannsee
Dr. Françoise Wilhelmi de Toledo Klinik Buchinger am Bodensee GmbH Wilhelm-Beck-Straße 27 D-88662 Überlingen
1 ·
Grundlagen 1
Die Geschichte naturheilkundlicher Ernährungskonzepte – 3 Claus Leitzmann, Rainer Stange
2
Ernährungsphysiologische Grundlagen und Prinzipien vollwertiger Ernährung – 13 Helmut Oberritter
3
Ernährungsberatung – 29 Marion Burkard, Karl Huth
1I
3
Die Geschichte naturheilkundlicher Ernährungskonzepte Claus Leitzmann, Rainer Stange
1.1
Antike
–4
1.2
Mittelalter
1.3
Neuzeit
1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4
Anfänge des Vegetarismus – 7 Ernährung als Wissenschaft – 8 Medizinische Ernährungstherapien Universitäre Forschung – 10
1.4
Zusammenfassung
–5
–6
– 11
–8
X 1
4
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Kapitel 1 · Die Geschichte naturheilkundlicher Ernährungskonzepte
Die Geschichte der naturheilkundlichen Ernährungstherapie wird in Lehrbüchern der Ernährungswissenschaft, Ernährungsmedizin und Naturheilkunde selten ausführlich behandelt. Sie erscheint entweder nur stichwortartig, oft mystisch verklärt oder als natürlich gegeben und daher nicht weiter erwähnenswert. Dabei ist die Geschichte der Ernährungstherapie nicht nur interessant, sondern auch aufschlussreich, da sie ihre Besonderheiten erklärt und zu verstehen hilft. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 die Wurzeln der Ernährungstherapie in der griechischen Antike, 4 die Tradierung der antiken Lehren im Mittelalter, 4 die Begründung der naturwissenschaftlich fundierten Medizin in der frühen Neuzeit, 4 den Einfluss des Naturismus Jean-Jacques Rousseaus auf Medizin und Dietätik, 4 den Beginn der naturheilkundlichen und später der universitären Ernährungslehre in Mitteleuropa, 4 die Bedeutung des Vegetarismus für die Entwicklung neuer Ernährungskonzepte, 4 die Entwicklung einer Ernährungswissenschaft als naturwissenschaftlich fundierter Forschungs- und Therapierichtung, 4 aktuelle Tendenzen der Ernährungstherapie und der ernährungsmedizinischen Forschung.
13 14 15 16 17 18 19 20
1.1
Antike
Sowohl die Ernährungstherapie an sich als auch ihre naturheilkundliche Anwendung haben Wurzeln in der griechischen Antike (um 700 v. Chr. – 470 n. Chr.). Besonders Hippokrates von Kos (Arzt, Griechenland, um 460–370 v. Chr.) wird in diesem Zusammenhang häufig genannt, dessen Lebensordnung diaita heute oft als Synonym für Ernährungslehre angesehen wird. Dabei ist die antike Diätetik nicht auf Ernährung begrenzt, wie es bereits die Bedeutung des griechischen Wortes diaita impliziert. Diaita bedeutet gleichermaßen Haushalt, Lebensweise, Lebensunterhalt, Diät und Aufenthaltsort. Es war auch nicht Hippokrates, der die Diätetik einführte, denn auf der Grundlage der in der Antike aufkommenden Denkrichtung der Naturphilo-
. Abb. 1.1 Pythagoras von Samos (um 570–500 v. Chr). © INTERFOTO/ASIA
sophie entwickelten bereits Pythagoras von Samos (Philosoph, Griechenland, um 570–500 v. Chr.; . Abb. 1.1) und seine Schüler die Diätetik als eine umfassende Lebensweise, mit der der Mensch seine Gesundheit beeinflussen kann. Ausgehend von der Erkenntnis der Eigenverantwortung des Menschen für die Entstehung seiner Krankheiten umfasste das Regelwerk der pythagoreischen Diätetik körperliche und geistige Aktivität, moralische Aspekte und die Ernährung (Riedweg 2001; Melzer 2003, S. 19ff.). Die Lehren von Pythagoras beruhten auf einer bereits im 6. Jh. v. Chr. bekannten Form der fleischlosen Ernährung, dem Vegetarismus aus religiösen bzw. philosophisch-ethischen Überlegungen. Diese Art der Ernährung wurde bald durch gesundheitliche und später durch soziale, ökonomische und ökologische Motive ergänzt. Auffallend ist, dass ab etwa dieser Zeit verschiedene Mystiker, Propheten, Philosophen und Religionsgründer zeit-
5 1.2 · Mittelalter
gleich vegetarische Ideen und Ideale formulierten. Neben Pythagoras waren dies Zarathustra in Persien, Daniel in Babylon, Mahavira sowie Siddharta Gautama in Indien (Leitzmann u. Keller 2009). Pythagoras gilt als Begründer des ethischen Vegetarismus mit deutlich religiöser Prägung. Die Quellenlage ist jedoch nicht eindeutig und teilweise widersprüchlich. Zudem liegt nichts Schriftliches von Pythagoras selbst vor, wobei unklar ist, ob er – wie Laotse, Sokrates und Jesus – gar nichts geschrieben hat oder ob seine Schriften verloren gegangen sind (Dierauer 2001, S. 13). Der allumfassende Ansatz der Diätetik wurde von Hippokrates und seinen Mitstreitern aufgegriffen und weiterentwickelt. Die hippokratischen Ärzte entwickelten die Theorie der »vier Säfte« (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle). Ihrer Ansicht nach war deren Mischung für die Entstehung von Krankheiten oder für die Erhaltung der Gesundheit verantwortlich. Sie postulierten einen direkten Einfluss verschiedener Nahrungsmittel auf die Mischung der Körpersäfte und damit auf die Gesundheit (Nutton 2001). Nach dem Übergang von der griechischen zur römischen Antike verlor die Diätetik an Bedeutung. Aulus Cornelius Celsus (Enzyklopädist, Rom, um 25 v. Chr. – 50 n. Chr.) erwähnt zwar die Diätetik in seinen Werken, vertritt sie jedoch nicht, denn vermutlich wurde das strenge Regelwerk der griechischen Diätetik von vielen Römern als zu asketisch angesehen. Demgegenüber sorgte Galen (Galenos von Pergamon, Arzt, Griechenland, um 129–199 n. Chr.) für eine Verbreitung diätetischer Konzepte in der römischen Antike. Er entwickelte die Vier-Säfte-Lehre weiter und erklärte neben somatischen Veränderungen auch Gemütszustände durch die Säftemischung und ihre Beeinflussung durch bestimmte Speisen. Zudem systematisierte er sechs diätetische Bereiche (Luft, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Schlaf und Wachen, Ausscheidungen und Sekrete, Gemütsbewegungen), die später unter der Bezeichnung »res non naturales« lange Zeit die Diätetik prägten (Melzer 2003, S. 37ff.). In der Antike existierte damit keine Trennung zwischen Medizin und Diätetik; Ernährungskonzepte waren selbstverständlicher Bestandteil der prophylaktischen und therapeutischen Heilkunde.
1.2
1
Mittelalter
Im Mittelalter wurden die Lehren der antiken Heilkunde ohne größere Neuerungen tradiert. Die VierSäfte-Lehre hatte als medizinische Leittheorie bis in die Neuzeit Bestand. Zudem vermischte sich die Heilkunde im Mittelalter mit christlich- und heidnisch-religiösen Elementen. Als Beispiel hierfür steht Hildegard von Bingen (1098–1179; . Abb. 1.2), die zwar die antike Säftelehre nicht anzweifelte, aber auch Sünde und »Attacken des Teufels« als Ursache von Krankheiten ansah. In ihrer Heilkunde finden sich zahlreiche Empfehlungen zur Anwendung einheimischer Kräuter (Ackerknecht 1992, S. 56f.). In der Heilkunde des Mittelalters wurden Seele und Körper gleichermaßen berücksichtigt – sie trägt damit ganzheitliche Züge.
. Abb. 1.2 Hildegard von Bingen (1098–1179). © INTERFOTO/Sammlung Rauch
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
6
Kapitel 1 · Die Geschichte naturheilkundlicher Ernährungskonzepte
1.3
Neuzeit
Zu entscheidenden Veränderungen in der Heilkunde kam es erst in der Neuzeit. Beginnend mit Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493– 1541), der sich als erster bedeutender Arzt gegen die antike Säftelehre wandte, wurden ab dem 16. Jahrhundert die Grundlagen einer naturwissenschaftlich fundierten Medizin gelegt. So begründete René Descartes (1596–1650) in seinen physiologischnaturwissenschaftlichen Schriften das mechanistische Menschenbild, das für die Entwicklung der heutigen Medizin erforderlich war. Der Siegeszug der naturwissenschaftlich fundierten Medizin ging mit einem gewaltigen Bedeutungsverlust der Diätetik einher. Denn mit der völligen Abwendung von der antiken Säftelehre verlor die Diätetik ihren angestammten Platz in der Heilkunde – eine wissenschaftliche Diätetik bzw. Ernährungswissenschaft existierte noch nicht (Jütte 1996, S. 144; Melzer 2003, S. 45f.). Als Gegenbewegung zur mechanistisch-technischen Ausrichtung der wissenschaftlichen Medizin begründete Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) ein naturromantisches und zivilisationskritisches Weltbild, das in sich am besten in der Forderung »Zurück zur Natur« zusammenfassen lässt. Dieses Weltbild hatte auch Einfluss auf die Medizin und gab der Ernährung erneut einen höheren Stellenwert. Das beste Beispiel hierfür ist der Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836; . Abb. 1.3), der in seinen Werken die Ernährung ausführlich berücksichtigte und zahlreiche praktische Ernährungsempfehlungen gab (Melzer 2003, S. 45f.). In seinem »Lehrbuch der allgemeinen Heilkunde« schrieb er unter anderem: »Zuviel Essen und Trinken strengt die Kräfte der Restaurationsorgane zu sehr an«. (Hufeland 1796) Auch sah er, dass durch »Hinunterstopfen und Überfüttern das natürliche Sättigungsgefühl abhanden kommt«, und in seinem berühmten Werk »Makrobiotik« heißt es: »Der größte Teil der Menschheit isst viel mehr, als er nötig hat. Wer alt werden will, esse langsam. Man esse nie so viel, dass man den Magen füllt« (Hufeland 1796). In der Tradition des Rosseauschen Naturismus entwickelte sich im 19. Jahrhundert die Naturheilkunde. An deren Anfängen stand die Wiederbele-
. Abb. 1.3 Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836). © INTERFOTO/Bildarchiv Hansmann
bung der alten Wasserheilkunde durch medizinische Laien wie Ferdinand C. Oertel (1765–1850) und Vincenz Prießnitz (1799–1851; Jütte 1996, S. 29). Sie berücksichtigten die Ernährung so gut wie nicht – womit dieser Bereich zu Beginn der Naturheilkunde kaum Beachtung fand (Jütte 1996, S. 115ff.). Die »Schroth-Kur« war eine der ersten naturheilkundlichen Therapien, die die Ernährung in den Mittelpunkt stellten. Der Fuhrmann Johann Schroth (1798–1856) entwickelte die sehr strenge, kohlenhydratreiche sowie protein- und salzarme Entschlackungskur aufgrund eigener Beobachtungen und Erfahrungen (Jütte 1996, S. 145ff.). Mit ihr sollten verschiedenste Erkrankungen geheilt werden können. Der Beginn einer naturheilkundlichen Ernährungslehre wird in Mitteleuropa üblicherweise mit der Kneippschen Ära gleichgesetzt (Sebastian Kneipp, 1821–1897; . Abb. 1.4). Die Ernährungstherapie stellt eine der – posthum so definierten – fünf Säulen des Kneippschen Konzeptes dar. Dabei stört meistens wenig, dass die Kneippschen Vorstellungen von einer gesund erhaltenden bzw. krankheitsgerechten Kost sehr stark an der Hausmannskost seiner ländlichen bayerischen Umgebung orientiert
7 1.3 · Neuzeit
. Abb. 1.4 Sebastian Kneipp (1821–1897). © INTERFOTO/ Sammlung Rauch
waren. Allerdings kommt Kneipp zweifelsfrei das Verdienst zu, mit dem berühmten Zitat »Was den Schmied nährt, zerreißt den Schneider« auch schon beim Gesunden konstitutionelle bzw. belastungsabhängige Grundlagen für ein optimales Ernährungskonzept zu postulieren.
1.3.1
Anfänge des Vegetarismus
Weitere wichtige Vertreter naturheilkundlicher Ernährungskonzepte waren unter anderem Theodor Hahn und Louis Kuhne. Theodor Hahn (1824– 1883) sah eine vegetarische Ernährung mit Vollkornbrot als Schwerpunkt der Naturheilkunde und führte das von dem amerikanischen Physiologen Sylvester Graham erfundene Grahambrot in Deutschland ein (Melzer 2003, S. 83). Louis Kuhne (1835–1901) empfahl ebenfalls eine fleischlose »reizlose Ernährungsweise« (Melzer 2003, S. 97).
1
Sowohl bei Hahn als auch bei Kuhne findet sich also ein Engagement für den Vegetarismus, der sich im späten 19. Jahrhundert in Deutschland verbreitete. Der Vegetarismus lieferte wesentliche Anstöße für die naturheilkundliche Diskussion um eine optimale Ernährung für Gesunde und für Kranke. Die Ursprünge des modernen Vegetarismus lagen in Großbritannien, wo der Begriff erstmals 1839 verwendet wurde und die Gründung der englischen Vegetarian Society im Jahr 1847 erfolgte. Diese fand eine breite Anhängerschaft, lange bevor Forschungen zu Bestandteilen pflanzlicher Kost, wie den Vitaminen, eine wissenschaftliche Begründung für gesundheitliche Vorteile pflanzlicher Lebensmittel liefern konnten (7 Kap. 9). Als Begründer der vegetarischen Bewegung in Deutschland gilt der Publizist Gustav Struve (1805–1870). Weitere Verbreitung fand der Vegetarismus unter anderem durch den sächsischen Handelslehrer und bekannten Vertreter des Vegetarismus Wilhelm Zimmermann und den Begründer des ersten deutschen Vegetarismusvereins Eduard Baltzer (1814–1887). Der Vegetarismus des 19. Jahrhunderts stellte nicht nur ein Ernährungskonzept dar, sondern intendierte eine umfassende Lebens- und Gesellschaftsreform. Vertreter des Vegetarismus waren teilweise der Ansicht, dieser stelle ein Allheilmittel für sämtliche Lebens- und Gesundheitsprobleme dar (Jütte 1996, S. 155ff.). Als Begründung für eine vegetarische Ernährung wurden nicht primär gesundheitliche Motive angeführt, sondern zuerst ethisch-moralische Argumente. So postulierte Theodor Hahn, dass die Achtung vor dem Tier eine Voraussetzung für ein besseres Verhältnis der Menschen untereinander sei (Teuteberg 1994; Jütte 1996, S. 160). Daneben fanden sich aber auch gesundheitliche Argumente. Unter Berufung auf Erkenntnisse der Evolutionstheorie bezeichneten Vertreter des Vegetarismus diesen als Naturgesetz, dessen Übertretung die Natur durch Krankheiten bestrafe (Schlickeysen 1921). Diese Begründung ist vor dem Hintergrund einer drastischen Zunahme des Fleischverzehrs im Zuge der Industrialisierung zu sehen – die Kritik an diesem übermäßigen Fleischkonsum ging schnell in die Forderung nach einer vegetarischen Lebensweise über (Jütte 1996, S. 158). Die Vegetarier in Deutschland organisierten sich in einer
8
1 2 3 4
Kapitel 1 · Die Geschichte naturheilkundlicher Ernährungskonzepte
Vielzahl von Vereinen, die sich 1892 im Vegetarier-Bund zusammenschlossen. Im Zusammenhang mit der Lebensreformbewegung wurde Ende des 19. Jahrhunderts auch die vegetarische Obstbaukolonie »Eden« bei Oranienburg gegründet, die als Genossenschaft organisiert die Zivilisationskritik ihrer Anhänger praktisch umsetzen wollte (Jütte 1996, S. 158ff.).
5
1.3.2
6
Erst nachdem sich im Rahmen der Naturheilkundebewegung zahlreiche Ernährungstherapien und Konzepte verbreitet hatten, entwickelte sich die Ernährungswissenschaft als naturwissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit den Aspekten der Ernährung des Menschen (Jütte 1996, S. 144). Die relativ späte Entstehung der Ernährungswissenschaft lässt sich dadurch erklären, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Ernährung des Menschen erst möglich war, als die notwendigen Grundlagen aus Chemie, Physik und Biologie erforscht worden waren. Ein Wegbereiter der Ernährungswissenschaft war der Chemiker Justus von Liebig (1803–1873; . Abb. 1.5). Er entdeckte die Hauptnährstoffe Kohlenhydrate, Fette und Proteine und führte Untersuchungen zum Proteinstoffwechsel durch. Neben der Erforschung der organischen Chemie erfand Liebig auch eine Krankenkost, das »Fleischinfusum«, mit dessen Hilfe sich Personen mit schweren Magen- und Darmerkrankungen vor dem Tod retten ließen. Aus diesem wurde später »Liebigs Fleischextrakt« entwickelt, der als Liebigsche Suppe für viele Jahrzehnte Bestandteil der klinischen Ernährungslehre war. Carl von Voit (1831–1908) und Max von Pettenkofer (1818–1901) sowie Max Rubner (1854– 1932) erforschten den Energiestoffwechsel und den Grundumsatz und legten damit die Grundlagen der Ernährungsphysiologie (Ackerknecht 1992, S. 114f.). Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden auch die Vitamine als essenzielle Nahrungsbestandteile entdeckt – der Biochemiker Casimir Funk prägte 1912 den Begriff des »Vitamins«. Doch auch danach war es noch ein langer Weg bis zur Identifizierung weiterer Vitamine und ihrer Zuordnung zu tierischen oder pflanzlichen Nahrungsmitteln.
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Ernährung als Wissenschaft
. Abb. 1.5 Justus von Liebig (1803–1873). © INTERFOTO/ Sammlung Rauch
1.3.3
Medizinische Ernährungstherapien
Bis zum 20. Jahrhundert waren vorwiegend ärztliche Laien in der Naturheilkunde tätig. Erst im Übergang zum 20. Jahrhundert waren es auch akademisch ausgebildete Mediziner, die auf diesem Gebiet Bedeutung erlangten. So erfuhr die naturheilkundliche, ärztlich verstandene und angeleitete Ernährungstherapie durch den Schweizer Arzt Max Bircher-Benner (1867–1939) ihren entscheidenden Impuls. Sein für die weitere Entwicklung wichtiger Beitrag bestand in der Ausformulierung eines Ernährungskonzeptes und seiner klinischen Umsetzung in einem privaten Sanatorium in Zürich. Bircher-Benner erhielt seine Motivation für eine lebenslange Beschäftigung mit der Ernährungstherapie wie viele naturheilkundliche Ärzte durch die erfolgreiche Therapie eines vorher mit schulmedizinischen Maßnahmen erfolglos behandelten Patienten. Er vertrat eine laktovegetabile Ernährung, die im Vergleich zur damaligen Lehr-
9 1.3 · Neuzeit
meinung protein- und energiearm war (BircherBenner 1921; Melzer 2003, S. 113ff.). Rohkost beziehungsweise Frischkost hatte in der von Bircher-Benner verordneten Krankendiät einen wichtigen Stellenwert, da der Werterhalt der Nahrungsbestandteile seiner Vorstellung nach von zentraler Bedeutung war. Populär wurde insbesondere die von ihm erfundene Apfeldiätspeise aus rohem Apfel, Haferflocken, Nüssen und Kondensmilch, die unter der Bezeichnung Birchermüsli – allerdings oftmals drastisch abgewandelt – auch heute noch als »Markenzeichen« für gesunde Ernährung angesehen wird (Jütte 1996, S. 149f.). Die Erfolge seiner Ernährungstherapie erklärte Bircher-Benner mit einer größtenteils spekulativen Theorie vom »Sonnenlichtwert« der Nahrungsmittel. Er teilte die Nahrungsmittel in Sonnenlichtakkumulatoren erster, zweiter und dritter Ordnung ein (Melzer 2003, S. 121f.). Das wissenschaftliche Verständnis und die praktische Umsetzung wandte er insbesondere auf entzündliche Gelenkerkrankungen an, für die es zu seiner Zeit praktisch keine wirksame Behandlungsmethode gab. Einige seiner Therapieerfolge konnte er in Filmsequenzen festhalten, die lang anhaltende Bemühungen um ein wissenschaftliches Verständnis seiner Therapieerfolge zur Folge hatten. In Zusammenhang mit der »Ordnung in der Nahrung« (Bircher-Benner 1921, 1977) schuf Bircher-Benner als Rudiment bereits in den 1920erJahren den Begriff einer Ordnungstherapie, um ihn dann später in entwickelten Konzepten zu einem seiner zentralen Anliegen zu machen (Bircher-Benner 1937; vgl. Melzer 2003). Stimuliert durch diese Ordnungstherapie, leitete die Naturheilkunde eine weit umfassendere Vorstellung von wünschenswerter »Ordnung« im Leben des Patienten und den Möglichkeiten ihrer Implementierung durch die ärztliche Kunst ab. Im Zusammenhang mit seiner Ordnungstherapie wird allerdings auch die Nähe von Bircher-Benners Weltanschauung zur völkischen Ideologie deutlich (Jütte 1996, S. 154). Eine weitere naturheilkundliche Ernährungstherapie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand, ist die Waerland-Kost. Der Schwede Are Waerland (1876–1955) litt als Kind unter diversen Krankheitssymptomen wie Kopfschmerzen, schlechtem Gedächtnis, chronischen Magenpro-
1
blemen und Verstopfung. In London studierte er Medizin, nicht zuletzt, um eine Therapie zur Heilung seiner Beschwerden zu finden. Neben Abhärtung durch kaltes Duschen und Schlafen bei offenem Fenster begann er, sich für vegetarische und speziell für unerhitzte Kost zu interessieren. Die Waerland-Kost hat vor allem in Skandinavien Spuren hinterlassen, wo sie bis in die jüngere Gegenwart zu einer intensiven Beschäftigung mit Entzündungshemmung durch Ernährung und Fasten geführt hat (Kjedsen-Kragh et al. 1991). Etwa zeitgleich erlebte das ärztlich geleitete Fasten insbesondere durch das Wirken des Fastenarztes Otto Buchinger (1878–1966) einen bis dahin nicht gekannten Aufschwung (7 Kap. 11). Wiederum scheint retrospektiv der Zufall eine nicht unwichtige Rolle gespielt zu haben: Buchinger führte wegen seines eigenen Gesundheitszustandes eher gegen seine innere Überzeugung seine erste Fastentherapie bei Gustav Riedlin in Freiburg durch. Dieser darüber hinaus wenig bekannt gewordene Fastenarzt soll durch die ausgesprochene Blüte der Fastentherapie in den USA des 19. Jahrhunderts inspiriert worden sein. Angespornt durch den ungewöhnlichen Fortschritt, den er im bis dahin sehr ungünstigen Verlauf seines Gelenkrheumatismus verspürte, verschrieb sich Buchinger fortan der Aufgabe, die Fastentherapie, sein »Heilfasten« (Buchinger 1935), als multimodales Konzept zu entwickeln und breiten Patienten- und Ärztekreisen verfügbar zu machen. Etwa zeitgleich, jedoch ohne gegenseitigen Austausch, gründete sein Pendant, der böhmischösterreichische Arzt Franz Xaver Mayr (1875–1965) eine Schule, die die »Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr« zu einem weitgehend spekulativen System entwickelte. Dabei postulierte er, dass letztlich auch reflektorische Zusammenhänge zwischen Körperhaltung, Muskeltonus und Intestina bestünden, was nach seiner Sicht- und Behandlungsweise durchaus der völlig unabhängig entwickelten viszeralen Osteopathie nahekam. Mayr erfuhr seine erste Motivation aufgrund unbefriedigter ärztlicher Neugier, als sein geschätzter akademischer Lehrer die vom jungen Medizinalassistenten Mayr erhobene Frage unbeantwortet lassen musste, wie man durch Untersuchung mit Händen und Stethoskop
10
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 1 · Die Geschichte naturheilkundlicher Ernährungskonzepte
den Normalbefund eines Darmes ähnlich dem des Thorax erheben und beschreiben könne. Mit dem Buch »Die Ordnung unserer Nahrung« wurde der Arzt und Ernährungsforscher Werner Kollath (1892–1970) zum Begründer der Vollwerternährung. In Tierfütterungsversuchen machte er deutlich, dass nicht einzelne Vitamine, sondern die Zusammensetzung der gesamten Kost für die Vorbeugung von Mangelernährung verantwortlich ist. Zudem hob er mit seinen Experimenten die Bedeutung des Wertverlustes von Lebensmitteln durch Verarbeitung hervor. Aus diesen Forschungsergebnissen leitete er die Forderung ab, »die Nahrungsmittel so natürlich zu lassen wie möglich« (Kollath 1937, S. 271). Vom »Vollwert der Nahrung« spricht Kollath, wenn die Nahrung »neben ausreichender Nahrungsenergie sämtliche lebenswichtigen Mineralien und Spurenelemente, alle Vitamine, Auxone, Aromastoffe und Eigenfermente in dem natürlichen Verhältnis enthält« (Kollath 2005, S. 60ff.). > In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die wesentlichen naturheilkundlichen Konzepte der Ernährungstherapie ausformuliert und wurden auch praktiziert. Dagegen fand praktisch keine klinische Forschung zur Untersuchung ihrer Wirkungen und Wirksamkeit statt.
Zur Verbreitung der Vollwerternährung trug der Arzt Max Otto Bruker (1909–2001) wesentlich bei. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde er Leiter einer Anstalt und mehrerer Kliniken. In den von ihm geleiteten Häusern führte er eine »vollwertige Kost« im Sinne von Kollath ein und sammelte in der jahrzehntelangen Anwendung derselben umfangreiche klinische Erfahrungen (Melzer 2003, S. 355 ff.). Später prägte er für die Vollwerternährung den Begriff der »vitalstoffreichen Vollwertkost« (Bruker 1966). Er setzte diese in der Therapie ernährungsbedingter Erkrankungen ein. Insbesondere in der Behandlung gastrointestinaler Erkrankungen war Bruker nach seinen Aussagen mit der Vollwertkost erfolgreich (Bruker 1958). Schwerpunktmäßig befasste sich der Arzt mit der Verträglichkeit der Vollwertkost, die seiner Ansicht nach durch das konsequente Meiden von Zucker erreicht wurde. Durch eine laienverständliche Buchreihe, die Bruker ab 1970
verfasste, trug er wesentlich zur Popularisierung der Vollwerternährung bei. Darüber hinaus versuchte er, zu den Themen Ernährung und natürliche Lebensweise gesundheitspolitischen Einfluss auszuüben. Dabei blieben sichtbare Erfolge aus, weshalb sich Bruker der Laienausbildung auf dem Gebiet der Vollwerternährung zuwandte.
1.3.4
Universitäre Forschung
Eine wesentliche Weiterentwicklung erfuhr das Konzept der Vollwerternährung durch die Ernährungswissenschaftler Karl W. von Koerber und Thomas Männle sowie den Biochemiker Claus Leitzmann. Angeregt durch Brukers Vollwertkost, befassten sie sich im Rahmen der universitären Forschung mit der Vollwerternährungund veröffentlichten 1981 das Buch »Vollwert-Ernährung« (Koerber et al. 1981). Die Autoren beziehen sich hier auf die historischen Wurzeln der Vollwerternährung, insbesondere auf die Vorstellungen Kollaths. Sie verbinden die inzwischen fortgeschrittenen Kenntnisse der Ernährungswissenschaft über essenzielle Nahrungsinhaltstoffe mit der bereits von Kollath ausgesprochenen Forderung, die Nahrung so natürlich wie möglich zu belassen: »Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Nahrung alle essenziellen Bestandteile enthält, ist um so größer, je weniger behandelt, also je naturbelassener die Lebensmittel sind« (Koerber et al. 2004, S. 21). Eine so definierte vollwertige Kost sehen sie als Grundvoraussetzung an, um ernährungsabhängigen Krankheiten entgegenzuwirken. Sie blieben jedoch nicht bei gesundheitlichen Aspekten stehen, sondern erweiterten die Betrachtungsweise der Ernährung um ökologische und soziale Aspekte (7 Kap. 8). In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dann auch erstmalig Ernährungsformen, die ihren Ursprung nicht in Mitteleuropa hatten, in die naturheilkundliche Ernährungstherapie integriert, z. B. die makrobiotische Ernährung. Zudem wurden längst bekannte Kostformen wie die Haysche Trennkost wiederentdeckt (7 Kap. 10). Die internationale epidemiologische Forschung zu Ernährungseinflüssen auf kardiovaskuläre Morbiditäten und Mortalitäten lenkte die Aufmerksamkeit auf die Ernährung im Mittelmeerraum und leg-
11 1.4 · Zusammenfassung
te die Grundlagen für die weitere klinische Erforschung und Akzeptanz der sogenannten mediterranen Kost (7 Kap. 12). Für eine wissenschaftliche Erforschung weiterer naturheilkundlicher Ernährungskonzepte wäre die Durchführung großer Studien mit einigen Hundert, wenn nicht Tausenden Patienten und mit Beobachtungszeiträumen von mehreren Jahren erforderlich. Dies ist zwar heute durchaus möglich, stellt aber für die Naturheilkunde ein grundsätzliches Hindernis dar, da diese im Unterschied zur wissenschaftlich fundierten Medizin eher durch die Überzeugungskraft großer ärztlicher Persönlichkeiten lebt, welche aber in Mitteleuropa lange Zeit nicht über einen Zugang zur akademischen Medizin verfügten. In einem ersten Ansatz öffentlicher Forschungsförderung des damaligen Bundesministeriums für Forschung und Technologie zwischen 1992 und 2003 in den beiden Projekten »Unkonventionelle Methoden der Krebsbekämpfung« und »Unkonventionelle Medizinische Richtungen« waren keine Ernährungsprojekte enthalten. In den letzten 20 Jahren scheint sich eine Tendenz zur Annäherung zwischen naturheilkundlicher und konventioneller Medizin abzuzeichnen. Der erste Lehrstuhl für Naturheilkunde wurde in Deutschland 1989 an der Freien Universität Berlin eingerichtet. Inzwischen gibt es an den Universitäten Rostock und Duisburg-Essen ähnliche Einrichtungen. Die Ernährungstherapie ist seit ihrer Aufnahme 1975 obligatorischer Bestandteil der ärztlichen Weiterbildung »Naturheilverfahren« mit einem konstanten Anteil von 10 % des von der Bundesärztekammer vorgeschlagenen Curriculums von 160 Kursstunden. Dieses entspricht zunehmend weniger dem Stellenwert der Ernährungstherapie in der ärztlichen Praxis. Die großen meinungsbildenden Gesellschaften, die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (ausschließlich für Ärzte) und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE; für alle Berufsgruppen, insbesondere auch für Ökotrophologen und Diätassistenten) empfehlen eine »vollwertige Ernährung«, die in ihrer theoretischen Begründung zwar vom Konzept der Vollwert-Ernährung abweicht, in der praktischen Umsetzung allerdings der Vollwert-Ernährung der Gießener Schule nahe kommt (7 Kap. 2). Im Unterschied zur Definition
1
der Vollwert-Ernährung nach von Koerber, Männle und Leitzmann berücksichtigt die DGE allerdings lediglich die ernährungsmedizinischen Aspekte. Darüber hinaus finden sich neben der Vollwerternährung in der Naturheilkunde weitere Konzepte für die Ernährungstherapie, insbesondere das präventive und therapeutische Fasten, die Mayr-Diät. Die Naturheilkunde hat durch die zunehmende Hinwendung zur traditionellen indischen und chinesischen Medizin auch deren ernährungstherapeutische Konzepte integriert. Beiden ist insbesondere gemein, dass sie keine pauschalen, sondern deutlich an der individuellen Konstitution wie der jeweiligen Krankheitslage orientierte Empfehlungen aussprechen. Die traditionelle chinesische Medizin berücksichtigt dabei insbesondere die Lehre der fünf Elemente und beabsichtigt eine Kompensation zu großer dauerhafter Ausschläge im lebenslangen und letztlich auch das Leben konstituierenden Kräftespiel des Yin und Yang. Die ayurvedische Ernährungsphilosophie für Gesunde wie für Kranke aus Indien orientiert sich in erster Linie an der aktuellen Balance der drei Doshas Pitta, Vata und Kapha, um dadurch gezielt einem Ungleichgewicht gegenzusteuern. Bei einem Überschuss an Pitta, synonym für hitzige Energie, verordnet sie beispielsweise kühlende Speisen wie Melonen. Diese Denkweise scheint auf viele Patienten – und auch auf viele Ärzte – eine Faszination auszuüben, kommt sie doch einer an Konstitution und aktueller Krankheitslage orientierten Individualmedizin ähnlich der Homöopathie nahe. Ob sich hierdurch Verbesserungen von Risikosituationen oder gar klinischen Verläufen erzielen lassen, wurde bislang allerdings nicht mit den Methoden heutiger klinischer Forschung untersucht.
1.4
Zusammenfassung
Sowohl die Ernährungstherapie an sich als auch ihre naturheilkundliche Anwendung haben ihre Wurzeln in der griechischen und römischen Antike. Wesentliche Elemente wurden durch das Mittelalter bis in die Neuzeit hin tradiert. Das 16. Jahrhundert legte die Grundlagen einer naturwissenschaftlich fundierten Medizin, was zunächst mit einem Bedeutungsverlust der Dietätik einherging. Erst durch den
12
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 1 · Die Geschichte naturheilkundlicher Ernährungskonzepte
Einfluss Jean-Jacques Rousseaus erlangte auch die Ernährung wieder einen gewissen Stellenwert im medizinischen Bewusstsein. In dieser Tradition entwickelte sich im 19. Jahrhundert die Naturheilkunde. Besonders der Vegetarismus lieferte wesentliche Anstöße für die naturheilkundliche Diskussion um eine optimale Ernährung für Gesunde und Kranke. Mit dem Übergang zum 20. Jahrhundert begannen sich vermehrt auch akademisch ausgebildete Mediziner mit der Ernährungstherapie zu beschäftigten – Therapieformen wurden entwickelt, die bis heute Einfluss auf naturheilkundliche Konzepte haben. Auch wenn der Forschungsstand noch zu wünschen übrig lässt, so liegen doch bereits wesentliche Untersuchungen unter anderem zur Vollwert-Ernährung vor. Eine Tendenz zur Annäherung zwischen naturheilkundlicher und konventioneller Medizin scheint sich abzuzeichnen.
Literatur Ackerknecht EH: Geschichte der Medizin. Enke, Stuttgart, 7. Aufl. (1992) Bircher-Benner MO: Ernährungskrankheiten. Wendepunkt, Zürich (1921) Bircher-Benner MO: Fragen des Lebens und der Gesundheit. Wendepunkt, Zürich (1937) Bircher-Benner MO: Ordnungsgesetze des Lebens als Wegweiser zur echten Gesundheit. Vorträge Zürich,1937. Neuausgabe Bad Homburg: Bircher-Benner Verlag (1977) Bruker MO: Die Schlüsselstellung des Zuckers in der Pathogenese. Diaita 4: 8–11 (1958) Bruker MO: Die Fettsucht – eine Vitalstoffmangelkrankheit. Der Naturarzt 88: 413–416 (1966) Buchinger O: Das Heilfasten und seine Hilfsmethoden als biologischer Weg. Hippokrates, Stuttgart (1935) Dierauer U: Vegetarismus und Tierschonung in der griechisch-römischen Antike. In: Linnemann M, Schorcht C (Hrsg.). Vegetarismus. Zur Geschichte und Zukunft einer Lebensweise. Harald Fischer, Erlangen (2001), S. 9–72 Hufeland CW: Makrobiotik oder Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern. Berlin (1796) Jütte R: Geschichte der alternativen Medizin: Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute. Beck, München (1996) Kjedsen-Kragh J, Haugen M, Borchgrevinik C et al: Controlled trial of fasting and one year vegetarian diet in rheumatoid arthritis. Lancet 338: 899–902 (1991) Kneipp S: Meine Wasserkur. Kempten, 22. Aufl. (1890) Koerber K v, Männle T, Leitzmann C: Vollwert-Ernährung. Haug, Heidelberg (1981)
Koerber K v, Männle T, Leitzmann C: Vollwert-Ernährung. Haug, Heidelberg, 10. Aufl. (2004) Kollath W: Grundlagen, Methoden und Ziele der Hygiene. Hirzel, Leipzig (1937) Kollath W: Die Ordnung unserer Nahrung. Haug, Stuttagrt, 17. Aufl. (2005) Leitzmann C, Keller M: Vegetarische Ernährung. Ulmer, Stuttgart (2009) Melzer J: Vollwerternährung. Diätetik, Naturheilkunde, Nationalsozialismus, sozialer Anspruch. Franz Steiner, Stuttgart (2003) Nutton V: Säftelehre. In: Cancik H, Schneider H: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 10. Metzler, Stuttgart/Weimar (2001), Sp. 1208–1210 Riedweg C: Pythagoras. In: Cancik H, Schneider H: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 1. Metzler, Stuttgart/ Weimar (2001), Sp. 648–653 Schipperges H: Wege zu neuer Heilkunst. Haug, Heidelberg (1978) Schlickeysen G: Blut oder Frucht. Freiburg/Breisgau, 2. Aufl. (1921) Teuteberg HJ: Zur Sozialgeschichte des Vegetarismus. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 81: 33–65 (1994)
2
13
Ernährungsphysiologische Grundlagen und Prinzipien vollwertiger Ernährung Helmut Oberritter
2.1
Haupt- und Mikronährstoffe
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5
Kohlenhydrate – 14 Fett – 14 Eiweiß – 15 Wasser – 15 Die Mikronährstoffe – 15
2.2
Energiegehalt und Nährstoffdichte von Lebensmitteln – 17
2.2.1 2.2.2
Energie und Körpergewicht Nährstoffdichte – 17
2.3
Optimale Nährstoffzufuhr
2.4
Umsetzung präventiv-medizinischer Erkenntnisse
2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5 2.4.6 2.4.7 2.4.8 2.4.9
Vermeidung von Übergewicht – 18 Moderate Fettzufuhr – 18 Fettmodifikation – 19 Viel ballaststoff- und stärkereiche Lebensmittel Ausreichend Mikronährstoffe – 20 Viel bioaktive sekundäre Pflanzenstoffe – 21 Viel Obst und Gemüse – 21 Wenig Schadstoffe – 21 Wenig Alkohol, Zucker und Salz – 21
2.5
Psychologische und soziologische Faktoren
2.6
Verzehrempfehlungen für die Praxis
2.6.1 2.6.2
Die 10 Regeln der DGE – 23 Der Ernährungskreis – Hilfsmittel für die Praxis
2.7
Alternative Kostformen
2.8
Zusammenfassung
– 26
– 14
– 17
– 17
– 26
– 19
– 22
– 22 – 24
– 18
14
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 2 · Ernährungsphysiologische Grundlagen und Prinzipien vollwertiger Ernährung
Die Ernährung dient dem Aufbau und der Erhaltung des Organismus. Mit der Nahrung werden Nährstoffe (Hauptnährstoffe und Mikronährstoffe) aufgenommen. Das sind in Lebensmitteln enthaltene Stoffe, die dem Aufbau des Körpers, dem Ersatz verbrauchter Körpersubstanz, der Steuerung von Körperfunktionen und der Lieferung von Energie dienen. Bei der Empfehlung einer vollwertigen Ernährung müssen verschiedene Punkte beachtet werden, so Energiegehalt und Nährstoffdichte der Lebensmittel, die optimale Nährstoffzufuhr gemäß den D-A-CH-Referenzwerten (Deutschland, Österrreich, Schweiz) für die Nährstoffzufuhr, präventiv-medizinische Erkenntnisse, Erkenntnisse der Ernährungspsychologie und -soziologie sowie die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung. Das folgende Kapitel behandelt diese Aspekte und stellt die in 10 Regeln zusammengefassten Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) für eine gesund erhaltende, vollwertige Ernährung vor. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 Haupt- und Mikronährstoffe (Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente), 4 Energiegehalt und Nährstoffdichte von Lebensmitteln, 4 die optimale Nährstoffzufuhr und die Umsetzung präventiv-medizinischer Erkenntnisse, 4 die Berücksichtigung psychologischer und soziologischer Faktoren und von Ernährungsgewohnheiten bei Ernährungsempfehlungen, 4 die von der DGE formulierten Regeln für eine gesund erhaltende, vollwertige Ernährung.
2.1
Haupt- und Mikronährstoffe
2.1.1
Kohlenhydrate
Kohlenhydrate sind Nährstoffe, die von Pflanzen durch Photosynthese gebildet werden. In geringen Mengen kommen sie auch im tierischen Organismus vor. Kohlenhydrate sind die wichtigsten Energielieferanten mit einem Energiegehalt von 17 kJ (4,0 kcal) pro Gramm. Man unterscheidet: 4 Monosaccharide wie Glucose (Traubenzucker) und Fructose (Fruchtzucker)
4 Disaccharide wie Saccharose (Rohr- oder Rübenzucker [Haushaltszucker]), Maltose (Malzzucker) oder Lactose (Milchzucker) und 4 Polysaccharide wie Stärke oder Cellulose. Stärkehaltige Lebensmittel, wie Getreideprodukte, Kartoffeln oder Hülsenfrüchte, sind häufig auch reich an Vitaminen, Mineralstoffen und Ballaststoffen. Sie liefern auch pflanzliches Eiweiß und Fett in geringen Mengen und sättigen anhaltend.
2.1.2
Fett
Nahrungsfette sind vor allem als Triglyzeride aufgebaut. Sie sind konzentrierte Energielieferanten mit einem Energiegehalt von 37 kJ (9,0 kcal) pro Gramm – dieser ist damit mehr als doppelt so hoch wie bei Kohlenhydraten und Eiweiß. Hoher Fettkonsum trägt wesentlich zur Entstehung von Übergewicht und ernährungsabhängigen Gesundheitsstörungen bei. Allerdings sind Fette auch Träger fettlöslicher Vitamine und liefern Fettsäuren, die zum Aufbau von Hormonen oder Zellmembranen benötigt werden. Fette werden durch die Verdauung in Glyzerin und Fettsäuren gespalten. Die Fettsäuren haben je nach Aufbau unterschiedliche Bedeutung. Man unterscheidet: 4 gesättigte Fettsäuren, die überwiegend in tierischen Lebensmitteln vorkommen, 4 einfach- und mehrfach ungesättigte Fettsäuren, die vor allem in Pflanzenölen und -fetten enthalten sind. Gesättigte und einfach ungesättigte Fettsäuren können vom Körper selbst aufgebaut werden. Die »essenziellen« mehrfach ungesättigten Fettsäuren können vom Körper nicht synthetisiert werden und müssen mit der Nahrung zugeführt werden. Man unterscheidet hier die vor allem in Pflanzenölen vorkommenden ω-6-Fettsäuren, wie Linolsäure oder Arachidonsäure und die vor allem in Fettfischen enthaltenen ω-3-Fettsäuren, wie die Eicosapentaensäure.
15 2.1 · Haupt- und Mikronährstoffe
2.1.3
Eiweiß
Nahrungseiweiß (Protein) versorgt den Organismus mit Aminosäuren, die zum Aufbau körpereigener Proteine und vieler Wirkstoffe benötigt werden. Proteine sind für den Aufbau, Umbau und Erhalt von Körpersubstanz, für die Steuerung verschiedenster Stoffwechselvorgänge, die Aufrechterhaltung von Stoffkonzentrationen und die Regulation des Wasserhaushalts mit verantwortlich. Proteine haben einen Energiegehalt von 17 kJ (4,0 kcal) pro Gramm. Je geeigneter die Aminosäurenzusammensetzung eines Proteins für die Ernährung des Menschen ist, desto höher ist seine biologische Wertigkeit. Die sog. essenziellen Aminosäuren können vom Organismus nicht synthetisiert werden und müssen mit der Nahrung zugeführt werden. Tierische Proteine haben meist eine höhere biologische Wertigkeit als pflanzliche.
2.1.4
Wasser
Beim Erwachsenen besteht der Körper zu 50–60 %, beim Säugling zu 70 % aus Wasser. Wassermangel führt rasch zu schwerwiegenden Schäden. Bereits nach 2 bis 4 Tagen können harnpflichtige Substanzen nicht mehr ausgeschieden werden. Es kommt zu Bluteindickung und Kreislaufversagen.
2.1.5
Die Mikronährstoffe
Neben den essenziellen Fettsäuren und den essenziellen Aminosäuren sind die Mikronährstoffe, d. h. Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente, lebensnotwendig und müssen mit der Nahrung zugeführt werden.
Vitamine Vitamine (. Tab. 2.1, mod. nach Oberritter 2009) sind lebensnotwendige Nährstoffe mit zahlreichen Funktionen im Organismus. Sie sind an zahlreichen Stoffwechselprozessen beteiligt und müssen mit der Nahrung zugeführt werden. Man unterscheidet die fettlöslichen Vitamine A, D, E und K von den wasserlöslichen Vitaminen B1, B2, B6, B12, Folsäure, Niacin, Pantothensäure, Bio-
2
tin und Vitamin C. In den Lebensmitteln kommen auch Vorstufen der Vitamine vor, wie β-Carotin als Vorstufe von Vitamin A. Bei unzureichender Vitaminversorgung kann es zu Leistungsabfall und anderen Gesundheitsstörungen, im Extremfall zu krankhaften Mangelerscheinungen kommen. Die sogenannten »antioxidativen« Vitamine C, E und das Provitamin β-Carotin sind in der Lage, Schädigungen von Zellen, Zellbestandteilen oder auch Lipoproteinen durch Radikale oder aggressive Sauerstoffverbindungen zu verhindern. Ihnen wird daher eine Bedeutung bei der Prävention zahlreicher Erkrankungen, vor allem des Herz-KreislaufSystems und von Krebs zugemessen.
Mineralstoffe und Spurenelemente Mineralstoffe sind anorganische, lebensnotwendige Elemente, die vom Menschen in größeren Mengen benötigt werden. Sie liefern keine Nahrungsenergie. Mineralstoffe sind Kalium, Natrium, Chlorid, Kalzium, Magnesium und Phosphor. Sie sind u. a. für die Funktionen von Muskeln und Nerven notwendig, aber auch als Bestandteile von Bau- und Gerüstsubstanzen. Spurenelemente sind ebenfalls essenzielle anorganische Elemente. Sie werden vom Organismus jedoch nur in kleinsten Mengen (Spuren) benötigt. Wichtige Spurenelemente sind Eisen, Jod, Kupfer, Chrom, Molybdän, Fluor, Zink, Mangan, Kobalt und Selen. Bei einigen anderen Elementen wird zurzeit diskutiert, ob sie zu den Spurenelementen zu rechnen sind. Mineralstoffe und Spurenelemente sind an zahlreichen Stoffwechselprozessen beteiligt, sie sind wichtig für die Regulation des Wasserhaushalts, zur Aufrechterhaltung notwendiger Stoffkonzentrationen im Körper und dienen als Baustoffe, z. B. des Knochens, der Muskeln oder des Hämoglobins (. Tab. 2.2, mod. nach Oberritter 2009).
16
1
Kapitel 2 · Ernährungsphysiologische Grundlagen und Prinzipien vollwertiger Ernährung
. Tab. 2.1 Fett- und wasserlösliche Vitamine mit ihren wichtigsten Funktionen und Quellen Wichtig für
Lieferanten
Vitamin A (und β-Carotin)
Wachstum, Haut, Sehvorgang
Karotten, Spinat, Grünkohl, Rinderleber, Eigelb, Butter
3
Vitamin D
Knochenfestigkeit, Immunsystem, HerzKreislauf-Regulation
Fisch, Champignons, Kalbfleisch, Lebertran
4
Vitamin E
Funktion der Blutgefäße, Muskeln, Fortpflanzungsorgane
Weizenkeime, Sojabohnen, Weizenkeim-, Soja- und Sonnenblumenöl
5
Vitamin K
Blutgerinnung
Grüngemüse (Brokkoli, andere Kohlsorten, Spinat), Leber, Fleisch, Milch und Milchprodukte
Vitamin B 1
Steuerfunktion des Stoffwechsels, Nervensystem, Herz
Vollkornerzeugnisse, Leber, Hülsenfrüchte, Kartoffeln
Vitamin B2
Sauerstofftransport, Eiweißstoffwechsel, Haut
Milch und Milchprodukte, Fleisch, Vollkornerzeugnisse, Seefisch
Niacin (Nicotinsäure)
Auf- und Abbau von Fetten, Eiweiß und Kohlenhydraten
Fleisch, Fisch, Getreide, verschiedene Nüsse
Folsäure
Zellteilung, Zellneubildung
Weizenkeimlinge, Sojabohnen, Grüngemüse, Vollkornerzeugnisse, Kartoffeln, Fleisch sowie Milch und Milchprodukte
Panthothensäure
Kohlenhydrat-, Fett-, Eiweißstoffwechsel
Fleisch, Fisch, Milch und Milchprodukte, Vollkornerzeugnisse, Hülsenfrüchte
Biotin
Hautfunktion, Aufbau von Fettsäuren und Kohlenhydraten
Leber, Niere, Eigelb und Sojabohnen
Vitamin B 12
Blutbildung
Fisch, Eier, Milch und Käse
Vitamin C
Eisenverwertung, Aufbau von Bindegewebe, Infektionsabwehr
Zitrusfrüchte, Kiwi, schwarze Johannisbeeren, Paprika, Kartoffeln
2
6 7 8 9 10 11 12 13 14
. Tab. 2.2 Die wichtigsten Mineralstoffe und Spurenelemente
15 16 17 18 19 20
Wichtig für
Lieferanten
Kalium
Gewebespannung, Muskelfunktion
Obst, Gemüse, Kartoffeln
Kalzium
Festigkeit von Knochen und Zähnen, Nerven- und Muskelfunktion
Milch und Milchprodukte
Phosphor
Knochen, Zähne, Energiestoffwechsel
Fleisch und Fleischprodukte
Magnesium
Aktivierung zahlreicher Enzyme, Nervenund Muskelfunktionen
Vollkornerzeugnisse, Milch und Milchprodukte, Fleisch, Fisch, Gemüse, Obst
Eisen
Blutbildung, Sauerstofftransport
Fleisch, Gemüse, Hülsenfrüchte, Vollkornerzeugnisse (Vitamin C verbessert die Eisenaufnahme!)
Jod
Bestandteil der Schilddrüsenhormone
Seefisch und Meeresfrüchte, in geringen Mengen auch in Milch und Ei
Natrium und Chlorid
Gewebespannung, Muskelfunktion
Kochsalz
17 2.3 · Optimale Nährstoffzufuhr
2.2
2.2.1
Energiegehalt und Nährstoffdichte von Lebensmitteln
. Tab. 2.3 BMI für Normal- und Übergewicht Körpergewicht
BMI [kg/m2]
Energie und Körpergewicht
Normalgewicht
18,5–24,9
Der Körper benötigt Energie aus Lebensmitteln. Energielieferanten sind im Wesentlichen die Nährstoffe Kohlenhydrate, Fett und Eiweiß, in der Bundesrepublik zu einem gewissen Anteil auch Alkohol (Ethanol; DGE 2008b). Der Energieverbrauch setzt sich aus dem Grundumsatz für die Aufrechterhaltung der Körperfunktionen und dem Leistungsumsatz für körperliche Aktivitäten zusammen. Richtwerte für die durchschnittliche tägliche Energiezufuhr bei leichter körperlicher Aktivität sind in den Referenzwerten für die Nährstoffzufuhr dargestellt (DGE et al. 2008, D-A-CH-Referenzwerte). In der Praxis überprüft man am besten mit der Waage, ob Energiezufuhr und Energieverbrauch im Gleichgewicht sind. Zur Feststellung des akzeptablen Gewichtsbereiches ist der Body-Mass-Index (BMI) am besten geeignet (WHO 2000): . Tab. 2.3 zeigt die Einteilungen für Normalund Übergewicht. Die DGE empfiehlt Erwachsenen, die tägliche Nahrungsenergie wie folgt aufzunehmen (DGE 2009): 4 Kohlenhydrate: >50 % der zugeführten Energie 4 Fett: <30 % 4 Protein: 9–11 % In der Praxis wird die Proteinzufuhr, nicht zuletzt auch wegen des Proteingehalts der pflanzlichen Grundlebensmittel, eher höher liegen. Dies ist bei einer sonst ausgewogenen Ernährung akzeptabel, da Schäden durch eine höhere Proteinzufuhr beim Gesunden nicht bekannt sind.
2.2.2
Nährstoffdichte
Eine wichtige Größe zur Beurteilung der Nährstoffversorgung und der Qualität eines Lebensmittels ist die Nährstoffdichte. Hierbei wird der Gehalt an einem Nährstoff in Beziehung zum Energiegehalt eines Lebensmittels gesetzt und mit dem ana-
Übergewicht
25,0–29,9
Adipositas Grad 1
30,0–34,9
Adipositas Grad 2
35,0–39,9
Adipositas Grad 3
>40
2
logen Quotienten der Empfehlungen für die Nährstoffzufuhr für den entsprechenden Nährstoff verglichen (DGE et al. 2008). Lebensmittel, deren Nährstoffdichte der in den Empfehlungen festgelegten Nährstoffdichte entspricht oder sie übersteigt, sind ernährungsphysiolgisch günstig zu bewerten.
2.3
Optimale Nährstoffzufuhr
Die optimale Versorgung mit Haupt- und Mikronährstoffen verhindert Nährstoffmangel und -unterversorgung mit den daraus resultierenden Gesundheitsbeeinträchtigungen, ermöglicht ein optimales Stoffwechselgeschehen bzw. Funktionieren des Organismus und beugt ernährungsmitbedingten Erkrankungen vor. Wie oben bereits angeführt führt Wassermangel rasch zu schwerwiegenden Schäden. Der Organismus von Kindern und Erwachsenen benötigt täglich 1,5–2,5 l Wasser, Säuglinge brauchen 0,7– 0,9 l (DGE et al. 2008). Bei hohen Temperaturen, anstrengender körperlicher Arbeit, Sport, aber auch bei Fieber, Durchfall oder Erbrechen ist der Wasserbedarf erhöht. In den D-A-CH-Referenzwerten für die Nährstoffzufuhr (DGE et al. 2008) sind für die einzelnen Nährstoffe Empfehlungen für die tägliche Nährstoffzufuhr für bestimmte Bevölkerungsgruppen dargestellt. Bei einigen Nährstoffen kann der Bedarf noch nicht mit wünschenswerter Genauigkeit bestimmt werden. In diesen Fällen werden Schätzwerte angegeben, die zwar experimentell gestützt, aber noch nicht genügend abgesichert sind. Richtwerte im Sinne von Orientierungshilfen
18
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
werden genannt, wenn aus gesundheitlichen Gründen eine Regelung der Zufuhr zwar nicht innerhalb scharfer Grenzwerte, aber doch in bestimmten Bereichen notwendig ist. Die D-A-CH-Referenzwerte sind für die Planung einer bedarfsdeckenden Ernährung und als Bezugswerte für die Beurteilung der Nährstoffversorgung in verschiedenen Bevölkerungsgruppen geeignet. Sie sind jedoch aufgrund starker individueller Unterschiede kein Kriterium zur Beurteilung des Versorgungszustandes von Einzelpersonen. Für eine vollwertige Ernährung (7 Kap. 2.6) genügt es, wenn die durchschnittliche Nährstoffversorgung über den Zeitraum einer Woche der empfohlenen Zufuhr entspricht.
2.4
2.4.1
17 18 19 20
Umsetzung präventivmedizinischer Erkenntnisse
Erkenntnisse über gesundheitsfördernde Wirkungen von Makro- und Mikronährstoffen und anderen Nahrungsbestandteilen, speziell auch unter Berücksichtigung der Zufuhrmengen, zeigen auf, dass eine richtig zusammengestellte Ernährung eine wesentliche Säule zur Prävention ernährungsmitbedingter Erkrankungen ist, ja sogar in der Therapie eine entscheidende Rolle spielen kann. Die vollwertige Ernährung der DGE dient somit der Prävention, ist aber auch Grundlage bei der Behandlung ernährungsmitbedingter Gesundheitsstörungen. Folgende Ziele sind anzustreben:
15 16
Kapitel 2 · Ernährungsphysiologische Grundlagen und Prinzipien vollwertiger Ernährung
Vermeidung von Übergewicht
Es ist hinreichend belegt, dass mit zunehmender Fettansammlung Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken zunehmen. Übergewicht begünstigt nicht nur die Risikofaktoren (Hypertonie, Hypercholesterinämie, Hypertriglyzeridämie, Hyperurikämie und Diabetes mellitus) für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sondern gilt auch als unabhängiger Risikofaktor. Übergewicht erhöht zudem das Risiko für zahlreiche Krebserkrankungen (World Cancer Research Fund 2008). Übergewicht ist der in Industrieländern am weitesten verbreitete Risikofaktor (WHO 2003b).
2.4.2
Moderate Fettzufuhr
Ein ansteigender Konsum von Fett erhöht mit wahrscheinlicher Evidenz das Risiko für Adipositas und einen BMI >30 (DGE 2006). Eine fettmoderate Ernährung ist somit die Basis für die Prävention von Übergewicht und dessen Therapie (Deutsche Adipositas-Gesellschaft et al. 2007). Mit überzeugender Evidenz birgt ein hoher Fettkonsum ein erhöhtes Risiko für eine Fettstoffwechselstörung, v. a. wenn viele gesättigte Fettsäuren, die insbesondere aus tierischen Lebensmitteln stammen, verzehrt werden. Demgegenüber hängt die Fettmenge nach aktueller Studienlage nicht mit dem Krebsrisiko zusammen – die Evidenz hierfür ist wahrscheinlich (DGE 2006). Durch die hohe Energiedichte und meist geringe Nährstoffdichte fettreicher Lebensmittel werden andere, nährstoffreiche Lebensmittel verdrängt und somit nicht in ausreichender Menge verzehrt. Somit kann ein hoher Fettkonsum auch zu einer unzureichenden Versorgung mit Mikronährstoffen führen. Fettmenge und Fettart haben einen wichtigen Einfluss auf die Serum-Cholesterinkonzentration und das damit verbundene Risiko von Arteriosklerose und Herzinfarkt (DGE et al. 2008). Die Cholesterinkonzentration im Blut als wichtiger Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen kann durch die Fettmenge und das Verhältnis zwischen gesättigten und ungesättigten Fettsäuren in der Nahrung beeinflusst werden. Gesättigte Fettsäuren heben die Cholesterinwerte im Blut an, einfach und besonders mehrfach ungesättigte Fettsäuren senken sie. Nahrungscholesterin erhöht im Vergleich zu den gesättigten Fettsäuren die Cholesterinkonzentration weniger. Dennoch ist auf die Cholesterinzufuhr mit der Nahrung zu achten, sie sollte 300 mg/Tag nicht wesentlich übersteigen (DGE et al. 2008). Durch eine Begrenzung des Fettverzehrs auf maximal 30 % der täglichen Zufuhr an Nahrungsenergie werden die genannten Risiken vermieden. Ein fettmoderate, ballaststoffreiche Ernährung ist somit für die Prävention der Arteriosklerose geeignet (7 Kap. 7.8). Auch in der Prävention bestimmter Krebserkrankungen spielt eine derartige Ernährung eine wichtige Rolle (World Cancer Research Fund u. American Institute for Cancer Research
19 2.4 · Umsetzung präventiv-medizinischer Erkenntnisse
1997, DGE 2000a, 2008b, World Cancer Research Fund 2008).
2.4.3
Fettmodifikation
Abgesehen von der Fettmenge spielt die Zusammensetzung des Fettes in der Ernährung eine wesentliche Rolle. Speziell den Fettstoffwechselstörungen, die ein Risikofaktor für Arterienverkalkung und Herz-Kreislauf-Krankheiten sind, kann mit überzeugender Evidenz mit dem richtigen Fettsäuremuster vorgebeugt werden: Präventiv wirkt es, viele einfach und mehrfach ungesättigte Fettsäuren aus pflanzlichen Ölen zu verzehren, risikoerhöhend wirkt ein hoher Konsum von gesättigten Fettsäuren. Übeltäter sind auch die trans-Fettsäuren, z. B. aus Pommes frites, Chips, Fertiggerichten, Gebäck etc., die mit überzeugender Evidenz das Risiko für Fettstoffwechselstörungen und koronare Herzkrankheit erhöhen. Die v. a. in Fisch enthaltenen langkettigen ω-3-Fettsäuren senken mit überzeugender Evidenz das Risiko für Hypertriglyceridämie, Bluthochdruck und koronare Herzkrankheit (DGE 2006). Mehrfach ungesättigte Fettsäuren senken erhöhte Cholesterinspiegel. Dies gilt auch für einfach ungesättigte Fettsäuren, jedoch sind diese weniger effektiv. Aufgrund der Möglichkeit einer Oxidation von LDL (low density lipoproteins) soll die Zufuhr mehrfach ungesättigter Fettsäuren jedoch nicht zu hoch gewählt werden. Daraus ergibt sich die folgende Regel.
Richtwerte für die Zufuhr von Fettsäuren (DGE 2009) 5 Gesättigte Fettsäuren: maximal 10 % der Nahrungsenergie 5 Einfach ungesättigte Fettsäuren: mindestens 10 % der Nahrungsenergie 5 Mehrfach ungesättigte Fettsäuren: etwa 7 % der Nahrungsenergie
Aufgrund der positiven Eigenschaften der vor allem in Fischen (insbesondere Fettfischen wie Makrele, Hering, Lachs) enthaltenen ω-3-Fettsäuren sind 1–2 Seefischmahlzeiten pro Woche empfehlenswert.
2
Das Verhältnis von ω-3- zu ω-6-Fettsäuren sollte 5:1 betragen (DGE et al. 2008).
2.4.4
Viel ballaststoff- und stärkereiche Lebensmittel
Eine fettmoderate und kohlenhydratbetonte Ernährung ist eine wirksame Maßnahme zur Gewichtsregulierung und zur Vermeidung von Übergewicht, Adipositas und deren Folgeerkrankungen (Tuomilehto et al. 2001, Diabetes Prevention Program Research Group 2002, Wolfram 2003a, 2003b). Geringe Energiedichte und großes Volumen der meisten stärke- und ballaststoffreichen bzw. pflanzlichen Lebensmittel im Allgemeinen sorgen dafür, dass bei hohem Verzehr dieser Lebensmittel eine überkalorische Ernährung nur schwer realisiert werden kann. Kohlenhydrate haben zudem einen guten Sättigungseffekt. Grundsätzlich ist vor allem die Wahl der Kohlenhydrate wichtig. Ballaststoffreiche Lebensmittel (Vollkornprodukte), die lange verdaut werden und einen geringeren Anstieg des Glucose- bzw. Insulinspiegels hervorrufen, sind gegenüber schnell resorbierbaren Kohlenhydraten zu bevorzugen. Der glykämische Index respektive die glykämische Last von kohlenhydratliefernden Lebensmitteln werden bei bestimmten Ernährungsempfehlungen einbezogen (Willet u. Stampfer 2003; 7 Kap. 7.8). Ausgangspunkt ist die Hypothese, dass ein niedriger glykämischer Index (GI) bzw. eine niedrige glykämische Last (GL) der Kost mit einem präventivmedizinischen Nutzen verbunden ist und beispielsweise der Entstehung von Adipositas oder Diabetes mellitus vorbeugt. Dies wird jedoch kontrovers diskutiert – zahlreiche Wissenschaftler sehen eher einen präventiven Effekt durch eine fettmoderate Ernährung (Tuomilehto et al. 2001, Diabetes Prevention Program Research Group 2002, Wolfram 2003b). Der GI ist zur Charakterisierung von Lebensmitteln und zur Ableitung von Ernährungsempfehlungen nicht gut geeignet, da er für die gleichen Lebensmittel von Person zu Person schwankt, von der Sorte und Zubereitung der Lebensmittel abhängt und durch die Zusammensetzung der Mahlzeit beeinflusst wird (Wolfram 2003b). So wird z. B. die Kartoffel in der Regel nicht alleine
20
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 2 · Ernährungsphysiologische Grundlagen und Prinzipien vollwertiger Ernährung
verzehrt, sondern zusammen mit Protein und Fett. Damit gelangt der GI in den Schwankungsbereich von anderen, als günstig eingestuften Lebensmitteln, wie z. B. Gemüse. Zusammenfassend sind also stärke- und ballaststoffreiche pflanzliche Lebensmittel für eine vollwertige Ernährung vorteilhaft, da sie neben einem meist geringen Energiegehalt gleichzeitig einen hohen Gehalt an Mikronährstoffen und bioaktiven, sekundären Pflanzenstoffen aufweisen. Durch einen hohen Ballaststoffanteil sättigen sie anhaltend. Zucker und zuckerhaltige Lebensmittel enthalten keine bzw. nur wenig essenzielle Nährstoffe oder Ballaststoffe, wirken kariogen und können, insbesondere bei einem hohen Konsum zuckerhaltiger Softdrinks, zur Überernährung beitragen (Ludwig 2001, WHO 2003a). Zum Verzehr von Mono- und Disacchariden rät die Deutsche Gesellschaft für Ernährung, eine sehr hohe Zufuhr, welche die Nährstoffdichte ungünstig beeinflusst, zu vermeiden (DGE et al. 2008). Nach Veröffentlichungen von WHO (2003a) und EURODIET (2001) sollte die Zufuhr von Mono- und Disacchariden auf 10–12 % der täglichen Energiezufuhr beschränkt werden. Ballaststoffe sind Bestandteile pflanzlicher Lebensmittel, die im Verdauungstrakt nicht oder nicht vollständig abgebaut werden (7 Kap. 5). Sie sättigen gut, liefern kaum Energie, bewirken eine geregelte Verdauung, binden und scheiden Giftund Schadstoffe aus und bilden den Nährboden für eine gesunde Darmflora. Der Zusammenhang zwischen der Ballaststoffaufnahme und dem Risiko für Darmkrebs wurde in den vergangenen Jahren immer wieder kontrovers diskutiert. Der Report des World Cancer Research Fund (World Cancer Research Fund 2008) wertete nunmehr sämtliche relevanten Forschungsergebnisse aus und kommt zu dem Schluss, dass Lebensmittel, die Ballaststoffe enthalten, das Risiko für kolorektalen Krebs wahrscheinlich senken. Bei Bevölkerungsgruppen mit niedriger Ballaststoffaufnahme könnte man vermutlich eine Verminderung des Dickdarmkrebsrisikos bis zu 40 % erreichen, wenn die Ballaststoffaufnahme etwa verdoppelt würde (Bingham et al. 2003).
Richtwerte für die Zufuhr von Ballaststoffen (DGE et al. 2008) Als Richtwert für die tägliche Zufuhr von Ballaststoffen nennt die DGE eine Menge von mindestens 30 g pro Tag für Erwachsene.
2.4.5
Ausreichend Mikronährstoffe
Eine ausreichende Zufuhr aller Mikronährstoffe ist unerlässlich. Über die normalen Funktionen zur Vermeidung von Erkrankungen oder Funktionsstörungen hinaus werden präventive oder therapeutische Wirkungen spezieller essenzieller Nährstoffe diskutiert. Die sogenannten »antioxidativen« Vitamine C, E und das Provitamin β-Carotin sind in der Lage, Schädigungen von Zellen, Zellbestandteilen oder auch Lipoproteinen durch Radikale oder aggressive Sauerstoffverbindungen zu verhindern. Sie haben damit eine Bedeutung bei der Prävention zahlreicher Erkrankungen, vor allem von Herz-KreislaufErkrankungen und Krebs (DGE et al. 2008). Aktuelle Studien zeigen, dass erhöhte Homocysteinkonzentrationen einen unabhängigen Risikofaktor für die Entstehung arteriosklerotischer Veränderungen darstellen. Homocystein wird unter Mitwirkung von Folsäure, Vitamin B6 und Vitamin B12 metabolisiert. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die Homocysteinkonzentration im Plasma umgekehrt proportional zur Folatkonzentration im Plasma verhält (DGE et al. 2008). Zur Entwicklung einer maximalen Knochendichte und zur Prävention von Osteoporose ist eine adäquate Kalziumzufuhr unerlässlich (DGE et al. 2008). Milch und Milchprodukte sind die besten Kalziumlieferanten. Die Bundesrepublik ist ein Strumaendemiegebiet infolge eines ausgeprägten Jodmangels (DGE 2008b). Zur Beseitigung des Jodmangels und zur Prävention damit verbundener Erkrankungen wird die Verwendung von jodierten Speisesalzen und der Konsum damit hergestellter Lebensmittel empfohlen.
21 2.4 · Umsetzung präventiv-medizinischer Erkenntnisse
2.4.6
Viel bioaktive sekundäre Pflanzenstoffe
Unter den Begriff bioaktive, sekundäre Pflanzenstoffe (7 Kap. 4) fallen mehrere tausend Substanzen, die sich aufgrund ihrer chemischen Struktur in neun Gruppen einteilen lassen: Carotinoide, Saponine, Glucosinolate, Polyphenole, Protease-Inhibitoren, Terpene, Phytosterine, Phytoöstrogene und Sulfide. Andere Stoffe, wie die Phytinsäure, lassen sich keiner dieser Gruppen zuordnen. Im Gegensatz zu den primären Pflanzenstoffen sind sekundäre Pflanzenstoffe keine eigentlichen Nährstoffe, d. h. sie dienen nicht dem Aufbau von Körpersubstanz bzw. der Energiegewinnung. Sie können jedoch gesundheitsfördernde Eigenschaften aufweisen, da sie antimikrobiell, antioxidativ und stoffwechselregulierend wirken und die Immunreaktionen fördern können. Damit wird den bioaktiven sekundären Pflanzenstoffen eine präventive Wirkung gegenüber der Entstehung von Krankheiten zugewiesen (DGE 2000a, DGE 2004b, DGE et al. 2008, DGE 2008b). Als bedeutende gesundheitsfördernde Eigenschaft wird ihre schützende Wirkung in Bezug auf die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, besonders aber auch von Krebs untersucht. Als blocking agents verhindern bzw. verringern beispielsweise Flavonoide die Umwandlung inaktiver in aktive Karzinogene. Als suppressing agent können sie das Wachstum DNA-geschädigter Zellen verhindern.
2.4.7
Viel Obst und Gemüse
Antioxidative Vitamine, andere wichtige Mikronährstoffe und bioaktive sekundäre Pflanzenstoffe kommen vor allem in Obst und Gemüse vor. Die aktuelle Studie des World Cancer Research Fund (World Cancer Research Fund 2008) zeigt auf, dass eine ausgewogene Ernährungsweise mit reichlichem Verzehr von nicht stärkehaltigem Obst und Gemüse das Krebsrisiko deutlich senken kann. Hingegen erhöhen der Konsum alkoholischer Getränke sowie Übergewicht das Risiko für zahlreiche Krebserkrankungen. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen (World Cancer Research Fund u. American Institute for
2
Cancer Research 1997, Willet u. Stampfer 2003, DGE 2007, World Cancer Research Fund 2008) kann durch einen hohen Obst- und Gemüsekonsum vorgebeugt werden. Entscheidend ist die Gesamt-Gemüse- oder Obstzufuhr. Die DGE empfiehlt, etwa zwei Drittel der täglichen Nahrungsenergie aus pflanzlichen Lebensmitteln aufzunehmen. Erwachsenen wird empfohlen, rund 650 g Gemüse und Obst täglich zu verzehren – vom »5 am Tag«-Verein in Deutschland wird dies mit der Empfehlung, fünf Portionen Gemüse und Obst täglich zu essen, an die Zielgruppen herangetragen.
2.4.8
Wenig Schadstoffe
Je abwechslungsreicher die Lebensmittelauswahl ist, desto geringer ist die Belastung an einzelnen Schadstoffen. Generell empfiehlt es sich, Obst und Gemüse vor dem Verzehr gründlich zu waschen, wenn möglich zu schälen und auf Lebensmittel zu verzichten, die an stark befahrenen Straßen wachsen oder verkauft werden. Wegen einer Anreicherung von Kadmium sollten Wildpilze maximal einbis zweimal pro Woche gegessen werden. Innereien von älteren Tieren, insbesondere Nieren, sollten maximal nur alle 2–3 Wochen, Hasenleber und -nieren überhaupt nicht verzehrt werden.
2.4.9
Wenig Alkohol, Zucker und Salz
Alkohol: Er ist mit 30 kJ (7,2 kcal) pro Gramm
ein beträchtlicher Energielieferant. Dazu birgt ein hoher Alkoholkonsum gesundheitliche Gefahren. Bei einem täglichen Alkoholkonsum von mehr als 10 g bei Frauen und 20 g bei Männern besteht die Gefahr von Gesundheitsstörungen (WHO 2003a, DGE et al. 2007). Zudem besteht die Gefahr der Abhängigkeit. Hoher Alkoholkonsum gilt zudem als Risikofaktor für die Entstehung von Brustkrebs oder bestimmter Tumoren des Gastrointestinaltrakts (DGE 2009). Zucker: Für eine vollwertige Ernährung empfiehlt
die WHO, den Verzehr von zugesetzten Mono- und Disacchariden auf max. 10 % der täglichen Energiezufuhr zu beschränken (WHO 2003a), da Zucker
22
1 2 3 4 5 6
Kapitel 2 · Ernährungsphysiologische Grundlagen und Prinzipien vollwertiger Ernährung
und zuckerhaltige Lebensmittel keine bzw. nur wenig essenzielle Nährstoffe oder Ballaststoffe enthalten, kariogen wirken und zur Überernährung beitragen können. Salz: Ein hoher Kochsalzkonsum kann bei entsprechender Veranlagung zur Entstehung von Bluthochdruck beitragen. Er kann auch die Entwicklung von Magenkrebs begünstigen (DGE 2000a). Pro Tag erscheint eine Kochsalzzufuhr von 5 g als ausreichend, der Konsum sollte nicht über 10 g liegen (DGE et al. 2008). Bei bestehender Hypertonie wird eine Beschränkung der Kochsalzzufuhr auf 6 g/Tag empfohlen (DGE 2009).
7 2.5
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Psychologische und soziologische Faktoren
Bei den soziologischen Faktoren spielen individuelle Determinanten des Ernährungsverhaltens, wie die Lebens- und Arbeitswelt mit ihren sozialen und situativen Einflüssen, eine wichtige Rolle. Kollektive soziologische Determinanten wie Verfügbarkeit und Preis von Lebensmitteln, Traditionen, Mode, Tabus oder Religion sind ebenfalls von Bedeutung für die Ausprägung von Ernährungsverhalten. Gerade ökonomische Faktoren wie der Preis und daraus häufig resultierend auch das Prestige der Lebensmittel sind von besonderer Bedeutung. Empfohlene Lebensmittel sollten für jedermann erschwinglich und jederzeit verfügbar sein. Psychologische Erkenntnisse zeigen, dass mit Lebensmitteln nicht nur der Bedarf, sondern vor allem individuelle Bedürfnisse befriedigt werden. Gebote und Verbote für eine richtige Lebensmittelauswahl sind eher kontraproduktiv. Förderlicher ist es, Trends für den Konsum empfehlenswerter Lebensmittel zu initiieren oder zu verstärken. Daraus resultiert, dass Ernährungsempfehlungen nicht in Form rigider Vorschriften ausgesprochen werden sollten. Es gilt, den Menschen eine flexible Kontrolle kritischer Esssituationen näherzubringen. Flexible Kontrolle ist von den Menschen leichter zu realisieren und verringert die Gefahr der Entstehung von Essstörungen. Notwendig ist eine einfache zielgruppengerechte Formulierung der Empfehlungen (7 Kap. 3).
k Berücksichtigung etablierter Ernährungsgewohnheiten
Traditionen und Gewohnheiten prägen das Essverhalten großer Bevölkerungsgruppen. Etablierte Auswahlmuster und Lebensmittelpräferenzen sind bei der Ausgestaltung von Empfehlungen zu berücksichtigen. Zwar führen viele dieser Verhaltensmuster zu Fehlernährung. Aber es ist in unserem Kulturkreis nicht möglich, der Bevölkerung abrupte Verhaltensänderungen abzuverlangen. Eine mögliche präventive Wirkung einer ostasiatischen Kost oder einer mediterranen Kost wird zwar aufgezeigt (Trichopoulou et al. 2003), solche Kostformen sind aber bei uns nicht komplett durchsetzbar. Auch besonders körnerreiche alternative Kostformvarianten mögen bestimmte Vorzüge haben, werden aber von der breiten Bevölkerung nicht akzeptiert. Es ist auch zu berücksichtigen, dass der Stoffwechsel eines Mitteleuropäers möglicherweise nicht optimal auf eine völlig andere Kostform wie die ostasiatische Kost reagiert. Den Asiaten, die häufig einen Lactasemangel haben, wäre es beispielsweise nicht anzuraten, zur Osteoporoseprävention verstärkt Milchprodukte zu verzehren.
Es gilt, auf der Basis deutscher Ernährungsgewohnheiten den Menschen eine leichtere, fettärmere und kohlenhydratreiche, aber dennoch vertraute Kost näherzubringen. Positive Aspekte der mediterranen, asiatischen oder vegetarischen Kost können dabei nach und nach als Bereicherung »eingebaut« werden.
2.6
Verzehrempfehlungen für die Praxis
Aus den dargestellten Prinzipien werden Empfehlungen zur vollwertigen Ernährung für die Praxis abgeleitet, die in den Industrienationen durchaus vergleichbar sind (EURODIET 2001, WHO 2003a, DGE et al. 2008). Es besteht wissenschaftlicher Konsens, dass eine kohlenhydratbetonte, ballaststoffreiche und fettmoderate Ernährung ideal ist. Sie dient einer ausreichenden Nährstoffzufuhr, erhält die Gesundheit
2
23 2.6 · Verzehrempfehlungen für die Praxis
und beugt ernährungsmitbedingten Erkrankungen vor. Getreide, Getreideprodukte aus Vollkorn, Gemüse, Salate, Obst und Kartoffeln können reichlich genossen werden, ergänzt um fettarme Milch und Milchprodukte, Fisch und gelegentlich mageres Fleisch und fettarme Wurst. Fette und Öle sollten zurückhaltend verwendet werden. Zum Trinken bieten sich energiefreie oder -arme, alkoholfreie Getränke an. Diese Prinzipien lassen sich genussvoll umsetzen. Wer grundsätzlich eine solche Ernährung einhält, braucht sich zudem die besonderen Genüsse nicht grundsätzlich vorzuenthalten. Wenn die Basis stimmt, kann man auch gelegentlich fetten Käse oder Entenbrust, das Glas Wein oder eine kalorienreiche Nachspeise genießen. Es gibt keine Tabus, jeder sollte aber die für ihn »kritischen« Lebensmittel flexibel kontrollieren.
2.6.1
Die 10 Regeln der DGE
In diesen Regeln sind die Grundsätze einer bedarfsgerechten Ernährung zusammengefasst (DGE 2004a), bei ihrer Ausformulierung wurden die vorstehend genannten Prinzipien und Erkenntnisse berücksichtigt.
Vollwertig essen und trinken nach den 10 Regeln der DGE Vollwertig essen hält gesund, fördert Leistung und Wohlbefinden. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat auf der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse 10 Regeln formuliert, die Ihnen helfen, genussvoll und gesund erhaltend zu essen: Holen Sie das Beste aus Essen und Trinken heraus – für ein langes Leben, für mehr Lebensqualität. 1. Vielseitig essen Genießen Sie die Lebensmittelvielfalt. Es gibt keine »gesunden«, »ungesunden« oder gar »verbotenen« Lebensmittel. Auf die Menge, Auswahl und Kombination kommt es an.
6
2. Getreideprodukte – mehrmals am Tag und reichlich Kartoffeln Brot, Nudeln, Reis, Getreideflocken, am besten aus Vollkorn, sowie Kartoffeln enthalten kaum Fett, aber reichlich Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente sowie Ballaststoffe und sekundäre Pflanzenstoffe. 3. Gemüse und Obst – »Nimm 5 am Tag« Genießen Sie 5 Portionen Gemüse und Obst am Tag, möglichst frisch, nur kurz gegart, oder auch als Saft – idealerweise zu jeder Hauptmahlzeit und auch als Zwischenmahlzeit: Damit werden Sie reichlich mit Vitaminen, Mineralstoffen sowie Ballaststoffen und sekundären Pflanzenstoffen (z. B. Carotinoiden, Flavonoiden) versorgt. Das Beste, was Sie für Ihre Gesundheit tun können. 4. Täglich Milch und Milchprodukte, einmal in der Woche Fisch; Fleisch, Wurstwaren sowie Eier in Maßen Diese Lebensmittel enthalten wertvolle Nährstoffe, wie z. B. Kalzium in Milch, Jod, Selen und ω-3-Fettsäuren in Seefisch. Fleisch ist wegen des hohen Beitrags an verfügbarem Eisen und an den Vitaminen B1, B6 und B12 vorteilhaft. Mengen von 300–600 g Fleisch und Wurst pro Woche reichen hierfür aus. Bevorzugen Sie fettarme Produkte, vor allem bei Fleischerzeugnissen und Milchprodukten. 5. Wenig Fett und fettreiche Lebensmittel Fettreiche Speisen schmecken zumeist besonders gut. Zuviel Nahrungsfett macht allerdings fett und fördert langfristig die Entstehung von Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs. Halten Sie darum das Nahrungsfett in Grenzen. 70–90 g Fett, möglichst pflanzlicher Herkunft, am Tag, d. h. ein gutes Drittel weniger als bisher, liefern ausreichend lebensnotwendige (essenzielle) Fettsäuren und fettlösliche Vitamine und runden den Geschmack der Speisen ab. Achten Sie auf das unsichtbare Fett in manchen Fleischerzeugnissen und Süßwaren, in Milchprodukten und in Gebäck.
6
24
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Kapitel 2 · Ernährungsphysiologische Grundlagen und Prinzipien vollwertiger Ernährung
6. Zucker und Salz in Maßen Genießen Sie Zucker und mit Zuckerzusatz hergestellte Lebensmittel bzw. Getränke nur gelegentlich. Würzen Sie kreativ mit Kräutern und Gewürzen und wenig Salz. Verwenden Sie auf jeden Fall jodiertes Speisesalz. 7. Reichlich Flüssigkeit Wasser ist absolut lebensnotwendig. Trinken Sie rund 1,5 l Flüssigkeit jeden Tag. Alkoholische Getränke sollten nur gelegentlich und dann in kleinen Mengen konsumiert werden (bei Männern z. B. 0,5 l Bier oder 0,25 l Wein oder 0,06 l Branntwein pro Tag, bei Frauen die Hälfte davon. Dies entspricht etwa 20 g bzw. 25 ml reinem Alkohol). 8. Schmackhaft und schonend zubereiten Garen Sie die jeweiligen Speisen bei möglichst niedrigen Temperaturen, soweit es geht kurz, mit wenig Wasser und wenig Fett – das erhält den natürlichen Geschmack, schont die Nährstoffe und verhindert die Bildung schädlicher Verbindungen. 9. Nehmen Sie sich Zeit, genießen Sie Ihr Essen Bewusstes Essen hilft, richtig zu essen. Auch das Auge isst mit. Lassen Sie sich Zeit beim Essen. Das macht Spaß, regt an, vielseitig zuzugreifen, und fördert das Sättigungsempfinden. 10. Achten Sie auf Ihr Gewicht und bleiben Sie in Bewegung Mit dem richtigen Gewicht fühlen sie sich wohl und mit reichlich Bewegung bleiben Sie in Schwung. – Tun Sie etwas für Fitness, Wohlbefinden und Ihre Figur!
17 18 19 20
2.6.2
Der Ernährungskreis – Hilfsmittel für die Praxis
Der Ernährungskreis (. Abb. 2.1) ist im Vergleich zu anderen Visualisierungsformen von Ernährungsempfehlungen die einzige bildhafte Darstellung, in der die Segmentgröße zugleich ein Maß für die Lebensmittelmenge ist. Die Größe der Segmen-
5 6 1
4 7 3 2
. Abb. 2.1 DGE-Ernährungskreis (Grafik: Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V., Bonn)
te verdeutlicht das Mengenverhältnis der einzelnen Lebensmittelgruppen zueinander. Die Segmentgröße ist auf der Grundlage der D-A-CH-Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr (DGE et al. 2008) berechnet. Eine Lebensmittelauswahl gemäß DGEErnährungskreis ist eine verlässliche Grundlage für die Umsetzung einer vollwertigen Ernährung. Die bedarfsgerechte und ausreichende Zufuhr von Nährstoffen, Ballaststoffen und sekundären Pflanzenstoffen kann damit sichergestellt werden – ein Beitrag zur Prävention ernährungsmitbedingter Gesundheitsstörungen. Die Darstellung der Lebensmittel verdeutlicht, dass der Ernährungskreis eine Grundorientierung für die Lebensmittelauswahl bietet und keine strengen Vorschriften für bestimmte Mahlzeiten oder Produkte macht. Die Kernaussagen des Ernährungskreises lauten: 4 Wählen Sie täglich aus allen 7 Lebensmittelgruppen. 4 Berücksichtigen Sie das dargestellte Mengenverhältnis. 4 Nutzen Sie die Lebensmittelvielfalt der einzelnen Gruppen. 4 So schaffen Sie die besten Voraussetzungen für eine vollwertige Ernährung. Achten Sie außerdem auf Ihr Gewicht und bleiben Sie in Bewegung.
25 2.6 · Verzehrempfehlungen für die Praxis
Der Ernährungskreis gibt einen Überblick über die Lebensmittelgruppen und die empfehlenswerten Verzehrmengen der Lebensmittel für Erwachsene. Mit den dargestellten Verzehrmengen wird eine tägliche Energieaufnahme von 1.800–2.000 kcal erreicht. Es bleibt somit auch noch Spielraum für den gelegentlichen »Luxus« in Form von Süßigkeiten, Kuchen oder alkoholischen Getränken.
Gruppe 4: Getränke
Gruppe 1: Getreide, Getreideerzeugnisse und Kartoffeln
Gruppe 5: Milch und Milchprodukte
Diese Lebensmittelgruppe liefert Vitamine, Mineralstoffe und Ballaststoffe. Müsli (aus Getreideflocken, geschrotetem Getreide oder Cerealien), Hauptgerichte und Beilagen aus Naturreis, Hirse oder Weizen sowie Keimlinge bringen Abwechslung in den Speiseplan. Brot und Brötchen, bevorzugt aus Vollkorn, sind die ideale Grundlage bei kalten Mahlzeiten.
2
Eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr ist lebensnotwendig. Ideal sind Wasser, Mineralwasser, ungesüßte Kräuter- und Früchtetees, Gemüsesäfte und verdünnte Obstsäfte. In Maßen sind Kaffee und schwarzer Tee akzeptabel. Verzehrempfehlung: Täglich 1,5 l Flüssigkeit.
Die Lebensmittel dieser Gruppe sind die wichtigsten Kalziumlieferanten unserer Nahrung. Sie liefern darüber hinaus Magnesium, Zink und die Vitamine B1, B2 und B12. Wegen des teilweise hohen Fettgehalts sind fettarme Produkte zu bevorzugen. Verzehrempfehlung: Täglich ¼ l Milch und 3
Scheiben fettarmer Käse (90 g).
Gruppe 6: Fisch, Fleisch und Eier Verzehrempfehlung: Täglich 5–7 Scheiben Brot
(ca. 200–350 g) und 1 Portion Reis oder Nudeln (roh ca. 75–90 g) oder 1 Portion Kartoffeln (ca. 250– 300 g, entsprechend 4–5 mittelgroßen Kartoffeln).
Gruppe 2: Gemüse und Hülsenfrüchte Bis auf wenige Ausnahmen sind Gemüse und Salat energiearm und reich an Vitaminen und Mineralstoffen. Hülsenfrüchte hingegen sind reich an Eiweiß und Stärke und liefern somit entsprechend viel Energie. Sie haben einen hohen Gehalt an Mikronährstoffen und Ballaststoffen. Verzehrempfehlung: Täglich mindestens 3 Portionen Gemüse/Rohkost (ca. 400 g).
Gruppe 3: Obst Obst liefert ähnlich wie Gemüse viele Mikronährstoffe, ist wegen seines Zuckergehaltes aber in der Regel energiereicher als Gemüse. Als Nachspeise oder Zwischenmahlzeit ist Obst ideal. Trockenobst wartet mit vielen Ballaststoffen und Kalium auf. Verzehrempfehlung: Täglich mindestens 2 Portionen Obst (ca. 250–300 g).
Seefisch liefert Jod und ω-3-Fettsäuren. Fleisch ist ein wichtiger Lieferant von Eisen und anderen Mikronährstoffen. Fleisch und vor allem Wurst liefern aber auch viel Purine, Cholesterin und meist sehr viel Fett. Bei entsprechender Veranlagung kann ein hoher Konsum zur Entstehung von ernährungsmitbedingten Erkrankungen beitragen. Eier enthalten neben zahlreichen Nährstoffen viel Fett und Cholesterin. Verzehrempfehlung: Wöchentlich
1–2 Portionen Seefisch; wöchentlich 300–600 g Fleisch und Fleischwaren; wöchentlich bis zu 3 Eier.
Gruppe 7: Fette und Öle Fett liefert essenzielle Fettsäuren, ist Träger fettlöslicher Vitamine, liefert aber viel Energie. Hier ist Zurückhaltung geboten. Ein Gramm Fett pro kg Körpergewicht und Tag ist für den Erwachsenen ausreichend. Neben der Einschränkung von Streich- und Kochfett bzw. Ölen ist auch auf den Konsum fettarmer Lebensmittel zu achten. Pflanzenfette und -öle sind aufgrund ihrer Fettsäurezusammensetzung und/oder ihres Vitamin-E-Gehaltes (z. B. Distel-, Maiskeim-, Weizenkeim-, Sonnenblumen-, Oliven- oder Rapsöl) zu bevorzugen.
26
1 2
Kapitel 2 · Ernährungsphysiologische Grundlagen und Prinzipien vollwertiger Ernährung
Verzehrempfehlung: Täglich höchstens 40 g
Streich- oder Kochfett, z. B. 2 EL Margarine oder Butter und 2 EL hochwertiges Pflanzenfett.
Alternative Kostformen
3
2.7
4
Alternative Kostformen werden aus religiös-ethischen, ökonomisch-ökologischen oder gesundheitlichen Gründen praktiziert. Versprechungen von Gesundheit und optimaler Leistungsfähigkeit werden von verschiedenen Autoren in den Mittelpunkt ihrer Aussagen gestellt. Einige dieser Kostformen, wie die lacto- und ovo-lacto-vegetarische Ernährung oder die Vollwerternährung (7 Kap. 8) sind für eine vollwertige Ernährung geeignet. Leider entsprechen aber nicht alle »alternativen« Kostformen den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Bei vielen dieser Kostformen, wie der veganen Kost oder bestimmten Makrobiotik- oder RohkostVarianten sind unhaltbare Gesundheitsversprechen mit Ernährungsregeln verwoben, die zu einer unzureichenden Nährstoffzufuhr führen können.
5 6 7 8 9 10 11
2.8
Zusammenfassung
12 13 14 15 16 17 18 19 20
Die Nährstoffe können in Haupt- und Mikronährstoffe unterteilt werden. Hauptnährstoffe sind Kohlenhydrate, Fette, Eiweiß und Wasser. Zu den Mikronährstoffen zählen Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente. Hauptenergielieferanten im Stoffwechsel sind die Hauptnährstoffe Kohlenhydrate, Fett und Eiweiß. Laut Empfehlung der DGE sollten mindestens 50 % der Energie in Form von Kohlenhydraten aufgenommen werden. Maximal 30 % sollten aus Fett und 9–11 % aus Protein stammen. Die Nährstoffdichte setzt den Gehalt an einem bestimmten Nährstoff in einem Lebensmittel mit dessen Energiegehalt in Beziehung. Übersteigt die Nährstoffdichte den in den Empfehlungen der DGE festgelegten Wert oder entspricht sie diesem, so wird das entsprechende Lebensmittel ernährungsphysiologisch günstig bewertet. In den D-A-CH-Referenzwerten für die Nährstoffzufuhr sind Empfehlungen für die tägliche Nährstoffzufuhr dargestellt. Kann der Bedarf nicht mit wünschenswerter Genauigkeit bestimmt werden, so werden Schätzwerte angege-
ben. Richtwerte werden genannt, wenn eine Regelung der Zufuhr nicht innerhalb eines bestimmten Bereichs anzustreben ist. Zum Erreichen einer gesunden, vollwertigen Ernährung hat die DGE 10 Regeln formuliert, die sowohl die Erkenntnisse zum Nährstoffbedarf als auch psychologische und soziokulturelle Faktoren berücksichtigen. Eine gut überschaubare bildliche Darstellung der empfohlenen Nahrungsmittel und ihres Mengenverhältnisses ist der Ernährungskreis. Vollwertige Ernährung bedeutet demzufolge vielseitige Kost mit reichlich Getreideprodukten und Kartoffeln sowie reichlich (frischem) Obst und Gemüse, mindestens einmal wöchentlich Fisch sowie Fleisch und Eier in Maßen, täglich Milch und Milchprodukte und reichlich Flüssigkeit. Fett und fettreiche Lebensmittel sollten begrenzt, Zucker und Salz sparsam verwendet werden. Beachtung sollten auch eine schonende Zubereitungsweise, genussvolles Essen und ausreichende Bewegung finden.
Literatur Bingham SA et al.: Dietary fibre in food and protection against colorectal cancer in the European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition (EPIC): An observational study. The Lancet 361:1496–1501 (2003) Bundesministerium für Gesundheit: Alkoholkonsum und Krankheiten. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Band 134. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden (2000) Deutsche Adipositas-Gesellschaft, Deutsche Diabetes-Gesellschaft, Deutsche Gesellschaft für Ernährung: Evidenzbasierte Leitlinie – Adipositas. Prävention und Therapie der Adipositas. Version 2007. www.dge.de (2007) DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung): Ernährungsbericht 2000. Druckerei Henrich, Frankfurt (2000a) S. 17– 58 DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung): 10 Regeln für eine Vollwertige Ernährung. DGE, Bonn (2004a) DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung): Ernährungsbericht 2004. DGE, Bonn (2004b) DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung): Evidenzbasierte Leitlinie »Fettkonsum und Prävention ausgewählter ernährungsmitbedingter Krankheiten«. DGE, Bonn, http://www.dge.de/modules.php?name=St&file=w_leitlinien (2006) DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung): Obst und Gemüse in der Prävention chronischer Krankheiten. Stellungnahme. DGE, Bonn, http://www.dge.de/pdf/ws/Stellungnahme-OuG-Praevention-chronischer-Krankheiten-2007-09-29.pdf (2007)
27 Literatur
DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung): Der Ernährungskreis (Poster). DGE, Bonn (2008a) DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung): Ernährungsbericht 2008. DGE, Bonn (2008b) DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung): Beratungsstandards, Neuauflage. DGE, Bonn (2009) DGE, Österreichische Gesellschaft für Ernährung, Schweizerische Gesellschaft für Ernährungsforschung, Schweizerische Vereinigung für Ernährung (Hrsg.): D-A-CH-Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr. 1. Aufl., 3. korr. Nachdruck. Neuer Umschau Verlag, Frankfurt (2008) Diabetes Prevention Program Research Group: Reduction of the incidence of type 2 Diabetes with lifestyle intervention or Metformin. The New England Journal of Medicine 346:393–403 (2002) EURODIET: Nutrition and Diet for Healthy Lifestyles in Europe: The EURODIET evidence. Public Health Nutrition 4:2A,B (2001) Ludwig DS: Relation between consuption of sugar-sweetened drinks and childhood obesity: a prospective observational analysis. The Lancet 357:505–508 (2001) Oberritter H: Gesund abnehmen. 12. überarb. Aufl. S. Hirzel Verlag, Baierbrunn (2009) Trichopoulou A et al.: Adherence to a Mediterranean Diet und Survival in a Greek Population. The New England Journal of Medicine 348:2599–2608 (2003) Tuomilehto et al: Prevention of type 2 diabetes mellitus by changes in lifestyle among subjects with impaired glucose tolerance. The New England Journal of Medicine 344:1343–1350 (2001) Willet WC, Stampfer MJ: Macht gesunde Ernährung krank? Spektrum der Wissenschaft, März (2003) WHO: Obesity: preventing and managing the global epidemic. WHO Technical Report Series 894, Genf (2000) WHO: Diet, Nutrition and the Prevention of chronic Diseases. WHO technical report series 916 (2003a) WHO: Factsheet Obesity and overweight. http://www.who. int/hpr/NPH/docs/gs_obesity.pdf (2003b) Wolfram G: Macht Fett fett? Ernährungsumschau 50:B5–B7 (2003a) Wolfram G: Fettmoderate, kohlenhydratbetonte Ernährung beim Metabolischen Syndrom. DGE-info 9:130 (2003b) World Cancer Research Fund: Food, Nutrition, Physical Activity and the Prevention of Cancer: a Global Perspective. American Institute for Cancer Research, Washington, D. C. (2008) World Cancer Research Fund, American Institute for Cancer Research: Food, Nutrition and the Prevention of Cancer: a global perspective (1997)
2
3
29
Ernährungsberatung Marion Burkard, Karl Huth
3.1
Einleitung
3.2
Methoden zur Untersuchung des Ernährungsverhaltens – 30
3.2.1
Retrospektive Methoden zur Erfassung des Ernährungsverhaltens – 30 Erfassung von Essverhaltensstörungen – Anorexie, Bulimie und Binge-Esser – 32 Prospektive Methoden zur Erfassung des Ernährungsverhaltens – 33
3.2.2 3.2.3
3.3
– 30
Die Arzt-Klienten-Interaktion
– 35
3.4
Formen der Ernährungsberatung
3.4.1 3.4.2
Einzelberatung – 36 Gruppenberatung – 36
– 36
3.5
Grundlagen der Klientenberatung
3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.5.5 3.5.6 3.5.7
Rat erteilen – 38 Auskunft erteilen – 38 Zur Reflexion anregen – 38 Zur Aktion anregen – 38 Gesprächskompetenz ist wichtiger als Fachwissen Lernziele – 39 Methoden der Gesprächsführung – 39
3.6
Ratschläge für die praktische Beratungssituation
3.6.1 3.6.2
Was kann dem Klienten während der Beratung helfen? Aktives Zuhören – 44
3.7
Rückfallprophylaxe
– 44
3.8
Zusammenfassung
– 44
– 37
– 38
– 42 – 42
30
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 3 · Ernährungsberatung
Ernährungsempfehlungen werden von Klienten trotz aller Einsicht nur sehr zögernd in die Praxis umgesetzt. Die Compliance bei Diätvorschriften ist mit 8–29 % extrem niedrig. Oft liegt das aber auch daran, dass das Beratungsgespräch wenig professionell geführt wird. Für den Erfolg des Beratungsgesprächs ist weniger das vorhandene Fachwissen entscheidend als vielmehr die Gesprächskompetenz des Arztes. Ein klientenzentriertes Gesprächskonzept und das Empowerment des Klienten sind wesentliche Elemente einer gelungenen Beratung. In diesem Beitrag lesen Sie: 4 wie Fehlernährung und Essverhaltensstörungen durch Gespräch und Protokollführung aufgedeckt werden können, 4 wie wichtig eine gute Gesprächsführung für den Erfolg einer Ernährungsberatung ist, 4 die Grundzüge einer ausgefeilten Gesprächstechnik, 4 die Bedeutung eines klientenzentrierten Gesprächs und des Empowerments des Klienten.
3.1
Einleitung
Die Ernährungsweise eines Menschen steht langfristig gesehen in einem engen Zusammenhang mit seinem Gesundheitszustand. Mittlerweile verursachen ernährungsabhängige Erkrankungen in Deutschland laut Bundestatistik gut ein Drittel der Gesamtkosten des Gesundheitssystems. Diese Zahlen dokumentieren in drastischer Weise die gesundheitlichen Folgen des Überflusses an Nahrungs- und Genussmitteln. Im Rahmen der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention zur Förderung und Erhaltung der Gesundheit sowie zur Minderung von Folgeschäden bei bereits aufgetretenen Erkrankungen versteht sich die Ernährungsberatung als maßgebliche Interventionsform. Sie stellt eine freiwillige und kurzfristige Beziehung zwischen zwei oder mehreren Personen dar, in der Berater desorientierten Klienten Hilfe zur Selbsthilfe anbieten (Burkard 2006). Durch Einzel- und Gruppenberatungen wird die Möglichkeit geschaffen, sich mit Mangel- und Fehlernährung, Risikofaktoren oder Essstörungen auseinanderzusetzen. Gleichzeitig bietet sich die
Chance, das Ernährungsverhalten zu ändern und ernährungsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, um die Lebensqualität zu verbessern. Um die Ernährungsberatung zu optimieren und deren Ziele im Interesse des Klienten zu verwirklichen, ist eine intensive Zusammenarbeit von professionellen ErnährungsberaterInnen und ÄrztInnen wünschenswert und notwendig.
3.2
Methoden zur Untersuchung des Ernährungsverhaltens
Neben den psychologisch-didaktischen Voraussetzungen zur Durchführung einer Ernährungsberatung sind Erkenntnisse aus der Verhaltenslehre heranzuziehen, um das Ernährungsverhalten zu analysieren (Leonhäuser 1995). Eine wesentliche Erkenntnis der Verhaltenswissenschaft besagt, dass Verhalten oder Handeln nicht allein durch Außenreize angeregt wird, sondern auch von einer Vielzahl interner Bestimmungsfaktoren beeinflusst wird. Dementsprechend entwickelten sich unterschiedliche methodische Vorgehensweisen und Instrumente, die Oltersdorf (1993) für den Bereich des beobachtbaren Verhaltens gegliedert hat (. Abb. 3.1, mod. nach Oltersdorf 1993).
3.2.1
Retrospektive Methoden zur Erfassung des Ernährungsverhaltens
Die freie Befragung Der sich in der Ernährungsberatung präsentierende Ist-Zustand eines Klienten beinhaltet neben dessen Labordaten die Erfassung seines Ernährungsverhaltens. Nur auf der Grundlage beider Datenkomplexe lassen sich konkrete, anzustrebende Verhaltensweisen und Zielvorstellungen formulieren. Die derzeitige Praxis der Ernährungsberatung beschränkt sich oft auf ein allgemeines, unstrukturiertes Nachfragen, sodass der Berater völlig unzureichend und möglicherweise falsch informiert wird. Dem Klienten wird großer subjektiver Spielraum in Bezug auf seine Stellungnahme zum Ess-
31 3.2 · Methoden zur Untersuchung des Ernährungsverhaltens
3
Ernährungsverhalten
sichtbare/beobachtbare Handlungselemente (Ernährungshandeln)
intern wirkende (»unsichtbare«) Bestimmungsgründe (»black box«)
retrospektive Methoden (zurückliegender vergangener Verzehr)
prospektive Methoden (gegenwärtiger laufender Verzehr)
- 24-Stunden-Recall - Ernährungsanamnese - Fragebogenmethoden
- Total Diet Study - Wiegemethode - Ernährungsprotokoll - Buchhaltungsmethode
Methoden aus - Physiologie - Psychologie - Anthropologie - Haushaltswissenschaften - (Mikro- und Makro-) Soziologie - Ethnologie - Kulturwissenschaft
. Abb. 3.1 Gliederung der Methoden zur Charakterisierung des Ernährungsverhaltens
verhalten eingeräumt. Bestimmte Aspekte können überbetont werden, andere unerwähnt bleiben. Ein weiteres Hindernis, vom Klienten einen präzisen Ernährungsbericht zu erhalten, ist dessen eingeschränktes Erinnerungsvermögen. Erfahrungsgemäß reicht dieses nicht aus, um eine genaue Beschreibung der letzten zwei Tage zu geben. Die freie Befragung kann deshalb bestenfalls eine grobe qualitative Abschätzung des Essverhaltens ergeben. Als Planungsgrundlage für einen individuell zugeschnittenen Ernährungsplan bietet sie kaum verwertbare Anhaltspunkte (Pudel 1993).
Die Ernährungsanamnese Mithilfe der Ernährungsanamnese wird versucht, eine Art Ernährungsgeschichte zu erstellen. Es handelt sich um ein Erhebungsverfahren, mit dem das Ernährungsverhalten einer Person durch Erfragen allgemeiner Ernährungsmuster und -gewohnheiten ermittelt werden kann. Dadurch können charakteristische Verhaltensmerkmale und Ernährungspraktiken eines Klienten erfasst werden. Gleichzeitig dient die Ernährungsanamnese der Erfassung persönlicher Daten.
Fragen zum Essverhalten Sobald das Essen nicht mehr der ausschließlichen Deckung von Primärbedürfnissen und der Lebenserhaltung dient, wie in unserer Konsum- und Überflussgesellschaft, treten vielfältige Faktoren des Essverhaltens zutage, die dieses steuern und Störungen verursachen können. Eine klassische Form gestörter Kontrollmechanismen ist das Übergewicht. Allerdings sind Störungen im Essverhalten nicht nur am Gewicht zu diagnostizieren. Subtile Formen gestörter Regulationsmechanismen haben seit Ende der 1970er-Jahre epidemieartig zugenommen. Personen, die diese Merkmale aufweisen, können durchaus normalgewichtig sein, werden aber als »latent übergewichtig« oder »gezügelte Esser« bezeichnet, da sie ihr Gewicht nur durch bewusste Zügelung des Appetits halten können. Ausgeprägtere Störungsbilder des Essverhaltens finden sich bei Klienten mit Bulimie und Anorexia nervosa (Haag u. Köster 1991).
32
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 3 · Ernährungsberatung
3.2.2 Fragen zum Essverhalten (mod. nach Hauner u. Hauner 1996) 5 Was und wie viel essen Sie? 5 Wann, wo und wie lange essen Sie? 5 Was verleitet Sie zum Essen beziehungsweise hält Sie vom Essen ab? 5 Welche Gedanken und Gefühle haben Sie beim Essen? 5 Essen Sie allein oder in Gesellschaft? 5 Kombinieren Sie das Essen mit anderen Tätigkeiten, beispielsweise Fernsehen, Lesen, Autofahren?
Die Befunde legen nahe, dass eine Ernährungsberatung sich nicht auf diätetische Maßnahmen beschränken sollte. Mithilfe von Fragebögen können Faktoren erfasst werden, die Einfluss auf das Essverhalten nehmen. Daraus lassen sich kognitive Strategien ableiten und Kontrollmöglichkeiten erarbeiten. Ein empfehlenswerter Fragebogen stammt von Pudel und Westenhöfer (1989). Bewährt haben sich Fragebögen auch bei Übergewichtigen zur Unterstützung der Gewichtsreduktion – weniger um die täglich verzehrte Kalorienmenge abzufragen, sondern primär, um eine klareres Selbstbild zu schaffen. Umfragen haben ergeben, dass 85 % aller Übergewichtigen nur essen, um damit besser mit emotionalen Problemen fertig zu werden. Auffallend starke psychische Probleme haben sich jedoch nicht feststellen lassen (Drosdek 1993). Da Übergewicht als Resultat langjähriger falscher Gewohnheiten betrachtet wird, gilt es, den Kontext von Essen und Lebensgewohnheiten herauszuarbeiten. Durch Abfragen dieser Gewohnheiten kristallisieren sich die entsprechenden Probleme heraus (zum Beispiel: »Was, warum, wann, wie oft, wie schnell essen Sie?« Weitere Fragen zum Essverhalten von Klienten sind im Kasten aufgelistet). Im Rahmen des Umstellungsprozesses kann ein Fragebogen als Erfolgskontrolle dienen oder sichtbar machen, welche Gewohnheiten weniger leicht zu korrigieren sind, und die möglichen Hindernisse aufdecken.
Erfassung von Essverhaltensstörungen – Anorexie, Bulimie und Binge-Esser
Prävalenz der Essverhaltensstörungen Essstörungen haben in den letzten 30 Jahren drastisch zugenommen und stehen in engem Zusammenhang mit dem weiterhin propagierten übertriebenen Schlankheitsideal (Hauner u. Hauner 1996). Neben der bereits seit Langem bekannten Anorexia nervosa sind in neuerer Zeit vor allem Fälle von gezügeltem Essverhalten, von Binge Eating (Essanfällen) und von Bulimie zu verzeichnen. Epidemiologische Studien lassen vermuten, dass in den westlichen Ländern zur Zeit etwa 2–4 % der Frauen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren an einer Bulimia nervosa erkrankt sind. Bei der Anorexia nervosa wird für die Altersgruppe der 12- bis 18-Jährigen eine Krankheitshäufigkeit von 0,8–1 % genannt (Linden u. Hautziger 1996). Der Anteil männlicher Anorexiepatienten wird mit etwa 5 % angegeben. Der Anteil männlicher Bulimia-nervosa-Patienten liegt sogar leicht darüber.
Klinik der Essverhaltensstörungen Die klinische Diagnose der Anorexia nervosa stellt, bedingt durch den meist kachektischen Gesamtzustand und das äußere Erscheinungsbild, kein Problem dar. Dagegen lassen sich die anderen Formen von Essverhaltensstörungen nicht durch das äußere Erscheinungsbild dokumentieren. Unter gezügeltem, restriktivem Essverhalten versteht man die zwanghafte Einschränkung der Nahrungsaufnahme aus Sorge, zuzunehmen und figürliche Einbußen zu erleiden. Gefühle wie Hunger und Sättigung, aber auch Präferenzen werden übergangen oder unterdrückt. Klassisch ist das regelmäßige Diäthalten. Auffallend sind starke Reaktionen auf äußere Essanreize und das permanente Kreisen der Gedanken um das Thema Essen, was dazu führt, dass die auferlegte Kontrolle leicht zusammenbrechen kann. Langfristig kann dieser Kontrollverlust regelmäßig auftreten und in eine Bulimia nervosa übergehen. Ähnlich verhält es sich mit den Binge-Essern, zu denen etwa 30 % der Übergewichtigen, aber auch viele Schlanke zählen. Das restriktive Essverhalten
33 3.2 · Methoden zur Untersuchung des Ernährungsverhaltens
wird hier nur durch plötzliche Heißhungerattacken unterbrochen. Der Bulimia nervosa liegt ein gezügeltes Essverhalten zugrunde. Allerdings wird dies durch wiederholten Kontrollverlust unterbrochen. Die anfallsartigen Essattacken werden durch gewichtsregulierende Maßnahmen wie Fasten, Laxanzienabusus oder Erbrechen korrigiert. Die Klienten sind sich der Abnormität ihres Essverhaltens durchaus bewusst, sodass auch häufig depressive Gefühle und Schuldgefühle zu verzeichnen sind. Erbfaktoren, Erziehungseinflüsse, Schwierigkeiten in der Pubertät, Probleme beim Annehmen der Erwachsenenrolle oder in zwischenmenschlichen Beziehungen werden als Ursachen in Betracht gezogen. Beziehungsstörungen innerhalb der Familie werden hingegen nicht mehr als typische Auslöser angesehen (Hauner u. Hauner 1996). Anamnestische Angaben, die sich auf das entsprechende Essverhalten beziehen, sind deshalb aufschlussreich und dienen als Grundlage der verhaltenstherapeutischen Behandlungsziele. Typische Fragen zur Anamnese von Essverhaltensstörungen sind im Kasten zusammengestellt. Grundsätzlich sollten alle Korrekturmaßnahmen im Zusammenhang mit einem gestörten Essverhalten in einen verhaltenstherapeutischen Behandlungsplan eingebunden sein.
Fragen zur Anamnese bei Essverhaltensstörungen 5 Fällt es Ihnen schwer, Ihr Gewicht zu halten? 5 Ist es wichtig für Sie, Ihre Figur zu erhalten? 5 Machen Sie sich Sorgen wegen einer Gewichtszunahme? 5 Stellen Sie sich oft auf die Waage? 5 Haben Sie Diäten durchgeführt – welche, wie oft? 5 Haben Sie schon gefastet – wie oft? 5 Kontrollieren Sie Ihre Kalorienzufuhr regelmäßig? 5 Haben Sie öfter Essgelüste? 5 Wie verhalten Sie sich dann? 5 Hören Sie auf zu essen, auch wenn Sie noch Hunger haben?
3
5 Essen Sie bestimmte Speisen nicht, weil sie dick machen? 5 Haben Sie ein schlechtes Gewissen, wenn Sie Ihre Lieblingsspeise essen? 5 Haben Sie schon öfter Hunger verspürt? 5 Lassen Sie sich durch den Anblick und Geruch von Essen leicht verführen? 5 Sind Geschäftsessen oder Einladungen wegen der Esserei ein Problem für Sie? 5 Beschäftigen Sie sich gedanklich oft mit dem Essen? 5 Kommt es vor, dass Sie auch große Essensmengen verzehren können? 5 Haben Sie das Gefühl, beim Essen gelegentlich zu »sündigen«? 5 5 Kommt es vor, dass Sie sich nach dem Essen depressiv fühlen? 5 Haben Sie schon heimlich gegessen? 5 Kommt es vor, dass Sie nachts den Kühlschrank »attackieren«? 5 Essen Sie, wenn Sie sich geärgert haben oder Probleme haben? 5 Kann Essen eine Belohnung für Sie sein? 5 Treiben Sie Sport – wie oft? 5 Haben Sie schon einmal Medikamente wie Abführmittel, Entwässerungsmittel oder Medikamente, die den Appetit mindern, eingenommen – wenn ja, welche? Ein solcher Fragenkatalog ließe sich beliebig ergänzen. Entsprechende Fragen ergeben sich oft auch aus dem Kontext des Gesprächs und hängen im Wesentlichen von der Sensibilität des Arztes ab.
3.2.3
Prospektive Methoden zur Erfassung des Ernährungsverhaltens
Die Wiegemethode Bei der Wiegemethode wird für mehrere Tage jeglicher Verzehr der Probanden gewogen (Rohware, Zubereitung, Abfall, Essensreste).
34
Kapitel 3 · Ernährungsberatung
7
Dieses aufwändige Verfahren wird nur für die exakte Messung des Verzehrs bei Ernährungsbilanzstudien im klinischen Bereich erforderlich. Es war unter anderem Bestandteil der Nationalen Verzehrsstudien (NVS I und II), die zwischen 1985 und 1989 bzw. 2005/2006 im Auftrag des Bundesministers für Forschung und Technologie durchgeführt wurden (Ernährung-Umschau 2006). Außerdem lieferte diese Studie Daten für das Verbundprojekt Ernährungserhebung und Risikofaktorenanalytik (VERA). Die Ergebnisse erlauben Rückschlüsse auf den Ernährungs- und Gesundheitsstatus und zeigen im Vergleich mit der NVS Zusammenhänge zwischen Ernährungsverhalten und dem ernährungsabhängigen Versorgungs- und Gesundheitszustand auf (Leonhäuser 1995).
8
Die Buchhaltungsmethode
1 2 3 4 5 6
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Diese Methode wird dazu eingesetzt, um den Nahrungsmittelverbrauch durch das Notieren von eingekauften, selbst erzeugten oder anderweitig erworbenen Nahrungsmitteln bei Institutionen, Haushalten und Familien zu erfassen. Aus den gewonnenen Daten können die Verbrauchsstruktur an Nahrungsmitteln und die eingekauften und eventuell zu bevorratenden Mengen abgelesen werden, um unter Umständen auch die Ernährungsgewohnheiten vollständiger abbilden zu können.
Das Ernährungsprotokoll Geeignet ist das Ernährungsprotokoll für die Beratung von Adipösen, Diabetikern und Klienten mit Dyslipoproteinämien oder anderen Stoffwechselerkrankungen. Darüber hinaus kann es zur Ermittlung von Fehlernährung, Unterversorgung oder gestörtem Essverhalten dienen. Das Essprotokoll wird als wichtige Grundlage angesehen, um einen individuellen, maßgeschneiderten Speiseplan zu erstellen. Außerdem bietet es dem Klienten die Möglichkeit, sein bisheriges Essverhalten selbst zu analysieren und sich selbst besser zu beobachten. Ein entsprechendes Essprotokoll sollte mindestens 7 Tage geführt werden, um auch die Essgewohnheiten am Wochenende mit zu erfassen. Da Klienten bei der Analyse häufig das Argument vorbringen, dass dies keine typische Woche gewesen sei, empfiehlt es sich, gleich um eine 14-tägige Protokollführung zu bitten. Gleichzeitig können Sie
und der Klient dabei prüfen, wie ernst es ihm mit der Ernährungsumstellung und der Beratung ist. Die Erfassung der entsprechenden Daten kann durch freie Notizen oder per Formulareintrag erfolgen. Sie können durch eine Vielzahl von Hilfsmitteln wie technische Geräte (Waagen, Video, elektronische Datenerfassung und -auswertung mittels entsprechender Software) mehr oder minder präzise protokolliert werden. Ein Beispiel für ein Ernährungsprotokoll findet sich im 7 Kap. 18. Protokollformulare können auch bereits eine Auflistung von Nahrungsmitteln enthalten, sodass nur noch die entsprechende Menge einzutragen ist. Ein detailliertes Protokollformular wurde von Pudel entwickelt (1993). Es benennt 100 übliche Nahrungsmittel und Getränke. Jeweils getrennt für den Vormittag, Mittag/Nachmittag und den Abend kann der Klient in vorgegebenen Portionsgrößen eintragen, wie viel er davon verzehrt hat. Durch Protokollformulare mit Schlüssel (Codezahlen), die bereits die Kilokalorien und Kilojoule für Nahrungsmittel und Getränke beziffern, erübrigt sich ein umständliches Nachschlagen in Nährwerttabellen. Für den Berater lassen sich mithilfe eines Taschenrechners Durchschnittswerte ermitteln. Er kann sich im Vergleich zum freien Ernährungsprotokoll relativ schnell einen Eindruck über die Energieaufnahme, aber auch den Verzehr von Kohlenhydraten, Protein und Fett verschaffen. Das Protokoll bietet folglich die Möglichkeit, die Ausgewogenheit der Ernährung zu überprüfen. Außerdem kann der Berater erkennen, welche Mahlzeiten für den Klienten problematisch sind. Je nach Bedarf kann der Berater abwägen, welche Nährstoffe besondere Beachtung verdienen. Bei Dyslipoproteinämien, Nierenerkrankungen oder Diabetes mellitus kann der Schwerpunkt jeweils anders gesetzt werden, beispielsweise auf Fettverzehr, Proteinzufuhr oder Verzehr von leicht resorbierbaren Kohlenhydraten. Im weiteren Verlauf kann der Klient die Kontrolle selbst übernehmen. Es sollte nicht verschwiegen werden, dass dieses Verfahren für beide Parteien mit beachtlichem Aufwand verbunden ist. Der Klient muss bereit sein, über längere Zeit detailliert zu protokollieren, was er gegessen und getrunken hat, während die Funktion des Beraters sich nicht darin erschöpfen kann, dass er die erfassten Daten auswertet, sondern er
35 3.3 · Die Arzt-Klienten-Interaktion
wird diese auch erläutern müssen, sonst wird der Klient sich in absehbarer Zeit die Frage stellen, weshalb er die Daten akribisch erfasst. In vielen Fällen sind derart umfangreiche Datenerfassungen nicht erforderlich. Bei den meisten Übergewichtigen erübrigt sich ein präzises Kalorienzählen. Die allgemeine Darstellung des Nahrungsverzehrs ohne genaue Berechnung vermittelt vielfach ein eindrucksvolles Bild über das falsche Essverhalten oder die »Schwachstellen«, vor allem dann, wenn im Protokoll erwähnt wird, wo, wann, wie oft und warum gegessen und getrunken wird. Nicht selten kommt gerade der Übergewichtige oder auch der Diabetiker bereits mit einer präzisen Eigendiagnose, so dass sich primär die Frage stellt: Wie können die Fehler vermieden werden? In Anbetracht der Zeitknappheit im ärztlichen Alltag wird die Form der detaillierten Datenerfassung eher Sonderfällen vorbehalten bleiben oder im Rahmen einer Kooperation mit einer Ernährungsfachkraft Anwendung finden.
3
Strichlisten Bei den Strichlisten handelt es sich um formlose Systeme zur Registrierung von Verhaltenshäufigkeiten. Im Rahmen der Selbstbeobachtung bieten sie die Möglichkeit, mit geringem Zeitaufwand Nahrungsmittelpräferenzen zu ermitteln oder das Essverhalten zu kontrollieren (zum Beispiel: Wie oft werden Süßigkeiten gegessen, wie häufig Alkohol getrunken?). Ebenso lässt sich diese einfache Methode bei Verdacht auf eine kritische Nährstofflage einsetzen (zum Beispiel: Wie oft pro Woche werden Obst, Gemüse, Vollkornbrot, Fisch etc. gegessen?). Strichlisten sind immer dann eine adäquate Methode der Selbstkontrolle, wenn bestimmte Verhaltensweisen bereits evident sind. Auch in diesen Fällen fördert die Protokollierung eine Verhaltenskorrektur und dient bei geringem Zeitaufwand zur Kontrolle einer Verhaltensänderung (zum Beispiel: Wie oft wurde in der Woche auf Süßigkeiten/Alkohol verzichtet?).
Die Präferenzliste Eine durchaus sinnvolle Alternative zum Ernährungsprotokoll ist die Präferenzliste. Mithilfe dieses Vordrucks, der eine Fülle unterschiedlichster Lebensmittel enthält, kann der Klient innerhalb weniger Minuten ankreuzen, welche er besonders gern isst (präferiert). Der Berater kann sich ebenso schnell ein relativ gutes Bild über das Essverhalten eines Klienten verschaffen. Auf diese Weise kann in kurzer Zeit die Grundlage für ein Beratungsgespräch geschaffen werden. Im Allgemeinen zeichnet sich ebenfalls ab, welche Lebensmittel als problematisch erscheinen. Sollte der Klient mit einem spezifischen Problem kommen (beispielsweise einer Hypercholesterinämie) und sich die Ursache anhand der präferierten Lebensmittel nicht klar abzeichnen, so bietet sich im Anschluss immer noch die Möglichkeit, ein ausführliches Ernährungsprotokoll zu erstellen. Präferenzlisten können ebenso wie Ernährungsprotokolle in regelmäßigen Abständen erneut ausgefüllt werden, um zu prüfen, inwieweit sich der Verzehr bestimmter Lebensmittel und Lebensmittelgruppen verändert hat.
3.3
Die Arzt-Klienten-Interaktion
In der Praxis der Ernährungsberatung wird oft ein Ungleichgewicht in der Arzt-Klienten-Interaktion beobachtet (Diedrichsen 1993): 4 Der Arzt bestreitet den größten Teil des Gesprächs. 4 Der Arzt leitet 99 % der Äußerungen ein. 4 Der Arzt stellt bereits eine weitere Frage, bevor der Klient die letzte beantworten konnte. 4 Der Arzt unterbricht den Klienten öfter als umgekehrt. 4 Der Arzt bestimmt Themen und Themenwechsel des Gesprächs. 4 Der Arzt bestimmt das Ende des Gesprächs. Aus der Sicht des Klienten stellt sich die Zielsetzung als überaus kompliziert und problematisch dar. Zweifellos wäre er in der Lage, eine Vielzahl von Bedürfnissen und Gründen zu benennen, die eine Korrektur des Essverhaltens erschweren. Die Motivationsstruktur eines Klienten ist jedoch überaus vielschichtig, sodass gesundheitsbezogene Zielsetzungen in seinem soziokulturellen und situativen Kontext oft ins Hintertreffen geraten. Eine Ernäh-
36
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
rungsberatung, die lediglich zum Ziel hat, bestimmte Ernährungsinstruktionen zu befolgen, und möglicherweise noch ermahnend darauf verweist, dass eine Nichtbeachtung gravierende gesundheitliche Konsequenzen haben wird, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. k Das verstehende Gespräch
Eine wichtige Form der dialogischen Kommunikation zwischen Arzt und Klient ist das verstehende Gespräch, das durch folgende Aspekte gekennzeichnet ist: 4 Der Berater versucht gezielt, gefühlsmäßig Einsicht in das Ernährungsverhalten des Ratsuchenden zu gewinnen. Dazu gehören das authentische Sprechen und das aktive Zuhören. Der Gesprächsanteil des Ratsuchenden sollte mehr als 50 % betragen. 4 Ratsuchende lernen, sich selbst zu akzeptieren und sich mit ihrem Ernährungsproblem innerlich auseinanderzusetzen. 4 Der Berater unterstützt den Ratsuchenden, damit dieser seine Probleme weitgehend selbstständig bewältigen kann. Ernährungsberatung sollte nicht als Belehrung (advice) verstanden werden, sondern sollte ein non-direktiver Kommunikations- und Trainingsprozess (Counseling-Modell) sein. Korrekturmaßnahmen sollten in kleinen Schritten in Abstimmung mit dem Klienten und dessen subjektiven Möglichkeiten erfolgen, wobei dem Arzt die wesentliche Aufgabe zukommt, motivationsfördernd auf den Klienten einzuwirken und im Rahmen einer flexiblen Kontrolle Zielsetzungen im Bedarfsfall neu zu definieren.
3.4
Formen der Ernährungsberatung
3.4.1
Einzelberatung
18 19 20
Kapitel 3 · Ernährungsberatung
Einzelberatungen sind dadurch gekennzeichnet, dass im Rahmen von einem oder mehreren Einzelgesprächen individuelle Ernährungsprobleme durch Modifikation des Ernährungsverhaltens gelöst werden sollen. Anfangs sollte den Ratsu-
chenden mehr Zeit als nur wenige Minuten eingeräumt werden, um eine Beziehung und Bindung zum Berater aufbauen zu können. Auf diese Weise entsteht eine größere Vertrauensebene, die für den Erfolg der Beratung wichtig ist. Eine Einzelberatung sollte das soziale Umfeld mit analysieren, da dieses häufig der Auslöser für die Ernährungsprobleme sowie für körperliche und psychosoziale Beeinträchtigungen sein kann.
3.4.2
Gruppenberatung
Die Gruppenberatung hat nicht zuletzt aus Kostengründen einen festen Platz in der Ernährungsberatung. Als soziales System gewährt die Gruppe Hilfe und emotionalen Rückhalt, um die gesetzten Ziele zu verwirklichen. Der Berater sollte reflektiert agieren, die Kommunikation in der Gruppe fördern und ein emotional günstiges Beratungsklima schaffen. Er sollte nach dem Hier-und-jetzt-Prinzip vorrangig auf Ereignisse der Gegenwart und nicht der Vergangenheit oder fernen Zukunft abzielen und sich auf die Gruppe als Ganzes konzentrieren. k Vorteile und Nachteile der Gruppenberatung
Die Vorteile der Gruppenberatung im Vergleich zur Einzelberatung sind: 4 Sie ist effizient, da mehr Klienten Hilfe zuteil wird. 4 Als Mikrokosmos der Gesellschaft schafft sie einen sozialen interpersonalen Kontext, in dem sich zwischenmenschliche Probleme erarbeiten lassen. 4 Klienten haben die Gelegenheit, neues Verhalten anzuwenden, in ihrer Entwicklung voranzukommen und in der Gruppe zu wachsen. 4 Klienten werden von ihren eigenen Problemen abgelenkt und können sich den Problemen anderer Menschen zuwenden. 4 Klienten können einander Hilfestellung geben und dadurch ihre Selbstachtung steigern. 4 Sie ermöglicht die Bildung von Selbsthilfegruppen. 4 Sie umfasst einen längeren Zeitraum. Die Wahrscheinlichkeit, Modifikationen des Ernährungsverhaltens dauerhaft durchzusetzen, ist deshalb größer.
37 3.5 · Grundlagen der Klientenberatung
4 Sie fördert die Hoffnung, das Ziel erreichen zu können, wenn andere es auch schaffen. 4 Der Klient ist mit seinem Problem nicht allein. 4 Der Informationsaustausch mindert Ängste. 4 Im Schutz der Gruppe lösen sich Konflikte und innere Spannungen. Folgende Schwierigkeiten können im Rahmen der Gruppenberatung entstehen: 4 Wenn die Gruppenleiter nicht ausreichend in Gruppendynamik ausgebildet sind, können sie die Kontrolle verlieren. 4 Der Gruppenprozess kann negativ verlaufen, wenn Konflikte nicht bewältigt werden. 4 Gruppenunfähige Klienten, die nicht über ausreichende soziale Reife verfügen, können Hierarchie und Machtkämpfe provozieren. 4 Klienten können der Gruppe ihre persönlichen Interessen aufzwingen. 4 Klienten können aus Angst vor den Reaktionen anderer Gruppenmitglieder emotional gehemmt sein. 4 Die Gruppe kann von Klienten missbraucht werden, die dort nur ihre Probleme abladen, ohne ihr Verhalten ändern zu wollen. 4 Klienten können in ein Abhängigkeitsverhältnis geraten und nicht befähigt werden, Probleme allein zu lösen.
3.5
Grundlagen der Klientenberatung
Eine effiziente, zielgerichtete Form der Beratung stellt die »Beratung nach reformpädagogischem Ansatz« von Siebolds dar. Im Sinne eines Prozessalgorithmus der Auftragsklärung wird zunächst geprüft, um welchen Status es sich bei dem Klienten handelt. Kontaktpersonen werden zu diesem Zweck in 3 Gruppen eingeteilt: 4 Besucher, die eventuell beraten werden möchten, aber kein konkretes Anliegen haben. Diese sollten mit entsprechenden Komplimenten zu einem erneuten Besuch eingeladen werden. 4 Klagende, die eine Beschwerde äußern. Ist diese vage, so sollte sie konkretisiert werden. Falls die Beschwerde keine Lösung zulässt, wird der Betreffende ein Klagender bleiben. Sollte der
3
Berater eine Lösungsmöglichkeit sehen, so wird daraus ein 4 Kunde, der beraten werden kann. Eine zunächst vage Lösungsidee sollte konkretisiert werden. Falls sowohl der Kunde als auch der Arzt diese als realisierbar erachten, erfolgt eine Auftragsabwicklung in der Therapie bzw. Beratung. Im weiteren Verlauf sollte geprüft werden, ob der Auftrag sinngemäß bearbeitet wurde. Ist dies nicht der Fall, so sollten neue Lösungsideen konkretisiert werden. Ansonsten wird die Therapie/Beratung im Sinne des Auftrags fortgeführt. Nach Ansicht von Siebolds sind nur Kunden zu beraten bzw. schulbar. Die Beratungs- bzw. Schulungsstunde basiert auf folgender »Dramaturgie«: 4 Ermittlungsphase 4 Informationsphase 4 Beratungsphase 4 Ablösungsphase Der Berater sollte sich die Erfahrungen des Kunden schildern lassen und Folgendes klären: 4 Was hat funktioniert? – Reaktivierung 4 Das größte Problem erfassen – focusing 4 Welche Informationen werden noch benötigt? 4 Festlegen, was geändert werden soll – eventuell eine Prioritätenliste erstellen. Das Arzt-Klienten-Verhältnis ist im Allgemeinen dadurch charakterisiert, dass der Arzt Ratschläge erteilt und verbal versucht, das Handeln des Klienten lenkend und steuernd zu beeinflussen. Die Compliance des Klienten hängt jedoch wesentlich von den gewählten Formulierungen ab. Falsch gewählte Gesprächsformen und Redewendungen können Widerstand und Distanz geradezu provozieren. Die nachfolgend erläuterten Beratungsfunktionen können dazu beitragen, dass bei angemessener Anwendung und Umsetzung Missverständnisse oder Spannungen im Arzt-Klienten-Verhältnis vermieden werden.
1 2 3 4 5
38
Kapitel 3 · Ernährungsberatung
3.5.1
Rat erteilen
Gemäß der Zielsetzung steht der Rat im Vordergrund. In diesem Zusammenhang spricht der Arzt eine Empfehlung hinsichtlich einer gesunden Lebensführung und/oder bestimmter Nahrungsmittel aus. Die Wirksamkeit derartiger Ratschläge hängt jedoch im Wesentlichen von den entsprechenden Wünschen des Klienten ab. Je präziser der Klient Lösungswünsche oder eigene Anregungen artikulieren kann, um so eher ist gewährleistet, dass er die unterbreiteten Vorschläge umsetzen kann.
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
3.5.2
Auskunft erteilen
Hier geht es darum, das Ernährungswissen des Klienten zu verbessern. Dies sollte jedoch in Abstimmung mit dem Informationsbedürfnis und den intellektuellen Fähigkeiten des Klienten erfolgen, um sicherzustellen, dass Art und Umfang der Beratung nicht zu »tauben Ohren« führen.
18 19 20
3.5.5
Gesprächskompetenz ist wichtiger als Fachwissen
Da der Ausgang eines Beratungsgesprächs nachhaltiger von der Gesprächskompetenz des Arztes geprägt wird als von seinem Fachwissen, soll an dieser Stelle auf 3 wichtige übergeordnete Verhaltenseigenschaften des Beraters eingegangen werden: Akzeptanz, Empathie und Kongruenz (Bachmair et al. 2007). Akzeptanz bedeutet, den Klienten in seiner Per-
3.5.3
Zur Reflexion anregen
Die reflexive Besinnung ist ein entscheidendes Merkmal der Realisierung bestimmter Zielsetzungen und ermöglicht gleichzeitig das Hinterfragen der Zielsetzungen selbst. Auf diese Weise wird der Klient angeregt, über mögliche Folgen seiner Wünsche nachzudenken und Einsicht über sein Handeln zu gewinnen. Der Unsinn von Diätkuren oder der Wunsch eines unrealistischen Zielgewichtes können auf diese Weise herausgearbeitet werden.
16 17
Ratschläge nicht ein, so ist man schnell geneigt, den Misserfolg dem Klienten zuzuschreiben und ihm mangelnde Compliance anzulasten. Berechtigt ist jedoch die Frage, ob das Problem nicht auf mangelnde Qualifizierung des Beraters zurückzuführen ist. Die in der Praxis beobachtete geringe Resonanz, wonach die Compliance bei Diätvorschriften zwischen 8 und 29 % liegt, sollte zumindest zu denken geben (Weisbach 1995).
3.5.4
Zur Aktion anregen
Konkrete einzuleitende Schritte und Maßnahmen werden unter optimalen Bedingungen vom Klienten selbst formuliert oder im Dialog mit dem Arzt geplant, und zwar so, dass sie dem Klienten attraktiv erscheinen, und er den für ihn resultierenden Nutzen klar erkennen kann. Die Effektivität eines Beratungsgespräches wird wesentlich bestimmt durch das Verhalten des Beraters. Tritt die erwartete Umsetzung der erteilten
sönlichkeit und mit seinen Problemen auch dann anzunehmen, wenn sein Verhalten nicht den Vorgaben entspricht oder er dem Arzt gegenüber aggressiv erscheint. Der Klient erfährt eine gebührende Beachtung und Achtung, ohne sein Handeln und Verhalten gut oder schlecht zu heißen. Empathie beinhaltet das Bemühen, den Klienten in seinen Gefühlen zu verstehen sowie Ängste und Befürchtungen aufzudecken, die dazu führen, dass bestimmte Ratschläge und Empfehlungen nicht befolgt werden. Durch einfühlsame Rückfragen und Erörterung von Problemen wird der Klient eher in die Lage versetzt, auch heikle Themen anzusprechen. Kongruenz bedeutet Echtheit und Wahrhaftig-
keit des beratenden Arztes. Seine Worte und seine Gefühle, Gestik und Mimik sollten übereinstimmen. Auf diese Weise soll eine Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens zwischen Arzt und Klient geschaffen werden. Nur wenn der Klient eine solche Vertrauensbasis vorfindet, ist er in der Lage, mit dem Arzt zusammenzuarbeiten.
39 3.5 · Grundlagen der Klientenberatung
3.5.6
Lernziele
Neben den genannten übergeordneten BeraterVariablen dienen Beratungsfaktoren, die detaillierte Zielbeschreibungen zum Inhalt haben, einer angemessenen Information des Klienten. Ohne klare Zielvorstellung und Formulierung ist das Ergebnis der Beratungsbemühungen ungewiss. Klare Zielvorgaben geben außerdem Hinweise auf den Einsatz adäquater Methoden und ermöglichen eine Kontrolle des Beratungserfolgs (Jeske u. Bredenpohl 1987). Grundsätzlich gibt es 3 Ansatzpunkte, die für die Zielformulierungen in Betracht kommen und die durch die Begriffe Kopf, Herz und Hand symbolisiert werden können (Mager 1969).
Kopf – der kognitive Bereich Dieser Bereich dominiert in den meisten Beratungsgesprächen und beinhaltet unter anderem die Vermittlung von Fachwissen, das Erlernen von Begriffen und Berechnungen, die Erfassung von Daten, das Erstellen von Tabellen. Häufig wird der praktische Teil dabei vernachlässigt, sodass die Kontrolle fehlt, die Aufschluss darüber gibt, inwieweit der Klient die theoretische Wissensvermittlung verstanden hat und umsetzen kann. Vielfach werden die Fähigkeiten des Klienten überschätzt. In der Kürze der Zeit ist er nicht in der Lage, das Gehörte zu verarbeiten und zu speichern, sodass das Ergebnis für beide, Arzt und Klient, eher frustrierend ist, und die Beratungsbemühungen nehmen gleich zu Beginn einen unglücklichen Verlauf. Weniger kann also mehr sein! In regelmäßigen Abständen empfiehlt sich eine Wiederholung und Auffrischung des vermittelten Wissens.
Herz – der affektive, emotionale Bereich Dieser Bereich, der auf die Gefühle und Empfindungen des Klienten abzielt, wird meistens viel zu wenig angesprochen, obwohl Entscheidungen bekanntlich auch gefühlsbetont und nicht immer rational getroffen werden. Lernziele, die die affektive Ebene beinhalten, berücksichtigen Interessen und Wertvorstellung des Klienten. Sie sind darauf ausgerichtet, das Vertrauen und die Aufmerksamkeit des Klienten zu gewinnen und wirken moti-
3
vationsfördernd. Misstrauen und Vorurteile sollen hingegen abgebaut werden.
Hand – der psychomotorische Bereich Während die Bereiche Kopf und Herz auf das Innere des Klienten ausgerichtet sind, steht hier das konkrete Handeln im Vordergrund. Dieses Handeln sollte jedoch nicht vom Arzt ausgehen, sondern seine Zielsetzung sollte es sein, den Klienten zu befähigen, diese Handlungen selbstständig durchzuführen.
3.5.7
Methoden der Gesprächsführung
Da Beratung sich nicht als reine Informationsvermittlung, sondern als Kommunikations- und Trainingsprozess versteht, dessen Erfolg im Wesentlichen durch das Können des Beraters und seinen Umgang mit der Sprache bestimmt wird, soll an dieser Stelle auf die verschiedenen Möglichkeiten eingegangen werden, ein Gespräch zu führen.
Gesprächstechniken Gute Gesprächstechniken sind eine Mindestvoraussetzung der Gesprächsführung und sollen sicherstellen, dass der Klient die für ihn wichtigen Informationen verstehen und behalten kann. Die wesentlichsten Elemente sind der . Tab. 3.1 zu entnehmen.
Gesprächsstrategien Gesprächsstrategien beschreiben einzelne Gesprächsschritte, die sich zu einer Gesprächsordnung zusammenfügen. Sie verhindern, dass sich Gespräche im Kreis drehen. In . Tab. 3.2 ist eine mögliche Gesprächsstrategie dargestellt.
Argumentationstechniken Argumentationstechniken schaffen günstige Voraussetzungen, um Klienten von Ratschlägen und Tipps zu überzeugen. Einstellung, Meinung, Motivation, Verhalten und Handeln des Klienten können mithilfe einzelner Argumentationsmuster gefördert werden (Neumann 1978; Thiele 1984). Ein Beispiel für eine Argumentationslinie kann . Tab. 3.3 entnommen werden.
40
Kapitel 3 · Ernährungsberatung
1
. Tab. 3.1 Aspekte zur Förderung des Verstehens und des Behaltens von Gesprächsinhalten
. Tab. 3.2 »EIVANBA«-Gesprächsstrategie in
2
Verstehen
Behalten
Einführung
Nur die wichtigsten Informationen mitteilen
Informationen logisch ordnen
Langsam, deutlich und laut genug sprechen
Wichtige Informationen an den Anfang oder das Ende des Gesprächs setzen
3 4 5
Sätze nicht zu sehr ausschmücken
Wichtige Informationen nicht zu dicht hintereinander geben
Kurze Sätze bevorzugen
Informationen angemessen häufig wiederholen
Seltene Wörter und Fremdwörter durch häufig gebrauchte ersetzen
Einfache »W-Fragen« (wie, wann, warum …) zur Festigung verwenden
6 7 8
7 Schritten Einstimmung Interessenweckung Vertrauensfestigung Durchführung
Angebot Nutzen
Ausführung
Bedürfnisdeckung Aufruf
9 10
. Tab. 3.3 Argumentationsblock Behauptung
»Durch eine Gewichtsreduktion können Sie ihre Blutzuckerwerte und das Risiko der Folgeerkrankungen merklich verbessern.«
Argument (Beweis)
Entsprechende Laborwerte eines Klienten vor und nach Gewichtsreduktion präsentieren.
Beispiel
Wenn möglich, einen erfolgreichen Klienten selbst berichten lassen bzw. berichten, was dieser konkret unternommen hat, um sein Gewicht zu reduzieren, oder selbst Vorschläge unterbreiten, was der Klient essen und unternehmen könnte (zum Beispiel welche sportlichen Übungen besonders vorteilhaft sind, um eine Gewichtsreduktion zu erreichen).
Zusammenfassung
Wesentliche Aspekte der Gewichtsreduktion und die daraus resultierende Risikominderung wiederholen. Stichworte mithilfe von Flip-Charts oder Folien schriftlich fixieren: Senkung der Blutzuckerwerte (Profil oder Nüchtern-Blutzucker), Senkung des HbA1(C), der Blutlipide (Triglyzeride, LDL-Cholesterin), der Harnsäure etc., Fleischportionen reduzieren (zweimal pro Woche, etwa 150 g) weniger Wurst, fettarme Sorten (Corned Beef, Putenaufschnitt etc.), fettarmer Käse (Quark, Schnittkäse bis 35 % i. Tr.), viel Gemüse und Rohkost, reichlich Mineralwasser etc. Ausdauersport betreiben, Schwimmen, schnelles Gehen, Treppensteigen, Heimtrainer etc.
11 12 13 14 15 16 17 Fragetechniken
18 19 20
Fragetechniken können in der Beratung vielfältige Funktionen übernehmen. Eine didaktische Bereicherung ist ihre Anwendung vor allem dann, wenn es um die Vermittlung von Lehrinhalten geht. Fragen können der Einstimmung und Entspannung dienen; außerdem können rhetorische und provokative Fragen dem Ratsuchenden dazu verhelfen, seine persönliche Situation klarer zu
erkennen und eine Art Standortbestimmung vorzunehmen (zum Beispiel: »Habe ich abends wirklich immer besonders viel Hunger? Oder ist das gar kein richtiger Hunger? Ist es vielleicht eine andere Art von Hunger? Hunger im Sinne von Sehnsucht? Essen als Ersatz für ›Leere‹?«). In diesem Zusammenhang geben Fragen Denkanstöße und schaffen ein Problembewusstsein. Fragen können Anlass zum Sprechen sein, wenn der
41 3.5 · Grundlagen der Klientenberatung
Berater damit Interesse an der Situation des Ratsuchenden bekundet. Sie können zur Entscheidungsfindung beitragen, indem der Betroffene lernt, sein Bewusstsein zu schärfen und seine Handlungen zu hinterfragen. Andererseits tragen humorvolle Fragen dazu bei, dass die Beratungsatmosphäre aufgelockert wird; sie schaffen gute Laune. Notwendig und sinnvoll ist der Einsatz von Fragetechniken außerdem im Rahmen der Diagnose- und Anamneseerstellung, um dem Berater wichtige Informationen zu verschaffen. Als problematisch sind sie immer dann anzusehen, wenn das Gespräch dadurch den Charakter eines Verhörs bekommt oder wenn sie vom Berater eingesetzt werden, um die Überlegenheit seiner fachlichen Kompetenz zu dokumentieren, während sich der Klient eher bloßgestellt fühlt.
Gesprächsformen – das klientenzentrierte Gespräch Im Rahmen eines Beratungsgesprächs in Form eines Interviews besteht die Gefahr, dass der Klient eine passive Rolle einnimmt, lediglich reagiert und möglicherweise keine Gelegenheit bekommt, Themen anzusprechen, die ihm wichtig erscheinen. Zur Erörterung klassischer Ernährungsprobleme bieten sich auch Diagnose- oder Anamnesegespräche kaum an, da Ernährungsprobleme meistens keine eindeutig beschreibbaren Symptome hervorrufen und auch nicht durch die Schilderung von Beschwerden erfassbar oder abfragbar sind. Dem Ratsuchenden sind seine persönlichen Daten hinreichend bekannt. Diese Kenntnis hat ihn jedoch nicht in die Lage versetzt, eine Lösung für seine Probleme zu finden. Durch ein Frage- und Antwortgespräch wird ihm keine Chance eingeräumt, an der Lösung seiner Probleme mitzuwirken. Änderungsvorschläge bleiben fremdbestimmt und zielen möglicherweise am eigentlichen Problem vorbei. Die entscheidenden Informationen treten nur im freien Gespräch zutage, in dem der Ratsuchende Gelegenheit hat, über sein Verhalten zu berichten und mögliche Gründe dafür anzuführen. Geeignet für die Ernährungsberatung ist daher vor allem das klientenzentrierte Gespräch. Es basiert auf theoretischen Ansätzen, die in der Zeit zwischen 1938 und 1950 im Wesentlichen von Rogers (1991), einer führenden Persönlichkeit der Humanistischen
3
Psychologie, entwickelt wurden. In der Bundesrepublik Deutschland wurde dieses Konzept maßgeblich durch Tausch und Tausch (1981) Anfang der 1980er-Jahre bekannt gemacht. Das ursprünglich in der Gesprächspsychotherapie eingesetzte Verfahren ist heute für alle Formen menschlicher Kommunikation von Bedeutung. Rogers spricht von einem personenzentrierten Ansatz und versteht die Person als »Prozess des Werdens«. Entwicklungsund Veränderungsprozesse der Persönlichkeit sind für ihn deshalb wichtiger als ihre Struktur.
Klient statt Patient Rogers wählt bewusst den Begriff »Klient« und nicht »Patient«, da Patienten sich oft abhängig und wie Behandlungsobjekte fühlen. Klienten hingegen entscheiden selbstständig. Sie tragen ein hohes Maß an Selbstverantwortlichkeit und werden durch die positive Zuwendung des Beraters darin bestärkt.
Das klientenzentrierte Gespräch dient vor allem der Abklärung seiner Situation. Der Klient befindet sich in einer Art offenen Problemlage, die für ihn allein nicht lösbar ist. Der Berater ist bemüht, durch die Aussagen des Klienten der eigentlichen Ursache des Problems auf den Grund zu gehen. Durch Bewertungen, Interpretationen und Rückfragen versucht der Arzt das Problem zu präzisieren und gegebenenfalls eine Diagnose zu stellen. Die Hilfe des Beraters besteht darin, dass er den Klienten fördert, das zu vollbringen, was ihm allein nicht gelingt. Durch Informationen und hilfreiche Lösungsvorschläge kann er Probleme entschärfen oder anders gewichten (Partizipationsmodell). Charakteristisch für das klientenzentrierte Gespräch ist, dass es sich um einen dynamischen Prozess handelt, in dessen Verlauf sich der therapeutische Erfolg durch Veränderungen seitens des Klienten dokumentieren lässt. Erfolgsbedingungen sind nach Rogers die oben erwähnten Grundvoraussetzungen der Gesprächskompetenz: Empathie, Akzeptanz und Kongruenz. Die Anwendung des klientenzentrierten Konzeptes hat sich in der Ernährungsberatung unter vielfältigen Gesichtspunkten als sinnvoll erwiesen.
42
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Kapitel 3 · Ernährungsberatung
Nicht selten suchen Klienten einen kompetenten Rat, ohne dass es um reine Informationsvermittlung geht. Ebenso dürften jedem Arzt zahlreiche »Fälle« bekannt sein, in denen eine Ernährungsumstellung als therapeutischer Ansatz im Vordergrund steht. Aus ärztlicher Sicht hat der Klient lediglich eine Entscheidung bezüglich seiner Ernährung zu treffen, für die der Arzt mit entsprechenden Ratschlägen, Informationen, Aufklärung und Nahrungsmittellisten aufwarten kann. Für den Klienten liegt das Problem jedoch in der Umstellung begründet, die ihm, aus welchen Gründen auch immer, so schwierig erscheint, dass die wohlgemeinten Ratschläge des Arztes nicht realisiert werden können. Hier kommen die Vorteile des klientenzentrierten Konzeptes zum Tragen, da weniger die kognitiven Aspekte analysiert werden, sondern eher das Gefühlsleben. Die klientenzentrierte Vorgehensweise ist also immer dann angezeigt, wenn Ernährungsprobleme nicht allein durch Information und Aufklärung behoben werden können. In solchen Fällen sollte der Arzt emotionale Erlebnisinhalte und Gefühle verbalisieren, damit der Klient sich ein Bild von sich selbst und seiner Ernährungssituation machen kann: Dem Klienten sollte zu einer realistischen Selbstwahrnehmung verholfen werden. Die aufrichtige Zuwendung und Anteilnahme des Beraters wirkt motivierend auf den Klienten ein und befähigt ihn, aufgrund geförderter Selbsterfahrung sowie neuer Sichtweisen und Orientierungen gesundheitsbewusste Maßnahmen einzuleiten.
4 die Motivationen des Klienten abzuklären und zu lokalisieren, 4 die Motivationen zu bewahren und nicht zu beschädigen und 4 die Motivationen zu fördern, indem Sie diese unterstützen und den Klienten zum Handeln ermutigen. Beratungsgespräche, die entsprechend strukturiert sind, zielen auf ein sogenanntes Empowerment des Klienten ab. Empowerment bedeutet, dass der Klient eine Haltung einnimmt, die es ihm erlaubt, selbst für seine Interessen einzutreten und seine Ziele selbst zu bestimmen und zu verfolgen (. Tab. 3.4, mod. nach Funnell et al. 1991). Der Berater konzentriert sich nicht nur auf die Erkrankung, sondern bezieht das gesamte Umfeld des Klienten mit ein und überlegt, wie er dessen Selbstmotivation und Empowerment fördern kann. Dies könnten Informationen darüber sein, wie andere es geschafft haben, was zu einem Rückfall führen kann oder wie dieser überwunden werden kann. In jedem Fall sollte der Klient darin bestärkt werden, nach Abwägung aller Vor- und Nachteile so zu handeln, wie es für ihn am besten ist. Als kontraproduktiv werden Drohungen oder das Ausüben von Druck angesehen, da diese nur Angst oder im günstigsten Fall Gehorsam erzeugen, der durch andere Einflüsse schnell ins Gegenteil verkehrt wird.
3.6
15
Das Motivationsgespräch – Empowerment
16
Das Motivationsgespräch kann im Rahmen eines klientenzentrierten Konzeptes eingesetzt werden und wird von Hirsch und Nilsson (1995) als Übung zur Selbsterfahrung angesehen. Im Rahmen eines Motivationsgesprächs sollte der Berater durch aktives Zuhören Einstellungen, Bewertungen und Gefühle des Klienten – ob positiv oder negativ, logisch oder widersprüchlich – kennenlernen. Gleichzeitig bietet das Gespräch dem Klienten die Chance, sich ein klareres Bild von seinem Motivationsspektrum zu verschaffen und eher eine tragfähige Entscheidung zu treffen. Die Aufgabe besteht darin,
17 18 19 20
Ratschläge für die praktische Beratungssituation
Wesentliche Aspekte der bisher theoretisch erläuterten Grundlagen der Ernährungsberatung sollen an dieser Stelle anhand praktischer Beispiele erläutert werden.
3.6.1
Was kann dem Klienten während der Beratung helfen?
4 Gesprächsatmosphäre schaffen: in einem Raum, in dem der Klient sich wohl fühlen kann, in dem keine Störungen möglich sind; Telefongespräche unterbinden
43 3.6 · Ratschläge für die praktische Beratungssituation
3
. Tab. 3.4 Vergleich des traditionellen Modells und des Empowerment-Modells in der Ernährungsberatung Traditionelles medizinisches Modell
Personenzentriertes Empowerment-Modell
Die ernährungsabhängige Krankheit des Patienten ist eine körperliche Krankheit.
Die ernährungsabhängige Krankheit ist eine biopsychosoziale Krankheit.
Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist autoritär und ist im Wissen des Arztes begründet.
Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist demokratisch und auf Wissensaustausch begründet.
Probleme und Lernbedürfnisse werden üblicherweise vom Experten bestimmt.
Probleme und Lernbedürfnisse werden üblicherweise vom Patienten bestimmt.
Der Arzt wird gesehen als Problemlöser und Helfer, als Experte, der für Diagnose, Behandlung und Ergebnis verantwortlich ist.
Der Patient wird gesehen als Problemlöser und (Selbst-)Helfer, der Arzt dient als Hilfsquelle und beide tragen die Verantwortung für Behandlung und Ergebnis.
Ziel ist das Befolgen von Empfehlungen, Verhaltensstrategien werden genutzt, um die Compliance zu verbessern. Ein Mangel an Compliance wird als Fehler des Arztes, vor allem aber des Patienten betrachtet.
Ziel ist es, den Patienten zu befähigen, begründet etwas auszuwählen. Verhaltensstrategien werden benutzt, um Patienten zu helfen, ihr Verhalten ihren Wünschen gemäß zu verändern. Mängel in der Zielerreichung werden als Rückmeldung genutzt, um Ziele und Wege zu modifizieren.
Verhaltensänderungen sind external motiviert.
Verhaltensänderungen sind internal motiviert.
Der Patient ist machtlos, der Arzt hat die Macht.
Patient und Arzt sind gleich mächtig, aber der Patient bestimmt seine Ziele.
4 Zeit nehmen: möglichst zu Beginn erwähnen, wie viel Zeit zur Verfügung steht 4 Kontakt aufnehmen: zugewandte Haltung, Blickkontakt; freundlicher, Vertrauen erweckender Blick 4 Sicherheit geben: unangenehme Themen zulassen, durch aufmunternden Blick Aussprache fördern 4 Emotionale Regungen zulassen: Gefühlsäußerungen wie Weinen ruhig aufnehmen, nicht abblocken 4 Aufmerksamkeit zeigen: zuhören, ausreden lassen 4 Interesse zeigen: offene Fragen stellen, kurz nachfragen 4 Hilfestellung geben, um eigenen Standpunkt zu finden: Gesagtes wiederholen, klären, ob alles richtig verstanden wurde, Gefühle des Klienten verbalisieren, zur Äußerung von Gefühlen ermutigen, Probleme erörtern, durch Fragen anderen Blickwinkel anbieten 4 Gefühle respektieren: keine bohrenden Fragen stellen, dem Klienten die Freiheit lassen, das Thema bei Bedarf abzubrechen
4 Bedürfnisse respektieren: nicht kritisieren, keine strikten Empfehlungen und Vorschläge unterbreiten 4 Entscheidungsfreiheit einräumen: dem Klienten überlassen, worüber er sprechen möchte, Erkenntnisse aus dem Gespräch zusammenfassen und Motivationsansätze verdeutlichen, Fragen als Angebot formulieren und zur Entscheidung ermutigen 4 Keine Ablenkungen: nicht von Problemen ablenken 4 Keine Bewertungen: dem Klienten überlassen, ob er ein Ereignis als schlimm oder weniger schlimm empfindet 4 Keine starken Reaktionen auf Gefühle: sie erzeugen Unsicherheit und können dazu führen, dass der Klient diese Themen ausklammert 4 Keine Beeinflussung von Gefühlen: Gefühle nicht vergrößern oder herunterspielen, weder trösten noch ablenken 4 Keine persönliche Erfahrungen: sie können den Eindruck vermitteln, dass die Probleme des Klienten unwichtig sind und man nicht zuhört
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
44
Kapitel 3 · Ernährungsberatung
3.6.2
Aktives Zuhören
Im Rahmen einer Arzt-Klienten-Beziehung gibt es Phasen, in denen ein aktives Zuhören besonders wichtig ist: wenn Sie den Klienten kennenlernen; wenn Sie mit Klienten besprechen wollen, welche Schwierigkeiten Sie mit einer empfohlenen Therapie haben; wenn Sie die Gefühle von Klienten verstehen wollen; wenn Klienten im Rahmen einer Gruppenberatung/-schulung Gefühle zeigen, mit denen sie sich selbst oder andere stören; wenn Sie mit dem Klienten besprechen möchten, welche Schwierigkeiten er mit Ihnen hat.
Der »ideale« Therapeut verfügt (mod. nach Risse 1998, S. 39) über 5 die Motivation, den Patienten zu beraten (Pudel 1991) und nicht zu führen, 5 die Sensibilität für die überwiegende Abhängigkeit des somatologischen Zielsymptoms (Krankheit) von psychopathologischen, psychodynamischen (interaktiven) und soziodynamischen Faktoren (Frank 1972), 5 die Teamfähigkeit, d. h. die Möglichkeit, Entscheidungskompetenz und -verantwortung an andere Teammitglieder und vor allem an den Patienten aggressionsfrei abgeben zu können, 5 die Eignung, die intellektuelle Kapazität des Patienten richtig einzuschätzen und die anzubietenden Sachverhalte entsprechend zu reduzieren und zu wiederholen, 5 das Geschick, das mangelnde affektive Betroffensein des Patienten (Schmitz 1980) mit anderen Interventionen (Gruppendynamik, Übertragungsphänomene, Strukturierung des Umfelds etc.) zu kompensieren, 5 ausreichende Sachkompetenz für die Problematik der Krankheit mit permanenter, geschmeidiger Adaptation an die flukturierenden somatologischen Parameter.
3.7
Rückfallprophylaxe
Auf risikoreiche Situationen, die während des Beratungsprozesses oder nach Abschluss der Beratungsgespräche beziehungsweise der Therapie auftreten können und die der Klient ohne Hilfe bestehen muss, sollte er rechtzeitig vorbereitet werden. Programme zur Verhinderung von Rückfällen sind für Alkoholabhängige von Marlatt und Gordon (1985) und für Adipöse von Marx (1982) entwickelt worden. Da die Rückfallquote bei einigen Krankheitsbildern extrem hoch liegt (bei Adipösen wird mit nahezu 100 % gerechnet), wird die Rückfallverhinderung als integraler Bestandteil einer verhaltensmodifizierenden Beratung angesehen. Da die Verarbeitung des ersten Rückfalls das Auftreten weiterer Rückschläge erheblich beeinflusst, müssen Klienten von vornherein lernen, diesen als einen zeitweiligen, überwindbaren »Ausrutscher« zu interpretieren.
3.8
Zusammenfassung
Die Compliance bei Diätvorschriften liegt mit 8–29 % extrem niedrig. Durch eine dem Klienten angepasste Gesprächsführung während einer Ernährungsberatung ließe sich dieser Anteil sicherlich deutlich erhöhen. Dabei kommt der eigentlichen Gesprächstechnik eine größere Bedeutung zu als dem reinen medizinischen Fachwissen des Arztes. Durch geschickte Gesprächsführung, Fragetechniken, aktives Zuhören und sichere Argumentation kann das Verständnis und das Behalten von Gesprächsinhalten beim Klienten wesentlich verbessert werden. Außerdem sollte das Verhältnis von Arzt zum Klient geprägt sein von Akzeptanz, Empathie und Kongruenz. Wichtig ist es, die Motivation des Klienten zu fördern, seine Ernährungsprobleme aktiv anzugehen. Die Rolle des Arztes sollte dabei in der Anleitung der Hilfe zu Selbsthilfe liegen. Nicht der Therapeut, sondern der Klient selbst bestimmt die Ziele der diätetischen Behandlung.
45 Literatur
Literatur Bachmair S et al.: Beraten will gelernt sein. 8. Aufl. Beltz PsychologieVerlagsUnion, Weinheim (2007) Brombach C. et al.: Die nationale Verzehrsstudi II, EU 53:4– 9 (2006) Burkard M: Ernährungsberatung. In: Koula-Jenik H et al. (Hrsg) Leitfaden Ernährungsmedizin. Elsevier, Urban & Fischer, München, Jena (2006) Diedrichsen I: Ernährungsberatung. Verlag für Angewandte Psychologie, Göttingen, Stuttgart (1993) Drosdek A: Für immer schlank. Trias, Stuttgart (1993) Frank JD: Die Heiler – Wirkungsweisen psychosomatischer Beeinflussung. Klett-Cotta, Stuttgart (1972) Funnell MM et al.: Empowerment: an idea whose time has come in diabetes education. Diabetes Educator 17:37– 43 (1991) George RL, Dustin D: Group counseling: Theory and practice. Prentice Hall, Englewood Cliffs, NY(1988) Haag G, Köster H: Grundlagen des Essverhaltens. Akt. Ernährungsmedizin 16:203–204 (1991) Hauner D, Hauner H: Leichter durchs Leben. Trias, Stuttgart (1996) Hirsch A, Nilsson A: Empowerment für Menschen mit Diabetes. Lilly Deutschland GmbH, Diabetes Care, Bad Homburg (1995) Jeske H, Bredenpohl M: Der Beratungsdiamant – Ernährungsberatung mit Schliff (I). Ernährungs-Umschau 34(1):17ff. (1987) Leonhäuser I-U: Ernährungswissenschaft. In: Diedrichsen I (Hrsg.): Humanernährung. Steinkopff, Darmstadt (1995) Linden M, Hautzinger M (Hrsg.): Verhaltenstherapie. 3. Aufl. Springer, Berlin, Heidelberg, New York (1996) Mager RS: Lernziele und programmierter Unterricht. Beltz, Weinheim, Basel (1969) Marlatt GA, Gordon JR: Relapse Prevention: Maintenance strategies in the treatment of addictive behaviors. The Guilford Press, New York (1985) Marx R: Relapse prevention for managerial training: A model of maintenance of behavior change. Academy of Management Review 7:433–441(1982) Neumann R: Zielwirksam reden. expert Verlag, Grafenau/ Württ. (1978) Oltersdorf U: Analyse des Ernährungsverhaltens. Akt. Ernährungmedizin 18:324–326 (1993) Pudel V: Ernährungsberatung. Deutsches Ärzteblatt 90:29 (1993) Pudel V, Westenhöfer J: Fragebogen zum Essverhalten (FEV). Göttingen, Hogrefe (1989) Risse A: Phänomenologische und psychopathologische Aspekte in der Diabetologie. Walter de Gruyter, Berlin, New York, S 38–41(1998) Rogers CR: Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie. Client centered Therapy. Fischer, Frankfurt/M. (1991) Schmitz H: System der Philosophie, Bd. II: Der Leib. Bouvier, Bonn (1982)
3
Tausch R, Tausch A-M: Gesprächspsychotherapie. 8. Aufl., Hogrefe, Göttingen (1981) Thiele A: Argumentationstechniken und Dialektik. Hans O. Rasche + Partner GmbH, Heiligenhaus (1984) Weisbach C-R: Ernährungsberatung in der Arztpraxis, Klientenführung und Compliance. In: Biesalski H-K et al. (Hrsg.): Ernährungmedizin. Thieme, Stuttgart, New York, S 474–481 (1995)
47 ·
Nahrungsmittelinhaltsstoffe 4
Sekundäre Pflanzenstoffe in Lebensmitteln – 49 Claus Leitzmann
5
Ballaststoffe – 61 Claus Leitzmann
6
Substanzen in fermentierten Lebensmitteln – 73 Claus Leitzmann
7
Prophylaxe und Therapie mit Fischölfettsäuren – 85 Olaf Adam
4II
49
Sekundäre Pflanzenstoffe in Lebensmitteln Claus Leitzmann
4.1
Einleitung
– 50
4.2
Definitionen
4.3
Carotinoide
4.4
Phytosterine
4.5
Saponine
4.6
Polyphenole
4.6.1 4.6.2
Kaffeesäure – 54 Flavonole – 54
4.7
Phytoöstrogene
4.8
Protease-Inhibitoren
4.9
Monoterpene
– 56
4.10
Glukosinolate
– 57
4.11
Sulfide
4.12
Weitere sekundäre Pflanzenstoffe
4.13
Zusammenfassung
– 51 – 51 – 52
– 53 – 54
– 55 – 56
– 57
– 58
– 57
X 4
50
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Kapitel 4 · Sekundäre Pflanzenstoffe in Lebensmitteln
Die Wirkungen von Heilpflanzen, Gewürzen, Tees und Lebensmitteln werden in der Naturheilkunde seit der Antike genutzt. Mit der Entwicklung hochempfindlicher Analysemethoden konnte eine Vielzahl organischer Moleküle identifiziert werden, die als bioaktive Substanzen bezeichnet werden. Diese Pflanzeninhaltsstoffe können je nach Dosierung gesundheitsfördernde oder gesundheitsschädigende Wirkungen haben. Zunächst wurden diese Wirkungen in Zell- und Gewebekulturen sowie Tiermodellen untersucht. Inzwischen liegen zahlreiche epidemiologische Daten vor, die auf das umfangreiche Gesundheitspotenzial der sekundären Pflanzenstoffe beim Menschen hinweisen. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 die Vielfalt der in Pflanzen enthaltenen protektiven Substanzen, 4 Eigenschaften und Wirkungen der sekundären Pflanzenstoffe, 4 Verzehrempfehlungen zur Stärkung der Widerstandskraft, 4 die Vorteile einer pflanzenbetonten Ernährung.
4.1
Einleitung
»
Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Arthur Schopenhauer (Philosoph, Deutschland, 1788–1860)
«
Lebensmittel enthalten neben Wasser und den bekannten Nährstoffen weitere Inhaltsstoffe. Diese früher teilweise als nichtnutritive Inhaltsstoffe benannten Substanzen werden heute als bioaktive Substanzen bezeichnet. Hierzu zählen vor allem sekundäre Pflanzenstoffe, aber auch Ballaststoffe und Substanzen in fermentierten Lebensmitteln. Ihre Wirkungen sind vielseitig. Entsprechend ihrer chemischen Struktur bzw. ihrer Funktionen lassen sie sich in verschiedene Gruppen unterteilen (. Tab. 4.1, mod. nach Watzl u. Leitzmann 2005, S. 23). Unser Wissen über bioaktive Substanzen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Während früher vor allem die gesundheitsschädlichen Eigenschaften zahlreicher Substanzen bekannt waren, konnte inzwischen in zahlreichen Studi-
11 12
. Tab. 4.1 Bioaktive Substanzen und ihre möglichen Wirkungen Bioaktive Substanzen
13 14 15 16 17 18 19 20
A
B
C
D
E
F
G
H
I
J
Sekundäre Pflanzenstoffe Carotinoide
+
Phytosterine
+
Saponine
+
+
Glukosinolate
+
+
Polyphenole
+
+
Protease-Inhibitoren
+
Terpene
+
Phytoöstrogene
+
Sulfide
+
Phytinsäure
+
Ballaststoffe
+
Substanzen in fermentierten Lebensmitteln
+
+
+ + +
+ +
+
+
+
+
+
+
+
+
+ +
+ +
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
A antikanzerogen, B antimikrobiell, C antioxidativ, D antithrombotisch, E immunmodulierend, F entzündungshemmend, G blutdruckregulierend, H cholesterinspiegelsenkend, I blutglukosespiegelsenkend, J verdauungsfördernd
51 4.3 · Carotinoide
en das gesundheitsfördernde Potenzial dieser Verbindungen gezeigt werden. Dabei liegen Erkenntnisse vorwiegend aus Zellkulturen und Tierexperimenten vor sowie einige Ergebnisse aus Studien am Menschen. Im Folgenden sollen die sekundären Pflanzenstoffe dargestellt werden. Den Ballaststoffen und Substanzen in fermentierten Lebensmitteln sind eigene Kapitel gewidmet (7 Kap. 5 und 6).
4.2
Definitionen
Bisher gibt es keine einheitliche Definition des Begriffs »sekundäre Pflanzenstoffe«. In der englischsprachigen Literatur werden sie als phytochemicals bezeichnet. Hierbei handelt es sich um Substanzen, die im Gegensatz zu den primären Pflanzenstoffen (Kohlenhydrate, Proteine und Fette) im sekundären Stoffwechsel von Pflanzen als Abwehrstoffe und Wachstumsregulatoren eine Rolle spielen, nur in geringen Konzentrationen vorkommen und in der Regel pharmakologische Wirkungen ausüben. Es wird vermutet, dass mehr als 100.000 sekundäre Pflanzenstoffe in der Natur vorkommen. Allerdings wurden bisher nur etwa 5 % der Pflanzen der Erde diesbezüglich untersucht. In der Vergangenheit wurden weitaus überwiegend toxische Pflanzenstoffe wie Blausäure und Solanin untersucht. Die schädlichen Wirkungen dieser Substanzen führten zur Bezeichnung »antinutritive Inhaltsstoffe«. Heute besteht vornehmlich ein Interesse an den protektiven Wirkungen, sodass eine Neubewertung der gesundheitlichen Bedeutung erfolgte. Folgerichtig ist die wertfreie Bezeichnung »sekundäre Pflanzenstoffe« für diese Substanzen richtig. Mit einer normalen Mischkost werden täglich etwa 1,5 g sekundäre Pflanzenstoffe aufgenommen. Bei einer vegetarischen Ernährung ist die Zufuhr deutlich höher. Im Folgenden werden die wichtigsten Gruppen der sekundären Pflanzenstoffe mit ihren bisher bekannten gesundheitsfördernden Wirkungen dargestellt. Wenn nicht anders vermerkt, sind die Informationen dem Fachbuch von Watzl und Leitzmann (2005) entnommen.
4.3
4
Carotinoide
Die Carotinoide lassen sich in 2 Gruppen einteilen: die sauerstofffreien Carotinoide (z. B. β-Carotin und Lycopin) sowie die sauerstoffhaltigen Oxycarotinoide, die auch als Xanthophylle bezeichnet werden. Hierzu zählen beispielsweise Zeaxanthin und Lutein. Die sauerstofffreien Carotinoide verleihen Früchten und Gemüse ihre gelbe, orange oder rote Farbe, wie bei Tomaten, Aprikosen, Pfifferlingen, Orangen, Paprika und Karotten, während Xanthophylle vor allem in dunkelgrünem Gemüse wie Grünkohl oder Spinat vorkommen. Die wichtigste Aufgabe der Carotinoide besteht in der Pflanze in der Absorption und Übertragung von Lichtenergie auf Chlorophyll. Die Carotinoide kommen in sehr vielen pflanzlichen Lebensmitteln vor (. Tab. 4.2, mod. nach Holden et al. 1999). Etwa 700 verschiedene Carotinoide sind bisher bekannt. Das in der Natur am weitesten verbreitete und bekannteste unter ihnen ist das β-Carotin, aber auch Lycopin, Lutein, Zeaxanthin, β-Cryptoxanthin und α-Carotin kommen häufig vor. Während gelb-orange-farbiges Gemüse bzw. Obst vor allem α- und β-Carotin enthält, bestehen die Carotinoide von grünblättrigem Gemüse zu 60–80 % aus Xanthophyllen. Die Konzentration der Carotinoide in Pflanzen ist stark abhängig von verschiedenen Faktoren wie Sorte, Jahreszeit, Reifegrad, Wachstums-, Ernte- und Lagerbedingungen und kann in den unterschiedlichen Teilen einer Pflanze stark variieren. So enthalten die äußeren Blätter von Kohl über 100mal mehr an Lutein und β-Carotin als die inneren. Auch die Zubereitung hat einen Einfluss auf die Bioverfügbarkeit. Wird das Gemüse gedünstet oder wird bei der Zubereitung Fett verwendet, erhöht sich die Bioverfügbarkeit im Vergleich zu einer fettfreien Rohkost deutlich. So wird β-Carotin aus rohen Karotten zu 3–5 %, in erhitzter Form zu etwa 30 % resorbiert. Von den etwa 700 bekannten Carotinoiden werden nur etwa 40 bis 50 vom Menschen absorbiert und metabolisiert. In Deutschland nimmt nur etwa die Hälfte der Bevölkerung die von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfohlene Menge im Schätzwertbereich von täglich 2–4 mg β-Carotin mit der Nahrung auf.
52
1 2 3 4
Kapitel 4 · Sekundäre Pflanzenstoffe in Lebensmitteln
. Tab. 4.2 Carotinoidgehalt ausgewählter Gemüse- und Obstarten Lebensmittel
α-Carotin [mg/kg]
β-Carotin [mg/kg]
Lycopin [mg/kg]
Lutein und Zeaxanthin [mg/kg]
Aprikosen
0
26
5
0
Broccoli (erhitzt)
0
11
0
22
Karotten (erhitzt)
41
82
0
0
Karotten
47
88
0
0
0
52
0
70
5
Spinat (erhitzt) Spinat
0
56
0
119
6
Kopfsalat
0
13
0
26
Mangos
2
4
0
0
Tomaten
1
4
30
1
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Nur wenige der 700 bekannten Carotinoide sind als Provitamin A wirksam, die höchste Aktivität hat β-Carotin. Unabhängig davon besitzen Carotinoide auch antioxidative Eigenschaften. Neben β-Carotin hat vor allem auch Lycopin die Fähigkeit, aktiven Sauerstoff zu deaktivieren. Außerdem haben sich β-Carotin, Canthaxanthin und Astaxanthin sowie Lycopin als effektive Fänger freier Radikale erwiesen. Carotinoide aktivieren bestimmte Gene, die die Produktion eines Proteins (Connexin) steuern, das Bestandteil von Zellkommunikationsstrukturen ist (Gruber et al. 2002). Über diese Verbindungen tauschen Zellen Signale und Botenstoffe aus, die das Wachstum der Zellen regulieren. In Zellen, die durch Kanzerogene geschädigt wurden, findet dieser Signalaustausch nicht mehr statt. In Anwesenheit von α- und β-Carotin, Canthaxanthin, Lutein oder Lycopin wird die Umwandlung von vorgeschädigten Zellen in Krebszellen in der Zellkultur unterdrückt. Diese Eigenschaft der Carotinoide könnte der Ursprung für ihren günstigen Einfluss in der Kanzerogenese sein, wie zahlreiche epidemiologische Untersuchungen vermuten lassen. So korrelierten in verschiedenen Studien die Carotinoidzufuhr bzw. Carotinoidkonzentration im Blut negativ mit dem Vorkommen von Krebserkrankungen von Lunge, Prostata, Speiseröhre, Gebärmutterhals,
Magen und Dickdarm. Besonders gut dokumentiert ist diese Beziehung beim β-Carotin. Die Ergebnisse verschiedener Interventionsstudien mit β-Carotin legen allerdings nahe, dass diese Beziehungen nicht unbedingt kausaler Art sind. Möglicherweise muss β-Carotin hierbei eher als Indikator einer obst- und gemüsereichen Ernährung angesehen werden, die insgesamt durch ihren Gehalt an sekundären Pflanzenstoffen, Vitaminen und Mineralstoffen krebspräventiv wirkt. Auch für α-Carotin, Lutein, Lycopin, Zeaxanthin und β-Cryptoxanthin liegen derartige Hinweise vor. Des Weiteren zeigen epidemiologische Studien, dass hohe Carotinoidkonzentrationen im Blut mit einem verminderten Risiko für Herz-KreislaufErkrankungen sowie für Katarakt und Makuladegeneration (Schädigung der Netzhaut des Auges) einhergehen (Cooper 1999; Watzl u. Leitzmann 2005, S. 27, 70, 100). Zudem stimulieren Carotinoide das Immunsystem und schützen die Haut vor Schäden durch UV-Strahlung (Watzl u. Bub 2001).
4.4
Phytosterine
Die Phytosterine (pflanzliche Sterine) sind in ihrer chemischen Struktur den tierischen Sterinen, wie dem Cholesterin, sehr ähnlich. Bisher wurden 200 verschiedene Phytosterine identifiziert, darunter β-Sitosterin, Stigmasterin und Campesterin;
53 4.5 · Saponine
β-Sitosterin ist das am häufigsten vorkommende Phytosterin. Phytosterine befinden sich vorwiegend in den fetthaltigen Teilen der Pflanzen. Besonders reich an Phytosterinen sind Sonnenblumenkerne und Sesamsamen sowie natives Sojaöl, bei dessen Raffination sich der Gehalt auf etwa ein Viertel der ursprünglichen Menge reduziert (. Tab. 4.3, mod. nach Phillips et al. 2005). Gemüse und Obst enthalten nur geringe Mengen an Phytosterinen. Die tägliche Zufuhr an Phytosterinen mit der Nahrung liegt zwischen 100–500 mg. Etwa die Hälfte davon macht das β-Sitosterin aus. Allerdings werden weniger als 5 % dieser Menge vom Körper absorbiert. Phytosterine sind in der Lage, den Cholesterinspiegel, abhängig von der Ausgangshöhe, um bis zu 10 % zu senken. Diese Wirkung ist auf die Hemmung der Cholesterinresorption zurückzuführen. Im Tierversuch wirken Phytosterine auch antikanzerogen in Bezug auf das Kolonkarzinom. Vermutlich hemmen sie die Zellproliferation im Kolon durch eine verringerte Bildung von Abbauprodukten des Cholesterins und von sekundären Gallensäuren (Awad u. Fink 2000). . Tab. 4.3 Phytosteringehalt ausgewählter Nüsse und Samen
4.5
4
Saponine
Saponine sind sehr bitter schmeckende Substanzen, die im Wasser zu starker Schaumbildung führen. Von ihrer Struktur her sind sie sehr verschieden. Saponine werden u. a. als Lebensmittelzusatzstoffe, z. B. als Schaumbildner in Bier, verwendet. In Deutschland sind sie als Zusatzstoffe nicht zugelassen. In pflanzlichen Lebensmitteln sind Saponine weit verbreitet, vor allem in Hülsenfrüchten (. Tab. 4.4, mod. nach Oakenfull u. Potter 1986). Während beim Kochen von Kichererbsen und Linsen Saponine ins Kochwasser übergehen und es somit zu Verlusten von 2–31 % kommt, beeinflussen das Keimen und Einweichen den Saponingehalt nicht. Mit der Nahrung werden etwa 10 mg Saponine pro Tag aufgenommen. Bei Vegetariern liegt die tägliche Zufuhr je nach verzehrter Menge an Hülsenfrüchten bei 110–240 mg. Saponine werden jedoch nur in geringem Maße vom Körper absorbiert und entfalten ihre Wirkungen vorwiegend im Verdauungstrakt (Watzl u. Leitzmann 2005, S. 30). Saponine können speziell das Risiko für Kolonkrebs senken. Sie hemmen die Teilungsrate der Kolonzellen sowie das Wachstum und die DNASynthese verschiedener Tumorzellarten. Möglicherweise beruht dieser Mechanismus auf ihrer Fähigkeit, primäre Gallensäuren und Cholesterin zu binden, sodass weniger sekundäre Gallensäuren entstehen, die mutagen wirken. Zudem stimulieren Saponine das Immunsystem und können den Cholesterinspiegel senken, da sie sowohl mit
Lebensmittel
Phytosterine [mg/100 g]
Weizenkeime
413
Sesamsamen
400
Pistazien
279
Sonnenblumenkerne
270
Kürbiskerne
265
Pinienkerne
236
Leinsamen
210
Lebensmittel
Saponine [mg/kg]
Mandeln
199
Kichererbsen
50
Macadamianüsse
187
Sojabohnen
39
Cashewnüsse
150
Grüne Bohnen
16
Erdnüsse
137
Linsen
4
Haselnüsse
125
Spinat
6
Walnüsse
113
Knoblauch
1
Paranüsse
95
Haferflocken
1
. Tab. 4.4 mittel
Saponingehalt verschiedener Lebens-
54
1 2 3 4
Kapitel 4 · Sekundäre Pflanzenstoffe in Lebensmitteln
Cholesterin einen unlöslichen Komplex bilden als auch direkt hemmend auf die Resorption der primären Gallensäuren wirken. So kommt es zu einer vermehrten fäkalen Ausscheidung der primären Gallensäuren und ihrer Neusynthese aus körpereigenem Cholesterin. Außerdem weisen Saponine eine entzündungshemmende Wirkung auf (Watzl 2001).
5
4.6
6
Die Polyphenole umfassen verschiedene Substanzen, die auf der Struktur des Phenols basieren. In erster Linie sind dies die Phenolsäuren (z. B. Kaffee- und Ferulasäure, Ellagsäure) und die Flavonoide (Flavonole, Flavone, Anthozyane), aber auch die Phytoöstrogene können den Polyphenolen zugerechnet werden. Während Flavonole und Flavone Pflanzen eine gelbe Farbe geben, sind Anthozyane für eine rote, blaue und violette Färbung verantwortlich (Bub et al. 2001). Bei den Flavonolen ist das Quercetin vorherrschend, bei den Flavonen ist der häufigste Vertreter das Luteolin, bei den Anthozyanen ist es das Zyanidin.
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
4.6.1
Polyphenole
Kaffeesäure
Die Kaffeesäure kommt im Kaffee in relativ hohen Konzentrationen vor (etwa 7 mg pro Tasse Kaffee). Verschiedene Gemüse- und Getreidearten sind reich an Phenolsäuren, die überwiegend in den Randschichten der Pflanze zu finden sind (. Tab. 4.5, mod. nach Watzl u. Leitzmann 2005, S. 34). Bedingt durch ihre Oxidationsempfindlichkeit ist der Gehalt am höchsten in frisch geernteten Lebensmitteln.
18
4.6.2
19
Besonders reich an Flavonolen sind Zwiebeln und Grünkohl (. Tab. 4.6, mod. nach Manach et al. 2004). Flavone sind vorwiegend in Doldengewächsen (z. B. Sellerie oder Pastinak) zu finden, Anthozyane vor allem in Beerenobst (. Tab. 4.7, mod. nach Manach et al. 2004). Flavonoide sind insbe-
20
Flavonole
. Tab. 4.5 Phenolsäuregehalt verschiedener Lebensmittel Lebensmittel
Phenolsäuren [mg/kg]
Grünkohl
970–1.555
Weizen
500
Weißkohl
105
Radieschen
75–100
Weizen (Type 405)
71
Grüne Bohnen
70
Paprika
29
Nüsse
1
. Tab. 4.6 Quercetingehalt verschiedener Lebensmittel Lebensmittel
Quercetin [mg/100 g]
Zwiebeln
35–120
Grünkohl
30–60
Broccoli
4–10
Lauch
3–23
Heidelbeeren
3–16
Kirschentomaten
2–20
Äpfel
2–4
Grüne Bohnen
1–5
. Tab. 4.7
Anthozyaningehalt verschiedener
Lebensmittel Lebensmittel
Anthozyanine [mg/100 g]
Auberginen
750
Schwarze Johannisbeeren
130–400
Brombeeren
100–400
Heidelbeeren
25–500
Rotkohl
25
Erdbeeren
15–75
4
55 4.7 · Phytoöstrogene
sondere in den äußeren Schichten der Lebensmittel enthalten. Bei den Getränken sind neben Säften vor allem Rotwein und schwarzer Tee flavonoidhaltig. Generell ist der Flavonoidgehalt in verarbeiteten Lebensmitteln durch Auswaschung der Substanzen nur etwa halb so hoch wie in frischen, unverarbeiteten Lebensmitteln (Yang et al. 2001). Die Phenolsäurezufuhr liegt bei etwa 200 mg/ Tag, wobei die Kaffeesäure den weitaus größten Anteil hat. Die Flavonoidaufnahme beträgt im Mittel 50 mg/Tag, woran Flavonole einen Anteil von etwa 10 mg/Tag haben und Anthozyanidine von etwa 3 mg/Tag. Die wichtigste Flavonoidquelle sind Obst und die daraus hergestellten Säfte sowie weitere Obstprodukte. Für Quercetin wurden in verschiedenen Untersuchungen intestinale Absorptionsraten von 24–52 % festgestellt. Eine Reihe von Untersuchungen mit Tieren ergab, dass Phenolsäuren protektiv im Hinblick auf Krebs an Magen, Speiseröhre, Haut und Lunge wirken. Ihr Wirkmechanismus beruht darauf, dass sie Entgiftungsenzyme induzieren, Kanzerogene binden und somit den Kontakt mit der DNA verhindern (Clifford 2000). Gleichzeitig haben sie auch ein antimikrobielles Potenzial, das vor allem im Zusammenhang mit Fruchtsäften intensiv untersucht wurde. Phenolsäuren sind zudem starke Antioxidanzien und wirken unterschiedlich stark antioxidativ, was vermutlich auch zu ihrem antikanzerogenen Potenzial beiträgt. Flavonoide sind ebenfalls stark wirksame Antioxidanzien, insbesondere das Quercetin. Aufgrund dieser Eigenschaft konnte inzwischen ein protektiver Einfluss von Flavonolen und Flavonen auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen gezeigt werden, jedoch nur im Hinblick auf eine Reduzierung der Mortalität, nicht auf die Zahl der Erkrankungen. Die antioxidativen Fähigkeiten tragen auch zur antikanzerogenen Wirkung bei. In verschiedenen Untersuchungen wurden einerseits suppressive, andererseits stimulierende Wirkungen auf das Immunsystem beobachtet. Des Weiteren hemmen Flavonoide die Blutgerinnung. Sie schwächen verschiedene Entzündungsreaktionen ab, beeinflussen den Blutdruck positiv und sind antimikrobiell wirksam. Sie ersetzen teilweise die Funktionen von Vitamin C. Neuere Untersuchungen zeigen, dass Flavonoide die Blutgerinnung hemmen sowie anti-
mikrobiell wirksam sein können (Hubbard et al. 2006) und dass sie vermutlich kognitive Fähigkeiten stimulieren (Letenneur et al. 2007).
Phytoöstrogene
4.7
Die Phytoöstrogene sind den menschlichen Östrogenen strukturell sehr ähnlich, ihre typische östrogene Wirksamkeit an den Geschlechtsorganen ist jedoch äußerst gering (0,1 % der Wirksamkeit der Östrogene). Die Isoflavonoide wirken durch eine Rezeptormodulation. Dabei zeigt Genistein eine spezifische Affinität für die α-Rezeptoren, Daidzein dagegen für die β-Rezeptoren. Zu den Phytoöstrogenen zählen neben Isoflavonoiden auch Lignane, die zu den Polyphenolen gerechnet werden. Die Isoflavonoide sind nur in wenigen Pflanzenarten zu finden, wie Sojabohnen, die besonders reich an den Isoflavonoiden Genistein und Daidzein sind (. Tab. 4.8; mod. nach Reinli u. Block 1996). Die tägliche Zufuhr von Genistein/Genistin mit Sojaprodukten liegt in Japan bei 7,8–12,4 mg und somit deutlich höher als bei westlicher Kost. Lignane sind weit verbreitet, da sie die Ausgangssubstanz für Lignin, den Bestandteil der Zell-
. Tab. 4.8 Gehalt verschiedener Lebensmittel an Genistein und Daidzein Lebensmittel
Genistein [mg/kg]
Daidzein [mg/kg]
Sojabohnen
729
546
Misopaste
376
190
Tempeh
320
190
Sojabohnenkeimlinge
230
138
Sojabohnenpaste
171
159
Tofu
166
76
Sojawürstchen
139
49
Sojamilch
26
18
Sojasoße
5
8
Soja-Säuglingsmilch
3
<1
56
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 4 · Sekundäre Pflanzenstoffe in Lebensmitteln
wand, bilden. Vor allem Leinsamen und Vollkorngetreide sind lignanreich. Leinsamen haben die höchste Konzentration an Lignan. Frisches Gemüse liefert mit 1,4 mg/kg nur relativ wenig Lignan. Die bedeutendsten Lieferanten von Lignan in der Ernährung in den westlichen Industrieländern sind die verschiedenen Getreidearten. Phytoöstrogene können wegen ihrer Eigenschaft als Modulatoren von Östrogenrezeptoren entweder wie Östrogene oder wie Antiöstrogene wirken. Verschiedene Humanstudien und Untersuchungen mit Tieren zeigen, dass Phytoöstrogene durch ihren Einfluss auf den Hormonstoffwechsel und die Hormonproduktion ein protektives Potenzial sowohl bei hormonbezogenen Krebsarten, wie Brust-, Gebärmutterschleimhaut- und Prostatakrebs, als auch bei nicht hormonbezogenen Krebsarten, wie Kolonkrebs, haben dürften. Neben vielfältigen Wirkmechanismen trägt ihr antioxidatives Potenzial auch zu ihrer Funktion als Antikanzerogen bei. Vermutlich wirken sie auch protektiv bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Osteoporose und menopausalen Symptomen (Ewies 2002; KrisEtherton et al. 2002). Neuere Untersuchungen zeigen, dass die Wirksamkeit der Phytoöstrogene auf menopausale Symptome eher gering ist (Cassidy et al. 2006). Eine zweijährige Supplementation mit Phytoöstrogenen führte zu einer höheren Knochendichte (Marini et al. 2007).
4.8
Protease-Inhibitoren
Die Protease-Inhibitoren sind Proteine, die aus 100 bis 200 Aminosäuren bestehen. Wie der Name besagt, verringern sie die Aktivität von Enzymen, die Proteine abbauen. Diese Hemmung führt im Körper zu einer reaktiv vermehrten Enzymsynthese, was zu einem Mangel an verschiedenen Aminosäuren führen kann. Beim Menschen werden diese Enzyme nach bisherigen Untersuchungen jedoch nur in geringem Maße gehemmt. Protease-Inhibitoren werden nicht nur mit der Nahrung aufgenommen, sondern auch vom menschlichen Körper synthetisiert. Sojabohnen enthalten 5 verschiedene ProteaseInhibitoren. Sie finden sich auch in anderen Hülsenfrüchten und Getreidearten wie Reis, Mais,
Hafer und Weizen. Die Aktivität der ProteaseInhibitoren reduziert sich wesentlich durch Erhitzen und Keimen. Bei den Temperaturen, bei denen Weizen üblicherweise verarbeitet wird, verringert sich die Aktivität des Trypsin-Inhibitors auf etwa ein Fünftel. Mit der Nahrung werden täglich etwa 300 mg Trypsin-Inhibitor aufgenommen. Durch den häufigen Verzehr von Hülsenfrüchten und Getreide kann der Gehalt an Protease-Inhibitoren bei einer vegetarischen Ernährung wesentlich höher liegen. In Untersuchungen an Tieren wurde festgestellt, dass nur etwa 10 % der zugeführten Menge absorbiert wird. Untersuchungen mit verschiedenen Tiermodellen zeigten, dass verschiedene Protease-Inhibitoren antikanzerogene Wirkungen bei Krebs an Leber, Magen, Darm, Kolon und Mundhöhle ausüben. Als Wirkmechanismen werden eine verminderte Verfügbarkeit von Aminosäuren, eine Hemmung von tumorspezifischen Proteasen, die an der Krebsentstehung beteiligt sind, sowie ihre antioxidative Wirkung diskutiert. Außerdem konnte ein entzündungshemmendes Potenzial festgestellt werden.
4.9
Monoterpene
Die Terpene spielen als Aromastoffe eine wichtige Rolle. Bekannte Beispiele sind das Menthol aus Pfefferminze, Carvon im Kümmel und Limonen aus Zitrusöl. Monoterpene kommen vor allem in verschiedenen Obstarten wie Orangen, Weintrauben und Aprikosen sowie in Gewürzen vor. Mit der Nahrung werden täglich etwa 2 mg Monoterpene aufgenommen. Limonoide finden sich in Zitrusfrüchten; bei einem erhöhten Verzehr von Zitrusfrüchten oder deren Säften kann die Aufnahme von Limonen bis zu 170 mg/Tag betragen. Tierexperimentelle Untersuchungen zeigten, dass die Terpene Limonen und Carvon antikanzerogene Wirkungen besitzen. Limonen führt in der Leber und im Dünndarm zur Aktivitätssteigerung der Entgiftungsenzyme, die in der Tumorprävention Bedeutung erlangen könnten (Crowell 1999).
57 4.12 · Weitere sekundäre Pflanzenstoffe
4.10
Glukosinolate
Alle etwa 120 bekannten Glukosinolate enthalten Schwefel, unterscheiden sich chemisch aber wenig. Die eigentlichen Wirkstoffe stellen die enzymatischen Abbauprodukte Isothiozyanate, Thiozyanate und Indole dar. Sie tragen wesentlich zum typischen Geruch und Geschmack von Senf, Meerrettich und den verschiedenen Kohlarten bei. Isothiozyanate und Thiozyanate sind sogenannte goitrogene Substanzen, d. h. sie begünstigen die Entstehung einer Struma. Die Glukosinolate sind vorwiegend in den Pflanzen der Familie der Kreuzblütler (Kruziferen) zu finden (. Tab. 4.9, mod. nach Kushad et al. 1999). Beim Erhitzen der Lebensmittel verringert sich der Gehalt an Glukosinolaten durch den enzymatischen Abbau und die Auslaugung in die Kochflüssigkeit um 35–60 %. Auch bei der Milchsäuregärung, wie sie bei der Herstellung von Sauerkraut stattfindet, verringert sich der Glukosinolatgehalt. Mit der Nahrung werden täglich etwa 40 mg Glukosinolate aufgenommen, wobei Weißkohl die häufigste Quelle darstellt (ungefähr zwei Drittel der aufgenommenen Glukosinolate). Die tägliche Aufnahme an Indolverbindungen liegt bei etwa 15 mg, bei einer vegetarischen Ernährung beträgt die Zufuhr etwa 110 mg Indole pro Tag (Mithen et al. 2000). In vielen Untersuchungen an Tieren zeigten Isothiozyanate und Thiozyanate antikanzerogene Wirkungen, beispielsweise Krebs von Magen, Brust, Leber und Lungen. In klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass sie die Metabolisierung von körpereigenen Östrogenen beeinflussen. Mögli-
. Tab. 4.9 Glukosinolatgehalt verschiedener Lebensmittel Lebensmittel
Glukosinolate [mg/100 g]
Rosenkohl
25
Blumenkohl
15
Grünkohl
15
Broccoli
13
Weißkohl
11
4
cherweise schützen Indole dadurch vor östrogenbezogenen Krebsarten wie Brust- und Endometriumkrebs. Zudem sind Isothiozyanate und Thiozyanate auch antimikrobiell wirksam. Benzyl-Isothiozyanat ist gegenüber Bakterien und Pilzen ein wirksames Antibiotikum.
4.11
Sulfide
Bei den Sulfiden handelt es sich um schwefelhaltige Verbindungen in Knoblauch und anderen Liliengewächsen wie Zwiebeln, Schnittlauch, Schalotten und Lauch. Alliin liegt in einer Konzentration von 4 g/kg Knoblauch vor. Aus dem Alliin entsteht bei enzymatischer oder thermischer Zersetzung der Hauptwirkstoff des Knoblauchs, das Allicin. Es ist für den typischen Geruch des Knoblauchs verantwortlich. Sulfide sind auch in Kohlgewächsen zu finden. Allerdings entstehen hier keine aktiven Sulfidmetaboliten, weil das Enzym Allinase fehlt. Die antimikrobielle Wirkung von Knoblauch bzw. der Sulfide ist schon seit Langem bekannt. Sie wurde bereits von Louis Pasteur 1858 nachgewiesen. Zudem wurde auch eine protektive Wirkung der Sulfide bei verschiedenen Krebsarten, insbesondere bei Magenkrebs, in tierexperimentellen Untersuchungen und in Untersuchungen an Humanzellen beobachtet (Fleischauer et al. 2000). Vermutlich tragen die antioxidativen und immunstimulierenden Fähigkeiten der Sulfide zum antikanzerogenen Potenzial bei. Außerdem beeinflussen sie die Blutgerinnung und wirken verdauungsfördernd, indem sie den Speichelfluss, die Magensaftsekretion sowie die Darmperistaltik anregen.
4.12
Weitere sekundäre Pflanzenstoffe
Zu den sekundären Pflanzenstoffen, die gesundheitsfördernde Wirkungen ausüben, zählen ebenfalls die antikanzerogen wirkenden Glukarate und Phtalide. Auch die Phytinsäure, deren ungünstige Effekte (wie die Verminderung der Resorption verschiedener Mineralstoffe durch Komplexbildung) bekannt sind, beeinflusst die Gesundheit letztlich günstig. Sie wirkt regulierend auf den Blutglukose-
58
1 2
Kapitel 4 · Sekundäre Pflanzenstoffe in Lebensmitteln
spiegel und antikanzerogen. Phytonzide und Phytoalexine sind antimikrobiell wirksam. Chlorophyll und Chlorophyllin haben eine tumorhemmende Wirkung, damit könnte die protektive Wirkung von grünem Gemüse mit erklärt werden.
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
4.13
Zusammenfassung
Bestimmte Pflanzeninhaltsstoffe, die früher als nichtnutritive Inhaltsstoffe angesehen wurden, werden heute als bioaktive Substanzen bezeichnet. Sie umfassen Ballaststoffe, Substanzen in fermentierten Lebensmitteln und sekundäre Pflanzenstoffe. Letztere spielen im sekundären Stoffwechsel der Pflanzen eine Rolle, etwa als Abwehrstoffe oder Wachstumsregulatoren, kommen nur in geringen Konzentrationen vor und haben in der Regel eine pharmakologische Wirkung. Hier wurden folgende sekundäre Pflanzenstoffe dargestellt: Carotinoide (weit verbreitet; antioxidative Eigenschaften, Radikalfänger, beeinflussen die Zelldifferenzierung, immunmodulierend u. a.), Phytosterine (besonders reich: Sonnenblumenkerne, Sesamsamen; cholesterinspiegelsenkend, antikanzerogen), Saponine (weit verbreitet, vor allem in Hülsenfrüchten; antikanzerogen, immunmodulierend, cholesterinspiegelsenkend, entzündungshemmend), Polyphenole (Gemüse, Getreide), Phytoöstrogene (Sojabohnen; Modulation der Östrogenwirkung, antikanzerogen, antioxidativ), Protease-Inhibitoren (Sojabohnen, Getreide; antikanzerogen, entzündungshemmend), Monoterpene (Obst, Gewürze; antikanzerogen), Glukosinolate (Kreuzblütler; antikanzerogen, antimikrobiell) und Sulfide (Knoblauch, Lauch, Zwiebeln etc.; antimikrobiell, antikanzerogen, antioxidativ, immunstimulierend).
Literatur
18 19 20
Awad AB, Fink CS: Phytosterols as anticancer dietary components: evidence and mechanism of action. J Nutr 130:2127–2130 (2000) Bub A, Watzl B, Heeb D et al.: Malvidin-3-glucoside bioavailability in humans after ingestion of red wine, dealcoholized red wine and grape juice. Eur J Nutr 40:113– 120 (2001)
Cassidy A, Albertazzi P, Lise N et al.: Critical review of health effects of soyabean phyto-oestrogens in postmenopausal women. Proc Nutr Soc 65:76–92 (2006) Clifford MN: Chlorogenic acids and other cinnamates – nature, occurrence, dietary burden, absorption and metabolism. J Sci Food Agric 80:1033–1043 (2000) Cooper DA, Eldridge AL, Peters JC: Dietary carotenoids and certain cancers, heart disease, and age-related macular degeneration: a review of recent research. Nutr Rev 57:201–214 (1999) Crowell P: Prevention and therapy of cancer by dietary monoterpenes. Nutr 129:775–778 (1999) Ewies AA: Phytoestrogens in the management of the menopause: up-to-date. Obstet Gynecol Sur 57:306–313 (2002) Fleischauer AT, Poole C, Arab L: Garlic consumption and cancer prevention: metaanalyses of colorectal and stomach cancers. Am J Cli. Nutr 72:1047–1052 (2000) Gruber CJ, Tschugguel W, Schneeberger C et al.: Production and action of estrogens. N Engl J Med 346:340– 352 (2002) Holden JM, Eldridge AL, Beecher et al.: Carotinoid content of U. S. foods: an update of the data base. J Food Comp Anal 12:169–196 (1999) Hubbard GP, Wolffram S, de Vos R et al.: Ingestion of onion soup high in quercetin inhibits platelet aggregation and essential components of the collagen-stimulated activation pathway in man. Brit J Nutr 96:482–488 (2006) Kris-Etherton PM, Hecker KD, Bonanome A et al.: Bioactive compounds in foods: their role in the prevention of cardiovascular disease and cancer. Am J Med 113(Suppl 9B):71S–88S (2002) Kushad MM, Brown AF, Kurilich AC et al.: Variations of glucosinolates in vegetable crops of Brassica oleracea. J Agric Food Chem 47:1541–1548 (1999) Letenneur L, Proust-Lima C, le Gouge et al.: Flavonoid intake and cognitive decline over a 10-year period. Am Epidemiol 165:1364–1371 (2007) Manach C, Scalbert A, Morand C et al: Food sources and bioavailability. Am J Clin Nutr 79:727–747 (2004) Marini C, Minutoli L, Polito F et al: Effects of the phytoestrogen genistein on bone metabolism in osteopenic postmenopausal women. Ann Intern Med 146:839–847 (2007) Mithen RE, Dekker M, Verkerk R et al.: The nutritional significance, biosynthesis and bioavailability of glucosinolates in human foods. J Sc Food Agric 80:967–984 (2000) Oakenfull D, Potter JD: Determination of the saponin content of foods. In: Spiller GA (ed.), Handbook of dietary fiber in human nutrition. CRC Press, Boca Raton (1986) pp. 549–560 Phillips KM, Ruggio DM, Ashraf-Khorassani M: Phytosterol composition of nuts and seeds commonly consumed in the United States. J Agri Food Che 53:9436–9445 (2005) Reinli K, Block G: Phytoestrogen content of foods – a compendium of literature values. Nutr Cancer 26:123–148 (1996)
59 Literatur
Watzl B: Saponine. Ernähr Umschau 48:251–253 (2001) Watzl B, Bub A: Karotinoide. Ernähr Umschau 48:71–76 (2001) Watzl B, Leitzmann C: Bioaktive Substanzen in Lebensmitteln. Hippokrates, Stuttgart (2005) Yang CS, Landan JM, Huang MT et al.: Inhibition of carcinogenesis by dietary polyphenolic compounds. Annu Rev Nutr 21:381–406 (2001)
4
61
Ballaststoffe Claus Leitzmann
5.1
Definitionen und Einteilungen
– 62
5.2
Ballaststoffzufuhr
5.3
Physiologische Wirkungen
5.4
Empfehlungen für die Ballaststoffaufnahme
5.5
Zusammenfassung
– 64
– 70
– 64 – 69
5
62
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kapitel 5 · Ballaststoffe
Vor 100 Jahren enthielt die Kost allgemein einen hohen Anteil an Ballaststoffen, weil die Nahrung in gering verarbeiteter und wenig raffinierter Form verzehrt wurde. Bei der ärmeren Bevölkerung in den sogenannten Entwicklungsländern gilt dies noch heute. Inzwischen reduzierte sich bei uns der Verzehr von ballaststoffreichen Lebensmitteln wie Vollkorngetreide, Kartoffeln und Hülsenfrüchten erheblich, gleichzeitig stieg der Verbrauch ballaststoffarmer und ballaststofffreier Nahrungsmittel deutlich an. Damit erhöhte sich das Risiko für eine Reihe chronischer Wohlstandskrankheiten, gegen die eine höhere Ballaststoffaufnahme aufgrund ihrer unterschiedlichen physikalischen und physiologischen Wirkungen protektiv wirken kann. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 Unterschiede zwischen den verschiedenen Ballaststoffen, 4 die aktuelle und wünschenswerte Ballaststoffzufuhr, 4 physiologische und physikalische Wirkungen der Ballaststoffe, 4 Lebensmittel, die besonders ballaststoffreich sind.
Definitionen und Einteilungen
12
5.1
13
Vieles ist bekannt, leider in verschiedenen Köpfen. Werner Kollath (Arzt, Deutschland, 1892– 1970)
14 15 16 17 18 19 20
»
«
»Ballaststoffe« ist ein Sammelbegriff für Nahrungsbestandteile, die von den Verdauungsenzymen des Menschen nicht oder nur unvollständig abgebaut werden können. Es handelt sich fast ausschließlich um Bestandteile pflanzlicher Lebensmittel. Ballaststoffe dienen den Pflanzen u. a. als Gerüst- und Stützsubstanzen sowie als Füll- und Schutzmaterial. Zu den Ballaststoffen zählt auch die resistente Stärke, die entweder in der Lebensmittelstruktur vorhanden ist oder durch Retrogradation (Auskristallisation von Stärke beim Abkühlen) entsteht. Resistente Stärke wird von Amylasen nicht abgebaut, sondern gelangt unverändert in den Dickdarm. Auch Produkte der Bräunungsreaktion beim Erhitzen von Lebensmitteln sind formal den Ballaststoffen zuzurechnen, weil sie im Dünndarm
nicht abbaubar sind. Sie besitzen aber quantitativ keine Bedeutung und spielen in der Diskussion um gesundheitliche Wirkungen der Ballaststoffe keine Rolle. Alte Bezeichnungen für Ballaststoffe waren u. a. Rohfaser und Schlackenstoffe; neuere Begriffe sind Pflanzenfasern, Nahrungsfasern, pflanzliche Hydrokolloide und unverdauliche Polysaccharide. Der Begriff »Ballaststoffe« ist inzwischen fest etabliert. Die frühere Vorstellung, diese Nahrungsinhaltsstoffe seien lediglich ein Ballast für die Verdauung, gehören der Vergangenheit an. Ballaststoffe werden nach unterschiedlichen Kriterien eingeteilt, nämlich nach: 4 Lösungsverhalten 4 Verdaulichkeit 4 Herkunft Nach ihrem Lösungsverhalten werden wasserlösliche und wasserunlösliche Ballaststoffe unterschieden (. Tab. 5.1, mod. nach Leitzmann u. Keller 2009). Diese Unterteilung bezieht sich auf die Fähigkeit der Ballaststoffe zur Wasserbindung; ein »echtes« Auflösen in Wasser wie beispielsweise bei Zucker erfolgt aber nicht. Die wasserlöslichen Ballaststoffe wie Pektin (1 g Pektin bindet 60 g Wasser) bilden hochvisköse Lösungen (Gele). Je nach chemischer Struktur ist die Gelbildung unterschiedlich ausgeprägt. Auch die wasserunlöslichen Ballaststoffe, wie die Zellulose (1 g Zellulose bindet 3 g Wasser), besitzen eine Wasserbindungskapazität und bleiben als Partikel erhalten. Diese unterschiedlichen Eigenschaften treten bei den physikalischen und physiologischen Wirkungen von Ballaststoffen in Erscheinung. Anhand der Verdaulichkeit wird zwischen obligaten und potenziellen Ballaststoffen unterschieden. Obligate Ballaststoffe, wie Zellulose und Pektin, werden im Dünndarm nicht verdaut. Potenzielle Ballaststoffe, wie resistente Stärke, sind dagegen grundsätzlich verdaubar, entziehen sich aber durch strukturelle Veränderungen bei der Verarbeitung dem Verdauungsprozess (. Tab. 5.2, mod. nach Leitzmann u. Keller 2009). Nach ihrer Herkunft werden die Ballaststoffe in heimische, tropische und aquatische unterteilt. Die tropischen und aquatischen Ballaststoffe finden in isolierter Form in der Lebensmittel- und Phar-
63 5.1 · Definitionen und Einteilungen
5
. Tab. 5.1 Einteilung der Ballaststoffe nach ihrer Löslichkeit und Herkunft Ballaststoffe
Herkunft
Alginsäure
Braunalgen
Agar (Agar-Agar)
Rotalgen
Carrageenan
Rotalgen
Pflanzenextrakte
Pektin
Zellwände in Zitrusfrüchten, Apfeltrestern u. a.
Pflanzengummi
Gummi arabicum
Acacia-Arten (Milchsaftausscheidung von Akazien)
Traganth
Astragalus-Arten
Johannisbrotkernmehl
Johannisbrotkernbaum
Guarkernmehl
Guarbohne
Tarakernmehl
Caesalpina spinosa
Leinsamenschleim
Extrakt aus der Samenschale von Linum usitatissimum
Methylzellulose
Synthetische Hydrokolloide auf der Basis der wasserunlöslichen Zellulose
Wasserlösliche Ballaststoffe Meeresalgenextrakte
Samenschleime
Zellulosederivate
Carboxymethylzellulose Ethylzellulose Wasserunlösliche Ballaststoffe Zellulose
Pflanzliche Gerüstsubstanz (meistens vergesellschaftet mit Lignin und Hemizellulosen)
Hemizellulosen
Endosperm von Getreide (Hafer, Gerste) Membranbestandteile in Obst, Gemüse, Kaffee, Kakao
Lignin
»Holzstoff« pflanzlicher Zellmembranen
. Tab. 5.2 Übersicht zur Herkunft potenzieller Ballaststoffe Bezeichnung
Herkunft
Stärke
Kartoffel, Getreide (pflanzliches Reservepolysaccharid)
Derivatisierte Stärke
Syntheseprodukte
Laktose
Milch
Zuckeralkohole
Pflanzliches Zytoplasma (Energiespeicher, Frostresistenz), Syntheseprodukte
MaillardProdukte
Produkte technologischer Behandlung (thermische Reaktionsprodukte aus Proteinen und Kohlenhydraten)
maindustrie Verwendung, genau wie modifizierte und halbsynthetische Ballaststoffe (. Tab. 5.3, mod. nach v. Koerber et al. 2004). Ballaststoffe heimischer Lebensmittel bestehen chemisch vorwiegend aus unterschiedlichen Polysacchariden. Eine Ausnahme bildet Lignin (»Holzstoff«), der aus Phenylpropan-Einheiten aufgebaut ist. Auch Kutin, der wachsartige Überzug mancher Pflanzen, ist kein Kohlenhydrat, sondern ein Ether. Das zunehmende Interesse an der Bedeutung der Ballaststoffe führte zur Entwicklung verschiedener Analysemethoden. Das älteste Verfahren ist die Bestimmung der Rohfaser, deren Werte methodisch bedingt weit unter der tatsächlichen, physiologisch wirksamen Ballaststoffmenge liegen (Kasper 2009) und teilweise nur 20–50 % des tatsächlichen Gehalts erfassen (Elmadfa u. Leitzmann
64
Kapitel 5 · Ballaststoffe
. Tab. 5.3 Einteilung der Ballaststoffe nach ihrer Herkunft
1 2 3 4
Heimische
Tropische
Aquatische
Modifizierte und halbsynthetische
Lignin
Carubin
Agar
Alginsäure
Zellulose
Guar
Carrageen
Natrium-, Kalium-, Kalzium-Alginate
Hemizellulosen
Gummi arabicum
Alginate
Methylzellulose
Pektin
Carboxymethylzellulose
5 6 7 8 9 10
2004). Die heute offizielle AOAC-Analysemethode (Association of Official Analytical Chemists) ist enzymatisch und führt zur Angabe als total dietary fiber (Gesamtballaststoffe). Sie kann weiter in die löslichen und unlöslichen Ballaststoffbestandteile differenziert werden (Elmadfa u. Leitzmann 2004). Ein allgemein gültiges Analyseverfahren hat sich bisher nicht durchgesetzt. In Tabellenwerken oder bei anderen Nährstoffangaben ist daher die Angabe des verwendeten Analyseverfahrens wichtig, um nicht Werte aus verschiedenen Verfahren zu vergleichen und zu verwenden.
11 5.2
Ballaststoffzufuhr
12 13 14 15 16 17 18 19 20
Durch grundlegende Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten in den letzten 100 Jahren hat sich die Ballaststoffzufuhr stark vermindert. Die wichtigsten Gründe für diese Entwicklung sind der Rückgang des Getreideverzehrs insgesamt, der zunehmende Verbrauch niedrig ausgemahlener Mehle anstelle hoch ausgemahlener Mehle sowie die Verlagerung von ballaststoffreichen Roggenmehlen zu ballaststoffärmeren Weizenmehltypen. Der Verzehr von Getreide sowie die Zufuhr der darin enthaltenen Ballaststoffe reduzierte sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um etwa 40 %, bei Kartoffeln sogar um 60 %. Bei Hülsenfrüchten war der Rückgang noch deutlicher und liegt für den Gesamtverzehr wie für die dadurch zugeführten Ballaststoffe bei über 90 %. Im gleichen Zeitraum stieg der Verbrauch an ballaststofffreien Lebensmitteln deutlich an (isolierte Zucker, Eier, Fleisch, v. Koerber et al. 2004).
Die Ballaststoffaufnahme in Deutschland lag vor 100 Jahren noch bei etwa 100 g pro Person und Tag. Derzeit beträgt die tägliche Ballaststoffzufuhr für Männer und Frauen durchschnittlich 20 g (DGE 2008).
Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass die Zufuhr von Ballaststoffen in der Regel mit höherem materiellem Wohlstand abnimmt. Während die ärmere Bevölkerung in ländlichen Gebieten der sogenannten Entwicklungsländer auch heute noch täglich zwischen 50 und 100 g Ballaststoffe aufnimmt, liegt die Zufuhr in Industrieländern wie in Deutschland bei etwa 20 g. Vegetarier weisen mit bis zu 40 g Ballaststoffen pro Tag eine deutlich höhere Zufuhr auf als Mischköstler (Leitzmann u. Keller 2009).
5.3
Physiologische Wirkungen
Trotz intensiver Forschung in den letzten Dekaden konnten nicht alle physiologischen Wirkungen der Ballaststoffe in vollem Umfang geklärt werden. Dies liegt u. a. daran, dass es sich bei den Ballaststoffen um eine komplexe Stoffgruppe mit unterschiedlichen physikalisch-chemischen Eigenschaften handelt. Die Komplexität wird dadurch erhöht, dass Ballaststoffe nicht isoliert, sondern in Verbindung mit den in der Nahrung enthaltenen Nährstoffen und zahlreichen weiteren Begleitstoffen wirken. Studien mit isolierten Ballaststoffen helfen zwar, Einzelwirkungen deutlicher zu differenzieren, erlauben aber nur annäherungsweise Rückschlüsse
65 5.3 · Physiologische Wirkungen
auf die tatsächlichen Vorgänge beim Verzehr von Mahlzeiten oder Snacks (Mehnert et al. 2003). Die wichtigsten Wirkungen der Ballaststoffe im Verdauungstrakt und im Stoffwechsel beruhen auf ihrer Faserstruktur, ihrem Wasserbindungsvermögen, ihrer Fermentierbarkeit und ihrer Adsorptionsfähigkeit (. Tab. 5.4, mod. nach Leitzmann u. Keller 2009). Die Wirkungen der Ballaststoffe lassen sich entlang des Verdauungskanals systematisch darstellen; sie zeigen eine große Spannweite. Die Faserstruktur der Ballaststoffe Zellulose und Lignin hat zur Folge, dass die Nahrung im Mund intensiver und länger gekaut werden muss, was zu einer größeren Speichelabsonderung führt. Die säurepuffernde Wirkung des Speichels und die mechanische Beanspruchung der Zähne beim Kauen sind wichtig für die Zahnerhaltung und unterstützen die Vorverdauung der Speisen durch Amylasen. Im Magen führen lösliche Ballaststoffe aufgrund ihrer Eigenschaft, eine visköse Gelschicht zu bilden, zur Verzögerung der Magenentleerung, d. h. die Verweildauer des Speisebreis wird verlängert (Elmadfa u. Leitzmann 2004). Aus diesem Grunde wirken Ballaststoffe länger sättigend. Eine ballaststoffreiche Kost führt generell zu einem Anstieg der Menge, des Volumens und der Viskosität des Speisebreis im Dünndarm. Dadurch werden Verdauungsenzyme unspezifisch gebunden. Dies führt dazu, dass die aufnahmefähigen Substanzen langsamer zur Resorption an die Darmwand gelangen. Von besonderem Vorteil ist dies für die Verdauung von Kohlenhydraten. Der Anstieg der Blutzuckerkurve nach dem Verzehr von Lebensmitteln, die wasserlösliche Ballaststoffe enthalten, erfolgt langsamer und ohne unerwünscht hohe Blutzuckerspitzen, die eine erhöhte Insulinausschüttung bewirken. Diese blutzuckerdämpfende Wirkung ballaststoffreicher Kost wird bei der Therapie des Diabetes mellitus genutzt, wodurch sich der Insulinbedarf bzw. die Medikation von Antidiabetika möglicherweise reduzieren lässt (Chandelia et al. 2000, Huth u. Burkhard 2004). Eine ballaststoffreiche Ernährung stabilisiert nicht nur die Stoffwechseleinstellung von Typ-2-Diabetikern, sondern sie verbessert auch die Glukosetoleranz bei normalgewich-
5
tigen und stoffwechselgesunden Personen (ADA 2006a, 2006b). k Glykämischer Index
Zur Erfassung der Konzentration von Zucker im Blut nach Verzehr kohlenhydrathaltiger Nahrungsmittel dient der glykämische Index (GI). Dieses Konzept wurde bereits in den 1960er-Jahren von Otto vorgeschlagen und später im Wesentlichen von Jenkins entwickelt; der Index fasst die genannten Faktoren zusammen und gibt die Blutzuckerwirksamkeit im Vergleich zu reinem Traubenzucker (Glukose) an. Dabei werden die Flächen unter den Blutzuckerkurven in Beziehung gesetzt, die nach Verzehr gleicher Kohlenhydratmengen aus dem Test-Lebensmittel bzw. aus Glukose entstehen (Jenkins u. Jenkins 1987). Der glykämische Index von Vollkornprodukten ist geringer als der von entsprechenden Weißmehlprodukten; Hülsenfrüchte und unerhitzte Getreidemahlzeiten haben die niedrigsten Werte. Die ballaststoffreichen Hülsenfrüchte müssen bei der Kohlenhydratberechnung von Diabetikern nicht angerechnet werden, da sie kaum blutzuckerwirksam sind (. Tab. 5.5, mod. nach v. Koerber 2004). Die Überschneidungen der in . Tab. 5.5 genannten Werte ergeben sich aus der Zubereitung (roh/ erhitzt) sowie dem Anteil der jeweiligen Lebensmittel an der Kost. Des Weiteren spielen die Kauintensität sowie individuelle Veranlagungen eine Rolle (Chanteleau 2000). Der glykämische Index spielt in der DiabetikerBeratung bereits seit Jahrzehnten eine bedeutsame Rolle. Wissenschaftler verwenden heute die glykämische Belastung (glykämische Last, glycemic load) eines Lebensmittels als Indikator, d. h. als Risikofaktor für Diabetes (Toeller 2005a, 2005b, Barnard et al. 2009), Übergewicht, hohe Blutlipidwerte und Bluthochdruck (metabolisches Syndrom). Die glykämische Belastung ergibt sich aus dem Produkt von glykämischem Index und Kohlenhydratgehalt in Gramm pro 100 g Lebensmittel. Dabei spielt nicht allein die Struktur der Kohlenhydrate, sondern auch die Herkunft und der Verarbeitungsgrad eine besondere Rolle. So führt die Stärke von Weißmehl zu einer erheblich größeren glykämischen Belastung als die Stärke von Vollkornmehl. Kartoffeln weisen aufgrund ihres hohen Gehalts an
66
1 2
Kapitel 5 · Ballaststoffe
. Tab. 5.4 Wesentliche Eigenschaften und physiologische Funktionen der Ballaststoffe Eigenschaft
Primäre Wirkung
Sekundäre Effekte
Ernährungsphysiologisch relevante Konsequenzen
Faserstruktur
Erhöhter Kauaufwand
Zahnreinigung und Neutralisation von Säuren
Bessere Zahngesundheit
Erhöhte Speichelsekretion
Frühere und stärkere Sättigungswirkung
Bessere Darmgesundheit
3 4 Langsamere Nahrungsaufnahme
5 6 7
Größere Magen- und Darmfüllung Wasserbindungsvermögen, Quellfähigkeit, Viskosität
8 9 10
Verzögerte Magenentleerung
Längere Sättigungswirkung
Niedrigeres Körpergewicht
Einschluss von Nährstoffen, Enzymen und Gallensäuren
Langsamere enzymatische Hydrolyse
Niedrigere und gleichmäßigere Blutzuckerverläufe
Erhöhte Darmfüllung
Verzögerte Nährstoffresorption
Verminderte Blutcholesterinspiegel
Substrate für bakterielle Fermentation
Verminderte Gallensäurenresorption
Normalisierung der Stuhlfrequenz
Erhöhtes Stuhlgewicht und Stuhlvolumen
Bakterielle Bildung kurzkettiger Fettsäuren
Leichteres Absetzen des Stuhls
11 12
Niedrigeres Körpergewicht
Normale Transitzeit Fermentierbarkeit
Bakterielle Bildung kurzkettiger Fettsäuren
Senkung des pH-Wertes im Kolon
13
Positive Wirkung auf qualitative und quantitative Zusammensetzung der Darmflora
14
Eingeschränkte Bildung von sekundären Gallensäuren
15
Hemmung der Cholesterinsynthese
Verminderung des Darmkrebsrisikos
Energielieferant
16 17 18
Wachstum und Differenzierung von Mucosazellen Adsorptionsfähigkeit, Ionenaustausch
Pufferung der Magensäure
Verminderte Blutcholesterinspiegel
Verringerte Gallensäurenwirkung
Bindung von Gallensäuren
Verringerte Verfügbarkeit von Schadstoffen
Verminderte Toxizität von Schadstoffen
19
Bindung organischer Schadstoffe
20
Bindung von Mineralstoffen
Verminderung des Darmkrebsrisikos Verringerte Verfügbarkeit von Mineralstoffen
67 5.3 · Physiologische Wirkungen
. Tab. 5.5 Relativer glykämischer Index ausgewählter Lebensmittel %
Lebensmittel mit vergleichbarem Kohlenhydratgehalt
0–25 10–50
Erdnüsse, Frischkornmüsli, Fruchtzucker, Linsen Roggenkörner, Joghurt, Milch, Erbsen, getrocknete Bohnen, Äpfel, Spaghetti, Orangensaft, Orangen
20–70
Vollkornbrot, Kartoffelchips, Naturreis, Bananen, Haferflocken, Graubrot, Haushaltszucker, Rübenzucker, Rohrzucker, Saccharose
50–90
Knäckebrot, Kartoffelpüree, Kartoffeln, Weißbrot, Zuckermais, Bier, Cornflakes, Honig
80–100
Malzzucker, Traubenzucker
100
Glukose
Stärke und dem relativ geringen Gehalt an Ballaststoffen und Fett (und damit einer kurzen Magenentleerungszeit) eine ähnliche glykämische Belastung auf wie Weißbrot und weißer Reis. Besonders hoch ist der glykämische Index von Cornflakes und Honig. Allgemein gilt, dass in der industriellen Verarbeitung oder im Haushalt erhitzte Produkte zu einer höheren glykämischen Belastung führen als unerhitzte Lebensmittel (Foster-Powell et al. 2002, Ludwig 2002). Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass die glykämische Belastung durch die Zusammensetzung der Kost insgesamt beeinflusst wird. So können die Kombination von Kohlenhydraten mit Fett und Protein sowie der Gehalt an Enzyminhibitoren oder Lektinen und Tanninen in pflanzlichen Lebensmitteln die glykämische Belastung senken. Bei den Enzyminhibitoren handelt es sich u. a. um Amylase-Inhibitoren, welche durch Komplexbildung mit Amylasen diese irreversibel hemmen und somit die Freisetzung von Zucker reduzieren. Lektine und Tannine vermindern die Stärkeverdaulichkeit vermutlich auch durch Bindung an stärkespaltende Enzyme (Staiger et al. 2007).
5
Glykämischer Index (GI): Blutzuckerwirksamkeit eines Lebensmittels im Vergleich zu reinem Traubenzucker (Glukose; GI-Wert 100) Glykämische Belastung (GL, glycemic load): Produkt von glykämischem Index und Kohlenhydratgehalt in Gramm pro 100 g Lebensmittel
Durch ihre adsorptiven Eigenschaften beeinflussen Ballaststoffe den enterohepatischen Kreislauf, d. h. den Stoffaustausch zwischen Leber und Darm via Gallengang und Pfortader. Durch die Bindung freier Gallensäuren erhöhen manche Ballaststoffe (z. B. Guar und Pektin sowie Ballaststoffe in Hafer und Bohnen) deren Ausscheidung mit dem Stuhl und entziehen sie somit der Reabsorption und der Rückführung zur Leber. Bei der Neusynthese von Gallensäuren benötigt die Leber Cholesterin, sodass ein eventuell erhöhter Gesamtcholesterinspiegel gesenkt wird. Die Fraktion des unerwünschten LDL-Cholesterins wird hierbei stärker reduziert als die des erwünschten HDL-Cholesterins. Mit Bohnen, Haferkleie, Pektin oder Guarkernmehl, aber nicht mit Weizenkleie oder Zellulose, konnte bereits nach 3 Wochen durch die Bindung und Ausscheidung von Gallensäuren und Phospholipiden die Serumcholesterinkonzentration um 5–18 % gesenkt werden (Kasper 2009). Das vergrößerte Volumen des Darminhalts beeinflusst die Dickdarmfunktion erheblich. So wird die Transitzeit (die Zeitdauer zwischen Nahrungsaufnahme und Ausscheidung) normalisiert, d. h. in der Regel verkürzt. Voraussetzung hierfür ist, dass neben einer höheren Ballaststoffaufnahme auch eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr erfolgt. Das Stuhlgewicht und die Stuhlfrequenz werden erhöht. Lignin, Zellulose und Hemizellulosen vergrößern das Volumen vorwiegend durch unverdauliche Bestandteile, während Pektine aus Obst und Gemüse den Darmbakterien ein gutes Nahrungssubstrat bieten, wodurch die mikrobielle Zellmasse selbst das Volumen des Stuhls vermehrt. Bis zu 30–50 % der Stuhltrockensubstanz können aus Bakterien-Trockenmasse bestehen. Die Wasserbindungskapazität wasserunlöslicher Ballaststoffe und die bei der Fermentation wasserlöslicher Ballaststoffe entstehenden Gase und Fettsäuren führen
68
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 5 · Ballaststoffe
zu einer weichen Konsistenz des Stuhls und einer leichteren Ausscheidung, wodurch Obstipation vermieden wird. Ballaststoffe sind mit den genannten Funktionen wesentlich an der Aufrechterhaltung der Dickdarmfunktionen beteiligt. Obwohl Ballaststoffe von menschlichen Verdauungsenzymen nicht abgebaut werden können, unterliegen insbesondere wasserlösliche Ballaststoffe im Dickdarm einem teilweisen Abbau durch Darmbakterien, die daraus Energie und Substrate beziehen. Ein Teil der Abbauprodukte steht dem Menschen in Form kurzkettiger Fettsäuren zur Verfügung, kann aber in westlichen Ländern als Beitrag zur Energieversorgung praktisch vernachlässigt werden (Kasper 2009). Sogenannte resistente Stärke ist der bekannteste potenzielle Ballaststoff. Diese in Pflanzen enthaltene Substanz gelangt in den Dickdarm und wirkt wie Ballaststoffe, indem die Darmflora sie zu kurzkettigen, flüchtigen Fettsäuren abbaut. Kurzkettige Fettsäuren sollen durch Hemmung des Enzyms 7α-Dehydroxylase einen hemmenden Einfluss auf die Cholesterinsynthese ausüben; somit entstehen weniger krebsfördernde sekundäre Gallensäuren (Elmadfa u. Leitzmann 2004). Insbesondere das entstehende Butyrat ist wichtig für die Stabilisierung der intestinalen Mikroflora und die Gesunderhaltung der Dickdarmschleimhaut (Jacobasch u. Schmiedl 2002). Einer ballaststoffreichen Kost mit einem hohen Anteil sogenannter Präbiotika (Oligosaccharide, Oligofructose) wird eine immunologische Bedeutung zugesprochen, da durch sie die Darmflora positiv beeinflusst wird (DGE 2008). Der positive Einfluss besteht in der Reduktion von Bakterien, die mutagene Substanzen synthetisieren. In vitro werden tumorprotektive Wirkungen von Ballaststoffen beschrieben (Boeing et al. 2001). Insgesamt sind die Wirkungen dieser immunologisch wirksamen pflanzlichen Begleitsubstanzen noch zu wenig untersucht, um konkrete Empfehlungen auszusprechen. Außerdem wird die Anzahl der anomalen Darmzellen reduziert.
Physiologische Wirkungen von Ballaststoffen 5 Dämpfung des Blutzuckers 5 Beeinflussung des enterohepatischen Kreislaufs 5 Beeinflussung der Dickdarmfunktion 5 Hemmung der Cholesterinsynthese 5 Immunologische Wirkung
k Krebs-Ballaststoff-Hypothese
Die genannten physiologischen Wirkungen der Ballaststoffe sind Bestandteil der Krebs-Ballaststoff-Hypothese, die von der Beobachtung ausgeht, dass bei ballaststoffarmer Kost das Auftreten von Dickdarmkrebs erhöht ist (Burkitt et al. 1972). Die Bindung von Gallensäuren an Ballaststoffe, die dadurch einem bakteriellen Umbau zu den vermutlich kokanzerogenen sekundären Gallensäuren entzogen werden, zählt zu den möglichen Schutzfunktionen der Ballaststoffe. Ebenso wird durch die Erhöhung des Stuhlgewichts und der normalisierten Transitzeit die Verweildauer von schädigenden Substanzen (z. B. biogene Amine, sekundäre Gallensäuren) im Darm vermindert und somit wird der Kontakt mit der Darmwand eingeschränkt (Schauder u. Ollenschläger 2003). Die beim mikrobiellen Abbau von Ballaststoffen im Dickdarm entstehenden kurzkettigen Fettsäuren tragen zu einem sauren Milieu des Darmlumens bei. Hierdurch wird das Wachstum verschiedener physiologisch wünschenswerter Bakterien beeinflusst, die unerwünschte Fäulnisbakterien verdrängen und die bakterielle Umwandlung von primären in sekundäre Gallensäuren einschränken. Trotz dieser bekannten Mechanismen ist der Zusammenhang zwischen Ballaststoffverzehr und Krebsentstehung nicht immer eindeutig. Da eine ballaststoffreiche Kost mit Vollkornprodukten, Hülsenfrüchten, Kartoffeln, Gemüse und Obst zahlreiche Vitamine und Mineralstoffe sowie pflanzliche Begleitstoffe (wie Flavonoide, Indole und Phenole) enthält und meist mit einem geringeren Verzehr von Zucker, Fett und tierischem Protein einhergeht, kann ein schützender Effekt hinsichtlich der Entstehung von Darm-
69 5.4 · Empfehlungen für die Ballaststoffaufnahme
krebs aus methodischen Gründen nicht allein auf die Ballaststoffe zurückgeführt werden. Nach mehreren Vorläufern wurde in Europa die bislang größte prospektive epidemiologische Studie zu Zusammenhängen zwischen Krebs und Ernährung, European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition (EPIC), gestartet, die u. a. die Ballaststoffaufnahme von 519.978 Bürgern über 1.939.011 Personenjahre verfolgte. Grundlage der Risikoberechnungen waren 1.065 neu eingetretene Fälle von Dickdarmkrebs. Aus diesen Daten wurde abgeleitet, dass sich die Dickdarmkrebs-Rate um 40 % senken lasse, wenn die Aufnahme der Ballaststoffe von 13 g pro Tag auf 35 g pro Tag erhöht würde (Bingham et al. 2003). Umgekehrt verliefen jedoch Interventionsstudien bislang enttäuschend, in denen versucht wurde, durch die zusätzliche Gabe von Ballaststoffen (zumeist Weizenkleie) bei Patienten mit gutartigen Dickdarm-Adenomen das dabei gut bekannte erhöhte Risiko für Dickdarmkrebs zu senken. Die Gründe liegen vermutlich entweder in der häufig anzutreffenden, jedoch grundsätzlich unzulässigen Reduktion einer gesundheitsfördernden Ernährung auf nur eine ihrer Komponenten, in diesem Fall die Ballaststoffe, oder in der Dynamik und Kinetik des grundsätzlich möglichen Präventiveffektes der Ballaststoffe, der in dieser Phase der Sekundärprävention, also bei Risikoträgern, jedoch nicht mehr ansetzen kann. Es ist auch möglich, dass ein Isolat wie Kleie anders wirkt als Ballaststoffe im natürlichen Nahrungsverbund. Ähnlich müssen auch Kohorten- und Interventionsstudien bewertet werden, in denen ein Zusammenhang zwischen einer erhöhten Ballaststoffaufnahme und der Abnahme von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Bluthochdruck festgestellt wurde (Boeing et al. 2001). Neben den aufgeführten günstigen Ballaststoffwirkungen auf den Blutzuckerspiegel (Diabetes mellitus), den Cholesterinspiegel (Hypercholesterinämie), die Obstipation und möglicherweise die Dickdarmkrebsentstehung wird ein Zusammenhang zwischen einem Mangel an Ballaststoffen und folgenden Krankheitsbildern vermutet (DGE 2008): 4 Karies 4 Adipositas
4 4 4 4
5
Gastritis Divertikulose Hämorrhoidalleiden Gallenbeschwerden
Eine ballaststoffreiche Kost senkt die Cholesterinkonzentration im Serum und damit den lithogenen Index der Gallenflüssigkeit durch Verminderung sekundärer Gallensäuren, Erhöhung der Produktion primärer Gallensäuren und Hemmung des Schlüsselenzyms der Cholesterinsynthese (HMGCoA-Reduktase).
5.4
Empfehlungen für die Ballaststoffaufnahme
Da Ballaststoffe unterschiedlich wirken und ihre Menge und Zusammensetzung in Lebensmitteln variiert, sollte ihre Zufuhr vielseitig erfolgen, d. h. aus Vollkornprodukten, Gemüse, Obst, Kartoffeln und Hülsenfrüchten. Der empfohlene Richtwert für Erwachsene von mindestens 30 g pro Tag (DGE et al. 2008) erscheint eher noch zu gering, etwa 40 g pro Tag sind wünschenswert (Leitzmann u. Keller 2009). Die Isolierung von natürlicherweise in Lebensmitteln vorkommenden Ballaststoffen, um Ballaststoffpräparate herzustellen, kann durch Erhitzung und/oder Zerkleinerung der Partikelgröße zu wesentlichen Einbußen der physiologischen Wirkungen führen. Die unterschiedlichen Effekte der löslichen und unlöslichen Ballaststoffe (z. B. von Haferkleie und Pektin auf die Cholesterinkonzentration im Blut oder von Weizenkleie auf Stuhlgewicht und -frequenz) werden besonders durch eine Ernährung mit verschiedenen ballaststoffreichen Lebensmitteln erreicht. Bei der Einnahme eines Ballaststoffpräparats ist dieses Zusammenwirken dagegen nur begrenzt gegeben. Ein wesentlicher Vorteil ballaststoffreicher Lebensmittel besteht darin, dass sie andere, ernährungsphysiologisch weniger wertvolle Lebensmittel vom Speiseplan verdrängen und somit die Gesamtaufnahme an Vitaminen, Mineralstoffen und gesundheitsfördernden Substanzen erhöhen. Die in Kurzzeitversuchen beobachtete resorptionshemmende Wirkung von Ballaststoffen für bestimmte
70
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Kapitel 5 · Ballaststoffe
Mineralstoffe, die vornehmlich auf dem Phytatgehalt ballaststoffreicher Lebensmittel beruht, wird durch den erhöhten Vitamin- und Mineralstoffgehalt ballaststoffreicher Lebensmittel mehr als ausgeglichen. Dieser Ausgleich wird durch isolierte Ballaststoffpräparate nicht erreicht, da ihnen die entsprechenden Nährstoffe fehlen. Ernährungsempfehlungen sind leichter mit ballaststoffreichen Kostformen zu realisieren, da sie eine hohe Nährstoffdichte für Vitamine und Mineralstoffe aufweisen. Außerdem wird dadurch eine geringere Zufuhr an Fett, besonders an gesättigten Fettsäuren und Cholesterin sowie an niedermolekularen Kohlenhydraten ermöglicht. Die Umstellung auf eine ballaststoffreiche Kost sollte jedoch langsam erfolgen, um eventuelle Verträglichkeitsprobleme zu vermeiden. Da für den Menschen eine ballaststoffreiche Kost evolutionsbedingt physiologisch ist, stellt sich in der Regel nach kurzer Zeit ein neues Gleichgewicht zwischen der Kost und der sich verändernden Mikroflora ein.
10 11 12 13 14 15 16 17 18
5.5
Zusammenfassung
Ballaststoffe sind gesundheitsfördernde Nahrungsinhaltsstoffe, die nur in pflanzlichen Lebensmitteln vorkommen. Da der Mensch während seiner langen Evolution immer Ballaststoffe in größerer Menge aufgenommen hat, ist der Verdauungsapparat darauf eingestellt und angewiesen. Eine ballaststoffreiche Kost hat den Vorteil, dass sie in einer körperlich bewegungsarmen Wohlstandsgesellschaft das Risiko, an einer der heute weit verbreiteten Zivilisationskrankheiten zu leiden, deutlich senken kann. Gleichzeitig erweist sich die höhere Nährstoffdichte und geringere Energiedichte ballaststoffreicher Nahrung als hilfreich in der Erhaltung eines normalen Körpergewichts bzw. zur Prävention von Übergewicht. Diese Potenziale gilt es zu nutzen.
Literatur
19 20
ADA (American Diabetes Association): Diagnosis and classification of diabetes mellitus. Diabetes Care 29(Suppl. 1):43–48 (2006a) ADA (American Diabetes Association): Standards of medical care in diabetes. Diabetes Care 29(Suppl. 1):4–42 (2006b)
Barnard ND, Katcher HI, Jenkins D et al.: Vegetarian and vegan diets in type 2 diabetes management. Nutr Rev 67:255–263 (2009) Bingham SA, Day NE, Luben R et al.: Dietary fibre in food and protection against colorectal cancer in the European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition (EPIC): an observational study. Lancet 361(9368):1496– 501 (2003) Boeing H, Lochs H, Scheppach W: Müssen die Ernährungsempfehlungen für die Ballaststoffaufnahme geändert werden? Akt Ern Med 26:107–111 (2001) Burkitt DP, Walker ARP, Painter NS: Effect of dietary fiber on stools and transit-times, and its role in the causation of disease. Lancet 2:1408–1411 (1972) Chandelia M, Garg A, Lutjohann D et al.: Beneficial effects of high dietary fiber intake in patients with type 2 diabetes mellitus. New Engl J Med 342:1392–1398 (2000) Chanteleau E: Der glykämische Index von kohlenhydrathaltigen Lebensmitteln: Eine Bestandsaufnahme aus Sicht des Diabetologen. Akt Ern Med 25:176–185 (2000) DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung): Ernährungsbericht 2008. DGE, Frankfurt/M (2008) DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) et al.: Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr. Umschau, Frankfurt/M (2008) Elmadfa I, Leitzmann C: Ernährung des Menschen. 4. Aufl. Eugen Ulmer, Stuttgart (2004) Foster-Powell K, Holt SH, Brand-Miller JC: International table of glycemic index and glycemic load values: 2002. Am J Clin Nutr 76:5–56 (2002) Huth K, Burkard M: Ballaststoffe. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart (2004) Jacobasch G, Schmiedl D: Die Bedeutung resistenter Stärke für eine gesundheitsorientierte Ernährung. Ernähr Umschau 49:4–9 (2002) Jenkins DJA, Jenkins AL: The glycemic index, fibre and the dietary treatment of hypertriglyceridemia and diabetes. J Am Coll Nutr 6:11–17 (1987) Kasper H: Ernährungsmedizin und Diätetik. 11. Aufl. Urban und Schwarzenberg, München (2009) Koerber K v, Männle T, Leitzmann C: Vollwert-Ernährung. 10. Aufl. Haug, Stuttgart (2004) Leitzmann C, Keller M: Vegetarische Ernährung. Ulmer, Stuttgart (2009) Ludwig DS: The glycemic index: physiological mechanisms relating to obesity, diabetes and cardiovascular disease. JAMA 287:2414–2423 (2002) Mehnert H, Standl E, Usadel KH et al. (Hrsg.): Diabetologie in Klinik und Praxis. 5. Aufl. Thieme, Stuttgart (2003) Schauder P, Ollenschläger G: Ernährungsmedizin Prävention und Therapie. Urban und Fischer, München (2003) Staiger H, Stefan N, Kellerer K et al.: Die schnelle Stoffwechselregulation. In: Löffler G, Petrides PE, Heinrich PC (Hrsg.): Biochemie und Pathobiochemie. 8. Aufl. Springer, Berlin (2007), S. 809–840 Toeller M: Evidenz-basierte Ernährungsempfehlungen zur Behandlung und Prävention des Diabetes mellitus. Di-
71 Literatur
abetes und Stoffwechsel. Ernähr Umschau 52:75–94 (2005a) Toeller M: Evidenz-basierte Empfehlungen zur Ernährungstherapie und Prävention des Diabetes mellitus. Ernähr Umschau 52:216–219 (2005b)
5
6
73
Substanzen in fermentierten Lebensmitteln Claus Leitzmann
6.1
Einleitung
– 74
6.2
Veränderungen von Milch während der Fermentation
6.3
Wirkungen fermentierter Produkte
6.3.1 6.3.2 6.3.3
Einfluss auf die Laktoseintoleranz – 75 Einfluss auf den Cholesterinspiegel – 76 Einfluss auf die Mikroflora – 77
6.4
Therapeutische Wirkungen bei gastrointestinalen Entzündungen und Infektionen – 78
6.5
Einflüsse auf Krebserkrankungen
6.6
Zusammenfassung
– 82
– 75
– 79
– 74
74
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Kapitel 6 · Substanzen in fermentierten Lebensmitteln
Die Fermentation zählt zu den ältesten Konservierungsverfahren. Dabei werden Lebensmittel einer milchsauren Vergärung ausgesetzt, welche die Nährstoffzusammensetzung verändert. Neben Geschmack und Geruch ändern sich somit auch ernährungsphysiologisch bedeutsame Parameter. In Mitteleuropa sind vor allem fermentierte Milchprodukte (Joghurt) von Bedeutung. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 die Veränderungen, die bei der Fermentation in Lebensmitteln ablaufen, 4 die physiologischen Wirkungen fermentierter Milchprodukte und der darin enthaltenen Substanzen, 4 den Einfluss fermentierter Produkte auf die Mikroflora, 4 die therapeutische Wirkung fermentierter Lebensmittel bei Infektionen des Gastrointestinaltrakts und der Vagina, 4 mögliche antikanzerogene Wirkungen von Substanzen in fermentierten Lebensmitteln.
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
6.1
»
Einleitung
Wer durch des Argwohns Brille schaut, sieht Raupen selbst im Sauerkraut. Wilhelm Busch (Schriftsteller, Deutschland,1832–1908)
fast ausschließlich Milchprodukte in fermentierter Form konsumiert; bei den pflanzlichen Lebensmitteln besitzt nur noch das Sauerkraut eine Bedeutung. Die Präferenz für fermentierte Milchprodukte spiegelt sich auch in der Anzahl der wissenschaftlichen Untersuchungen wider. Derzeit liegt der Forschungsschwerpunkt bei sogenannten probiotischen Stämmen. Diese wirken sich auf Zahl und Stoffwechselaktivität für den Organismus günstiger Bakterienstämme im Darm in einer Form aus, dass sich eine für die Gesunderhaltung förderliche Zusammensetzung der Darmflora entwickelt. Probiotika sind oral zu verabreichende Produkte mit lebenden Mikroorganismen. Diese sollen das Verhältnis intestinaler Keime so beeinflussen, dass positive Effekte auf den Organismus resultieren. Probiotische Stämme gehören hauptsächlich den Gattungen Lactobacillus und Bifidobacterium an. Sie wurden überwiegend aus der Darmflora des Menschen isoliert und überleben die Magen-DarmPassage besser als die klassischen Joghurtbakterien. Probiotische Keime werden fermentierten Milchprodukten erst nach der Fermentation zugegeben. Sie variieren in ihrer Zahl und Überlebenschance stark von Produkt zu Produkt.
«
6.2
Die milchsaure Vergärung (Fermentation) zählt zu den ältesten Konservierungsverfahren. Bei der Fermentation von Lebensmitteln wird u. a. ihre Nährstoffzusammensetzung verändert. Dabei wird als Endprodukt des Kohlenhydratabbaus Milchsäure gebildet. An diesem sehr komplexen Geschehen sind verschiedene Mikroorganismen beteiligt. Hauptursachen für die konservierende Wirkung der Fermentation sind die Reduktion des pH-Wertes sowie der Abbau leicht verfügbarer Kohlenhydrate durch die Milchsäurebakterien. Das ursprüngliche Lebensmittel verändert im Verlauf der Fermentation sowohl seinen Geruch und Geschmack als auch den ernährungsphysiologischen Wert. Weltweit werden besonders Milch, Gemüse, Hülsenfrüchte und Getreide sowie Fleisch und Fisch fermentiert, aber auch andere Lebensmittel kommen dafür infrage. Bei den heute in Mitteleuropa üblichen Verzehrgewohnheiten werden
Veränderungen von Milch während der Fermentation
Milchsäurebakterien nutzen die Nährstoffe der Milch für ihr Wachstum, sodass es zu einer Veränderung der Nährstoffzusammensetzung kommt. Sie verwerten als primäre Energiequelle Laktose, die intrazellulär zu Galaktose und Glukose gespalten wird. Aus Glukose entsteht die Milchsäure, welche für viele der charakteristischen Merkmale von fermentierten Lebensmitteln verantwortlich ist. Proteasen der Milchsäurebakterien bauen Proteine zu freien Aminosäuren ab; dies ist für die Geschmacksbildung in fermentierten Milchprodukten von Bedeutung. Die Mikronährstoffe bleiben bei der Fermentation von Milchprodukten weitgehend erhalten. Lediglich Vitamin B12 wird erheblich und Vitamin C etwas reduziert. Die Folsäurekonzentration hingegen steigt an. Bei der Fermentation von Weiß-
75 6.3 · Wirkungen fermentierter Produkte
kohl zu Sauerkraut werden die Konzentrationen von Vitamin C und Magnesium etwa halbiert, Folsäure wird stark reduziert und Vitamin B6 etwa verdoppelt.
6.3
Wirkungen fermentierter Produkte
Dem Joghurt werden seit Jahrhunderten gesundheitsfördernde Wirkungen nachgesagt. Der russische Forscher und Nobelpreisträger Elie Metchnikoff beispielsweise führte die hohe Lebenserwartung der Bulgaren auf den Verzehr fermentierter Milchprodukte zurück. Er vermutete, dass Milchsäurebakterien unerwünschte Fäulnisbakterien im Darm unter Kontrolle halten. Mittlerweile liegen Daten aus zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen über die prophylaktischen und therapeutischen Wirkungen von Milchsäurebakterien und fermentierten Milchprodukten vor. Kontrollierte Studien am Menschen sowie Untersuchungen zu den Wirkmechanismen hingegen sind relativ selten.
6.3.1
Einfluss auf die Laktoseintoleranz
Eine Laktoseintoleranz führt nach dem Verzehr von Milch zu gastrointestinalen Beschwerden. Ursache ist im Allgemeinen ein Mangel bzw. eine verminderte Aktivität des Enzyms Laktase (β-Galaktosidase) in der Bürstensaummembran des Dünndarmepithels. Ungespalten kann nur etwa 1 % der Laktose im Dünndarm resorbiert werden, sodass sie fast vollständig in tiefere Darmabschnitte gelangt und dort durch die Mikroflora metabolisiert wird. Die dabei entstehenden Metaboliten erhöhen den osmotischen Druck im Dickdarm und führen zu einem massiven Wassereinstrom, der zu Durchfall und anderen Verdauungsproblemen, wie Blähungen und Resorptionsstörungen, führt. Bei Personen mit entsprechender genetischer Veranlagung kommt es vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter zu einer stetigen Abnahme der Laktaseaktivität. Etwa 75 % der Weltbevölkerung sind im Erwachsenenalter von einem Laktaseman-
6
gel betroffen, wobei die ethnische Herkunft für entscheidende Unterschiede in der Prävalenz verantwortlich ist. Erwachsene sind in Afrika zu 60–80 %, in Teilen Asiens bis zu 100 % betroffen; in Nordeuropa tritt die Laktoseintoleranz dagegen nur bei 2–15 % der Bevölkerung auf (Swagerty et al. 2002). Ein genetisch bedingter, bereits bei Geburt vorliegender Laktasemangel kommt extrem selten vor. In der Ernährung des Menschen zählen Milch und Milchprodukte zu den Hauptkalziumlieferanten. Deshalb kann ein Meiden laktosehaltiger Lebensmittel für Personen mit Laktoseintoleranz mit der Gefahr einer Kalziumunterversorgung und dem Risiko einer Osteoporoseentstehung verbunden sein. Menschen mit Laktoseintoleranz vertragen fermentierte Lebensmittel, insbesondere Joghurt, relativ gut, obwohl bei der Fermentation nur bis zu 30 % der in der Milch vorhandenen Laktose abgebaut wird (Vesa et al. 2000, Swagerty et al. 2002). In Ländern mit verbreitetem Laktasemangel wird Milch traditionell lediglich in fermentierter Form verzehrt. Eine gewisse Adaptation kann durch die regelmäßige Aufnahme von Laktose herbeigeführt werden. So waren bei laktoseintoleranten Menschen die Symptome nach einem Laktosetoleranztest bei denjenigen Personen deutlich geringer ausgeprägt, die in den Tagen zuvor Milch und Milchprodukte verzehrt hatten (Szilagyi et al. 2005). Langzeitstudien liegen hierzu nicht vor. Verantwortlich für die positiven Wirkungen fermentierter, unerhitzter Produkte auf die Laktoseintoleranz sind die mit aufgenommenen lebenden Milchsäurebakterien. Insbesondere Joghurtbakterien enthalten intrazellulär hohe Mengen des Enzyms β-Galaktosidase, welches im Dünndarm die Laktose hydrolysiert. Zusätzlich begünstigt Joghurt eine hohe Überlebensrate der Milchsäurebakterien bei der Passage durch den Magen. Erst im Dünndarm kommt es durch die Einwirkung von Gallensalzen zur gesteigerten Durchlässigkeit der Bakterienwand, wodurch die eigentliche Laktoseverdauung stattfinden kann (de Vrese et al. 2001). Eine Verminderung der Intoleranzsymptome nach dem Verzehr von unerhitztem Joghurt im Vergleich zu pasteurisiertem Joghurt oder Milch
76
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Substanzen in fermentierten Lebensmitteln
konnte in einer Reihe von Studien nachgewiesen werden (Übersicht bei de Vrese et al. 2001). Darüber hinaus beeinflusst die Konsistenz des fermentierten Milchprodukts dessen Transitzeit durch den Magen-Darm-Trakt. Der gastrointestinale Transit von Joghurt ist gegenüber Milch verlangsamt, was das Ausmaß der In-vivo-Laktoseverdauung durch die bakterielle β-Galaktosidase erhöht und eine Stimulation der Restlaktaseaktivität im Dünndarm hervorruft. Dies scheint für die verbesserte Verträglichkeit von Joghurt gegenüber Milch von Bedeutung zu sein, da Joghurtprodukte, die sich sowohl im Laktosegehalt als auch in den Bakterienkulturen unterschieden, von laktasedefizienten Erwachsenen gleich gut vertragen wurden (Vesa et al. 2000, de Vrese et al. 2001). Die höchste Wirksamkeit hinsichtlich der Verminderung der Intoleranzsymptome wurde bisher nach dem Konsum von solchem unerhitztem Joghurt festgestellt, der mit den als Starterkulturen üblichen Stämmen Lactobacillus bulgaricus und Streptococcus thermophilus fermentiert wurde (Guarner et al. 2005). Dieses beruht auf deren spezifisch hoher β-Galaktosidase-Aktivität, die im fertigen Produkt erhalten bleibt, und der geringen Gallensäureresistenz, die zur Enzymfreisetzung im Dünndarm führt. Neben dieser β-Galaktosidase-Aktivität und der Gallensäuresensitivität von Milchsäurebakterien scheint auch die Verfügbarkeit der β-Galaktosidase Einfluss auf die Verbesserung der Intoleranzsymptome zu nehmen. So unterschieden sich Lactobacillus acidophilus B oder Lactobacillus bulgaricus 449 trotz vergleichbarer β-Galaktosidase-Aktivität und Gallensäuresensitivität deutlich in ihrer Wirkung auf die Verbesserung der Intoleranzsymptome und die Verminderung der Wasserstoffabatmung. Es konnte gezeigt werden, dass deutliche Unterschiede in der Zellwand-Membranstruktur beider Bakterienstämme vorliegen, sodass die Freisetzung der bakteriellen β-Galaktosidase bei der Magen-DarmPassage beeinflusst wird (Lin et al. 1998). Lactobacillus bulgaricus mit seiner »weicheren« Zellwandstruktur weist eine effektivere Freisetzung der intrazellulären β-Galaktosidase bei der MagenDarm-Passage auf als Lactobacillus acidophilus. Aufgrund der spezifischen Aktivität, die lebende Joghurt-Starterkulturen auf Laktoseintoleranz-
symptome ausüben, wird derzeit diskutiert, ob diese Kulturen nicht ebenfalls zu den Probiotika zu zählen seien (Guarner et al. 2005).
6.3.2
Einfluss auf den Cholesterinspiegel
Beobachtungen an den Massai, einer in Kenia und Tansania lebenden ethnischen Gruppe, ergaben erste Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen dem Verzehr fermentierter Milchprodukte und einem niedrigen Serumcholesterinspiegel. Der sehr hohe Verzehr fermentierter Milch war von einem niedrigen Cholesterinspiegel begleitet (St-Onge et al. 2000). Studien ergaben, dass die cholesterinsenkende Aktivität fermentierter Milchprodukte sehr stark vom Stamm der eingesetzten Milchsäurebakterien abhängig ist. Für die Senkung des Serumcholesterinspiegels werden verschiedene Mechanismen verantwortlich gemacht. Untersuchungen haben u. a. folgende Fähigkeiten der Milchsäurebakterien nachgewiesen:
Wirkmechanismen der Serumcholesterinspiegelsenkung durch Milchsäurebakterien 5 5 5 5
Cholesterinassimilation Dekonjugation von Gallensäuren Cholesterinbindung Bildung von Metaboliten, die die hepatische Cholesterinsynthese hemmen
Die Cholesterinassimilation erfolgt durch einen direkten Abbau des mit der Nahrung aufgenommenen Cholesterins durch Milchsäurebakterien. In vitro entfernten bestimmte Stämme von Lactobacillus und Bifidobacterium unter Anwesenheit von Gallensäuren Cholesterin aus dem Wachstumsmedium (Liong u. Shah 2005). Einige Milchsäurebakterien sezernieren eine Gallensäurehydrolase, die die Dekonjugation von Gallensäuren katalysiert (Liong u. Shah 2005). Dadurch werden möglicherweise weniger Gallensäuren reabsorbiert. Kommt dieser Mechanismus im oberen Intestinaltrakt zum Tragen, greift die
77 6.3 · Wirkungen fermentierter Produkte
verminderte Reabsorption der Gallensäuren in den enterohepatischen Kreislauf der Gallensäuren ein und macht eine vermehrte De-novo-Synthese von Gallensäuren aus endogenem Cholesterin erforderlich. Eine weitere Cholesterinspiegelsenkung durch Milchsäurebakterien könnte auch durch eine Cholesterinadsorption erfolgen: Nach Untersuchungen von Liong und Shah (2005) ist neben einer Assimilation auch eine Bindung von Cholesterin an die Bakterienzellwand ein Mechanismus, der für die cholesterinsenkenden Eigenschaften von Laktobazillen in vitro verantwortlich ist. Auch die von günstigen Keimen der Mikroflora bei der Fermentation sezernierten Enzyme könnten direkt an der Cholesterinsenkung beteiligt sein. In Tierversuchen konnte mehrfach bestätigt werden, dass isolierte Milchsäurebakterien bzw. Joghurt den Serumcholesterinspiegel senken; erhöhte Serumcholesterinkonzentrationen infolge einer cholesterinreichen Fütterung wurden gesenkt (St-Onge et al. 2000, Lee et al. 2009). Dabei nahm insbesondere das LDLCholesterin ab; die HDL-Cholesterin-Konzentration blieb in den meisten Fällen unverändert. Die Untersuchungen am Menschen zu einer möglichen cholesterinsenkenden Wirkung von fermentierten Milchprodukten zeigten bisher keine einheitlichen Ergebnisse. In einigen Studien konnte die Serumlipidkonzentration beeinflusst werden, in anderen zeigte sich demgegenüber kein Effekt (StOnge et al. 2000). Die uneinheitlichen Ergebnisse können möglicherweise auf Unterschiede in der zugeführten Menge, den verwendeten Milchsäurebakterienstämmen sowie dem Lipidstatus der Probanden (normo- oder hyperlipidämisch) erklärt werden. Eine eindeutige Aussage, ob durch den Verzehr von fermentierten Milchprodukten bzw. von Milchsäurebakterien der Serumcholesterinspiegel gesenkt werden kann, ist daher nicht möglich.
6.3.3
Einfluss auf die Mikroflora
Der menschliche Verdauungstrakt enthält etwa 1014 Mikroorganismen, die sich aus 400–500 Spezies zusammensetzen. Unter diesen Spezies finden sich auch bestimmte Laktobazillen, die verschiede-
6
ne protektive Wirkungen im Verdauungstrakt ausüben, einschließlich einer antimikrobiellen Wirkung gegenüber unerwünschten Mikroorganismen, der sogenannten Kolonisationsresistenz. Die Kolonisationsresistenz bezeichnet die Eigenschaft von Mikroorganismen, durch verschiedene antagonistische Wirkungen das Anhaften und die Vermehrung unphysiologischer Mikroorganismen auf dem Darmepithel zu erschweren. Die Mechanismen der Kolonisationsresistenz sind gegenwärtig kaum bekannt. Vermutlich spielt die Konkurrenz um Epithelkontaktstellen sowie um Substrate bzw. Nährstoffe im Dickdarm eine ebenso wichtige Rolle wie die Produktion von Bakteriozinen und anderen antimikrobiell wirksamen Substanzen, wie Acidolin, Laktocidin, Bacteriocin, Laktobacillin und Laktobrevin. Antimikrobielle Wirkungen von Milchsäurebakterien konnten gegenüber einer Reihe unerwünschter pathogener Darmbakterien wie Staphylococcus aureus, Salmonella typhimurium, Clostridium perfringens, Escherichia coli, Vibrio spp. und Shigella spp. gezeigt werden (Servin 2004). Beim Abbau der Kohlenhydrate werden von Milchsäurebakterien die organischen Säuren Milchsäure und Essigsäure gebildet. Diese vermögen zahlreiche, auch gramnegative Bakterien im Wachstum zu unterdrücken. In einer vergleichenden Untersuchung zeigte sich in vitro, dass unter anderem die Milchsäureproduktion entscheidend für die inhibitorische Wirkung verschiedener Laktobazillenstämme gegenüber Clostridium difficile war (Naaber et al. 2004). Die organischen Säuren und kurzkettigen Fettsäuren beeinflussen auch die Milieubedingungen im Dickdarm (pHWert, Redoxpotenzial), wodurch das Wachstum erwünschter Mikroorganismen gefördert wird. Bereits eine pH-Wert-Änderung kann eine Inhibierung des Wachstums vieler pathogener Bakterien bewirken. So wurde beispielsweise der inhibitorische Effekt von humanen Bifidobakterienstämmen gegenüber pathogenen E.-coli-Keimen auf die pH-Wert-Senkung durch Bildung von Essig- und Milchsäure zurückgeführt (Araya-Kojima et al. 1996) und nicht auf Bakteriocine. Bakteriocine sind Proteine oder Peptide, die von zahlreichen Bakterien gebildet werden und meist gegen verwandte Arten oder Stämme antibakteriell wirksam sind. Die von Milchsäurebakterien sezer-
78
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Substanzen in fermentierten Lebensmitteln
nierten Bakteriocine spielen bei der direkten Unterdrückung intestinaler Pathogene wahrscheinlich eine untergeordnete Rolle. Jedoch fördern sie möglicherweise die Selektion einiger weniger Milchsäurebakterienstämme im Darm (Mital u. Garg 1995). Von den in Lebensmitteln vorkommenden Milchsäurebakterien konnten aber auch Bakteriocine mit breiterem Wirkungsspektrum isoliert werden. Diese vermögen das Wachstum toxischer und pathogener Keime wie Listeria monocytogenes, Staphylococcus aureus und Clostridium botulinum in Lebensmitteln zu unterdrücken (Sutyak et al. 2008). Milchsäurebakterien wirken u. a. auch aufgrund ihrer H2O2-Synthese antimikrobiell. Laktobazilllen, die mehr H2O2 produzieren, wiesen eine stärkere antagonistische Wirkung gegenüber Clostridium difficile auf als andere Stämme (Naaber et al. 2004). Aus H2O2 können Hydroxylradikale entstehen, die stark oxidative Eigenschaften besitzen und zytotoxisch wirken. Unter dem Einfluss der aus Milch stammenden Laktoperoxidase bildet H2O2 zusammen mit dem endogen gebildeten bzw. aus der Nahrung stammenden Thiozyanat weitere toxische, antimikrobiell wirksame Oxidationsprodukte. Auch freie Gallensäuren wirken antimikrobiell. > Ausschlaggebend für die Wirkung von Milchsäurebakterien ist ihre Überlebensrate im Gastrointestinaltrakt. Sie müssen sich nicht erst im Dickdarm ansiedeln, um die beschriebenen antimikrobiellen Wirkungen auszuüben. Die orale Zufuhr von Milchsäurebakterien in Form von fermentierten Lebensmitteln reicht aus, um temporär deren protektive Wirkungen zu nutzen.
Die Überlebensrate von Milchsäurebakterien im oberen Verdauungstrakt scheint unter anderem von der Pufferkapazität des fermentierten Lebensmittels gegenüber der Magensäure abhängig zu sein. Joghurt besitzt eine besonders hohe Pufferkapazität. Untersuchungen zur Überlebensrate von Bifidobakterien im Magen-Darm-Trakt ergaben, dass etwa 80 % der oral aufgenommenen Bakterien die Magenpassage überstehen und bis zu 30 % der zugeführten Bakterien in den Fäzes wiedergefunden werden (Picard et al. 2005). Die Überle-
bensrate verschiedener Bakterienstämme scheint sich dabei – in Abhängigkeit von deren Resistenz gegenüber Säuren, Gallensalzen und Enzymen – zu unterscheiden. Probiotische Stämme, die sich im Darm ansiedeln und vermehren können, erscheinen vielversprechend bei Erkrankungen, die mit einer gestörten Darmflora einhergehen, wie beispielsweise bei einer akuten Rotavirusdiarrhö (Marteau et al. 2001).
6.4
Therapeutische Wirkungen bei gastrointestinalen Entzündungen und Infektionen
Die therapeutischen Wirkungen von Milchsäurebakterien bzw. fermentierten Milchprodukten konnten bei der Behandlung von Darmentzündungen und Durchfällen nachgewiesen werden. So verkürzte der Verzehr von Joghurt bzw. die Aufnahme von Lactobacillus rhamnosus GG in mehreren kontrollierten Studien die Dauer einer akuten Gastroenteritis bei Kindern (Marteau et al. 2001). Bei Säuglingen und Kleinkindern wurde durch die Zugabe von Bifidobacterium bifidum und Streptococcus thermophilus zur Formuladiät sowohl die Inzidenz akuter Durchfallerkrankungen als auch die Rotavirusausscheidung gesenkt (Picard et al. 2005). Gestillte Säuglinge haben aufgrund ihrer Bifidusflora einen höheren Gehalt an Essigsäure in den Fäzes als mit adaptierter Kuhmilch ernährte Säuglinge. Essigsäure wirkt stärker inhibierend auf gramnegative Bakterien als Milchsäure. Obwohl die meisten Untersuchungen zur Wirkung von Milchsäurebakterien auf Durchfallerkrankungen mit Lactobacillus rhamnosus GG durchgeführt wurden, haben sich auch andere Stämme in der Therapie solcher Erkrankungen als wirksam erwiesen, beispielsweise Lactobacillus casei und Lactobacillus reuteri. Die Gabe von Enterococcus SF68 verkürzte die Dauer von Durchfallerkrankungen bei Erwachsenen und Kindern im Vergleich zu plazebobehandelten Probanden signifikant (Marteau et al. 2001). In mehreren kontrollierten Studien wirkte sich die Verabreichung von probiotischen Milchsäurebakterien zudem prophylaktisch auf die Entstehung
6
79 6.5 · Einflüsse auf Krebserkrankungen
von antibiotikaassoziierten Durchfallerkrankungen aus. Unter alleiniger Antibiotikatherapie kam es signifikant häufiger zu Diarrhö als bei gleichzeitiger Verabreichung von Bifidobacterium-longumJoghurt. Zudem ergaben sich Hinweise, dass die mit einer Antibiotikatherapie assoziierte Veränderung der intestinalen Mikroflora eingedämmt werden konnte (Picard et al. 2005). Auch Laktobazillen konnten einer antibiotikaassoziierten Besiedlung mit dem Pathogen Clostridium difficile entgegenwirken. Zur Prävention von Reisediarrhöen erwies sich der Einsatz probiotischer Milchsäurebakterien nur in der Hälfte der kontrollierten Untersuchungen als wirksam (Marteau et al. 2001). Eine Reihe von Untersuchungen deutet an, dass die orale und vaginale Applikation von Milchsäurebakterien auf Infektionen der Vagina mit dem Pilz Candida albicans Einfluss nehmen kann. Insbesondere Lactobacillus acidophilus, Lactobacillus rhamnosus GR-1 und Lactobacillus fermentum RC-14 erwiesen sich als wirksam in der Prophylaxe von Candida-Infektionen. Der Wirkmechanismus bei oraler Applikation besteht vermutlich darin, dass über eine direkte Kolonisation der Vagina mit Laktobazillen aus dem Gastrointestinaltrakt eine Inhibierung von Candida albicans erfolgt. Allerdings wiesen viele der durchgeführten Studien erheblich methodische Mängel auf, sodass bezüglich einer möglichen Wirksamkeit von Milchsäurebakterien in der Prävention von Infektionen mit Candida albicans derzeit keine gesicherten Aussagen möglich sind (Falagas et al. 2006). Auch in Bezug auf die Therapie und Prävention bakterieller Infektionen des Urogenitaltrakts werden Laktobazillen diskutiert. In einigen Untersuchungen erwiesen sich Laktobazillen in der Therapie dieser Infektionen als wirksam. Insgesamt liegen allerdings noch keine einheitlichen Ergebnisse vor (Barrons 2008).
Erschwerter Vergleich der Versuchsergebnisse Die Wirksamkeit von Milchsäurebakterien in den verschiedenen Studien beruht auf der Anwendung ausgewählter Stämme und einer definierten Zahl vitaler Bakterien. Im Allgemeinen ist dem Verbraucher jedoch nicht bekannt, welche Milchsäurebakteriengehalte in einem Joghurt vorhanden sind. Erhitzte Joghurts mit abgetöteten Milchsäurebakterien bzw. mit niedriger Milchsäurebakterienzahl sind in dieser Hinsicht wirkungslos. Selten wurden in den Studien zur antimikrobiellen Wirkung von Milchsäurebakterien standardisierte Milchsäurebakterien bzw. fermentierte Milchprodukte mit einem definierten Bakterienstamm und genauer Bakterienkonzentration eingesetzt, wodurch ein Vergleich der Versuchsergebnisse erschwert ist. Trotzdem dürften Milchsäurebakterien und fermentierte Milchprodukte eine Bedeutung bei der Therapie von intestinalen Infektionen haben.
6.5
Einflüsse auf Krebserkrankungen
In der Erfahrungsheilkunde werden milchsauer vergorene Lebensmittel seit vielen Jahrzehnten zur Therapie von Krebs eingesetzt (Eichholtz 1975). Heute wird eine Reihe antikanzerogener Mechanismen diskutiert:
Mögliche Mechanismen der antikanzerogenen Wirkung von Milchsäurebakterien 5 Aktivierung des Immunsystems und dadurch Aktivierung der Tumorabwehr 5 Senkung des pH-Werts im Darm 5 Hemmung der fäkalen Enzyme, die an der Aktivierung von Prokarzinogenen beteiligt sind 6
80
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Substanzen in fermentierten Lebensmitteln
5 Bindung und dadurch Inaktivierung von mutagenen Substanzen im Darm 5 Verhinderung von DNA-Schäden, die zu Mutationen in kritischen Genen führen können
Ein tumorhemmender Effekt verschiedener probiotischer Milchsäurebakterien konnte in vitro und in Tierversuchen nachgewiesen werden (Lee et al. 2004). In Zellkulturuntersuchungen hemmten die zytoplasmatischen Fraktionen verschiedener Milchsäurebakterien (Lactobacillus acidophilus, Lactobacillus casei und Bifidobacterium longum) das Wachstum von Tumorzellen. Die Verabreichung dieser Milchsäurebakterien-Fraktionen an Mäuse, die mit Tumoren infiziert worden waren, wirkte sich positiv auf deren Überlebensrate aus (Lee et al. 2004). Da die Milchsäurebakterien selbst nicht zytotoxisch auf Tumorzellen wirken, spielt dabei die Aktivierung der Immunantwort des Körpers durch Milchsäurebakterien vermutlich eine bedeutende Rolle. Durch ihren Einfluss auf die intestinale Mikroflora können Milchsäurebakterien die Immunantwort modulieren. Nach der Fütterung von fermentierter Milch war in mehreren Tierversuchen eine Steigerung der Phagozytoseaktivität von Makrophagen nachzuweisen. Für die Fermentation waren die Stämme Bifidobacterium longum, Lactobacillus acidophilus, Lactobacillus casei und Lactobacillus helveticus eingesetzt worden (Meydani u. Ha 2000). Am Menschen konnte der immunstimulierende Effekt fermentierter Milchprodukte ebenfalls gezeigt werden. Bei gesunden Freiwilligen war die unspezifische Immunfunktion unter einer Kost, die frei von fermentierten Lebensmitteln war, eingeschränkt. Die Verabreichung von konventionellem und probiotischem Joghurt normalisierte die Immunantwort (Olivares et al. 2006). Meyer et al. (2006) verglichen die Wirkung von konventionellem und probiotischem Joghurt auf die zelluläre Immunantwort von gesunden Personen. Beide Joghurtprodukte hatten eine vergleichbare stimulierende Wirkung auf die zelluläre Immunantwort. Bei einer weiteren Untersuchung von konventionellem und probiotischem Joghurt zeigte sich, dass auch die Zytokinproduk-
tion der Blutzellen nach Ex-vivo-Stimulation durch den Verzehr beider Joghurtprodukte angeregt wurde (Meyer et al. 2007). Andererseits konnten Campbell et al. (2000) in einer dreimonatigen Untersuchung keine Unterschiede in der Immunfunktion von jungen Frauen feststellen, die entweder täglich etwa 450 g Joghurt verzehrten oder vollständig auf Joghurt verzichteten. Ein weiterer Hinweis auf die immunmodulierende Wirkung von Milchsäurebakterien ist der Befund, dass sich die Gabe von Milchsäurebakterien bei Kleinkindern positiv auf die Entwicklung des Immunsystems auswirkte und teilweise präventiv auf die Entstehung einer atopischen Dermatitis wirkte (Isolauri 2004). Mit der Ernährung kann durch Senkung des pH-Wertes im Darm die Zahl der Milchsäurebakterien beeinflusst werden. Studien am Menschen haben gezeigt, dass Personen, die regelmäßig Joghurt verzehren, signifikant mehr Laktobazillen und weniger Enterobakteriaceae im Stuhl aufweisen als Personen, die keinen Joghurt verzehren (Alvaro et al. 2007). Zusätzlich bewirkt die Aufnahme ausgewählter Kohlenhydrate, die unverdaut in das Kolon gelangen, dort einen Anstieg der Milchsäurebakterien (Kelly 2008). Dabei handelt es sich speziell um natürlich vorkommende oder synthetisch hergestellte Oligosaccharide, die auch als Prebiotika bezeichnet werden. Der bifidogene Effekt von Inulin und Oligofruktose – also die Fähigkeit dieser Prebiotika, das Wachstum von Bifidobakterien zu stimulieren – konnte in mehreren Studien nachgewiesen werden. Zudem kam es teilweise zur Verringerung anderer Keime wie Bacteroides, Clostridium und Fusobacterium (Kelly 2008).
Insgesamt führt die gleichzeitige Aufnahme lebender Milchsäurebakterien und nichtverdaulicher Kohlenhydrate zu einer erhöhten Fermentationstätigkeit im Kolon. Durch die Stoffwechseltätigkeit der Bakterien werden vermehrt kurzkettige Fettsäuren in das Darmlumen abgegeben, die den pH-Wert des Darminhaltes senken. Ein niedriger pH-Wert im Stuhl wird als ein Inhibitor der Kolonkarzinogenese angesehen.
81 6.5 · Einflüsse auf Krebserkrankungen
Der Einfluss der Aufnahme von Milchsäurebakterien und fermentierten Milchprodukten auf bakterielle Enzymaktivitäten im Darm wird ebenfalls mit der Kolonkarzinogenese in Verbindung gebracht. An der Menge endogen gebildeter Kanzerogene aus Prokanzerogenen sind möglicherweise die Enzyme β-Glucuronidase, β-Glucosidase und Urease beteiligt (Hatakka et al. 2008). Die Enzymaktivitäten können im Stuhl gemessen werden und sind eine indirekte Messmethode, um die im Darm vorherrschenden Bakterien zu ermitteln. Die Aktivität dieser Enzyme und somit die Entstehung von Dickdarmkrebs kann durch die Ernährungsweise beeinflusst werden. Milchsäurebakterien sind in diesem Zusammenhang offenbar von großer Bedeutung. Die orale Aufnahme von Laktobazillen und Propionibakterien führte beim Menschen zu einer Abnahme der Aktivität dieser Enzyme im Stuhl. Um den Effekt aufrechtzuerhalten, war eine kontinuierliche Gabe der Milchsäurebakterien nötig (Hatakka et al. 2008). Die Elimination verschiedener mutagener Substanzen im Verdauungstrakt erfolgt durch Bakterien. Nitrit, das mit verschiedenen Lebensmitteln in den Körper gelangt, kann im Magen-Darm-Trakt zu kanzerogenen Nitrosaminen umgewandelt werden. Verschiedene Lactobacillus-acidophilus-Stämme sind in der Lage, Nitrit der Nitrosaminbildung zu entziehen, indem sie es zellulär aufnehmen. In einer Untersuchung am Menschen konnte die Mutagenität der Fäzes, die mittels HPLC (High Pressure Liquid Chromatography) und eines speziellen Mutagenitätstests gemessen wurde, durch den Verzehr eines probiotischen Joghurts im Vergleich zu Placebo signifikant gesenkt werden. Die Untersucher führen die antimutagene Wirkung des Joghurts unter anderem auf die von den Bifidobakterien produzierte Substanz Spermidin zurück (Matsumoto u. Benno 2004). Die sekundären Gallensäuren, die durch bakteriellen Abbau von primären Gallensäuren durch Darmbakterien entstehen, und ihre Derivate werden für die Tumorauslösung mit verantwortlich gemacht (McGarr et al. 2005). Sekundäre Gallensäuren machen 95 % der im Kolon vorhandenen Gallensäuren aus und wirken zytotoxisch auf das Mukosa-Epithel, wodurch eine kompensatorisch gesteigerte Proliferation induziert werden kann.
6
Eine hyperproliferative Mukosa ist empfindlicher gegenüber mutagenen Substanzen, wodurch das Risiko der Krebsentstehung steigt (Reddy 1997). Laktobazillen können die Umwandlungsrate von primären zu sekundären Gallensäuren vermindern. Die verringerte Aktivität der fäkalen Glykocholsäurehydrolase nach oraler Zufuhr von Laktobazillen verringert die Bildung freier unkonjugierter Gallensäuren. Bei Patienten mit kolorektalem Adenom wurde eine fast dreimal so hohe Konzentration unkonjugierter Desoxycholsäure im Serum im Vergleich zu Gesunden ermittelt; deren Beteiligung bei der Kolonkarzinogenese wird als sehr wahrscheinlich angesehen (McGarr et al. 2005, Ridlon et al. 2006). Heterozyklische Amine, wie sie beim Braten von Fleisch entstehen, werden als potenzieller Risikofaktor für Kolonkrebs angesehen. Bakterienstämme aus fermentierten Lebensmitteln konnten heterozyklische Amine in vitro binden, wobei der pH-Wert einen entscheidenden Faktor der Bindungskapazität darstellte. Mit zunehmender Konzentration an Trypsin und Gallensäuren wurde jedoch die Bindung der heterozyklischen Amine vermindert. Die Zellwand der Milchsäurebakterien scheint für die Bindung der Mutagene verantwortlich zu sein. In einer Studie am Menschen konnte gezeigt werden, dass die Aufnahme von heterozyklischen Aminen in Form von gebratenem Fleisch (zweimal täglich für 3 Tage) die Mutagenität in Fäzes und Urin erhöht, wohingegen die Gabe von Lactobacillus acidophilus (zusätzlich zum Fleisch) die Mutagenität signifikant senkte. Vermutlich beruht die veränderte Ausscheidung von Mutagenen darauf, dass Mutagene durch Lactobacillus acidophilus im Darm gebunden wurden, wodurch sie nicht mehr in Kontakt mit den Darmepithelzellen treten konnten (Wollowski et al. 2001). Die Kolonkarzinogenese läuft in einem Mehrstufenprozess ab. Erst die Akkumulation von Mutationen in bestimmten Onkogenen und TumorSuppressor-Genen führen zur Krebsinitiation. DNA-Schäden können zu Mutationen in den entsprechenden Genen führen. Es wird vermutet, dass Fermentationsprodukte an der Schutzwirkung im Darm beteiligt sind, da verschiedene Metabolite von Milchsäure- und Darmbakterien in vitro DNA-
82
1 2 3 4 5
Kapitel 6 · Substanzen in fermentierten Lebensmitteln
Schäden in Dickdarmzellen der Ratte verhindern konnten (Wollowski et al. 2001).
Zusammenfassend finden sich verschiedene, vor allem experimentelle Hinweise darauf, dass fermentierte Milchprodukte und bestimmte Milchsäurebakterienstämme auf Mechanismen der Krebsentstehung einwirken können. Möglicherweise können sie demnach zu einer Senkung des Risikos für Kolonkrebs und andere Krebsarten beitragen.
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Tierstudien zeigten unter Verabreichung von probiotischen Kulturen einheitlich eine reduzierte Inzidenz von Kolonkrebs, wenn dieser medikamentös induziert wurde. Auch die pathologische Kryptenbildung war verringert. Beim Menschen ergaben Kohortenstudien keine einheitlichen Ergebnisse; allerdings hatten fermentierte Milchprodukte in den meisten Fall-Kontroll-Studien einen protektiven Effekt gegenüber Kolonkrebs. In Interventionsstudien veränderten sich Indikatoren des Krebsrisikos von einem Muster, das ein hohes Risiko anzeigt, zu einem, das ein geringeres Risiko anzeigt (Saikali et al. 2004). Auch für das Auftreten anderer Krebsarten (Mamma und Pankreas) gibt es epidemiologische Hinweise darauf dass ein hoher Verzehr fermentierter Milchprodukte eine protektive Wirkung hat (Knekt et al. 1996). Eine repräsentative Langzeitstudie ermittelte eine inverse Assoziation zwischen dem Verzehr fermentierter Milchprodukte und der Inzidenz von Blasenkrebs. Personen, die mindestens 2 Portionen Joghurt oder Sauermilch pro Tag verzehrten, hatten ein signifikant geringeres Blasenkrebsrisiko als Personen, die keine fermentierten Milchprodukte verzehrten (Larsson et al. 2008). In anderen epidemiologischen Untersuchungen ergaben sich demgegenüber Hinweise auf eine mögliche Erhöhung des Risikos verschiedener Krebsarten (Leukämie, Prostatakrebs) durch den vermehrten Verzehr von Milchprodukten (Matsumoto et al. 2007, Kurahashi et al. 2008). Die teilweise widersprüchlichen Ergebnisse aus epidemiologischen Studien hinsichtlich der protek-
tiven Wirkung von Milchsäurenbakterien bzw. von fermentierten Milchprodukten auf Krebs konnten noch nicht geklärt werden. Gründe könnten in der Produktvielfalt fermentierter Milchprodukte und der damit verbundenen Aufnahme unterschiedlicher Stämme liegen, die sich möglicherweise in ihren protektiven Eigenschaften so unterscheiden, dass eine klare Korrelation nicht ersichtlich wird.
6.6
Zusammenfassung
Die Fermentation wird schon von alters her zur Konservierung von Lebensmitteln eingesetzt. Dabei ändern sich in Folge der milchsauren Vergärung Geschmack und Geruch der Lebensmittel ebenso wie ihr ernährungsphysiologischer Wert. Die konservierende Wirkung beruht auf einer Verringerung des pH-Wertes sowie dem Abbau leicht verfügbarer Kohlenhydrate durch die Milchsäurebakterien. In Mitteleuropa werden hauptsächlich fermentierte Milchprodukte (Joghurt) und Sauerkraut verzehrt, jedoch werden – weltweit gesehen – auch weitere Gemüse, Hülsenfrüchte, Getreide, Fleisch und Fisch fermentiert. Die Fermentation von Milch führt zum teilweisen Abbau der Laktose. Die so erhaltenen Nahrungsmittel werden dann auch von Menschen mit Laktoseintoleranz gut vertragen und können zur Deckung des Kalziumbedarfs genutzt werden. Ein weiterer Abbau der Laktose wird auch durch die Enzyme der mit aufgenommenen lebenden Milchsäurebakterien ermöglicht. Die lebenden Milchsäurebakterien wirken darüber hinaus cholesterinspiegelsenkend, unter anderem durch direkten Abbau des mit der Nahrung aufgenommenen Cholesterins. Milchsäurebakterien wirken antimikrobiell gegenüber etlichen pathogenen Darmbakterien. Die beobachteten Wirkungen können therapeutisch genutzt werden, etwa bei der Behandlung gastrointestinaler Entzündungen und Infektionen. Auch Infektionen der Vagina werden durch Milchsäurebakterien bzw. den Verzehr von Joghurt positiv beeinflusst. Diskutiert wird ferner die antikanzerogene Wirkung milchsauer vergorener Lebensmittel, etwa durch die beobachtete Modulation der Immunantwort. Die gleichzeitige Aufnahme von Milchsäurebakterien und nicht verdaulichen Koh-
83 Literatur
lenhydraten führt zu einer vermehrten Stoffwechseltätigkeit der Bakterien mit vermehrter Freisetzung kurzkettiger Fettsäuren in das Darmlumen. Die damit verbundene pH-Wert-Senkung wirkt vermutlich ebenfalls protektiv gegen Krebs. Weitere Wirkmechanismen werden diskutiert.
Literatur Alvaro E, Andrieux C, Rochet V et al.: Composition and metabolism of the intestinal microbiota in consumers and non-consumers of yogurt. Brit J Nutr 97:126–133 (2007) Araya-Kojima T, Yaeshima T, Ishibashi N et al.: Inhibitory effects of human-derived bifidobacterium on pathogenic Escherichia coli serotype O-111. Biosci Microflora 15:17– 22 (1996) Barrons R, Tassone D: Use of Lactobacillus probiotics for bacterial genitourinary infections in women: a review. Clin Ther Mar 30:453–468 (2008) Campbell CG, Chew BP, Luedecke LO et al.: Yogurt consumption does not enhance immune function in healthy premenopausal women. Nutr Cancer 37:27–35 (2000) Eichholtz F: Die biologische Milchsäure und ihre Entstehung in vegetabilischem Material. 2. Aufl. Eden Stiftung, Bad Soden (1975) Falagas ME, Betsi GI, Athanasiou S: Probiotics for prevention of recurrent vulvovaginal candidiasis: a review. J Antimicrobial Chemotherapy 58:266–272 (2006) Guarner F, Perdigon G, Corthier G et al.: Should yogurt cultures be considered probiotic? Brit J Nutr 93:783–786 (2005) Hatakka K, Holma R, El-Nezami H et al.: The influence of Lactobacillus rhamnosus LC705 together with Propionibacterium freudenreichii ssp. shermanii JS on potentially carcinogenic bacterial activity in human colon. Int J Food Microbiol 128:406–410 (2008) Isolauri E: Dietary modification of atopic disease: use of probiotics in the prevention of atopic dermatitis. Curr Allergy Asthma Rep 4:270–275 (2004) Kelly G: Inulin-type Prebiotics-a review: part 1. Altern Med Rev 13:315–329 (2008) Knekt P, Jarvinen R, Seppanen R et al.: Intake of dairy products and the risk of breast cancer. Brit J Cancer 73:687– 691 (1996) Kurahashi N, Inoue M, Iwasaki M et al.: Dairy product, saturated fatty acid, and calcium intake and prostate cancer in a prospective cohort of Japanese men. Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 17:930-–937 (2008) Larsson SC, Andersson SO, Johansson JE et al.: Cultured milk, yogurt, and dairy intake in relation to bladder cancer risk in a prospective study of Swedish women and men. Am J Clin Nutr 88:1083-–1087 (2008)
6
Lee DK, Jang S, Baek EH et al.: Lactic acid bacteria affect serum cholesterol levels, harmful fecal enzyme activity, and fecal water content. Lipids Health Dis 8:21 (2009) Lee JW, Shin JG, Kim EH et al.: Immunomodulatory and antitumor effects in vivo by the cytoplasmic fraction of Lactobacillus casei and Bifidobacterium longum. J Vet Sci 5:41-48 (2004) Lin MY, Yen CL, Chen SH: Management of lactose maldigestion by consuming milk containing lactobacilli. Digest Dis Sci 43:133–137 (1998) Liong MT, Shah NP: Acid and bile tolerance and cholesterol removal ability of lactobacilli strains. J Dairy Sci 88:55– 66 (2005) Lopitz-Otsoa F, Rementeria A, Elguezabal N et al.: Kefir: a symbiotic yeasts-bacteria community with alleged healthy capabilities. Rev Iberoam Micol 23:67–74 (2006) Marteau PR, de Vrese M, Cellier CJ et al.: Protection from gastrointestinal diseases with the use of probiotics. Am J Clin Nutr 73(2 Suppl): 430S-436S (2001) Matsumoto M, Benno Y: Consumption of Bifidobacterium lactis LKM512 yogurt reduces gut mutagenicity by increasing gut polyamine contents in healthy adult subjects. Mutat Res 568:147–153 (2004) Matsumoto M, Ishikawa S, Nakamura Yet al.: Consumption of dairy products and cancer risks. J Epidemiol 17:38– 44 (2007) McGarr SE, Ridlon JM, Hylemon PB: Diet, anaerobic bacterial metabolism, and colon cancer: a review of the literature. J Clin Gastroenterol 39:98–109 (2005) Meydani SN, Ha WK: Immunologic effects of yogurt. Am J Clin Nutr 71:861–872 (2000) Meyer AL, Elmadfa I, Herbacek I et al.: Probiotic, as well as conventional yogurt, can enhance the stimulated production of proinflammatory cytokines. J Hum Nutr Diet 20:590–598(2007) Meyer AL, Micksche M, Herbacek I et al.: Daily intake of probiotic as well as conventional yogurt has a stimulating effect on cellular immunity in young healthy women. Ann Nutr Metab 50:282–289 (2006) Mital BK, Garg SK: Anticarcinogenic, hypocholesterolemic, and antagonistic activities of Lactobacillus acidophilus. Crit Rev Microbiol 21:175–214 (1995) Naaber P, Smidt I, Stsepetova J et al.: Inhibition of Clostridium difficile strains by intestinal Lactobacillus species. J Med Microbiol 53(Pt 6):551–554 (2004) Olivares M, Paz Diaz-Ropero M, Gomez N: Dietary deprivation of fermented foods causes a fall in innate immune response. Lactic acid bacteria can counteract the immunological effect of this deprivation. J Dairy Res 73:492– 498 (2006) Picard C, Fioramonti J, Francois A: Review article: bifidobacteria as probiotic agents - physiological effects and clinical benefits. Aliment Pharmacol Ther 22:495–512 (2005) Reddy BS: Colon cancer: dietary prevention and chemoprevention. In: Bertino JR (ed.): Encyclopedia of Cancer. Academic Press, San Diego, pp. 432–440 (1997)
84
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Substanzen in fermentierten Lebensmitteln
Ridlon JM, Kang DJ, Hylemon PB: Bile salt biotransformations by human intestinal bacteria. J Lipid Res 47:241– 259 (2006) Saikali J, Picard C, Freitas M et al.: Fermented milks, probiotic cultures, and colon cancer. Nutr Cancer 49:14–24 (2004) Servin AL: Antagonistic activities of lactobacilli and bifidobacteria against microbial pathogens. FEMS Microbiol Rev 28:405–440 (2004) St-Onge MP, Farnworth ER, Jones PJ: Consumption of fermented and nonfermented dairy products: effects on cholesterol concentrations and metabolism. Am J Clin Nutr 71:674–681 (2000) Sutyak KE, Wirawan RE, Aroutcheva AA et al.: Isolation of the Bacillus subtilis antimicrobial peptide subtilosin from the dairy product-derived Bacillus amyloliquefaciens. J Appl Microbiol 104:1067–1074 (2008) Swagerty DL Jr., Walling AD, Klein RM: Lactose intolerance. Am Fam Physician 65:1845–1850 (2002) Szilagyi A, Malolepszy P, Yesovitch S et al.: Inverse dose effect of pretest dietary lactose intake on breath hydrogen results and symptoms in lactase nonpersistent subjects. Dig Dis Sci 50:2178–2182 (2005) Vesa TH, Marteau P, Korpela R: Lactose intolerance. J AmColl Nutr 19(2 Suppl):165S–175S (2000) Vrese M de, Stegelmann A, Richter B et al.: Probiotics-compensation for lactase insufficiency. Am J Clin Nutr 73(2 Suppl): 421S-429S (2001) Wollowski I, Rechkemmer G, Pool-Zobel BL: Protective role of probiotics and prebiotics in colon cancer. Am J Clin Nutr 73(2 Suppl): 451S–455S (2001)
7
85
Prophylaxe und Therapie mit Fischölfettsäuren Olaf Adam
7.1
Einleitung
– 86
7.2
Stoffwechsel und Funktion mehrfach ungesättigter Fettsäuren – 87
7.3
Mehrfach ungesättigte Fettsäuren in unserer Nahrung – 87
7.3.1 7.3.2
ω-6-Fettsäuren ω-3-Fettsäuren
7.4
Eicosanoidbildung beim Menschen
7.5
Fischölfettsäuren hemmen die Eicosanoidsynthese
7.6
Weitere Wirkungen der Fischölfettsäuren
7.7
Nebenwirkungen der Fischölfettsäuren
7.8
Therapierichtlinien
7.8.1 7.8.2 7.8.3 7.8.4
Kardiovaskuläre Erkrankungen – 94 Immunologische und entzündlich-rheumatische Erkrankungen – 96 Hauterkrankungen – 99 Andere Erkrankungen – 99
7.9
Zusammenfassung
– 88 – 89
– 90
– 92 – 93
– 93
– 101
– 90
86
1 2 3 4 5 6 7 8
Kapitel 7 · Prophylaxe und Therapie mit Fischölfettsäuren
Die mehrfach ungesättigten Fischölfettsäuren werden therapeutisch bei kardiovaskulären, allergischen und immunologischen Erkrankungen eingesetzt. Ihre Hemmwirkung auf die Tumorentstehung und -ausbreitung sowie ihre Rolle in der Transplantationsmedizin wird derzeit noch untersucht. Dieses breite Wirkspektrum ergibt sich durch ihre vielfältigen Eigenschaften als Hemmstoffe der Eicosanoidbiosynthese, als Strukturelemente der Zellmembran und Botenstoffe der Signaltransduktion. In diesem Beitrag lesen Sie: 4 welche Funktionen mehrfach ungesättigte Fettsäuren im Körper haben, 4 in welchen Lebensmitteln sie vorkommen, 4 wie Fischölfettsäuren im Körper wirken, 4 in welchen Indikationsgebieten eine Therapie mit Fischölfettsäuren sinnvoll ist.
7.1
Einleitung
Kardiovaskuläre Erkrankungen sind in den Industrienationen noch immer die häufigste Todesursache im mittleren Lebensalter. Ihre Zuwachsrate hat aber nicht zuletzt durch die breite Anwendung von niedrig dosiertem Aspirin in den letzten Jahren abgenommen. Dagegen nehmen bestimmte Neoplasien, allergische und immunologische Erkrankungen weiter zu (. Abb. 7.1). Diese Zivilisationskrankheiten haben multifaktorielle Ursachen, gemeinsam ist ihnen die gesteigerte Bildung von Eicosanoiden, beispielsweise Prostaglandinen, Thromboxanen und Leukotrienen. Die Hemmung der Eicosanoidbildung hat sich bei diesen Krankheiten als wirksame Therapiemaßnahme erwiesen. Am häufigsten werden Aspirin oder andere nichtsteroidale Antirheuma-
9 10 11
Allergien
185%
Darmkrebs
122%
12 Rheuma
105%
13 14 15
Psoriasis
80%
Diabetes mellitus
79%
Übergewicht
73%
16 Brustkrebs
45%
17 18 19 20
Adipositas
Herzkrankheiten 0%
42%
27% 50%
100%
150%
200%
. Abb. 7.1 Zunahme einiger Zivilisationskrankheiten bei 55- bis 64-Jährigen in den Industrienationen von 1950 bis 2004 (Werte: Robert-Koch-Institut 2006)
87 7.3 · Mehrfach ungesättigte Fettsäuren in unserer Nahrung
tika (NSAR), die besonders die Bildung der Prostaglandine hemmen, bei der Arteriosklerose und den entzündlichen Gelenkerkrankungen verwendet. Glukokortikoide wie Kortisol, die die Bildung aller Eicosanoide unterdrücken, werden bei allergischen, immunologischen und neoplastischen Erkrankungen eingesetzt. Die Stoffwechselwirkung der Fischölfettsäuren in unserer Nahrung beruht ebenfalls auf einer Hemmung der Eicosanoidbildung. Sie sind kompetitive Hemmstoffe der Lipoxigenase und Cyclooxigenase (Schmitz u. Ecker 2008). Zu den Fischölfettsäuren gehören Eicosapentaensäure, Docosapentaensäure und Docosahexaensäure. Diese langkettigen, mehrfach ungesättigten ω-3-Fettsäuren werden in größeren Mengen nur von Fischen gebildet. Je kälter der Lebensraum der Fische ist, desto mehr Fischölfettsäuren entstehen, um die Fluidität und die Funktionstüchtigkeit der Zellmembran aufrechtzuerhalten. Mehrfach ungesättigte Fettsäuren mit 20 Kohlenstoffatomen wie die Eicosapentaensäure haben außerdem Wirkungen auf die Signaltransduktion. Sie ändern die über m-RNA (Messenger-Ribonukleinsäure) vermittelte Antwort der Zelle auf einen äußeren Reiz. Die Anreicherung der Fischölfettsäuren im Gewebe zu ausreichenden Konzentrationen erfolgt langsam (Arterburn et al. 2006). Deshalb haben sie keine akuten Effekte, wirken aber länger und haben weniger Nebenwirkungen als NSAR (nichtsteroidale Antirheumatika) oder Kortikosteroide (Adam 2007b).
7.2
Stoffwechsel und Funktion mehrfach ungesättigter Fettsäuren
Ungesättigte Fettsäuren werden entsprechend der ersten Doppelbindung in der Kohlenstoffkette, vom Methylende der Fettsäure ausgehend, klassifiziert (. Abb. 7.2). Die am 9. Kohlenstoffatom (von »hinten« aus gerechnet, daher nach dem letzten Buchstaben im griechischen Alphabet, Omega: ω-9) einfach ungesättigte Ölsäure können sowohl Pflanzen als auch Tiere und Mensch bilden. Sie kann vom Menschen zu mehrfach ungesättigten Fettsäuren umgewandelt werden. Diese ω-9-Fettsäuren haben aber keine den essenziellen Fettsäuren vergleichba-
7
re Wirkung und werden nur bei Linolsäuremangel gebildet. Die mehrfach ungesättigte Linolsäure hat die erste Doppelbindung am 6. (ω-6) Kohlenstoffatom. Sie kann vom Menschen nicht gebildet werden und ist deshalb essenziell, ebenso die Alpha-Linolensäure mit der ersten Doppelbindung am 3. (ω-3) Kohlenstoffatom. Sie werden mit pflanzlicher Nahrung aufgenommen und durch Kettenverlängerung und weitere Desaturierungsschritte, die immer in Richtung des reaktionsfähigen Carboxylendes erfolgen, zu längerkettigen und höher ungesättigten Fettsäuren aufgebaut. Landtiere bilden so vor allem Arachidonsäure, Meerestiere hauptsächlich Eicosapentaensäure. Wichtige Funktionen machen Linolsäure und Alpha-Linolensäure zu essenziellen Bestandteilen der Nahrung von Mensch und Tier (Adam 2005b): 4 Strukturell sind sie wesentliche Elemente der Phosphatide, also Bausteine der Zellwand jeder einzelnen Körperzelle. 4 Funktionell beeinflussen sie die Aktivität von Enzymen der Zellwand, sie regulieren den Wasser-, Salz- und Energiehaushalt der Zelle. 4 Im Stoffwechsel der Tiere entstehen aus ihnen Dihomogamma-Linolensäure, Arachidonsäure und Eicosapentaensäure, die Ausgangssubstanzen für Eicosanoide, Lipoxine und Hydroxyfettsäuren sind. Diese Effektoren und Mediatoren wirken auf viele rezeptorgesteuerte Funktionen der Zelle.
7.3
Mehrfach ungesättigte Fettsäuren in unserer Nahrung
Das Verhältnis der einzelnen mit der Kost aufgenommenen ungesättigten Fettsäuren zueinander, mehr noch als ihre absolute Menge, bestimmt das Ausmaß der Eicosanoidbildung. Sie haben nicht nur unterschiedliche Wirkungen, sie beeinflussen sich auch gegenseitig im Stoffwechsel.
88
1
Kapitel 7 · Prophylaxe und Therapie mit Fischölfettsäuren
. Abb. 7.2 Stoffwechsel und Nomenklatur der Fettsäuren. Pflanzen sind zur Synthese der mehrfach ungesättigten Fettsäuren befähigt. In ihnen entstehen ω-3- und ω-6-Fettsäuren meist nur bis zu einer Kettenlänge von 18 Kohlenstoffatomen. Landtiere bilden Arachidonsäure aus Linolsäure, während Fische vor allem Eicosapentaensäure aus Alpha-Linolensäure aufbauen
1 2 3 4 5 6 7 8 9.
Kohlenstoffatom
2
COOH
3
6
9
Ölsäure COOH
4
3
6
9
Linolsäure
5
COOH 6
6
9
12 alpha-Linolensäure COOH gamma-Linolensäure
7 8
6
9
12
COOH
9 10
15
Arachidonsäure 3 6
9
12
15 COOH
11 Eicosapentaensäure
12 13 14 15 16 17 18 19 20
7.3.1
ω-6-Fettsäuren
Linolsäure ist in unserer Nahrung quantitativ die bedeutendste mehrfach ungesättigte Fettsäure, die Zufuhr beträgt derzeit 10–18 g pro Tag, hauptsächlich über pflanzliche Öle und Fette (. Tab. 7.1). Linolsäure findet sich in hoher Konzentration im Distelöl (Safloröl, 74 % der darin enthaltenen Fettsäuren), Walnussöl (57 %), Weizenkeimöl (56 %) und Maiskeimöl (50 %). Dagegen werden nur 0,01– 0,02 g Gamma-Linolensäure aufgenommen, vor allem mit Fleisch und Fleischprodukten. Nur wenige Pflanzen bilden größere Mengen. Man findet sie im Öl der Nachtkerze, im Kernöl der schwarzen Johannisbeere und im Borretschöl, im Handel sind Konzentrate in Kapselform erhältlich. Es gibt eine umfangreiche Literatur über die Wirkungen des aus Dihomogamma-Linolensäure (ω-6) gebildeten
PGE1, diese Fettsäure wird für die meisten der Indikationen des Fischöleinsatzes ebenfalls empfohlen (Adam 2002). Besondere Stoffwechselfunktionen und sogar einen eigenen Stoffwechselweg, der zur Anreicherung im Körper fuhrt, hat die Arachidonsäure. Diese mehrfach ungesättigte Fettsäure kommt ausschließlich im tierischen Organismus vor (. Tab. 7.2). Mit dem bei uns üblichen hohen Konsum von Fleisch und Fleischwaren werden täglich 0,2–0,4 g Arachidonsäure zugeführt. Der besondere Stoffwechselweg schützt sie vor der Oxidation zur Energiegewinnung, fast 90 % der aufgenommenen Arachidonsäure gelangen unverändert in die Körperzellen und stehen für die Bildung von Eicosanoiden zur Verfugung. Wie alle Tiere, kann auch der Mensch Linolsäure zu der höher ungesättigten und längerkettigen
7
89 7.3 · Mehrfach ungesättigte Fettsäuren in unserer Nahrung
. Tab. 7.1 Gehalt an Linol- und Alpha-Linolensäure in einigen Fetten und Ölen (aus Adam 2002) Linolsäure [g/100 g essbarer Anteil] Butter
Alpha-Linolensäure [g/100 g essbarer Anteil]
1,80
0,50
Diätmargarine
46,30
0,40
Distelöl (Safloröl)
74,00
0,47
Kokosöl
1,40
0,00
Kürbisöl
51,00
0,48
Leinöl
13,40
55,30
. Tab. 7.2 Gehalt an Arachidon- und Eicosapentaensäure. Landtiere haben vor allem die entzündungsfördernde Arachidonsäure, Meerestiere die entzündungshemmende Eicosapentaensäure, die deren Arachidonsäureanteil aufwiegt (aus Adam 2002) Lebensmittel
Arachidonsäure [mg] [mg/100 g essbarer Anteil]
Eicosapentaensäure [mg] [mg/100 g essbarer Anteil]
Nahrungsmittel tierischer Provenienz Kuhmilch (3,5 % Fett)
4
–
Kuhmilch (1,5 % Fett)
2
–
5
–
70
–
50,00
0,90
Speisequark (20 % Fett i. Tr.)
8,00
0,95
Hühnerei (Gesamtei)
Pflanzenmargarine
23,10
2,40
Eigelb
297
–
Rüböl (Raps)
19,10
8,60
Huhn
42
–
Sesamöl
42,50
0,00
Maiskeimöl Olivenöl
Sojaöi
53,40
7,60
Sonnenblumenöi
60,20
0,50
Walnussöl
57,50
13,40
Weizenkeimöl
55,80
8,90
49
–
Kalbfleisch (Muskel)
62
–
Schweinefleisch
96
–
83
–
Schweineschmalz
1.700
–
Diätmargarine
–
–
Olivenöl
–
–
Fette und Öle
Arachidonsäure aufbauen. Der Stoffwechselweg ist in . Abb. 7.3 dargestellt.
7.3.2
Rindfleisch
ω-3-Fettsäuren
Die Alpha-Linolensäure steht quantitativ an zweiter Stelle der mit unserer Kost aufgenommen mehrfach ungesättigten Fettsäuren (. Tab. 7.1). Sie wird vor allem von Algen gebildet, findet sich aber auch in den grünen Anteilen der Pflanzen und in höherem Umfang im Leinöl (56 %), Walnussöl (13 %), Rapsöl (9 %) und Sojaöl (8 %). Üblicherweise sind in unserer täglichen Nahrung 1–2 g dieser mehrfach ungesättigten Fettsäure enthalten. Eicosapentaensäure wird in nennenswertem Umfang ausschließlich mit Fischen und anderen Wassertieren zugeführt, die diese Fettsäure aus Alpha-Linolensäure bilden
Butter
Fische und andere Meerestiere Heilbutt
57
190
Makrele
120
690
Forelle
30
150
Karpfen
190
210
Lachs
300
700
40
50
Miesmuschel Obst, Salate, Kartoffeln, Gemüse und Nüsse
–
–
(. Tab. 7.2). In Deutschland liegt die durchschnittliche Zufuhr bei 0,1–0,2 g pro Tag, während Eskimos mit ihrer fischreichen Kost etwa 10 g pro Tag aufnehmen.
90
1
Kapitel 7 · Prophylaxe und Therapie mit Fischölfettsäuren
Stoffwechsel und Nomenklatur der Fettsäuren in Tieren und Menschen
18:2 18:3 20:3 20:4
3 4
(LA) Delta-6-Desaturase Elongase
(DHGL) Delta-5-Desaturase
(AA)
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
omega-3
omega-6
2
18:3 18:4 20:4 20:5 22:5 22:6
(LEA) Delta-6-Desaturase Elongase Delta-5-Desaturase
(EPA) (DPA) (DHA)
. Abb. 7.3 Bildung von Eicosanoiden aus mehrfach ungesättigten Fettsäuren. ω-6- und ω-3-Fettsäuren werden über dasselbe Enzymsystem zu den längerkettigen und höher ungesättigten Fettsäuren aufgebaut. Die Umwandlung einer ω-6- in eine ω-3-Fettsäure ist im Menschen nicht möglich. LA Linolsäure, DHGL Dihomogamma-Linolensäure, AA Arachidonsäure, LEA Alpha-Linolensäure, EPA Eicosapentaensäure, DPA Docosapentaensäure, DHA Docosahexaensäure. Die erste Zahl (z. B. 18 für Linolsäure) gibt die Anzahl der Kohlenstoffatome, die zweite Zahl (z. B. 2 für Linolsäure) die Anzahl der Doppelbindungen im Molekül an.
Eicosapentaensäure ist die ω-3-Fettsäure mit den wichtigsten Stoffwechselfunktionen. Docosapentaensäure hat nur untergeordnete Bedeutung Docosahexaensäure ist dagegen ein wichtiges Strukturlipid in allen Nervengeweben, den Gonaden und der Retina. Möglicherweise spielt sie auch, nach Retrokonversion zu Eicosapentaensäure, für die Hemmung der Eicosanoidbildung eine Rolle.
7.4
Eicosanoidbildung beim Menschen
15 16 17 18 19 20
Eicosanoide können aus den drei mehrfach ungesättigten Fettsäuren mit 20 (griechisch: eicosa) Kohlenstoffatomen entstehen (. Abb. 7.4). Biologisch bedeutsame Eicosanoide werden aber nur aus Arachidonsäure gebildet. Die Eicosanoide aus Dihomogamma-Linolensäure und Eicosapentaensäure werden nur unter extrem hoher Zufuhr dieser Fettsäuren in verschwindend geringem Umfang gebildet und haben kaum biologische Funktionen. Während die Bildung der Arachidonsäure im Stoffwechsel unter der bei uns üblichen Kost gering ist, wird die mit Nahrungsmitteln tierischer Herkunft aufgenommene Arachidonsäure äußerst effizient in die Zellen eingebaut. Dort steht sie der Bil-
dung von Eicosanoiden zur Verfügung. Je höher die Konzentration der Arachidonsäure in der Zelle ist, desto größer ist die Menge der auf einen Reiz hin gebildeten Eicosanoide. Die in der Nahrung enthaltenen mehrfach ungesättigten Fettsäuren modulieren die Bildung der Eicosanoide, indem sie den Stoffwechsel der Arachidonsäure verändern. Linolsäure kann durch Substratinhibition die körpereigene Bildung der Arachidonsäure hemmen. Dabei kommt es vor allem zu einer Verminderung des Thromboxans und der Leukotriene. Die klinische Bedeutung dieser Reaktion liegt in der Prävention der Atherogenese und der Hypertonie (Adam 1990). Alpha-Linolensäure hat erst eine eigene Wirkung auf die Eicosanoidbildung, wenn aus ihr im Stoffwechsel Eicosapentaensäure entstanden ist (. Tab. 7.3).
7.5
Fischölfettsäuren hemmen die Eicosanoidsynthese
Die vermehrte Bildung von Eicosanoiden hat für die entzündliche, immunologische, allergische und replizierende Funktionen der Zelle große Bedeutung. Bei den entzündlichen und immunologischen Reaktionen der Zelle wurde eine vermehrte
7
91 7.5 · Fischölfettsäuren hemmen die Eicosanoidsynthese
Eicosanoide aus mehrfach ungesättigten Fettsäuren Fettsäure DihomogammaLinolensäure
Prostaglandine PG D1, E1, F1
Leukotriene LT A3, B3, C3, D3
Arachidonsäure
PG D2, E2, F2 Thromboxan A2 Prostacyclin I2
LT A4, B4, C4, D4 Hydroxyfettsäuren Lipoxin A, B
Eicosapentaensäure
PG D3, E3, F3 Thromboxan A3 Prostacyclin I3
LT A5, B5, C5, D5
. Tab. 7.3 Wirkung der ω-6- und ω-3-Fettsäuren auf die Bildung von Eicosanoiden im Menschen Fettsäure
Wirkung auf die Eicosanoidbiosynthese
. Abb. 7.4 Eicosanoide werden aus den mehrfach ungesättigten Fettsäuren mit 20 Kohlenstoffatomen gebildet. Dihomogamma-Linolensäure kann nicht zu Thromboxan umgewandelt werden, es entstehen aus ihr Eicosanoide mit einer Doppelbindung weniger als die der Arachidonsäure. Eicosapentaensäure wird zu Eicosanoiden mit einer Doppelbindung mehr als die der Arachidonsäure umgewandelt. LT Leukotriene, PG Prostaglandine
. Tab. 7.4 In Industrienationen verbreitete Krankheiten, die mit einer gesteigerten Bildung von Eicosanoiden einhergehen Kardiologisch
ω-6 Linolsäure
TX, LT ↓, PGE2 ↑
Arachidonsäure
Alle Eicosanoide ↑
ω-3 Alpha-Linolensäure Eicosapentaensäure
Wirkt erst nach Umwandlung in Eicosapentaensäure Alle Eicosanoide ↓
LT Leukotriene, PG Prostaglandine, TX Thromboxan
Bildung von Thromboxan und Leukotrienen nachgewiesen. Bei der Arteriosklerose trägt die gesteigerte Thromboxanbildung über den Gefäßplaques entscheidend zum Fortschreiten des obliterierenden Prozesses und damit zum endgültigen Gefäßverschluss bei. Allergische Reaktionen sind mit einer gesteigerten Leukotrienbildung verbunden und bei Neoplasien wird häufig eine gesteigerte Bildung des Thromboxan gefunden. Prostaglandine und Leukotriene sind an der Gelenkentzündung bei chronischer Polyarthritis und an allen immunologischen Reaktionen beteiligt, beispielsweise beim Asthma bronchiale oder bei Kollagenosen. Auch viele andere Krankheiten, die in Industrienationen besonders häufig auftreten, gehen mit einer gesteigerten Bildung von Eicosanoiden einher (. Tab. 7.4). Hemmstoffe der Eicosanoidbiosynthese haben sich als wirksame Therapeutika bei vielen sogenannten Zivilisationskrankheiten erwiesen. Nied-
Immunologisch
Gastrointestinal
Hyperlipidämien
TXA2
Arteriosklerose
TXA2
Hypertonie
TXA2
Rheumatoide Arthritis
PGE2, LTB4
Kollagenosen
PGE2, TXA2, LTB4
Morbus Crohn
PGE2, TXA2, LTB4
Colitis ulcerosa
PGE2, TXA2, LTB4
Zerebral Multiple Sklerose
LTB4, TXA2
Renal
IgA-Nephritis
PGE2, PGI2
Pulmonal
Asthma bronchiale
PGE2, TXA2
Metabolisch
Diabetes mellitus
LTB4, TXA2
Neoplastisch
Onkogenese
PGE2, TXA2
Metastasierung
PGE2, TXA2
LTB4 Leukotrien B4, PGE2 Prostaglandin E2, PGI2 Prostaglandin I2, TXA2 Thromboxan A2
rig dosiertes Aspirin war in klinischen Studien in der Prävention arteriosklerotischer Folgekrankheiten wie dem Herzinfarkt, dem Schlaganfall und der peripheren Angiopathie erfolgreich. Aspirin erwies sich in der sekundären Prävention des Herzinfarktes als so wirksam, dass der Versuch vorzeitig beendet werden konnte (Bartolucci und Howard 2006, Eidelman et al. 2003). NSAR sind die am häufigsten verordneten Medikamen-
92
Kapitel 7 · Prophylaxe und Therapie mit Fischölfettsäuren
1 2 3 4 5
Arachidonsäure in der Zellwand Kortison Freisetzung der Arachidonsäure Kompetitive Hemmung
Irreversible Hemmung Nicht-steroidale Antirheumatika
Eicosapentaensäure
. Abb. 7.5 Hemmstoffe der Eicosanoidbildung: Das Glukokortikoid Kortison hemmt die Freisetzung der Arachidonsäure und damit die Bildung aller Eicosanoide. Nichtsteroidale Antirheumatika hemmen nur die Prostaglandinbildung irreversibel, während Fischölfettsäuren wie Eicosapentaensäure kompetitive Hemmstoffe aller eicosanoidbildenden Enzyme sind (ω-6Serie: PGE2, TXA2, PGI2, LTB4; ω-3-Serie: PGE3 , TXB3, PGI3, LTB5)
6 7
Umwandlung in Eicosanoide Omega-6-serie
Omega-3-serie
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
te bei entzündlichen Gelenkerkrankungen, und Glukokortikoide finden eine breite Anwendung bei allergischen und immunologischen Erkrankungen. NSAR hemmen vor allem die Bildung der Prostaglandine aus Arachidonsäure durch die Cyclooxigenase, während Glukokortikoide bereits die Freisetzung der Arachidonsäure hemmen und damit die Bildung aller Eicosanoide vermindern. Diese pharmakologischen Therapeutika bewirken eine irreversible Hemmung der Enzyme. Erst neu gebildetes Enzym kann wieder aktiv werden (Missler-Karger 2007). Im Gegensatz dazu sind Fischölfettsäuren kompetitive Hemmstoffe aller eicosanoidbildenden Enzyme (. Abb. 7.5). Die Eicosapentaensäure ist von den Fischölfettsäuren der potenteste Hemmstoff. Diese Wirkung ist durch ihre chemische Struktur bedingt: Sie gleicht der Arachidonsäure völlig, bis auf eine zusätzliche – und entscheidende – Doppelbindung. Während Arachidonsäure rasch und vollständig zu Eicosanoiden umgesetzt wird, ist dies für Eicosapentaensäure nicht der Fall. Sie blockiert das Enzymsystem und vermindert kompetitiv die Bildung von Eicosanoiden aus Arachidonsäure. Deshalb eignen sich Fischölfettsäuren als Therapeutika bei allen Krankheiten, die mit einer gesteigerten Eicosanoidbildung einhergehen (. Tab. 7.4).
Die Wirksamkeit wird von dem Verhältnis zwischen Arachidonsäure und Eicosapentaensäure in der Zelle bestimmt. Ein höheres Arachidonsäureangebot hebt die Wirkung der Fischölfettsäuren wieder auf, niedrigere Arachidonsäurekonzentrationen verstärken die Wirkungen der Eicosapentaensäure.
7.6
Weitere Wirkungen der Fischölfettsäuren
Als strukturell essenzielle Bestandteile der Zellmembranen sind ω-3-Fettsäuren vor allem im Gehirn, der Retina und in den Gonaden in hoher Konzentration vorhanden. Sie verändern auch die Oberflächenstruktur der Lipoproteine. Dies bewirkt eine Verkleinerung der Chylomikronen und VLDL (Very Low Density Lipoprotein) im Blut. Auch die LDL (Low Density Lipoprotein) verkleinern sich unter Fischölfettsäuren und werden zu HDL (High Density Lipoprotein), deren Fraktion im Serum steigt an. Da die Chylomikronen-Remnants und die VLDL mit dem Auftreten der Arteriosklerose korrelieren und die HDL antiatherogen wirken, wurden ω-3-Fettsäuren bei Fettstoffwechselstörungen, die mit einer Vermehrung der VLDL einhergehen (Hypertriglyceridämien), als Therapeuti-
93 7.8 · Therapierichtlinien
ka zugelassen. Zudem konnte gezeigt werden, dass Fischölfettsäuren die hepatische Triglyceridsynthese senken und Wirkungen auf die lipidbildenden Enzyme haben. Der Einbau mehrfach ungesättigter Fettsäuren erhöht die Verformbarkeit der Zellmembran, die Fluidität der Zelle nimmt zu. Hierdurch kann zum Beispiel die Verformbarkeit der Erythrozyten gesteigert werden, was mit einer vermehrten Fließfähigkeit des Blutes in Zusammenhang gebracht worden ist. Aber auch die Aktivität von Enzymen, die sich in der Zellmembran befinden, wird durch die Änderung der Fluidität beeinflusst. So konnte durch vermehrte Gabe von ω-3-Fettsäuren eine Verminderung der Fettsäuresynthese (Acetyl-CoACarboxylase, Fettsäuresynthetase, Malatenzym und Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase), aber auch eine Beeinflussung der natriumtransportierenden Enzyme gezeigt werden (Adam 2004a). Die Veränderungen der Zellmembran bewirken auch Änderungen des Elektrolythaushaltes und der Rezeptorfunktionen der Zelle. Dies konnte an Thrombozyten und auch an Leukozyten gezeigt werden, die bei der Arteriosklerose sowie bei immunologischen und allergischen Reaktionen wichtige Rollen spielen. Epidemiologische Untersuchungen haben gezeigt, dass Volksgruppen mit niedrigem Arachidonsäureverzehr (beispielsweise mediterrane Völker) eine niedrigere Inzidenz an Herzinfarkten haben als weiter nördlich wohnende Volksgruppen mit einem besonders hohen Fleischverzehr. Die gleiche Beobachtung gilt für Volksgruppen mit hohem Konsum an Fischölfettsäuren (Japaner, Eskimos). Bei ihnen ist die Häufigkeit der eicosanoidabhängigen Krankheiten deutlich niedriger als in Industrienationen. Allerdings treten häufiger Infektionen auf, möglicherweise weil Fischölfettsäuren die Abwehrkräfte abschwächen.
7.7
Nebenwirkungen der Fischölfettsäuren
Nebenwirkungen durch Fischölfettsäuren sind nur unter hohen Dosen zu erwarten, die eigentlich nur mit Fischölkonzentraten erreicht werden können. Die wichtigste Nebenwirkung einer Supplementie-
7
rung mit Fischölfettsäuren ist der erhöhte Bedarf an Antioxidanzien, wie er bei Zufuhr mehrfach ungesättigter Fettsäuren regelmäßig auftritt. Wegen der großen Zahl an Doppelbindungen sind sie besonders oxidationsgefährdet. Es kommt zur Bildung von Lipidperoxiden, die zellschädigend wirken. Deshalb sollte eine Supplementierung mit mehr als 4 g Fischöl pro Tag, vor allem über einen längeren Zeitraum, nur unter genauer Überwachung des Patienten durchgeführt werden. Unter dieser Dosierung kann es zu einer klinisch relevanten Verlängerung der Blutungszeit kommen, die möglicherweise zum vermehrten Auftreten des Apoplex bei Grönlandeskimos beiträgt (Dyerberg u. Bjerregaard 1987). Völker mit hohem Fischverzehr haben zwar weniger Herzinfarkte und immunologisch bedingte Krankheiten (Dyerberg u. Bjerregaard 1987), die durchschnittliche Lebenserwartung ist aber meist nicht höher als in den Industrienationen, bei den Grönlandeskimos beträgt sie 52 Jahre. Die häufigste Todesursache der Grönlandeskimos sind Infektionskrankheiten wie die Tuberkulose und Virusinfekte. Fischölfettsäuren haben in pharmakologischer Dosierung eine ausgeprägte immunsuppressive Wirkung. Sie verdrängen die Arachidonsäure, vermindern die Bildung von Interleukinen und Interferonen und behindern hierdurch die Keimelimination. Nachgewiesen wurde eine Verminderung der T-Zellfunktion, der natürlichen Killerzellaktivität und der Zytotoxizität der Makrophagen (Lim et al. 2007). Die Hemmung der Prostaglandinbiosynthese wurde auch mit dem verzögerten Geburtsvorgang bei den Müttern der Faröer-Inseln unter deren fischreicher Kost in Zusammenhang gebracht (Adam 2005a). Fischölfettsäuren sollten deshalb nicht zur Kompensation einer überhöhten Arachidonsäurezufuhr verwendet werden, sondern immer als Therapeutika im Rahmen einer gesunden Kost (DGE 2006).
7.8
Therapierichtlinien
Meist sind wegen der möglichen unerwünschten Wirkungen des Fischöls unterstützende diätetische Maßnahmen, wie die Beschränkung gesättigter Fette oder eine arachidonsäurearme Ernährung,
94
1 2
Kapitel 7 · Prophylaxe und Therapie mit Fischölfettsäuren
zusätzlich angezeigt. So gut wie nie ist die Behandlung mit Fischöl die einzige Therapie; vielmehr wird sie zur Verminderung der erforderlichen Medikamente als adjuvante Maßnahme eingesetzt. Zu den mit Fischöl therapierbaren Erkrankungen gehören:
3 4
7.8.1
Kardiovaskuläre Erkrankungen
Wie hoch ist die Dosierung? Studien haben gezeigt,
dass eine Dosis-Wirkungs-Beziehung besteht. Je mehr Fischöl zugeführt wird, desto größer war der Effekt auf die Triglyceride. In den relevanten Studien wurden 3–4 g Fischölfettsäuren pro Tag gegeben (Goldberg u. Sabharwal 2008). Bei einer nach den Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) definierten, gesunden Kost, die wenig gesättigte Fettsäuren enthält, genügen 2 g pro Tag.
Hyperlipidämien
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Welche Patienten kommen in Betracht? Zahlrei-
Was ist zu beachten? Eine hohe Supplementie-
che klinische Studien haben gezeigt, dass Fischölfettsäuren die Triglyceride, vor allem bei hohen Ausgangswerten, senken – kaum aber das Cholesterin im Serum. Dies beruht auf der Hemmung der hepatischen Triglyceridsynthese und der Verschiebung der VLDL in die LDL-Fraktion. Dadurch kann es zu einer Erhöhung der LDL-Fraktion und damit zu einem Anstieg des LDL-Cholesterin kommen (Kestin et al. 1990). Gleichzeitig beobachtet man aber auch einen Anstieg des HDL-Cholesterins, das vor kardiovaskulären Erkrankungen schützt (Goldberg u. Sabharwal 2008). Bevorzugt profitieren von der Fischöltherapie Patienten mit erhöhten Triglyceridspiegeln und normalem LDL-Cholesterin.
rung mit Fischöl erhöht den Bedarf an Antioxidanzien, und die Lipidperoxide nehmen zu. Bei hoher Supplementierung (mehr als 2 g pro Tag) sollte zusätzlich Vitamin E in einer Dosierung bis zu 50 I. E. Alpha-Tocopherol gegeben werden.
Wie sicher ist die Wirkung? Der triglyceridsenkende Effekt der Fischölfettsäuren ist durch zahlreiche Studien gesichert. Mehrere Wirkungen der Fischölfettsäuren wurden nachgewiesen: 4 Verminderung der freien Fettsäuren im Plasma 4 geringere Bildung von Chylomikronen im Darm 4 geringere hepatische Bildung und Freisetzung der VLDL 4 gesteigerter Abbau der Chylomikronen 4 stärkere Umwandlung der VLDL in LDL
Die Wirkung der Fischölfettsäuren konnte gesteigert werden, wenn gleichzeitig die gesättigten Fette in der Nahrung vermindert wurden (Adam et al. 2003). Ob diese Wirkung allerdings zu einer Hemmung der Atherogenese führt, ist nicht eindeutig gezeigt. Vielmehr dürften hierzu auch die Besserung der Fluidität der Erythrozyten und damit der Durchblutung, die Hemmung proaggregatorischer Eicosanoide und die Verminderung proliferationsfördernder Substanzen beitragen.
Prävention der Arteriosklerose Welche Patienten kommen in Betracht? Patienten mit mehreren Risikofaktoren profitieren am meisten von der Medikation mit Fischöl. Teilaspekte, die durch Fischöl günstig beeinflusst werden, sind: 4 Senkung der Triglyceride, des Fibrinogens, der Thrombozytenaggregation und -adhäsion 4 Steigerung des Plasminogen-Aktivator-Inhibitors (PAI) 4 Verminderung atherogener Eicosanoide 4 Wirkung auf den Blutdruck 4 Hemmung der Entzündungsreaktion Wie sicher ist die Wirkung? Epidemiologische
Untersuchungen an Grönlandeskimos, Japanern und anderen Volksgruppen mit hohem Fischverzehr sprechen für eine präventive Wirkung des Fischöls (Lee et al. 2008). Der überzeugendste Nachweis für einen Schutz vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Fischölfettsäuren kommt von 3 großen kontrollierten Studien mit insgesamt 32.000 Teilnehmern. Randomisiert erhielten sie entweder ω-3Supplemente, die EPA (Eicosapentaensäure) und DHA (Docosapentaensäure) enthielten, oder Placebo. Diese Studien zeigten eine Verminderung kardiovaskulärer Ereignisse um 19–45 %. In der japanischen JELIS-Studie (Japanese Lipid Intervention Study) wurden 18.645 Patienten mit Hypercholesterinämie (70 % Frauen, Durchschnittsalter 61 Jahre) randomisiert der Behandlung mit Statinen als
95 7.8 · Therapierichtlinien
Monotherapie oder Statinen plus 1,8 g/Tag Ethylester zugeteilt. Während der 5 Jahre Beobachtungszeit verminderte EPA das Auftreten schwerwiegender kardiovaskulärer Ereignisse um 19 %. Wie hoch ist die Dosierung? Die amerikanischen Ernährungsgesellschaften empfehlen eine Zufuhr von 1 g EPA und DHA für Personen mit bereits bekannter Koronarer Herzkrankheit (KHK) und von 500 mg für die primäre Prävention (Wang et al. 2006). Mit 2 Mahlzeiten fettreicher Fische pro Woche können werden etwa 500 mg EPA und DHA, die für primäre Prävention erforderliche Menge an Fischölfettsäuren, zugeführt. Für die sekundäre Prävention muss auf Supplemente zurückgegriffen werden Was ist zu beachten? Während Studien, die mit fischreicher Kost durchgeführt wurden, fast immer einen günstigen Effekt auf das Überleben ergaben, ist dies für die Supplementierung nicht eindeutig.
Prävention von Restenosen Welche Patienten kommen in Betracht? Die in
den ersten Studien berichteten Erfolge in der Prävention von Restenosen nach erfolgreicher Ballondilatation oder Stent-Implantation (Slack et al. 1987) konnten in den Folgestudien nicht mehr bestätigt werden (Reis et al. 1989, DeCaterina et al. 1996). In einer Metaanalyse von 12 Studien, die Restenosen nach Angioplastik untersuchte, fand sich ein Risiko für eine Restenose unter Fischöl von 0.87 (95 % Confidenz-Intervall/CI 0.73, 1.05) für die untersuchten 12 randomisieren und kontrollierten Studien. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass der Effekt des Fischöls klein oder nicht vorhanden ist (Balk et al. 2006). Dabei wurden die Bedeutung einer gesunden Ernährung und die Wirkung einer erhöhten Zufuhr der Alpha-Linolensäure neu bestätigt, da diese mehrfach ungesättigte Fettsäure auch im Menschen zu den Fischölfettsäuren aufgebaut wird und zudem eigene Wirkungen auf die Membran- und die Thrombozytenfunktion hat. Zur Therapie kommen Patienten nach koronarer Angioplastie in Betracht, die eine nachgewiesene Überempfindlichkeit gegen Thrombozytenaggregationshemmer haben.
7
Wie sicher ist die Wirkung? Im Vergleich zu Ace-
tylsalicylsäure (ASS) oder Antikoagulanzien ist die Wirkung der Fischölfettsäuren geringer. Allerdings scheinen Fischölfettsäuren in Kombination mit anderen ernährungstherapeutischen Maßnahmen den Langzeiteffekt zu verbessern (Balk et al. 2006). Wie hoch ist die Dosierung? Therapeutisch wer-
den täglich 3–6 g Fischölfettsäuren verwendet. Was ist zu beachten? Die Wirkung der Fischölfett-
säuren ist für diese Indikation nicht ausreichend gesichert. Eine Behandlung mit ASS oder Antikoagulanzien ist effektiver. Als adjuvante Therapie sind Fischölfettsäuren dagegen anzuraten, besonders beim Bestehen weiterer Risikofaktoren.
Arrhythmien Welche Patienten kommen in Betracht? Vor
allem Patienten nach Koronarinfarkt sind für die Sekundärprävention geeignet (Leaf et al. 2003). Die Mehrheit der Beobachtungsstudien zeigt eine Verminderung des plötzlichen Herztodes durch ω-3-Fettsäuren, der fast immer durch ventrikuläre Arrhythmien ausgelöst wird. Allerdings gibt es auch Hinweise, dass auch bei nicht ischämisch ausgelösten ventrikulären Tachykardien ω-3Fettsäuren einen nachteiligen Effekt haben können. Am überzeugendsten war die antiarrhythmische Wirkung in kleineren Studien, bei denen präoperativ ω-3-Fettsäuren gegeben wurden. Die postoperativen Arrhythmien wurden signifikant vermindert (Cheng 2008). Wie sicher ist die Wirkung? Personen mit modera-
tem Fischverzehr haben in epidemiologischen Studien ein um 50 % vermindertes Risiko, an plötzlichem Herztod zu sterben. Dabei ist das Risiko zu der Menge an ω-3 Fischölfettsäuren in den Zelllipiden negativ korreliert. In der DART-Studie (Diet and Reinfarction Trial) wurde bereits 1989 eine Verminderung des plötzlichen Herztodes um 29 % durch 2 Fischmahlzeiten pro Woche bei Männern nach einem Herzinfarkt gefunden (Burr et al. 1989). 10 Jahre später bestätigte die GISSI-Prevention-Studie (Gruppo Italiano per lo Studio della Sopravvivenza nell’Infarto Miocardico) diese Wirkung. Durch die Gabe von einer Fischölkapsel pro Tag
96
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kapitel 7 · Prophylaxe und Therapie mit Fischölfettsäuren
(0,85 g ω-3) verminderte sich die Zahl plötzlicher Herztode um 45 %. In der sekundären Prävention konnte eine Dosis-Wirkungs-Beziehung für ω-3Fettsäuren bis zu einer Dosierung von 6,6 g Fischöl festgestellt werden (Christensen 2003). Man nimmt an, dass ω-3-Fettsäuren einen indirekten Effekt auf das autonome Nervensystem ausüben, indem sie die Wirkung proarrhythmischer adrenerger Signale und auch die Funktion der schnellen Natrium- und Kalziumkanäle vermindern. Darüber hinaus mindern sie das Ungleichgewicht der ω-6-/ω-3-Fettsäuren, das bei Angehörigen der Industrienationen vorliegt, und haben entzündungshemmende Effekte. Unterstützt wird die Ansicht durch die Beobachtung, dass Linolsäure ebenfalls Arrhythmien verhindert, sich die einfach ungesättigte Ölsäure neutral verhält, während gesättigte Fettsäuren, trans-Fettsäuren und Arachidonsäure Arrhythmien verstärken (Zorn 1997). Wie hoch ist die Dosierung? Die Studien zei-
gen, dass eine Wirkung in der Langzeitbehandlung bereits mit 0,5–1,0 g Fischölfettsäuren erzielt werden kann, während für akute Effekte 3–4 g Fischölfettsäuren erforderlich sind.
12 13 14 15 16 17 18 19 20
Was ist zu beachten? Antiarrhythmika der Klasse I und II haben keine Besserung der Lebenserwartung bewirkt, für Amiodaron und Sotalol sind die Ergebnisse uneinheitlich (You 2007). Deshalb ist die Beobachtung einer antiarrhythmischen Wirkung der Fischölfettsäuren besonders interessant. Klinische Studien müssen noch zeigen, ob die bisher nachgewiesene antiarrhythmische Wirkung auch zu einer Zunahme der Lebenserwartung führt. In einer Studie von Frost und Vestergaard (2005) über 5,7 Jahre konnte keine Verminderung ventrikulärer Tachykardien oder von Kammerflimmern durch Fischöl festgestellt werden.
kaliumreichen Kost einen additiven Effekt hat. Die blutdrucksenkende Wirkung der Fischölfettsäuren wird auf eine verminderte Wirkung vasopressorischer Substanzen, wie Noradrenalin und Thromboxan, zurückgeführt (Breslow 2006, Lane et al. 2008). Wie sicher ist die Wirkung? Der Nettoeffekt der Fischölfettsäuren auf den Blutdruck ist gering. Neben einer Senkung des systolischen und diastolischen Blutdrucks (Knapp 1996, Calder 2004) oder einem ausbleibenden Blutdruckanstieg während Adrenalininfusion (Mori et al. 2000) wird auch ein fehlender Effekt oder ein Blutdruckanstieg berichtet (Adam 2004b). Andere diätetische Maßnahmen, wie Gewichtsreduktion, Verzicht auf übermäßigen Alkoholkonsum, verstärkte Kaliumzufuhr und Kochsalzrestriktion, sind weitaus wirksamer (Langer 2007). Wie hoch ist die Dosierung? Die bisher vorliegenden Studien, die mit 2–3 g Fischölfettsäuren täglich durchgeführt worden sind, wurden nicht bezüglich anderer blutdrucksenkender Ernährungsfaktoren kontrolliert. Eine sichere Senkung des systolischen und diastolischen Blutdrucks wurde nur mit 15 g Fischölfettsäuren pro Tag erreicht (Knapp 1996). Was ist zu beachten? Hypertonie, Fettstoffwechselstörungen, Diabetes mellitus und Arteriosklerose kommen häufig gemeinsam vor. Manchmal ist eine Supplementierung mit Fischölfettsäuren aus anderen Gründen als der Hypertonie zu erwägen.
7.8.2
Immunologische und entzündlich-rheumatische Erkrankungen
Rheumatoide Arthritis Welche Patienten kommen in Betracht? Patien-
Hypertonie Welche Patienten kommen in Betracht? Fisch-
ölfettsäuren kommen zur Blutdrucksenkung vor allem für Patienten mit einer Grenzwerthypertonie in Betracht, in Kombination mit anderen diätetischen Maßnahmen. Studien haben gezeigt, dass die Kombination mit einer salzreduzierten und
ten mit entzündlich-rheumatischen Erkrankungen, wie der rheumatoiden Arthritis, der Psoriasisarthritis oder der Spondylitis ankylosans. Goldberg und Katz (2007) kommen in einer Meta-Analyse zu dem Ergebnis, dass die Einnahme von Fischölfettsäuren die Zeichen der Arthritis bei rheumatoider Arthritis effektiv vermindert (Bolten 2007).
97 7.8 · Therapierichtlinien
Wie sicher ist die Wirkung? Eine Besserung rheumatischer Beschwerden ist nach etwa 3 Monaten zu erwarten. Adam et al. (2003) untersuchten die Wirkung einer vegetarisch orientierten Kost und einer zusätzlichen Gabe von Fischöl bei Patienten mit rheumatoider Arthritis. Dabei erwies sich die Zufuhr von EPA als additiv wirksam zu einer gleichzeitigen Senkung der ω-6-Fettsäuren (Arachidonsäure, Linolsäure) in der Nahrung. Eine Nachuntersuchung zeigte, dass eine arachidonsäurearme Kost mit Fischölfettsäuren den Langzeitverlauf der Erkrankung verbessern kann (Schnurr u. Adam 2005, Adam 2007a). In einer neuen doppelblinden placebokontrollierten randomisierten Studie wurde der klinische Nutzen von Fischöl bei rheumatoider Arthritis untersucht. Es wurde gezeigt, dass eine Supplementierung von Fischlebertran mit 2,2 g EPA und DHA pro Tag die tägliche Einnahme der nichtsteroidalen Antirheumatika bei fast 40 % der Rheumapatienten um mehr als 30 % reduzieren kann (Galarraga et al. 2008). Wie hoch ist die Dosierung? Zu Beginn der Behandlung können die Fischölfettsäuren in höheren Tagesdosen (900 mg EPA pro Tag) gegeben werden, um die Anflutzeit zu verkürzen, danach genügen 300 mg EPA pro Tag. Dies entspricht in etwa 2 Fischmahlzeiten mit fettem Fisch pro Woche. Zusätzlich werden pflanzliche Öle mit einem hohen Gehalt an ω-3-Fettsäuren (Leinöl, Rapsöl, Walnussöl) empfohlen (Ditrich 2007).
7
den. Nach Einsetzen der Wirkung der antiinflammatorischen Kost kann versucht werden, die Dosis der Pharmaka zu vermindern (Adam 2002, Hein 2007).
Kollagenosen Welche Patienten kommen in Betracht? Bisher liegt nur eine gut kontrollierte Studie mit Fischöl an Patienten mit Lupus erythematodes vor, andere Kollagenosen sind bisher nicht untersucht. Patienten mit Lupus erythematodes entwickeln doppelt so häufig wie Gesunde eine KHK, der mit ω-3Fischölfettsäuren begegnet werden kann. Diese Patienten kommen für eine Therapie mit Fischölfettsäuren in Betracht (Fernandes et al. 2008). Wie sicher ist die Wirkung? Bei Kollagenosen blieb die Fischöltherapie bisher ohne nachgewiesenen Effekt auf die Grundkrankheit (Harbige 1998). Eine doppelblinde placebokontrollierte Studie an 60 Patienten mit systemischem Lupus erythematodes von Wright et al. (2008) zeigte unter einer Zufuhr von 3 g EPA einen therapeutischen Effekt auf die Krankheitsaktivität. Darüber hinaus wurden eine Besserung der Endothelfunktion und eine Reduzierung des oxidativen Stresses festgestellt. Wie hoch ist die Dosierung? Die Dosierung entspricht den bei Hyperlipidämien gegebenen Richtlinien. Was ist zu beachten? Unter Therapie mit Fisch-
Was ist zu beachten? Entzündliche Erkrankungen
gehen mit einer gesteigerten Lipidoxidation einher, Patienten mit rheumatoider Arthritis haben häufig erniedrigte Spiegel relevanter Antioxidanzien (Vitamin E, Vitamin C, Zink, Selen, Adam 2007a). Da Antioxidanzien ebenfalls entzündungshemmend wirken, ist eine Supplementierung zu überlegen. Bisher sind noch keine sicheren Empfehlungen für die Zufuhr von Antioxidanzien bei Patienten mit rheumatoider Arthritis erarbeitet worden. Eine Supplementierung von bis zu 200 mg/Tag Vitamin E und bis zu 200 μg/Tag Selen scheint nach bisherigen Erkenntnissen bei aktiver Entzündung empfehlenswert, in der Remission genügt die Hälfte. Eine medikamentöse Therapie darf zu Beginn der Fischölbehandlung niemals unterbrochen wer-
ölen muss die Nierenfunktion besonders kontrolliert werden, die bei Patienten mit Lupus erythematodes oft eingeschränkt ist.
Morbus Crohn, Colitis ulcerosa Welche Patienten kommen in Betracht? Die ent-
zündliche Reaktion bei Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa entspricht pathophysiologisch der bei rheumatoider Arthritis. Die ausschließliche Therapie mit Fischölfettsäuren kommt auch bei diesen Patienten nicht in Betracht. Als adjuvante Therapie können Fischöle vor allem bei Patienten mit milderen Verlaufsformen angewendet werden. Mit der Entdeckung der aus Arachidonsäure gebildeten Lipoxine und der aus EPA und DHA gebildeten Resolvine als entzündungshemmende Subs-
98
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Kapitel 7 · Prophylaxe und Therapie mit Fischölfettsäuren
tanzen hat die Ernährungstherapie bei entzündlichen Darmerkrankungen eine neue Dimension bekommen. Bekannt war, dass sowohl ω-6- wie auch ω-3-reiche Formuladiäten die Entzündung bessern. Untersuchungen an Tiermodellen haben gezeigt, dass die orale Applikation von langkettigen mehrfach ungesättigten Fettsäuren bessere Erfolge bringt als die parenterale Gabe. Dies steht in Übereinstimmung mit der Beobachtung, dass eine Studie mit magensaftresistenten Fischölkapseln als einzige erfolgreich war (Weylandt et al. 2007). Derzeit werden verschiedene Lipoxine und Resolvine als Therapeutika bei entzündlichen Darmerkankungen erprobt.
20
Wie hoch ist die Dosierung? Die Dosierung entspricht den bei der rheumatoiden Arthritis gegebenen Richtlinien. Was ist zu beachten? Oftmals tendieren Patienten
Wie sicher ist die Wirkung? Einige gut kontrol-
lierte klinische Studien (Beluzzi et al. 1996) konnten eine signifikante Wirksamkeit der Fischölfettsäuren zeigen. Die Rezidivrate war im behandelten Kollektiv 28 % versus 69 % im Kontrollkollektiv. Nach einem Jahr waren 59 % der Patienten in der Fischölgruppe, aber nur 26 % der Kontrollgruppe in Remission. Diese Studie wurde mit magensaftresistenten Präparationen von Äthylestern der EPA gemacht. Die weitere Entwicklung wird zeigen, welche Potenziale in diesen neuen Konzepten stecken. Zu diesem Schluss kommt auch ein Cochrane Review (Turner et al. 2007).
mit chronischen Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose zu Außenseiterdiäten. Bei allen Patienten sollte durch ein Ernährungsprotokoll sichergestellt werden, dass die Ernährung vollwertig ist.
Nierenerkrankungen Welche Patienten kommen in Betracht? Patien-
ten mit IgA-Nephritis (Immunglobulin-A-Nephritis) können mit Cyclooxigenasehemmern behandelt werden. Auch durch Fischöl kam es zu einer Verlangsamung der Krankheitsprogression (Fung et al. 1997).
die verwendete eine Dosierung von 1,5 g Fischölkonzentrat pro Tag in magensaftresistenter Präparation. Andere Untersucher haben größere Mengen Fischöl in nicht magensaftresistenter Form zugeführt, ohne bessere Wirkung.
Wie sicher ist die Wirkung? Klinische Studien konnten über 2 Jahre einen Erfolg der Therapie zeigen. Eine Langzeitbeobachtung des über 10 bis 12 Jahre laufenden Prozesses steht aus. In Anbetracht der hohen erforderlichen Dosis des Fischöls sollte die Therapie nur unter ärztlicher Kontrolle durchgeführt werden.
Was ist zu beachten? Die besten Ergebnisse wur-
Wie hoch ist die Dosierung? Die vorliegenden
den mit Fischölkonzentraten in magensaftresistenten Kapseln erzielt. Die handelsüblichen Fischölkonzentrate erwiesen sich als weniger wirksam.
Untersuchungen wurden mit einer Dosis von 6–12 g Fischöl pro Tag durchgeführt.
Wie hoch ist die Dosierung? Die angeführte Stu-
Multiple Sklerose
19
Wie sicher ist die Wirkung? Noch liegen keine ausreichend kontrollierten Studien vor, die, wie bei der rheumatoiden Arthritis, die Effizienz der Ernährung zeigen. Allerdings geben die Verlaufsbeobachtungen über 15 Jahre und die Erkenntnisse der biochemischen Forschung ausreichend Sicherheit, um Ernährungsempfehlungen für Patienten mit Multipler Sklerose abgeben zu können (Adam 1997, Stewart et al. 2005).
Welche Patienten kommen in Betracht? Die
immunologischen Abläufe bei der Multiplen Sklerose sind ähnlich wie bei der rheumatoiden Arthritis. Entsprechend werden bei beiden Krankheiten dieselben Pharmaka angewendet, auch die Ernährungsrichtlinien sind gleich (Pöhlau et al. 1997).
Was ist zu beachten? Bei der hohen Dosierung kann es zu Nebenwirkungen wie einer Verlängerung der Blutungszeit und einer Blutungsneigung kommen.
99 7.8 · Therapierichtlinien
7.8.3
Hauterkrankungen
7
die atopische Dermatitis (Bjorneboe et al. 1987) und die Neurodermitis bessern.
Psoriasis Welche Patienten kommen in Betracht? Die meisten der bisher durchgeführten Studien berichten über eine Abnahme des Erythems und der entzündlichen Komponente der Psoriasis (Bittiner et al. 1988). Ein Abheilen der Psoriasis wurde bisher nur in einer Studie bei 9 % der Patienten berichtet (Lassus et al. 1990), während eine sehr gute bis gute Besserung der Hauterscheinungen bei 57 % erreicht werden konnte. Die Psoriasisarthritis klang bei 8 von 34 Patienten vollständig ab, eine deutliche Besserung wurde bei fast allen Patienten erzielt. In einer neueren Studie wurde die parenterale Gabe von Fischöl untersucht und dabei eine deutlich früher einsetzende Besserung als bei oraler Supplementierung festgestellt (Mayser et al. 2002). Wie sicher ist die Wirkung? Bisher zeigen alle Stu-
dien einen Erfolg der Therapie mit Fischölkonzentraten. Wie hoch ist die Dosierung? Die besten Resulta-
te wurden mit einer Dosierung von drei 3 g Fischöl pro Tag (1,5 g Eicosapentaensäure/Tag) erzielt (Lassus et al. 1990). Allerdings weisen neuere Befunde darauf hin, dass auch eine niedrigere Dosierung effizient ist, wenn sie über einen längeren Zeitraum durchgeführt wird. Was ist zu beachten? Ähnlich wie bei der rheumatoiden Arthritis ist ein besserer Therapieerfolg durch die gleichzeitige Verminderung der Arachidonsäure und möglicherweise auch durch die Kombination mit Antioxidanzien zu erwarten.
Wie hoch ist die Dosierung? Die Dosierung der
Fischölfettsäuren entspricht den bei der Psoriasis gegebenen Richtlinien. Was ist zu beachten? Bei der Neurodermitis wer-
den zusätzliche Faktoren, wie Nahrungsmittelallergene und psychische Ursachen diskutiert. Die Behandlung mit Fischölfettsäuren stellt eine additive therapeutische Option dar.
7.8.4
Andere Erkrankungen
Muskuloskeletale Erkrankungen Welche Patienten kommen in Betracht? Chroni-
sche Schmerzen sind das führende Merkmal muskuloskeletaler Erkrankungen, zu denen Tendopathien, Enthesiopathien, Myalgien, Myogelosen und degenerative Sehnen- und Gelenkveränderungen gerechnet werden. In einer Studie (Eriksen et al. 1996) an 4.490 Personen ging die Einnahme von Lebertran oder Fischölkapseln mit einer Besserung der Schmerzen einher. Wie sicher ist die Wirkung? Eicosanoide sind Aus-
löser des Schmerzes, sie verstärken aber auch das Schmerzempfinden durch die Amplifizierung des afferenten Signals im Rückenmark (Adam 2007b). Die Hemmung der Eicosanoidbildung durch Fischölfettsäuren könnte, ähnlich wie die Prostaglandinhemmung durch NSAR, Schmerzen vermindern. Wie hoch ist die Dosierung? Derzeit liegen noch
Neurodermitis Welche Patienten kommen in Betracht? Wie
bei der Psoriasis, die ebenfalls zu den entzündlichen Hauterkrankungen zählt, war bei allen bisher durchgeführten Studien eine Besserung der Hauterscheinungen durch ω-3-Fettsäuren zu beobachten.
zu wenige Studien vor, um allgemeine Empfehlungen zu geben. Die bisher größte Untersuchung (Eriksen et al. 1996) zeigte einen Effekt bereits bei niedriger Dosis der ω-3-Fettsäuren, sodass ein Therapieversuch mit 0,5–1 g Eicosapentaensäure erwägenswert ist. Was ist zu beachten? Die Indikation ist derzeit
Wie sicher ist die Wirkung? Die Supplementie-
rung mit Fischöl konnte in klinischen Versuchen
noch nicht gesichert.
100
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 7 · Prophylaxe und Therapie mit Fischölfettsäuren
Neoplasien
Augenerkrankungen
Welche Patienten kommen in Betracht? Bei Pati-
Welche Patienten kommen in Betracht? Ein Mangel an ω-3-Fettsäuren führt zu verminderter Sehleistung (Carrié et al. 2002), die Supplementierung mit Fischöl führte bei Frühgeborenen zu einer besseren Sehleistung (Fleith u. Clandinin 2005). Eine Supplementierung der Frühgeborenen wird angeraten, da deren Synthese der langkettigen Fischölfettsäuren eingeschränkt ist. Besonders Docosahexaensäure spielt für die Entwicklung des Gehirns eine Rolle. Säuglingsnahrungen werden deshalb mit dieser Fischölfettsäure in etwa der Konzentration angereichert, die auch in der Muttermilch vorhanden ist.
enten mit Brust-, Colon-, Ovar- und Prostatakarzinomen ist eine gesteigerte Eicosanoidbildung nachgewiesen, diese Tumore scheinen für eine adjuvante Therapie mit Fischölfettsäuren infrage zu kommen. Wie sicher ist die Wirkung? Klinische Studien
stehen bisher noch aus. Tierversuche haben aber eine Hemmung der Entstehung von Colontumoren durch Fischöl bei Ratten auf der posttranskriptionellen Ebene gezeigt (Jiang et al. 1997). In einer Übersichtsarbeit (Cave 1996) wird festgestellt, dass ω-6-Fettsäuren die Entwicklung von Brusttumoren fördern, während ω-3-Fettsäuren deren Entstehung und Ausbreitung verzögern. Ein reduziertes Brustkrebsrisiko durch einen hohen Verzehr von Fisch konnte zum ersten Mal in einer neueren prospektiven Studie an 35.298 chinesischen Frauen zwischen 45 und 74 Jahren in Verbindung gebracht werden (Gago-Dominguez et al. 2003). Wie hoch ist die Dosierung? Neuere Untersu-
chungen weisen darauf hin, dass auch für die Entwicklung und die Ausbreitung von Brustkrebs das Verhältnis von Arachidonsäure und Fischölfettsäuren eine Rolle spielt (Thiébaut et al. 2009), und bestätigen damit ältere Untersuchungen, die die Krebsentwicklung mit dem Verzehr tierischer Fette in Zusammenhang gebracht haben. In den anfänglichen Studien (Karmali 1987) wurden sehr hohe Dosen von ω-3-Fettsäuren verwendet. Durch die Verminderung der Arachidonsäure scheint eine Reduzierung der Fischöldosis möglich. Weitere Studien müssen die Effizienz des Vorgehens beweisen.
Wie sicher ist die Wirkung? Die Forschung der letzten Jahre hat die Bedeutung der Docosahexaensäure für die Funktion und die Entwicklung neuronaler Strukturen bestätigt. Für Frühgeborene und Säuglinge ist die Wirkung der Docosahexaensäure weitgehend gesichert. Neuere Befunde deuten darauf hin, dass bei Retinitis pigmentosa, bei der Makuladegeneration sowie bei entzündlich-immunologischen Augenerkrankungen wie der Uveitis und der Iridozyklitis ebenfalls eine Indikation bestehen könnte (Chong et al. 2008). Wie hoch ist die Dosierung? Formuladiäten wer-
den an den Docosahexaensäuregehalt der Muttermilch adaptiert, für die anderen Indikationen ist die Wirkung unsicher. Was ist zu beachten? Für das Frühgeborene ist die
Supplementierung mit Docosahexaensäure erforderlich; der Erwachsene kann längerkettige ω-3Fettsäuren aus Alpha-Linolensäure aufbauen.
Transplantationsmedizin Was ist zu beachten? Derzeit liegen noch kei-
Welche Patienten kommen in Betracht? Bis-
ne überzeugenden Studien vor, die eine Therapie rechtfertigen. Eine Prophylaxe durch gesunde Kost, wie sie von den Richtlinien der DGE festgelegt wird, erscheint sinnvoll (Cave 1996). Darin wird die Verminderung der Fette aus Nahrungsmitteln tierischer Herkunft angestrebt, die Erhöhung des Anteils der ω-3-Fettsäuren und der antioxidativ wirksamen Vitamine und Spurenelemente.
her wurde bei Patienten mit Nieren-, Pankreas- oder Herztransplantationen eine Therapie mit Fischölfettsäuren durchgeführt und hierdurch eine Verlängerung der Überlebenszeit des Transplantats, vor allem aber eine Verminderung der sekundären Arteriosklerose und der chronischen Niereninsuffizienz erreicht (Balk 2006). Die Wirkung der Fischölfettsäuren fand besondere Beachtung, seit durch die Therapie mit Cyclosporin A eine wesent-
101 7.9 · Zusammenfassung
lich bessere Einheilungsrate erzielt wurde, 80–90 % der Transplantate sind 2 Jahre nach der Operation noch funktionstüchtig. Die längere Überlebenszeit brachte eine neue Komplikation: Es kam renal, aber auch in den transplantierten Organen, zu einer dramatischen Arteriosklerose. Deshalb wurde der Einsatz von Fischölfettsäuren erwogen. Hinzu kam, dass Cyclosporin zu einer dosisabhängigen Einschränkung der Nierenfunktion führt. Während das akute Nierenversagen nach Transplantationen therapeutisch meist beherrscht werden kann, wird die chronische Verschlechterung der Nierenfunktion zum therapeutischen Problem, besonders bei protrahierter Gabe von Cyclosporin. Sie tritt vor allem nach Herz- und Lebertransplantationen auf, wird aber auch nach Pankreas- und Nierentransplantationen beobachtet. Wie sicher ist die Wirkung? Die Hemmung der Abstoßungsreaktion durch Fischölfettsäuren konnte in zahlreichen Studien gezeigt werden. Sie wird vor allem auf die Verminderung des vasokonstriktorisch wirkenden Thromboxans A2 bezogen. Daneben vermindern Fischölfettsäuren aber auch Leukotrien B4, das proinflammatorische PGE2 und Interleukin-1, die bei der Abstoßungsreaktion vermehrt gebildet werden. Durch Fischöl konnte eine Verbesserung der Nierenfunktion und eine geringere Abstoßungsrate erzielt werden. Besonders interessant war die Beobachtung, dass Fischölfettsäuren die nephrotoxische Wirkung einer Reihe von Immunsuppressiva, beispielsweise des Cyclosporin, vermindern. Die beste Wirkung wurde erzielt, wenn Spender und Empfänger bereits vor der Transplantation Fischölfettsäuren erhielten und die Behandlung beim Empfänger für 3 Monate post operationem fortgeführt wurde. Die nachgewiesene Hemmung der Triglyceridsynthese, die antihypertensive Eigenschaft und die günstige Wirkung auf das Eicosanoidprofil können ebenso dazu beitragen wie die immunsuppressive Wirkung der Fischölfettsäuren, bei der hier vor allem die Verminderung der Adhäsionsmoleküle zu erwähnen ist. Wie hoch ist die Dosierung? Die Höhe der Supplementierung wie auch der Beginn und die Dauer der Fischölgabe sind noch nicht ausreichend unter-
7
sucht. Meist werden Dosen zwischen 3–9 g Fischöl pro Tag verwendet. Was ist zu beachten? Cyclosporin A wird auch
bei immunologischen Erkrankungen wie der Psoriasis oder der chronischen Polyarthritis angewendet. Derzeit wird untersucht, ob die Nephrotoxizität von Cyclosporin auch bei diesen Anwendungen durch Fischölfettsäuren vermindert werden kann.
7.9
Zusammenfassung
Meerestiere bilden besondere mehrfach ungesättigte ω-3-Fettsäuren – die Fischölfettsäuren. Die physiologische Wirkung dieser Nahrungsbestandteile auf den menschlichen Stoffwechsel und die humoralen Regulationssysteme geht vor allem von der Eicosapentaensäure aus. Sie blockiert die Enzyme, die für den auf der Arachidonsäure basierenden Aufbau der körpereigenen Eicosanoide wie Prostaglandine, Thromboxane und Leukotriene sorgen. Damit haben Fischölfettsäuren ein ähnliches Wirkprinzip wie Kortikosteroide oder NSAR – jedoch deutlich weniger Nebenwirkungen. Zu den therapeutischen Einsatzgebieten der Fischölfettsäuren gehören unter anderem: die Hyperlipidämie, Gefäßkrankheiten, immunologische und entzündliche Erkrankungen und die Transplantationsmedizin. Welche Patienten für eine Therapie in Betracht kommen und wie hoch die jeweiligen Dosierungen gewählt werden sollten, wird ausführlich erörtert.
Literatur Adam O.: Dietary effects on prostaglandin biosynthesis in young and elderly persons. Lipid Res. (Life Sci. Adv.) 9: 43–49 (1990) Adam O.: Ernährungsrichtlinien bei Multipler Sklerose. Edition Medizin und Wissenschaft, Bd. 16. Verlag für Medizin und Wissenschaft, Dr. Franz Waldmann, Senden (1997) Adam O.: Ernährung bei Rheuma. Merkblätter Rheuma der Deutschen Rheumaliga, Nr. 5.2. Deutsche Rheumaliga Bundesverband e. V., Bonn (2000) Adam O.: Diät und Rat bei Rheuma und Osteoporose. Ein Leitfaden für die entzündungshemmende Ernährung. Walter-Hädecke-Verlag, Weil der Stadt (2002) Adam O.: Einfluss von n-3 Fettsäuren auf den normalen und pathologischen Immunstatus des Menschen. Aktuel. Ernaehr. Med. 29:178–182 (2004a)
102
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 7 · Prophylaxe und Therapie mit Fischölfettsäuren
Adam O.: Omega-3: Fitness durch Fische und Öle. Walter Haedecke-Verlag, Weil der Stadt (2004b) Adam O.: Clinical and pharmacological effects of n-6/n-3ratio in the diet. Clin. Chem. Lab. Med. 43:A99–A100 (2005a) Adam O.: Klinische Wirkung von Omega-3 Lachsölkapseln. Ern. Med. Praxis 6(2.2):81–82 (2005b) Adam O.: Bedeutung der Ernährung für die Entstehung und den Verlauf rheumatischer Erkrankungen. In: Karger T., Hein R. (Hrsg.) Fortschritte der klinischen Rheumatologie, Ernährungsmedizin in der Rheumatologie. Abbott, Wiesbaden (2007a) Adam O: Pathophysiologie der Entzündung und ernährungsmedizinische Intervention. Akt. Rheumatol. 32:193–195 (2007b) Adam O.: Ätiopathogenese der Adipositas – Genetik, Umwelt, Psychosomatik, Ernährung. In: Bundesärztekammer (Hrsg.) Fortschritt und Fortbildung in der Medizin, Bd. 31. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln (2007/2008) Adam O.: Gelenke im Dauerschmerz – Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises und Möglichkeiten der Ernährungstherapie. Aktuel. Ernaehr. Med. 33(Suppl.1):544–548 (2008) Adam O., Beringer C., Kless T. et al.: Antiiflammatory effects of a low arachidonic acid diet and fish oil in patients with rheumatoid arthritis. Reumatol. Int. 23:27– 36 (2003) Adam O, Tesche A, Wolfram G: Impact of Linoleic Acid Intake on Arachidonic Acid Formation and Eicosanoid Biosynthesis in Humans. Prostaglandins, Leukotrienes & Essential Fatty Acids Online publication complete: 29-Oct2008. DOI: 10.1016/j.plefa.2008.09.007 (2008) Arterburn L. M., Hall E. B., Oken H.: Distribution, interconversion, and dise response of n-3 fatty acids in humans. Am. J. Clin. Nutr. 83(Suppl. 6):1467–76 (2006) Balk E. M., Lichtenstein A. H., Chung M. et al.: Effects of omega-3 fatty acids on coronary restenosis, intima-media thickness, and exercise tolerance: a systematic review. Atherosclerosis. 148:237–246 (2006) Bartolucci AA, Howard G.: Meta-analysis of data from the six primary prevention trials of cardiovascular events using aspirin. Am. J. Cardiol. 98(6):746–750 (2006) Beluzzi A., Brignola C., Campieri M.: Effect of an enteric coated fishoil preparation on relapses in Crohn‘s disease. NEJM. 334:1557–1560 (1996) Bittiner S. B., Tucker W. F.G., Cartwright I. et al.: A doubleblind randomized placebocontrolled trial of fish oil in psoriasis. Lancet. 1:378–380 (1988) Bjorneboe A., Soyland E., Bjorneboe G. E. et al.: Effect of dietary supplementation with eicosapentaenoic acid in the treatment of atopic dermatitis. Br. f. Dermatol. 117:463– 469 (1987) Bolten W. W.: Ernährungsmedizinische Ansätze in Prävention und Therapie der Arthrose. In: Karger T., Hein R. (Hrsg.) Fortschritte der klinischen Rheumatologie, Ernährungsmedizin in der Rheumatologie. Abbott, Wiesbaden (2007)
Bolten W. W., Langer H. -E., Adam O.: Ernährungsmedizinische Aspekte der Arthrose: Pathophysiologie und Studien. Akt. Rheumatol. 32:219–224 (2007) Breslow J. L.: n-3 fatty acids and cardiovascular disease. Am. J. Clin. Nutr. 93(Suppl. 6):1477–1482 (2006) Burr M. L., Gilbert J. F., Holliday R. M. et al.: Effects of changes in fat, fish, and fiber intake on death and myocardial reinfarction: diet and reinfarction trial (DART). Lancet. 2:757–761 (1989) Calder P. C.: n-3 fatty acids and cardiovascular disease: evidence explained and mechanisms explored. Clin. Sci. 107(1):1–11 (2004) Calder P. C.: Use of fish oil in parenteral nutrition: Rationale and reality. Proc. Nutr. Soc. 65(3):264–277 (2006) Carrié I., Smirnova M., Clément M. et al.: Docosahexaenoic acid-rich phospholipid supplementation: effect on behavior, learning ability, and retinal function in control and n-3 polyunsaturated fatty acid deficient old mice. Nutr. Neurosci. 5(1):43–52 (2002) Cave W. T. Jr.: Dietary omega-3 fatty acids and breast cancer. Nutrition. 12(Suppl. 1):S39-S42 (1996) Cheng J. W., Santoni F.: Omega-3 fatty acid: a role in the management of cardiac arrhythmias? J. Altern. Complement. Med. 14(8):965–974 (2008) Chong E. W., Kreis A. J., Wong T. Y. et al.: Dietary omega-3 fatty acid and fish intake in the primary prevention of agerelated macular degeneration: a systematic review and meta-analysis. Arch. Ophtalmol. 126(6):826–833 (2008) Christensen J. H.: n-3 fatty acids and the risk of sudden cardiac death. Emphasis on heart rate variability. Dan. Med. Bull. 50(4):347–367 (2003) DeCaterina R., Gianetti J., Endres S.: omega-3 fatty acids and cardiovascular disease: update to 1996. G. Ital. Cardiol. 26:536–578 (1996) Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) (Hrsg.): Ernährungsbericht 2004. DGE, Frankfurt/Main (2004) Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE), Adam O.: Rheumatische Erkrankungen. DGE-Beratungs-Standards. V/6.1–6.4. DGE, Frankfurt/Main (2006) Ditrich O.: Ernährungsmedizinische Ansatzmöglichkeiten bei Rheumatoider Arthritis (RA). In: Karger T., Hein R. (Hrsg.) Fortschritte der klinischen Rheumatologie, Ernährungsmedizin in der Rheumatologie. Abbott, Wiesbaden (2007) Dyerberg J., Bjerregaard P.: Mortality from ischaemic heart disease and cerebrovascular disease in Greenland. In: Lands W. E.M. (ed.) Polyunsaturated fatty acids and eicosanoid biosynthesis. Am. Oil. Chem. Soc., Illinois, pp. 2–8 (1987) Eidelman R. S., Hebert P. R., Weisman S. M. et al.: An update on aspirin in the primary prevention of cardiovascular disease. Arch. Intern. Med. 163(17):2006–2010 (2003) Eriksen W., Sandvik L., Bruusgaard D.: Does dietary supplementation of cod liver oil mitigate muskuloskeletal pain? Europ. f. Clin. Nutr. 50:689–693 (1996)
103 Literatur
Fernandes G., Bhattacharya A., Rahman M. et al.: Effects of n-3 fatty acids on autoimmunitiy and osteoporosis. Front. Biosci. 13:4015–4020 (2008) Fleith M., Clandinin M. T.: Dietary PUFA for preterm and term infants: review of clinical studies. Crit. Rev. Food. Sci. Nutr. 45(3):205–229 (2005) Frost L., Vestergaard P.: Caffeine and risk of atrial fibrillation or flutter: the Danish Diet Caner, and Health Study. Am. J. Clin. Nutr. 81 (2005) 578–582 Fung S. M., Ferrill M. J., Norton L. L.: Fish oil therapy in IgA nephropathy. Ann. Pharmacother. 31:112–115 (1997) Gago-Dominguez M., Yaun J. M., Sun C. L. et al.: Opposing effects of dietary n-3 and n-6 fatty acids on mammary carcinogenesis: The Singapore Chinese Health Study. Br. J. Cancer. 89(9):1686–1692 (2003) Galarraga B., Ho M., Youssef H. M. et al.: Cod liver oil (n-3 fatty acids) a san non-steroidal anti-inflammatory drug sparino agent in rheumatoid arthritis. Rheumatology. 47(5):665–669 (2008) Glauber, H., Walace, P., Griver, K. et al. Adverse metabolic effect of omega-3 fatty acids in noninsulin dependent diabetes mellitus. Ann. Int. Med. 108:663–668 (1988) Goldberg R. B., Sabharwal AK.: Fish oil in the treatment of dyslipidemia. Curr. Opin. Endocrinol. Diabetes. Obes. 15(2) (2008) 167–174. Goldberg R. J., Katz J.: A metaanalysis of the analgesic effects of omega-3 polyunsaturated fatty acid supplementation for inflammatory joint pain. Pain. 129:210–223 (2007) Grimble R. F.: Immunonutrition. Curr. Opin. Gastroenterol. 21(2):216–222 (2005) Harbige L. S.: Dietary n-6 and n-3 fatty acids in immunity and autoimmune disease. Proc. Nutr. Soc. 57(4):555– 562 (1998) Hein R.: Aufgaben des Arztes in der Ernähurngstherapie rheumatischer Erkrankungen. In: Karger T., Hein R. (Hrsg.) Fortschritte der klinischen Rheumatologie, Ernährungsmedizin in der Rheumatologie. Abbott, Wiesbaden (2007) Jiang Y. H., Lupton J. R., Chapkin R. S.: Dietary fish oil blocks carcinogeninduced downregulation of colonic protein kinase C isoenzymes. Carcinogenesis. 18:351–357 (1997) Karmali, R. A.: Omega-3 fatty acids and cancer: A review. In: Lands W. E.M. (Hrsg.) Polyunsaturated fatty acids and eicosanoid biosynthesis. Am Oil Chem. Soc., Illinois, pp. 222–232 (1987) Kestin M., Clifton P., Belling G. B. et al.: Omega-3-fatty acids of marine origin lower systolic blood pressure and triglyceride but raise LDL cholesterol compared with omega-3 and omega-6 fatty acids from plants. Am. J. Clin. Nutr. 51:1028–1034 (1990) Knapp H. R.: Omega-3 fatty acids and human hypertension. Curr. Opin. Lipidol. 7:30–33 (1996) Kremer J. M., Jubiz W., Michalek A. et al.: Fishoil fatty acid supplementation in active rheumatoid arthritis. A doubleblind, controlled crossover study. Ann. Lnt. Med. 106:497–503 (1987)
7
Lane J. S., Magno C. P., Lane K. T. et al.: Nutrition impacts the prevalence of peripheral arterial disease in the United States. J. Vasc. Surg. 48(4):897–904 (2008) Langer H. E.: Übergewicht: Fluch oder Segen für den Rheumapatienten. In: Karger T., Hein R. (Hrsg.) Fortschritte der klinischen Rheumatologie, Ernährungsmedizin in der Rheumatologie. Abbott, Wiesbaden (2007) Lassus A., Dahlgren A. L., Halpern M. J. et al.: Effects of dietary supplementation with polyunsaturated ethyl ester lipid (Angiosan) in patients with psoriasis and psoriatic arthritis. J. Int. Med. Res. 18:68–73 (1990) Leaf A., Xiao Y. F., Kang J. X. et al.: Prevention of sudden death by n-3 polyunsaturated fatty acids. Pharmacol. Ther. 98(3):355–377 (2003) Lee J. H., O‘Keefe J. H., Lavie C. J. et al.: Omega-3 fatty acids for cardioprotection. Mayo. Clin. Proc. 83(3):324–332 (2008) Lim A. K., Manley K. J., Roberts M. A. et al.: Fish oil for kidney transplant recipients. Cochrane Database Syst. Rev. 18(2):CD005282 (2007) Mayser P., Grimm H., Grimminger F.: n-3 fatty acids in psoriasis. Br. J. Nutr. 87(Suppl. 1):77–82 (2002) Mori T. A., Watts G. F., Burke V. et al.: Differential effects of eicosapentaeinoic acid and docosahexaenoic acid on vascular reactivity on the forearm microcirculation in hyperlipidemic, overweight men. Circulation. 102(11):1264–1269 (2000) Pöhlau D., Hoffmann V., Orlowski G. et al.: Fette und Multiple Sklerose. Ernährungs-Umschau 44:136–142 (1997) Reis G.-J., Sipperly M. E., McCabe C. H. et al.: Randomised trial for prevention of restenosis after coronary angioplasty. Lancet. 2:177–181 (1989) Robert-Koch-Institut (Hrsg.): Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Jahrbuch Gesundheit in Deutschland. RKI, Berlin (2006) Saito Y., Yokoyama M., Origasa H. et al.: Effects of EPA on coronary artery disease in hypercholesterolemic patients with multiple risk factors: Sub-analysis of primari prevention cases from the Japan EPA Lipid Intervention Study (JELIS). Atherosclerosis. 200:135–140 (2008) Schmitz G., Ecker J.: The opposing effects of n-3 and n-6 fatty acids. Prog. Lipid. Res. 47(2):147–55 (2008) Schnurr C., Adam O.: Langzeitergebnisse einer Ernährungsintervention bei Patienten mit rheumatoider Arthritis. Z. Rheumatologie. 64(Suppl. 1):I/64–I/65 (2005) Skyler J. S.: Prediction and prevention of type 1 diabetes: progress, problems, and prospects. Clin. Pharmacol. Ther. 81(5):768–771 (2007) Slack J. D., Pinkerton C. A., Van Tassel J.: Can oral fish oil supplement minimize restenosis afrer percutaneous translumenal coronary angioplasty? J. Am. Coll. Cardiol. 9:64A (1987) Stewart T. M., Bowling A. C.: Polyunsaturated fatty acid supplementation in MS. Int. MS J.12:88–93 (2005) Thiébaut A. C., Chajès V., Gerber M. et al.: Dietary intakes of omega-6 and omega-3 polyunsaturated fatty acids and
104
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 7 · Prophylaxe und Therapie mit Fischölfettsäuren
the risk of breast cancer. Int. J. Cancer. 124(4):924–931 (2009) Turner D., Steinhart A. H., Griffiths A. M.: Omega 3 fatty acids (fish oil) for maintenance of remission in ulcerative colitis. Cochrane Database Syst. Rev. 18(3):CD006443 (2007) Wahlqvist M. L., Lo C. S., Myers K. A.: Fish intake and arterial wall characteristics in healthy people and diabetic patients. Lancet. 2:944–946 (1989) Wang C., Harris W. S., Chang M. et al.: n-3 fatty acids from fish or fish oil supplements, but not α-linolenic acid benefit cardiovascular disease outcomes in primary- and secondary prevention studies: a systemic review. Am. J. Clin. Nutr. 84(1):5–17 (2006) Weylandt K. H., Kang J. X., Wiedenmann B. et al.: Lipoxins and resolvins in inflammatory bowel disease. Inflamm. Bowel. Dis. 13(6):797–799 (2007) Wright S. A., O’Prey F. M., McHenry M. T. et al.: A randomised interventional trial of omega-3-polyunsaturated fatty acids on endothelial function and disease activity in systemic lupus erythematosus. Ann. Rheum. Dis. 67(6):841–848 (2008) You J. J., Woo A., Ko D. T. et al.: Life expectancy gains and cost-effectiveness of implantable cardioverter/defibrillators for the primary prevention of sudden cardiac death in patients with hypertrophic cardiomyopathy. Am. Heart J. 154(5):899–907 (2007) Zorn J.: Aktuelle Strategien gegen den plötzlichen Herztod. Internist. 38(Beilage für Internisten):1–5 (1997)
105 ·
Formen der Ernährungstherapie 8
Vollwert-Ernährung – eine naturheilkundliche Ernährungsweise – 107 Claus Leitzmann
9
Vegetarische Ernährung – 123 Claus Leitzmann
10
Haysche Trennkost – 137 Edmund Semler, Thomas Heintze
11
Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie – 167
12
Mediterrane Ernährung – 199 Andreas Michalsen
8III
107
Vollwert-Ernährung – eine naturheilkundliche Ernährungsweise Claus Leitzmann
8.1
Grundlegende Gedanken: Ernährung in Prävention und Therapie – 108
8.2
Entwicklung und Definition der Vollwert-Ernährung – 109
8.3
Vollwert-Ernährung – eine zeitgemäße und nachhaltige Ernährungsweise – 109
8.4
Besonderheiten der Vollwert-Ernährung – 110
8.5
Die Vollwert-Ernährung und Werner Kollath – 111
8.6
Ernährungskonzept der Vollwert-Ernährung – 113
8.7
Praktische Durchführung – 117
8.8
Die Vollwert-Ernährung – ein Naturheilverfahren – 117
8.8.1 8.8.2
Vollwert-Ernährung und Krebs – 118 Nahrungsmittelallergien – 119
8.9
Die Umstellung auf Vollwert-Ernährung – 119
8.10
Zusammenfassung – 120
X 8
108
1 2 3 4 5 6 7 8
Kapitel 8 · Vollwert-Ernährung – eine naturheilkundliche Ernährungsweise
Die Vollwert-Ernährung ist als Dauerkostform konzipiert sowie in der Prävention und Therapie diverser Erkrankungen einsetzbar. Neben Hintergrundinformationen zu Besonderheiten, Ansprüchen und Zielen wird die Bedeutung der Vollwert-Ernährung als Naturheilverfahren dargestellt. Hinweise zur Begleitung von Patienten bei der Umstellung und zur praktischen Durchführung dieser Ernährungsweise werden gegeben. In diesem Beitrag lesen Sie: 4 auf welchen Grundlagen die Vollwert-Ernährung beruht, 4 warum Vollwert-Ernährung eine naturheilkundliche Form gesunderhaltender Ernährung ist, 4 welche konkreten praxisnahen Empfehlungen zur Vollwert-Ernährung gegeben werden, 4 inwieweit die Vollwert-Ernährung als Präventions- und Therapiemaßnahme Bedeutung hat.
9 10
8.1
11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
»
Grundlegende Gedanken: Ernährung in Prävention und Therapie
Wer heilt hat Recht, was heilt, hat Berechtigung. Werner Kollath (Arzt, Deutschland, 1892– 1970)
«
Naturheilverfahren sind präventive und therapeutische Maßnahmen, für die aus der Natur entnommene Substanzen verwendet werden – wie für die Ernährung. Da eine vollwertige Ernährung sowohl als eine präventive als auch als eine therapeutische Maßnahme gilt, handelt es sich um ein Naturheilverfahren. Lebensmittel können zur Verbesserung, Linderung und Heilung von Erkrankungen beitragen, indem die natürlichen Prozesse des Essens und Trinkens genutzt werden. Lebensmittel sind Naturheilmittel, wenn sie aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften gezielt zur Ernährungstherapie eingesetzt werden. Damit wird deutlich, dass die Ernährungstherapie im Spannungsfeld von Essen und Ernährung steht. Während der Begriff Ernährung mit dem naturwissenschaftlichen Vorgang der Nahrungsaufnahme verbunden ist, beschreibt der Begriff Essen
und Trinken die menschliche, kulturelle und soziale Handlung. Essen und Trinken geht somit über Ernährung hinaus. Dieser Zusammenhang ist grundlegend für die Anwendung von ernährungstherapeutischen Maßnahmen. Der kulturelle Akt des Essens wird genutzt, um mit gesunder Ernährung zu therapieren. Die Wirkprinzipien einer solchen Ernährungstherapie entsprechen klassischen medizinischen Begriffen, die heute noch ihre Gültigkeit besitzen (. Tab. 8.1). Reaktionen auf äußere Reize sind gerade bei einer Ernährungstherapie gut zu beobachten. So führt eine gesteigerte Trinkmenge zur Anregung der Nierentätigkeit, eine stark ballaststoffhaltige Kost wirkt u. a. auf die Darmperistaltik. Es gibt jedoch deutliche Unterschiede zwischen Akut- und Langzeiteffekten. So können Ballaststoffe kurzfristig eine Obstipation beseitigen und langfristig das Risiko senken, an einem Kolon-Karzinom zu erkranken, d. h. die Langzeiteffekte können weitaus bedeutsamer sein. Ein weiterer Aspekt ist die präventive Wirkung einer Ernährungstherapie, die in einem Ausmaß wie nur wenige andere Heilmethoden stattfindet. Zielsetzung der auf Naturheilkunde basierenden Ernährungstherapie ist die Förderung der inneren Selbstheilungskräfte des Menschen. Ernährungstherapie mit Vollwertkost stellt jedoch nicht nur eine wirkungsvolle und kostengünstige Behand. Tab. 8.1 Ernährungstherapeutische Wirkprinzipien Prinzip
Maßnahmen
Wirkstoffe, Wirksubstanzen (Beispiele)
Exclusio
Lebensmittel werden bei Unverträglichkeiten gemieden
Allergene, Salz
Substitutio
Lebensmittel liefern Lebensnotwendiges
Vitamine, Energie
Directio
Lebensmittel beeinflussen Körperfunktionen
Sekundäre Pflanzenstoffe, Jod
Stimulatio
Lebensmittel regen körpereigene Vorgänge an
Rohkost, Wasser
109 8.3 · Vollwert-Ernährung – eine zeitgemäße und nachhaltige Ernährungsweise
lungsform dar, sondern ist zugleich ein Konzept für eine zeitgemäße und nachhaltige Ernährungsweise. Sie verknüpft sinnvolle wissenschaftliche Erkenntnisse mit Erfahrungswerten der Naturheilkunde.
8.2
Definition der Vollwert-Ernährung (Leitzmann et al. 2003) »Vollwert-Ernährung ist eine überwiegend pflanzliche (lakto-vegetabile) Ernährungsweise, bei der gering verarbeitete Lebensmittel bevorzugt werden. Gesundheitlich wertvolle, frische Lebensmittel werden zu genussvollen und bekömmlichen Speisen zubereitet. Die hauptsächlich verwendeten Lebensmittel sind Gemüse und Obst, Vollkornprodukte, Kartoffeln, Hülsenfrüchte sowie Milch und Milchprodukte, daneben können auch geringe Mengen an Fleisch, Fisch und Eiern enthalten sein. Ein reichlicher Verzehr von unerhitzter Frischkost wird empfohlen, der etwa die Hälfte der Nahrungsmenge ausmacht. Zusätzlich zur Gesundheitsverträglichkeit werden im Sinne der Nachhaltigkeit auch die Umwelt-, Wirtschafts- und Sozialverträglichkeit des Ernährungssystems berücksichtigt. Das bedeutet u. a., dass Erzeugnisse aus ökologischer Landwirtschaft sowie regionale und saisonale Produkte verwendet werden. Weiterhin wird auf umweltverträglich verpackte Erzeugnisse geachtet. Außerdem werden Lebensmittel aus fairem Handel mit sogenannten Entwicklungsländern verwendet. Mit Vollwert-Ernährung sollen eine hohe Lebensqualität – besonders Gesundheit –, Schonung der Umwelt, faire Wirtschaftsbeziehungen und soziale Gerechtigkeit weltweit gefördert werden.«
Entwicklung und Definition der Vollwert-Ernährung
Die Vollwert-Ernährung als ganzheitliche Ernährungs- und Lebensweise basiert auf den Erkenntnissen von Hippokrates und Pythagoras. Das heutige Konzept der Vollwert-Ernährung wurde primär von Maximilian O. Bircher-Benner (1989) und Werner Kollath (2005) geprägt. Sie verwendeten den Begriff »Vollwert der Nahrung«. Weitere Pioniere verschiedener Varianten der Vollwertkost waren Are Waerland (1951), Max Otto Bruker (2005) und Helmut Anemueller (1993). Die Vollwert-Ernährung nach von Koerber, Männle und Leitzmann (2004) ähnelt zwar in ihren Empfehlungen zum Lebensmittelverzehr den Vollwertkostformen dieser Wegbereiter, aber das unveränderte Grundkonzept wurde durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse ergänzt. Heute ist die Vollwert-Ernährung neben dem Vegetarismus (Leitzmann 2009, Leitzmann u. Keller 2009) eine der wichtigsten einer Reihe von alternativen Ernährungsformen (Leitzmann et al. 2005). In der Gießener Vollwert-Ernährungs-Studie wurden die Auswirkungen dieser Kostform mit Langzeit-Vollwertköstlerinnen untersucht (Aalderink et al. 1994). Die unterschiedlichen Begriffe, die im Zusammenhang mit der Vollwertkost verwendet werden, sind für den Verbraucher verwirrend, da die Bezeichnungen im allgemeinen Sprachgebrauch synonym verwendet werden. Die Bezeichnungen Vollwertkost, vollwertige Kost und Vollwert-Ernährung wurden von den jeweiligen Begründern eingeführt. Vollwert-Ernährung impliziert, dass die Lebensmittel durch eine möglichst geringe Verarbeitung noch den vollen Wert der natürlicherweise vorhandenen Inhaltsstoffe aufweisen. Die Definition der Vollwert-Ernährung zeigt, dass es sich bei dieser Kostform um ein ganzheitliches Konzept handelt, das den Ansprüchen, zeitgemäß und nachhaltig zu sein, gerecht wird.
8
8.3
Vollwert-Ernährung – eine zeitgemäße und nachhaltige Ernährungsweise
Die Vollwert-Ernährung ist eine überwiegend lakto-vegetabil ausgerichtete Ernährungsweise, bei der der Verzehr gering verarbeiteter Lebensmittel bevorzugt wird. Sie ist als Dauerkost geeignet und fördert langfristig die Gesundheit des Menschen (v. Koerber et al. 2004). Somit ist die Vollwert-Ernährung nicht nur als Therapieform für die
110
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 8 · Vollwert-Ernährung – eine naturheilkundliche Ernährungsweise
Behandlung oder Begleitung von Erkrankungen empfehlenswert, sondern gilt als zeitgemäße und nachhaltige Ernährungsweise für alle gesunden Erwachsenen. Für Schwangere, Stillende, Säuglinge, Kinder und Kranke ist sie mit geringen Abwandlungen ebenfalls geeignet. Durch den hohen Ballaststoff- und Rohkostanteil ist die Vollwert-Ernährung in der Umstellungsphase für Menschen mit eingeschränkter Verdauungskraft nicht für jeden sofort verträglich. Deshalb wird ein schrittweiser Übergang über einen längeren Zeitraum und eine individuell verträgliche Menge der genannten Kostanteile angeraten. Als Dauerernährung ist die Vollwert-Ernährung von medizinischem Interesse, da sie sich sowohl für die Prävention als auch für die Behandlung ernährungsbedingter Erkrankungen bewährt hat. Die Forderung von Werner Kollath »Lasst unsere Nahrung so natürlich wie möglich« ist Grundlage der Vollwert-Ernährung (Kollath 2005). Denn Lebensmittel, die möglichst wenig verarbeitet sind, besitzen noch den vollen Wert der natürlicherweise vorhandenen Inhaltsstoffe und werden deshalb als »vollwertig« bezeichnet. Aber nicht nur die einzelnen Lebensmittel sind vollwertig, sondern die gesamte Ernährung nach diesem Konzept kann als vollwertig bezeichnet werden, da es eine Nährstoffzufuhr beinhaltet, die im Sinne der Empfehlungen der deutschsprachigen Gesellschaften für Ernährung für den Menschen bedarfsgerecht zusammengesetzt ist (D-A-CH 2008). Als zeitgemäß kann die Vollwert-Ernährung in vielfacher Hinsicht gelten – im Einzelnen, weil sie 4 durch ihre bedarfsgerechte Zusammensetzung die Gesundheit der Menschen fördert, 4 durch die Auswahl frischer, vorwiegend unverarbeiteter, pflanzlicher Lebensmittel vielseitig und überzeugend im Geschmack ist, 4 bei der Konzeption auf ihre praktische und ökonomische Durchführbarkeit geachtet wurde, 4 sie mit Anliegen aus den Bereichen Ökologie, Sozialwesen und Kultur vereinbar und damit auch nachhaltig ist.
8.4
Besonderheiten der Vollwert-Ernährung
In der Ernährungswissenschaft werden überwiegend ernährungsphysiologische und hygienischtoxikologische Aspekte beachtet. Die VollwertErnährung unterscheidet sich von dieser üblichen Denkart, indem der Einfluss der Umwelt auf Mensch und Lebensmittel mittelbar und unmittelbar einbezogen wird. Des Weiteren werden die Wechselbeziehungen zwischen Ernährungsweise und gesellschaftlichen und globalen Zusammenhängen berücksichtigt. Diese Zusammenhänge werden mit dem Begriff des Ernährungssystems erfasst. Das Ernährungssystem umfasst die Gesamtheit aller an der Lebensmittelversorgung beteiligten und sie beeinflussenden Teilbereiche. Einbezogen werden Erzeugung, Lagerung, Verarbeitung, Vermarktung (einschließlich Transport), Zubereitung und Verzehr der Lebensmittel sowie die Entsorgung des Verpackungsmülls und der organischen Reste. Durch die enge Verknüpfung der verschiedenen Teilbereiche kommt es bei jeder Handlung zu Rück- und Nebenwirkungen auf das Gesamtsystem, die es zu erkennen und bei nachteiligen Auswirkungen zu vermeiden gilt. Somit nimmt die Konzeption der VollwertErnährung Bezug auf den einzelnen Menschen, gleichzeitig jedoch auch auf Umwelt und Gesellschaft. Die Verantwortung des Menschen in gesundheitlicher, sozialer, ökologischer und ökonomischer Beziehung ist gleichrangig berücksichtigt. Auf dieser Basis werden die Dimensionen, Ansprüche und Ziele der Vollwert-Ernährung benannt (. Tab. 8.2, mod. nach v. Koerber et al. 2004, S. 7). Auf der Basis dieses Konzeptes der VollwertErnährung erfolgt eine Bewertung von Lebensmitteln, die über die allgemein übliche Denkweise der Genuss-, Gesundheits- und Eignungswerte hinausgeht, ohne dass diese Aspekte vernachlässigt werden. In der Vollwert-Ernährung werden auch die psychologischen, kulturellen und politischen Werte von Lebensmitteln berücksichtigt. Dieser ganzheitliche Ansatz fördert ein verantwortungsvolles Umweltbewusstsein eine emotionale Teilnahme an globalen Zusammenhängen sowie ein Verständnis
111 8.5 · Die Vollwert-Ernährung und Werner Kollath
. Tab. 8.2 Dimensionen, Ansprüche und Ziele der Vollwert-Ernährung Dimensionen
Individuum bzw. Gesundheit (gesundheitliche Dimension) Gesellschaft (soziale Dimension) Umwelt (ökologische Dimension) Wirtschaft (ökonomische Dimension)
Ansprüche an das Ernährungssystem
Gesundheitsverträglichkeit Sozialverträglichkeit Umweltverträglichkeit Wirtschaftsverträglichkeit
Weltweite Ziele
Hohe Lebensqualität, besonders Gesundheit Soziale Gerechtigkeit Schonung der Umwelt Faire Wirtschaftsbeziehungen
für die hohe Bedeutung der Nahrung im Sinne der Systemtheorie. Somit wird der Anspruch erhoben, dass die Vollwert-Ernährung sowohl gesundheitsverträglich als auch sozial-, umwelt- und wirtschaftsverträglich ist. Dabei zielt ihre Konzeption auf die Förderung von hoher Lebensqualität – besonders Gesundheit –, sozialer Gerechtigkeit, Schonung der Umwelt sowie fairen Wirtschaftsbeziehungen weltweit. Um den vielseitigen Anforderungen möglichst gerecht zu werden, berücksichtigt die Konzeption der Vollwert-Ernährung die dargestellten komplexen Beziehungen bei den Empfehlungen für Einkauf und Zubereitung von Lebensmitteln.
8.5
Die Vollwert-Ernährung und Werner Kollath
Die Konzeption der Vollwert-Ernährung wurde im Rahmen der Diskussion um eine gesunde, zeitgemäße und nachhaltige Ernährung an der Universität Gießen entwickelt. Sie knüpft an Bestrebungen der wissenschaftlichen Reformbewegung an. Basis
8
der Vollwert-Ernährung sind die Untersuchungen und Schriften von Werner Kollath. Werner Kollath (1892–1971) war Arzt und von 1932 bis 1945 Professor für Hygiene und Bakteriologie an den Universitäten Breslau und Rostock. Er entwickelte auf der Basis langjähriger Fütterungsversuche mit Ratten eine neuartige Ernährungslehre, durch die die bisherige rein chemisch-analytische Betrachtungsweise der Ernährung ersetzt werden sollte. Dabei sollten nicht Einzelfragen gelöst, sondern ein umfassendes theoretisches Konzept erarbeitet werden. Es stand in der Tradition der neuartigen Vitaminlehre der 1920er-Jahre, öffnete sich jedoch zugleich dem Menschen als gesellschaftlichem und genussorientiertem Wesen. Auf diese Weise versuchte Kollath, naturwissenschaftliche Erkenntnisse und kulturbedingtes menschliches Handeln zusammenzuführen und aufeinander zu beziehen. In den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg zählte Kollath zu den bedeutendsten deutschen Ernährungswissenschaftlern. Da er von seiner positivistischen Denkweise und Methodik her stark naturwissenschaftlich ausgerichtet war, hob er sich deutlich von den Lebensreformern seiner Zeit ab. Umso erstaunlicher ist es, dass seine Theorien heute in die Tradition der Lebensreform eingeordnet werden, aber im Bewusstsein der meisten Ärzte bis heute wenig verankert sind. Kollath verharrte nicht allein in der theoretischen Betrachtung der Ernährung. Er setzte seine Erkenntnisse auch in eingängige Sinnsprüche um, von denen viele heute noch bekannt sind. Zum Beispiel: 4 Esst nach Jahreszeiten. 4 Das fette Schwein dürfte genauso wenig gesund sein wie der fette Mensch. 4 Chronischer Missbrauch ist schlimmer als die einmalige Sünde. 4 Wir lächeln oft über Erklärungen, die man vor 100 Jahren gab. Wie wird man in 100 Jahren über uns lachen. Im Gegensatz zu der sich zu Kollaths Lebzeiten etablierenden Ernährungsberatung und Ernährungslehre, die auf einer grundsätzlichen Beschäftigung mit Nährstoffen und der bausteinhaften Zusammensetzung der Nahrung basiert, konnten dem
112
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Kapitel 8 · Vollwert-Ernährung – eine naturheilkundliche Ernährungsweise
Laien sowie Mittlerpersonen komplizierte Inhalte in einfacher Sprache nahegebracht werden. Übrigens geht ein bis heute bekanntes Müsli auf Werner Kollath zurück, das Kollath-Frühstück, ein deutsches Pendant zum Bircher-Müsli. Die Denkweise Kollaths traf insbesondere in den 1950er-Jahren auf heftige Kritik. Seit dieser Zeit wurde er in eine Außenseiterrolle abgedrängt, zumal führende Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) sich strikt gegen ihn stellten. Doch gerade im letzten Jahrzehnt hat auch die DGE viele grundsätzliche Ideen seiner Lehre teilweise in die eigenen Empfehlungen übernommen (z. B. Verzehr von Vollkornprodukten, Frischkost und Rohkost; integrale Funktion von Lebensmitteln; ökologische Aspekte der Ernährung). Danach werden in der Vollwert-Ernährung Lebensmittel unter anderem nach ihrem Verarbeitungsgrad in Wertstufen eingeteilt. Während Kollath von 6 Stufen ausging, unterscheidet die Vollwert-Ernährung nur 4 Wertstufen. Außerdem gehen für die Vollwert-Ernährung weitere Kriterien in die Bewertung mit ein, neben den ernährungsphysiologischen auch soziale, ökologische und ökonomische Aspekte. Für die Gesundheit ist eine sinnvoll zusammengestellte, also bedarfsgerechte Ernährung eine wichtige Voraussetzung. Wissenschaftlich fundierte
Richtlinien hierfür werden von der DGE regelmäßig veröffentlicht. Diese werden auch von der Vollwert-Ernährung erfüllt, die darauf abzielt, gesundheitsfördernd und krankheitspräventiv zu wirken.
Gesundheitliche Ziele der Vollwert-Ernährung (mod. nach v. Koerber u. Leitzmann 2000) 5 Sicherung einer optimalen körperlichen und geistigen Entwicklung und Leistungsfähigkeit 5 Optimierung der körpereigenen Abwehrkräfte 5 Vorbeugung von ernährungsabhängigen Erkrankungen
Für die Gesundheitsverträglichkeit der VollwertErnährung ist insbesondere ihre ernährungsphysiologische Qualität von Bedeutung (. Tab. 8.3, mod. nach v. Koerber et al. 2004, S. 41). Diese wird durch das Verhältnis und die Zusammensetzung von Kohlenhydraten, Protein und Fett bestimmt sowie durch den Gehalt an wertgebenden Inhaltsstoffen. Dazu zählen die essenziellen oder unentbehrlichen, also lebens- und zufuhrnotwendigen Nährstoffe,
13 14
. Tab. 8.3 Ernährungsphysiologische Qualität von Lebensmitteln Wertgebende Merkmale
Wertmindernde Merkmale
15
Gehalt essenzieller Nährstoffe
Gehalt natürlicher Schadstoffe (biogene Substanzen)
16
Gehalt gesundheitsfördernder Inhaltsstoffe (bioaktive Substanzen)
Gehalt an Stoffen durch unsachgemäße Lagerung oder Verarbeitung
Dichte essenzieller Inhaltsstoffe (Nährstoffdichte)
Vorkommen pathogener Mikroorganismen und deren Toxine
Gehalt an Hauptnährstoffen
Gehalt an Rückständen
Energiegehalt
Gehalt an Umweltkontaminanten
Energiedichte
Gehalt an Lebensmittelzusatzstoffen
17 18 19 20
Sättigungswirkung Bekömmlichkeit (Verträglichkeit) Verdaulichkeit und Bioverfügbarkeit Reife und Frische
8
113 8.6 · Ernährungskonzept der Vollwert-Ernährung
wie Vitamine und Mineralstoffe, 8 Aminosäuren sowie die Linolsäure und α-Linolensäure. Außerdem gibt es eine Vielzahl von Nahrungsinhaltsstoffen, die nicht zu den Nährstoffen zählen, die jedoch ebenfalls an der Förderung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit beteiligt sind, wie die sekundären Pflanzenstoffe (7 Kap. 4) und die Ballaststoffe (7 Kap. 5). Diese beiden Stoffgruppen werden zusammen mit Substanzen in fermentierten Lebensmitteln (7 Kap. 6) als bioaktive Substanzen bezeichnet, da sie im Körper Wirkstoffcharakter entfalten. In den vergangenen Jahren wurde ihnen deshalb zunehmend wissenschaftliche Beachtung geschenkt. Zu den bioaktiven Substanzen zählen beispielsweise pflanzliche Farb- und Aromastoffe, Saponine, Phytosterine und Flavonoide (Watzl u. Leitzmann 2005). Auch der Gehalt der Nahrung an wertmindernden Inhaltsstoffen, wie Fremd- oder Schadstoffen und pathogenen Keimen, ist bedeutsam. Weitere wichtige Kriterien sind der Reife- und Frischegrad der Lebensmittel, die Bekömmlichkeit und Verdaulichkeit der Speisen, ihre Sättigungswirkung sowie die Bioverfügbarkeit der Nahrungsbestandteile. Diese ernährungsphysiologischen Kriterien werden in der Konzeption der Vollwert-Ernährung berücksichtigt.
8.6
Ernährungskonzept der Vollwert-Ernährung
Aus dem dargestellten Anspruch der VollwertErnährung, ein schlüssiges Ernährungskonzept zu bieten, ergeben sich als konkrete Umsetzungen bestimmte Grundsätze (7 Kasten). Sie lassen sich den Forderungen nach Gesundheits-, Umwelt- und Sozialverträglichkeit zuordnen, greifen jedoch gleichzeitig fließend ineinander. Die ersten 3 Grundsätze beziehen sich überwiegend auf die Gesundheitsverträglichkeit der Ernährung, die Grundsätze 4 bis 6 besonders auf die ökologische Verträglichkeit, während beim letzten Grundsatz die Sozialverträglichkeit im Vordergrund steht. Die Wirtschaftsverträglichkeit findet sich in allen Grundsätzen. Diese Grundsätze der VollwertErnährung stellen den Rahmen dar, in dem sich die Empfehlungen zur Lebensmittelauswahl bewegen.
Grundsätze der Vollwert-Ernährung (mod. nach v. Koerber et al. 2004, S. 110) 5 Genussvolle und bekömmliche Speisen 5 Bevorzugung pflanzlicher Lebensmittel (überwiegend lakto-vegetabile Ernährungsweise) 5 Bevorzugung gering verarbeiteter Lebensmittel – reichlich Frischkost 5 Ökologisch erzeugte Lebensmittel 5 Regionale und saisonale Erzeugnisse 5 Umweltverträglich verpackte Produkte 5 Fair gehandelte Lebensmittel
Um den Verbrauchern einfache, also möglichst leicht nachvollziehbare Entscheidungshilfen und Handlungsempfehlungen anzubieten, wurden zusammengefasste Empfehlungen zur Lebensmittelauswahl entwickelt. Sie beziehen sich auf Lebensmittel und Lebensmittelgruppen ohne umfassende Produktinformationen und analytische Wertangaben. Die Empfehlungen beschränken sich außerdem nicht nur auf die Lebensmittelauswahl, sondern berücksichtigen auch die Verarbeitung und Zubereitung im Haushalt. Die Empfehlungen zur Lebensmittelauswahl sind praxisnah, leicht nachvollziehbar und direkt umsetzbar.
Die Vollwert-Ernährung: Empfehlungen zur Lebensmittelauswahl (mod. nach v. Koerber et al. 2004, S. 227f.) 5 Gemüse und Obst reichlich verzehren, etwa die Hälfte davon als unerhitzte Frischkost (je nach Vorliebe, Bekömmlichkeit und Jahreszeit ein bis zwei Drittel; auch in milchsaurer Form) 5 Getreide und Getreideprodukte aus Vollkorn bevorzugen und Nicht-Vollkornprodukte, d. h. Produkte aus Auszugsmehlen oder nur teilweise ausgemahlenen Mehlen, nur selten verwenden 5 Kartoffeln möglichst als Pellkartoffeln essen
6
114
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Kapitel 8 · Vollwert-Ernährung – eine naturheilkundliche Ernährungsweise
5 Hülsenfrüchte in den Speiseplan einbeziehen 5 Nüsse, Ölsamen und Ölfrüchte in roher oder gerösteter Form verzehren 5 Die Gesamtfettaufnahme einschränken und qualitativ hochwertige Fette und Öle verwenden, wie kalt gepresste, nicht raffinierte Speiseöle, Butter oder ungehärtete Pflanzenmargarinen mit hohem Anteil an Kaltpressöl 5 Vorzugsmilch, pasteurisierte Vollmilch oder Milchprodukte ohne Zutaten bevorzugen 5 Fleisch, Fisch und Eier, wenn überhaupt gewünscht, nur gelegentlich verzehren 5 Ungechlortes Trinkwasser, kontrolliertes Quellwasser, natürliches Mineralwasser oder ungesüßte Kräuter- und Früchtetees zum Durstlöschen bevorzugen 5 Gewürze und Kräuter reichlich zur Geschmacksverfeinerung verwenden, Salz dagegen sparsam einsetzen (wenn, dann als jodiertes Salz) 5 Süßen mit frischem, süßem Obst, nicht wärmegeschädigtem Honig oder ungeschwefeltem, eingeweichtem Trockenobst o. Ä. (jeweils nur in geringen Mengen und in nicht konzentrierter Form), dagegen isolierte Zucker und Süßstoffe sowie damit hergestellte Produkte meiden 5 Möglichst ausschließlich Erzeugnisse aus anerkannt ökologischer Landwirtschaft verwenden; es sollten Lebensmittel regionaler Herkunft und entsprechend der Jahreszeit bevorzugt werden
16 17 18 19 20
Zur besseren Übersicht und als Hilfe für die Verbraucher bei der Lebensmittelauswahl dient die Orientierungstabelle für die Vollwert-Ernährung, in der die Lebensmittel in 4 Wertstufen unter Einbeziehung der genannten Ansprüche eingeteilt sind (. Tab. 8.4, mod. nach Männle et al. 2007). Vorrangiges Einteilungskriterium ist die ernährungsphysiologische Qualität bzw. der Verarbeitungsgrad. Damit wird dem Zusammenhang Rechnung getragen, dass der Nährstoffgehalt in der Regel in hohem Maße vom Verarbeitungsgrad der Nah-
rung abhängt. Außerdem wurden soziale, ökologische und wirtschaftliche Aspekte bei der Einteilung der Lebensmittel beachtet, die in einzelnen Fällen die Zuordnung verändern oder den Ausschlag für teilweise fließende Übergänge zwischen den Spalten geben. Für die Vollwert-Ernährung wird empfohlen, Gemüse und Obst sowie Vollkornprodukte in den Vordergrund zu stellen, also Produkte aus keimfähigen (gemahlenen, geschroteten oder gekeimten) Getreidekörnern. Das Getreide sollte aus anerkannt ökologischer Landwirtschaft stammen. Zu den Vollkornprodukten zählen Frischkornprodukte (z. B. Frischkornmüsli) aus unerhitztem Vollkorn (frisch geschrotet oder gequetscht und eingeweicht – oder auch angekeimt) mit frischem Obst und Milch(-produkten), eventuell statt Obst auch mit Gemüse und Kräutern; ebenso Gerichte aus erhitztem Vollkorn, z. B. als Aufläufe, Bratlinge oder gekocht als ganzes Korn. Zudem werden empfohlen: Vollkornbrote und Vollkornbrötchen verschiedener Sorten und andere Produkte aus vollem Korn, beispielsweise Vollkornnudeln, Vollkornflocken, Vollkorn-Feinbackwaren und Vollkorngrieß. Weniger empfehlenswert sind Nicht-Vollkornprodukte aus Auszugsmehlen oder nur teilweise ausgemahlenen Mehlen. Dazu zählen Weißbrot, weiße Brötchen, Graubrot, Mischbrot und Toastbrot (sofern es sich nicht um Vollkorntoast handelt), geschälter (weißer) Reis, auch Parboiled-Reis und Graupen. Ebenfalls weniger empfehlenswert sind andere Produkte aus Auszugsmehlen oder teilweise ausgemahlenen Mehlen wie Nudeln, Cornflakes, Feinbackwaren und Grieß. In der Vollwert-Ernährung nicht empfehlenswert sind isolierte Produkte wie Getreidestärke (z. B. in Pudding) und Ballaststoffpräparate (z. B. Kleie). Der Grund für diese Empfehlungen liegt hauptsächlich in der drastischen Wertminderung bei der Herstellung von hellen Mehltypen durch Verluste an Vitaminen, Mineralstoffen, Ballaststoffen und sekundären Pflanzenstoffen.
115 8.6 · Ernährungskonzept der Vollwert-Ernährung
. Tab. 8.4 Orientierungstabelle für die Vollwert-Ernährung – Empfehlungen für die Lebensmittelauswahl gesunder Erwachsener Wertstufen
1 – Sehr empfehlenswert
2 – Empfehlenswert
3 – Weniger empfehlenswert
4 – Nicht empfehlenswert
Verarbeitungsgrad
Nicht/gering verarbeitete Lebensmittel (unerhitzt)
Mäßig verarbeitete Lebensmittel (vor allem erhitzt)
Stark verarbeitete Lebensmittel (vor allem konserviert)
Übertrieben verarbeitete Lebensmittel und Isolate/Präparate
Mengenempfehlung
Etwa die Hälfte der Nahrungsmenge
Etwa die Hälfte der Nahrungsmenge
Nur selten verzehren
Möglichst meiden
Gemüse/ Obst
Frischgemüse
Erhitztes Gemüse (auch milchsaures)
Gemüsekonserven (z. B. Tomaten in Dosen)
Nahrungsergänzungsmittel (z. B. Vitamin-, Mineralstoff-, Ballaststoffpräparate)
Milchsaures Gemüse (z. B. Frischkost-Sauerkraut)
Erhitztes Obst
Obstkonserven (z. B. Kirschen in Gläsern)
Tiefkühlfertiggerichte
Frischobst
Tiefkühlgemüse*
Getreidestärke (z. B. Maisstärke)
Tiefkühlobst Getreide
Gekeimtes Getreide
Vollkornprodukte (z. B. Vollkornbrot, -nudeln, -flocken, -feinbackwaren)
Nicht-Vollkornprodukte (z. B. Weißbrot, Graubrot, weiße Nudeln, Cornflakes, Auszugsmehl-Feinbackwaren)
Vollkornschrot, (z. B. Frischkornmüsli)
Vollkorngerichte
Geschälter (weißer) Reis
Gegarte Kartoffeln (möglichst Pellkartoffeln)
Fertigprodukte (z. B. Püree-, Knödelmischung, Chips)
Frisch gequetschte Flocken Kartoffeln
Kartoffelstärke
Pommes Frites Hülsenfrüchte
Nüsse/Fette/Öle
Gekeimte, blanchierte Hülsenfrüchte
»Sojamilch«
»Sojafleisch«
Erhitzte Hülsenfrüchte
Tofu
Sojaprotein
Fertigprodukte (z. B. Bratlingsmischung)
Sojalezithin
Nüsse*
Geröstete Nüsse*
Gesalzene Nüsse
Nuss-(Nougat)-Creme
Mandeln*
Nussmuse*
Extrahierte, raffinierte Fette und Öle
Gehärtete Fette (z. B. die meisten Margarinen, Frittierfette)
Ölsamen* (z. B. Sonnenblumenkerne, Sesam)
Native, kalt gepresste Öle*
Ungehärtete Pflanzenmargarinen
Fett-Ersatzstoffe
8
116
1
Kapitel 8 · Vollwert-Ernährung – eine naturheilkundliche Ernährungsweise
. Tab. 8.4 Fortsetzung Wertstufen
1 – Sehr empfehlenswert
2 – Empfehlenswert
3 – Weniger empfehlenswert
Nüsse/Fette/ Öle
Ölfrüchte* (z. B. Oliven)
Ungehärtete Pflanzenmargarinen mit hohem Anteil an nativen, kaltgepressten Ölen*
Kokosfett
Butter*
Butterschmalz
Pasteurisierte Vollmilch
H-Milch(-produkte)
Sterilmilch, Kondensmilch
6
Milchprodukte (ohne Zutaten)
Milchprodukte (mit Zutaten)
Milchpulver, Milchzucker
7
Käse* (ohne Zusatzstoffe)
Käse (mit Zusatzstoffen)
Milch-, Molkenprotein
2 3 4 5
Milch/Milchprodukte
Vorzugsmilch
4 – Nicht empfehlenswert
Milch- und Käse-Imitate
8
Schmelzkäse
9
Fleisch/ Fisch/Eier
Fleisch* (bis 2-mal/ Woche)
Fleischwaren, -konserven
Innereien
Fisch* (bis 1-mal/Woche)
Wurstwaren, -konserven
Ei-Pulver
Eier* (bis 2 Stück/Woche
Fischwaren, -konserven
Flüssig-Ei
Ungechlortes Trinkwasser
Kräuter-, Früchtetees
Tafelwasser
Limonaden, Cola-Getränke
13
Kontrolliertes Quellwasser
Verdünnte Fruchtsäfte
Fruchtnektare
Fruchtsaftgetränke
14
Natürliches Mineralwasser
Verdünnte Gemüsesäfte
Kakao
Instantgetränke (z. B. Tee, Kakao)
Getreidekaffee*
Bohnenkaffee, schwarzer Tee
Sportlergetränke, Energy-Drinks
Bier, Wein
Spirituosen
10 11 12
Getränke
15 16
Gewürze/ Kräuter/Salz
Ganze oder frisch gemahlene Gewürze
Gemahlene Gewürze
Kräutersalz
Aromastoffe (natürliche, naturidentische, künstliche)
Frische Kräuter
Getrocknete Kräuter
Meersalz
Geschmacksverstärker (z. B. Glutamat)
Jodiertes Meer- und Kochsalz*
Kochsalz
Honig* (nicht wärmegeschädigt, verdünnt)
Honig (wärmegeschädigt)
Süßwaren, Süßigkeiten
Trockenobst* (ungeschwefelt, eingeweicht)
Trockenobst (geschwefelt)
Isolierte Zucker (z. B. Haushalts- und brauner Zucker)
17 18 19 20
Süßungsmittel
Frisches, süßes Obst
117 8.8 · Die Vollwert-Ernährung – ein Naturheilverfahren
8
. Tab. 8.4 Fortsetzung Wertstufen
1 – Sehr empfehlenswert
2 – Empfehlenswert
Süßungsmittel
3 – Weniger empfehlenswert
4 – Nicht empfehlenswert
Dicksäfte (z. B. aus Äpfeln, Agaven)
Zuckeraustauschstoffe (z. B. Sorbit)
Sirup (z. B. aus Ahorn, Zuckerrüben)
Süßstoffe
Vollrübenzucker, Vollrohrzucker * mäßig zu verwenden Einteilungskriterien für die Lebensmittel in dieser Tabelle sind gesundheitliche/ernährungsphysiologische sowie ökologische, wirtschaftliche und soziale Aspekte. Von besonderer Bedeutung sind Art und Ausmaß der Lebensmittelverarbeitung, da mit zunehmender Verarbeitung in der Regel die Nährstoffdichte sinkt und die ökologischen Nachteile zunehmen. Die Übergänge zwischen den Spalten sind teilweise fließend. Die Nahrung sollte etwa je zur Hälfte aus der 1. und 2. Spalte ausgewählt werden. Lebensmittel aus Spalte 3 sollten nur selten verzehrt, aus Spalte 4 möglichst gemieden werden. Ein Stern (*) bedeutet, dass diese Lebensmittel mäßig verwendet werden sollten; diese mengenmäßige Einschränkung ist in den Spalten 3 und 4 durch die Überschrift gegeben und darum nicht nochmals vermerkt. Weiter oben aufgeführte, d. h. pflanzliche Lebensmittel sollten gegenüber tierischen Lebensmitteln bevorzugt werden. Es sollten möglichst ausschließlich Erzeugnisse aus anerkannt ökologischer Landwirtschaft verwendet werden; diese sind günstiger einzustufen als konventionell erzeugte Lebensmittel. Außerdem sollten der Jahreszeit entsprechende Erzeugnisse regionaler Herkunft bevorzugt werden. Lebensmittel, die besonders schadstoffbelastet sind, sollten gemieden werden; ebenso Nahrungsmittel, die Zusatzstoffe enthalten oder mit isolierten Nährstoffen (außer Jod) angereichert sind, des Weiteren Produkte, die unter Anwendung von Gentechnik hergestellt sind, sowie unnötig verpackte Lebensmittel.
8.7
Praktische Durchführung
Als Hilfestellung für die praktische Durchführung der Vollwert-Ernährung gibt es außerdem einige allgemeine Empfehlungen, die konkret auf das Essverhalten eingehen. So wird beispielsweise empfohlen, die unerhitzte vor der erhitzten Nahrung zu verzehren. Auf diese Weise wird aufgrund des hohen Ballaststoffgehalts von unerhitzter Frischkost bereits eine gewisse Sättigung erreicht. Durch gründliches Kauen sollte ein reger Speichelfluss hervorgerufen werden, damit die Mahlzeiten gut bekömmlich und verdaulich werden. Menschen mit Kauproblemen wird angeraten, die unerhitzte Frischkost in fein geriebener oder pürierter Form zu verzehren. Zudem sollte für den Verzehr der Speisen ausreichend Zeit zur Verfügung stehen. Auf diese Weise werden eine intensivere sinnliche Wahrnehmung und eine bewusste Zuwendung zur Nahrung hergestellt. Dies ist als Teil einer Esskultur für den einzelnen und für die Gesellschaft bedeutsam. Weiterführende Hinweise können dem Werk »Vollwert-Ernäh-
rung – Konzeption einer zeitgemäßen und nachhaltigen Ernährungsweise« (v. Koerber et al. 2004) entnommen werden.
8.8
Die Vollwert-Ernährung – ein Naturheilverfahren
Obwohl die Vollwert-Ernährung primär keine Ernährungstherapie, sondern wie oben dargestellt eine zeitgemäße und nachhaltige Ernährungsweise ist, erfüllt sie doch Bedingungen, die auch an bestimmte Therapieformen gestellt werden. So enthält sie beispielsweise analog der Reduktionskost als Therapiemaßnahme bei Adipositas nur geringe Mengen an Fett; wobei gleichzeitig die Zusammensetzung der Fette physiologisch günstig ist. Ebenso ist die Vollwert-Ernährung eine purinarme Kost und stimmt darin mit der Ernährungstherapie bei Gicht überein. Weitere Beispiele zeigen, welche gesundheitsfördernden Maßnahmen durch den Verzehr von überwiegend pflanzlichen oder von tierischen Lebensmitteln erfüllt werden
118
Kapitel 8 · Vollwert-Ernährung – eine naturheilkundliche Ernährungsweise
1
. Tab. 8.5 Gesundheitsförderung, Behandlung und Prävention ausgewählter Erkrankungen durch tierische und
2
Forderungen zur Förderung der Gesundheit (Auswahl)
Erkrankungen (Auswahl)
Senkung der Gesamtfettzufuhr
3 4 5
pflanzliche Lebensmittel Wird erfüllt durch den Verzehr von pflanzlichen Lebensmitteln
tierischen Lebensmitteln
Arteriosklerose, Adipositas, Hypertonie
+
–
Senkung der Gesamtproteinaufnahme
Adipositas, Hyperurikämie
+
–
Steigerung der Aufnahme von komplexen Kohlenhydraten
Diabetes mellitus, Adipositas
+
–
6
Steigerung der Ballaststoffzufuhr
Adipositas, Obstipation, (Krebs)
+
–
7
Verbesserung des Verhältnisses von essenziellen Nährstoffen zu Nahrungsenergie
Diabetes mellitus, Adipositas
+
–
8
Sicherung der Vitaminzufuhr
Arteriosklerose
+
+
Senkung der Purinaufnahme
Hyperurikämie
+
–
Senkung der Cholesterinzufuhr
Arteriosklerose, Fettstoffwechselstörungen
+
–
Steigerung der Zufuhr von essenziellen Fettsäuren
Arteriosklerose, Fettstoffwechselstörungen
+
+ (fetter Salzwasserfisch)
Sicherung der Zufuhr von sekundären Pflanzenstoffen
Arteriosklerose, Krebs
+
–
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
(. Tab. 8.5). Außerdem wird verdeutlicht, dass die genannten Forderungen auch Bestandteil der Ernährungstherapie bei verschiedenen Erkrankungen sind. Es wird deutlich, dass die Vollwert-Ernährung einen therapeutischen Wert besitzt – eine Ernährungsumstellung kann zu positiven Ergebnissen im Heilungsprozess verschiedener Krankheiten beitragen. Die Vollwert-Ernährung erhebt nicht den Anspruch, dass Krankheiten allein durch eine Umstellung der Ernährung geheilt werden können. Es steht außer Frage, dass für gezielte therapeutische Maßnahmen bei Erkrankungen eine weitergehende Beschäftigung mit den Ursachen und Einflüssen notwendig ist. Dennoch besteht eine eindeutige inverse Beziehung zwischen der Häufigkeit von ernährungsabhängigen Krankheiten und einer Ernährungsweise, die vielseitig, ausgewogen und bezüglich der essenziellen Nährstoffe bedarfs-
deckend ist (DGE 2008). Die Vollwert-Ernährung kann demnach zur Prävention von Erkrankungen beitragen, da sie ein wichtiges Element einer gesunden Lebensweise darstellt (Teuscher 1992). Der Zusammenhang zwischen Ernährung und Krankheiten weckte in den vergangenen Jahren insbesondere bei Krebs und Allergien allgemeines Interesse. Diese Zusammenhänge sollen deshalb aus der Sicht der Vollwert-Ernährung kurz dargestellt werden.
8.8.1
Vollwert-Ernährung und Krebs
Zwischen bestimmten Krebserkrankungen und (Fehl-)Ernährung besteht ein Zusammenhang, obwohl Krebs eine multikausale Erkrankung ist, bei der neben genetischen, organischen und physiologischen Ursachen auch Einflüsse aus der Umwelt sowie aus dem psychischen Bereich eine Rolle spie-
119 8.9 · Die Umstellung auf Vollwert-Ernährung
len. Eine Vielzahl von Studien beschäftigt sich mit Krebs und Ernährung; überwiegend sind es epidemiologische Studien oder Tierversuche (WCRF/ AICR 2007). Ergebnisse aus Tierexperimenten sind nur mit Vorsicht auf den Menschen übertragbar. Unbestritten ist, dass eine gesunde Lebensführung, die auch eine vollwertige Ernährung mit einschließt, ein vermindertes Risiko darstellt, an Krebs zu erkranken. Zusammenhänge zwischen Krebs und Ernährung werden insbesondere bei Magen-, Dickdarm- und Prostatakrebs diskutiert und beim Brustdrüsenkrebs weiterhin vermutet. Die Inzidenz von Dickdarm- und Prostatakrebs korreliert beispielsweise mit einer hohen Gesamtfettaufnahme. Prostatakrebs geht mit einer geringeren Vitamin-D3-Konzentration im Blut einher. In Tierversuchen wurde festgestellt, dass eine zu hohe Fettzufuhr die Aktivität von neutrophilen Granulozyten und Monozyten hemmt. Neben der Menge ist auch die Zusammensetzung der Nahrungsfette für das Immunsystem von Bedeutung. Als Beispiel sei die Beteiligung der essenziellen Fettsäuren Linol- und Linolensäure als Vorstufen von bestimmten Prostaglandinen an der Chemotaxis von Entzündungsprozessen genannt. Der häufige Verzehr von Kohlgewächsen sowie von anderem Gemüse und von Obst führt dagegen epidemiologisch und tierexperimentell zu einem geringeren Auftreten von Krebs. Des Weiteren ist eine negative Korrelation zwischen Ballaststoffaufnahme und dem Auftreten von Dickdarmkrebs bekannt. Je höher der Anteil an Ballaststoffen in der Nahrung ist, desto geringer ist die Krebshäufigkeit (Watzl u. Leitzmann 2005). In der Vollwert-Ernährung werden diese Erkenntnisse umgesetzt, indem Gemüse und Obst sowie Vollkornprodukte in den Vordergrund gestellt werden. Ein hoher Rohkostanteil sorgt außerdem dafür, dass die Peristaltik des Darms gefordert und gefördert wird und dass die Gesamtfettmenge begrenzt bleibt.
8.8.2
8
Nahrungsmittelallergien
Zwischen Ernährung und Nahrungsmittelallergien besteht eine deutliche Ursache-Wirkungs-Beziehung. Eine überwiegend pflanzliche Ernährungsweise mit einem hohen Anteil an gering verarbeiteten Lebensmitteln und häufigem Verzehr von Frischkost, wie es in der Vollwert-Ernährung der Fall ist, besitzt theoretisch ein erhöhtes Potenzial an allergie- und pseudoallergieauslösenden Stoffen. Lebensmittelallergiker sollten deshalb unverträgliche Lebensmittel austesten und diese meiden. Hierin unterscheidet sich die Vollwert-Ernährung von keiner anderen Ernährungsweise. Teilweise werden Lebensmittel, die roh zu allergischen Reaktionen führen, in gegarter Form vertragen (Thiel 2004). Allerdings gibt es eine ganze Reihe von Stoffen, die auch in gegarter Form Unverträglichkeiten auslösen – unabhängig davon, um welche Kostform es sich handelt (v. Koerber et al. 2004, S. 105f.). Der bedeutende Vorteil der Vollwert-Ernährung ist jedoch, dass die Zubereitung von Speisen aus frischen Waren leicht nachvollzogen und Allergene identifiziert werden können. Im Gegensatz dazu ist nicht immer transparent, welche Zutaten oder technischen Hilfsstoffe in Fertigprodukten enthalten sind.
8.9
Die Umstellung auf Vollwert-Ernährung
Da die Vollwert-Ernährung bei der Prävention und Therapie von Erkrankungen eine Rolle spielt, ist eine Umstellung von der gewohnten Kost empfehlenswert. Die praktische Anwendung der VollwertErnährung ist kein wissenschaftliches Problem, sondern in erster Linie ein Informations-, Motivations- und Verhaltensproblem. Bei den Betroffenen muss das Bewusstsein gefördert werden, dass jeder Einzelne für seine Gesundheit mitverantwortlich ist und entsprechende Schritte zu seiner Gesunderhaltung unternehmen kann und sollte. Personen, denen aufgrund eines gewissen Leidensdruckes angeraten wird, auf Vollwert-Ernährung umzustellen, könnten besonders motiviert sein. Praktische Informationen mit Rezepten finden sich in inzwi-
120
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 8 · Vollwert-Ernährung – eine naturheilkundliche Ernährungsweise
schen in vielen Kochbüchern (z. B. Leitzmann u. Million 2003). Zusätzlich zu der Herausforderung, der sich jeder Einzelne stellen sollte, sind wirtschaftliche und (gesundheits-)politische Maßnahmen erforderlich. So sollten auch durch Mediziner und sonstige naturheilkundlich tätige Personen die unabhängige gesundheitliche Aufklärung und die Gesundheitsförderung im Interesse des Einzelnen und der Allgemeinheit unterstützt und gestärkt werden. > Ernährungsumstellungen als Therapiemaßnahmen bieten die Möglichkeit, den Patienten ihre Mündigkeit zu belassen und sie gleichzeitig zur Eigeninitiative anzuregen. Dies wird dadurch unterstützt, dass Ergebnisse unmittelbar körperlich erfahren werden.
Ernährungsfachkräfte, Ärzte und Heilpraktiker haben dabei die Aufgabe, im täglichen Umgang mit Patienten Hilfestellungen und Begleitung bei der Umstellung auf Vollwert-Ernährung anzubieten. Dazu ist es notwendig, sich mit den Grundsätzen und Empfehlungen auseinanderzusetzen. Ganz bewusst werden für die Vollwert-Ernährung keine Verbote ausgesprochen, um dem Einzelnen die Verantwortung für sein Verhalten nicht abzunehmen. Gelegentliche Abweichungen führen im Allgemeinen nicht zu Gesundheitsschäden, wichtig ist die prinzipielle Berücksichtigung der Empfehlungen – jeglicher Dogmatismus ist unangebracht. Individuelle Präferenzen und Verträglichkeiten können und sollten berücksichtigt werden. So wird ein einfacher und praktikabler Einstieg in die Vollwert-Ernährung ermöglicht. Für eine Umstellung von der gewohnten Kost auf Vollwert-Ernährung sollte genug Zeit, gegebenenfalls mehrere Monate, zur Verfügung stehen. Zu Beginn kann eine Fastenzeit, beispielsweise eine Fastenwoche, die Umstellung erleichtern, da anschließend weniger Bekömmlichkeitsprobleme auftreten. Begleitend zur Vollwert-Ernährung ist auf ausreichende Bewegung zu achten. Da Ernährungsveränderungen im Krankheitsfall besondere Belastungen darstellen und medikamentöse Behandlungen beeinflussen können, sollten Patienten während der gesamten Umstellungsphase von ihrem Therapeuten begleitet werden.
Es empfiehlt sich, die gewohnte Kost nach und nach umzustellen und sich so schrittweise der Vollwert-Ernährung anzunähern. Mit einer Erhöhung des Anteils an Salaten aus Gemüse oder Obst könnte begonnen werden. Als nächster Schritt bietet sich dann eine Verminderung der Gesamtfettaufnahme (auf etwa 70–80 g/Tag) an, gefolgt von einer Erhöhung des Anteils an Vollkornprodukten. Gleichzeitig sollte der Verzehr von isolierten Zuckern und damit hergestellten Produkten vermindert werden. Der nächste Schritt wäre dann eine Verringerung des Anteils an tierischen Lebensmitteln. Erst wenn diese Schritte erfolgreich vollzogen sind, sollte eine Frischkornmahlzeit in den Speiseplan einbezogen werden.
8.10
Zusammenfassung
Im Rahmen der Ernährungstherapie nimmt die Vollwert-Ernährung einen besonderen Stellenwert ein, da sie sowohl auf den Erkenntnissen der Ernährungswissenschaft als auch der Erfahrungsheilkunde basiert. Sie erhebt den Anspruch, sowohl gesundheits- als auch sozial-, umwelt- und wirtschaftsverträglich zu sein. Die Vollwert-Ernährung ist überwiegend ovo-lakto-vegetabil ausgerichtet. Es wird auf Naturbelassenheit der Lebensmittel geachtet und empfohlen, etwa die Hälfte der Nahrung als Frischkost zu verzehren. Die VollwertErnährung kann auch in der Präventivmedizin eine wichtige Rolle spielen. Risiken für diverse Erkrankungen können nach Umstellung von gewohnter Kost auf Vollwert-Ernährung gesenkt werden. Für die therapeutische Begleitung von Patienten bei einer Umstellung und Durchführung der VollwertErnährung werden Empfehlungen und Anleitungen gegeben.
Literatur Aalderink J, Hoffmann I, Groeneveld M et al.: Ergebnisse der Gießener Vollwert-Ernährungs-Studie. Lebensmittelverzehr und Nährstoffaufnahme von Vollwertköstlerinnen und Mischköstlerinnen. Ernähr. Umsch. 41: 328– 335 (1994) Anemueller H: Das Grunddiätsystem. Leitfaden der Ernährungstherapie mit vollwertiger Nahrung. 4. Aufl. Hippokrates, Stuttgart, (1993)
121 Literatur
Bircher-Benner M: Mein Testament – Vom Werden des neuen Arztes. Bircher-Benner Verlag, Bad Homburg (1989) Bruker MO: Unsere Nahrung – unser Schicksal. Lahnstein. 40. Aufl. emu-Verlag, Lahnstein (2005) D-A-CH (Deutsche, österreichische und schweizerische Gesellschaften für Ernährung): Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr. Umschau/Braus, Frankfurt (2008) DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V.): Ernährungsbericht. DGE, Bonn (2008) Koerber K v, Leitzmann C: Vollwert-Ernährung – genussvoll, gesund, ökologisch, sozialverträglich. aid-Special 10, 3353. 7. Aufl. Auswertungs- und Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Bonn (2000) Koerber K v, Männle T, Leitzmann C: Vollwert-Ernährung. Konzeption einer zeitgemäßen und nachhaltigen Ernährungsweise. Haug, Stuttgart (2004) Kollath W: Die Ordnung unserer Nahrung. 17. Aufl. Haug, Stuttgart (2005) Leitzmann C: Vegetarismus – Grundlagen, Vorteile, Risiken. 3. Aufl. Beck, München (2009) Leitzmann C, Keller M: Vegetarische Ernährung. Ulmer Verlag, Stuttgart (2009) Leitzmann C, Million H: Vollwertküche für Genießer. 7. Aufl. Bassermann, München (2003) Leitzmann C, Keller M, Hahn A: Alternative Kostformen. 2. Aufl. Hippokrates, Stuttgart (2005) Leitzmann C, Koerber K v, Männle T: Die Gießener Formel – Aktuelle Definition der Vollwert-Ernährung. UGB-Forum 20:257 (2003) Männle T, Koerber K v, Leitzmann C et al.: Orientierungstabelle für die Vollwert-Ernährung, Orientierung für die Lebensmittelauswahl gesunder Erwachsener. 5. Aufl. UGB, Wettenberg (2007) Teuscher A: Vollwert-Ernährung – wertvoll für alle. Stiftung Ernährung und Diabetes, Bern (1992) Thiel C: Gut leben trotz Nahrungsmittelallergie. Trias, Stuttgart (2004) Waerland A, Waerland E: Waerland-Kost für Gesunde, Kranke, Kleinkinder, Säuglinge. Waerland, Hamburg (1951) Watzl B, Leitzmann C: Bioaktive Substanzen in Lebensmitteln. 3. Aufl. Hippokrates, Stuttgart (2005) WCRF/AICR (World Cancer Research Fund/American Institute for Cancer Research): Food, Nutrition and the prevention of cancer: a global perspective. AICR, Washington, DC (2007)
8
123
Vegetarische Ernährung Claus Leitzmann
9.1
Grundsätzliches – 124
9.1.1 9.1.2
Begriffsbestimmung und Definitionen – 124 Beweggründe für eine vegetarische Lebensweise – 125
9.2
Historische Entwicklung des Vegetarismus – 126
9.3
Ernährungsphysiologische Bewertung vegetarischer Kostformen – 128
9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.3.5 9.3.6 9.3.7 9.3.8 9.3.9
Energieliefernde Nährstoffe – 128 Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente – 129 Vitamin B12 – 129 Homocystein – 130 Vitamin D – 130 Eisen – 130 Zink – 131 Selen – 131 Jod – 131
9.4
Gesundheitszustand von Vegetariern – 131
9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.4.5 9.4.6 9.4.7 9.4.8 9.4.9
Übergewicht – 132 Atherosklerose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen – 132 Hypertonie – 132 Diabetes mellitus – 132 Osteoporose – 133 Karies – 133 Krebserkrankungen – 133 Hyperurikämie – 134 Rheuma – 134
9.5
Schlussbemerkungen – 134
9.6
Zusammenfassung – 135
9
124
1 2 3 4 5 6 7 8
Kapitel 9 · Vegetarische Ernährung
Es gibt eine Vielzahl vegetarischer Ernährungsformen, zwischen denen bei der Bewertung ihrer Tauglichkeit als Naturheilverfahren gewissenhaft unterschieden werden muss. Eine Fülle wissenschaftlicher Studien zeigt, dass der Lakto-Ovo-Vegetarismus als Dauerkostform sowie für die Prävention und Therapie verschiedener Krankheiten geeignet ist. Im vorliegenden Kapitel wird dargestellt, wie die verschiedenen Varianten vegetarischer Ernährungsformen in der Praxis erfolgreich durchgeführt werden können. In diesem Beitrag lesen Sie: 4 die Beschreibungen der verschiedenen Ausprägungen des Vegetarismus, 4 eine Darstellung des naturheilkundlichen Potenzials vegetarischer Kostformen, 4 praktische Anweisungen zur langfristigen Durchführung vegetarischer Kostformen, 4 eine Bewertung der Bedeutung vegetarischer Kostformen zur Prävention und Therapie.
9 10 11
9.1
»
Grundsätzliches
Tiere sind meine Freunde … und meine Freunde esse ich nicht. Georg Bernhard Shaw (Schriftsteller, Irland, 1856–1950)
«
12 13 14 15 16 17 18 19 20
Vegetarische Kostformen sind die wichtigsten alternativen Ernährungsweisen, die erfolgreich in der Prävention und Therapie verschiedener Krankheiten eingesetzt werden können; sie zählen aus diesen Gründen zu den Naturheilverfahren. Grundlegende Gedanken zu dieser Thematik finden sich im Kapitel Vollwerternährung (7 Kap. 8.1, . Tab. 8.1). Hier soll nochmals unterstrichen werden, dass die Bedeutung vegetarischer Kostformen in ihrer Langzeitwirkung besteht und dass neben dem therapeutischen Potenzial besonders auch präventive Wirkungen erzielt werden können. Außerdem wird es für viele Menschen immer wichtiger, dass neben den gesundheitlichen auch ökologische, ethische und soziale Anliegen in Ernährung, Medizin und anderen Lebensbereichen berücksichtigt werden. Dieses wird von vegetarischen Kostformen vorbildlich geleistet (Leitzmann 2003).
9.1.1
Begriffsbestimmung und Definitionen
Der Begriff Vegetarismus wurde erstmals um 1850 erwähnt, obwohl vegetarische Gemeinschaften bereits in der Antike bekannt waren. Der Terminus Vegetarier leitet sich vom lateinischen Wort vegetare (beleben) bzw. vegetus (frisch, lebendig, belebt) ab. Es handelt sich also um eine lebendige Ernährungs- und Lebensweise, in der neben pflanzlichen Lebensmitteln nur Produkte verzehrt werden, die von lebenden Tieren stammen, wie Eier, Milch und Honig. In diesem Sinne hat Pythagoras (Philosoph, Griechenland, 570–500 v. Chr.), der Begründer des klassischen Vegetarismus, die fleischlose Kost benannt (7 Kap. 1). Der Vegetarismus ist keine homogene Ernährungsform, sondern besteht in der Praxis aus einer Reihe von Varianten, die sich neben der Auswahl der Lebensmittel auch in den zugrunde liegenden Motiven unterscheiden. So sind viele der sogenannten alternativen Ernährungsformen vegetarisch geprägt (Leitzmann et al. 2005), obwohl sich deren Anhänger aus ihrem Selbstverständnis heraus nicht als Vegetarier bezeichnen (Leitzmann u. Keller 2009). Zur Einteilung der verschiedenen Ernährungsformen dienen am zweckmäßigsten die Lebensmittel, die verzehrt bzw. gemieden werden. In allen vegetarischen Ernährungsformen wird der Verzehr von Produkten von getöteten Tieren vermieden. Die Einbeziehung von Lebensmitteln, die von lebenden Tieren stammen, unterscheidet die Hauptformen des Vegetarismus (. Tab. 9.1, mod. nach Leitzmann u. Keller 2009). . Tab. 9.1 Formen vegetarischer Ernährung Bezeichnung
Meiden von*
Ovo-Vegetarier
Fleisch, Fisch und Milch
Lakto-Vegetarier
Fleisch, Fisch und Eiern
Lakto-Ovo-Vegetarier
Fleisch und Fisch
Veganer
Allen vom Tier stammenden Lebensmittel (Fleisch, Fisch, Milch, Eier, Honig)
* Bei allen Lebensmitteln werden auch die jeweils daraus hergestellten Produkte gemieden.
125 8.10 · Grundsätzliches
Lakto-Ovo-Vegetarier stellen die weitaus größte Gruppe dar, die Veganer machen weniger als 10 % der Vegetarier aus (Schönhöfer u. Leitzmann 1989). Veganer praktizieren die vegetarische Lebensweise am konsequentesten und werden auch als strenge oder strikte Vegetarier bezeichnet. Vegan lebende Menschen benutzen meist auch keine von Tieren stammenden Gebrauchsgegenstände oder Materialien wie Leder oder Wolle. Die meisten Rohköstler bilden eine besondere Gruppe unter den Veganern, die ausschließlich unerhitzte pflanzliche Kost verzehren. Gewisse Rohköstler wiederum, so auch jene, die versuchen, sich von ihrem Instinkt bei der Nahrungsauswahl leiten zu lassen, essen auch rohes Fleisch, rohen Fisch und teilweise Insekten; diese Menschen zählen nicht zu den Vegetariern. Als »Pudding-Vegetarier« werden Personen bezeichnet, die verschiedenen vegetarischen Ernährungsformen anhängen, aber eine ungünstige Auswahl und Zubereitung ihrer Kost praktizieren, die nicht einer vielseitigen, nährstoffreichen und damit gesunderhaltenden Ernährungsweise entspricht. Es werden überwiegend stark verarbeitete Produkte verzehrt, die meist eine hohe Energiedichte, aber unzureichende Mengen an Vitaminen, Mineralstoffen, Ballaststoffen sowie sekundären Pflanzenstoffen enthalten, sodass latente oder gar ausgeprägte Mangelzustände eintreten können. Es ist diese Gruppe der Vegetarier, die dem Vegetarismus einen schlechten Ruf eingebracht hat und weiterhin einbringt.
9.1.2
Beweggründe für eine vegetarische Lebensweise
Eine vegetarische Ernährung ist, von Ausnahmen abgesehen (Religion, ärztliche Verordnung), eine bewusste Entscheidung ihrer Anhänger, weder Fleisch noch Fisch und daraus hergestellte Produkte zu verzehren. Diese Entscheidung ist fast immer eingebettet in den gesamten Lebensstil, der eine Hinterfragung in vielen anderen Lebensbereichen zur Folge hat. Die Beschäftigung mit körperlicher, geistiger und seelischer Gesunderhaltung führt unter anderem dazu, dass der Konsum von Alkohol, Nikotin, koffeinhaltigen Getränken und Drogen bei
9
Vegetariern weit unter dem Bevölkerungsdurchschnitt liegt. Körperliche Aktivität, verschiedene Entspannungsmethoden wie autogenes Training sowie Meditationstechniken wie Yoga spielen dagegen eine größere Rolle (Leitzmann 2009). Die verschiedenen Ausprägungen der vegetarischen Ernährungsweise lassen bereits erkennen, dass es den »typischen Vegetarier« nicht gibt. Die Beweggründe zur Entscheidung für diesen Lebensstil, die auf Erfahrungen, Erwartungen, Lebensumständen und Anliegen basieren, sind sehr vielseitig (. Tab. 9.2, mod. nach Leitzmann u. Keller 2009). Die Motive von Vegetariern sind nicht immer dauerhaft fixiert, sondern können sich mit der Zeit ändern und die Ernährungsumstellung erfolgt meist schrittweise. Es zeigt sich, dass in westlichen Ländern der häufigste Grund für eine vegetarische Ernährung ethischer und danach gesundheitlicher Art ist. Zu den weiteren Gründen zählen die nicht artgerechte Haltung und Fütterung sowie der problematische Transport und die Schlachtung der Tiere. Auch die zahlreichen Skandale mit Lebensmitteln tierischer Herkunft in den letzten Jahrzehnten haben den Vegetarismus gefördert. Diese unterschiedlichen Beweggründe sind Hinweise auf die potenziellen Risiken einer vegetarischen Ernährung, denn es ist bekannt, dass Mangelversorgung fast immer bei den ethisch motivierten und nicht bei den gesundheitlich orientierten Vegetariern festgestellt wird.
. Tab. 9.2 Gründe für eine vegetarische Ernährung Ethisch/ religiös
Töten als Unrecht/Sünde Fleischverzehr als religiöses Tabu Lebensrecht für Tiere Mitgefühl für Tiere Ablehnung der Massentierhaltung Ablehnung der Tiertötung als Beitrag zur Gewaltfreiheit in der Welt Ablehnung des Verzehrs tierischer Nahrung als Beitrag zur Lösung des Welthungerproblems
126
Kapitel 9 · Vegetarische Ernährung
1
. Tab. 9.2 Fortsetzung
2
Ästhetisch
Abneigung gegen den Anblick toter Tiere Ekel vor Fleisch Höherer kulinarischer Genuss vegetarischer Gerichte
3 Spirituell
4
Freisetzung geistiger Kräfte Unterstützung von meditativen Übungen und Yoga
5
Verminderung des Geschlechtstriebes Sozial
6
Erziehung Gewohnheit
7
Gruppeneinflüsse Gesundheitlich
8
Allgemeine Gesunderhaltung (undifferenziert) Körpergewichtsabnahme
9
Prophylaxe bestimmter Erkrankungen Heilung bestimmter Erkrankungen
10
Steigerung der körperlichen Leistung
11
Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit
12 13 14 15
Kosmetisch
Körpergewichtsabnahme
Hygienisch-toxikologisch
Bessere Küchenhygiene in vegetarischen Küchen
Ökonomisch
Begrenzte finanzielle Möglichkeiten
Sozial
Ablehnung tierischer Nahrung als Beitrag zur Lösung des Welthungerproblems
Ökologisch
Verminderung der durch Massentierhaltung bedingten Umweltbelastungen
16 17 18 19 20
9.2
Beseitigung von Hautunreinheiten
Verminderung der Schadstoffaufnahme
Sparen für andere Werte als Ernährung
Historische Entwicklung des Vegetarismus
Die frühen Vorfahren des Menschen haben sich etwa 50 Millionen Jahre lang überwiegend oder ausschließlich vegetarisch ernährt. Erst vor etwa 4 Millionen Jahren begannen unsere Ahnen auch tierische Produkte zu verzehren, wahrscheinlich
zunächst Fisch und Kleintiere, dann Aas und Knochenmark und später auch Fleisch (Ströhle et al. 2006a, 2006b). Die pflanzlichen Lebensmittel blieben aber Hauptnahrung, da sie gefahrlos gesammelt werden konnten. Deshalb wäre die Bezeichnung »Sammler und Jäger« für diese Lebensform auch richtiger als »Jäger und Sammler«. Der Grundstein für eine vegetarische Lebensweise aus moralischen Erwägungen wurde in der Antike gelegt. Im 6. Jh. v. Chr. waren es die Orphiker, die eine fleischlose Kost praktizierten und den Verzehr alles »Beseelten« vermieden. Im gleichen Jahrhundert wurde der Verzehr von Fleisch von Pythagoras abgelehnt. In Asien wirkten zur gleichen Zeit Buddha (Religionsstifter, Indien, 560– 480 v. Chr.), Konfuzius (Philosoph, China, 551– 479 v. Chr.) und Laotse (Philosoph, China, um 300 v. Chr.), die basierend auf dem Glauben an Seelenwanderung und Reinkarnation den Verzehr von beseelten Wesen untersagten. Die vegetarische Ernährungsweise wurde bis vor 100 Jahren auch als Pythagoräismus bezeichnet und fand seit der Zeit von Pythagoras bis heute viele prominente Anhänger (. Tab. 9.3, mod. nach Leitzmann u. Keller 2009). Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erfasste der Vegetarismus in Europa und den USA erstmals eine breitere Öffentlichkeit. Samuel Hahnemann (Arzt, Deutschland, 1755–1843), Christof Wilhelm Hufeland (Arzt, Deutschland, 1762– 1836) und Vinzenz Prießnitz (Naturheilkundiger, Deutschland, 1799–1851) übernahmen eine Vorreiterrolle für eine naturgemäße Lebens- und Heilweise, in der Vegetarismus eine zentrale Rolle einnahm. Auch die bald folgende Lebensreformbewegung, mit Jean-Jacques Rousseau (Philosoph, Frankreich, 1712–1778) als geistigem Vater, propagierte eine vegetarische Lebensweise. Im Jahre 1867 gründete Eduard Wilhelm Baltzer (Theologe und Schriftsteller, Deutschland, 1814– 1887) den ersten vegetarischen Verein in Deutschland. Die erste vegetarische Gaststätte wurde 1871, vermutlich unter Mitwirken von Richard Wagner (Komponist, Deutschland, 1813–1891) in Bayreuth eröffnet, das erste Reformhaus entstand 1887 in Berlin. In der weiteren Entwicklung des Vegetarismus spielten Ellen White (Adventistin, USA, 1827–
127 9.3 · Historische Entwicklung des Vegetarismus
. Tab. 9.3 Berühmte Vegetarier Pythagoras
Philosoph, Griechenland
570–500 v. Chr.
Empedokles
Philosoph, Griechenland
483–420 v. Chr.
Ovid
Dichter, Italien
43 v.–17 n. Chr.
Seneca
Philosoph, Italien
5 v.–65 n. Chr.
Plutarch
Philosoph, Griechenland
46–120 n. Chr.
Porphyrios
Philosoph, Griechenland
233–304 n. Chr.
Leonardo da Vinci
Maler und Erfinder, Italien
1452–1519
François-Marie Arouet, genannt Voltaire
Schriftsteller, Frankreich
1694–1778
Jeremy Bentham
Moralphilosoph, England
1748–1832
Arthur Schopenhauer
Philosoph, Deutschland
1788–1860
Percy Bysshe Shelley
Schriftsteller, England
1792–1822
Henry David Thoreau
Schriftsteller, USA
1817–1862
Leo Tolstoi
Dichter, Russland
1828–1910
Wilhelm Busch
Dichter, Deutschland
1832–1908
Bertha von Suttner
Schriftstellerin, Österreich
1843–1914
Thomas Alva Edison
Erfinder, USA
1847–1931
John Harvey Kellogg
Arzt, USA
1852–1943
George Bernhard Shaw
Schriftsteller, Irland
1856–1950
Mahatma Gandhi
Rechtsanwalt, Indien
1869–1948
Elly Ney
Musikerin, Deutschland
1882–1968
Franz Kafka
Schriftsteller, Deutschland
1883–1924
Isaac Bashevis Singer
Schriftsteller, Polen
1904–1991
Yehudi Menuhin
Musiker, USA
1916–1999
Barbara Rütting
Schauspielerin, Deutschland
*1927
Jane Goodall
Verhaltensforscherin, Großbritannien
*1934
Eugen Drewermann
Theologe, Deutschland
*1940
Paul McCartney
Musiker, Großbritannien
*1942
Reinhard Mey
Musiker, Deutschland
*1942
George Harrison
Musiker, Großbritannien
1943–2001
Nina Hagen
Musikerin, Deutschland
*1955
Bryan Adams
Musiker, Kanada
*1959
Carl Lewis
Sportler und neunfacher Olympiasieger, USA
*1961
Kim Basinger
Schauspielerin, USA
*1963
9
128
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 9 · Vegetarische Ernährung
1915), John Harvey Kellogg und Max Bircher-Benner (Arzt, Schweiz, 1867–1939) eine entscheidende Rolle. Der Vegetarierbund Deutschland zählt heute etwa 2.500 Mitglieder, das ist ein verschwindend kleiner Teil der geschätzten 6 Millionen Vegetarier in Deutschland (Leitzmann u. Keller 2009).
9.3
Ernährungsphysiologische Bewertung vegetarischer Kostformen
Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass eine vegetarische Ernährung geeignet ist, alle essenziellen Nähr- und Wirkstoffe in bedarfsgerechter Menge zuzuführen. Um Nutzen und etwaige Risiken objektiv beurteilen zu können, muss aus ernährungsphysiologischer und medizinischer Sicht geprüft werden, ob und in welchem Umfang eine vegetarische Ernährung – wie übrigens jede andere Kostform – folgende Aspekte erfüllt (Sabaté 2001, Leitzmann 2009): 4 Sicherstellung der Nährstoffversorgung 4 Erhaltung bzw. Verbesserung der Gesundheit 4 Vermeidung unerwünschter Nebeneffekte 4 Eignung für alle Lebensphasen und Bevölkerungsgruppen 4 Vorteile (bzw. keine Nachteile) in ihren Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden gegenüber anderen Kostformen Wichtigste Grundlage für eine ausreichende Nährstoffversorgung ist der Nährstoffbedarf, d. h. diejenigen Mengen an Nährstoffen, die aus objektivierbaren, naturwissenschaftlichen Gründen für die Aufrechterhaltung aller Körperfunktionen des Organismus und somit für optimale Gesundheit und Leistungsfähigkeit benötigt werden. Der Nährstoffbedarf kann mit verschiedenen naturwissenschaftlichen biochemischen, immunologischen und physiologischen Methoden überprüft und gemessen werden. Offizielle Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr enthalten meist großzügige Sicherheitszuschläge, sodass eine gewisse Unterschreitung dieser Empfehlungen nicht zwangsläufig eine Mangelversorgung bedeutet. Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand wird zur optimalen Nährstoffversorgung sowie zur Prä-
vention ernährungsabhängiger Erkrankungen folgende Lebensmittelauswahl empfohlen: 4 überwiegender Verzehr pflanzlicher Lebensmittel 4 tierische Produkte in geringen Mengen 4 geringer Verzehr von Auszugsmehlprodukten und raffinierten Produkten 4 Fett überwiegend in Form einfach ungesättigter Fettsäuren 4 Genussmittel wie Alkohol, Nikotin und Kaffee, wenn überhaupt, in geringen Mengen 4 geringer Verzehr von geräucherten, gepökelten und scharf gebratenen Nahrungsmitteln Diese Empfehlungen werden mit vollwertigen vegetarischen Kostformen meist besser erfüllt als mit der durchschnittlichen Fleischkost. So überschreitet die Nahrungsenergieaufnahme bei vegetarischer Kost selten die Empfehlungen (Appleby et al. 1999, Leblanc et al. 2000, Davey et al. 2003), und der hohe Ballaststoffgehalt entspricht den Richtwerten. Diese Kombination erweist sich als günstig im Hinblick auf die Vermeidung von Übergewicht und die damit im Zusammenhang stehenden ernährungsabhängigen Erkrankungen.
9.3.1
Energieliefernde Nährstoffe
Bei entsprechend breiter Lebensmittelauswahl können auch Veganer ihren Nahrungsenergiebedarf problemlos decken, es kommt aber auch vor, dass bei veganer Ernährung die Energiezufuhr zu niedrig ist mit der Folge, dass Körperproteine für die Energiegewinnung herangezogen werden. Während des Wachstums und in der Schwangerschaft und Stillzeit sollte eine vegane Ernährung nur bei guter Sachkenntnis praktiziert werden. > Die Aufnahme der energieliefernden Nährstoffe (Kohlenhydrate, Fette, Proteine) unterscheidet sich zwischen den vegetarischen und den nicht vegetarischen Ernährungsformen deutlich.
Kohlenhydrate werden von Vegetariern in größerer Menge zugeführt als von Nicht-Vegetariern. Veganer nehmen am meisten Kohlenhydrate und, wegen des hohen Obstverzehrs, diese auch mehr in Form
129 9.3 · Ernährungsphysiologische Bewertung vegetarischer Kostformen
von Monosacchariden auf. Nur Veganer erreichen die offiziell empfohlene Kohlenhydratzufuhr von 50–60 Energieprozent (D-A-CH 2008). Ballaststoffe werden durch den hohen Verzehr pflanzlicher Lebensmittel, besonders Getreide, bei Vegetariern in überdurchschnittlicher Höhe zugeführt. Die empfohlene Menge von mindestens 30 g/ Tag (D-A-CH 2008) wird erreicht oder überschritten. Bei einer hohen Zufuhr müssen potenzielle unerwünschte Wirkungen bedacht werden, wie die mögliche Verminderung der Absorption von Kalzium, Eisen, Magnesium und Zink sowie vorübergehende Blähungen. Die Fettzufuhr liegt bei Vegetariern niedriger als bei Nicht-Vegetariern. Nur die Veganer liegen im Bereich der offiziellen Empfehlungen von 25–30 Energieprozent (D-A-CH 2008). Die Cholesterinzufuhr ist deutlich niedriger als im Bevölkerungsdurchschnitt, Veganer nehmen kein Cholesterin auf. Protein wird von Vegetariern in niedrigerer Menge zugeführt als von Fleischessern, deren Zufuhr in den industrialisierten Ländern die Empfehlungen von etwa 10 Energieprozent (D-A-CH 2008) deutlich überschreitet. Bei einer ausgewogenen vegetarischen Ernährung ist die Proteinzufuhr problemlos gewährleistet, auch wenn die biologische Wertigkeit einzelner pflanzlicher Proteine niedriger ist wie die einzelner tierischer Proteine. Die Proteine verschiedener pflanzlicher (oder tierischer) Lebensmittel in der Kost führen durch Ergänzungseffekte zu einer Aufwertung und damit zu etwa gleicher Wertigkeit wie einzelne tierische Proteine.
9.3.2
Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente
Von den nicht-energieliefernden Nährstoffen (Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente) sollen lediglich jene angesprochen werden, bei denen für Vegetarier potenzielle Versorgungsmängel bekannt sind oder diskutiert werden:
9.3.3
9
Vitamin B12
Vitamin B12 (Cobalamin) kommt fast ausschließlich in tierischen Lebensmitteln vor (Donaldson 2000), sodass bei Lakto-Ovo-Vegetariern eine ausreichende Versorgung vorliegt, nicht jedoch bei Veganern (Waldmann et al. 2004a), die deutlich weniger als 1 mg/Tag aufnehmen. Die Empfehlung im deutschsprachigen Raum von 3 mg/Tag (D-A-CH 2008) ist durch hohe Sicherheitszuschläge geprägt, die WHO empfiehlt lediglich 1 mg/Tag, sodass der Grad der Unterversorgung entscheidend von der Bezugsgröße abhängt. Besonders vor und während der Schwangerschaft sowie in der Stillzeit ist eine unzureichende Versorgung mit Cobalamin problematisch. Säuglinge verfügen nur über einen geringen Cobalaminspeicher (Casella et al. 2005). Bei gestillten Kindern von sich vegan ernährenden Müttern, die keine Cobalamin-Supplemente nahmen, wurden deshalb schwere Mangelerscheinungen beobachtet (Lücke et al. 2007). Klinische Mangelzeichen treten aufgrund der hohen Reservekapazität dieses Vitamins bei Erwachsenen nur selten auf. Vegane Kost ist reich an Folsäure, deshalb ist bei gleichzeitig niedriger Vitamin-B12-Zufuhr, wegen der funktionalen Verbindung beider Vitamine, die Entwicklung einer cobalaminbedingten Anämie verzögert. Indessen schreiten die durch Cobalaminmangel bedingten neurologischen Veränderungen weiter voran, sodass beim Auftreten einer Anämie bereits schwere irreversible Schädigungen des zentralen Nervensystems vorhanden sein können (Leitzmann u. Keller 2009). Bei veganer Ernährung wird daher insbesondere vor und während der Schwangerschaft und der Stillzeit eine Supplementierung mit Vitamin B12 empfohlen (ADA u. DOC 2003). Es gibt pflanzliche Lebensmittel, die zur Vitamin-B12-Versorgung beitragen können, wie fermentierte Produkte (z. B. Sauerkraut, Joghurt, gewisse Soja-Erzeugnisse) sowie bestimmte Algen, Hefen und Wurzelgemüse. Obwohl die für den Menschen geeignete Form von Vitamin B12 allerdings meistens nur in kleinen Mengen vorhanden ist, erklärt dies teilweise, warum Veganer nicht zwangsläufig einen Cobalaminmangel aufweisen (Leitzmann u. Keller 2009).
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
130
Kapitel 9 · Vegetarische Ernährung
9.3.4
Homocystein
Homocystein gilt inzwischen als eigenständiger Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Werte liegen bei Vegetariern meist höher als bei Fleischessern und können bei Veganern bedenkliche Größenordnungen erreichen (Bissoli 2002, Waldmann 2004a). Verantwortlich ist die limitierte Umwandlung von Homocystein zu Methionin, bedingt durch eine unzureichende Vitamin-B12Versorgung.
9.3.5
Vitamin D
Vitamin D wird bei Lakto-Ovo-Vegetariern in der Regel in ausreichender Menge zugeführt. Bei Veganern und besonders bei vegan ernährten Kindern ist Vitamin D ein kritischer Nährstoff, weil die empfohlene Zufuhr nicht immer erreicht wird (Larsson u. Johansson 2002, Davey et al. 2003, Appleby et al. 2007). Insbesondere Säuglinge, die von Veganerinnen länger als 6 Monate gestillt werden, haben ohne Vitamin-D-Supplementierung ein hohes Risiko einer Rachitis. Für schwangere und stillende Vegetarierinnen, die sich nicht ausreichend im Freien aufhalten, wird ebenfalls eine Supplementierung empfohlen (ADA u. DOC 2003). Da Vitamin D fast nur in tierischen Produkten, besonders in Fisch, Innereien und Eiern enthalten ist, sollten sich Veganer viel im Freien aufhalten, um die Eigensynthese von Vitamin D zu ermöglichen. Bei nachgewiesenem Mangel sollten vorübergehend Supplemente genommen werden.
9.3.6
Eisen
Eisen wird von Vegetariern in gleichen Mengen wie von Fleischessern zugeführt (Davey et al. 2003, Cade et al. 2004), allerdings wird das Eisen aus pflanzlichen Lebensmitteln in deutlich geringerer Menge resorbiert als aus tierischen Produkten (. Tab. 9.4, mod. nach Leitzmann u. Keller 2009). Außerdem enthalten pflanzliche Lebensmittel Substanzen, die die Resorption des Eisens vermindern können; andererseits gibt es eine Anzahl von Faktoren, die sich günstig auf die Eisenresorption aus-
. Tab. 9.4 Eisenresorption aus verschiedenen Nahrungsmitteln Nahrungsmittel
Resorption [%]
Pflanzlich Reis
Nahrungsmittel
Resorption [%]
Tierisch 1
Fisch
9–13
Spinat
1–2
Blut
11–14
Bohnen
2–3
Schweinefleisch
8–14
Mais
3–4
Schweineleber
10–14
Salat
3–6
Rindfleisch
12–18
Weizen
5–6
Rinderleber
9–13
Soja
6–8*
Kalbfleisch
19–24
Sauerkraut
25–35
Kalbsleber
11–20
* Angaben möglicherweise zu hoch
wirken (. Tab. 9.5, mod. nach Leitzmann u. Keller 2009). Der Eisenstatus von Vegetariern kann deshalb ganz normal sein, aber nach einigen Studien weisen insbesondere Frauen einen erniedrigten Serum-Ferritinspiegel und verringerte Eisenspeicher auf (Heins et al. 1999, Hunt 2003). Bei Veganerinnen stellt sich die Eisenversorgung teilweise kritisch dar (Waldmann et al. 2004b, 2005). Die Eisenzufuhr bei vegetarisch und besonders bei vegan ernährten Kleinkindern ist im Vergleich zu den Empfehlungen nicht immer ausreichend. Trotz bedarfsgerechter Eisenzufuhr können Kinder eine milde Form des Eisenmangels entwickeln. Bezüglich Infektionskrankheiten sowie der Entstehung radikalassoziierter Erkrankungen wie Herzinfarkt, Arteriosklerose und Krebs werden Normwerte der Eisenspeicher im unteren Bereich inzwischen als günstig bewertet (Waldmann et al. 2004b). Zur Verbesserung des Eisenstatus können Vegetarier eisenhaltige Lebensmittel wie Vollkorngetreideprodukte, Hülsenfrüchte und Blattgemüse gleichzeitig mit Vitamin-C-haltigen Lebensmitteln verzehren, weil dadurch die Eisenresorption verbessert werden kann.
131 9.4 · Gesundheitszustand von Vegetariern
. Tab. 9.5 Der Einfluss von Nahrungsfaktoren auf die Eisenverfügbarkeit In der Nahrung vorhandene Faktoren
Endogene Faktoren
Förderung der Eisenverfügbarkeit Ascorbinsäure (Vitamin C)
Unzureichend gefüllte Eisenspeicher
Fructose
Gesteigerte Bildung von roten Blutkörperchen
Zitronensäure
Gesteigerter Eisenbedarf (Wachstum, Schwangerschaft)
Nahrungsproteine
Magensäure
Aminosäuren (Lysin, Methionin, Cystein) Milchsäure Hemmung der Eisenverfügbarkeit Oxalate (Spinat, Rhabarber, Kakao)
Gefüllte Eisenspeicher
Phytinsäure (Vollgetreide, Kleie, Soja)
Infektionen
Carbonate
Entzündungen
Kalzium, Phosphat
Mangel an Magensäure
Tannine, Polyphenole (schwarzer Tee, Kaffee, Hirse, Spinat, Rotwein) Ballaststoffe (nicht Zellulose) Proteinmangel in der Nahrung Exzessive Zufuhr anderer Metallionen: Kadmium, Kobalt, Kupfer, Mangan, Blei, Zink
9.3.7
Zink
Zink wird ähnlich wie Eisen von Vegetariern in etwa gleichen Mengen zugeführt (Cade et al. 2004), die Resorption ist aus pflanzlichen Lebensmitteln generell etwas geringer als aus tierischen Produkten, aber nicht so ausgeprägt unterschiedlich wie
9
beim Eisen (Hunt 2002). Bei vegetarisch ernährten Kindern kann Zink ein kritischer Nährstoff sein, da ein höherer Bedarf während des Wachstums vorliegt und die Fähigkeit der Anpassung zur effizienten Resorption noch nicht vorhanden ist. Zinkquellen für Vegetarier sind mit abnehmendem Gehalt Vollkorngetreide, Samen, Nüsse, Eier, Hülsenfrüchte, Wurzel- und Blattgemüse sowie Milchprodukte.
9.3.8
Selen
Selen wird zwischen 50 und 90 % aus dem Duodenum resorbiert. Die Selenaufnahme vegetarisch ernährter Gruppen ist ähnlich wie bei Fleischessern, unterliegt jedoch Schwankungen abhängig vom Selengehalt des Bodens. Neben Getreide kann der hohe Selengehalt von Nüssen (besonders Paranüssen) und Sesamsamen wesentlich zur Versorgung bei einer vegetarischen Ernährung beitragen.
9.3.9
Jod
Jod gilt durch den flächendeckenden Einsatz von Jodsalz inzwischen nicht mehr als kritischer Nährstoff. Dieses trifft für die Gesamtbevölkerung zu, also auch für Vegetarier, es sei denn, alle mit Jod angereicherten Produkte werden konsequent gemieden. Durch den weiten Einsatz von Jodsalz ist es allerdings für Jodallergiker problematisch geworden, sich mit Produkten zu versorgen, die nicht mit Jod angereichert sind. Es gibt sie in Reformhäusern und Naturkostläden. Eine weitere Alternative ist die Selbstzubereitung der Kost (von Koerber et al. 2004, S. 333).
9.4
Gesundheitszustand von Vegetariern
An der Häufigkeit des Auftretens verschiedener ernährungsbedingter Erkrankungen lässt sich der Gesundheitszustand von Vegetariern bewerten. Dabei muss bedacht werden, dass nicht nur
132
1 2 3 4 5 6 7 8
Kapitel 9 · Vegetarische Ernährung
die Ernährung, sondern weitere Lebensstilfaktoren einen Einfluss auf die Gesundheit ausüben. So spielen genetische Aspekte, Umweltbedingungen, körperliche Aktivität, Konsum von Suchtmitteln und Stress einen entscheidenden Einfluss (Key et al. 1999a). Einigkeit besteht aber dahingehend, dass die Ernährung der wichtigste Faktor ist. Mortalitätsanalysen zeigen, dass Vegetarier im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine niedrigere Sterblichkeitsrate aufweisen (Key et al. 1999b). Die wichtigsten ernährungsabhängigen Krankheiten sollen im Folgenden kurz dargestellt werden. Positive Wirkungen vegetarischer Kost werden auch bei weiteren Erkrankungen diskutiert, für welche die Datenlage aber nicht eindeutig ist. Hierzu zählen Nierenkrankheiten, Gallensteine, Blinddarmentzündungen und Demenz (ADA u. DOC 2003).
che dafür sind die Blutfettwerte, die bei Vegetariern insgesamt günstiger sind als bei Fleischessern. Geringere Gesamt-Cholesterinwerte, ein günstigeres HDL/LDL-Verhältnis sowie geringere Bluttriglyzeridwerte reduzieren das Risiko arteriosklerotischer Prozesse. Diese protektiven Blutfettwerte sind direkt auf vegetarische Kost zurückzuführen (Key et al. 1999a). Im Vergleich zu fleischhaltiger Kost ist eine vegetarische Kost fett- und besonders cholesterinärmer, ballaststoffreicher und durch einen höheren P/S-Quotienten gekennzeichnet, also durch ein günstigeres Verhältnis von mehrfach ungesättigten (PUFA, polyunsaturated fatty acids) zu gesättigten (SAFA, saturated fatty acids) Fettsäuren (Appleby et al. 1999, Hu 2003).
9.4.3
9 10 11 12 13 14 15 16 17
9.4.1
Übergewicht
Übergewicht ist eine der am weitesten verbreiteten Gesundheitsstörungen in wohlhabenden Bevölkerungsgruppen und betrifft über die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung. Übergewicht gilt als Risikofaktor für eine Reihe weiterer Krankheiten, wie sie weiter unten aufgeführt sind. Vegetarier leiden deutlich weniger an Übergewicht als Mischköstler. Dies ist primär auf die vegetarische Kost zurückzuführen, die weniger Gesamtfett sowie einen hohen Anteil an komplexen Kohlenhydraten und Ballaststoffen und damit eine niedrigere Nahrungsenergiedichte aufweist (Walter 1997). Eine vegetarische Kost mit vollwertigen Lebensmitteln kann daher nicht nur die Entstehung von Übergewicht verhindern, sondern auch eine geeignete therapeutische Maßnahme darstellen, um Übergewicht abzubauen (Fraser 1999).
Hypertonie gilt als primärer Risikofaktor für die Entstehung von kardiovaskulären Erkrankungen und betrifft etwa 10–20 % der Bevölkerung in Deutschland. Vegetarier haben meist niedrigere systolische und diastolische Blutdruckwerte als Mischköstler (Melby et al. 1994). Die hohe Ballaststoffaufnahme und eine niedrige Zufuhr an gesättigten Fettsäuren mit vegetarischer Kost wirken einem Blutdruckanstieg entgegen. Die günstigen Einflüsse einer Kost mit niedrigem glykämischen Index auf die Insulinantwort sowie die allgemeinen Gesundheitsvorteile pflanzlicher Lebensmittel werden als weitere mögliche Erklärungen diskutiert (ADA u. DOC 2003). Sicherlich ist auch die insgesamt gesundheitsbewusste Lebensweise der Vegetarier für die eher normalen Blutdruckwerte mit verantwortlich.
9.4.4
18 9.4.2
19 20
Atherosklerose, Herz-KreislaufErkrankungen
Atherosklerose und Herz-Kreislauf-Erkrankungen stehen in vielen Industrieländern mit etwa 50 % Anteil an allen Todesursachen an der Spitze der Sterbestatistiken. Eine entscheidende Ursa-
Hypertonie
Diabetes mellitus
Diabetes mellitus ist eine weit verbreitete Stoffwechselkrankheit, von der mindestens 5 % der Bevölkerung betroffen sind. Diabetes Typ 2 tritt häufig gemeinsam mit weiteren Stoffwechselstörungen als metabolisches Syndrom auf. Der Diabetes Typ 2 ist durch eine vegetarische Ernährung relativ günstig zu beeinflussen (Apple-
133 9.4 · Gesundheitszustand von Vegetariern
by et al. 1999). Lebensmittel, die komplexe Kohlenhydrate enthalten, wie Vollkornprodukte, führen zu einer gleichmäßigen Freisetzung von Glucose aus dem Abbau der Stärke, sodass sich Blutzuckerspitzen und folgende Insulinspitzen vermeiden lassen. Eine hohe Ballaststoffaufnahme sorgt zusätzlich für eine verzögerte Glucoseresorption (Jenkins et al. 2003). Unter Vegetariern ist Diabetes mellitus weniger verbreitet als bei die Durchschnittsbevölkerung. Eine wesentliche Ursache dafür scheint auch das geringere Vorkommen von Übergewicht zu sein (Leitzmann u. Keller 2009).
9.4.5
Osteoporose
Osteoporose ist eine Knochenkrankheit, die vor allem bei Frauen nach der Menopause auftritt und die durch einen zunehmenden Verlust an Knochensubstanz gekennzeichnet ist. Etwa 6 % der Bevölkerung sind von Osteoporose betroffen. Eine ausreichende Kalzium- und Vitamin-D-Versorgung während der Jahre des Knochenwachstums ist die entscheidende Vorsorgemaßnahme, die aber auch postmenopausal weitergeführt werden sollte. Obgleich Vegetariern nachgesagt wird, dass sie weder genügend Kalzium noch Vitamin D aufnehmen, zeigen Vegetarierinnen hinsichtlich des Verlustes an Knochenmasse günstigere Werte als Mischköstlerinnen auf (Leitzmann u Keller 2009). Bei Lakto-Ovo-Vegetariern ist dies auf die teilweise hohen Kalziumgehalte und die ebenfalls als vorteilhaft erachteten niedrigen Phosphatgehalte der Nahrung zurückzuführen. Der geringere Verzehr von tierischem Protein hat einen kalziumsparenden Effekt und mag erklären, warum Vegetarierinnen trotz ihrer geringeren Kalziumaufnahme keine höhere Anfälligkeit für Osteoporose aufweisen (Appleby et al. 2007).
9.4.6
Karies
Zahnkaries tritt bei fast allen Menschen auf, allerdings hat infolge der intensiven Aufklärungsmaßnahmen in den letzten Jahren die Häufigkeit von Karies beim Einzelnen deutlich abgenommen. Von
9
den Zuckern weist Saccharose das höchste kariogene Potenzial auf, gefolgt von Glucose und Fructose. Honig besteht fast ausschließlich aus Invertzucker (Glucose und Fructose) und ist aufgrund seiner Klebrigkeit bedeutsam für die Entstehung von kariösen Läsionen. Komplexe Kohlenhydrate wie Stärke sind weniger kariogen, da sie durch die Mikroorganismen der Mundflora praktisch nicht abbaubar sind. Anders als bei den meisten ernährungsabhängigen Krankheiten, hat eine vegetarische Ernährung keinen protektiven Einfluss auf die Entstehung von Zahnkaries. Zwar verzehren Vegetarier teilweise geringere Mengen an Süßigkeiten, dafür aber mehr Honig, Trockenfrüchte, Fruchtschnitten, Fruchtsäfte usw., die teilweise erhebliche Mengen an leicht verdaulichen Kohlenhydraten enthalten.
9.4.7
Krebserkrankungen
Krebs stellt nach Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems die zweithäufigste Todesursache in Industrieländern dar. Tumore des Kolons (Dickdarm und Mastdarm) zählen bei Frauen und Männern zu den häufigsten Krebsformen. Wie keine andere Krankheit ist Krebs multikausal bedingt. Zahlreiche endogene Faktoren wie genetische Disposition und Alter sowie exogene Faktoren wie Wasser, Luft, Ernährung, Konsum von Alkohol, Tabak und Medikamenten, Strahlenbelastung und berufliche Exposition können einen Einfluss auf die Entstehung von bösartigen Tumoren haben, sodass die gesamten Lebensumstände bei der Diagnose einbezogen werden müssen. Die meisten dieser Faktoren könnten gezielt beeinflusst werden, besonders der Tabakkonsum und die Ernährung. Studien zeigen, dass durch eine geeignete Lebensmittelauswahl das Kolon- und Magenkrebsrisiko um bis zu 90 %, das Brustkrebsrisiko um 50 % und das Risiko für eine Reihe anderer Krebsarten um mindesten 20 % gesenkt werden kann (WCRF/AICR 2007). Zu den Risikofaktoren für die Entstehung von Dickdarmkrebs zählen ein hoher Fleischkonsum und damit auch ein hoher Fettverzehr, ein hoher Anteil an gesättigten Fettsäuren in der Kost, eine hyperenergetische Ernährung, ein hoher Alkohol-
134
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Kapitel 9 · Vegetarische Ernährung
konsum sowie eine ballaststoffarme Kost. Als protektiv wird der häufige Verzehr von Gemüse und Obst als Träger von bioaktiven Substanzen, Vitaminen und Mineralstoffen betrachtet, die u. a. durch antioxidative Wirkungsmechanismen die Unversehrtheit und Funktionsfähigkeit der Zellen unterstützen. In den letzten 40 Jahren sind der Fettkonsum in Japan um das Dreifache und der Fleischverzehr um das Neunfache gestiegen, während der Reisverzehr um ein Drittel abgenommen hat. Im gleichen Zeitraum erfolgte ein markanter Anstieg der Fälle von Dickdarmkrebs (WCRF/AICR 2007, S. 282). Studien aus anderen Ländern bestätigen diese Zusammenhänge. Zahlreiche epidemiologische Studien belegen, dass Vegetarier seltener als die Durchschnittsbevölkerung an bösartigen Tumoren – besonders Darmund Brustkrebs – erkranken, bzw. daran sterben. Eine vegetarische Ernährung ist in der Regel reich an antikanzerogenen Substanzen wie Ballaststoffen, sekundären Pflanzenstoffen (7 Kasten), antioxidativen Vitaminen und Milchsäurebakterien (Leitzmann u. Keller 2009).
Gesundheitsfördernde Wirkungen von sekundären Pflanzenstoffen (mod. nach Watzl u. Leitzmann 2005, S. 18) 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
antikanzerogen antioxidativ antimikrobiell antithrombotisch entzündungshemmend immunmodulierend blutdruckregulierend cholesterinspiegelsenkend blutglucoseregulierend verdauungsfördernd
18 Hyperurikämie
19
9.4.8
20
Es ist bekannt, dass primär regelmäßiger Fleischverzehr zu einer Hyperurikämie (Lea u. Worsley 2002) und als Folge zu Gicht führt. Darüber hinaus trägt auch der bei Vegetariern meist geringe-
re Alkoholkonsum, die größere körperliche Aktivität und das seltener vorhandene Übergewicht zu einer geringen Prävalenz der Hyperurikämie im Vergleich zu Fleischkonsumenten bei (Leitzmann u. Keller 2009).
9.4.9
Rheuma
Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises werden in vielen Fällen sehr positiv durch eine Rohkosternährung beeinflusst. Zu diesem Thema liegt eine ganze Reihe von klinischen Studien vor (Semler 2005). Inzwischen gibt es eine Anzahl von Ratgebern zur Prävention und Therapie der genannten Krankheiten, die der vegetarischen Ernährung eine besondere Rolle zusprechen (z. B. Leitzmann et al. 1996, Leitzmann u. Keller 2009).
9.5
Schlussbemerkungen
Die Empfehlungen zu Auswahl und Zubereitung von Lebensmitteln, die zur Senkung der Risiken für die verschiedenen ernährungsabhängigen Krankheiten gegeben werden, sind dem Lakto-Ovo-Vegetarismus sehr ähnlich und mit dieser Ernährungsform fast optimal zu erfüllen. Auch die anderen Formen des Vegetarismus kommen dem Anspruch einer aus medizinischer Sicht optimalen Nahrungswahl sehr nahe, wenn dabei eine vollwertige Ernährung (7 Kap. 8) praktiziert wird. Da viele Vegetarier zwar meist besser ernährt sind als die Durchschnittsbevölkerung, aber nicht ausreichend über eine vollwertige Ernährung informiert sind, kann auch diese Gruppe von professioneller Ernährungsberatung profitieren. Obgleich viele Vegetarier bedingt durch eine Erkrankung zum Vegetarismus kommen, liegt ihre durchschnittliche Lebenserwartung etwas höher (Singh et al. 2003). Wünschenswert wäre allerdings, dass die Ernährungsumstellung bereits früher erfolgen würde, da Vegetarier seltener von bestimmten Krankheiten betroffen sind. Wenn überhaupt, dann werden sie meist deutlich später als die Durchschnittsbevölkerung krank, sodass diese Ernährungsform insgesamt als gesünder zu bewerten ist. Weitere wichtige Gründe für den Vegetarismus
135 9.6 · Zusammenfassung
sind, dass gleichzeitig mit dieser Ernährungsweise ökologische, ethische und soziale Anliegen verwirklicht werden können. Eine Stellungnahme der nordamerikanischen Diätverbände besagt Folgendes (ADA u. DOC 2003):
»
Entsprechend geplante vegetarische Kostformen sind gesund, bedarfsgerecht und bieten gesundheitliche Vorteile in der Prävention bestimmter Krankheiten. Gut geplante vegane oder andere Varianten vegetarischer Kost sind für alle Lebensphasen geeignet, auch während der Schwangerschaft, Stillzeit, Kleinkindzeit, Kindheit und Jugend. Vegetarische Kostformen bieten eine Anzahl ernährungsphysiologischer Vorteile, inklusive geringere Mengen an gesättigten Fettsäuren, Cholesterin und tierischem Protein wie auch höhere Mengen an Kohlenhydraten, Ballaststoffen, Magnesium, Kalium, Folsäure und antioxidativen Vitaminen wie Vitamin C und E sowie sekundären Pflanzenstoffen. Vegetarische Kostformen sind günstig für die Prävention und Behandlung weit verbreiteter Krankheiten wie Übergewicht, Herzkrankheiten, Bluthochdruck, Diabetes, Krebs, Osteoporose, Nierenkrankheiten, Demenz, Divertikulose, Gallensteine, rheumatoide Arthritis und Blinddarmentzündungen.
«
9.6
Zusammenfassung
Bei vegetarischer Ernährung können unterschiedliche Formen des Vegetarismus unterschieden werden, je nachdem, ob lediglich Produkte von getöteten Tieren oder sämtliche von Tieren stammenden Lebensmittel gemieden werden. Beim Lakto-OvoVegetarismus werden neben pflanzlicher Kost auch Milch und Eier und daraus hergestellte Produkte verzehrt, beim Ovo-Vegetarismus Eier(-produkte) und beim Lakto-Vegetarismus Milch(-produkte). Veganer wiederum meiden alle vom Tier stammenden Lebensmittel, wobei sich die Ablehnung auch auf andere tierische Produkte wie Leder und
9
Wolle erstrecken kann. Unterschiedlich wie die Ausprägungen dieser Ernährungsweise sind auch die zugrunde liegenden Motive. Während für viele Lakto-Ovo-Vegetarier überwiegend gesundheitliche Gründe ausschlaggebend sein mögen, sind für Veganer häufig ethisch-moralische Überlegungen von noch größerer Bedeutung. Philosophische Bewegungen, die Verzehr von Tieren und ihren Produkten kritisch bewerten bzw. verbieten, lassen sich bis in die Antike zurück verfolgen, nicht nur in Europa, sondern insbesondere auch im asiatischen Raum (z. B. Buddhismus, Hinduismus). Eine ausgewogene vegetarische Ernährungsform bietet der Lakto-Ovo-Vegetarismus. Er eignet sich aus ernährungsphysiologischer Sicht problemlos zur vollständigen Bedarfsdeckung im Rahmen einer vollwertigen Ernährung. Eine vegane Ernährung kann problematisch sein, da das vollständige Meiden von tierischen Produkten zu spezifischen Mangelsituationen führen kann. Insbesondere in der Schwangerschaft und Stillzeit und für heranwachsende Kinder ist diese Ernährungsweise nur unter optimalen Bedingungen zu empfehlen. Eine Ernährung nach den Prinzipien des Lakto-OvoVegetarismus kann als präventiv für eine ganze Reihe wichtiger Erkrankungen gelten, wie Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus, Osteoporose, bestimmte Formen von Krebs und Hyperurikämie bzw. Gicht.
Literatur ADA (American Dietetic Association), DOC (Dietetics of Canada): Position of the ADA and DOC: vegetarian diets. J Am Diet Ass 103(6):748–765 (2003) Appleby P, Roddam A, Allen N et al.: Comparative fracture risk in vegetarians and nonvegetarians in EPIC-Oxford. Eur J Clin Nutr 61:1400–1406 (2007) Appleby PN, Thorogood M, Mann JI et al.: The Oxford Vegetarian Study: an overview. Am J Clin Nutr 70(3 Suppl): 525–531 (1999) Bissoli L, di Francesco V, Ballarin A et al.: Effect of vegetarian diet on homocysteine levels. Ann Nutr Metab 46(2):73– 79 (2002) Cade JE, Burley VJ, Greenwood DC: The UK Women’s Cohort Study: comparison of vegetarians, fish-eaters and meateaters. Publ Health Nutr 7(7):871–878 (2004) Casella EB, Valente M, de Navarro JM et al.: Vitamin B12 deficiency in infancy as a cause of developmental regression. Brain Dev 27:592–594 (2005)
136
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 9 · Vegetarische Ernährung
D-A-CH (Deutsche, Österreichische und Schweizerische Ernährungsgesellschaften): Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr. Neuer Umschau Buchverlag, Neustadt a. d. Weinstraße (2008) Davey GK, Spencer EA, Appleby PN et al.: EPIC-Oxford: lifestyle characteristics and nutrient intakes in a cohort of 33.883 meat-eaters and 31.546 non meat-eaters in the UK. Publ Health Nutr 6(3):259–269 (2003) Donaldson MS: Metabolic vitamin B12 status on a mostly raw vegan diet with follow-up using tablets, nutritional yeast, or prebiotic supplements. Ann Nutr Met 44(5– 6):229–234 (2000) Fraser GE: Associations between diet and cancer, ischemic heart disease, and all-cause mortality in non-Hispanic white California Seventh-day Adventists. Am J Clin Nutr 70(3 Suppl):532–538 (1999) Heins U, Hoffmann I, Leitzmann C: Eisenversorgung bei vegetarischer Ernährung. Ern Umschau 46(3):82–88 (1999) Hu FB: Plant based foods and prevention of cardiovascular disease: an overview. Am J Clin Nutr 78(3S):544–551 (2003) Hunt JR: Moving toward a plant-based diet: are iron and zinc at risk? Nutr Rev 60:127–134 (2002) Hunt JR: Food components that influence the absorption of non-heme iron, if consumed concurrently. Am J Clin Nutr 78(3S):633–639 (2003) Jenkins DJA, Kendall CWC, Marchie A et al.: Type 2 diabetes and the vegetarian diet. Am J Clin Nutr 78(3S):610– 615 (2003) Key TJ, Davey GK, Appleby PN: Health benefits of a vegetarian diet. Proc Nutr Soc 58(2):271–275 (1999a) Key TJ, Fraser GE, Thorogood M et al.: Mortality in vegetarians and non vegetarians: detailed findings from a collaborate analysis of 5 prospective studies. Am J Clin Nutr 70(3 Suppl):516–524 (1999b) Koerber K v, Männle T, Leitzmann C: Vollwert-Ernährung. Konzeption einer zeitgemäßen und nachhaltigen Ernährungsweise. Haug, Stuttgart (2004) Larsson CL, Johansson GK: Dietary intake and nutritional status of young vegans and omnivores in Sweden. Am J Clin Nutr 76(1):100–106 (2002) Lea E, Worsley A: The cognitive contents of beliefs about the healthiness of meat. Publ Health Nutr 5(1):37–45 (2002) Leblanc JC, Yoon H, Kombadjian A et al.: Nutritional intakes of vegetarian populations in France. Eur J Clin Nutr 54(5):443–449 (2000) Leitzmann C: Nutrition ecology: the contribution of vegetarian diets. Am J Clin Nutr 78(3S):657–659 (2003) Leitzmann C: Vegetarismus – Grundlagen, Vorteile, Risiken. Beck, München (2009) Leitzmann C, Keller M: Vegetarismus. Ulmer, Stuttgart (2009) Leitzmann C, Keller M, Hahn A: Alternative Kostformen. Hippokrates, Stuttgart (2005) Leitzmann C, Weiger M, Kurz M: Ernährung bei Krebs. Gräfe und Unzer (1996) Lücke T, Korenke G, Poggenburg I et al.: Mütterlicher Vitamin-B12-Mangel: Ursache neurologischer Symptoma-
tik im Säuglingsalter. Z Geburtshilfe Neonatol 211:157– 161 (2007) Melby CL, Toohey ML, Cebrick J: Blood pressure and blood lipids among vegetarian, semi vegetarian, and non vegetarian African Americans. Am J Clin Nutr 59(1):103– 109 (1994) Sabaté J (Hrsg.): Vegetarian nutrition. CRC, Boca Raton (2001) Schönhöfer-Rempt R, Leitzmann C: Ernährungsgewohnheiten von Vegetariern. Ernähr Umsch 36:56–61 (1989) Semler E: Pflanzliche Rohkost – therapeutische Möglichkeiten bei rheumatischen Erkrankungen. Schw Z Ernähr Med 3(3):13–18 (2005) Singh PN, Sabaté J, Fraser GE: Does low meat consumption increase life expectancy in humans? Am J Clin Nutr 78(3S):526–532 (2003) Ströhle A, Waldmann A, Wolters M et al.: Vegetarische Ernährung: Präventives Potenzial und mögliche Risiken. Teil 1: Lebensmittel pflanzlicher Herkunft. Wien Klin Wochenschr 118:580–593 (2006 a) Ströhle A, Waldmann A, Wolters M et al.: Vegetarische Ernährung: Präventives Potenzial und mögliche Risiken. Teil 2: Lebensmittel tierischer Herkunft und Empfehlungen. Wien Klin Wochenschr 118:728–737 (2006 b) Waldmann A, Koschizke JW, Hahn A et al.: Homocystein and cobalamin status of German vegans. Publ Health Nutr 7(3):467–472 (2004a) Waldmann A, Koschizke JW, Leitzmann C et al.: Dietary iron intake and iron status of German female vegans. Ann Nutr Met 48(2):103–108 (2004b) Waldmann A, Koschizke JW, Leitzmann C et al.: German Vegan Study: diet, life-style factors and cardiovascular risk profile. Ann Nutr Metab 49:366–372 (2005) Walter P: Effects of vegetarian diets on aging and longevity. Nutr Rev 55:61–68 (1997) Watzl B, Leitzmann C: Bioaktive Substanzen in Lebensmitteln. Hippokrates, Stuttgart (2005) WCRF/AICR (World Cancer Research Fund/American Institute for Cancer Research): Food, nutrition, physical activity and the prevention of cancer: a global perspective. AICR, Washington, DC (2007)
137
Haysche Trennkost Edmund Semler, Thomas Heintze
10.1
Einleitung – 138
10.2
Entstehung des Hay Systems – William Howard Hay, M. D. – 139
10.3
Übersäuerung als Krankheitsursache – 140
10.4
Die Nahrungsmittelauswahl/Richtlinien der Trennkost – 142
10.4.1 10.4.2
Originalempfehlungen nach Hay – 142 Empfehlungen heute nach Walb/Heintze – 144
10.5
Entwicklung der Hayschen Trennkost in Deutschland – 144
10.5.1 10.5.2 10.5.3
Summ-Trennkost – 146 Modifizierte Trennkost nach Noelke – 146 Insulin-Trennkost nach Pape – 147
10.6
Indikationen für Trennkost – 151
10.7
Ernährungswissenschaftliche Bewertung – 152
10.8
Fazit – 160
10.9
Zusammenfassung – 161
10
138
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kapitel 10 · Haysche Trennkost
Im Zuge des steigenden Gesundheitsbewusstseins hat das Interesse der Bevölkerung an alternativen Ernährungsformen in den letzten Jahren zugenommen. Die Haysche Trennkost zählt seit vielen Jahren zu den bekanntesten alternativen Kostformen und hat sich in jahrzehntelanger Praxis nicht nur als Dauerernährung, sondern auch als Teil einer ganzheitlichen Therapie bei vielen Krankheiten bewährt. Die empirisch belegte gewichtsreduzierende Wirkung der Trennkost wird – basierend auf der Empfehlung der Trennung von kohlenhydrat- und proteinreichen Nahrungsmitteln in einer Mahlzeit – besprochen und auf eine wissenschaftlich fundierte Grundlage gestellt. In diesem Beitrag lesen Sie: 4 wie die Haysche Trennkost entstanden ist und sich in Deutschland entwickelt hat, 4 welche Trennkost-Varianten es gibt, 4 bei welchen Krankheiten sich Trennkost als Therapie in der klinischen Praxis bewährt hat, 4 welche theoretischen Überlegungen der Trennung von kohlenhydrat- und proteinreichen Nahrungsmitteln in einer Mahlzeit ursprünglich zugrunde lagen und wie diese wissenschaftlich zu bewerten sind, 4 wie die Trenn-Regel wissenschaftlich begründet werden kann.
12 13 14 15 16 17 18 19 20
10.1
Einleitung
Die Trennkost zählt seit vielen Jahren zu den bekanntesten und beliebtesten alternativen Ernährungsformen im deutschsprachigen Raum. Nach der vegetarischen Ernährung und Vollwert-Ernährung dürfte sie unter den verschiedenen alternativen Ernährungsformen mit schätzungsweise 1 bis 5 Millionen die meisten Anhänger haben (Keller 2008, S. 184f.). Eine Vielzahl an Buchtiteln, vorwiegend Rezeptbücher, enthält den Begriff »Trennkost«. Die verschiedenen Trennkost-Varianten gehen mehr oder weniger von der Hayschen Trennkost und den ihr zugrunde liegenden Überlegungen aus.
Grundprinzip der Trennkost Das wichtigste und bekannteste Grundprinzip der Trennkost besteht darin, innerhalb einer Mahlzeit kohlenhydrat- und proteinreiche Nahrungsmittel nicht zu mischen, also zu trennen. Zudem wird zur Aufrechterhaltung eines optimalen Säure-Basen-Haushalts der reichliche Verzehr von Gemüse und Obst im Rahmen einer vollwertigen, vorwiegend lakto-vegetabilen Ernährung empfohlen. Das Verhältnis von basen- zu säurebildenden Nahrungsmitteln sollte 3:1 sein (Heintze 2005, S. 14, 24).
Der Großteil der Personen, die sich der Trennkost zuwenden, erhofft sich durch diese eine Gewichtsreduktion. Mitte der 1980er-Jahre hat das Ehepaar Harvey und Marilyn Diamond mit ihrem Bestseller Fit for life wesentlich dazu beigetragen, dass die Grundidee der Trennkost (The principle of proper food combining) wieder vermehrt ins Gespräch kam (Diamond u. Diamond 1985, S. 37–47). Diverse Kritiker sehen in der Trennkost mittlerweile eine alternative Kostform, die in ihrer praktischen Ausgestaltung eine ausreichende Nährstoffversorgung zu gewährleisten vermag und präventiv wirksam ist (Müller 2000; Zunft 2003; Kiefer 2005; Biesalski u. Grimm 2007, S. 330; Kasper 2009, S. 583f.). Der oftmals zu beobachtende Gewichtsverlust im Laufe der Trennkost-Ernährung habe aber nichts mit der Trennung von kohlenhydratund proteinreichen Nahrungsmitteln zu tun, sondern sei auf die günstige Zusammensetzung dieser Ernährungsform im Allgemeinen zurückzuführen. Die empfohlene Trenn-Regel habe keinerlei wissenschaftliche Grundlage (DGE 1998, S. 88–93; McCarty 2000; Oberritter 2001; Laupert-Deick 2002; Siener 2002; Griffin 2003; Wechsler 2003; Kersting u. Reinehr 2006; Biesalski u. Grimm 2007, S. 330; Kasper 2009, S. 583f.). Auch die Berichte von Ärzten über Heilerfolge mit Trennkost werden oft – ohne irgendeine Form der Überprüfung – pauschal als wissenschaftlich nicht haltbar abgetan (Glatzel 1982, S. 168; DGE 1984, S. 215–217; Bitsch et al. 1994; Schrezenmeir et al. 1995, S. 253; Strube 2004). Der wesentliche Einfluss der Ernährung auf den SäureBasen-Haushalt und die These einer möglicherwei-
139 10.2 · Entstehung des Hay Systems – William Howard Hay, M. D
se daraus resultierenden Übersäuerung des Organismus (»latente Azidose«) werden ebenfalls kategorisch abgelehnt (Laube u. Mehnert 1999; Wirth 2008, S. 290; Fussenegger 2009).
10.2
Entstehung des Hay Systems – William Howard Hay, M. D.
William Howard Hay wurde am 14. August 1866 in Hartstown in Pennsylvania geboren. Nach Abschluss des Medizinstudiums am New York University Medical College im Jahre 1891 ließ er sich in Youngsville, Pennsylvania, als praktischer Arzt und Chirurg nieder. Im Jahre 1907 erkrankte Hay schwer. Er wog bereits seit mehreren Jahren über 110 kg und hatte schmerzhafte Ödeme in den Beinen. Als er zu einem herannahenden Zug sprintete, brach er zusammen und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Dort stellten die Ärzte Bluthochdruck und ein vergrößertes Herz fest. Die Diagnose lautete »Brightsche Nierenerkrankung«. Damit wurde seit Anfang des 19. Jahrhunderts die obligatorische Symptomkombination Proteinurie und Ödemneigung, fakultativ auch Hypertonie bezeichnet. Aus heutiger Sicht schließt dies verschiedene Nierenerkrankungen ein, insbesondere jede akute oder chronische Nephritis. Die Ärzte gaben ihm nur noch wenige Monate zu leben. Aus seiner eigenen Praxis waren Hay mehrere ähnliche Fälle bekannt, in welchen er den Patienten nahegelegt hatte, sich auf das baldige Ende vorzubereiten. Im Krankenhaus stellte er fest, dass er keinen Appetit hatte. Er erinnerte sich an eine Beobachtung aus seiner Kindheit auf einer Farm, dass nämlich kranke Tiere jegliche Nahrung meiden. So verzichtete er auf das Essen und begann zu fasten. Nach einigen Tagen fühlte sich Hay derart gut, dass er von sich aus das Krankenhaus verließ und zu Hause ein vierwöchiges Fasten mit Gemüsebrühe und Milch durchführte. Danach nahm er nur eine vollwertige, vegetarische Mahlzeit täglich zu sich und stellte als ehemaliger starker Raucher innerhalb weniger Monate das Rauchen ein. Es folgte eine – wie er es bezeichnet – »Periode der Verjüngung«, die ihn besonders als Arzt geradezu verblüffte. Schließlich war er es gewohnt, Krankheit als großes Mysterium zu betrachten – wie er es eben
10
während des Medizinstudiums an der Universität gelernt hatte. Nach 3 Monaten hatten sich Körpergewicht, Blutdruck und Herzgröße normalisiert. Hay hatte keinerlei Beschwerden mehr und erfreute sich einer Gesundheit, wie er sie lange Zeit nicht mehr gekannt hatte (Hay 1930, S. 11–13; Hay 2005). Von 1908 bis 1912 studierte er intensiv Literatur über Ernährung und Naturheilkunde. Dabei gelangte er zu der für ihn fundamentalen Erkenntnis, dass der Mensch exakt aus dem besteht, was er ständig isst. Hays Vorstellungen über Entstehung und Heilung von Krankheiten änderten sich damit grundlegend. Er begann, seine Patienten mit vollwertiger, rohkostreicher Diät zu behandeln und damit die ersten Erfahrungen mit Ernährungstherapie zu sammeln. In Youngsville eröffnete Hay sein erstes Sanatorium (»The Hay Rest Cure«). Er mietete ein Haus, in dem ein Teil seiner Patienten untergebracht wurde. So konnte er den Einfluss der Ernährung auf den Verlauf von Krankheiten zuverlässig beobachten. Die mit Ernährungstherapie erzielten Erfolge waren derart überwältigend für Hay, dass er seine chirurgische Tätigkeit aufgab und keinerlei Medikamente mehr verschrieb. Die einzig wahre Behandlung aller Krankheiten sah er nun in der Verhinderung ihrer Ursachen (Hay 1930, S. 51, 134). Der Ernährung misst Hay neben anderen Faktoren wie ausreichend Schlaf und Ruhe die wichtigste Bedeutung zu, denn sie trage wesentlich dazu bei, die Selbstheilungskräfte beim Kranken optimal zur Entfaltung zu bringen. Er war sogar der Überzeugung, dass in einem optimal ernährten Körper keine Krankheit entstehen könne (Hay 1939, S. 14f.). Hay hat 3 Voraussetzungen für die Wiedererlangung der Gesundheit formuliert:
» Das Verlangen, gesund zu werden, kein schwacher Wunsch, sich besser zu fühlen, sondern ein brennendes Verlangen verbunden mit dem Willen, viel zu opfern, durch die Hölle zu gehen, falls nötig, um gesund zu werden. Das Wissen über die Art und Weise oder die Methode, mit der diese Rückkehr zur Gesundheit erfolgen soll.
140
Kapitel 10 · Haysche Trennkost
Übersäuerung als Krankheitsursache
1
Die Willenskraft, die feste Entschlossenheit, das Vorhaben durchziehen. (Hay 1939, S. 15).
10.3
2
Nach mehrjähriger Erprobung der später als »HaySystem« bekannten Kostform zog Hay im Jahre 1920 mit seiner Familie nach Buffalo im Staat New York und eröffnete dort das East Aurora Sun and Diet Sanatorium. Im Jahre 1932 erwarb er das Pocono Haven Sanatorium in den Pocono Mountains in Pennsylvania. In beiden Sanatorien konnte Hay vielen Kranken, die teilweise von anderen Ärzten aufgegeben worden waren, zur Heilung verhelfen (Hay 1939, S. 201–204). Seine Erfahrungen, Schlussfolgerungen und theoretischen Überlegungen veröffentlichte er erstmals 1929 in dem Buch Health via food. Im Jahre 1933 erschien sein bekanntestes Werk A new health era, das innerhalb weniger Jahre mehrmals verlegt wurde. Nach dem Tod Hays am 31. Oktober 1940 ließ das Interesse an seinem Ernährungssystem in den USA stark nach. Es erschienen posthum zwar noch zwei Werke von Hay, nämlich What price health (1946) und How to always be well (1967), welche aber eine Zusammenstellung von einzelnen Kapiteln aus früheren Büchern darstellen, inhaltlich also nichts Neues bieten (Hay 1946, 1967). Das Pocono Haven Sanatorium wurde noch einige Jahre von Hays Sohn weitergeführt, geriet aber während des Zweiten Weltkrieges in andere Hände und wurde in ein Hotel umfunktioniert. In den 1960er-Jahren wurde es bei einem Brand zerstört (Hay 2005). In den 1920er- und besonders 1930er-Jahren wurde Hays Arbeit von der American Medical Association heftig kritisiert. Zum einen wurde seine Ansicht, dass die Ernährung in der Prävention und Therapie von Krankheiten eine zentrale Rolle spielt, in Frage gestellt, zum anderen wurden die theoretischen Begründungen des Hay-Systems als falsch bezeichnet. Besonders die von Hay empfohlenen Nahrungsmittelkombinationen hätten keine wissenschaftliche Grundlage (Bureau of Investigation/American Medical Association 1925a, 1925b, 1933; Wolberg 1938). Durch das erstmals 1984 erschienene Buch Food combining for health von Doris Grant (1905–2003) und Jean Joice wurde Hays Ernährungssystem wieder dem englischsprechenden Leserkreis zugänglich (Grant u. Joice 2004).
Aus Hays Büchern lässt sich erkennen, dass er als Arzt eine ganzheitliche Sichtweise hatte. Der Ernährung schrieb er von den gesundheitlich relevanten Faktoren die wichtigste Bedeutung zu. Sie führe bei falscher Zusammensetzung und Durchführung zu Störungen des Säure-Basen-Gleichgewichts, worin er die Hauptursache aller Krankheiten sah. Es ist aus der Originalliteratur nicht ersichtlich, wie Hay dazu gekommen ist, bei der Ergründung der Ursachen von Krankheiten die Übersäuerung ins Zentrum seiner Überlegungen zu stellen. Möglicherweise war er hier von zeitgenössischen Autoren wie den beiden Ärzten Alexander Haig (1853–1924) und John Tilden (1851–1940) oder dem Chemiker Alfred McCann (1879–1931) beeinflusst (Haig 1904, 1908; McCann 1919; Tilden 1926). Haig, Tilden und McCann werden von Hay (1930, S. 201; 1930, S. 158; 1939, S. 95) zumindest namentlich erwähnt. Es ist auch möglich, dass Arbeiten des Ernährungsphysiologen Gustav von Bunge (1844– 1920) eine Rolle gespielt haben. Von Bunge beschäftigte sich um die Jahrhundertwende intensiv mit Fragen des Säure-Basen-Gleichgewichts und untersuchte den Einfluss der Nahrung auf den pH-Wert des Harns (McCay 1953). Hay (1930, S. 104, 107) bezieht sich des Öfteren auf den Chirurgen George W. Crile (1854–1943), der behauptet hätte, dass jeder natürlich bedingte Tod der Endpunkt einer »progressiven Säuresättigung« sei. In einem seiner Bücher schreibt Crile (1916, S. 10, 355), dass Übersäuerung eine Rolle bei vielen Krankheiten und auch beim Eintritt des Todes spielt (»the ultimate cause of death is usually acidosis.«). Ob Hay die auf Englisch veröffentlichten Arbeiten des schwedischen Chemikers Ragnar Berg (1873–1956) gekannt hat, ist nicht geklärt (Rummel 2003, S. 208). Berg (1933) hat in einem 1933 erschienenen Artikel Stellung genommen zu den »amerikanischen Ernährungsreformern« und deren These, dass sich kohlenhydrat- und proteinreiche Nahrungsmittel nicht vertragen. Er bezeichnet diese These als falsch und misst ihr keinerlei Bedeutung zu. Der Säure-Basen-Haushalt war für viele Autoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein beliebtes Thema, das oft in Zusammenhang mit Ernäh-
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
«
141 10.3 · Übersäuerung als Krankheitsursache
rungsfragen und der Entstehung von Krankheiten gebracht wurde (Manz 2001). Seine Theorien zur Übersäuerung hat Hay erstmals in seinem Buch »Health via food« veröffentlicht. Die Übersäuerung führt er auf vier Ursachen zurück.
Ursachen der Übersäuerung nach Hay 5 Eine vielfach höhere tägliche Aufnahme an Protein, als für den Gewebeersatz notwendig wäre (v. a. aus Fleisch, Eiern, Fisch, Käse) 5 ein zu hoher Konsum von raffinierten, stark verarbeiteten Nahrungsmitteln (v. a. Zucker, Weißmehl) 5 eine falsche Kombination von Lebensmitteln innerhalb einer Mahlzeit (gleichzeitiger Verzehr von kohlenhydrat- mit proteinreichen Nahrungsmitteln bzw. sauren Früchten) 5 eine lange Verweildauer fermentierbarer Nahrungsbestandteile im Darm (länger als 24 Stunden) und damit verbundene Gärungs- und Fäulnisprozesse (Hay 1930, S. 162)
Durch die ernährungsbedingte Säurebelastung komme es zur Akkumulation von Säure im Organismus, zur deficient drainage (mangelnde Entgiftung/Ausleitung), wie es Hay (1930, S. 53f.) nennt. Diese innere Verschlackung könne durch Fasten und richtige Ernährung wieder beseitigt werden. Die Bestimmung des Urin-pH-Wertes hält Hay (1930, S. 102) für nicht aussagekräftig, weil dieser im Laufe des Tages starken Schwankungen unterliege. Im reichlichen Verzehr von raffinierten Kohlenhydraten sieht Hay (1936, S. 16, 30) nicht nur eine Quelle für die Säurebildung im Organismus, sondern auch die wesentliche Ursache für die Entstehung von Übergewicht und Adipositas. Er hält deshalb nichts von fettarmen Diäten zur Gewichtsreduktion, sondern empfiehlt bei starkem Übergewicht in erster Linie, den Verzehr von Kohlenhydraten einzuschränken. Die Verdauung von Kohlenhydraten benötigt laut Hay (1930, S. 180–190) ohne Ausnahme ein basisches Milieu für eine vollständige Verdau-
10
ung. Proteine hingegen würden ein saures Milieu für den ersten Schritt bei der Verdauung benötigen. Bei gleichzeitigem Verzehr kohlenhydrat- und proteinreicher Nahrungsmittel komme es zur Neutralisation im Magen, der Stärkeabbau werde behindert. Fermentation und Säurebildung seien die Folge. Werde die Verdauung der Stärke nicht durch zu viel Säure im Magen blockiert, so werde die Stärke im Magen vollständig verdaut, keine rohe Stärke gelange in den Darm. Bei der Aufstellung der laws of chemistry, der »chemischen Verdauungsgesetze«, ging Hay (1939, S. 36) davon aus, dass der Magen die wichtigste Rolle beim Verdauungsprozess spielt. Hays Nahrungsmittelkombinationen zielen deshalb nur auf die Verdauungsvorgänge im Magen ab, ihm wird eine essenzielle Funktion zugemessen. Es müsse deshalb vermieden werden, dass die Stärkeverdauung im Magen mit der Proteinverdauung interferiert (Hay 1937, S. 91). Zur Aufrechterhaltung des Säure-BasenGleichgewichts empfiehlt Hay eine Ernährung, die zu 80 % aus basenbildenden und zu 20 % aus säurebildenden Nahrungsmitteln besteht. Zur ersten Gruppe zählt er Gemüse, Salate und Obst, zur zweiten Fleisch, Eier, Fisch, Käse und Brot (Hay 1939, S. 48). Hay meint, dass der Körper aus 16 chemischen Elementen besteht, von welchen 12 strukturelle Aufgaben zu erfüllen hätten. Diese seien quasi die Bausteine des Körpers. Von diesen Elementen seien jedoch 4 nicht in Strukturen des Organismus eingebaut und seien deshalb als Katalysatoren oder Aktivitätsfaktoren wirksam. Diese 4 Elemente würden vom Körper im Verhältnis von 80 % basisch zu 20 % sauer ausgeschieden (Hay 1937, S. 68). Als proteinreich definiert Hay jene Nahrungsmittel mit einem Proteingehalt von mehr als 15 %, als kohlenhydratreich jene mit einem Anteil von Stärke oder Zucker von mehr als 20 %. Die TrennRegel bezieht sich also nur auf protein- bzw. kohlenhydratreiche Nahrungsmittel (Hay 1939, S. 79f.). Laut Hay (1936, S. 32) sind Bohnen deshalb schwer verdaulich, weil sie einen hohen Protein- und Kohlenhydratgehalt aufweisen. Er empfiehlt deshalb, deren Verzehr zu meiden. – Das von Kritikern oft gegen die Trennkost angeführte Argument, dass das natürlichste Lebensmittel, nämlich die Muttermilch, sowohl Kohlenhydrate als auch Protein ent-
142
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Kapitel 10 · Haysche Trennkost
hält und deshalb die Trenn-Regel generell keinen Sinn mache (Schrezenmeir et al. 1995, S. 252; Müller 2000; Siener 2002; Griffin 2003; Strube 2004), trifft nicht zu, da der Protein- wie auch der Kohlenhydratgehalt der Muttermilch weit unterhalb dieser Anteile liegen. Sie besteht nämlich zu 1 % aus Protein und zu 7 % aus Kohlenhydraten (Lactose) (Schlimme u. Buchheim 1999, S. 9). Hay (1936, S. 63) war davon überzeugt, dass in jedem Abschnitt des Verdauungstraktes bestimmte Bestandteile der Nahrung abgebaut würden (Stärke: Mund und Magen, Protein: Magen und Darm, Fette und Öle: Darm). Da mit dem Speichel Amylase sezerniert wird, nahm er an, dass deren Hauptaufgabe die Verdauung der Stärke im Magen sei (Hay 1930, S. 40f.). Des Weiteren ging er davon aus, dass die ersten Schritte der Verdauung von Protein und Kohlenhydraten nur im Magen vollzogen werden könnten. Zudem glaubte er, dass bei einer kohlenhydrat- und proteinreichen Mahlzeit weder Kohlenhydrate noch Protein im Magen anfänglichen Verdauungsprozessen unterworfen würden und dass diese auch nicht im Darm stattfinden könnten. Dort würde nur die Vervollständigung eines bereits begonnenen Verdauungsprozesses ablaufen können, der bereits durch die Aktivität von Amylase und Pepsin eingeleitet worden wäre (Hay 1936, S. 35).
13 10.4
Die Nahrungsmittelauswahl/ Richtlinien der Trennkost
15
10.4.1
Originalempfehlungen nach Hay
16
In Anlehnung an den Bibelvers Genesis 1,29 besteht die ideale Nahrung des Menschen nach Hays Ansicht aus rohem Gemüse, Obst und Nüssen. Daraus leitet er die Empfehlung ab, wieder vermehrt »vital foods« (rohe Nahrungsmittel) zu verzehren und den Konsum stark verarbeiteter Nahrungsmittel zu reduzieren (Hay 1930, S. 256–258). Rohen Nahrungsmitteln schreibt Hay eine besondere Qualität zu. Er spricht von einer Lebendigkeit (»spark of vitality«), die durch Erhitzen verloren gehe. Gemüse, Obst, Nüsse, unraffiniertes Getreide und Rohmilch bezeichnet er als lebendige Nahrung (»vital foods«; Hay 1930, S. 165; 1936, S. 27). An
14
17 18 19 20
anderer Stelle bezeichnet er sie als vor Krankheiten schützende Nahrung (»protective foods«; Hay 1937, S. 47). Am besten sei es, mit einem Obstfrühstück oder gar keinem Frühstück in den Tag zu starten. Wird Obst gegessen, so solle nur eine Obstsorte verzehrt werden. Zusätzlich empfiehlt Hay (1930, S. 260) 1 oder 2 Gläser Milch zum Frühstück, am besten im unerhitzten Zustand. Personen mit starker körperlicher Aktivität sollen nach Hay (1939, S. 173) mehr Kohlenhydrate zuführen als jene mit sitzender Tätigkeit. So empfiehlt er dem Büroarbeiter ein Mittagessen, das aus Früchten, Gemüse (roh und gedünstet), Salaten und Milch oder Buttermilch oder frisch gepressten Obstsäften besteht. Auf Kaffee, Tee und Kakao solle verzichtet werden. Der körperlich Aktive benötige mehr an konzentrierter Nahrung. Er empfiehlt diesem zum Mittagessen 2 größere gebackene Kartoffeln oder 4 bis 6 Scheiben Vollkornbrot, ergänzt mit gedünstetem Gemüse, Salaten und süßen Früchten (Datteln, Feigen oder Rosinen). Zum Abendessen könne, wenn gewünscht, Fleisch gegessen werden, kombiniert mit gedünstetem Gemüse und Salat sowie sauren Früchten (Hay 1930, S. 263f.). Hays Vorstellungen von der praktischen Gestaltung einer gesunden Ernährung werden anhand des einwöchigen Speiseplanes verdeutlicht, der in dem von ihm geleiteten East Aurora Sun and Diet Sanatorium üblich war (. Tab. 10.1, mod. nach Hay 1930, S. 270–273), sowie den beiden in England und in den USA veröffentlichten Rezeptbüchern zum Hay-System (Grant 1936; Smith 1943). Hay selbst hatte sich nach seiner Genesung, beeinflusst durch den griechischen Philosophen Epikur (341–270 v. Chr.), eine asketische Ernährungsweise auferlegt und nahm nur eine Mahlzeit täglich (abends) zu sich (Hay 1930, S. 44; Hay 1936, S. 29). Zwischenmahlzeiten lehnte er ab (Hay 1930, S. 270–273; Hay 1939, S. 163). Er war der Überzeugung, dass es für jeden möglich sei, bei einer aus Obst, Gemüse und Nüssen bestehenden Ernährung optimal gesund bleiben zu können (Hay 1930, S. 168).
Abendessen
Mittagessen
Frühstück
Beeren
Salat: Kopfsalat, Zwiebel, Gurken, mit Zitrone, Erdnussbutter und süßer Sahne
Datteln
Salat: Gurken, rote Beete
Mais
Butter, keine Milch
Gekochter unpolierter Reis
Getoastetes Vollkorn-Sandwich, gefüllt mit gehackten Datteln und Rosinen
Milch
Birnen
Donnerstag
Pfirsiche
Salat: Gemüse, Dressing (Öl/Zitronensaft)
Gedünstete Tomaten
Gebackener Fisch
Ananas
Salat: Garnelen und Sellerie, Dressing (Öl/Zitronensaft und 2 Eigelb)
Milch
Orangensaft
Freitag
Ananas, Orangen, Kokosnuss
Salat: Möhren, rote Beete, Erbsen und Mayonnaise
Gedünstete Rüben
Eigelb (hart gekocht)
Spinat, gekocht
Grüne Bohnen, gekocht
Datteln
Milch, Buttermilch
Großer Obstsalat
Bratapfel mit Sahne
Salat: Tomaten, grüne Zwiebel, Dressing (Öl/Zitronensaft)
Maiskolben
Brathuhn
Milch
Grapefruits
Sonntag
Salat: Kopfsalat, Spargel, kein Dressing
Gebackene Süßkartoffeln
Beeren mit Sahne
Samstag
143
Feigen
Salat: Sellerie, Äpfel, Gurken, geraspelt
Gedünstete Möhren
Salat: Kopfsalat, Gurken, Tomaten, Dressing (Öl/Zitronensaft)
Grüne Bohnen und Blumenkohl
Gedünstete Kohlsprossen
Gedünstete Zwiebeln
Gebratenes Lammkotelett
Salat: Tomaten, Gurken, Kohl, garniert mit roter Beete
Gebackene Kartoffeln
Salat: Sauerkraut und Ananas
Salat: Kopfsalat, Tomaten, Radieschen, Gurken, Dressing (Öl/Zitronensaft)
Hüttenkäse
Milch
Pfirsiche
Mittwoch
Gedünstete Erbsen
grüne Bohnen, gekocht
Melonen
Dienstag
Gemüsebrühe
Milch
Orangen
Montag
. Tab. 10.1 Wochenspeiseplan des Hay-Systems aus dem Jahre 1927 im vom William Howard Hay geleiteten Sanatorium
10.4 · Die Nahrungsmittelauswahl/Richtlinien der Trennkost
10
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
144
Kapitel 10 · Haysche Trennkost
10.4.2
Empfehlungen heute nach Walb/Heintze
Walb et al. (1996, S. 32–35) nennen 8 Richtlinien für die Anwendung der Trennkost: 4 Innerhalb einer Mahlzeit proteinreiche Nahrungsmittel nicht mit kohlenhydratreichen Nahrungsmitteln kombinieren. 4 Nur natürliche und naturbelassene Lebensmittel verwenden und nur so viel davon, wie zur Erhaltung des Lebens nötig ist. 4 Proteinreiche und stärkereiche Nahrungsmittel reduzieren, um eine Übersäuerung des Körpers zu verhindern. 4 Für einen optimalen Säure-Basen-Haushalt etwa ¾ überwiegend rohe Basenbildner wie Gemüse, Salate und Obst und nur etwa ¼ Säurebildner wie Fleisch, Fisch, Käse usw. verwenden. 4 Morgens Basen-, mittags Protein- und abends Kohlenhydratmahlzeiten essen (keine Proteinmahlzeiten mehr nach 15 Uhr). 4 Alle neutralen Lebensmittel können bedarfsweise mit proteinreichen oder mit kohlenhydratreichen Lebensmitteln kombiniert werden (. Abb. 10.1). 4 Langsam und in Ruhe essen, gründlich kauen. 4 Zwischen den einzelnen Mahlzeiten Pausen von mindestens 4 Stunden einhalten. Die Grundregeln zur Praxis der Hayschen Trennkost sind bei Walb et al. (1996, S. 41–45) und Heintze (2005) ausführlich beschrieben.
10.5
Entwicklung der Hayschen Trennkost in Deutschland
Im deutschsprachigen Raum zählt das »Hay System« unter dem Namen »Haysche Trennkost« seit vielen Jahren zu den bekanntesten alternativen Ernährungsformen. Der Dresdner Fastenarzt Siegfried Möller (1871–1943) war in Deutschland der erste, der das »Hay System« durch Veröffentlichungen bekannt machte. Dem Ernährungssystem nach Hay gab er die Bezeichnung »Die alkalisierende EiweißKohlehydrat-Diät (A-E-K-Diät)«. Nachdem Möller im Jahre 1939 eine Broschüre mit Vorschriften für
die A-E-K-Diät herausgebracht hatte (Möller 1939), veröffentlichte er im Jahre 1940 das Buch Die alkalisierende Eiweiß-Kohlenhydrat-Diät (A-E-K-Diät) in Theorie und Praxis (Möller 1940). Möllers Buch fand aber nur wenig Beachtung und ist auch in der heutigen Trennkostszene kaum bekannt. Im Jahre 1939 stieß auch der Arzt Ludwig Walb (1907–1992) durch das Buch A new health era auf Hays Ernährungskonzept. Seine Ehefrau Ilse Walb (1907–1992) übersetzte dieses auszugsweise ins Deutsche und kreierte den Begriff »Trenn-Kost«. Walb hat früh die Bedeutung einer vollwertigen Ernährung für die Prävention und Therapie erkannt und wandte u. a. auch die Rohkostbehandlung nach Bircher-Benner an (Walb 1938). Einschneidend war für ihn die Heilung eines achtjährigen Patienten mit Schrumpfniere mithilfe der Hayschen Trennkost, obwohl dieser bereits von ärztlicher Seite als hoffnungsloser Fall erklärt worden war. Der bekannte Nephrologe Franz Volhard (1872–1950) hatte den Patienten zuvor 2 Jahre lang vergeblich behandelt und stellt die »Haysche Diät« in seinem Buch Die kochsalzfreie Krankenkost vor (Volhard 1947, S. III– IV, 27–32). Seit diesem spektakulären Heilerfolg widmete sich Walb vermehrt dieser Kostform und erforschte deren Einfluss auf den Verlauf verschiedener Krankheiten (Walb 1940). Im Jahre 1957 veröffentlichten die Walbs erstmals das Buch Die Haysche Trenn-Kost, welches als Anleitung zu einer sinnvollen Ernährungsweise konzipiert war. Darin betonen die Autoren, dass es sich bei der TrennKost nicht um eine Diät, sondern um eine langfristige Ernährungsweise handelt, die im Grunde eine vernünftige Kost darstellt, mit der Eigenheit, kohlenhydrat- und proteinreiche Nahrungsmittel zu trennen (Walb u. Walb 1957, S. 10). Zwecks Erleichterung der praktischen Durchführung modifizierten die Walbs die Empfehlungen von Hay und stellten diese anhand eines Übersichtsschemas dar (. Abb. 10.1). Seit 1961 behandelte Walb in der Klinik Dr. Walb in Homberg/Ohm in Hessen über 100.000 Patienten mit der Hayschen Trennkost. Als Walbs Nachfolger leitete der Internist Thomas Heintze (*1955) von 1989 bis 2002 die Klinik. Diese wurde 2003 geschlossen. Heintze betreibt heute eine Ganzheitsmedizinische Praxis in Marburg. Er ist Autor einiger Bücher über die Haysche Trennkost (z. B. Heint-
145 10.5 · Entwicklung der Hayschen Trennkost in Deutschland
Die Zusammensetzung der Nahrung nach Hay .1-=.15?1?A;:=!@0B53+-8.
"5>/41:5/4? "5>/41
Konzentrierte Nahrungsmittel Kohlenhydrate (?=71 ,@/71=
F.1=B5131:0(?=71 *;887;=:31?=1501 *;887;=:9148 *;887;=:.=;? *;887;=::@018: #-?@==15> -:-:1: -=?;18: );<5:-9.@= =:7;48 (/4B-=D B@=D18: F.1=B5131:0,@/71= 51:1:4;:53 -??18: 1531: @:=-:51=?1=,@/71= '.1:>5=@<
"5>/41
Neutrale Nahrungsmittel 1??1 ;<<18=-497->1 -.1??5)=
5318. =1521$85A1:
%-:D85/4181 @:01??1 ?51=5>/411??1 21??1=(<1/7 @??1= '-49 &@-=7
19>1 8-??>-8-?1 -=;??1: =;?1'.1: )18?;B1='.1: ,B51.18: !-@/4 8@91:7;48 (<-=318 ;4:1: 3=: =.>1: "-:3;80 (<5:-? '1??5/4 '-051>/41:
(1881=51 ;48=-.5 +5=>5:3 ';?7;48 +15E (-@1=7=-@? =.5> @=71: ';>1:7;48 =;41);9-?1: %-<=57->/4;?1: 1:/418 45/;=1 %58D1
Konzentrierte Nahrungsmittel F.1=B5131:05B15E 815>/4 -@/4+580 2=5>/415>/41 "58/4-881==? >1 .5>5)=
51= (;6-9148 (-@=1>$.>? 1=:;.>? (?15:;.>? 11=1:;.>? ;=5:?41: ,5?=@>2=/4?1 =-:-?<218 :-:-> 317;/4?1);9-?1: "18;:1: ;4:1,@><15>1
:01=1#-4=@:3>95??18 #5/4?19<2;481: (?=71 +15E9148 +15E.=;? +15E9148:@018: <;851=?1='15> (-3; )-<5;731?=;/7:1?18>1: 2=/4?1 =0:>>1 ->?-:51: ,@/71= +15E1=,@/71= (E53715?1:-@> B15E19,@/71= "-=918-01: 1811 5:319-/4?1>
15018.11=1: ;4:1,@/71=
';>5:1:
3-= 3-= 18-?5:1 #>>1 -@E1==0 :>>1:@:0 ->?- :51:
1B=D1 +580 @-=?1: 7=@?1= ->5857@9 >?-??%211=
=@?1= (1881=51>-8D
#5/4?19<2;481: 5B15E ';41>5B15EA;: 51=:5>?>/4085/4
"11=>-8D :;.8-@/4 %-<=57"@>7-? @==C
#5/4?19<2;481: 1?=;/7:1?18>1:2=/4?1 7@5/41"-C;::-5>1: (@<<1: (;E1: >/4B-=D1=)11 -11 -7-; :3B1= "11==1??5/4 %211= (1:2 5:319-/4?1> >>531>>1:D
$.>? '4-.-=.1= %=15>18.11=1: 5:319-/4?1>
. Abb. 10.1 Anleitung zur Kombination von Nahrungsmitteln nach Walb und Walb (aus Walb u. Walb 1976)
10
146
1 2 3 4
ze 1996, 2001, 2005; Heintze u. Summ 1998; Heintze u. Imgrund 2003; Summ u. Heintze 2008) und führt die Arbeit von Ludwig Walb fort. Weitere Vertreter der Trennkost in Deutschland sind u. a. Ursula Summ (»Summ-Trennkost«), sowie die beiden Ärzte Martin Noelke (»Modifizierte Trennkost«) und Detlef Pape (»Insulin-Trennkost«). Im Folgenden werden diese Trennkostformen besprochen.
5 10.5.1
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 10 · Haysche Trennkost
Summ-Trennkost
Nachdem Ursula Summ (*1947) verschiedene Diäten zwecks Gewichtsreduktion erfolglos versucht hatte, stieß sie Ende der 1970er-Jahre auf die Trennkost. Sie stellte ihre Ernährung um und nahm innerhalb eines Jahres 15 Kilogramm ab. Zudem konnte sie sich von jahrelangen rheumatischen Beschwerden, Kopfschmerzen und einer Allergie befreien (Summ 1997a). Dem erstmals 1983 erschienenen Buch Schlankwerden und Schlankbleiben durch Trennkost (Summ 1991) folgten zahlreiche weitere Bücher zur Trennkost. Insgesamt hat Summ mehr als 3 Millionen Bücher zur Trennkost verkauft. Durch die persönliche Bekanntschaft mit Ludwig Walb und eigene mehrjährige Erfahrungen als Leiterin von Trennkost-Kursen lernte Summ auch das therapeutische Potenzial der Trennkost kennen. Neben erfolgreichen Gewichtsabnahmen berichteten Kursteilnehmer immer wieder von erheblichen Besserungen ihres Gesundheitszustandes (Summ 1997b, S. 48–79). Die in ihren vielen Büchern dargestellte »Summ-Trennkost« deckt sich weitgehend mit der von Hay und den Walbs empfohlenen Trennkost (z. B. Summ 2003). In ihrem Buch Iss Dich schlank betont Summ zusätzlich die Bedeutung des Einflusses verschiedener Nahrungsmittel auf den Blutzucker- und Insulinspiegel. Es sei nicht nur wichtig, die altbekannte Trenn-Regel zu beachten, sondern auch Nahrungsmittel mit einem niedrigen glykämischen Index zu bevorzugen (Summ 2005).
10.5.2
Modifizierte Trennkost nach Noelke
Der in Homberg/Ohm praktizierende Arzt Martin Noelke (*1951) beschäftigte sich mit der von seinen Schwiegereltern Ludwig und Ilse Walb empfohlenen Hayschen Trennkost und suchte nach einem Erklärungsansatz für die damit erzielten Erfolge bei Übergewicht (Noelke 2000, S. 7–10). Seinen Beobachtungen gemäß praktizieren etwa 95 % der Trennköstler diese Ernährungsform aufgrund von Gewichtsproblemen (Noelke 2005). Während Noelke dem Einfluss der Trennkost auf den Säure-Basen-Haushalt prinzipiell keine Bedeutung zumisst, betrachtet er deren Wirkung auf den Blutzucker- und Insulinspiegel im Hinblick auf die Bildung und Rückbildung von Fettgewebe als entscheidenden Faktor. Im Insulin sieht er die Schlüsselsubstanz für die Fettgewebsneubildung. Das Verständis des Insulinstoffwechsels sei für den Effekt der Gewichtsreduktion unabdingbar (Noelke u. Wagner 2009). Speziell die Kombination von sog. minderwertigen Kohlenhydraten (Weißmehl, Zucker) und Fetten habe fatale Folgen, nämlich einen starken Blutzuckeranstieg mit lange erhöhtem Insulinspiegel, wodurch ein Teil der aufgenommenen Fette als Fettreserve gespeichert werde, während dieser bei Ausbleiben der Hyperinsulinämie oxidiert worden wäre und somit vom Organismus hätte genutzt werden können. Zudem bewirke diese Kombination, dass rasch nach der Mahlzeit wieder ein Hungergefühl entstehe (Noelke 2000, S. 15–17). Durch Beachtung der TrennRegel und Meiden des Verzehrs von Nahrungsmitteln mit hohem glykämischem Index könne das Entstehen einer Hyperinsulinämie vermieden werden, welche kennzeichnend für viele ernährungsbedingte Krankheiten wie z. B. Diabetes mellitus Typ 2, Adipositas, Hypertonie und Hyperlipoproteinämie sei. Eine ernährungsbedingte Hyperinsulinämie verhindere die Lipolyse und somit auch eine Gewichtsreduktion. Mit der modifizierten Trennkost ist laut Noelke (2001) ein täglicher Gewichtsverlust von 80 g bei Frauen und 110 g bei Männern realistisch und reproduzierbar. Seine theoretischen Erklärungen zum gewichtsreduzierenden Effekt der Trennkost sieht Noelke in einer Studie von Wutzke et al. (2001) und
147 10.5 · Entwicklung der Hayschen Trennkost in Deutschland
in den bei Selbstversuchen ermittelten Daten wissenschaftlich bestätigt (Noelke 2001, S. 72–81; Noelke 2005). Der theoretische Ansatz der Modifizierten Trennkost deckt sich mit dem der MontignacMethode (Montignac 2002) und der KFZ-Diät des Ernährungsmediziners Olaf Adam (Adam u. Schimpf 2001; Adam 2008; Adam u. Lorenz 2008).
10.5.3
Insulin-Trennkost nach Pape
Der in Essen praktizierende Internist und Ernährungsmediziner Detlef Pape (*1954) widmet sich seit vielen Jahren der ernährungstherapeutischen Behandlung von Übergewicht, Adipositas und den damit zusammenhängenden Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2 und Hypertonie. Dabei wurde ihm bald klar, dass der Einfluss der Nahrung nicht nur auf den Blutzucker-, sondern auch auf den Insulinspiegel beachtet werden muss, wenn die Gewichtsreduktion langfristig gesehen erfolgreich sein soll. Basierend auf einer 1997 publizierten Arbeit über den Insulin-Index verschiedener Nahrungsmittel (Holt et al. 1997) und einer 1991 erschienenen Studie über den Einfluss verschiedener Frühstücksmahlzeiten auf den Verlauf des Insulinspiegels (Nordt et al. 1991) entwickelte Pape eine Kostform, welcher er im Jahre 2002 die Bezeichnung »Insulin-Trennkost« gab (Pape et al. 2003, S. 20–24; Pape 2005). Inzwischen ist dieses Ernährungskonzept besser unter der Bezeichnung »Schlank im Schlaf-Diät« bekannt (Pape et al. 2006). Das Ziel der Studie von Holt et al. (1997) war ein systematischer Vergleich der postprandialen Insulinverläufe nach Verabreichung isokalorischer Mahlzeiten (240 kcal) üblicher Nahrungsmittel an 11 bis 13 gesunden Probanden. Untersucht wurden insgesamt 38 verschiedene Nahrungsmittel, welche 6 Nahrungsmittelgruppen zugeordnet wurden (Frühstückszerealien, proteinreiche Nahrungsmittel, Früchte, kohlenhydratreiche Nahrungsmittel, Backwaren, Snacks/Süßwaren). Alle 15 Minuten wurde der Insulinwert gemessen, bis 2 Stunden nach der Nahrungsaufnahme. Der Insulin-Score (IS) oder Insulin-Index wurde wie folgt definiert:
10
(Fläche unter der Insulinkurve, die aus der Aufnahme eines bestimmten Nahrungsmittels (240-kcal-Portion) resultiert IS[%]= (t=120 min)) ×100 (Fläche unter der Insulinkurve, die aus der Aufnahme von Weißbrot (240-kcal-Portion) resultiert (t=120 min))
Zahlreiche Studien haben sich der Bestimmung des glykämischen Index verschiedener Nahrungsmittel gewidmet, ohne dabei den Verlauf des Insulinwertes zu erfassen. Das Ausmaß, in welchem verschiedene Nahrungsfaktoren den postprandialen Insulinspiegel beeinflussen, wurde demzufolge bislang wenig erforscht. Man ging lange Zeit davon aus, dass die Insulinreaktionen parallel zu den Änderungen des Blutzuckerspiegels verlaufen (Flint et al. 2004). Es gibt heute viele wissenschaftliche Hinweise dafür, dass der insulinämische Effekt der Nahrung für die Behandlung und Prävention von Übergewicht, nicht insulinabhängigem Diabetes und Hyperlipidämie von Bedeutung ist. Langdauernd erhöhte postprandiale Insulinspiegel werden in Zusammenhang mit der Entstehung von Insulinresistenz und damit verbundenen Erkrankungen gebracht (Slabber et al. 1994). Holt et al. (1997) stellten bei bestimmten Nahrungsmitteln verschiedene Insulin-Scores fest, auch wenn ein ähnlicher Kohlenhydratgehalt vorlag (z. B. ca. 40 g Kohlenhydrate/240 kcal bei gekochtem Haferbrei, Vollkornbrot, Erdbeer-Joghurt und gebackenen Bohnen oder ca. 50 g Kohlenhydrate/240 kcal bei Äpfeln, Orangen, Bananen und Weintrauben). Bei Vollkornbrot ergab sich ein nur geringfügig niedrigerer Insulin-Index als bei Weißbrot (. Abb. 10.2, mod. nach Holt et al. 1997). Die postprandialen Insulinreaktionen verlaufen also nicht immer parallel zu den Blutzuckerveränderungen. Das verdeutlicht auch eine Gegenüberstellung der Glukose-Scores der 6 Nahrungsmittelgruppen mit deren Insulin-Scores. Dabei wurde der Glukose-Score nach dem gleichen Schema wie der Insulin-Score errechnet (. Abb. 10.3, mod. nach Holt et al. 1997). Die Studie von Holt et al. (1997) bestätigt deren zuvor formulierte Hypothese, dass die postprandialen Insulinreaktionen nicht zwangsläufig parallel zu den Veränderungen des Blutzuckerspiegels verlau-
148
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 10 · Haysche Trennkost
"'-)-($&$* /0 /#!$$/-&'2/1 ,(**$$(0 /1-5$*"'(.0 /#,600$&$/701$1&$0 *4$, "'-)-* #$,)$)0$ "'-)-* #$,)2"'$, /-00 (,10 -2&',210 /1-5$*,&$)-"'1 $(;!/-1 -**)-/,!/-1$(4$, $(;$/$(0
/ 2,$/$(0 -&&$,!/-1 $(;+$'*.(/ *$, -**)-/,.(/ *$, $(,1/ 2!$,/-1
, ,$, / ,&$, 3$* 8.%$*$##$*("(-20 $! ")$,$ -',$, (0"' (,0$,(,-+ 1$,0 2"$ (,#9$(0"' :0$'$## / ($/ -/,9 )$0 60*((0"'2,&+(1-,(& $/1(&60*( %$/!/$(&$)-"'1
,02*(,"-/$
. Abb. 10.2 Insulin-Index verschiedener Nahrungsmittel (240-kcal-Portionen)
fen und dass es neben Kohlenhydraten noch andere Nährstoffe gibt, welche die Insulinreaktion beeinflussen. Ihre Untersuchungsergebnisse fassen die Autoren wie folgt zusammen: 4 Die glykämische Reaktion ist ein Indikator für das Ausmaß der Insulinreaktion. Damit lassen sich aber nur 23 % der postprandialen Schwankungen des Insulinspiegels voraussagen bzw. erklären. 4 Nährstoffe wie Protein, Fett, Wasser, Zucker und Stärke erklären zusammengenommen
weitere 10 % der beobachteten Insulinschwankungen. 4 Nur 33 % der Variation der Insulinreaktionen bei den 38 getesteten Nahrungsmitteln können somit erklärt werden. Andere Faktoren als die Makronährstoffe spielen eine Rolle, was den Einfluss der Nahrung auf die postprandialen Insulinwerte betrifft (z. B. die Rate der Stärkeverdauung, die Menge an schnell verfügbarer Glukose und resistenter Stärke, der Grad der Osmolalität, die Viskosität des Darminhalts, die Magenentleerungsrate).
10
149
Durchschnittlicher Gruppen-Score (%)
10.5 · Entwicklung der Hayschen Trennkost in Deutschland
90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Frühstücks- Proteinreiche zerealien Nahrungsmittel
Früchte
Kohlenhydrat- Backwaren reiche Nahrungsmittel
Snacks/ Süßwaren
. Abb. 10.3 Glukose- und Insulin-Score für verschiedene Nahrungsmittelgruppen
. Tab. 10.2 Zusammensetzung der 3 Frühstücksva-
Weitere Studien sollen laut Holt et al. (1997) herausfinden, ob low-insulinemic diets (Ernährungsformen, welche geringe Anstiege des Insulinspiegels hervorrufen) zu einem höheren Verlust an Körperfett führen als isokalorische high-insulinemic diets. Nordt et al. (1991) untersuchten in einer randomisierten Studie u. a. den Einfluss gemischter Frühstücksmahlzeiten mit unterschiedlichen Gehalten an Protein und Fett auf den postprandialen Insulinverlauf bei 12 nicht insulinabhängigen Diabetikern (6 Männer und 6 Frauen, Alter: 65,6 ± 2,6 Jahre, Body Mass Index: 26,6 ± 1,2 kg/m2). Die Insulinwerte wurden 30, 60, 120 und 180 Minuten nach der Nahrungsaufnahme gemessen. Die Probanden erhielten 3 verschiedene Frühstücksmahlzeiten: eine normale, eine fettreiche und eine proteinreiche (. Tab. 2). Es zeigte sich, dass das proteinreiche Frühstück (60 % Kohlenhydrate und 40 % Protein) eine deutlich ausgeprägtere postprandiale Insulinreaktion hervorrief als die beiden anderen Frühstücksvarianten (. Abb. 10.4, mod. nach Nordt et al. 1991). Ein hoher Proteinanteil erwies sich also bei gleichzeitiger Anwesenheit eines hohen Kohlenhydratgehalts als ein potentes Stimulans der Insulinsekretion (Nordt et al. 1991). Bei der von Pape entwickelten Insulin-Trennkost geht es um die Auswahl von Nahrungsmitteln, welche die Sekretion der Bauchspeicheldrüse schonen und trotzdem satt machen. Seiner Meinung
rianten in der Studie von Nordt et al. (1991) Fettreich
Normal
Proteinreich
Diätbrot [g]
78
77
76
Diabetikermarmelade [g]
25
25
25
–
14
–
21
–
–
Streichkäse [g]
–
54
–
Gelatine [g]
–
–
2
Proteinkonzentrat [g]
–
–
22
Hühnereiweiß [g]
–
–
160
Kohlenhydrate [g]
60
60
60
Fett [g]
15
10
0
0
15
40
Kohlenhydrate [%]
60
60
60
Fett [%]
40
25
0
0
15
40
400
400
400
Fettreduzierte Margarine [g] Margarine [g]
Nährstoffgehalt [g]
Protein [g] Nährstoffgehalt [%]
Protein [%] Energie [kcal]
150
Kapitel 10 · Haysche Trennkost
1
fettreich
600 Insulin (pmol/l)
4
proteinreich
700
2 3
normal
5
. Abb. 10.4 Einfluss eines Frühstücks mit verschiedenen Nährstoffgehalten auf den Insulinspiegel bei 12 Diabetikern (NIDDM, Non Insulin Dependent Diabetes Mellitus)
500 400 300 200 100 0
6
0
30
60
90 Zeit/min
120
150
180
7 8
0 –1
9
11
–2
–1,2 kg
Zellmasse
ECM
–2,7 kg
–3 Masse (kg)
10
–1,5 kg –1,9 kg
. Abb. 10.5 Mittlere Gewichtsabnahme bei 1.736 Personen (BMI >30 kg/ m2) in 4 Monaten bei diätetischer Behandlung nach dem InsuLean-Prinzip (Werte: Pape 2001). BMI Body Mass Index, ECM extracellular mass
–4 –5 –6
–6,6 kg
–7 –8
12
–9
–9,3 kg
–10 Gewicht
Fett
Magermasse Wasser
13 14 15 16 17 18 19 20
nach handelt es sich hierbei um die »Urnahrung«, welche die Menschheit die längste Zeit zu sich genommen habe. Ein großer Teil der Bevölkerung habe sich bis heute nicht an den reichlichen Verzehr von Nahrungsmitteln anpassen können, die einen hohen Blutzucker- und Insulinanstieg im Blut hervorrufen. Pape spricht von unterschiedlichen Stoffwechseltypen, dem »Nomadentyp« und dem »Ackerbauertyp«. Seiner Meinung nach entspricht auch die Kombination von kohlenhydrat- und proteinreichen Nahrungsmitteln innerhalb einer Mahlzeit nicht dem Urnahrungsprinzip und verursache einen starken Anstieg des Insulins. Deshalb sei Hays Trenn-Regel zwar richtig, habe aber einen
anderen als den ursprünglich von Hay vermuteten Hintergrund. Bei dem von Pape entwickelten Gewichtsreduktionskonzept (»InsuLean-Prinzip«) wird zum Frühstück eine kohlenhydratreiche Mahlzeit, zum Abendessen eine proteinreiche Mahlzeit empfohlen, um den Insulinspiegel über Nacht niedrig zu halten und damit die Fettverbrennung zu fördern. Beim Mittagessen müsse das Trennprinzip nicht beachtet werden. Zwischenmahlzeiten werden abgelehnt, um das Entstehen eines Hyperinsulinismus zu vermeiden (Pape et al. 2003, 2006). Seine Erfolge mit der auf dem InsuLean-Prinzip basierenden diätetischen Behandlung der Adipositas hat Pape im Jahre 2001 publiziert (. Abb. 10.5).
151 10.6 · Indikationen für Trennkost
Das in den letzten Jahren in Deutschland populäre Ernährungskonzept »Metabolic Balance« des Mediziners Wolf Funfack deckt sich von der Grundidee her zum Teil mit der von Pape entwickelten Insulin-Trennkost. So wird zum einen der Verzehr von Nahrungsmitteln empfohlen, »die den Insulinspiegel im Körper niedrig halten und auf diese Weise die wichtigen Stoffwechselvorgänge wieder in die Balance bringen«. Zum anderen soll die Schlaf- und Ruhephase der Nacht zur Oxidation des Körperfetts genutzt werden (Funfack 2007, S. 15, 99).
10.6
. Tab. 10.3 Indikationen für Trennkost (nach den klinischen Erfahrungen von Hay, Walb und Heintze) Rheumatische Erkrankungen Hautkrankheiten
Neurodermitis, Ekzeme, Psoriasis, Urtikaria usw.
Übergewicht und Adipositas Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Indikationen für Trennkost
Die praktischen Erfahrungen in der Anwendung der Hayschen Trennkost in der Klinik Dr. Walb haben gezeigt, dass Trennkost bei vielen Krankheiten zur deutlichen Besserung oder Heilung beitragen kann. Über die therapeutischen Erfolge und den Anwendungsbereich der Trennkost ist in zahlreichen Veröffentlichungen berichtet worden (Walb 1956, 1962, 1964, 1967a, 1967b, 1968, 1969, 1977, 1980; Heintze 1990; Fessel u. Sulzberger 1996; Heintze 1997; Summ u. Heintze 2008). Daraus ergibt sich eine Vielzahl an Indikationen, bei welchen sich der Einsatz der Trennkost erfahrungsgemäß bewährt hat (. Tab. 10.3). Zu betonen ist, dass die Trennkost auf jeden Kranken individuell abgestimmt werden muss. Die mit Trennkost gemachten therapeutischen Erfahrungen decken sich weitgehend mit den Erfahrungen zahlreicher anderer Ärzte, welche eine vollwertige, rohkostreiche Diät zu therapeutischen Zwecken eingesetzt haben (Semler 2005a, 2005b, 2006a; Semler u. Matejka 2008). Die Vorteile der Trennkost, welche deren therapeutische Wirkungen zum Teil erklären, hat Heintze (1999) wie folgt zusammengefasst: 4 Sie entwässert und entlastet die Nieren, das Herz und den Kreislauf. 4 Sie hilft bei der Normalisierung des Gewichts. Das strikte Zählen von Kalorien steht nicht im Vordergrund, wie es bei üblichen energiereduzierten Kostformen zur Gewichtsreduktion der Fall ist. 4 Sie verringert die Müdigkeit nach dem Essen. 4 Sie erhöht die Leistungsfähigkeit (der Sportler) und verkürzt die Regenerationszeiten.
10
Arterielle Hypertonie, Herzerkrankungen, Arteriosklerose, arteriosklerotisch bedingte Durchblutungsstörungen wie z. B. periphere arterielle Verschlusskrankheit der Beine
Metabolisches Syndrom Hyperurikämie Diabetes mellitus Typ 2 (inkl. Folgeschäden wie Gangrän, Furunkulose usw.) Nierenerkrankungen
Akute und chronische Nierenentzündung, kompensierte Niereninsuffizienz
Magen-Darm-Krankheiten
Gastritis, Obstipation, Enterokolitis, Durchfall, chronische entzündliche Darmerkrankungen
Allergische Erkrankungen Asthma bronchiale Kopfschmerzen und Migräne Grüner Star Nervöse Störungen Neuralgien Morbus Basedow Vegetative Störungen im Klimakterium Multiple Sklerose (v. a. im Frühstadium) Spastische und atonische Durchblutungsstörungen Erschöpfungszustände Chronische Schmerzerkrankung
152
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 10 · Haysche Trennkost
4 Sie senkt erhöhte Blutfettwerte. 4 Sie stellt eine hervorragende Möglichkeit dar, von der üblichen Mischkost auf eine gesunde Ernährung umzustellen. 4 Sie ist leicht durchführbar, da nicht so viele Nahrungsmittel ausgeschlossen werden wie bei anderen Kostformen oder Diäten. Wer sich nach den Richtlinien der Trennkost ernährt, hat am Ende des Tages, eben getrennt, ähnlich gegessen wie bei einer vollwertigen Ernährung. 4 Durch den Verzehr von naturbelassenen Lebensmitteln und das Meiden denaturierter Nahrungsmittel ist man mit weniger Kalorien länger satt. Aufgrund der günstigen Wirkung der Trennkost auf Blutzucker- und Insulinspiegel treten keine Hypoglykämie und kein Heißhunger auf. 4 Der niedrige Natrium- und hohe Kaliumgehalt der Trennkost wirkt günstig auf erhöhten Blutdruck. 4 Der Reichtum der Trennkost an sekundären Pflanzenstoffen stärkt das Immunsystem und wirkt präventiv gegen Krebs, Herzinfarkt und Schlaganfälle. 4 Sie verstärkt die Wirkung von Herz- und anderen Medikamenten, sodass deren Dosis reduziert werden kann. 4 Sie führt bei Übersäuerung zur vermehrten Ausscheidung von Säure und somit zur Entsäuerung. Über die Entsäuerung wirkt sie auch schmerzlindernd.
10.7
Ernährungswissenschaftliche Bewertung
Aus den vorliegenden Büchern von Hay lässt es sich nicht rekonstruieren, wie seine Empfehlung der Trennung von kohlenhydrat- und proteinreichen Nahrungsmitteln in einer Mahlzeit zustande gekommen ist. Möglicherweise hat Hay eine Bemerkung von Gustav von Bunge aus dem Jahre 1890 aufgegriffen. Dieser schreibt in seinem Physiologie-Lehrbuch, dass die Wirkung des Speichelenzyms Alpha-Amylase nur im basischen Milieu optimal zur Entfaltung kommt und durch den sauren Magensaft sofort gestoppt wird (Bunge 1890, S. 154). Diese Ansicht entsprach dem damali-
gen wissenschaftlichen Kenntnisstand, wurde aber wenige Jahre später in mehreren Untersuchungen widerlegt. Historisch interessant ist in diesem Zusammenhang, dass in den USA der bekannte Arzt John Harvey Kellogg (1852–1943) sowie das Ehepaar Eugene und Mollie Christian im Jahre 1896 bzw. 1904 auf ähnliche Art und Weise wie Hay das Thema »food combinations« abhandelten, aber dabei nicht zu den gleichen Schlussfolgerungen wie dieser kamen (Kellogg 1896, S. 77f.; Christian u. Christian 1904, S. 61–68). Bestimmte Diätanweisungen des US-amerikanischen Esoterikers Edgar Cayce (1877–1945) decken sich genau mit den bekannten von Hay (vgl. Reilly u. Brod 2005, S. 124, 377), können aber zeitlich nicht eingeordnet werden. Es ist anzunehmen, dass Cayce diese von Hay kopiert hat. Ausgeschlossen werden kann, dass Hay seine Theorie der Nahrungsmittelkombinationen von Herbert Shelton (1895–1985) übernommen hat. Das Buch Fit for life der Diamonds erweckt den Eindruck, dass Shelton der Begründer der Idee des food combining sei (Diamond u. Diamond 1985, S. 37–47). Sheltons Buch Food combining made easy erschien erstmals 1951 (Shelton 1997), also lange Zeit nach den Veröffentlichungen von Hay. Shelton (1951, S. 299–326) bezieht sich in seinen Ausführungen über Nahrungsmittelkombinationen auf eine 1924 publizierte Arbeit des Gastroenterologen Philip Norman (Norman 1924) und dürfte erstmals 1935 in Buchform darüber berichtet haben. Historisch gesehen ist die Arbeit von Norman nach Kenntnis der Verfasser die erste Veröffentlichung, in welcher das von Hay bekannte Trennprinzip dargestellt und empfohlen wird. Anhand der Originalliteratur von Hay ist es nicht nachvollziehbar, dass er die Trenn-Regel von der Ernährung der Hunzas abgeleitet hat. Hay (1939, S. 32–35) geht zwar auf die Erfahrungen von Robert McCarrison (1878–1960) ein, welche dieser in 7 Jahren als betreuender Arzt der Hunzas sammelte, zieht daraus aber keine Schlussfolgerungen bezüglich Nahrungsmittelkombinationen. Er sieht in der fleisch- und somit proteinarmen Ernährung der Hunzas vielmehr eine Bestätigung seiner Theorie (Hay 1930, S. 100). McCarrison betont in seinen Schriften mehrfach die bis ins hohe Alter außergewöhnliche Gesundheit der Hunzas, berichtet aber
10
153 10.7 · Ernährungswissenschaftliche Bewertung
nichts von bestimmten Vorschriften zur Nahrungsmittelkombination (McCarrison 1921, S. 9; McCarrison 1925). Es ist auch fragwürdig, ob Hay seine TrennRegel hauptsächlich basierend auf den Verdauungsversuchen des russischen Physiologen und Nobelpreisträgers Ivan Pavlov (1849–1936) formuliert hat. Hay (1930, S. 189) schreibt diesbezüglich, dass Pavlov an Hunden beobachtet habe, dass die Säurekonzentration im Magen nach dem Verzehr von Fleisch deutlich zunimmt. Picton (1931, 1949, S. 282) behauptet, Pavlov hätte festgestellt, dass gehacktes Rindfleisch vom Hund in 4 Stunden verdaut werde, Stärke allein aber wesentlich schneller. Die Kombination von Rindfleisch mit Stärke hätte eine wesentliche Verzögerung zur Folge und würde erst nach 8 Stunden den Magen verlassen. In Pavlovs Hauptwerk The work of the digestive glands aus dem Jahre 1910 ist nichts dergleichen zu finden (Pavlov 1910). Pavlov stellte bei seinen Verdauungsversuchen an Hunden fest, dass nach Verabreichung von Brot vom Magen deutlich weniger Salzsäure sezerniert wird als nach dem Verzehr von Fleisch. Er behauptet, dass die Verdauung von Stärke im stark sauren Milieu behindert wird. Zudem habe die klinische Erfahrung gezeigt, dass bei Patienten mit Hyperazidität ein großer Teil der Stärke des Brotes unverändert den Gastrointestinaltrakt verlasse, während das Fleisch optimal verdaut worden sei (Pavlov 1910, S. 40). Norman (1924) greift diese Stelle in Pavlovs Buch auf und schließt daraus, dass die Verdauung von Protein und Kohlenhydraten im Magen eine unterschiedliche sei. Er betrachtet die Verdauung beider als inkompatibel, weil bei gleichzeitiger Aufnahme ein Bestandteil die optimale Verdauung des anderen blockiere. Was Norman in dieser Sichtweise vermutlich bestätigt hat, ist die Bemerkung von Pavlov (1910, S. 189), dass Protein gemischt mit Kohlenhydraten die Magenentleerung der letzteren verzögert. Pavlov (1910, S. 181) schreibt, dass die Speichelverdauung im Magen in vor der Salzsäure geschützten inneren Bereichen des Nahrungsbreis 2 Stunden lang andauern könne. Pavlovs Studien zur Magenverdauung sind als Argument für die Bestätigung der Trenn-Regel aber prinzipiell nicht geeignet, zumal der Hundespeichel – wie schon seit über 100 Jahren bekannt
ist (Müller 1901) – keine Amylase enthält. Die Verdauung der Kohlenhydrate beginnt beim Hund erst im Dünndarm, Speichel und Magensaft enthalten keine kohlenhydratspaltenden Enzyme (Meyer u. Zentek 2005, S. 35). Der US-amerikanische Gastroenterologe Martin Emil Rehfuss (1887–1964) führte von 1914 bis 1920 an 200 gesunden Männern mittels fraktionierter Magenanalyse mehr als 1.000 Untersuchungen zur Verdauung verschiedener Nahrungsmittel im Magen durch. Messungen der Azidität des Magensaftes nach der Aufnahme diverser Lebensmittel zeigten, dass Fleisch die höchsten Werte zur Folge hatte, während aber auch der Verzehr von kohlenhydratreichen Lebensmitteln deutlich die Sekretion von Salzsäure anregte (. Tab. 10.4). Das heißt, selbst beim Alleinverzehr von kohlenhydratreichen Lebensmitteln liegt niemals ein basisches Milieu im
. Tab. 10.4 Höchste Gesamtazidität im Magensaft nach Verzehr verschiedener Lebensmittel (aus Rehfuss u. Marcil 1929)
1 2
Lebensmittel1
Höchste Gesamtazidität2
Kalbfleisch
140
Fisch
130
Hühnerfleisch
125
Rindfleisch
120
Schweinefleisch
120
Eiscreme
105
Nüsse (25–50 g)
100
Kuhmilch (400 ml)
100
Früchte
90
Kuchen
90
Brot und Getreideflocken
90
Ei
80
Gemüse (verschieden zubereitet)
75
Süßigkeiten
70
100 g, wenn nicht anders angegeben N ml 10 -alkalische Lösung (0,1 val/l), um 100 ml Magensaft zu neutralisieren
154
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 10 · Haysche Trennkost
Magen vor (Rehfuss u. Marcil 1929). Um die TrennRegel zu prüfen, verabreichte Rehfuss 50 Patienten mit den unterschiedlichsten Erkrankungen 3 verschiedene Mahlzeiten und untersuchte die Magenentleerungszeit nach dem Verzehr von: 4 100 g Hamburger Steak, 4 100 g Hamburger Steak und 100 g Kartoffelbrei, 4 100 g Hamburger Steak, 100 g Kartoffelbrei und 40 g Butter. Die durchschnittliche Magenentleerungsdauer beim Hamburger Steak allein betrug 3 Stunden und 51 Minuten. Eine Mahlzeit aus 100 g Hamburger Steak und 100 g Kartoffelbrei wurde nach 3 Stunden und 54 Minuten aus dem Magen entleert. Es ist also nur ein Unterschied von 3 Minuten gegeben. Der Zusatz von 40 g Butter brachte eine leichte Verzögerung der Magenentleerung (4 Stunden und 2 Minuten). Die Untersuchungen von Rehfuss liefern keinen Anhaltspunkt, dass die gleichzeitige Aufnahme von kohlenhydrat- und proteinreichen Lebensmitteln Störungen in der Verweildauer des Nahrungsbreis im Magen nach sich zieht (Rehfuss 1934). Studien zur Stärkeverdauung im Magen aus den 1930er-Jahren haben gezeigt, dass die Kombination von kohlenhydrat- und proteinreichen Nahrungsmitteln in einer Mahlzeit die Stärkeverdauung nicht beeinträchtigt, sondern sogar begünstigt. Ivy et al. (1936) verabreichten 10 Studenten eine Mahlzeit, die wie folgt zusammengesetzt war: 100 g Leberwurst, 200 g Kartoffeln, 30 g Butter, 250 ml Milch (entspricht 25 g Protein, 40 g Kohlenhydrate, 75 g Fett, 950 kcal). Nach 2 Stunden wurde der komplette Mageninhalt mittels fraktionierter Ausheberung entnommen und auf das Ausmaß der Stärkverdauung (d. h. Abbau zu Maltose) hin untersucht. Dabei zeigte sich, dass die Kartoffelstärke bei den meisten Probanden in erheblichem Ausmaß verdaut worden war. Die Säureverhältnisse des Magens stellten also kein Hindernis für die Aktivität der Speichelamylase dar (. Tab. 10.5). Beazell (1941) untersuchte an jungen Männern das Ausmaß der Stärkeverdauung im Magen bei einer üblichen Mahlzeit (Rindfleisch mit Kartoffeln). Es erfolgte 30 und 60 Minuten nach Nahrungsaufnahme eine Regurgitation. Die Analyse des Mageninhaltes zeigte, dass etwa 40 % der verbliebenen Kohlenhydrate in Form reduzie-
. Tab. 10.5 Ausmaß der Stärkeverdauung im Magen 2 Stunden nach Aufnahme einer kohlenhydratund proteinreichen Mahlzeit (aus Ivy et al. 1936, S. 78) Probanden (n=10)
NahrungsbreipH (nach 2 h)
Verdaute Stärke [%]
1
4,1
92,3
2
4,1
85,7
3
3,7
100
4
4,3
100
5
2,8
100
6
4,4
72
7
3
94,2
8
3,1
98,5
9
2,2
86,2
10
1,9
100
render Zucker vorlagen. Shay et al. (1936) gingen der Frage nach, ob eine kohlenhydrat- und proteinreiche Mahlzeit die Magenverdauung beeinträchtigt. Sie stellten fest, dass die Aufnahme von Protein über die Nahrung die Aktivität der Speichelamylase im Magen begünstigt und führen dies auf die puffernde Wirkung des Nahrungsproteins gegenüber der Salzsäure zurück. Aufgrund ihres amphoteren Charakters haben Proteine bekanntlich eine starke Pufferwirkung. Eine in den 1970er-Jahren durchgeführte Studie bestätigt dies. Gemäß den Untersuchungen von Malagelada et al. (1976) ist der Mageninhalt im nüchternen Zustand am sauersten. Aufgrund der basalen Salzsäuresekretion weist das sehr geringe Flüssigkeitsvolumen von 25–50 ml im nüchternen Zustand pH-Werte von 1,9–2,5 auf. Malagelada et al. verabreichten eine der Trenn-Regel widersprechende Mahlzeit, die aus 90 g Steak, 25 g Weißbrot, 8 g Butter, 60 g Vanilleeis mit 35 g Schokoladensirup und 240 ml Wasser bestand (40 % Kohlenhydrate, 40 % Fett, 20 % Protein, 458 kcal; pH = 6). Sie konnten zeigen, dass der pH-Wert im Magen nach der Nahrungsaufnahme sprunghaft ansteigt (. Abb. 10.6). Es gilt heute als nachgewiesen, dass der pH-Wert im Magen durch die Pufferwirkung des Nahrungsproteins auf Werte über 6 ansteigen
155 10.7 · Ernährungswissenschaftliche Bewertung
. Abb. 10.6 Veränderung des intragastralen pH-Wertes nach Aufnahme einer definierten Mahlzeit (aus Malagelada et al. 1976)
6 Mahlzeit
5
10
pH
4 3 2 1 0 0
30
60
90 Zeit (min)
120
kann (Johnson 2001a). Das pH-Optimum für die Alpha-Amylase des Speichels liegt bei 6,7 (Löffler u. Petrides 2003, S. 1082). Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass die Speichelamylase bei entsprechender Zusammensetzung der Nahrung 15–30 Minuten oder länger im Magen aktiv sein kann, wenn sie vor der Säure geschützt ist. Dies hätte Hay aufgrund älterer Publikationen (z. B. Cannon u. Day 1903; Friedenwald u. Ruhräh 1913, S. 26) wissen können. Ein Teil der Speichelamylase kann auch bis in den Dünndarm gelangen und dort weiter wirken (James 1957, S. 7–9; Etzel 1993, S. 134). Heute geht man davon aus, dass der Großteil der Stärkeverdauung im Dünndarm erfolgt (Johnson 2001b). Hays Erklärungen für seine Trenn-Regel sind aufgrund der vorliegenden Untersuchungen zur Magenverdauung als widerlegt zu betrachten (Summ u. Heintze 2008, S. 14, 26f.). Die in zahlreichen Studien untersuchte Wirkung von kohlenhydrat- und proteinreichen Mahlzeiten auf den postprandialen Insulinspiegel liefert aber einen anderen Erklärungsansatz, demzufolge die Trenn-Regel physiologisch gesehen sinnvoll ist. Wie bereits bei der Vorstellung der Insulin-Trennkost nach Pape angesprochen, bewirkt die Kombination eines hohen Kohlenhydrat- und Proteingehalts in einer Mahlzeit eine unerwartet starke Insulinsekretion (7 Kap. 10.5.3). Auf dieses Phänomen wird im Folgenden eingegangen. Floyd et al. (1966) konnten in den 1960er-Jahren zeigen, dass eine proteinreiche Mahlzeit keinen signifikanten Einfluss auf den Blutzuckerspiegel
150
180
hat, aber zu einem deutlichen Anstieg von Insulin führt. Demzufolge rechnete man bei gleichzeitiger Aufnahme großer Mengen von Protein und Kohlenhydraten mit einem additiven Effekt in der Insulinreaktion. Rabinowitz et al. (1966) gingen dieser Frage nach und erhielten unerwartete Ergebnisse. Sie verabreichten ihren Probanden jeweils 450 g Rindfleisch, 100 g Glukose sowie 450 g Rindfleisch zusammen mit 100 g Glukose und verfolgten bis 5 Stunden nach Nahrungsaufnahme den Insulinspiegel. Die gleichzeitige Aufnahme von Rindfleisch und Glukose hatte einen äußerst starken Anstieg von Insulin zur Folge, welcher sich mit den Insulinreaktionen der einzelnen Bestandteile nicht voraussagen ließ (. Abb. 10.7). Dieses unerklärte Phänomen wurde von Pallotta und Kennedy (1968) und Estrich et al. (1967) bestätigt. Letztere verabreichten Diabetikern unterschiedlich zusammengesetzte Nährstoffgemische und beobachteten den Insulinverlauf (. Abb. 10.8). Mehrere Studien belegen, dass die Kombination von kohlenhydrat- und proteinreichen Nahrungsmitteln in einer Mahlzeit zu einem starken postprandialen Anstieg des Insulins führt, sowohl bei Gesunden (z. B. Nuttall et al. 1985; Simpson et al. 1985; Krezowski et al. 1986) als auch bei Typ-2-Diabetikern (z. B. Nuttall et al. 1984; Simpson et al. 1985; Gannon et al. 1992; Gannon et al. 1998). Die Ursachen für den synergistischen Effekt dieser Kombination auf die Insulinsekretion sind bislang nicht geklärt. Untersuchungen haben gezeigt, dass Aminosäuren wie z. B. Leucin, Phenylalanin und Tyro-
156
Kapitel 10 · Haysche Trennkost
1
3 4
Glukose
. Abb. 10.7 Insulinverlauf nach Aufnahme von 450 g Rindfleisch und 100 g Glukose beim Gesunden (aus Rabinowitz et al. 1967). μU/ml MikroUnits pro Milliliter
Rindfleisch + Glukose
180 160 Plasma-Insulin (μU/ml)
2
Rindfleisch
140 120 100 80 60 40 20
5
0 0
1
2
6
3
4
5
Zeit (h)
7 8
KH-Fett
KH
KH-Protein-Fett
. Abb. 10.8 Insulinreaktion auf unterschiedliche Nährstoffgemische beim Diabetiker. KH = 50 g Glukose, Fett = 40 g Fett, Protein = 30 g Protein (aus Estrich et al. 1967). KH Kohlenhydrate, μU/ml Mikro-Units pro Milliliter
KH-Protein
200
9
11 12 13
Plasma-Insulin (μU/ml)
10
180 160 140 120 100 80 60 40 20 0 0
30
60
90 120 Zeit (min)
150
180
14 15 16 17 18 19 20
sin in Kombination mit Kohlenhydraten besonders stark insulinotrop wirken (van Loon et al. 2000). In der gleichzeitigen Aufnahme bestimmter Aminosäuren bzw. Proteinmischungen mit Kohlenhydraten sehen manche Autoren einen vielversprechenden Therapieansatz in der Behandlung von Typ-2Diabetes (Manders et al. 2005). Hierzu liegt aber bislang keine überzeugende Studie vor. Slabber et al. (1994) konzipierten, basierend auf der Kenntnis dieses synergistischen Effekts, eine Studie, welche erstmals die Wirkungen einer Ernährung untersuchen sollte, die ein geringes Ansteigen des postprandialen Insulinspiegels zur Folge hat. Die Tatsache, dass bei Übergewicht und Adipositas in der Regel ein Hyperinsulinismus vorliegt,
dass ein erhöhter Insulinspiegel eine Rolle bei der Entstehung der Arteriosklerose spielt und dass die Reduktion des Insulinspiegels das Risiko für degenerative Stoffwechselerkrankungen zu senken vermag, rechtfertigten die Durchführung einer derartigen Untersuchung. Die Wirkungen zweier energiereduzierter Diäten auf die Seruminsulinkonzentration und den Gewichtsverlust bei insgesamt 30 adipösen, hyperinsulinämischen Frauen wurden 12 Wochen lang untersucht und miteinander verglichen (. Tab. 10.6). Bei der ersten Diät (n=15) handelte es sich um eine übliche energiereduzierte Diät (ND). Die zweite Diät (n=15) war derart konzipiert, dass sie ein geringes Ansteigen des Insulin-
157 10.7 · Ernährungswissenschaftliche Bewertung
. Tab. 10.6 Charakteristika der beiden Studienkollektive (jeweils n=15) in der Studie von Slabber et al. (1994) Gruppe ND Alter Größe [cm]
35,9 164
10
. Tab. 10.7 Tagesspeiseplan, Hauptnährstoffzusammensetzung und Energiegehalt der normalen energiereduzierten Diät und der energiereduzierten Diät mit niedrigem Insulinanstieg
Gruppe ID 34,5 166
Gewicht [kg]
94,2
96,8
BMI [kg/m2]
35
34,6
Glukose [mmol/l]
ND
ID
Frühstück 125 ml Orangensaft
325 g Papaya
1 Scheibe Vollkorntoast (Weizen)
200 g Haferbrei
5 g Margarine
Nüchtern
4,84
4,62
30 min
6,74
6,21
120 min
4,98
5,53
Insulin [pmol/l]
Vormittagssnack 1 kleiner Apfel Mittagessen 62,5 g Hüttenkäse
Nüchtern
186
182
30 min
970
939
120 min
560
509
BMI Body Mass Index, ID Energiereduzierte Diät mit niedrigem Insulinanstieg, ND normale energiereduzierte Diät
–
500 g Nudeln oder Linsen mit Sauce (250 g Tomaten, Zwiebeln, Pilze + 10 ml Pflanzenöl)
2 Scheiben Vollkornbrot (Weizen) 5 g Margarine Tomaten, Kopfsalat, Gurken
spiegels verursacht (ID; . Tab. 10.7, mod. nach Slabber et al. 1994). Beide Kollektive erhielten also 12 Wochen lang die gleiche Energiemenge über die Nahrung, während sich das eine Kollektiv konsequent nach den bereits von Hay empfohlenen Prinzipien ernährte (keine Kombination von kohlenhydrat- und proteinreichen Nahrungsmitteln in einer Mahlzeit, keine Zwischenmahlzeiten). Die Ergebnisse zeigen eine deutliche therapeutische Überlegenheit der energiereduzierten Diät mit geringem Insulinanstieg (ID), sowohl hinsichtlich der Nüchtern-Insulinwerte als auch hinsichtlich des Gewichtsverlustes (Wirth 2006). Obwohl beide Gruppen während des gesamten Untersuchungszeitraumes dieselbe Kalorienmenge zuführten, verlor die »Trennkost-Gruppe« durchschnittlich fast 2 kg mehr an Gewicht. Die Überlegenheit der energiereduzierten Diät mit geringem Insulinanstieg (ID) hat sich auch in einer Crossover-Studie bestätigt (. Tab. 10.8, . Tab. 10.9, beide mod. nach Slabber et al. 1994, . Abb. 10.9). Die von Slabber et al. (1994) veröffentlichte Studie entspricht in ihrer Durchführung den strengsten Kriterien für eine wissenschaftliche Studie (Thomas et al. 2007).
Tee und/oder Kaffee mit Milch Abendessen 90 g gebratene Lammkeule
120 g gebratene Lammkeule
1 kleine gebackene Kartoffel
125 g Brokkoli
125 g gedünsteter Brokkoli
125 g geraspelte Möhren
125 g geraspelte Möhren
Kopfsalat
15 ml FrenchDressing
15 g French-Dressing
1 kleiner Apfel Late-night snack –
500 g fettarmer Jogurt
ND und ID: 50 % Kohlenhydrate, 20 % Protein, 30 % Fett ND: 1.226 kcal/Tag, ID: 1.231 kcal/Tag ID Energiereduzierte Diät mit niedrigem Insulinanstieg, ND normale energiereduzierte Diät
158
1
Kapitel 10 · Haysche Trennkost
. Tab. 10.8 Gewicht, Body Mass Index, Glukose- und Insulinwerte vor und nach Durchführung der normalen energiereduzierten Diät und der energiereduzierten Diät mit niedrigem Insulinanstieg. Für beide Gruppen gilt n=15
2 3
Gruppe ND
Gewicht [kg] BMI
4
[kg/m2]
Gruppe ND nach 12 Wochen
Gruppe ID
Gruppe ID nach 12 Wochen
96,8
89,4
94,3
84,9
34,6
32
35,1
31,6
Glukose [mmol/l] Nüchtern
4,8
4,8
4,6
4,8
30 min
6,7
6,7
6,2
6,9
6
120 min
4,9
5,2
5,5
5,6
7
nüchtern
182
161
186
94
30 min
939
822
970
731
120 min
509
499
560
418
5
8
Insulin [pmol/l]
BMI Body Mass Index, ID Energiereduzierte Diät mit niedrigem Insulinanstieg, ND normale energiereduzierte Diät
9 10
. Tab. 10.9 Vergleich der Ergebnisse der normalen energiereduzierten Diät mit den Ergebnissen der energiereduzierten Diät mit niedrigem Insulinanstieg Unterschied zwischen ND nachher und ND vorher
11 12 13 14 15 16 17
Gewicht [kg]
Unterschied zwischen ID nachher und ID vorher
Unterschied zwischen ND und ID
–7,41
–9,34
1,93
–2,67
–3,45
0,78
Nüchtern
–0,01
0,17
-0,18
30 min
–0,26
0,64
-0,9
120 min
0,27
–0,08
BMI
[kg/m2]
Glukose [mmol/l]
0,35
Insulin [pmol/l] Nüchtern
–21
–91
70
30 min
–110
–239
128
120 min
–11
–142
131
BMI Body Mass Index, ID Energiereduzierte Diät mit niedrigem Insulinanstieg, ND normale energiereduzierte Diät
18 19 20
Insofern ist die gegenüber dieser Studie geäußerte Kritik, dass nämlich die Größe der Versuchs- und Kontrollgruppe mit jeweils 15 Personen kaum eine statistisch haltbare Aussage zulasse (Sabersky 2008, S. 37), belanglos. Eine derartige Anzahl von Personen in der Versuchs- und Kontrollgruppe ist in der Wissenschaft ausreichend, um valide, statistisch
relevante Daten aus einer Interventionsstudie ableiten zu können und fundierte Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. In diesem Zusammenhang seien auch die beiden Studien von Golay et al. (2000) und Ybarra et al. (2003) erwähnt, welche gelegentlich als Argument gegen die Trennkost, gegen die Idee des food
159 10.7 · Ernährungswissenschaftliche Bewertung
Gewichtsverlust (kg)
0 –1 –2 ND
–3 –4
–4,5
–5 –6
ND
–7 –8
–7,4
–9 –10
ID
10
. Abb. 10.9 Gewichtsverluste bei Durchführung der normalen energiereduzierten Diät und der energiereduzierten Diät mit geringem Insulinanstieg in Parallel- und Crossover-Studie im Vergleich (Werte: Slabber et al. 1994). ID Energiereduzierte Diät mit niedrigem Insulinanstieg, ND normale energiereduzierte Diät
–7,4 ID –9,4
Parallelstudie (n = 30)
Crossover-Studie (n = 16)
combining angeführt werden. In beiden Studien wurde untersucht, ob eine Kost mit Berücksichtigung der Trennung von kohlenhydrat- und fettreichen Nahrungsmitteln innerhalb einer Mahlzeit eine effektivere Gewichtsabnahme als andere, energetisch gleichwertige Diätformen bewirken kann (7 Kap. 10.5.2). Den Ergebnissen dieser beiden Untersuchungen zufolge ist das bei dieser Art von food combining nicht der Fall. Die Fragestellung war aber in beiden Studien eine grundlegend andere als in der Studie von Slabber et al. (1994). Beide Studien sind also kein zulässiges Argument gegen die Haysche Trennkost und gegen die von Hay formulierte Trenn-Regel. Hay lag mit seinem Ansatz, dem Einfluss der Ernährung auf den Säure-Basen-Haushalt eine wichtige Bedeutung zuzuschreiben, richtig (Heintze u. Summ 1998). Zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass eine ungünstig zusammengesetzte Kost auf Dauer zu Störungen des Säure-Basen-Gleichgewichts führen kann und dass diese Störungen als Risikofaktor für das Entstehen chronischer Krankheiten (z. B. Osteoporose, Rheuma) anzusehen sind (Vormann u. Goedecke 2006; Vormann u. Remer 2008). In der wissenschaftlichen Diskussion um den Einfluss der Ernährung auf den Säure-Basen-Haushalt wurde die von naturheilkundlicher Seite betonte Bedeutung des Bindegewebes bislang stark vernachlässigt. Der Chemiker und Arzt Friedrich Sander (1882–1966) hat eine Methode der Harnuntersuchung entwickelt (»Methode des Aziditätsquotienten des Harns«), mit welcher – seiner Theorie gemäß – Rückschlüs-
se auf die Belastung des Bindegewebes mit Säure gewonnen werden können. Die Untersuchungsergebnisse von Sander und Glaesel weisen darauf hin, dass beim chronisch Kranken in der Regel eine sog. latente Azidose vorliegt (Sander 1999; Glaesel 1999). Sanders Methode der Harnuntersuchung sollte deshalb von wissenschaftlicher Seite erneut aufgegriffen, hinsichtlich ihres theoretischen Hintergrundes und praktischen Nutzens geprüft und gegebenenfalls erweitert werden (Semler 2006b). Ob die Bildung von Säuren im Darm zum Entstehen einer latenten Azidose beiträgt (Sander 1948, 1999), ist nicht geklärt und wird in der jüngeren wissenschaftlichen Literatur zum Thema Ernährung und Säure-Basen-Haushalt auch nicht diskutiert (Vormann u. Goedecke 2006). Die Begründung der von Hay formulierten 80/20-Regel beruht laut Walb und Walb (1976, S. 30) auf der Aschezusammensetzung des menschlichen Körpers nach Verbrennung. Demzufolge besteht der menschliche Körper zu 80 % aus basenbildenden und zu 20 % aus säurebildenden Elementen. Berechnet man das Verhältnis der basenbildenden Mineralstoffe (Natrium, Magnesium, Calzium, Kalium) zu den säurebildenden Mineralstoffen (Phosphor, Schwefel) anhand von Angaben zu deren mengenmäßigen Vorkommen im menschlichen Organismus (70 kg), so ergibt sich aber ein Verhältnis von 1.330 g zu 875 g, was einem prozentualem Verhältnis von 60:40 entspricht (Elmadfa u. Leitzmann 2004, S. 211). Auch eine Herleitung der 80/20-Regel über das Verhältnis der basen- zu den säurebildenden Elementen im Urin ist nicht mög-
160
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Kapitel 10 · Haysche Trennkost
lich (Rehner u. Daniel 2002, S. 545). Es bleibt ungeklärt, wie die Empfehlung, 80 % basenbildende und 20 % säurebildende Nahrungsmittel zu verzehren, zustande gekommen ist. Das von Hay betonte Konzept der intestinalen Autointoxikation wurde von 1900 bis 1920 in der Wissenschaft intensiv diskutiert und von einigen prominenten Ärzten und Wissenschaftlern vertreten (Becher 1933; Whorton 2000). In den letzten Jahrzehnten wurde es aber wissenschaftlich kaum bearbeitet (Pirlet 2003). Es liegen keine wissenschaftlichen Daten bezüglich der quantitativen Menge der im Darm entstehenden, angeblich toxisch wirkenden Stoffe vor. Das trifft auch auf deren Resorptionsrate, deren Verstoffwechselung und besonders deren langfristige gesundheitliche Wirkungen zu. Zudem liefern die Vertreter des Konzepts der intestinalen Autointoxikation kein plausibles Argument für ihre Ansicht, dass das Ausmaß der postulierten Autointoxikation bei rohkostreicher Ernährung größer als bei vorwiegend gekochter Nahrung sei. Die hervorragenden therapeutischen Erfolge mit Rohkost-Diät sind umfangreich dokumentiert und stehen im Widerspruch zu dieser Ansicht (Semler 2006a). Während einige wenige Ärzte (v. a. die Mayr-Ärzte) der These einer Autointoxikation vom Darm aus nach wie vor eine hohe Bedeutung beimessen (z. B. Rauch 2005), ist dieses rein theoretisch begründete Konzept von medizinisch-wissenschaftlicher Seite als bedeutungslos anzusehen (Müller-Lissner et al. 2005).
15
10.8
16
Die Haysche Trennkost stellt in ihrer praktischen Gestaltung eine vollwertige, vorwiegend laktovegetabile Kostform mit Berücksichtigung des Trenn-Prinzips dar. Eine ausreichende Nährstoffversorgung ist bei einer ausgewogenen, vielseitigen Lebensmittelauswahl gegeben. Dies trifft größtenteils auch auf andere Varianten der Trennkost zu. Die von verschiedenen Seiten postulierten Nährstoffmängel (z. B. Kalzium, Eisen) bei Durchführung der Trennkost sind rein spekulativ und aufgrund der weitgehenden Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Vollwert-Ernährung sehr unwahrscheinlich (Leitzmann et al. 2001, S. 199). Es
17 18 19 20
Fazit
liegen bislang keine aussagekräftigen Nährstoffanalysen zu den verschiedenen Trennkost-Varianten vor, auch keine Erhebungen des Ernährungsstatus von Trennköstlern. Der getrennte Verzehr von kohlenhydrat- und proteinreichen Nahrungsmitteln fördert erfahrungsgemäß bei vielen Menschen die Bekömmlichkeit bestimmter Speisen. Dieses Phänomen lässt sich mit den vorliegenden Untersuchungen zur Magenverdauung (Ausmaß der Stärkeverdauung, Passagezeit) von kohlenhydrat- und proteinreichen Mahlzeiten am Menschen nicht erklären. Es hat sich aber gezeigt, dass Hays Trenn-Regel hinsichtlich der Wirkung auf den postprandialen Insulinspiegel physiologisch sinnvoll ist. Ob sich eine Ernährung, die häufig kohlenhydrat- und proteinreiche Nahrungsmittel in einer Mahlzeit enthält, beim Gesunden langfristig gesehen aufgrund der wiederholten hohen Insulinausschüttungen gesundheitlich belastend auswirken und z. B. zum Entstehen von Hyperinsulinismus beitragen kann, müsste in länger angelegten Studien überprüft werden. Es mehren sich die Hinweise dafür, dass die Wirkungen einer low-insulin-response diet genauer erforscht werden sollten (McCarty 2005; Kallio et al. 2007), besonders im Hinblick auf die langfristigen Folgen stark insulinotrop wirkender Abendmahlzeiten, aber auch hinsichtlich möglicher ungünstiger Effekte von Zwischenmahlzeiten bei Übergewicht (Hildebrandt et al. 1998, S. 79–82; Morgan et al. 2003; Knab 2005; Pollan 2008, S. 188–192). Hays formulierter Trenn-Regel dürfte aufgrund der Studie von Slabber et al. (1994) besonders in der Therapie von Übergewicht und Adipositas sowie der mit Hyperinsulinismus einhergehenden Erkrankungen eine große Bedeutung zukommen. Die von Hay empfohlene Trenn-Regel ist nur ein Bestandteil des Hay-Systems. Viel zu wenig bekannt ist in Deutschland, dass Hay in den USA auf dem Gebiet der Vollwert-Ernährung und Rohkosttherapie Pionierarbeit geleistet hat, ähnlich wie Max Bircher-Benner (1867–1939) im deutschsprachigen Raum. Wie ein roter Faden zieht sich die Überzeugung durch Hays Bücher, dass eine möglichst naturbelassene Ernährung die beste Voraussetzung zur Aufrechterhaltung und Wiedererlangung der Gesundheit ist (Hay 1930, S. 168; Hay 1936, S. 27; Hay 1937, S. 49–53, 88f.; Hay 1939, S. 14f.).
161 10.9 · Zusammenfassung
Der von Hay und vielen anderen diätetisch arbeitenden Ärzten vertretene Standpunkt, in der Nahrung ein wirksames Heilmittel zu sehen und dieses beim Kranken entsprechend einzusetzen, wird von medizinischer Seite leider nach wie vor nicht ernst genommen (Estes 2000; Semler 2006a; Michalsen 2007; Semler 2009). Von wissenschaftlicher Seite wäre es wünschenswert, mit der Beurteilung der präventiven und therapeutischen Bedeutung von alternativen Ernährungsformen zurückhaltender umzugehen. Die Widerlegung der theoretischen Begründungen für eine Ernährungsempfehlung reicht nicht immer aus, um diese generell zu verwerfen und der Kategorie »unwissenschaftlich« zuzuordnen (Semler 2008). Das Studium der Vielzahl an kritischen Stellungnahmen zur Trennkost von wissenschaftlicher Seite bestätigt, dass die von Werner Kollath (1892– 1970) vor vielen Jahren formulierte Feststellung auch heute noch gültig ist:
» Dinge können durchaus richtig sein, aber ihre Erklärung kann falsch sein. Widerlegt man die Erklärung, so verlieren die Dinge nichts an ihrer Richtigkeit. Ein in der Wissenschaft häufiger demagogischer Trick ist es, unangenehme Wahrheiten, die man selbst nicht zu widerlegen vermag, durch Widerlegung falscher Begründungen zu bekämpfen. (zit. nach Kollath 1989, S. 142).
«
10.9
Zusammenfassung
Die auf den Erfahrungen und Theorien des US-amerikanischen Arztes William Howard Hay basierende Haysche Trennkost stellt eine vollwertige, vorwiegend lakto-vegetabile, rohkostreiche Ernährungsform mit Berücksichtigung der Trennung von kohlenhydrat- und proteinreichen Nahrungsmitteln in einer Mahlzeit dar. Sie ist zur Deckung des Nährstoffbedarfs gut geeignet und kann als präventiv wirksame Dauerernährung empfohlen werden. In Deutschland haben die klinischen Erfahrungen von Ludwig Walb und Thomas Heintze gezeigt, dass eine individuell abgestimmte Trennkost bei vielen Krankheiten zu einer deutlichen Besserung oder Heilung beitragen kann. Dies steht im Einklang mit
10
den Erfahrungen zahlreicher anderer diätetisch arbeitender Ärzte, die eine vollwertige, rohkostreiche Ernährung zu therapeutischen Zwecken eingesetzt haben. Angesichts der drastischen Zunahme ernährungsbedingter Krankheiten und der oftmals wenig erfolgreichen Behandlung dieser von schulmedizinischer Seite sollte das Erfahrungswissen der mit Trennkost arbeitenden Ärzte von der Ernährungsmedizin viel mehr beachtet werden. Der hippokratische Ansatz, die Nahrung als Heilmittel zu betrachten, sollte im Interesse vieler chronisch Kranker wissenschaftlich erforscht und in der ärztlichen Praxis angewandt werden. Die empirisch belegte gewichtsreduzierende Wirkung der Trennkost lässt sich wissenschaftlich mit dem Einfluss der Nahrung auf den postprandialen Insulinspiegel erklären. Mehrere Studien belegen, dass Mahlzeiten mit einem hohen Kohlenhydrat- und Proteingehalt zu einem starken Anstieg von Insulin führen. Damit erhält die oftmals kritisierte Trenn-Regel eine fundierte wissenschaftliche Grundlage und dürfte in der diätetischen Behandlung von Übergewicht bzw. Adipositas und mit Hyperinsulinismus einhergehenden Erkrankungen eine große Bedeutung haben. Das wird auch durch Studienergebnisse und praktische Erfahrungen bestätigt.
Literatur Adam O: KFZ-Diät: genussvoll essen und abnehmen. 5. Aufl. Hädecke, Weil der Stadt (2008) Adam O, Lorenz Y: Low-fat- oder Low-carb-Diät – was ist effizienter? Komplement Integr Med 49 (10):27–31 (2008) Adam O, Schimpf E: Kurz- und Langzeiterfolge einer Reduktionskost durch Trennung der Kohlenhydrat- und Fettzufuhr (KFZ-Diät). Ern Umschau 48 (11):451–454 (2001) Beazell JM: Reexamination of the role of the stomach in the digestion of carbohydrate and protein. Am J Physiol 132:42–50 (1941) Becher E: Intestinale Autointoxikation. Erg Ges Med 18:459– 521 (1933) Berg R: Die tägliche Nahrungsmenge. Naturarzt 61 (8):214– 217 (1933) Biesalski HK, Grimm P: Taschenatlas der Ernährung. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart (2007) Bitsch R, Sinnhuber S, Oberritter H et al.: Alternative Diäten – Wunderdiäten? Akt Ern Med 19 (4):195–211 (1994) Bunge G: Text-Book of physiological and pathological chemistry. 1. Aufl. Kegan Paul, London (1890)
162
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 10 · Haysche Trennkost
Bureau of Investigation/American Medical Association: The Defensive Diet League of America – A food fad organization that is making a special appeal to the dental profession. J Am Med Ass 84 (25):1938 (1925a) Bureau of Investigation/American Medical Association: The American Association for Medico-Physical Research – Another society catering to the twilight zone of professionalism. J Am Med Ass 85 (12):920 (1925b) Bureau of Investigation/American Medical Association: William Howard Hay – Capitalizing food fads and fantasies. J Am Med Ass 100 (8):595–597 (1933) Cannon WB, Day HF: Salivary digestion in the stomach. Am J Physiol 9 (6):396–416 (1903) Christian E, Christian MG: Uncooked foods & how to use them. 1. Aufl. The Health-Culture Company, New York (1904) Crile GW: Man – An adaptive mechanism. Macmillan, New York (1916) DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V.): Ernährungsbericht 1984. Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Frankfurt (1984) DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V.): Richtig Essen. 1. Aufl. Umschau, Heidelberg (1998) Diamond H, Diamond M: Fit for life. 1. Aufl. Warner Books, New York (1985) Elmadfa I, Leitzmann C: Ernährung des Menschen. 4. Aufl. Ulmer, Stuttgart (2004) Estes JW: Food as medicine. In: Kiple KF, Ornelas KC (eds.): The Cambridge World History of Food – Vol. 2. 1. Aufl. Cambridge University Press, New York (2000) S. 1534– 1553 Estrich D, Ravnik A, Schlierf G et al.: Effects of co-ingestion of fat and protein upon carbohydrate-induced hyperglycemia. Diabetes 16 (4):232–237 (1967) Etzel K: Role of salivary glands in nutrition. In: Dobrosielski-Vergona K (ed.): Biology of the salivary glands. CRC Press, Boca Raton (1993) S. 129–152 Fessel J, Sulzberger M: Trennkost bei Rheuma. 1. Aufl. AT Verlag, Aarau (1996) Flint A, Møller BK, Raben A et al.: The use of glycaemic index tables to predict glycaemic index of composite breakfast meals. Brit J Nutr 91 (6):979–989 (2004) Floyd JC, Fajans SS, Conn JW et al.: Insulin secretion in response to protein ingestion. J Clin Invest 45 (9):1479– 1486 (1966) Friedenwald J, Ruhräh J: Diet in health and disease. 4. Aufl. Saunders, Philadelphia (1913) Funfack W: Metabolic Balance – Die Diät. Südwest, München (2007) Fussenegger D: Alternative Ernährungsfomen. In: Widhalm K, Miklautsch M (Hrsg.): Ernährungsmedizin. 3. Aufl. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln (2009) S. 712–739 Gannon MC, Nuttall FQ, Lane JT et al.: Metabolic response to cottage cheese or egg white protein, with or without glucose, in type II diabetes subjects. Metabolism 41 (10):1137–1145 (1992)
Gannon MC, Nuttal FQ, Grant CT et al.: Stimulation of insulin secretion by fructose ingested with protein in people with untreated type 2 diabetes. Diabetes Care 21 (1):16–22 (1998) Glaesel KO: Heilung ohne Wunder und Nebenwirkungen – Gesundheit biologisch gesteuert. 5. Aufl. Labor Glaesel Verlag, Konstanz (1999) Glatzel H: Wege und Irrwege moderner Ernährung. 1. Aufl. Hippokrates, Stuttgart (1982) Golay A, Allaz AF, Ybarra J et al.: Similar weight loss with lowenergy food combining or balanced diets. Int J Obes Relat Metab Disord 24 (4):492–496 (2000) Grant D: The Hay System Cookery Book. 1. Aufl. Harrap, London (1936) Grant D, Joice J: Food combining for health. 32. Aufl. Harper Collins Publishers, London (2004) Griffin J: Diets for losing weight – Popular dietary fads: how should health professionals respond? J Fam Health Care 13 (3):65–67 (2003) Haig A: Diet and food considered in relation to strength and power of endurance, training and athletics. 5. Aufl. Churchill, London (1904) Haig A: Uric acid as a factor in the causation of disease. 7. Aufl. Churchill, London (1908) Hay B: Persönliche Mitteilung, 8. September 2005 Hay WH: Cancer a disease of either election or ignorance. Cancer 4:296–300 (1927) Hay WH: Health via food. 2. Aufl. Sun-Diet Press, New York (1930) Hay WH: Weight control. 4. Aufl. Harrap, London (1936) Hay WH: Some human ailments. 2. Aufl. Pocono Haven, Mount Pocono/Pennsylvania (1937) Hay WH: A new health era. 12. Aufl. Pocono Haven, Mount Pocono/Pennsylvania (1939) Hay WH: What price health. 1. Aufl. Hay System Publications, Mount Pocono/Pennsylvania (1946) Hay WH: How to always be well. Manor Books, o. O. (1967) Heintze T: Die Haysche Trennkost bei chronischen Nierenkrankheiten. Ärztezschr Naturheilverf 31 (11):863–865 (1990) Heintze T: Trennkost aus ärztlicher Sicht. 1. Aufl. Falken, Niedernhausen (1996) Heintze T: Ganzheitliches Therapiekonzept bei Multipler Sklerose. Ärztezschr Naturheilverf 38 (8):598–608 (1997) Heintze T: Trennkost – Trendkost? Ern Umschau 46 (Sonderheft):S117–S122 (1999) Heintze T: Alles über die Haysche Trennkost. 5. Aufl. Falken, Niedernhausen (2001) Heintze T: Basisbuch Trennkost. 1. Aufl. Haug, Stuttgart (2005) Heintze T, Imgrund B: Ihr Einkaufsführer: Trennkost leicht gemacht. 1. Aufl. Haug, Stuttgart (2003) Heintze T, Summ U: Säure-Basen-Harmonie durch Trennkost. 1. Aufl. Falken, Niedernhausen (1998) Hildebrandt G, Moser M, Lehofer M: Chronobiologie und Chronomedizin. Biologische Rhythmen und medizinische Konsequenzen. Hippokrates, Stuttgart (1998)
163 Literatur
Holt SHA, Miller JCB, Petrocz P: An insulin index of foods: the insulin demand generated by 1000-kJ portions of common foods. Am J Clin Nutr 66 (5):1264–1276 (1997) Ivy AC, Schmidt CR, Beazell JM: On the effectiveness of malt amylase on the gastric digestion of starches. J Nutr 12 (1):59–83 (1936) James AH: The physiology of gastric digestion. 1. Aufl. Arnold, London (1957) Johnson LR: Gastric digestion. In: Johnson LR, Gerwin TA (eds.): Gastrointestinal physiology. 6. Aufl. Mosby, St. Louis (2001a) S. 75–94 Johnson LR: Digestion and absorption. In: Johnson LR, Gerwin TA (eds.): Gastrointestinal physiology. 6. Ed. Mosby, St. Louis (2001b) S. 119–141 Kallio P, Kolehmainen M, Laaksonen DE et al.: Dietary carbohydrate modification induces alterations in gene expression in abdominal subcutaneous adipose tissue in persons with the metabolic syndrome: the FUNGENUT Study. Am J Clin Nutr 85 (5):1417–1427 (2007) Kasper H: Ernährungsmedizin und Diätetik. 11. Aufl. Urban & Fischer, München (2009) Keller M: Alternative Ernährungskonzepte. Kovač, Hamburg (2008) Kellogg JH: The stomach: its disorders, and howe to cure them. Modern Medicine, Battle Creek (1896) Kersting M, Reinehr T: Diäten. In: Reinehr T, Wabitsch M (Hrsg.): Adipositas in praxi. Hans Marseille, München (2006) S. 123–127 Kiefer I: Alternative Ernährungsformen und Außenseiterdiäten. In: Widhalm K (Hrsg.): Ernährungsmedizin. 2. Aufl. Verlagshaus der Ärzte, Wien (2005) S. 622–631 Knab B: Zeit und Essen – Chronobiologische Aspekte der Nahrungsaufnahme. Moderne Ernährung Heute 7 (4):1– 5 (2005) Kollath E: Vom Wesen des Lebendigen – Biographie des Ernährungswissenschaftlers, Forschers, Mediziners und Künstlers Werner Kollath (1892–1970). 1. Aufl. Natürlich und Gesund, Stuttgart (1989) Krezowski PA, Nuttall FQ, Gannon MC et al.: The effect of protein ingestion on the metabolic response to oral glucose in normal individuals. Am J Clin Nutr 44 (6):847– 856 (1986) Laube H, Mehnert H: Ernährungstherapie. In: Mehnert H, Standl E, Usadel KH (Hrsg.): Diabetologie in Klinik und Praxis. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart (1999) S. 120–146 Laupert-Deick C: Bewertung alternativer Kostformen im Kindesalter. Kind Jugendmed 2 (5):166–172 (2002) Löffler G, Petrides PE: Biochemie und Pathobiochemie. 7. Aufl. Springer, Berlin (2003) Loon LJC van, Saris WHM, Verhagen H, Wagenmakers JM: Plasma insulin responses after ingestion of different amino acid or protein mixtures with carbohydrate. Am J Clin Nutr 72 (1):96–105 (2000) Malagelada JR, Longstreth GF, Summerskill WHJ et al.: Measurement of gastric functions during digestion of ordinary solid meals in man. Gastroenterology 70 (2):203– 210 (1976)
10
Manders RJF, Wagenmakers AJM, Koopman R et al.: Co-ingestion of a protein hydrolysate and amino acid mixture with carbohydrate improves plasma glucose disposal in patients with type 2 diabetes. Am J Clin Nutr 82 (1):76–83 (2005) Manz F: History of nutrition and acid base physiology. Eur J Nutr 40 (5):189–199 (2001) McCann A: The science of eating. 1. Aufl. Doran, New York (1919) McCarrison R: Studies in deficiency disease. 1. Aufl. Frowde and Hodder & Stoughton, London (1921) McCarrison R: The relationship of diet to the physical efficiency of Indian races. Practitioner 114:90–100 (1925) McCarty MF: The origins of western obesity: a role for animal protein? Med Hypotheses 54 (3):488–494 (2000) McCarty MF: Low-insulin-response diets may decrease plasma C-reactive protein by influencing adipocyte function. Medical Hypotheses 64 (2):385–387 (2005) McCay CM: Gustav B. von Bunge. J Nutr 49 (1):3–19 (1953) Meyer H, Zentek J: Ernährung des Hundes. Grundlagen – Fütterung – Diätetik. 5. Aufl. Parey, Stuttgart (2005) Michalsen A: Ernährungstherapie und therapeutisches Fasten in der Naturheilkunde. Schweiz Z Ganzheitsmed 19 (5):260–268 (2007) Möller S: Vorschriften für die alkalisierende Eiweiß-Kohlehydrat-Diät (A-E-K-Diät). Dr. Möllers Sanatorium, Dresden (1939) Möller S: Die alkalisierende Eiweiß-Kohlehydrat-Diät (A-E-KDiät) in Theorie und Praxis. 1. Aufl. Pahl, Dresden (1940) Montignac M: Die Montignac-Methode … essen und dabei abnehmen. 4. Aufl. Artulen, Offenburg (2002) Morgan L, Hampton S, Gibbs M et al.: Circadian aspects of postprandial metabolism. Chronobiol Int 20 (5):795– 808 (2003) Müller J: Über den Umfang der Stärkeverdauung im Mund und Magen des Menschen. Verh Kongr Inn Med 19:321– 337 (1901) Müller SD: Alternative Ernährungsformen und Außenseiterdiätkostformen – Darstellung und Bewertung. VitaMinSpur 15 (1):11–17 (2000) Müller-Lissner SA, Kamm MA, Scarpignato C et al.: Myths and misconceptions about chronic constipation. Am J Gastroenterol 100 (1): 232–242 (2005) Noelke M: Abnehmen durch Trennkost – Ein ärztlicher Ratgeber. 2. Aufl. Verlag Dr. Noelke, Homberg/Ohm (2000) Noelke M: Trennkost – Gesundheit – Wellness. Gewichtsreduktion durch Trennkost wissenschaftlich belegt. Erfahrungsheilkunde 50 (8):466–467 (2001) Noelke M: Persönliche Mitteilung, 13. April 2005 Noelke M, Wagner C: Wie wirkt die Trennkost? »Der Insulinspiegel ist der Schlüssel zum Erfolg« (Interview). Der Naturarzt 149 (1):11–13 (2009) Nordt TK, Besenthal I, Eggstein M et al.: Influence of breakfasts with different nutrient contents on glucose, C peptide, insulin, glucagon, triglycerides, and GIP in non-insulin-dependent diabetics. Am J Clin Nutr 53 (1):155– 160 (1991)
164
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 10 · Haysche Trennkost
Norman NP: Food combinations: an original scheme of eating based upon the newer knowledge of nutrition and digestion. J Med Soc New Jersey 21 (12):375–387 (1924) Nuttall FQ, Mooradian AD, Gannon MC et al.: Effect of protein ingestion on the glucose and insulin response to a standardized oral glucose load. Diabetes Care 7 (5):465– 470 (1984) Nuttall FQ, Gannon MC, Wald JL et al.: Plasma glucose and insulin profiles in normal subjects ingesting diets of varying carbohydrate, fat, and protein content. J Am Coll Nutr 4 (4):437–450 (1985) Oberritter H: Alternative Ernährungsformen. In: Maid-Kohnert U, Weiss C, Falkenburg P (Hrsg.): Lexikon der Ernährung. Erster Band A bis Fettk. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg (2001) S. 56–61 Pallotta JA, Kennedy PJ: Response of plasma insulin and growth hormone to carbohydrate and protein feeding. Metabolism 17 (10):901–908 (1968) Pape D: Obesity treatment by the general practitioner. A six year report of 1736 participants of an open group model combining high carbohydrate meals with high protein liquid formula. Int J Obes 25 (Suppl. 1):S116 (2001) Pape D: Persönliche Mitteilung, 5. August 2005 Pape D, Schwarz R, Gillessen H: Satt – schlank – gesund: Das Ernährungs-Praxisbuch nach dem Insulinprinzip zum Abnehmen und Gewichthalten. 1. Aufl. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln (2003) Pape D, Schwarz R, Gillessen H et al.: Schlank im Schlaf. 1. Aufl. Gräfe und Unzer, München (2006) Pavlov IP: The work of the digestive glands. 2. Aufl. Griffin, London (1910) Picton LJ: Amylaceous dyspepsia. Liverpool Med Chir J 39:36–49 (1931) Picton LJ: Nutrition & the soil. Thoughts on feeding. DaveinAdair, New York (1949) Pirlet K: Präventive und therapeutische Diätetik – Unsere Ernährung im Wirrwarr der Ansichten und Ideologien. In: Pirlet-Gottwald M, Falkenbach A (Hrsg.): Die Erhaltung von Leben und Gesundheit. Kovač, Hamburg (2003) S. 198–234 Pollan M: In defense of food. An eater´s manifesto. Penguin Books, New York (2008) Rabinowitz D, Merimee TJ, Maffezzoli R et al.: Patterns of hormonal release after glucose, protein, and glucose plus protein. Lancet 2:454–456 (1966) Rauch E: Lehrbuch der Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr. 3. Aufl. Haug, Stuttgart (2005) Rehfuss ME: Proteins versus the carbohydrates – an inquiry into their gastric digestion. J Am Med Ass 103 (21):1600–1605 (1934) Rehfuss ME, Marcil GH: The gastric digestion of meat in health and disease. J Am Med Ass 92 (10):763–769 (1929) Rehner G, Daniel H: Biochemie der Ernährung. 2. Aufl. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg (2002) Reilly HJ, Brod RH: Das große Edgar-Cayce-Gesundheitsbuch. 1. Aufl. Schirner, Darmstadt (2005)
Rummel C: Ragnar Berg – Leben und Werk des schwedischen Ernährungsforschers und Begründers der basischen Kost. Peter Lang, Frankfurt (2003) Sabersky A: Diät! 99 verblüffende Tatsachen. Trias, Stuttgart (2008) Sander F: Die Darmflora in der Physiologie, Pathologie und Therapie des Menschen. 1. Aufl. Hippokrates, Stuttgart (1948) Sander F: Der Säure-Basenhaushalt des menschlichen Organismus und sein Zusammenspiel mit dem Kochsalzkreislauf und Leberrhythmus. 3. Aufl. Hippokrates, Stuttgart (1999) Schlimme E, Buchheim W: Milch und ihre Inhaltsstoffe. Chemische und physikalische Eigenschaften. 2. Aufl., Th. Mann, Gelsenkirchen (1999) Schrezenmeir J, Schultheis E, Kluthe R: Ernährungsmedizin: Vollwertige und alternative Kost. In: Grifka J (Hrsg.): Naturheilverfahren – Bewährte Methoden, anerkannte Therapie. 1. Aufl. Urban & Schwarzenberg, München (1995) S. 217–257 Semler E: Pflanzliche Rohkost: therapeutische Möglichkeiten bei rheumatischen Erkrankungen. Schweiz Z Ernähr Med 3 (3):13–18 (2005a) Semler E: Pflanzliche Rohkost: Heilnahrung par excellence. Reformrundschau Sonderdruck, Bad Homburg (2005b) Semler E: Rohkost: historische, therapeutische und theoretische Aspekte einer alternativen Ernährungsform. Dissertation, Institut für Ernährungswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen (2006a) Semler E: Leben und Werk des Arztes und Chemikers Dr. med. Dr. phil. nat. Friedrich Franz Emil Sander (1882– 1966). Zum 40. Todesjahr des Pioniers der Erforschung des Säure-Basen-Haushalts. Ärztezschr Naturheilverf 47 (12):749–757 (2006b) Semler E: Ernährungsirrtümer. Im Dschungel der Halbwahrheiten. Kneipp-Journal 117 (10):404–415 (2008) Semler E: Leben und Werk von Dr. med. Max Gerson (1881– 1959). Zum 50. Todesjahr eines Pioniers der Ernährungsmedizin. Zeitschrift für Komplementärmedizin 1 (6) (2009) Semler E, Matejka R: Vor- und Nachteile der Rohkost. »Ärzte sollten Rohkost als Therapie empfehlen«. Der Naturarzt 148 (6):44–45 (2008) Shay H, Gershon-Cohen J, Fels SS: Is gastric secretion or digestion impaired by a mixture of carbohydrate and protein in the diet? Am J Dig Dis Nutr 3:235–238 (1936) Shelton HM: The Hygienic System Vol. II – Orthotrophy. 3. Aufl. Dr. Shelton´s Health School, San Antonio/Texas (1951) Shelton HM: Food combining made easy. 38. Aufl. Willow Publishing, San Antonio/Texas (1997) Siener R: Alternative Ernährungsformen. Ernährung & Medizin 17 (4):195–198 (2002) Simpson RW, McDonald J, Wahlqvist ML et al.: Macronutrients have different metabolic effects in nondiabetics and diabetics. Am J Clin Nutr 42 (3):449–453 (1985)
165 Literatur
Slabber M, Barnard HC, Kuyl JM et al.: Effects of a low-insulin-response, energy-restricted diet on weight loss and plasma insulin concentrations in hyperinsulinemic obese females. Am J Clin Nutr 60 (1):48–53 (1994) Smith EL: The Official Cook Book of the Hay System. 12. Aufl. Hay System Publications, Mount Pocono/Pennsylvania (1943) Strube H: Alternative Kostformen. In: Biesalski HK, Fürst P, Kasper H et al. (Hrsg.): Ernährungsmedizin. 3. Aufl. Thieme, Stuttgart (2004) S. 622–635 Summ U: Schlankwerden und Schlankbleiben durch Trennkost. 5. Aufl. Haug, Heidelberg (1991) Summ U: Mit Trennkost beschwerdefrei – Rheuma-, Gichtund Bauchspeicheldrüsenprobleme gelöst. Naturarzt 137 (4):26 (1997a) Summ U: Erfahrungen mit Trennkost. 1. Aufl. Falken, Niedernhausen (1997b) Summ U: Das große Buch der Trennkost. 1. Aufl. Bassermann, München (2003) Summ U: Iss Dich schlank – Abnehmen und schlemmen mit der besten Diät seit Atkins, Glyx und Trennkost. 1. Aufl. Knaur, München (2005) Summ U, Heintze T: Der Trennkost-Doktor. Knaur, München (2008) Thomas DE, Elliott EJ, Baur L: Low glycaemic index or low glycaemic load diets for overweight and obesity. Cochrane Database Syst Rev Issue 3, 30 S (2007) Tilden JH: Toxemia explained. 1. Aufl. Denver (1926) Volhard F: Die kochsalzfreie Krankenkost. 11. Aufl. Barth, Leipzig (1947) Vormann J, Goedecke T: Acid-Base homeostasis: Latent acidosis as a cause of chronic diseases. Schweiz Z Ganzheitsmed 18 (5):255–266 (2006) Vormann J, Remer T: Dietary, metabolic, physiologic, and disease-related aspects of acid-base balance: foreword to the contributions of the second International Acid-Base-Symposium. J Nutr 138 (2):413S–414S (2008) Walb L: Heilung eines chronischen Ekzems. Hippokrates 9 (5):125–126 (1938) Walb L: Revolutionäre Erkenntnisse in der Gesundheitsführung. Münch Med Wschr 87 (51):1413–1417 (1940) Walb L: Rheumaprobleme des Praktikers einst und jetzt. Erfahrungsheilkunde 5 (10):457–464 (1956) Walb L: Nierenerkrankungen und ihre Prophylaxe. Erfahrungsheilkunde 11 (10):479–486 (1962) Walb L: Über den Einfluss sinnvoller Ernährung. Erfahrungsheilkunde 8 (9):457–463 (1964) Walb L: Die Haysche Trennkost. Physik Med Rehab 8 (6):136– 139 (1967a) Walb L: Über die Wirkung der Trennkost, besonders bei Nierenkrankheiten. Diaita 13 (6):12–13 (1967b) Walb L: Einfache Diätetik für den Praktiker – Erfahrungen mit der Hayschen Trennkost. Landarzt 44 (29):1434–1438 (1968) Walb L: Über die Wirkung der Trennkost bei Diabetes. Physik Med Rehab 10 (10):262–264 (1969)
10
Walb L: Diät in der Herztherapie. Physik Med Rehab 17 (8) : 170–172 (1976) Walb L: Erfolgreiche diätetische Behandlung der Cholesterinämie mit Trennkost. Ern Umschau 24 (11):369 (1977) Walb L: Entschlackung mit Trennkost – 20jährige Erfahrung. Physik Med Rehab 21 (6):303–307 (1980) Walb L, Walb I: Die Haysche Trenn-Kost. 3. Aufl. Haug, Ulm (1957) Walb L, Walb I: Die Haysche Trenn-Kost. 28. Aufl. Haug, Heidelberg (1976) Walb L, Heintze T, Lehmann P: Original Haysche Trennkost. 44. Aufl. Haug, Heidelberg (1996) Wechsler JG: Diätetische Therapie der Adipositas. In: Wechsler JG (Hrsg.): Adipositas. Ursachen und Therapie. 2. Aufl. Blackwell, Berlin (2003) S. 245–265 Whorton JC: Inner Hygiene: constipation and the pursuit of health in modern society. 1. Aufl. Oxford University Press, New York (2000) Wirth A: Adipositas – Definition und Ätiologie. In: Schauder P, Ollenschläger G (Hrsg.): Ernährungsmedizin. Prävention und Therapie. 3. Aufl. Urban & Fischer, München (2006) S. 683–692 Wirth A: Adipositas. Ätiologie, Folgekrankheiten, Diagnose, Therapie. 3. Aufl. Springer, Heidelberg (2008) Wolberg LR: The Hay Food Fantasy. Hygeia 16 (4):311–313, 372 (1938) Wutzke KD, Heine WE, Köster D et al.: Metabolic effects of Hay´s Diet. Isotopes Environ Health Stud 37 (3):227– 237 (2001) Ybarra J, Stefano de M, Kammer A et al.: Interest of prognostic score for optimal clinical management of obese patients. Diabetes Metab 29 (4 Pt 1):418–423 (2003) Zunft HJ: Außenseiterdiäten. In: Schauder P, Ollenschläger G (Hrsg.): Ernährungsmedizin. Prävention und Therapie. 2. Aufl. Urban & Fischer, München (2003) S. 175–187
167
Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie 11.1
Grundlagen und Methodik – 168 Hellmut Lützner
11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.1.4 11.1.5 11.1.6
Einleitung – 168 Geschichtlicher Überblick und Stellung des Fastens heute – 168 Anwendungsgebiete/Indikationen – 173 Wirtschaftliche Aspekte – 180 Kontraindikationen und Komplikationen – 180 Zusammenfassung – 182
11.2
Physiologie des Fastens – 182 Françoise Wilhelmi de Toledo
11.2.1
11.2.7 11.2.8 11.2.9 11.2.10 11.2.11 11.2.12
Wie werden die Kenntnisse über die Physiologie des Fastens gewonnen? – 182 Kleines Fastenglossar – 183 Nahrungsenergie im Fasten – 184 Die 4 Phasen des Fastens – 185 Kann der Eiweißabbau therapeutisch nützlich sein? – 189 Veränderung der Körperzusammensetzung und Geschwindigkeit der Gewichtsreduktion – 190 Schutz gegen Fastenazidose – 191 Hormonelle und vegetative Steuerung des Fastens [8] – 192 Immunologische Wirkungen des Fastens – 193 Bedeutung der körperlichen Aktivität – 193 Fastendauer – 193 Mikronährstoffe beim Fasten – 194
11.3
Zusammenfassung – 195
11.2.2 11.2.3 11.2.4 11.2.5 11.2.6
11
1
168
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
11.1
Grundlagen und Methodik Hellmut Lützner
2 3 4 5 6 7 8 9 10
Überleben aus gespeicherter Nahrung ist ein physiologisches Grundprinzip, das überall in der Natur anzutreffen ist. Der Mensch setzt diese Fähigkeit zum Fasten aus verschiedenen Gründen freiwillig ein; es entwickelten sich Fastenkulturen. So wird Fasten seit alters her auch therapeutisch genutzt. Inwiefern sich das Fasten vom bloßen Hungern unterscheidet und welche Erfahrungen mit der prophylaktischen und therapeutischen Anwendung bis heute gesammelt wurden, wird in diesem Kapitel dargestellt. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 die geschichtlichen Wurzeln des Fastens, 4 den derzeitigen Stellenwert des Fastens in Prävention und Therapie, 4 die Form, wie Fasten bei chronischen und akuten Erkrankungen eingesetzt werden kann (Anwendungsbeispiele), 4 die zu beachtenden absoluten und relativen Kontraindikationen.
11 11.1.1
Einleitung
12 13 14 15 16 17 18 19 20
Essen und Nichtessen, Ernährung von außen und »von innen«, Nahrungsaufnahme und Leben aus gespeicherter Nahrung müssen als eine Einheit gesehen werden, die sich im rhythmischen Wechsel vollzieht wie der Wechsel zwischen Tag und Nacht. Jeder gesunde Mensch verfügt über die Fähigkeit, einige Tage ohne Nahrungszufuhr zu leben, ohne Hunger zu haben oder schwach zu werden. Diese Fähigkeit allerdings muss von jedem entdeckt, erworben werden, denn sie ist wohl genetisch angelegt, aber beim heutigen Menschen nur noch latent vorhanden. Die Erfahrung des Fastens führt zu einem Erleben, das nicht identisch mit Hungern ist, sondern mit Sattsein durch Versorgung aus körpereigenen Nahrungsdepots. Diese Erfahrung schließt in der Regel Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden ein. Somit kann das Erlebnis des Fastens überzeugend wirken und zur Wiederholung ermutigen. Dieses Wissen fügt sich in den eigenen Erfahrungsschatz ein. Rational ist es nur bedingt vermittelbar.
Dennoch ist es notwendig, den Begriff »Fasten« eindeutig zu definieren und Bedingungen aufzuzeigen, unter denen es erfolgreich durchgeführt werden kann.
Definition des Fastens Diesem Beitrag liegt die von der Ärztegesellschaft Heilfasten und Ernährung entwickelte Definition des Fastens zugrunde, die die folgenden 4 Aspekte umfasst: 5 Verzicht auf Nahrung und Genussmittel für begrenzte Zeit (5 Tage bis 5 Wochen), anschließend gestufter Kostaufbau (Lützner 2001) 5 reichliche Flüssigkeitszufuhr 5 Sorge für regelmäßige Darmentleerung 5 ausreichend Bewegung im Wechsel mit Ruhe.
11.1.2
Geschichtlicher Überblick und Stellung des Fastens heute
Die Fähigkeit, aus gespeicherter Nahrung zu leben, ist eine physiologische Grundbedingung für das Überleben von Tier und Mensch. Ganze Populationen überleben Zeiten extremer Nahrungsknappheit, indem sie auf die Körperspeicher für Energieund Nährstoffe zurückgreifen. Im Unterschied zu diesem erzwungenen Hungern kennt der Mensch auch das freiwillige Fasten. »Es ist so alt wie die Völker der Erde (Buchinger 1935) … und so finden wir auch immer die zwei Formen des Fastens: das Heilfasten und das kultische oder religiöse Fasten.« (Buchinger 2005, S. 13) Beide Formen gehen ineinander über, weil ärztliche und priesterliche Vollmachten in einer Hand lagen. Die großen Religionsstifter und Gesetzgeber wie Moses, die ägyptischen Pharaonen, Buddha, Christus und Mohammed fasteten bis zu 40 Tage, bevor sie Grundgesetze des Lebens verkündeten. Anhand der Religionsgeschichte des Judentums, des Islam und der Christenheit von der Urkirche über die »alten Kirchenväter« bis ins Mittelalter lässt sich die Mehrdimensionalität des Fastens über
169 11.1 · Grundlagen und Methodik
Sein Heil finden
Heilen
Therapie
Fasten
Fasten Heil werden
Religion
Jahrhunderte hinweg verfolgen (Buchinger 1935). Sie soll durch zwei Darstellungen skizziert werden, die sie unserem Verständnis näherbringen mögen (. Abb. 11.1). Im Alten Testament (Buch Tobit) wird eine soziale Dimension des Fastens genannt, die vom heiligen Augustinus wiederholt wird: »Fasten, Beten und Almosen geben«, das bedeutet: Besinnung auf sich und den religiösen Urgrund, dann die Hinwendung zum Anderen, den Bedürftigen. Die Wurzeln religiösen oder kultischen Fastens sind auch heute noch lebendig, wenn auch in abgeschwächter Form: als »Fastenzeit« vor Ostern (katholische Kirche) und als »7 Wochen ohne« (evangelische Kirche). Als partieller Konsumverzicht gelten das »Fasten« am Freitag mit einem Verzicht auf Fleisch, der wöchentliche Fastentag in der jüdischen Kultur sowie der Ramadan des Islam. Bei letzterem gilt über 40 Tage strenger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit am Tage; nach Einsetzen der Dunkelheit wird in sehr unterschiedlichem Ausmaß gegessen und getrunken. Strenges Fasten wird in christlichen Klöstern praktiziert, und in kirchlichen Bildungseinrichtungen werden in zunehmendem Maße Fastenwochen nach unserer Definition angeboten. Darüber hinaus kennen wir das politisch motivierte Fasten. Gandhi setzte es zur Befreiung Indiens von der englischen Kolonialmacht als Druckmittel ein, baskische und kurdische Gruppen zur Durchsetzung ethnischer Ziele.
Die medizinischen Wurzeln des Fastens Hippokrates (um 460–370 v. Chr.) und Galenus (um 129–216 n. Chr.) beschrieben Fasten als heilwirksam. In den folgenden Jahrhunderten sind bis zum 16. Jahrhundert Informationen von Ärzten über das Fasten kaum zu finden – es scheint als Heilmittel vergessen gewesen zu sein. Im 17.
. Abb. 11.1 tens
11
Dimensionen des Fas-
Individuation
und 18. Jahrhundert gibt es diätische Strategien, die auch Fasten enthalten. Erst im 19. Jahrhundert beginnt die Renaissance des medizinischen Fastens mit Wunderlich in Leipzig (1848), Tanner in den USA mit seinem Selbstversuch eines 40-TageFastens (1880), der wissenschaftlich begleitet wurde, und mit Dewey (1885), der als erster Fastenarzt in den USA gelten kann, und sicher auch mit dem Laien Schroth (1829) in Böhmen, dessen »SchrothKur« sich heute noch bewährt. Moeller, Riedlin, Buchinger und andere waren praxisnahe Fastenärzte in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in Deutschland. Auf sie geht das methodisch ausgereifte Fasten zurück. Moeller in Dresden und Buchinger in Witzenhausen gründeten die ersten Fastensanatorien. Buchinger kann mit seinem Buch »Das Heilfasten« (1. Auflage 1935) als der Mentor des ganzheitlich verstandenen Fastens gesehen werden; sein Standardwerk ist seitdem bis heute (Reprint, 24. Aufl. 2005) im Buchhandel zu finden – Bekenntnis und Erfahrung eines großen Arztes. Unabhängig von ihm und 10 Jahre früher wurde Mayr in Böhmen, später auch in Wien, als Diagnostiker und Diätetiker bekannt; für ihn war ein Teefasten von 7 bis 10 Tagen der wirksamste Auftakt zur Milch-Semmel-Kur, welche ihn berühmt gemacht hat. In Wien schien dieser zweite Teil eher praktikabel zu sein als das »zu strenge« Fasten; so wurde der wichtige erste Teil, das Teefasten, weggelassen und mit der Zeit vergessen. Erfahrungsmedizin und wissenschaftliche Erforschung des Phänomens Nahrungslosigkeit gingen getrennte Wege (. Abb. 11.2; mod. nach Wilhelmi de Toledo u. Klepzig 1994). Ein beispielhafter Dialog zwischen beiden Disziplinen fand durch Grothe und Brauchle 1934 in Dresden statt, wobei das klinische Fasten im Rahmen klassischer Naturheilverfahren kritisch betrachtet wurde. Aus
170
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
1
Tradition
Wissenschaft
2 3
E.H. Dewey Meadville 1885
1880
H. Tanner New York 1880
Schroth 1829
Natural Hygiene
4 5
1900 F. Benedict Washington 1915
1920
6 B. Schenck Heidelberg 1938 – 40
8 9 10 11
F.X. Mayr Wien 1925
G. Riedlin Freiburg 1928
1930 Brauchle
Grothe – Dresden 1934
7
H. Shelton S. Möller USA Dresden 1918
Bloom et al. USA 1959
H. Krauß Berlin 1950
C. Pfeiffer H. Ditschuneit et al. Ulm 1971
Null-Diät
O. Buchinger 1940 Witzenhausen Bad Pyrmont Überlingen 1960 1935
Natural Hygiene Fit for Life
1970
Lehrstuhl
Buchinger Schule
Mayr Schule
Schroth Kur
12 13
. Abb. 11.2 Geschichte des medizinischen Fastens. Daten: Jahr der Hauptpublikation
14 15 16 17
dieser Schule ging Krauß (1909–1992) hervor, der strenge Diätetik und Fasten als Inhalte seiner Professur für Physiotherapie an der Medizinischen Fakultät Charité der Humboldt-Universität in Berlin (1966–1972) auch in die universitäre Medizin einführte.
Die Stellung des Fastens heute
18 19 20
Das selbstständige und freiwillige Fasten Gesunder wurde aus präventiv-gesundheitlichen und/oder religiösen Motiven schon immer durchgeführt, meist in spezialisierten Kliniken bzw. Sanatorien. In den letzten 30 Jahren ist es jedoch zu einer beachtlichen Fastenbewegung mit der Tendenz »Gesundheit in Eigenverantwortung« gekommen, die ärztlicherseits nur begrüßt werden kann. Es ist vor die-
sem Hintergrund ratsam, beim Fasten 2 Formen zu unterscheiden (. Tab. 11.1). Das Fasten für Gesunde ermöglicht neue Erfahrungen und »Einsichten« (Lützner 2008a, 2008b). Diese zu vermitteln ist Aufgabe der Erwachsenenbildung und der Gesundheitsförderung. Das Fasten für Gesunde kann aber vorzüglich für Ziele der medizinischen Prävention genutzt werden. Die Kooperation von Ärzten und Gesundheitspädagogen zur Vermeidung von Erkrankungen, die als abhängig von Ernährung und Lebensstil gelten, sollte weiter ausgebaut und gefördert werden. Das Heilfasten bzw. therapeutische Fasten ist in der Hand ausgebildeter Fastenärzte und Fastenärztinnen (vgl. . Tab. 11.9) eine medizinische Methode zur Behandlung von Krankheiten. Aus den Fas-
171 11.1 · Grundlagen und Methodik
. Tab. 11.1 Formen des Fastens und ihre Charak-
11
. Tab. 11.2 Stufen der hippokratischen diaita
teristika Fasten für Gesunde
Heilfasten/Fastentherapie
Kurzzeitfasten
Langzeitfasten
In eigener Verantwortung
Unter fastenärztlicher Leitung
Gesundheitsförderung
Krankenbehandlung
Erwachsenenbildung
Medizinische Methode
Zu Hause/in den Ferien
Fastenklinik
Nahezu keine Kosten
Kosten stationärer Behandlung
tensanatorien und Diätkurheimen »im Lande« sind heute Spezialkliniken für Fasten- und Ernährungstherapie geworden, die meist von Internisten geleitet werden und sowohl moderne diagnostische Möglichkeiten als auch ein breites Spektrum klassischer Naturheilverfahren aufweisen. Die Fastentherapie gilt als ein in sich abgerundetes Verfahren; dieses fordert andere Kenntnisse als die Ernährungstherapie. Fasten- und Ernährungstherapie aber werden sich dabei immer gegenseitig bedingen. Fasten stellt den idealen Einstieg in eine Ernährungsumstellung dar. Eine vollwertige Ernährung schafft über die Wiederauffüllung der Speicher mit allen Nahrungsinhaltsstoffen die Ausgangsbasis auch für ein wiederholtes Fasten. Dies gilt besonders für die Behandlung chronischer Krankheiten, bei denen oft eine lebenslange, eingreifende Ernährungsveränderung mit Fastenintervallen notwendig ist. Ein solches Vorgehen lässt sich gut in klinische und ambulante Rehabilitationsstrategien integrieren (Lützner 1993). Die Begriffe »Fasten« und »Heilfasten« werden nicht selten missbräuchlich verwendet. Es wird empfohlen, sich sagen zu lassen, was genau darunter verstanden wird, und dies mit der hier gegebenen Definition vergleichen. Des Weiteren sollte nach der Leitung gefragt werden und welche Ausbildung dafür vorliegt. Die Kompetenz der Leitung – gleich, ob in einer Klinik oder in einer Fastenwoche für Gesunde – kann auch von Ärzten oder Erwachsenenpädagogen nur durch ausrei-
Diaita – Diätetik im weitesten Sinne
Ordnungstherapie
Diätetik im eigentlichen Sinne
Ernährungstherapie
Intensivdiätetik
Fastentherapie, strenge Diäten
chende Selbsterfahrung und eine spezielle Ausbildung (vgl. . Tab. 11.9) erworben werden.
Die Position des Fastens innerhalb der Ernährungstherapie Diätetik im naturheilkundlichen Sinne ist mehr als »nur Diät«. Ihr ganzheitlicher Anspruch gründet sich auf die alte griechische Wurzel ärztlichen Denkens. Es empfiehlt sich, die diaita (gr.: Lebensweise) des Hippokrates dreigestuft zu sehen (. Tab. 11.2). Zu den intensivdiätetischen Maßnahmen zählen: 4 das Fasten als strengste Form einer Diätetik mit den Varianten 5 Wasserfasten, »Null-Diät«, Teefasten 5 Molkefasten 5 Saftfasten nach Heun 5 Fasten nach Buchinger, die Kombination von Tee, Gemüsebrühe, Saft und Wasser 4 verwandte strenge Diätformen 5 Rohkost/Frischkost nach Bircher-Benner 5 Mayr-Kur, deren erste Stufe ein Teefasten vorsieht, dann Milch-Semmel-Diät 5 Schroth-Kur, gekennzeichnet durch Trocken- und Trinktage Allen Formen gemeinsam ist der Verzicht. Der Nahrungsverzicht bewirkt katabole Stoffwechselvorgänge, also eine Betonung von Abbau und Ausscheidung. Der Umbau von Körpersubstanz wird intensiviert. Alle Methoden fördern die Ausscheidung von Stoffwechselendprodukten – durch eine hohe Trinkmenge, durch Einläufe, Bitter- oder Glaubersalz oder durch Schwitzpackungen. Alle sehen einen stufenweisen Übergang zur Ernährung vor. Unter »Fasten« wird im Folgenden vorwiegend das Buchinger-Fasten verstanden; dies entspricht
172
1 2 3 4 5 6 7
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
der 40-jährigen Erfahrung in der Kurpark-Klinik in Überlingen und den Erkenntnissen, die überwiegend in der Ärztegesellschaft Heilfasten und Ernährung (7 Kap. 11.6, K1) zusammengetragen wurden. Die anderen Fastenformen sind entweder integrale Bestandteile des Buchinger-Fastens oder werden als Varianten bei bestimmten Krankheitsfällen eingesetzt, z. B. die Molke bei Obstipation oder Frischsäfte nach Heun bei der onkologischen Nachsorge. Die strengen Diätformen werden entweder als Alternative zum Fasten oder als Nachfastendiät eingesetzt. Andernorts sind sie jedoch eigenständige Verfahren, zum Beispiel die Mayr-Kur (vorwiegend in Österreich) und die Schroth-Kur (in Oberstaufen/Allgäu). Auf sie wird hier nicht eingegangen, obwohl viele Gemeinsamkeiten existieren.
8
Die Position des Fastens innerhalb der klassischen Naturheilverfahren
9
Fasten kann als eine naturgemäße Therapie bezeichnet werden, da es mit Mitteln und im Sinne der Natur stattfindet und an die Natur des Menschen angepasst ist. Innerhalb der klassischen Naturheilverfahren kommt dem Fasten eine zentrale Stellung zu. Fasten als künstlichen Eingriff in die Natur des Menschen misszuverstehen hieße, seine physiologische Bedeutung nicht zu kennen. Am häufigsten wird Fasten mit Hungern verwechselt – jeder, der gefastet hat, weiß jedoch, dass diese beiden Begriffe nicht miteinander identisch sind.
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Ganzheitlichkeit als Bedingung Es ist immer der ganze Mensch mit seinen körperlich-seelisch-geistigen Bezügen, der vor dem Arzt steht: Der ganzheitliche Anspruch naturheilkundlicher Therapie ist zur Führung von Fastenden Bedingung und gleichzeitig die Garantie für das Gelingen einer eingreifenden Fastentherapie. Bewegung ist ein unverzichtbares Element in einem komplexen naturheilkundlichen Verständnis des Fastenprozesses, das sich von alltäglichen Bewegungen über geführte Wanderungen bis zur Krankengymnastik mit vielen Methoden erstrecken kann (Atem- und Lösungstherapie, Yoga, Autogenes Training, Feldenkrais, Körper- und Leistungserfahrung im Gelände). Dabei soll sowohl das Interesse an einem neuen geistig-seelischen als auch am körperlichen Erleben geweckt werden. Massage-,
Hydro-, Kneipp- und Klimatherapie können ebenso wie die Phytotherapie vorzüglich mit dem Fasten kombiniert werden. Die personotrope Dimension einer Fastentherapie stellt sie auch als ein psychosomatisches Verfahren dar. Fasten kann nicht gegen Widerstand verordnet werden. Der freiwillige Verzicht auf Nahrung, Genussmittel und – soweit vertretbar – auch auf Medikamente mag als herbe Unterbrechung eingefahrener Konsumgewohnheiten gewertet werden. Parallel dazu soll die Patientenrolle noch mehr zugunsten eines partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen Arzt und Fastendem verändert werden. Als ärztliche Aufgaben werden Information, Motivation und Führung wichtig (im Sinne der griechischen Sprachwurzel therapeuein = dienen, pflegen, führen, leiten, begleiten). Das Gespräch, einzeln oder in der Gruppe, bildet dabei den Mittelpunkt ärztlich-diätetischen Handelns. Ziele sind sowohl ein kräftiger Impuls zur Veränderung des Lebensstils als auch eine Verstärkung des Selbstwertgefühls – beides Faktoren, die zu Hause und am Arbeitsplatz für eine Langzeitdiätetik vonnöten sind. Wohl alle Erfahrenen sind sich einig, dass die ernährungsabhängigen Erkrankungen – z. B. das metabolische Syndrom mit seinen (kostenträchtigen) Spätfolgen – kausal nur durch eine langfristige Veränderung des Lebensstils zu behandeln sind (Hauner 1995; Lützner 1982). Die Kooperation mit nichtärztlichen medizinischen Berufen ist für die Fastenklinik selbstverständlich, nicht jedoch für den Hausarzt, der ambulante Fastengruppen organisieren möchte. Er ist auf Kooperation mit freiberuflich tätigen Fastenleitern, Bewegungstherapeuten und Ernährungsberatern angewiesen.
Fasten und naturwissenschaftlich orientierte Medizin Die »Null-Diät«, ein Wasserfasten (»Null Kalorien«) mit Substitution von Vitaminen und Mineralien, später auch Protein – wurde in den 1970erJahren an der Universität Ulm erforscht und praktiziert (Ditschuneit 1981); sie fand damals weite Verbreitung in der Adipositastherapie in Krankenhäusern. Nach einer gewissen Blüte verlor sie ihre Beliebtheit: Einerseits kam es bei nicht ausreichend weitergebildeten Anwendern zu therapeutischen
173 11.1 · Grundlagen und Methodik
Fehlern, andererseits fehlte der oben beschriebene ganzheitliche Therapieansatz, wie er für das Fasten typisch ist. Trotzdem bleibt es das große Verdienst der Ulmer Schule, die wesentlichen Erkenntnisse zu den Grundlagen der Physiologie des totalen Nahrungsverzichts (7 Kap. 11.6) beigetragen zu haben. Es muss festgestellt werden, dass ein therapeutisches Fasten lediglich im Rahmen der naturheilkundlich bzw. physiotherapeutisch orientierten Kliniken der Berliner Universitäten Eingang in die universitäre Medizin gefunden hat, obwohl die Behandlungserfolge kasuistisch seit Buchinger, also seit gut 70 Jahren, berichtet werden. Auffällig mag in diesem Zusammenhang sein, dass auch die großen wissenschaftlichen Studien nicht in Universitätskliniken durchgeführt wurden, sondern allenfalls in Kooperation mit ihnen in außerhalb gelegenen Fastenkliniken (Rheumastudien, Oslo, Kjeldsen-Krach et al. 1991 sowie Sköldstam 1986; Reha-Studie, Heidelberg, Beck et al. 1982; Rheumastudien, Linköping, Lindahl u. Myrnerts 1978; Lindberg 1979). Eine Fastenklinik ist nicht nur durch ernährungstherapeutische Spezialisten geprägt, sondern durch ihr naturheilkundlich orientiertes Mitarbeiterteam, eine Küche eigener Art und durch ein Wohnumfeld (»Ambiente«), das den speziellen Bedürfnissen des Fastenden gerecht wird. Ihre notwendigen Bedingungen sind genau definiert (Lützner 1993, 2009).
11.1.3
Anwendungsgebiete/ Indikationen
Im Folgenden wird ein Überblick über die Anwendungsgebiete des Fastens gegeben. Er erhebt nicht den Anspruch der Vollständigkeit. Die Auftrennung der Indikationen nach dem Gesundheitszustand des Fastenden lässt erkennen, dass Fasten sehr viele Ansatzpunkte hat, zwischen denen zum Teil fließende Übergänge bestehen.
Prophylaktisches Fasten/ Fasten für Gesunde Motivationen zum »Fasten für Gesunde« stellen dar:
11
4 Erlebnis des freiwilligen Nahrungsverzichts ohne Hunger 4 Reinigung des Körpers: »Entschlackung«, Entgiftung und Gewichtsabnahme 4 Konfrontation mit den Konsumgebräuchen unserer Zeit 4 Impuls zur Veränderung des Lebensstils: Genussmittelverzicht, Lösung aus Gewohnheitsmustern, Ernährungsveränderung, Bewegungsverhalten 4 »innere Kosmetik«, Verlangsamung von Alterungsvorgängen 4 Anregung von Kreativität und geistiger Leistung 4 religiöse und meditative Aspekte Aus der Bewegung »Fasten für Gesunde« entwickelte sich die Erkenntnis, dass hier ein Modell für die eigenverantwortliche Gesundheitsförderung vorlag, das in gleicher Form als bewusste und gelenkte Prävention übernommen werden konnte. Dies geschah in Zusammenarbeit mit Ärzten, Ökotrophologen, Gesundheitspädagogen und Bildungseinrichtungen. Die meisten Krankenkassen in Deutschland übernahmen einen Anteil der Teilnehmergebühren und förderten damit präventive Maßnahmen, wozu sie bis 1996 gesetzlich verpflichtet waren. »Fasten für Gesunde« findet zunehmend Verbreitung in der Bevölkerung. In Deutschland allein wird es – jährlich! – von schätzungsweise 2 bis 3 Millionen Bürgern und Bürgerinnen als Kurzzeitfasten von 5 bis 7 Tagen durchgeführt. Sie handeln in eigener Verantwortung, angeleitet durch Ratgeber in Buchform (Lützner 1975, 2008) oder durch ausgebildete Fastenleiter/innen (7 Kap. 11.6, K2). Diese bemühen sich, methodisch richtig durch eine »Fastenwoche für Gesunde« zu führen – am Wohnort oder in den Ferien, nicht selten in Kooperation mit einem diätetisch tätigen Arzt. Dieser muss Fasten in der Kurzform selbst erlebt haben, um indizieren oder führen zu können (7 Kap. 11.6, K3). Besonders als Auftakt zu einer Ernährungs- und Verhaltensänderung hat es sich bewährt, wie eine Langzeitstudie an 300 Probanden zeigt (Grohmann 1986).
174
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
Prävention und Rehabilitation Ein deutlich akzentuiertes Aufgabenfeld liegt in Form ärztlich geleiteter Prävention und Rehabilitation vor. Eingesetzt wird Fasten: 4 zur Prophylaxe von Herz-/Kreislauferkrankungen durch Beeinflussung von Risikofaktoren: Adipositas, Hypercholesterinämie/-triglyzeridämie, Hypertonie, Fettleber, Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels, Rauchen sowie durch Verbesserung der kardiopulmonalen Leistung 4 im Rahmen von Nachsorge- und Rehabilitationsstrategien 4 bei familiärer Krankheitsbelastung 4 zur Prävention sogenannter Alterskrankheiten (z. B. Arthrosen, Altersdepression, Herzinsuffizienz, Demenz) 4 Stressbewältigung Fastenkliniken konnten diese Einsatzgebiete schon immer abdecken. Vermehrt könnte die Methode als kardiovaskuläre Prävention und Rehabilitation auf niedergelassene Ärzte zukommen, wenn klinische Prävention und Rehabilitation gesetzlich weiter eingeschränkt werden sollten. Für diese Aufgabe aber sollten sie vorbereitet sein, z. B. durch das »Ärztliche Diplom Fasten und Ernährung«, das die einzige wissenschaftlich-ärztliche Fachgesellschaft zu diesem Thema in Deutschland vergibt (7 Kap. 11.6, K1).
. Tab. 11.3 Indikationen für die Fastentherapie Metabolisches Syndrom
Adipositas, Diabetes mellitus Typ 2, Hyperlipidämie, Fettleber(-hepatitis), Hypertonie, Hyperurikämie (Gicht), Polyglobulie
Herz-/Gefäßerkrankungen
Atherosklerose, koronare Herzkrankheit, muskuläre Herzinsuffizienz, periphere arterielle und venöse Durchblutungsstörung, Mikroangiopathien, venös-lymphatischer Symptomenkomplex
Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises
Rheumatoide Arthritis (besonders im Frühstadium), Fibromyalgie-Syndrom/Weichteilrheumatismus, Morbus Reiter, Spondylarthropathien, Begleittherapie bei Arthrosen, Spondylarthrosen und Tendomyopathien
Erkrankungen der Verdauungsorgane
Gastroenteropathien (cave: Ulcus duodeni), chronische Hepatopathien, Cholezystopathien, Morbus Crohn, chronisch rezidivierende Colitiden, Obstipation
Haut- und Schleimhauterkrankungen
Endogenes Ekzem/Neurodermitis, Nahrungsmittelallergien, Psoriasis, bakterielle Dermatosen, chronische Rhino-Sinusitis, Asthma bronchiale, Infektanfälligkeit, Allergenabwehr, Porphyria cutanea tarda, Sklerodermie im Frühstadium
Schmerzsyndrome außerhalb des rheumatischen Formenkreises
Migräne, Glaukom, Gewebeschmerzen (als Pannikulitis, Traumafolgen, Ödematosen), segmentale Schmerzsyndrome, Kopfschmerzen
Prä- oder postoperative Begleittherapie
Abbau von Risikofaktoren, z. B. Körpergewichtsreduktion, Einstieg zur Ernährungsveränderung bei prognostisch günstigen Karzinomerkrankungen sowie zur Entwöhnungsbehandlung bei Alkohol-, Nikotin- und Medikamentenabusus
Therapeutisches Fasten In . Tab. 11.3 werden Indikationen für die Fastentherapie aufgeführt. Der Grad der klinischen Dokumentation zur Absicherung des Therapieerfolgs schwankt bei den einzelnen Indikationen allerdings erheblich. Eine gewisse Begründbarkeit erfahren sie dadurch, dass sich eine Ernährungsabhängigkeit in Verursachung und Verlauf einer Erkrankung immer häufiger nachweisen lässt. In jedem Fall muss die Indikation zum Fasten streng gestellt werden. Sie ist auch anhand der verbliebenen körperlichen Ressourcen des Kranken, seiner Fähigkeit zur Selbstregulation und an seiner Bereitschaft zum Verzicht zu überprüfen. Die Durchführung sollte spezialisierten Fastenkliniken vorbehalten bleiben, die über entsprechende klinische Erfahrungen verfügen und mit
175 11.1 · Grundlagen und Methodik
geschultem Personal arbeiten. Die verantwortlichen Ärzte müssen eine Weiterbildung zum Fastenarzt vorweisen können (. Tab. 11.9, 7 Kap. 11.6). Im deutschsprachigen Raum gibt es mehrere Fastenkliniken und Sanatorien mit etwa 7.000 bis 8.000 Patienten im Jahr, in denen Heilfasten und präventives Fasten angeboten wird, sowie Kliniken für Naturheilverfahren mit ausschließlich therapeutischem Fasten (Liste über 7 Kap. 11.6, K1 abrufbar). Erstere sind überwiegend Privatkliniken, während letztere auch als Akutkliniken im Bereich der Regelversorgung Patienten aufnehmen. Auch in einigen Reha-Kliniken ist die Fastentherapie etabliert. Damit steht die als anspruchsvoll geltende Fastentherapie mit guter Motivationsarbeit allen sozialen Schichten zur Verfügung. Effektive Rehabilitationsmedizin für ernährungsabhängige Krankheiten ist damit erfolgreich zu gestalten (Lützner 1982, Schubmann et al. 1997).
Ausgewählte Krankheitsbilder bei chronischen Erkrankungen Die Fastenwirkungen sind so vielgestaltig und vielschichtig, dass es günstig erscheint, sie anhand von vier typischen Indikationsbereichen darzustellen. Dies kann aus Platzgründen hier nur skizzenhaft geschehen. Genaueres und umfangreiche Literatur findet man in den Lehrbüchern von Fahrner 1991 und Lützner 2009. k Metabolisches Syndrom
Adipositas, Fettleber, Hyperlipidämie, Diabetes mellitus Typ 2, Hypertonie und Gicht finden sich oft vergesellschaftet und werden dann als »metabolisches Syndrom« bezeichnet. Die Ursachen sind neben einer noch unklaren genetischen Disposition überwiegend in Erscheinungen der Wohlstandsgesellschaften zu finden: Über- und Fehlernährung sowie Bewegungsmangel. Die kausale Therapie scheint einfach: Ernährungskorrektur und körperliche Aktivierung. Das kann unbequem für den Patienten sein, der lieber zur Tablette greift, und didaktisch schwierig für den Arzt. Immerhin wäre im Vorfeld der Erkrankung mit Information, Motivation und Kontrolle einiges zu erreichen. Die Stoffwechselforschung des letzten Jahrzehnts fand gemeinsame pathogenetische Wurzeln,
11
die die Schwierigkeiten einer medikamentösen Therapie verstehen lassen: In der Peripherie, v. a. im Muskel- und Fettgewebe, bildet sich durch einen Mangel an Insulinrezeptoren bzw. durch deren erniedrigte Empfindlichkeit eine relative Insulinresistenz und eine daraus resultierende Hyperinsulinämie (Wirth 2000, 2007). Dies kann schon bei der häufigsten monosymptomatischen Form, der essenziellen Hypertonie, der Fall sein (Hauner 1995). Das metabolische Syndrom ist somit sowohl eine Speicherkrankheit als auch eine hormonelle/metabolische Störung. Fasten und Bewegung erweisen sich hierbei als kausale Therapie (Wirth 1995). Schon lange gelten Fasten bzw. Intensivdiätetik als ideale Lipidsenker, starke Antihypertonika, verlässliche Hypoglykämika und geeignete Mittel gegen Fettleber und Adipositas – und das nach klinischer Erfahrung zahlreicher Fastenärzte ohne unerwünschte Wirkungen. Heute ist zumindest vom Fasten und von der körperlichen Bewegung bekannt, dass sie auch die Insulinresistenz mindern und die Insulinrezeptoren vermehren können (Wirth 1995; vgl. 7 Kap. 11.2). Der Laie versteht den Vorgang besser mit der Kurzformel: Entfetten, Entsalzen, Entwässern und Entschlacken (Entgiften, Entsorgen). Die ungünstige Konsumentenhaltung und die Essverhaltensstörung sind jedoch nur durch weitergehende patientengerechte Informationen über das Wesen der »selbstverschuldeten« Krankheit, eine Motivation zur Ernährungsveränderung und das Einüben neuer Gewohnheiten zu beheben. Ein längeres Fasten (14 bis 28 Tage) mit der im Nachfasten typischen Bescheidenheit und geführtes Bewegungstraining sind in der Lage, dauerhafte Veränderungen des Lebensstils zu bewirken. Die Effizienz einer solchen kombinierten Verzichtsstrategie während eines stationären Heilverfahrens, ergänzt durch diätetische Nachsorge durch den Hausarzt (. Tab. 11.4), konnte in einer klinisch kontrollierten Zwei-Jahres-Studie gezeigt werden (Reha-Studie Baden, Lützner 1982). Nahezu parallel zum Verhalten des Körpergewichts (. Abb. 11.3, mod. nach Lützner 1995) verlaufen die anderen Stoffwechselparameter des metabolischen Syndroms. Die dauerhafte Verbesserung der Blutlipide, des Blutdrucks, der Harnsäurewerte und des Bewegungsverhaltens wie auch die Verminderung des
176
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
1
4 5 6
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
nach 1 Jahr
+3,4
nach 2 Jahren
+3,8
n = 39 –3,8 kg
+
3
HV
Gewicht
2
kg
+3 –7,8 kg
–3 kg
+4,6
n = 83 –7,2 kg
. Abb. 11.3 Mittlerer Körpergewichtsverlust bei Frauen (gestrichelte Linie) und Männern (durchgezogene Linie) mit metabolischem Syndrom in einer Zwei-Jahres-Studie (Reha-Studie Baden). HV vierwöchiges stationäres Heilverfahren, nach 1 Jahr 14-tägige Nachsorge, nach 2 Jahren Endkontrolle in der Klinik. Der Gewichtsverlust im HV konnte von den Frauen zu 50 %, von den Männern zu 70 % auch nach 2 Jahren gehalten werden.
–10,3 kg –4,4 kg
7 8 9 10 11 12
. Tab. 11.4 Diätetische Strategie bei metabolischem Syndrom Fasten
Kostaufbau
Langzeitdiätetik
Verzichterlebnis
Vollwertkost
Verständnisvolle Führung
200–300 kcal
1.200 kcal
1.500–2.000 kcal
Primärimpuls
Essverhaltenstraining
Ernährungsberatung + kurze Fastenzeiten
13
Rascher Kurzzeiterfolg
Stabilisierung auf Dauer
14
Fachklinik für ernährungsabhängige Krankheiten
Hausarzt in Kooperation mit Ernährungsberaterin und Fastenleiterin
15 16 17 18 19 20
Nikotin- und Alkoholgebrauchs gingen mit gestiegener Leistung, gesteigertem Wohlbefinden und Sättigung einher (Lützner 1995). Dies lässt vermuten, dass mit der Behandlung des Metabolischen Syndroms auch die Inzidenz von Herzinfarkt und Apoplexie vermindert werden könnte. k Entzündlich-rheumatische Erkrankungen
Weltweit wurde der Einfluss von Fasten und Ernährung auf die chronische Polyarthritis oder andere Formen chronisch-entzündlicher Gelenkerkran-
kungen kontrovers diskutiert. Diätetiker berichteten seit Bircher-Benner (1936/1992) von bemerkenswerten Besserungen bei der Polyarthritis durch Fasten und unerhitzte Frischkost (Lützner 1991). Erst die Zusammenarbeit von diätetisch arbeitenden Kliniken mit Rheumatologen und Wissenschaftlern ermöglichte in insgesamt 3 Ein-Jahres-Studien in Schweden (Lindahl u. Myrnerts 1978; Lindberg 1979) und Norwegen (Kjeldsen-Krach et al. 1991) den Wirksamkeitsnachweis von Fasten und frischkostreicher, vegetarischer Ernährung. Sowohl die Erfahrung der großen Fastenärzte wie die klinischen Arbeiten zeigen, dass Fasten und Frischkost Entzündung, Schmerz, Schwellung und Morgensteifigkeit vermindern. Der Vier-Stufen-Plan, der in einer Reha-Einrichtung mit Fastentherapie seit vielen Jahren realisiert wird (. Tab. 11.5), wurde durch diese andernorts praktizierte diätetische Strategie bestätigt. Die ersten beiden Stufen sind »Intensivdiätetik«; durch einen gezielten katabolen Eingriff in den Stoffwechsel des Bindegewebes bzw. des Grundgewebes (Heine 1990) soll eine »Entsorgung« ermöglicht werden. Heute ist bekannt, dass sich damit der Arachidonsäurespiegel im Gewebe senken und vermutlich dadurch eine rasche Schmerzlinderung erreichen lässt (Adam 1992). Durch Zufuhr von Arachidonsäure, z. B. über Fleisch und Wurstwaren, ist dieser Prozess umkehrbar. Auch Prostaglandine sind Entzündungsmediatoren; ihre Bildungsrate wird schon bei kurzzeitigem Fasten auf
177 11.1 · Grundlagen und Methodik
11
. Tab. 11.5 Vier-Stufen-Plan bei chronisch-entzündlichen Erkrankungen
. Tab. 11.6 dem Fasten
Fasten
0–250 kcal
14–40 Tage
Weglassen
Frischkost
600–1.000 kcal
2–6 Wochen
Erweiterte Frischkost
1.200–2.000 kcal
2–6 Monate
Was vom Patienten als schädlich erlebt wurde oder Schübe auslöst, z. B. Schokolade, Fleisch und Fleischprodukte, Zucker-Fett-Gebackenes
Vegetabile Vollwertkost
ca. 2.000 kcal
Jahrelang
Meiden
Was sich bei langer Beobachtung als ungünstig erwies: z. B. verfeinerte, ballaststoffarme, industriell stark veränderte Nahrungsmittel, jedes Zuviel
Bevorzugen
Was sich als günstig erwies und vertragen wird: knapp bemessen, sorgfältig gekaut, »so natürlich wie möglich« (nach Kollath), frischkostreiche Vollwertkost
Ausscheidungen fördern
Pflege der Darmfunktion
die Hälfte reduziert. Leukotrien B4 als immunologische Kennsubstanz vermindert sich im Fasten (Hafström et al. 1988). Unvollständig geklärt ist die Art der Immunmodulation, die sich durch Fasten und Frischkost erreichen lässt. Die folgenden beiden diätetischen Stufen erhalten das Erreichte durch Vermeiden ungünstiger Nahrungsfaktoren und durch die Zufuhr bioaktiver Substanzen, z. B. der Antioxidanzien Vitamin A, C und E, und von sogenannten sekundären Pflanzeninhaltsstoffen (Carotinoiden und Flavonoiden, Phenolsäuren, Phytoöstrogenen und Sulfiden; vgl. 7 Kap. 4), die sich vorwiegend in unerhitzter Nahrung finden (Watzl u. Leitzmann 2005). Bisher wurden etwa 32 dieser bioaktiven Substanzgruppen gefunden, die zum Teil interessante therapeutische Eigenschaften aufweisen. Empirisch war dies Bircher-Benner bekannt, der durch seine heilsame Rohkost, jetzt »unerhitzte Frischkost« genannt, weltberühmt wurde. Damals wie heute gehören pflanzliche Öle zu ihrer Bereitung. Einen niedrigen Arachidonsäurespiegel im Gewebe zu halten gelingt durch ausreichende Zufuhr von entzündungshemmenden ω-3Fettsäuren z. B. aus Fischölen, vermutlich aber auch durch Zufuhr von etwa 10 g Linolsäure/Tag z. B. aus Leinöl, bedingt auch durch mehrfach ungesättigte Fettsäuren aus hochwertigen, kaltgepressten pflanzlichen Ölen (7 Kap. 7). Keine Frage: Eine Langzeitdiät muss schmecken, da sie den Verzicht auf so manche gewohnte Speise fordert. Fasten ermöglicht diesen Verzicht und regt eine Verfeinerung des Geschmacksempfindens an. Zudem muss eine »Rheumadiät« vom Kranken auch vertragen werden. Beides enthält einen Appell an die Küchenkunst in der Klinik und zu Hause.
Einfachste Ernährungstherapie nach
Da Großküchen selten in der Lage sind, eine gute frischkostreiche Vollwertkost anzubieten, werden die Betroffenen mit Patientenratgebern in Buchform zur Selbsthilfe zu Hause stimuliert (Adam 1994; Madani u. Lützner 2002; Lützner u. Million 2008). Beim chronisch Kranken werden schon während des Fastens Frischsäfte verwendet, da sie in größerem Maße sekundäre Pflanzenstoffe enthalten als Flaschensäfte. Mit ihnen wird langsam in die biologisch aktive Ernährung der Nachfastenzeit (. Tab. 11.6) eingeführt. Diätetik ist keine direktive Therapie nach dem Motto »Ich verordne, du befolgst«. Die wache Mitarbeit des Rheumakranken ist erforderlich. Jeder Polyarthritiker lernt andere Verschlimmerungsfaktoren kennen, und nur er kann den Grad der Ernährungsabhängigkeit seiner Erkrankung beobachten. Was kann der Arzt ohne diätetische Erfahrungen zur Behandlung entzündlich-rheumatischer Erkrankungen beitragen? 5 Beobachten Sie einen geeigneten Polyarthritisfall im Frühstadium. Lassen Sie die rheumatologische Diagnose sichern und motivieren Sie zu einer Ernährungsumstellung zu Hause (Praxishilfen: Adam 1994; Lützner 2008; Lützner u. Million 2008).
178
1 2 3 4 5 6 7
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
5 Sollten Sie selbst Fastenerfahrung haben (7 Kap. 11.6, K1) oder eine Fastenleiterin in der Nähe des Patienten finden (über (7 Kap. 11.6, K2), dann wagen Sie ein Kurzzeitfasten (bis maximal 7 Tage) mit dem Patienten. 5 Nehmen Sie Rheumatiker ernst, die Erfahrungen mit Ernährungseinflüssen auf ihr Beschwerdebild haben, und fördern Sie ihr Engagement. 5 Fördern Sie Selbsthilfegruppen, die sich für Fasten und Ernährung interessieren. Sollte sich die Erfahrung einer Ernährungsabhängigkeit der Erkrankung verdichtet haben, empfiehlt sich die Einweisung in eine Klinik für Fasten- und Ernährungstherapie (über 7 Kap. 11.6, K1).
8
k Hautkrankheiten/Nahrungsmittelintoleranzen
9
Fasten gehört zur naturheilkundlichen Basisbehandlung zahlreicher dermatologischer Erkrankungen. Seine Wirkungsqualitäten sind (Lützner 1993): 4 symptomatisch: antiphlogistisch, antipruriginös, analgetisch 4 trophisch: Entquellung der Subkutis, vermehrte Abschilferung des Deckepithels, beschleunigte Zellneubildung, Straffung der elastischen Fasern des Bindegewebes
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Fasten stellt darüber hinaus eine effektive Methode der oralen Allergenkarenz, möglicherweise auch der Allergeneliminierung dar und kommt als Bestandteil einer Allergiebehandlung zum Einsatz (. Tab. 11.7). Das Fasten kann sinnvoll kombiniert werden mit einer sogenannten Eliminationsdiät, bei der ein als unverträglich verdächtiges Lebensmittel für einen begrenzten Zeitraum in therapeutischer Absicht konsequent gemieden wird, mit einer sogenannten Rotationsdiät, in der Lebensmittel bzw. -inhaltsstoffe kurzzeitig, zum Beispiel im DreiTage-Rhythmus, konsumiert und wieder ausgelassen werden, sowie mit einer sogenannten Suchoder Provokationsdiät, während derer man ausgehend von einer allergenarmen Ernährung jeden Tag bis alle 3 Tage neue Lebensmittel in rein diagnostischer Absicht einführt (vgl. 7 Kap. 13).
. Tab. 11.7 Diätetische Strategie gegenüber Nahrungsintoleranzen Fasten
Kostaufbau
Langzeitdiät
Allergenkarenz
Eliminationsdiät
Rotationsdiät
In zahlreichen naturheilkundlichen Darstellungen kommen Vorstellungen wie »Ableitung über die Haut« oder Grundsätze wie »Jede Hautkrankheit fordert die Sanierung des Darms« zur Sprache, in denen die Haut als Entgiftungsorgan angesprochen wird. Andere Beispiele sehen die Haut als Ausscheidungsorgan für Metabolite, die bei einer Nahrungsmittelunverträglichkeit im Darm entstehen und resorbiert werden. So schlecht wie diese Vorstellungen bisher im Detail belegt sind, so wirkungsvoll mögen sie bei einzelnen Krankheitsbildern zum Zuge kommen. Bei der Porphyria cutanea tarda (Lützner 1993, S. 225) z. B. kommt es wahrscheinlich über eine beschleunigte Ausscheidung von Kopround Uroporphyrin unter einer Fastentherapie zur Abheilung der Hautulzera. Fasten kann einerseits rasch zur Symptomfreiheit und zur Besserung des akuten trophischen Schadens führen, andererseits lassen sich eine Suchdiät und eine Ernährungsumstellung anschließen, die für viele chronisch Hautkranke vorteilhaft ist (Walach et al. 1994). Bei der Neurodermitis des Erwachsenen z. B. verführt der befreiende Ersterfolg zwar zum diätetischen Leichtsinn, die Rezidive aber und die wiederholbaren Erfolge mit einem Kurzfasten lehren den Kranken zweierlei: Ich kann mir selbst helfen und ich könnte gesund sein, wenn ich meine gefundene »Heilnahrung« konsequent einhalte. Bewährt haben sich ähnlich wie beim entzündlichen Rheumatismus die frischkostreichen Formen einer Vollwertnahrung: 4 in der strengsten Variante als Vegankost: ohne tierische Eiweiße, also ohne Fleisch- und Wurstwaren, ohne Milch oder Milchprodukte, Eier und Fisch 4 als ovo-lakto-vegetabile Vollwert-Ernährung 4 als gemischte Vollwertkost, die in kleinen Mengen Fisch, Fleisch, Ei und Milchprodukte enthält, in der spezifische Nahrungsallergene
179 11.1 · Grundlagen und Methodik
weggelassen werden (z. B. Ei, Mastfleisch, Erdbeeren, Zucker-Fett-Gebackenes, Schokolade, Nüsse etc.). Immer muss auf die Akzeptanz der Nahrung, auf die Kaufunktion, auf Bekömmlichkeit und Verträglichkeit geachtet werden.
11
Vorsicht ist jedoch geboten: Dies ist die Basisbehandlung des akuten Infekts, und in rund 80 % der Fälle reicht sie erfahrungsgemäß aus; das entbindet jedoch nicht von der Pflicht, sich über den Einsatz antimikrobieller Chemotherapeutika, insbesondere bei Abwehrgeschwächten und protrahierten Verläufen, Rechenschaft abzulegen.
Akute Erkrankungen
k Der akute Durchfall
k Der akute fieberhafte Infekt
Ein weiteres Beispiel ist der akute Durchfall. Noch bevor bekannt sein kann, um welche Ursache/welchen Erreger es sich handelt, kann gehandelt werden, wobei für den Einsatz von Chemotherapeutika das oben Gesagte gilt.
Inappetenz, Fieber, Durst und Schwäche führen instinktiv zum Fasten. Wer je erlebt hat, wie Kopf, Glieder- oder Weichteilschmerzen nach einem ordentlichen Einlauf verschwinden, der weiß, dass der Darm eine wichtige Rolle bei der Elimination von »Toxinen« spielt. Gibt man jetzt noch ein Absorbens (z. B. Heilerde, Kaffeekohle, Bolus alba), dann ist die aktuelle Toxinausleitung gut vorbereitet. Wohlbefinden trotz Fiebers kann im Übrigen erreicht werden durch Schwitzen, Trinken, Wickel, Bettruhe und frische Luft – nicht durch Essen (Krauß 1980)! Fieber und Fasten sind als wirksame, natürliche Antibiotika anzusehen. Schenk konnte dies im Selbstversuch mit hämolysierenden Streptokokken schon vor 1938 nachweisen (Schenk 1938), Krauß und Lenz 1958 mit Staphylococcus aureus haemolyticus (Krauß 1980). Das scheint auch für Pneumokokken zu gelten (Krauß 1980), und sogar der virale Infekt ist mit Fasten und Fieber ausreichend therapiert, sofern es sich um abwehrgesunde Menschen handelt.
Diätetische Strategie beim akuten fieberhaften Infekt 5 Fasten mit vitaminreichen Säften und viel Wasser 5 Einlauf bis zweimal täglich, evtl. mit kühlem Wasser 5 Fieberpflege durch kalte Waden-, Leiboder Brustwickel 5 Förderung des Schwitzens durch Lindenund Holunderblütentee, durch großflächige Wickel und Abwaschungen 5 Bettruhe, Frischluft, Schlaf 5 bei beginnendem Appetit sehr sparsamer Kostaufbau
Diätetische Strategie beim akuten Durchfall 5 Entleerung (spontan oder durch Einlauf ) 5 Absorption (Heilerde, Kaffeekohle, Pektine) 5 Fasten, solange Inappetenz besteht; Salz zugeben 5 Stopfkost (Getreideschleime, Toastbrot, geriebener Apfel) 5 begleitende Phytotherapie (Bittermittel, Gerbsäuren)
k Der akute Schub einer chronisch-entzündlichen Erkrankung
Der akute Schub einer chronischen Polyarthritis wird nicht viel anders behandelt, sofern es sich um Patienten mit einer noch guten Grundgesundheit handelt. Beim Morbus Reiter konnten 4 Einzelfälle beobachtet werden, bei denen sich eine Ernährungsabhängigkeit unzweifelhaft herausgestellt hatte. Alle hatten die Vorzüge einer Fastentherapie in der Klinik kennengelernt und konnten sich jetzt auch zu Hause beim akuten entzündlichen Schub helfen. Nicht nur die Polyarthritis, sondern auch die Konjunktivitis und die Urethritis sowie andere Begleitsymptome im Schub reagierten innerhalb von 3 bis 5 Tagen so befriedigend, dass Kortison und Schmerzmittel entbehrlich wurden (Lützner 1990). Eine Patientin beschreibt in Buchform (Madani 2002), wie sie über akute Schübe lernte, selbstständig zu sein, und gleichzeitig die für sie erforderliche Langzeitdiätetik fand.
180
1 2 3 4 5
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
k Fasten: eine kostengünstige Therapieform?
Diätetische Strategie beim akuten Schub einer chronischen Erkrankung 5 Totale Nahrungskarenz: Fasten 5 Darmentleerung durch Einläufe oder Abführsalze 5 Gelenkpflege durch Wickel 5 vorsichtiger Kostaufbau – wie bei Allergien 5 Frischkost (antientzündliche Wirkung der Rohkost)
Effektivitätsstudien haben gezeigt, dass der Erfolg eines mindestens 21-tägigen Heilfastens auch nach 2 Jahren noch im Hinblick auf Verhaltensänderung und Stoffwechselparameter als signifikant nachweisbar war (Lützner 1982, Reha-Studie Baden). Die Arbeitsunfähigkeitszeiten gingen von 57,7 (2 Jahre vor dem Fasten) auf 54,3 Tage zurück, obwohl die Patienten 2 Jahre älter geworden sind. Die vorher eingenommene Langzeitmedikation konnte im Beobachtungszeitraum um rund 80 % gesenkt werden.
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
11.1.4
Wirtschaftliche Aspekte
Eine Kosten-Nutzen-Analyse des Fastens im Vergleich zu anderen Verfahren ist schwierig und wurde niemals durchgeführt. Im Jahr 1993 lagen die Kosten für ernährungsabhängige Krankheiten bereits zwischen 83,5 und 102 Mrd. DM/Jahr (Bundesministerium für Gesundheit 1993), im Jahr 2003 bei etwa 120 Mrd. Euro (Bundesgesundheitsblatt 2003)! Auch in Zukunft dürfte die Frage nach kostengünstigen und effizienten Behandlungsstrategien immer dringender werden. Anhand eines Einzelfalles können mögliche Einsparungen aufgezeigt werden: Ein 43-jähriger Mann mit therapieresistenten Fußsohlenulzera bei diabetischer Mikroangiopathie weist lange Zeiten der Arbeitsunfähigkeit auf (Lützner 1986). Dreimal gelingen Abheilung und volle Arbeitsfähigkeit durch klinisch-stationäre Fastentherapie und Ernährungskorrektur; die Behandlungskosten betragen ca. 6000 Euro in 4 Jahren. 3 Rezidive mit Entgleisung des Stoffwechsels bedürfen langer klinisch-stationärer Behandlungen, sie ergeben keine Abheilung mit konventionellen Mitteln; die Kosten nach Angabe der Krankenkasse belaufen sich auf etwa 35.000 Euro im gleichen Zeitraum. Beim Vergleich beider Summen möge der hohe diagnostisch-technische Aufwand auf der einen und der pädagogisch-psychologische Aufwand auf der anderen Seite gewertet werden. Wahrscheinlich ist, dass weder die hohe therapeutische Potenz des Fastens noch seine Erlebnisfunktion durch »Medizin« oder durch Erwachsenenpädagogik allein hätten ersetzt werden können.
11.1.5
Kontraindikationen und Komplikationen
Die in . Tab. 11.8 aufgeführten Kontraindikationen sind ebenso sorgfältig zu beachten wie in jeder anderen medizinischen Disziplin. . Tab. 11.8 Kontraindikationen für das Fasten Absolute Kontraindikationen
Konsumierende Erkrankungen (aktive Tuberkulose, fortgeschrittene HIVInfektion oder bösartige Erkrankung) Erschöpfungszustände, postoperative Mangelsituationen, Anorexia nervosa Spätphasen chronischer Erkrankungen Aktive Psychosen Schwangerschaft und Stillzeit
Relative Kontraindikationen
Fehlende Gewichtsreserve Immobilität (körperlich und geistigseelisch) Depressionen (major depression) Fortgeschrittene koronare Herzkrankheit Antikoagulation mit Markumar o. a. (nur unter strenger klinischer Kontrolle) Rezidivierendes Ulcus ventriculi et/ ut duodeni Kortison- oder andere immunsupprimierende Therapie
181 11.1 · Grundlagen und Methodik
Der Erwerb von Kenntnissen in der Fastentherapie hat hier eine weitreichende Bedeutung (. Tab. 11.9). Gesunde untergewichtige Menschen sind durchaus fähig zu fasten und sie verspüren keinen Hunger, obwohl Körpergewichtsreserven zur Energiebedarfsdeckung fehlen. Kommt eine stärker ausgeprägte Fasteneuphorie hinzu, kann es geraten sein, das Fasten durch Verordnung abzubrechen – gelegentlich gegen den primären Wunsch des Patienten, »noch weiter zu entschlacken«. Hier muss die Einsicht vermittelt werden, dass dies auf Kosten wertvoller Substanz (z. B. der Muskulatur) geschähe und deshalb nicht sinnvoll sein kann. Viel stärker gilt dies bei kachektischen Patienten; bei ihnen sind zudem die verringerte Entgiftungsleistung und die erhöhte katabole Tendenz bedenklich. In Spätphasen chronischer Erkrankungen sind körpereigene Regulationsmöglichkeiten so weit eingeengt, durch Medikamente (Kortison) oft verändert und die Aussicht auf eine positive Wendung des Verlaufs ist so gering, dass das Wagnis eines Fastens selten zu verantworten ist. Autistische oder hysterische Psychosen sowie die Anorexia nervosa verbieten das Fasten wegen ihrer selbstzerstörerischen Tendenzen und der Psycholabilität, während selbst stärkere Depressionen und die Schizophrenie unter psychiatrischer Begleitung günstig verlaufen können. Eine aktuelle psychische Belastung bedarf der psychotherapeutischen Zusatzbehandlung und besonderer Geborgenheit; sie ist keine absolute Kontraindikation. Schwangerschaft und Stillzeit bleiben (trotz denkbarer Vorteile für die Mutter, z. B. bei Gestosen) so lange Kontraindikationen, bis der Verdacht einer möglichen Schädigung des Fötus und des Kleinkindes durch im Körper gespeicherte fettlösliche und proteingebundene Toxine, die durch Blut und Milch übertragen werden können, nicht widerlegt worden ist. Auch im Hinblick auf die heute häufig anzutreffende unausgewogene Ernährungslage zahlreicher Erwachsener wären gegebenenfalls für den Föten Mangelzustände zu befürchten. Zahngranulome sind deshalb gefährlich, weil durch die stark resorptive Tendenz des Fastens ruhende Beherdungen in aktuelle Streuungen von
11
. Tab. 11.9 Qualifikationsmöglichkeiten* Fastenarzt/ärztin
Mindestens 1 Jahr Mitarbeit in einer anerkannten Fastenklinik, Selbsterfahrung im Fasten, nach Vollapprobation und ärztlicher Erfahrung
Fastenschwester
1 Jahr Tätigkeit in anerkannter Fastenklinik, Selbsterfahrung im Fasten, Grundlage: ausgebildete und erfahrene Krankenschwester
Fasteninformierte/r Arzt/Ärztin
Einwöchiges Intensiv-Seminar »Fasten und Naturheilverfahren im Selbsterlebnis« (7 Kap. 11.6, K3; anerkannt für Weiterbildung »Naturheilverfahren«)
Ärztliches Diplom »Fasten und Ernährung«
Vierstufige Weiterbildung mit Hospitation in einer Fastenklinik, kombinierbar mit Zusatzbezeichnung »Naturheilverfahren«(7 Kap. 11.6, K1, K3)
Fastenleiter/in
Dreiwöchige Weiterbildung in Fasten und Ernährung, Selbsterfahrung Fasten, Erfahrung in der Erwachsenenbildung; für Grundberufe wie Lehrer, Sozialpädagogen, Psychologen, Ökotrophologen, Ernährungsberater, medizinische Berufe (7 Kap. 11.6, K1) Ärztliche Fortbildung ein- bis zweimal jährlich durch »Ärztegesellschaft Heilfasten und Ernährung« (7 Kap. 11.6, K1)
* Es handelt sich hierbei um Weiterbildungen durch ärztliche Gesellschaften, die nur zum Teil von den Landesärztekammern anerkannt sind.
Bakterientoxinen in die Blutbahn und damit in die Organe übergehen können. k Medikamentöse Therapie beim Fasten
Viele Medikamente wirken im Fasten anders – in der Regel stärker – als üblich, das bedeutet: Fasten selbst ersetzt die Wirkung der Medikamente, allerdings auf anderen Wegen. Es bedarf der fastengerechten Dosissteuerung. Hypoglykämika und Antihypertensiva, insbesondere β-Blocker, sollten in der Dosierung
182
1 2 3 4
durch den kundigen Fastenarzt schon in den ersten Fastentagen stufenweise vermindert oder abgesetzt werden. Das heute kaum noch gebräuchliche Digitalis erfährt nach wenigen Fastentagen eine Wirkungssteigerung und kann rasch die Toxizitätsgrenze erreichen. Antikoagulanzien erfahren eine fastentypische Wirkungsverstärkung und können Blutungen verursachen (Fahrner 1985). Phytotherapeutika wirken im Fasten besser und gefahrloser.
5 11.1.6
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
Zusammenfassung
Der freiwillige Nahrungsverzicht (»Fasten«) erfordert Bedingungen, unter denen die Erfahrung einer ungewöhnlichen Grenzsituation sowohl Gesunden als auch Kranken mit hoher Sicherheit gelingt. Fastentherapie enthält den Nahrungsverzicht in Verbindung mit ganzheitlicher Therapie im Sinne klassisch-naturheilkundlichen Denkens. Jahrzehntelange klinische Erfahrung ließ das Konzept zu einer im Bereich der naturheilkundlichen Diätetik standardisierten Therapie reifen, die gelehrt werden kann. Die Fastentherapie zählt zu den großen Heilmitteln der Naturheilverfahren. Ihre Effizienz wurde in 2 wissenschaftlich begleiteten Langzeitstudien dargestellt. Sie gehört zu den Grundlagen der Therapie chronischer ernährungsabhängiger Krankheiten und der Rehabilitationsmedizin.
11.2
Physiologie des Fastens Françoise Wilhelmi de Toledo
An eine Unterbrechung der Nahrungszufuhr passt sich der Organismus durch eine Reihe von physiologischen Umstellungen sowie Stoffwechsel- und Verhaltensänderungen an. Diese Anpassungsmechanismen sorgen für die Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen durch Mobilisation gespeicherter Reserven an Makro- und Mikronährstoffen. So ist zum einen die Energieproduktion gesichert, sodass der Zellstoffwechsel jederzeit ausreichend mit ATP versorgt wird, zum anderen ist die Zellregeneration gewährleistet. Die Erfahrungen religiöser und medizinischer Traditionen sowie auch zahlreiche Studien belegen die präventi-
ven und therapeutischen Wirkungen des Fastens. [40, 41] In diesem Beitrag lesen Sie: 4 woher die Nahrungsenergie während des Fastens stammt, 4 wie sich der Stoffwechsel in 4 Phasen auf alternative Energieträger aus körpereigenen Reserven umstellt, 4 inwieweit der Abbau von Eiweiß therapeutisch nützlich sein kann, 4 wieso die Entwicklung des Körpergewichts von der Fastenphase abhängt, 4 wie sich der Körper vor Fastenazidose schützt, 4 warum die Normwerte für Essende und Fastende nicht immer gelten.
Die Notwendigkeit zu periodischer Nahrungskarenz, entsprechend den jahreszeitbedingten Schwankungen des Nahrungsangebots, führte bei allen Lebewesen zur Entstehung der physiologischen Fähigkeit zu fasten. So ist die Umschaltung von »äußerer« auf »innere« Ernährung (Fasten) eine biologische Fähigkeit von Mensch und Tier. Normalgewichtige Menschen haben Reserven (Fettgewebe sowie mobilisierbare Proteinstrukturen) für ca. 35 bis 60 Tage. [4] Bei Überschreitung dieser Zeitgrenze können bleibende Schäden eintreten und zum Tod führen, falls keine Nahrung mehr zugeführt wird. Über die Folgen einer bereits vor der Nahrungskarenz bestehenden nicht optimalen Zufuhr von Vitaminen, Mineralien sowie essenziellen Fetten für Fastende, wie bei der heutigen »Western-Lifestyle-Ernährung« oft der Fall, ist noch wenig bekannt. [39]
11.2.1
Wie werden die Kenntnisse über die Physiologie des Fastens gewonnen?
Als Folge der Veröffentlichungen der amerikanischen Ärzte Dewey und Tanner erschienen um 1900 in Europa zahlreiche Bücher über die therapeutischen Wirkungen des Fastens. Im deutschen Sprachraum beschrieben Möller, Riedlin, Brauchle, Mayr und vor allem Buchinger [47] viele Fallverläufe und entwickelten sowohl naturheilkundliche als auch physiologische, biochemische sowie psy-
183 11.2 · Physiologie des Fastens
chologische Erklärungsmodelle zu den verschiedenen Fastenwirkungen (7 Kap. 11.1; [43]). Die Adipositasforschung befasste sich u. a. mit dem Eiweißverbrauch im Fasten und kam bei allerdings dürftiger Beweislage zu dem Schluss, das Fasten müsse durch Eiweißpräparate ergänzt werden. Eine regelrechte Industrie entstand, und die nachfolgenden physiologischen Studien wurden nur noch unter Proteinsupplementation durchgeführt. Heute entdeckt die »Anti-Aging-Medizin« die positiven hormonellen Veränderungen, welche das Fasten und die kalorische Restriktion mit sich bringen. In naturheilkundlichen Kreisen wird über Fasten als Therapie gelegentlich ebenso geforscht. [25] Ergebnisse der Adipositas- sowie der Hungerforschung sowie auch zoologische Studien konnten teilweise helfen, die physiologischen Vorgänge während eines Fastens mit moderneren Untersuchungsmethoden besser zu verstehen. Als am hilfreichsten zeigten sich die Studien über »fastende« Tiere. [37] Die Stoffwechselvorgänge beim Hungern und Fasten sind verwandt. Hunger ist aber unfreiwillig und tritt meistens in Zusammenhang mit Angst, Unglück und Leid auf. Er ist oft die Folge von Umweltkatastrophen, Kriegen und sonstigen Situationen, die per se traumatisierend sind. Fasten dagegen ist ein freiwilliger und zeitlich begrenzter Verzicht auf feste Nahrung. Fastende sollten sich vom alltäglichen Geschehen zurückziehen und durch eine Gruppendynamik sowie Rituale unterstützt werden. [40] Heute haben Studien eindeutig dokumentiert, dass die Bejahung des Fastens die physiologischen Vorgänge positiv beeinflusst [13].
11.2.2
Kleines Fastenglossar
Für die partielle oder totale Unterbrechung der Nahrungszufuhr gibt es umgangssprachlich verschiedene Begriffe, die trotz grundsätzlicher Unterschiede oft undifferenziert verwendet werden. Sie sollen hier kurz erläutert werden. Fasten beim Menschen: Das Fasten beim Menschen ist ein freiwilliger Akt. Es besitzt 3 Dimensionen, die synergetisch wirken und nicht dissoziiert werden sollten: eine körperliche Dimension (die
11
Physiologie des Fastens und ihre medizinisch-therapeutische Wirkungen), eine soziale Dimension (die Gruppendynamik, die entsteht, wenn Menschen zusammen fasten) und eine spirituelle Dimension (natürlicher Zugang zu höheren Bewusstseinszuständen, die in allen großen Weltreligionen thematisiert werden). [1] Fasten bei Tieren: Auch bei Tieren kann man
vom Fasten sprechen, obwohl die freiwillige Entscheidung fehlt. Tiere fasten instinktiv, z. B. bei Erkrankungen oder in Zeiten, in denen keine Nahrung vorhanden ist. [37] Einige Vogelarten, wie der Königspinguin, fasten, um sich nicht von ihrer Brut entfernen zu müssen und schützen sie so vor Feinden [6]. Zugvögel »fasten« während der Migration bei gleichzeitiger intensiver körperlicher Aktivität. [5] Tiere im Winterschlaf reduzieren durch Fasten ihren Energieverbrauch. Heilfasten: Beim Heilfasten handelt es sich um eine
ärztlich betreute, stationäre, multidisziplinäre Heilmethode, die in Mitteleuropa durch den Arzt Otto Buchinger (1878–1966) [16] entscheidend geprägt wurde. Es berücksichtigt die 3 genannten Dimensionen des Fastens und bietet sich sowohl als Therapie und Prävention an als auch für spirituelles Fasten. Traditionell wird das Heilfasten durch Gemüsebrühe (¼ l/Tag), Obstsäfte (¼ l/Tag) und Honig (30 g/Tag) sowie reichlich Tees und Wasser modifiziert. Die Gabe zum Beispiel von Buttermilch kann bei längeren Fastenzeiten manchmal von Vorteil sein. Bewegungs- und Physiotherapie, Ernährungsberatung, Psychotherapie und integrative Medizin sind beim Heilfasten mit einbezogen. [47] Mayr-Diät: Der österreichische Arzt F. X. Mayr
[26] entwickelte eine dreistufige »Darmsanierungskur«, bestehend aus Tee-Wasser-Fasten, einer Milch-Semmel-Kur und einer milden »Ableitungsdiät«. Charakteristisch für die Mayr-Therapie sind die besondere Diagnostik von Magen-Darm-Störungen sowie die ärztliche Bauchbehandlung. Fasten für Gesunde: Ein Kurzfasten (bis zu
8 Tagen), das auch von ausgebildeten Nichtmedizinern betreut werden kann. Der Begriff wurde durch
184
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
H. Lützner, aus einer Empfehlung Otto Buchingers, geprägt (7 Kap. 11.1; [23]). Null-Diät: Vollständige Unterbrechung der Nahrungszufuhr (teilweise über Wochen bis Monate) mit dem Zweck der Gewichtsreduktion bei massiver Adipositas. Stationär, ohne Hilfsmethoden, Schulungsprogramme oder Nachbetreuung, zeigt sich nach Beendigung eine hohe Rückfallquote bei hohen Kosten. Sie wird daher im Krankenhaus nicht mehr praktiziert, obwohl die Ergebnisse teilweise positiv waren. [20] Proteinmodifizierte Formula-Diäten (Very low calory diet – VLCD): Unterschiedliche proteinbe-
tonte, industriell hergestellte Makro- und Mikronährstoff-Gemische in Pulverform, mit präzisen Dosierungsrichtlinien. Meist frei verkäuflich zur Gewichtsreduktion angeboten. Liquid-Protein-Diät: Eine proteinmodifizierte For-
mula-Diät, die in den 1970er-Jahren wegen ihrer unausgewogenen Komposition und ihrer minderwertigen Eiweißqualität den Tod mehrerer Übergewichtiger durch Herzstillstand verursachte. [11, 35] Crash-Diät: Radikale Diäten zur Gewichtsreduktion, die eine rapide Gewichtsabnahme mit sich bringen. Sie sind oft durch Gewichtswiederzunahme, manchmal über das Ausgangsgewicht hinaus, gekennzeichnet. Hungern – unfreiwillige Nahrungskarenz: Hunger, wenn er chronisch ist, wird oft von Depression und Immundepression begleitet. Hungerstreik: Freiwilliger Nahrungsverzicht als politischer Ausdruck des Protestes. Oft ein Akt der letzten Hoffnung mit einkalkulierter Möglichkeit des letalen Ausgangs. Die körperlich-medizinische Dimension fehlt meistens. [10] Anorexia nervosa: Psychopathologischer Zustand, hauptsächlich bei jungen Frauen, der zur Verweigerung von Nahrung bei extremer Selbstbildstörung, vermindertem Selbstwertgefühl und übermäßigem inneren Zwang zur Gewichtskontrolle führt. Diese Krankheit ist chronisch und nicht mit dem Fasten
vergleichbar, welches einen Anfang, ein Ende und eine Aufbauphase aufweist.
11.2.3
Nahrungsenergie im Fasten
Wenn die externe Nahrungszufuhr unterbrochen wird, nimmt die Aktivität des Verdauungstraktes (nach gründlicher Darmreinigung) ab, und der Stoffwechsel schaltet von »äußerer« auf »innere« Ernährung um (. Abb. 11.4). Die ausreichende Bereitstellung von Substraten für den Energiestoffwechsel wird im Folgenden als die zentrale physiologische Reaktion angesehen; wenngleich die verschiedenen regulatorischen, metabolischen, endokrinologischen, neurologischen und immunologischen Wirkungen in ihren komplizierten Zusammenhängen betrachtet werden müssen. [7] Die physiologischen Vorgänge während des Fastens laufen unter folgenden Rahmenbedingungen ab: 4 Zu jedem Zeitpunkt muss intrazellulär ausreichend Energie in Form von ATP verfügbar sein. 4 Da Fettmoleküle wenig Speicherraum im Vergleich zu Glukose benötigen, speichert der Körper seine Vorräte hauptsächlich als Fett. Fettsäuren und ihre Metabolite, die Ketonkörper, sind daher das Hauptsubstrat des Fastenstoffwechsels. 4 Protein in geringeren Mengen wird benötigt zur Zellerneuerung und zur Glukoneogenese aus glukoplastischen Aminosäuren. 4 Während des Fastens muss die Versorgung der kurzfristig oder dauerhaft glukoseabhängigen Gewebe (Gehirn, Nervengewebe, Erythrozythen, Nierenmark) sichergestellt sein, hauptsächlich durch Glukoneogenese aus Protein, bis diese Gewebe zum größten Teil auf Fettverbrennung umgestellt sind. 4 Sparmechanismen erlauben, dass die mobilisierbaren Proteinstrukturen sowie die Reserven an Mikronährstoffen möglichst lange ausreichen. Auch essenzielle Fettsäuren sind womöglich limitierende Faktoren, die die individuellen Zeitgrenzen eines therapeutischen Fastens setzen können.
185 11.2 · Physiologie des Fastens
11
Glukose + Fett
Vor dem Fasten
G L Y K O G E N
1. Tag
Fett (Triglyzeride)
Fettsäuren
Glyzerin Pyruvat Laktat Protein
Ketonkörper
Glukose
~ 75–100 g Protein/Tag (~ 12 g N/Tag)
~ 15 g Protein/Tag (~ 4 g N/Tag)
2. und weitere Tage
ca. 28 Fastentage
. Abb. 11.4 Energiebereitstellung während des Fastens durch Umstellung auf »innere Ernährung«
4 Schutzmechanismen gegen die Ketoazidose werden aktiv.
11.2.4
Die 4 Phasen des Fastens
Die »innere Ernährung« direkt aus den Energiespeichern, also ohne Transit durch den Verdauungstrakt , kann ähnlich wie die »äußere Ernährung« als Energieträger Kohlenhydrate (Glykogen), Amino- sowie Fettsäuren heranziehen. Die hierfür – ebenso wie für die Mikronährstoffe – angelegten körpereigenen Reserven kommen mit unterschiedlicher zeitlicher Entwicklung in 4 Phasen zum Tragen [21]. Sie greifen ineinander über, sollen jedoch hier der besseren Übersicht halber getrennt beschrieben werden. Diese Phasen weisen unterschiedliche Energiesubstrate auf: 4 Phase I oder Frühphase: 5 Ia: Glykogenphase (ca. 24 h) 5 Ib: Substratgemisch aus etwa 75 % Fett und 25 % Glukose (neu gebildet aus Protein; mehrere Tage)
4 Phase II oder Eiweiß-Sparphase: Reduzierung des Proteinverbrauchs bis zu einem Substratgemisch aus etwa 95 % Fett und 5 % Glukose neu gebildet aus Protein (mehrere Tage) 4 Phase III oder Spätphase: Schneller Eiweißkatabolismus während einiger Stunden (prämortaler Eiweißzerfall) 4 Phase IV oder Aufbau: Progrediente Wiederzufuhr von Nahrung (mindestens 4 Tage).
Die Frühphase des Fastens Etwa 12 Stunden nach der letzten Mahlzeit stellt sich der Stoffwechsel allmählich auf endogene Energieträger um. Durch das Ausbleiben der Glukosezufuhr sinkt der Insulinspiegel ab, während der Glukagon- und der Wachstumshormonspiegel ansteigen [17]. Diese Hormonkonstellation bewirkt: 4 Mobilisierung des Leberglykogens (Glykogenolyse) 4 Freisetzung von freien Fettsäuren und Triglyzeriden aus dem Fettgewebe ab dem zweiten Tag 4 Stimulierung der Glukoneogenese aus C3-Körpern (z. B. Laktat, Pyruvat, Glyzerin) und Hemmung der Glykolyse
186
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
4 Stimulierung der Proteolyse In der Frühphase des Fastens (Ia) wird vorwiegend Leberglykogen mobilisiert. Nach etwa 24-stündigem Fasten sind die Glykogenspeicher weitgehend aufgebraucht. Ab dem zweiten Tag (Phase Ib) funktioniert der Fastenstoffwechsel mit einem Substratgemisch von etwa 75 % Fett und 25 % neugebildeter Glukose (aus Protein). Der verminderte Insulinspiegel geht mit einer Senkung des Glukosespiegels einher, der sich in den meisten Fällen während der Fastendauer im unteren Normbereich stabilisiert. Nach weitgehendem Verbrauch des Glykogens werden verstärkt freie Fettsäuren aus dem Fettgewebe freigesetzt. Daraus resultiert eine gesteigerte Ketonkörperbildung (zu den biochemischen Zusammenhängen 7 Kasten) Die Geschwindigkeit der Verstoffwechselung der Ketonkörper in den extrahepatischen Geweben steigt proportional zu ihrer Konzentration im Blut an. Selbst bei Vorliegen von Glukose und Fettsäuren werden sie bevorzugt oxidiert. Die sich so während des Fastens zwangsläufig entwickelnde Ketoazidose nimmt aufgrund der weiterhin vorhandenen Insulinsekretion keine gesundheitsgefährdenden Ausmaße an, wie dies beim absoluten Insulinmangel des Diabetes mellitus Typ 1 der Fall sein kann [30].
13 14 15 16 17 18 19 20
Gesteigerte Ketonsynthese im Fastenstoffwechsel Fettsäuren werden zunächst zu Acetyl-CoA abgebaut, welches entweder in den Zitratzyklus eingeschleust wird oder über den β-Hydroxy-Methyl-Glutaryl-CoA-Zyklus in die Ketonkörper β-Hydroxybutyrat und Acetacetat überführt wird. Bei einem erhöhten Fettsäureangebot, wie dies im Fastenstoffwechsel vorliegt, fällt mehr Acetyl-CoA an, als über den Zitratzyklus zur Energiegewinnung verstoffwechselt werden kann. Daher werden vermehrt Ketonkörper aufgebaut.
6
Außerdem kommt es durch den erhöhten Substrateintrag in den Zitratzyklus zu einem Anstieg von Reduktionäquivalenten, sodass das Verhältnis NADH/NAD+ stark ansteigt. Dies bewirkt einen Abfall der Oxalazetatkonzentration in den Mitochondrien, sodass der Zitratzyklus verlangsamt wird und die Ketonkörpersynthese noch weiter ansteigt.
k Die Energiebereitstellung
Schon in der frühen Fastenphase, etwa ab dem zweiten Tag, stellt Fett den Hauptbrennstoff des Fastenstoffwechsels dar. Die Skelettmuskulatur, der Herzmuskel und die Nierenrinde sind sofort in der Lage, ihren Energiebedarf vor allem durch die Oxidation von Fettsäuren und Ketonkörpern zu decken. Im Gegensatz dazu benötigen die sogenannten glukoseabhängigen Gewebe (Hirn, Nervengewebe, Erythrozyten und Nierenmark) mehrere Tage, um ihren Stoffwechsel auf Fett- und besonders auf Ketonkörperverbrennung umzustellen. Da sich Fett nicht in Glukose umwandeln lässt (abgesehen von seinem Glyzerinanteil), muss Glukose durch Glukoneogenese synthetisiert werden. Diese erfolgt 4 aus glukoplastischen Aminosäuren, 4 aus dem Glyzerinanteil der Triglyzeride, 4 aus Laktat und Pyruvat (. Abb. 11.5). Triglyzeride, Pyruvat und Laktat In der Frühphase des Fastens werden täglich insgesamt etwa 160 g Triglyzeride aus dem Fettgewebe oxidiert (entspricht ca. 1.400 kcal). Dadurch fallen etwa 16 g Glyzerin an, das als C3-Körper der Glukoneogenese zugeführt wird, indem es durch das Enzym Glyzerokinase phosphoryliert wird [4]. Zur Versorgung der glukoseabhängigen Gewebe muss die Leber fastender Menschen in der Frühphase etwa 180 g Glukose (etwa 25 % des gesamten Energieverbrauchs) pro Tag abgeben. Davon werden etwa 80 % von Gehirn und Nerven zur Energiegewinnung vollständig oxidiert. Die verbleibenden 20 % werden im glykolytischen Stoffwechsel anderer Gewebe wie den Erythrozyten, dem Nierenmark, den peripheren Nerven und in geringerem Umfang auch der Muskulatur zu Pyruvat und
11
187 11.2 · Physiologie des Fastens
47 g Aus verschiedenen Quellen und Muskeln
44 g Aminosäuren
Protein 20 g
Nieren, Leber
Nerven
Glukose 80 g
Glykogen 36 g 15 g Glyzerin
Erythrozyten Leukozyten usw.
Glukoneogenese
Fettgewebe 150 g Fettsäuren 38 g
Laktat + Pyruvat Ketonkörper
Triglyzeride 140 g
112 g
Herz Nieren Muskel usw.
Urin 10 g Ketonkörper = 100 mmol
. Abb. 11.5 Quantitative Rolle verschiedener Brennstoffe nach 40-tägigem Fasten
Laktat abgebaut. Beide können von den Leberzellen mittels Glukoneogenese wieder in Glukose überführt werden, die Energie für diese Neusynthese wird aus der Fettsäureoxidation der Leberzellen bereitgestellt (ca. 40 g freie Fettsäuren). Diese Rückgewinnung von Glukose wird als Corizyklus bezeichnet. Die Nieren sind ebenfalls glukoneogenesefähig, besonders in der Phase II des Fastens. Die Höhe ihrer Glukoneogeneseleistung ist in der frühen Fastenphase und unter normalen Stoffwechselbedingungen jedoch unbedeutend. Proteine, Aminosäuren und Stickstoff Es kommt in dieser Phase zu einer gesteigerten Proteolyse – zunächst in der Leber und dann im Muskelgewebe – und damit zur Abgabe von Aminosäuren ins Blut. Ein wichtiger Faktor bei der Auslösung dieses Mechanismus ist der niedrige Insulinspiegel, auf-
grund dessen die Stimulation der Proteinbiosynthese entfällt. Dabei setzt die Muskelzelle mehr Alanin und Glutamin frei, als es dem Aminosäuremuster des Muskelproteins entspricht. Alanin und Glutamin entstehen durch die Übertragung von Aminogruppen auf Pyruvat und Glutamat. Die Aminosäuren Alanin und Glutamin dienen demnach vor allem dem Stickstofftransport zur Leber. Der Proteinabbau in der frühen Phase der Nahrungskarenz dokumentiert sich in einer Stickstoffausscheidung über den Urin von etwa 12 g pro Tag (das entspricht etwa 75 g Protein oder etwa 300 kcal). Eine 24-stündige Urinsammlung ermöglicht die Kalkulation der Stickstoffbilanz, die das Ausmaß des Proteinabbaus widerspiegelt.
188
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
100
Wozu braucht man im Fasten endogene Proteine? Als Substrat der Glukoneogenese: 5 um die Glykämie im unteren Bereich der Norm aufrechtzuerhalten 5 zur Versorgung der glukoseabhängigen Gewebe 5 zur Glukoseversorgung der Skelettmuskulatur bei intensiver Muskelarbeit (anaerober Stoffwechsel) Als Aminosäurelieferant zum Aufbau und Erhalt von Körperproteinstrukturen durch Recycling: 5 zur Zellregeneration (DNA-Reparaturen) 5 zur Aufrechterhaltung der Serum-Proteine
Die Plateauphase oder proteinsparende Phase des Fastens Die Hauptbrennstoffe in dieser zweiten Fastenphase sind weiterhin das Fett und seine Metaboliten, die Ketonkörper (Acetoacetat, β-Hydroxybutyrat). Das Verhältnis der Substrate Fett zu neu gebildeter Glukose verschiebt sich im Laufe des Fastens bis zu einem Fettverbrauch von etwa 95 % nach einigen Wochen. Betrüge der Abbau von Protein unverändert 75 g täglich wie zu Beginn, wäre eine Fastendauer von mehr als 4 Wochen lebensgefährlich. Der Verlust an Körperprotein darf ein Drittel bis die Hälfte des gesamten Vorrates nicht überschreiten. Nach 5 bis 6 Wochen ist der tägliche Abbau an Protein jedoch auf etwa 20–30 g gedrosselt, entsprechend 3–5 g N/Tag; [9]. Es scheint nicht möglich zu sein, dass der Anteil von Eiweiß am Gesamtenergieverbrauch weniger als 4 % beträgt. Die maximale Fähigkeit der Eiweißsparmaßnahmen findet sich bei übergewichtigen Menschen, die über etwa 50 kg Fettreserven zu Anfang des Fastens verfügen [9]. Die geringere Stickstoffausscheidung beruht auf der Drosselung der Glukoneogenese aus Aminosäuren, da das zentrale Nervensystem sich weitgehend an die Oxidation von Ketonkörpern zur Energiegewinnung angepasst hat. Die Ketonkörperaufnahme ins Gehirn ist bereits nach einer fünftägigen Nahrungskarenz um das 20-fache erhöht. Nach
Glukose Glukose
80 60
-Hydroxybutyrat
%
1
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
40 20 0
Acetoacetat a -Amino A
B
. Abb. 11.6 Substrate des Sauerstoffverbrauchs des menschlichen Gehirns im Normalzustand (A) und 38 bis 41 Tage nach totalem Fasten (B)
fünf- bis sechswöchigem Fasten beträgt die Glukoneogenese-Rate täglich noch etwa 80–90 g Glukose. Das Gehirn benötigt davon noch etwa 40 g, von denen nur etwa 60 % vollständig zu CO2 und Wasser oxidiert werden, der Rest kann als Laktat oder Pyruvat in den Corizyklus eingehen (. Abb. 11.6, mod. nach [4]). Ein weiterer Beitrag zur Drosselung des Proteinverbrauchs besteht darin, dass sich der Proteinumsatz während des Fastens verlangsamt. Einige Serumproteine, besonders die mit schneller Umsatzgeschwindigkeit wie thyroxinbindendes Präalbumin, Retinol-Bindeprotein oder C3-Komplement, sinken sowohl bei absolutem als auch bei modifiziertem Fasten. Dennoch wurden weder für das Gesamtprotein noch für die Serumelektrophorese Veränderungen unter Fasteneinfluss festgestellt. Auch Albumin, Transferrin und Globuline zeigten keine einheitlichen Veränderungen [17].
Die Spätphase In der Spätphase des Fastens ist die Lipidreserve fast aufgebraucht. Der Energiestoffwechsel wird jetzt hauptsächlich durch Proteinabbau gedeckt und es kommt zu einem Anstieg der Stickstoffausscheidung. Diese Phase wurde mehrmals bei Tieren beschrieben, sowie auch bei Anorexiekranken. Der Königspinguin bekommt zu diesem Zeitpunkt ein unwiderstehliches Stoffwechselsignal, welches die Tiere wieder zur Nahrungssuche veranlasst und
189 11.2 · Physiologie des Fastens
ihre Motorik anregt. In naturheilkundlichen Fastenbüchern wird oft die Rückkehr des »wahren Hungers« geschildert. Vielleicht gibt es auch solche internen Signale, um Menschen vor zu langem Fasten zu schützen. Allerdings wurden bei extrem adipösen Menschen, die über mehrere Wochen eine »Liquid-Protein-Diät« durchgeführt hatten, solche Signale nicht beobachtet und es kam zum Tod durch Herzmuskeldystrophie, obwohl noch erhebliche Fettreserven vorhanden waren [35]. Bei Tieren ist dieser schnelle »prämortale« Proteinkatabolismus reversibel, vorausgesetzt, die Nahrungsaufnahme tritt rechtzeitig ein.
Die Aufbauphase nach Ende des Fastens Die Aufbauphase ist von entscheidender Bedeutung. Nach der Nahrungsaufnahme verändert sich das Muster der Substratoxidation. Die Hauptenergiequellen sind wie vor dem Fasten Glukose und ein gewisser Anteil an Fett, je nach Zusammensetzung der Aufbaukost. (In den 4 ersten Tage werden meist 800–1.600 kcal zugeführt). Endogenes Fett wird weiterhin als Substrat verstoffwechselt. Dazu kommt eine rege Proteinneusynthese (nur vergleichbar mit derjenigen, die bei wachsenden Jugendlichen zu beobachten ist). Die Stickstoffbilanz wird schlagartig positiv, die zugeführten Aminosäuren werden zur Proteinsynthese herangezogen. Die Glykogenreserven bauen sich ebenfalls auf (. Abb. 11.7, mod. nach [18]). Oft werden in Studien der Verbrauch von Fett und Protein während eines Fastens und während
6
Fastenphase
verschiedener proteinmodifizierter Formula-Diäten verglichen. Diese Vergleiche beziehen sich auf die Zeit vom Fastenanfang bis Fastenende und sind daher irreführend. Richtigerweise sollten die Messungen vom Fastenanfang bis zum Ende der Aufbauphase durchgeführt werden, um die im Aufbau stattfindende rege Proteinneusynthese zu berücksichtigen.
11.2.5
Kann der Eiweißabbau therapeutisch nützlich sein?
In diesem Punkt steht die Naturheilkunde in gewissem Widerspruch zur Adipositastherapie: Adipositasexperten und Hersteller von Formula-Diäten sind der Meinung, dass der Eiweißabbau so gering wie möglich gehalten werden sollte. Daher vertreten sie die Zugabe von 50–100 g Eiweiß pro Tag. Diese Forderungen, auch bei Fastendauern unter 4 Wochen, basieren nicht auf Vergleichsstudien, sondern auf theoretischen Überlegungen. Bislang gibt es keinen Beweis, dass eine negative Stickstoffbilanz nachteilige Folgen hat, solange eine kritische Grenze des Eiweißabbaus nicht erreicht wurde. Die Stickstoffbilanz ist zwar vorübergehend negativ, aber nachteilige Folgen wie eine Gewichtswiederzunahme sind nicht nachgewiesen [2, 3]. Übergewichtige Menschen haben einen Überschuss an fettfreier Masse von etwa einem Viertel des vorhandenen Übergewichtes. Etwa 25 % dieser fettfreien Masse bestehen aus Protein. Bei der . Abb. 11.7 Stickstoffbilanz nach einem totalen Fasten
Aufbauphase
4
N g/d
2 0 –2 –4 –6 –8
–8 –6
–4
–2
0
2 4 Tage
6
8
11
10
12
14
190
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
. Abb. 11.8 Fasten
Die Proteinquellen im
!
"
Reduktion des Übergewichtes ist ein bestimmter Proteinabbau daher physiologisch. Naturheilkundlich orientierte Autoren betrachten den Eiweißabbau im Fasten unter vier Wochen als eine therapeutische Chance (. Abb. 11.8) – infolgedessen wird beim Heilfasten nicht versucht, den natürlichen Eiweißabbau zu verhindern. Die Gabe naturbelassener Zusätze wie Milch [26] oder Buttermilch [8] hat eher zum Ziel, dem Stoffwechsel »frische« Aminosäuren zuzuführen, sodass dieser nicht nur auf das »Recycling« von Aminosäuren angewiesen ist. Gegen übermäßigen Muskelabbau empfiehlt sich die individuell angepasste körperliche Aktivität. Nach Wendt [38] kann es bei hohem Eiweißverzehr im Bindegewebe zu einer pathologischen Ablagerung von Glykoproteinen kommen. Infolgedessen verdickt sich die Grundsubstanz, was die Sauerstoff-Nährstoff-Versorgung der Zellen und die Entsorgung der Stoffwechselabbauprodukte erschwert. Die katabolische Stoffwechsellage im Fasten trägt, so Wendt, dazu bei, diesen pathologischen »Eiweißspeicher« abzubauen mit daraus resultierender Besserung der Mikrozirkulation. Der Verzicht auf Proteinkonsum während einer Fastenzeit bedeutet zudem eine therapeutische »Antigenpause« und kann somit zur Entzündungsverminderung beitragen. Zahlreiche Publikationen [29] dokumentieren die die Verminderung chronisch-entzündlicher Prozesse bei Fastenden (z. B. Asthmatikern, Allergikern oder Rheumatikern). Es scheint, dass die allgemeine katabolische Stoffwechsellage – und besonders die im Fasten – die Synthese von Autoantikörpern behindert: Der Rheumafaktor beispielsweise reduziert sich im Fas-
!#
ten [14]. Denkbar wäre auch, dass der Eiweißkatabolismus den Abbau von Fettzellen (und nicht nur deren Entspeicherung) beschleunigt. Andere pathologische Moleküle, wie die den Alterungsprozess fördernden AGE-Moleküle, scheinen durch Fasten abgebaut zu werden. [27] Weitere Untersuchungen sind erforderlich, um diese Fragen zu klären. Sicher ist, dass eine Vielzahl von positiven und problemlosen Fastenverläufen – ohne Eiweißzugabe – von naturheilkundlich arbeitenden Ärzten betreut wurde. Dabei war das klinische Befinden der Patienten gut, und es resultierten keinerlei nennenswerte Symptome wie Arrhythmien, welche bei Liquid-Protein-Diäten dokumentiert sind. Proteindiäten lassen sich mit Säuglingsmilchpräparaten vergleichen: Letztere werden dann sinnvoll eingesetzt, wenn durch normales Stillen eine adäquate Versorgung des Säuglings nicht gewährleistet ist. So sollte auch eine »Proteindiät« während des Fastens nicht systematisch angewandt, sondern bei Bedarf individuell verordnet werden.
11.2.6
Veränderung der Körperzusammensetzung und Geschwindigkeit der Gewichtsreduktion
Entsprechend der Verschiebung der Stoffwechselsubstrate in den verschiedenen Phasen des Fastens verändert sich auch die Körperzusammensetzung. [5] Die verschiedenen Substrate haben differierende Wasserbindungskapazitäten, daher verläuft die Gewichtsreduktion in jeder Fastenphase unter-
11
191 11.2 · Physiologie des Fastens
11.2.7
Schutz gegen Fastenazidose
Während des Fastens dienen Fettsäuren, in geringerer Menge auch Protein, als Energielieferanten. Infolgedessen kommt es einerseits zu einer erhöhten Serumkonzentration an freien Fettsäuren und deren Metaboliten, die Ketonkörper β-Hydroxybuttersäure und Acetoacetat. Andererseits wird die Ausscheidung von Harnsäure in Kon-
schiedlich schnell: Die Verstoffwechselung von Glykogen und Protein führt zu zügigerer Gewichtsreduktion, da beide bis zum Vier- bis Sechsfachen ihres Gewichtes an Wasser binden können. Weil Fett nur wenig Wasser bindet, verläuft in der Plateauphase bei maximaler Fettverbrennung die Gewichtsreduktion langsamer. Weitere Faktoren, die Einfluss auf das Tempo der Gewichtsabnahme haben: 4 Die anfänglich rapide Gewichtsreduktion wird auf die fehlende Natriumzufuhr bei gleichzeitiger Natriumausscheidung und vermehrter Diurese zurückgeführt. [24] 4 Die langsamere Gewichtsabnahme in der Proteinsparphase ist auch auf den sich vermindernden Energieumsatz zurückzuführen. So sinkt der Energieumsatz wegen des Aussetzens der Verdauungsfunktion. Bei langen Fastenzeiten spielt der Rückgang an stoffwechselaktiver fettfreier Masse ebenfalls eine Rolle. 4 In den ersten 4 Aufbautagen hingegen, in denen die Energiezufuhr meistens 800–1600 kcal beträgt, kommt es zu einer leichten und paradox erscheinenden Gewichtszunahme (meist 500–1.000 g), welche sich durch folgende Mechanismen erklären lässt: 5 Proteinneusynthese zur Wiederherstellung einiger Körperproteinstrukturen (mit entsprechender Wasserbindung) 5 Wiederherstellung der Glukosereserven (ebenfalls mit Wasserbindung) 5 erhöhter Wasserbedarf für die wiedereinsetzende Sekretion von Verdauungssäften 5 Füllung des Verdauungstraktes mit Aufbaukost 5 Natriumwiederzufuhr mit entsprechender Wasserbindung
. Abb. 11.9 Harnstoff- und Ammoniakausscheidung im Urin beim normal essenden Menschen und bei Probanden nach 5 bis 6 Wochen totalen Fastens
kurrenz mit der Ausscheidung von Ketonkörpern stehen und dadurch gehemmt werden. [30] Während der Harnstoff aus dem Proteinabbau problemlos zur Ausscheidung gelangt, ist die Harnsäureausscheidung schwieriger: Harnsäure wird von den Tubuluszellen der Niere aktiv sezerniert. Im Fasten kann die Harnsäure-Clearance daher um bis zu 50 % gesenkt sein und der Harnsäurespiegel im Blut kann stark ansteigen. Das gleichzeitig ansteigende Serumlaktat erschwert den Ausgleich durch die Alkalireserve. Die Bikarbonate reichen nicht aus und die Phosphatreserven müssen geschont werden. Die Lösung des Dilemmas liegt in der Verlagerung der Glukoneogenese in die Niere: Als Substrat dient den Zellen der Nierentubuli überwiegend die Aminosäure Glutamin. Bei seiner Desaminierung fallen Glukose sowie Stickstoff an, der in Ammoniak (NH3) umgewandelt wird. Jetzt ist es der Niere möglich, die überschüssigen Protonen im Blut zusammen mit dem NH3 aus der Glukoneogenese als Ammonium (NH4+) auszuscheiden. Während die Nieren im postabsorptiven Zustand weniger als 10 % der gesamten Glukoseproduktion bereitstellen, übernehmen sie nach mehreren Wochen Fasten etwa die Hälfte der Glukoneogenese (. Abb. 11.9, mod. nach [4]).
192
1
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
. Tab. 11.10 pH, aktueller pCO2 und Standardbikarbonat des Blutes vor, während und nach einer Fastenperiode (Mittelwerte von 28 Patienten; aus [36])
2 3 4 5 6
Vorwert
1. Fastentag
2. Fastentag
3. Fastentag
7. Fastentag
9.–11. Fastentag
2.–5. Tag der Aufbauphase
pH
7,41 (28)
7,38 (10)
7,38 s (15)
7,40 (23)
7,42 (9)
7,42 (23)
7,43 (18)
Aktueller pCO2
37,86 (25)
38,09 (7)
34,92 s (14)
36,76 (21)
36,12 (9)
37,99 (20)
37,65 (16)
Standardbikarbonat
24,44 (25)
22,30 (7)
21,04 s (14)
22,61 (21)
23,16 (10)
24,19 (20)
24,65 (16)
s signifikant unterschiedlich gegenüber den Werten in der Vorperiode und denen am 9. Tag des Fastens
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Die durch die Ammoniakbildung erhöhte Säureausscheidungskapazität der Nieren und der zunehmende Ketonkörperverbrauch in den Nervenzellen bilden zusammen den wichtigsten Kompensationsmechanismus gegen die Ketoazidose beim Fasten. So bleiben der pH-Wert und die Werte des aktuellen pCO2 und des Standardbikarbonats im Blut während der Fastenzeit konstant, soweit die Flüssigkeitszufuhr ausreicht (. Tab. 11.10). Bemerkenswert ist, dass die erfahrungsgemäß hohen Harnsäurewerte nur selten zu Gichtanfällen oder der Bildung von Nierensteinen führen. Dennoch könnte es zu beiden Komplikationen kommen, wenn bereits die Ausgangswerte erhöht waren. In diesem Fall muss unter Umständen präventiv medikamentös behandelt werden. Ebenfalls kommt es, bei methodisch richtig durchgeführtem Fasten, fast nie zu einer azidoketotischen Fastenkrise. Hinzu kommt, dass die im Buchinger-Fasten verzehrten Obst- und Gemüsesäfte sicherstellen, dass genügend Oxalessigsäure für die Aufrechterhaltung des Zitronensäurezyklus vorhanden ist. Sie erleichtern dadurch die Wiederverwendung von Säurezwischenprodukten wie Ketonkörpern, Fettsäuren und Milchsäure und schonen die Alkalireserve. Das Säure-Basen-Gleichgewicht kann längerfristig stabil gehalten werden und die Belastung der Nieren wird dadurch geringer.
11.2.8
Hormonelle und vegetative Steuerung des Fastens [8]
Sowohl die Leere des Magens als auch der Blutzuckerabfall lösen schon nach wenigen Stunden im Hypothalamus eine sympathikotone Stimulation aus. Die daraus folgende Adrenalinausschüttung regt die Bereitstellung von Glukose durch Glykogenolyse in der Leber an. An eine kurze, im Durchschnitt ein- bis dreitägige sympathikoadrenerge Phase schließt sich eine parasympathisch betonte Phase mit allgemeiner Beruhigung, Pulsverlangsamung und Blutdruckverminderung an. Menschen, die das Fasten nicht bejahen und unfreiwillig hungern, scheinen länger in der adrenergen Phase zu verbleiben. Der niedrige Blutzuckerspiegel provoziert eine rasch ansteigende Glukagonabgabe. Glukagon hat die Aufgabe, aus eigenen Reserven Energie bereitzustellen. So steigert es nicht nur die Glykogenolyse, sondern stimuliert gleichzeitig die Lipolyse. Das Absinken des Blutglukosespiegels bei fehlender exogener Kohlenhydratzufuhr führt zu einer geringeren Insulinausschüttung. Dies bewirkt eine Umstellung der Substratverwendung und die Mobilisierung der Fettdepots. Nach weitgehendem Abbau des Leberglykogens erhöht sich die Freisetzung von Fettsäuren aus dem Fettgewebe und in geringerer Menge von Aminosäuren aus Körperprotein. Damit erfolgt durch die entsprechende Hormonkonzentration bei Unterbrechung der externen Nahrungszufuhr eine ausreichende Sub-
193 11.2 · Physiologie des Fastens
stratmobilisation zur Bildung von Ketonkörpern in der Leber und von Glukose in Leber und Nieren. Auch die Schilddrüse ist am Fastengeschehen beteiligt. So ist die periphere Umwandlung von Thyroxin (T4) in das aktive Trijodothyronin (T3) reduziert und der Umsatz und die Aktivität der Katecholamine verändern sich während des Fastens. Die daraus resultierende Verminderung des Grundumsatzes ermöglicht die Einsparung von Energie. Gleichzeitig entfällt die mahlzeitenabhängige Thermogenese.
11.2.9
Immunologische Wirkungen des Fastens
Chronischer Hunger ist die Hauptursache von erworbener Immunsuppression, die sich durch gestörte zelluläre Immunität und erhöhte Infektanfälligkeit sowie Apathie und Depression äußert. Im Gegensatz dazu beeinträchtigen wohl weder Fasten noch Reduktionsdiäten die Immunantwort nennenswert [32]. Ein Fasten bis zu 21 Tagen oder länger verursacht keine Veränderung immunologischer Parameter [31]. Immunologische Gedächtnisreaktionen, gemessen durch den Multi-MérieuxTest, waren bei den meisten Probanden beim Fasten nicht verändert [18]. Im Gegensatz dazu entwickelt sich bei unterbrochener Nahrungszufuhr infolge von Schock oder Trauma eine akute Anergie. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass ein therapeutisches Fasten chronisch-entzündliche Prozesse immunologischer Erkrankungen (z. B. Polyarthritis) verbessern kann [29]. Allerdings konnte lediglich eine Studie [14] die positiven Ergebnisse nach dem Fasten nachweisen, dies bei langem, restriktivem Aufbau (vegan, dann vegetarisch unter Ausschluss bestimmter Nährstoffe). Eine Vielzahl an Studien belegt, dass eine Kalorienrestriktion bei Tieren verschiedene Parameter der Zellimmunität positiv beeinflussen kann – beispielsweise Lymphozytenfunktion, Lymphokinproduktion, Expression und Lebensdauer des Lymphokinrezeptors [9, 44]. Mögliche Mechanismen, die zur Immunmodulation beim Fasten beitragen, sind: 4 allgemeine Stoffwechselwirkungen 5 katabole Stoffwechsellage
11
5 hormonelle Veränderungen (z. B. Kortisolanstieg) 5 Gewichtsreduktion (besonders Reduktion des abdominellen Fettes) [42] 4 spezifische nutritive Wirkungen: 5 ausbleibende Zufuhr von Eicosanoid-Vorstufen, besonders der Arachidonsäure aus tierischen Produkten 5 Verminderung der Nahrungsmittel-Antigen-Zufuhr mit vermindertem spezifischen Antigen-»Triggering« 4 Wirkungen auf den Magen-Darm-Trakt 5 verminderte Schleimhautpermeabilität 5 veränderte bakterielle Darmflora [15] 4 psychosomatische Wirkungen 5 Stimmungsaufhellung (Potenzierung des Serotonin im Zentralnervensystem) [28] 5 aktive Teilnahme an der Behandlung, Gruppendynamik und menschliche Betreuung als psycho-neuro-immunologischer Beitrag zur Heilung [27]
11.2.10
Bedeutung der körperlichen Aktivität
Regelmäßige aerobe körperliche Aktivität kann den Fastenstoffwechsel stark unterstützen und vermindert den immobilitätsbedingten Proteinverlust. [33] Sie steigert die Sauerstoffzufuhr bei gleichzeitiger erhöhter Sauerstoffextraktion durch das Muskelgewebe und stimuliert dadurch die sauerstoffintensive Fettverbrennung. Andererseits kann die durch körperliche Aktivität vermehrte Abatmung der Kohlensäure die Nieren bei der Kompensation einer Azidose maßgeblich unterstützen.
11.2.11
Fastendauer
Entscheidend für die Bestimmung einer angemessenen Fastendauer ist die richtige Einschätzung der substanziellen und vitalen Energiereserven (. Tab. 11.11, mod. nach [8]). Fallbeispiele von Fastendauern von bis zu 40 Tagen und länger sind bekannt [8]. Bei übergewichtigen Patienten liegen Berichte über extreme Null-Diät-Perioden von 249 Tagen und mehr vor [34]. Das Optimum des
194
1 2
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
. Tab. 11.11 Energiereserven in kcal bei 170 cm großen Personen abhängig vom Körpergewicht 60 kg KG
70 kg KG
80 kg KG
90 kg KG
Fettreserve
6 kg
54 Gcal
10 kg
90 Gcal
15 kg
135 Gcal
25 kg
225 Gcal
3
Eiweißreserve
2,5 kg
10 Gcal
3 kg
12 Gcal
3,5 kg
14 Gcal
4 kg
16 Gcal
Kohlenhydratreserve
0,5 kg
2 Gcal
0,75 kg
3 Gcal
1 kg
4 Gcal
1,25 kg
5 Gcal
4
Ges. EnergieReserve ca.
66 Gcal
105 Gcal
153 Gcal
246 Gcal
5
Fastendauer bei einem täglichen Energiebedarf von 2.500 kcal
28 Tage
42 Tage
60 Tage
100 Tage
6
Gcal = Gigakalorie (entspr. 1 Mio cal bzw. 1000 kcal)
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
therapeutischen Buchinger-Fastens liegt zwischen 2 und 4 Wochen, jedoch immer unter Berücksichtigung der individuellen Ausgangslage. Oft können kürzere Fastenperioden von Vorteil sein, besonders bei untergewichtigen Patienten. Die jährliche Wiederholung des Fastens ist sehr empfehlenswert. Die Fettmasse bei Übergewicht übt einen proteinsparenden Effekt aus, was sich u. a. durch die hohe Bereitstellung an Energie durch freie Fettsäuren aus dem Fettgewebe erklären lässt. Außerdem herrscht bei Übergewicht häufig eine periphere Insulinresistenz. Aus diesem Grund wird bei Übergewicht vermehrt Insulin produziert. Dies vermindert den Abbau von Muskelprotein, da Insulin die Proteolyse hemmt. Daher können Übergewichtige – logisch leicht nachvollziehbar – sparsamer mit ihren Proteinreserven umgehen und länger fasten.
11.2.12
Mikronährstoffe beim Fasten
Mineralienhaushalt Die Serumkonzentrationen von Natrium, Kalzium und Kalium bleiben beim Fasten im Normbereich, die Ausscheidung von Magnesium ist in den ersten Tagen erhöht und normalisiert sich rasch. Mit dieser Elektrolytausscheidung und dem nachfolgenden Flüssigkeitsverlust ist eine generelle Entspannung verbunden, die sich in den Blutdruckwerten bemerkbar macht. Dieser Effekt wird von Hypertonikern als angenehm, von Hypotonikern als Müdigkeit und Antriebslosigkeit empfunden. Körperliche
Aktivität, kalte Reize oder Ruhe helfen, den niedrigen Blutdruck zu normalisieren. Wenn der Mineralienhaushalt vor dem Fasten defizitär war, muss bei Bedarf mit Mineralienpräparaten ergänzt werden.
Vitamine Der Vitaminstatus allgemein und besonders beim Fasten ist nicht einfach zu messen und zu interpretieren. Untersuchungen während des BuchingerFastens haben Folgendes gezeigt [39]: 4 Bei Vitamin C treten keine signifikanten Veränderungen des Serumspiegels ein (¼ l Obst und Gemüsesaft führt offenbar die tagesempfohlene Menge an Ascorbinsäure zu). 4 Bei Vitamin A (Retinol) erfolgt ein rascher, aber asymptomatischer Abfall des Serumspiegels für Retinol, während die für einen Vitamin-A-Mangel typischen Nachtsehstörungen während eines Fastens nicht festgestellt werden können. Dieses Ergebnis ist überraschend, da die Retinolreserven in der Leber für mehrere Wochen ausreichen. Die Untersuchung [39] zeigte eine Reduktion der Konzentration an retionolbindenden Proteinen, sodass sich offenbar lediglich die Transportfähigkeit des Blutes für Retinol reduziert. Es handelt sich dabei um einen Sparmechanismus. 4 Während des Fastens sinkt der Vitamin-ESpiegel (Tocopherol). Ebenso wie beim Retinol scheint dies an der Transportfähigkeit des Blutes zu liegen. Die Konzentration an Tocopherol geht einher mit derjenigen der Blutlipi-
195 11.3 · Zusammenfassung
de: Im Fasten geht deren Konzentration schnell zurück, und damit auch die Tocopherolkonzentration. Korrigiert man den Wert durch einen Quotienten, so bleibt sowohl das Verhältnis von Retinol zu retinolbindendem Protein als auch das von Tocopherol zu Cholesterin konstant. 4 Der Thiamin-Spiegel (B1) sinkt am Anfang des Fastens signifikant ab. Viele Autoren interpretieren dies als Entstehung eines Mangels, obwohl sich keinerlei klinische Anzeichen eines Thiaminmangels manifestieren. Plausibel scheint, dass die thiaminabhängigen Enzyme (der Kohlenhydratstoffwechsel) im Fasten weniger gebraucht werden. Da eine Vielzahl von Fastenverläufen – ohne Vitaminsupplementierung – beobachtet wurde, bei denen Menschen sich vitaler und leistungsfähiger als zuvor fühlten, scheint evident, dass hier Sparmechanismen für Vitamine ins Spiel kommen. Bei anamnestischem und klinischem Verdacht auf eine suboptimale Vitamin- oder Mineralstoffversorgung sollte im Fasten supplementiert werden – obgleich die Absorptionsraten bei Fastenden nicht näher bekannt sind.
11.3
Zusammenfassung
Während des Fastens sorgen Anpassungsmechanismen des Organismus für die Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen, indem gespeicherte Reserven an Makro- und Mikronährstoffen mobilisiert werden. Dabei lassen sich 4 Phasen unterscheiden, die durch die Verwendung unterschiedlicher Substrate für die Energiegewinnung gekennzeichnet sind. Der Anteil der Fettverbrennung steigert sich nach und nach auf bis zu 95 %. Im Rahmen dieser Entspeicherung stellen sich große Teile des Stoffwechselgeschehens um: Hauptsubstrate werden Fettsäuren und ihre Metabolite, die Ketonkörper. Auch glukoseabhängige Gewebe, wie das Gehirn, stellen sich weitestgehend auf Fettverbrennung um. Proteine werden nur noch in geringem Maße verstoffwechselt. Hier kommen ebenso wie bei den Mikronährstoffen Sparmechanismen ins Spiel, die die körpereigenen Reserven schonen. Zum Schutz
11
gegen die Fastenazidose wird die Glukoneogenese zu einem großen Teil in das Nierengewebe verlagert, was das Ausscheidungsvermögen für Säuren steigert. Aus naturheilkundlicher Sicht wird es nicht als primäres Ziel angesehen, den natürlichen Proteinabbau während einer Fastentherapie durch Substitution zu verhindern. Allgemein wird er eher als therapeutische Chance betrachtet.
Literatur zu 11.1 Adam O: Gibt es eine Rheumadiät? Therapeutikon 1992; 9:402–408. Beck M, Eissenhauer W, Löffler H: Rehabilitation heute. Die Reha-Studie Baden. Karlsruhe: Braun; 1982. Bircher-Benner MO: Ordnungsgesetze des Lebens. Bad Homburg: Bircher-Benner Verlag; 1992. Borovnyak U: Fasten. Auszeit für Körper, Geist und Seele. München: Gräfe und Unzer; 2009. Bundesgesundheitsblatt. Bonn; 2003 Bundesministerium für Gesundheit: Ernährungsabhängige Krankheiten und ihre Kosten. 1993. Buchinger O: Das Heilfasten. Stuttgart: Hippokrates; 1935. Buchinger O: Das Heilfasten. 24. Aufl. Stuttgart: Hippokrates; 2005. Ditschuneit H, Wechsler JE: Das modifizierte Fasten. BadenBaden: Witzstrock; 1981. Fahrner H: Fasten als Therapie. Stuttgart: Hippokrates; 1985. Fahrner H: Fasten als Therapie. 2. Aufl. Stuttgart: Hippokrates; 1991. Grohmann U: Ernährungsumstellung nach Teilnahme an Ernährungskursen. Diplomarbeit, Universität Gießen, Institut für Ernährungswissenschaften; 1986. Hafström L, Ringertz B, Gyllenhammer H et al.: Effects of fasting on disease activity, neutrophil function, fatty acid composition and leucotriene biosynthesis in patients with rheumatoid arthritis. Arthritis and Rheumatism 1988; 31(5):585–592. Hauner H: Das metabolische Syndrom. Diabetes und Stoffwechsel 1995; 4:229–232. Heine H: Aufbau und Funktion der Grundsubstanz. In: Pischinger A: Das System der Grundregulation. Heidelberg: Haug; 1990, S. 13–88, Kjeldsen-Krach J, Haugen M, Borchgrevink C et al.: Controlled trial of fasting and one year vegetarian diet in rheumatoid arthritis. Lancet 1991; 338:899–902. Klepzig H: Otto Buchinger. Ein Leben für das Heilfasten. Friedrichshafen: Gessler; 2000. Krauß H: Leitfaden der physikalisch-diätetischen Therapie. Stuttgart: Thieme; 1980. Lindahl Ö, Myrnerts R: Treatment of rheumatoid arthritis with a dietary regimen. Biologisk Medicine, Linköping/ Schweden 1978. Lindberg E: Alimentary factors in rheumatoid arthritis. Biologisk Medicine, Linköping/Schweden 1979; 2.
196
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
Lützner H. Stellenwert der einzelnen Therapien im Rehabilitationsplan einer Stoffwechselklinik. In: Beck M, Eissenhauer W, Löffler H: Rehabilitation heute. Die Reha-Studie Baden. Karlsruhe: Braun; 1982a, S. 115–120 Lützner H. Nachsorge bei ernährungsbedingten Stoffwechselkrankheiten. In: Beck M, Eissenhauer W, Löffler H: Rehabilitation heute. Die Reha-Studie Baden. Karlsruhe: Braun; 1982b, S. 121–124 Lützner H: Wie neugeboren durch Fasten. 32. Aufl. München: Gräfe und Unzer; 1975/2008. Lützner H: Diätetische Therapie der Mikroangiopathien. Ärztezeitschr. f. Naturheilverf. 1986; 6:413–416. Lützner H: Intensivdiätetik des chronisch Immunkranken. Therapeutikon 1990; 4:94–108. Lützner H: Rheuma und Ernährung. Bundesgesundheitsblatt 1991; 3:122–125. Lützner H: Aktive Diätetik. Stuttgart: Hippokrates; 1993. Lützner H: Erlebnisbetonte Impulse zur Veränderung des Konsumverhaltens in der diätetischen Behandlung des metabolischen Syndroms. Akt. Ernähr. Med. 1995; 20:232–235. Lützner H. Fasten und Intensiv-Dietätik. In: Schmiedel V, Leitzmann C. Lützner H, Heine H: Ernährungsmedizin in der Naturheilkunde. Jena: Urban und Fischer; 2001, S. 185– 224 Lützner H: Fasten- und Ernährungstherapie, »Aktive Diätetik« – 40 Jahre Erfahrung. Norderstedt: Books on Demand; 2009. Lützner H, Million H: Richtig essen nach dem Fasten. 15. Aufl. München: Gräfe und Unzer; 1983/2008. Pischinger A: Das System der Grundregulation. Heidelberg: Haug; 1990. Schenk EG: Das Fasten in Theorie, Geschichte und Praxis der Ernährungsbehandlung. Stuttgart: Hippokrates; 1938. Schubmann R, Zwingmann C, Grabani I et al.: Erlebnisqualität stationärer Rehabilitation bei Patienten mit Adipositas. Mitteilungsblatt des VdR. Frankfurt: Deutsche Rentenversicherung; 1997. Sköldstam L: Fasting and vegan diet in rheumatoid arthritis. Scand. J. Rheumatol. 1986; 15(2): 219–221. Walach H, Linsenmann E, Reisenegger I: Wirksamkeit einer komplementär-medizinischen stationären Behandlung der atopischen Dermatitis – Ergebnisse einer katamnestischen Fragebogenstudie. Forsch. Komplementärmed. 1994; 1:216–224. Watzl B, Leitzmann C: Bioaktive Substanzen in Lebensmitteln. 3. Aufl. Stuttgart: Hippokrates; 2005. Wilhelmi de Toledo F, Klepzig H: Kurze Geschichte des Fastens. Ärztezeitschr. f. Naturheilverf. 1994; 4:250–258. Wirth A: Adipositas – Epidemiologie, Ätiologie, Folgekrankheiten, Therapie. 2. Aufl. Heidelberg: Springer; 2000. Wirth A, Hauner H (Hrsg.): Das metabolische Syndrom. München: Urban & Vogel; 2007. Zabel,W.: Das Fasten. Stuttgart: Hippokrates; 1950.
Vertiefende Literatur Buchinger O Jun., Buchinger A: Das heilende Fasten. Wiesbaden: Jopp; 1991. Leitzmann C, Müller C, Michel P et al.: Ernährung in Prävention und Therapie. Stuttgart: Hippokrates; 2001. Wilhelmi de Toledo F: Buchinger-Heilfasten. Ein Erlebnis für Körper und Geist. Stuttgart: Trias; 2003.
Praxishilfen/Patientenratgeber Adam O: Diät und Rat bei Rheuma und Osteoporose. Weil der Stadt: Hädecke; 1994. Lischka E, Lischka N: Lebenslust durch Fasten. Bad Brückenau: Dr. Lischka; 2005. Lützner H: Wie neugeboren durch Fasten. 32. Aufl. München: Gräfe und Unzer; 1975/2008. Lützner H, Million H: Richtig essen nach dem Fasten. 15. Aufl. München: Gräfe und Unzer; 1983/2008. Hopfenzitz P.,Lützner H: Fasten – Meditationsprogramm. München: Gräfe und Unzer; 2008. Madani M, Lützner H: Meine erfolgreiche Rheumadiät. 5. Aufl. Pretzfeld: Selbstverlag; 2002 (Marlis Madani, Waldstr. 23, 91362 Pretzfeld).
Literatur zu 11.2 [1] Brantschen N: Fasten neu erleben. 5. Aufl. Freiburg: Herder; 1999. [2] Brubacher D, Jordan P, Wilhelmi de Toledo F et al.: Prediction of eight development on a 250 kcal/day diet by a simple two-compartment model. Akt. Ernähr. Med. 1998; 6: 293–298. [3] Brubacher D, Jordan P, Wilhelmi de Toledo F et al.: Relationship between the rate of weight loss in a low calory diet (250 kcal/day) and age, body mass index, gender, and number of fasting cycles. Akt. Ernähr. Med. 1999; 24: 138–142. [4] Cahill GF jr: Starvation in man. Clin. Endocrinol. 1976; 5:397–415. [5] Cherel Y, Groscolas R: Relationships between nutrient storage and nutrient utilization in fasting birds. In: Adams NJ, Slotow RH (eds.): Proceedings of the 22nd International Ornithological Congress. Johannesburg: BirdLife South Africa; 1999, pp. 17–343. [6] Cherel Y, Hobson KA, Bailleul F et al.: Nutrition, physiology, and stable isotopes: New information from fasting and molting penguins. Ecology. 2005; 86:2881–2888. [7] Ditschuneit H: Der Stoffwechsel bei Fettsucht und bei komplettem Fasten. Ernährung & Medizin. 1971; 8:169– 177. [8] Fahrner HA: Fasten als Therapie. 2. Aufl. Stuttgart: Hippokrates; 1991. [9] Forbes G, Drenick E: Lossof body nitrogen of fasting. AM. J. Clin. Nutr. 1989; 32:1574–1579. [10] Frommel D, Gautier M, Questiaux E et al.: Voluntary total fasting: a challenge for the medical community. Lancet. 1984; 1:1451–1452.
197 Literatur
[11] Garnett ES, Barnard DL, Ford I et al.: Gross fragmentation of cardiac myofibrils after therapeutic starvation for obesity. Lancet. 1969; 1:914–916. [12] Groscolas R, Robin JP: Long term fasting and re-feeding in penguins. Comp. Biochem. Physiol. A. 2001; 128:645– 655. [13] Huether G, Zhou D, Schmidt S et al.: Long-term food restriction down-regulates the density of serotonin transporters in the rat frontal cortex. Biol. Psychiatry. 1997; 41(12):1174–1180. [14] Kjeldsen-Kragh I, Haugen M et al.: Controlled trial of fasting and one year vegetarian diet in rheumatoid arthritis. Lancet. 1991; 338:899–902. [15] Kjeldsen-Kragh I, Rashid T, Dybwad A et al.: Decrease in anti-Proteus mirabilis but not anti-Escherichia coli antibody levels in rheumatoid arthritis patients treated with fasting and a one year vegetarian diet. Ann. Rheum. Dis. 1995; 54(3):221–224. [16] Klepzig H, Buchinger O: Ein Leben für das Heilfasten. 1. Aufl. Friedrichshafen: Gessler; 2000. [17] Kling S: Einfluß totaler Nahrungskarenz auf klinisch-chemische Befunde bei adipösen Patienten unter besonderer Berücksichtigung der Serumproteinveränderungen [Dissertation]. München; 1978. [18] Kuhn C: Heilfasten. Freiburg: Herder; 2003. [19] Leiter L, Marliss E: Stepwise reintroduction of carbohydrate during refeeding after prolonged fasting. Clin. Invest. Med. 1983; 6(4):287–292 [20] Liebermeister H, Hilzensauer B, Morath D: Spätergebnisse nach Gewichtsreduktion bei Fettsüchtigen. Akt. Ernähr. Med. 1989; 14:143–148. [21] Le Maho Y: Adaptations métaboliques au jeûne prolongé chez l’Oiseau. J. Physiol. (Paris) 1984; 79:113–119. [22] Löffler G et al: Physiologische Chemie. In: Springer-Verlag. 1971 [23] Lützner H: Aktive Diätetik. Stuttgart: Hippokrates; 1993. [24] Maoz E, Shamiss A, Peleg E et al.: The role of atrial natriuretic peptide in natriuresis of fasting. J. Hypertens. 1992; 10(9):1041–1044. [25] Martin B, Mattson MP, Maudsley S: Caloric restriction and intermittent fasting: two potential diets for successful brain aging. Ageing Res. Rev. 2006; 5(3):332–353. [26] Mayr FX: Die Darmträgheit. 3. Aufl. Bad Goisern: Neues Leben; 1953. [27] Michalsen A, Hoffmann B, Moebus S et al.: Incorporation of fasting therapy in an integrative medicine ward: evaluation of outcome, safety, and effects on lifestyle adherence in a large prospective cohort study. J. Altern. Complement. Med. 2005; 11(4):601–672. [28] Michalsen A, Kuhlmann MK, Ludtke R et al.: Prolonged fasting in patients with chronic pain syndromes leads to late mood-enhancement not related to weight loss and fasting-induced leptin depletion. Nutr. Neurosci. 2006; 9(5–6):195–200. [29] Müller H, Wilhelmi de Toledo F, Resch KL: Fasting followed by vegetarian diet in patients with rheumatoid ar-
11
thritis: A systematic review. Scand. J. Rheumatol. 2001b; 30:1–10. [30] Owen O et al.: Liver and kidney metabolism during prolonged starvation. J. Clinic. Invest. 1969; 48:574–583. [31] Palmblad J: Fasting (acute energy deprivation) in man: Effect on polymorpho-granulocyte functions, plasma iron and serum transferring. Scand. J. Haemat. 1976; 17:217. [32] Palmblad J, Fohlin L, Norberg R: Plasma levels of complement factors 3 and 4 and opsonic functions in Anorexia nervosa. Acta Paediatr. 1979; 68:617. [33] Steiniger J, Schneider A, Rohde J: The vitality of obese patients after weight reduction by fasting. Forsch. Komplementärmed. Klass. Naturheilkd. 2003; 10:12–18. [34] Thomson T: Treatment of obesity by total fasting for up to 249 days. Lancet. 1966; 2:992–996. [35] van Itallie T, Yang M: Cardiac dysfunction in obese dieters: a potentially lethal complication of rapid massive weight loss. Am. J. Clin. Nutr. 1984; 39:695–702. [36] Voigt K: Stoffwechsel- und Kreislaufstudien bei absoluter Nahrungskarenz. Clin. Wochensch. 1967; 45:924. [37] Wang T, Hung CCY, Randall DJ: The Comparative Physiology of Food Deprivation: From Feast to Famine. Ann. Rev. Physiol. 2006; 68:223–252. [38] Wendt L: Krankheiten verminderter Kapillarmembranpermeabilität. 2. Aufl. Frankfurt: Koch; 1973. [39] Wilhelmi de Toledo F: Methodische Probleme bei der Beurteilung des Vitaminhaushaltes im Fasten [Dissertation]. Basel; 1990. [40] Wilhelmi de Toledo F: Buchinger Heilfasten: Ein Erlebnis für Körper und Geist. Stuttgart: Trias; 2006. [41] Wilhelmi de Toledo F, Buchinger A, Burggrabe H et al.: Leitlinien zur Fastentherapie. Forsch. Komplementärmed. Klass. Naturheilkd. 2002; 9:189–198. [42] Wilhelmi de Toledo F, Friebe R, Hebisch D et al. (eds.): Obesity in Europe. London: Libbey; 1994, pp. 289–293. [43] Wilhelmi de Toledo F, Klepzig H: Kurze Geschichte des Fastens. Ärztezeitschrift für Naturheilverfahren. 1994; 4:250–258. [44] Wing EJ, Stanko RT et al.: Fasting-enhanced immune effector mechanisms in obese subjects. Am. J. Med. 1983 Jul; 75(1):91–96.
Weiterführende Literatur [45] Wilhelmi de Toledo F: Buchinger Heilfasten. Stuttgart: Trias; in press. [46] Fahrner H.: Fasten als Therapie. 2. Aufl. Stuttgart: Hippokrates; 1991. [47] Buchinger O sen.: Das Heilfasten. 24. Aufl. Stuttgart: Hippokrates; 2004. [48] Kuhn C: Heilfasten. Freiburg: Herder; 2003. [49] Brantschen N: Fasten neu erleben. Freiburg: Herder; 2006.
198
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Kapitel 11 · Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie
Anhang: Adressen K1 Ärztegesellschaft Heilfasten und Ernährung e. V. (ÄGHE) Wilhelm-Beck-Str. 27 D-88662 Überlingen Tel.: + 49 7551 807825 Fax: +49 7551 807806 E-Mail:
[email protected] www.aerztegesellschaftheilfasten.de K2 Berufsverband Fasten und Ernährung e. V. Hermine Gronau Müllersgasse 5 D-71364 Winnenden Tel.: +49 7195 179560 Fax: +49 7195 179760 E-Mail:
[email protected] www.bv-fasten-ernaehrung.de Deutsche Fastenakademie e. V. (dfa) Ralf Bodeutsch Höhenweg 3 D-07749 Jena Tel.: +49 03641 448290 www.bv-fasten-ernaehrung.de
15
K3 Verband für Unabhängige Gesundheitsberatung e. V. (UGB) Sandusweg 3 D-35435 Wettenberg/Gießen Tel.: +49 641 80896-0 Fax: +49 641 80896-50 E-Mail:
[email protected] www.ugb.de
16
Seminare »Heilfasten/Naturheilverfahren im Selbsterlebnis«
13 14
17 18 19 20
K4 Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfah-
ren und Regulationsmedizin e. V. Am Promenadenplatz 1 D-72250 Freudenstadt Tel.: +49 7441 91858-0 Fax: +49 7441 91858-22 E-Mail:
[email protected] www.zaen.org Bei den genannten Adressen können Ausbildungsunterlagen angefordert werden. Weitere Informa-
tionen im Internet unter: www.fastenfuergesunde.de. Fragen und Beratung über alle Qualifikationsmöglichkeiten auch an den Autor des Kapitels 11.1 (7 Autorenverzeichnis am Ende des Buches, H. Lützner).
199
Mediterrane Ernährung Andreas Michalsen
12.1
Studienlage – 200
12.1.1 12.1.2 12.1.3
»7-Länder-Studie« – 200 Lyon Diet Heart Study – 200 Weitere Studien – 201
12.2
Aspekte der Tradition und der Vollwertigkeit in der mediterranen Ernährung – 202
12.3
Kofaktoren der mediterranen Ernährung – 203
12.4
Zusammenfassung – 203
12
200
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 12 · Mediterrane Ernährung
Seit der ersten wissenschaftlichen Studie zu den gesundheitlichen Auswirkungen einer mediterranen Ernährung belegen zahlreiche Untersuchungen mit hoher Evidenz die positiven Effekte dieser Kostform. Sie ist definiert durch hohe Frischkostanteile, den reichlichen Verzehr von Vollkorngetreide und andere Charakteristika – also durch Aspekte, wie sie auch bei der Vollwerternährung gefordert werden. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 die wesentlichen Studienergebnisse seit 1980 zur mediterranen Kost, 4 die Bedeutung des Traditionellen in der mediterranen Kost, 4 die Hauptcharakteristika mediterraner Ernährung, 4 die Rolle der Kofaktoren Alkohol, »Siesta« und Ernährungskinetik für die Wirkung dieser Kostform.
12.1
Studienlage
12.1.1
»7-Länder-Studie«
Die erste wissenschaftliche Erkenntnis über die gesundheitsfördernde Wirkung der traditionellen Mittelmeerkost oder mediterranen Ernährung geht auf die sogenannte 7-Länder-Studie aus dem Jahr 1980 zurück [1]. Im Ländervergleich mit anderen Nationen fiel damals eine äußerst reduzierte Häufigkeit von Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf der griechischen Insel Kreta im Vergleich zu anderen Ländern auf. Danach starben in den 1980er-Jahren in den USA fast 40-mal mehr Menschen an Erkrankungen der Herzkranzgefäße als auf Kreta. Der Unterschied in der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität konnte jedoch nicht wie erwartet auf klassische Risikofaktoren und vor allem nicht auf einen geringen Fettanteil in der Nahrung zurückgeführt werden. Im Gegenteil, die kretische Ernährung zu dieser Zeit musste als äußerst fettreich eingestuft werden [2]. Allerdings zeigt sich ein Muster in der Analyse der Fettzufuhr, das sich vom Fettprofil der als risikoreich befundenen »Western Diet« deutlich unterschied: Die Mediterrane Kost war infolge des reichlichen Verzehrs von Olivenöl, Blattgemüse, Nüssen und Fisch durch einen hohen Anteil von einfach ungesättigten Fettsäuren (mono-
unsaturated fatty acids, MUFA) und von mehrfach ungesättigten ω-3-Fettsäuren (poly-unsaturated fatty acids, n-3-PUFA) geprägt, die Western Diet hingegen durch einen höheren Anteil gesättigter Fette aus Nahrungsmitteln tierischer Herkunft.
12.1.2
Lyon Diet Heart Study
Mit der Veröffentlichung der Lyon Diet Heart Study (LDHS) konnte in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts erstmals Evidenz aus randomisiert kontrollierten Studien für den Nutzen der Mittelmeerkost vorgelegt werden [3, 4]. Bei dieser Studie wurden Patienten nach einem überlebten Herzinfarkt in 2 Gruppen randomisiert: 4 Gruppe 1 erhielt eine konventionelle Ernährungsempfehlung nach damaligem kardiologischen Standard. 4 Gruppe 2 erhielt mehrere Ernährungsberatungen und Gruppenschulungen hinsichtlich der traditionellen mediterranen Kost und zudem kostenfrei im gesamten Studienzeitraum eine Rapsöl-Margarine mit hohen Anteilen von pflanzlichen n-3-PUFA (α-Linolensäure, ALA). Die Lyon-Studie musste nach 4 Jahren aus ethischen Erwägungen abgebrochen werden. Zu diesem Zeitpunkt zeigte sich in der mediterran ernährten Gruppe eine hochsignifikant erniedrigte kardiovaskuläre Ereignisrate. Weitere Auswertungen ergaben auch eine geringere Inzidenz an neu aufgetretenen Krebserkrankungen [5]. Das Ausmaß der Risikoabsenkung durch die mediterrane Ernährung übertraf den Wirksamkeitsgrad damaliger medikamentöser Ansätze der Tertiärprophylaxe bei koronarer Herzerkrankung. Bemerkenswerterweise zeigte sich auch, dass die Risikoabsenkung nicht im Zusammenhang mit Veränderungen klassischer Risikofaktoren wie der Höhe des LDL- oder HDL-Cholesterinspiegels (LDL: low density lipoproteine, HDL: high density lipoproteine) oder des Body-Mass-Index (BMI) in Zusammenhang stand. Wenig beachtet wurde in der internationalen Rezeption der Lyon-Studie, dass durch die Rapsölzugabe insbesondere die pflanzliche ALA und nicht die längerkettigen n-3PUFA des Fischöls augmentiert wurden. In der wei-
201 12.1 · Studienlage
terführenden statistischen Analyse der Lyon-Studie zeigte sich, dass die ALA-Blutkonzentrationen am deutlichsten mit der Risikoabsenkung korrelierten [5]. Unklar blieb allerdings die Rolle der MUFA.
12.1.3
Weitere Studien
Die Ergebnisse der Lyon-Studie wurden in einer weiteren randomisiert kontrollierten Studie, der Indo-Mediterranean Heart Study, repliziert [6]. Jedoch wurde diese Studie methodisch stark kritisiert und Teile der Ergebnisse sehr kritisch diskutiert. Weitere Evidenz für die gesundheitsfördernden Wirkungen der mediterranen Kost konnte in den folgenden Jahren konsistent sowohl mittels Daten aus epidemiologischen Studien als auch aus randomisierten Studien aufgezeigt werden. Im Jahr 2003 veröffentlichten Forscher der Universität Athen Ergebnisse, bei denen die aktuellen Ernährungsgewohnheiten in Griechenland und anderen Ländern zur Sterblichkeit und zu Herzerkrankungen in Bezug gesetzt wurden. Dabei wurde festgestellt, dass ausgeprägte Mittelmeerkost die Lebenserwartung verlängert, und zwar bei einem 60-jährigen Mann statistisch um 1 Jahr [7, 8]. Eine Vielzahl anderer epidemiologischer Studien belegte im weiteren Verlauf, dass die traditionelle Mittelmeerkost und auch einzelne typische Merkmale dieser Kostform – wie der reichliche Verzehr von Hülsenfrüchten, Nüssen, Fisch und Vollkorngetreide und der geringe Verzehr von Fleisch – mit einer geringeren Erkrankungshäufigkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus Typ 2, Adipositas, Alzheimerdemenz sowie einzelner Krebserkrankungen einhergehen [9-12]. Die Wirksamkeit der mediterranen Ernährung bei Patienten mit metabolischem Syndrom und/ oder Fettstoffwechselstörungen konnte inzwischen auch in randomisiert kontrollierten Studien belegt werden. In einer im Jahr 2006 publizierten Studie der Arbeitsgruppe von Esposito und Mitarbeitern wurden Patienten mit metabolischem Syndrom randomisiert entweder einem Ernährungsprogramm mit mediterraner Kost oder einer konventionellen Ernährungsgruppe zugeteilt. Nach 2 Jahren bestand nur noch bei weniger als 40 % der medi-
12
terran Ernährten ein metabolisches Syndrom, während sich die Kontrollgruppe nur marginal verbesserte [13]. Entsprechend fand sich eine Verbesserung zahlreicher Risikofaktoren des metabolischen Syndroms. In den Laborwerten zeigte sich zudem eine Absenkung wichtiger Parameter entzündlicher Aktivität einschließlich des hochsensitiven CRP (C-reaktives Protein). Dieser antiinflammatorische Aspekt der Mittelmeerkost wurde auch in weiteren Studien [14] und auch im Bereich der klinischen Rheumatologie beobachtet. Hier konnte in einer weiteren randomisiert kontrollierten Studie gezeigt werden, dass die mediterrane Ernährung zu einer Reduzierung der Krankheitsaktivität bei Patienten mit rheumatoider Arthritis führt [15]. Deutlich konnte sowohl in der Studie von Esposito als auch in einer Studie aus Skandinavien [16] gezeigt werden, dass mit einer mediterranen Diät sowie einer gegebenen guten Compliance auch Verbesserungen hinsichtlich der Fettstoffwechselparameter und die Absenkung eines erhöhten Gewichts zu erzielen sind. Diese Parameter waren in der Lyon-Studie unbeeinflusst geblieben, allerdings war die Ernährungsschulung auch nicht in diesen Zielbereich ausgeweitet worden. Dass die Mittelmeer-Ernährung eine geeignete Maßnahme für die Gewichtsreduktion Adipöser ist, zeigte zuletzt auch die Publikation einer viel beachteten Studie aus Israel [17]. In dieser Studie wurden Adipöse in 3 Gruppen randomisiert: Gruppe 1 erhielt eine Standardberatung zu fettreduzierter Kost, Gruppe 2 eine mediterrane Ernährung und Gruppe 3 eine sogenannte Low-CarbohydrateDiät (modifizierte Atkins-, Low-carb-Diät). In der Endauswertung nach 2 Jahren hatten die Teilnehmer unter der Low-Carb-Diät und unter der mediterranen Ernährung das meiste Körpergewicht verloren. Verbesserungen im Zuckerstoffwechsel und hinsichtlich des Risikos für ein metabolisches Syndrom waren am deutlichsten unter der mediterranen Ernährung. Auch eine weitere randomisierte Studie konnte bereits vor mehreren Jahren die gute Wirksamkeit der mediterranen Ernährung bei Diabetes mellitus belegen.
202
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 12 · Mediterrane Ernährung
Insgesamt liegt eine sehr gute Evidenz für die Wirksamkeit der mediterranen Ernährung in der Therapie der koronaren Herzerkrankung, des Diabetes mellitus Typ 2, der Adipositas, des metabolischen Syndroms und der entzündlichen rheumatischen Erkrankungen vor. Vielversprechende Evidenz zeigt sich für die Prävention von Krebserkrankungen und Alzheimerdemenz.
12.2
Aspekte der Tradition und der Vollwertigkeit in der mediterranen Ernährung
Zu beachten ist, dass sich die gesundheitsfördernden Wirkungen der mediterranen Ernährung strikt auf das Konzept der traditionellen Ernährungsform beziehen. Diese ist definiert durch hohe Frischkostanteile, den reichlichen Verzehr von Vollkorngetreide und andere Charakteristika – also durch Aspekte, wie sie auch bei der Vollwerternährung nach Leitzmann gefordert werden. Insofern kann eine mediterrane Vollwerternährung als ein geeignetes und synergistisches Ernährungskonzept betrachtet werden. Die Mittelmeerkost als Ernährungskonzept bietet den Vorteil, dass der Terminus »Mittelmeer« in Nordeuropa wie in den USA für die meisten Menschen deutlich positiv besetzt ist. Unglücklich ist hingegen die aktuelle Entwicklung, wie sie epidemiologische Studien inzwischen eindeutig belegen: Die klassischen Regionen des Mittelmeerraumes haben sich inzwischen stark von ihrer traditionellen Kostform entfernt. Insbesondere Griechenland, Spanien und Süditalien weisen zunehmend ungünstige Ernährungsprofile auf und zeigen entsprechend einen dramatisch wachsenden Anstieg der Häufigkeit von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und metabolischem Syndrom. Eine Hinwendung zum mediterranen Ernährungsform findet sich im Gegensatz dazu vor allem in den skandinavischen und in einigen arabischen Ländern. Es ist also in der wissenschaftlichen Diskussion ebenso wie in der Kommunikation mit den Patienten darauf zu achten, dass vom traditionellen Kon-
zept der mediterranen Ernährung gesprochen wird. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass eine Fragmentierung des mediterranen Ernährungsprinzips in einzelne postulierte »Superfoods« nicht sinnvoll ist. Eine Vielzahl von Studien kann inzwischen für einzelne charakteristische Nahrungsmittel der mediterranen Ernährung günstige medizinische Wirkungen aufzeigen. Beispiele sind die Verbesserung der Gefäßendothelfunktion durch Walnüsse, die Reduktion des LDL-Cholesterinspiegels durch Mandeln, die Senkung des arteriellen Blutdrucks durch Olivenöl oder die antientzündliche Wirkung von Tomaten. Jedoch gilt es hier zu beachten, dass die komplexen und wichtigen Interaktionen von Nahrungsbestandteilen hierbei außer Acht gelassen werden. Darüber hinaus kann ein ganzheitliches Ernährungskonzept den Patienten grundsätzlich besser vermittelt werden als separate Regeln zu einzelnen Nahrungsmitteln oder Nahrungsmittelkomponenten.
Charakteristika der mediterranen Ernährung 5 Bevorzugung pflanzlicher Lebensmittel (Gemüse, Obst, vollwertige Getreide, Hülsenfrüchte, Nüsse und Samen, Kräuter) 5 reichlicher Verzehr von frischen, teilweise roh oder gering verarbeiteten Lebensmitteln, dabei Vermeidung von Zusatzstoffen und gentechnisch veränderten Lebensmitteln 5 Bevorzugung von Ölen mit einem günstigen Verhältnis von einfach ungesättigten zu gesättigten Fetten als Hauptfettquelle, z. B. Olivenöl, Rapsöl, Leinöl und Walnussöl 5 mäßiger Verzehr von Fisch, Geflügel und fettarmen Milchprodukten 5 geringer Verzehr von Fleisch, Eiern und Produkten mit hohem Anteil an gesättigten Fetten 5 geringer Verzehr von Süßwaren und leicht verdaulichen Kohlenhydraten
6
203 12.4 · Zusammenfassung
5 genussvolle Zubereitung der Speisen und deren bewusster Konsum unter Einbeziehung sozialer und kommunikativer Aspekte 5 Verwendung von Lebensmitteln möglichst aus ökologischem Anbau sowie nach saisonalen und regionalen Gesichtspunkten
12.3
Kofaktoren der mediterranen Ernährung
Eine mögliche wichtige Rolle des Verzehrs von Rotwein oder Weißwein für die Erklärung der medizinisch günstigen Wirkungen der Mittelmeerkost wird immer wieder von der Laienpresse aufgenommen, aber auch wissenschaftlich diskutiert. Tatsächlich zeigen epidemiologische Studien konsistent eine geringe, aber signifikante Schutzwirkung eines geringen bis moderaten Alkoholkonsums auf die kardiovaskuläre Ereignisrate und die Gesamtmortalität westlicher Bevölkerungen. In den meisten Studien ist dieser Effekt unabhängig von der Art des Alkoholkonsums, zeigt sich also analog für Wein und Bier und andere Alkoholika. In mehreren experimentellen Studien zeigen sich tatsächlich Vorteile des Weins gegenüber anderen alkoholischen Getränken. In chemischen Analysen weist Rotwein zudem eine hohe Konzentration von antioxidativ wirksamen Substanzen auf. Ein direkter Nachweis der Schutzwirkung von Wein als Komponente innerhalb der mediterranen Ernährung steht allerdings aus. Zudem wurden fast alle randomisierten Studien zur mediterranen Ernährung ohne eine Modulation des Verzehrs von alkoholischen Getränken durchgeführt; auf der Stufe der höchsten Evidenz findet sich also kein Nachweis einer protektiven Wirkung von Wein. Da in europäischen Bevölkerungen zudem eine vorherrschende Problematik im wachsenden Alkoholabusus besteht, sollte eine Empfehlung zum regelmäßigen Weinkonsum unterbleiben. Ebenso kann die Rolle der Siesta als mögliche gesundheitsfördernde Variable im Gesamtkonzept der traditionellen mediterranen Ernährung derzeit wissenschaftlich nicht abschließend bewertet wer-
12
den. Daten aus epidemiologischen Studien belegten zuletzt eine eindeutige Risikoreduktion bei Menschen in Mittelmeerländern, die eine regelmäßige Siesta pflegen [18]. Umgekehrt ist eine verkürzte Schlafdauer mit zahlreichen gesundheitlichen Nachteilen verbunden, insbesondere auch mit dem Risiko für ein metabolisches Syndrom. Zu beachten ist allerdings, dass in den randomisierten Studien zur mediterranen Diät, die eindeutig eine positive Wirkung belegten, die Siesta nicht Bestandteil der Intervention war. Ob durch eine Siesta ein additiver Effekt möglich ist, bleibt in weiteren Studien zu zeigen. In diesem Kontext sollte auch beachtet werden, dass die Kinetik der Ernährungszufuhr möglicherweise von Bedeutung für den medizinischen Effekt einer Ernährung ist. In der ernährungsmedizinischen Diskussion wird inzwischen zunehmend auf die ungünstigen Wirkungen einer schnellen Nahrungszufuhr hingewiesen [19]. Vieles spricht dafür, »Slow Food« und »Siesta« als medizinisch günstige Kofaktoren des Konzepts der traditionellen mediterranen Ernährung in der ernährungsmedizinischen Implementierung mit zu berücksichtigen. Dass dies allerdings gesellschaftlich durchsetzbar ist, darf bezweifelt werden, da eine gegenteilige Entwicklung seit Jahren zu beobachten ist.
12.4
Zusammenfassung
Zahlreiche Studien belegen mit hoher Evidenz die Wirksamkeit der mediterranen Ernährung bei der Therapie und Prävention von koronarer Herzerkrankung, Diabetes mellitus Typ 2, Adipositas, metabolischem Syndrom und entzündlich-rheumatischen Erkrankungen. Auch hinsichtlich präventiver Wirkungen gegenüber malignen Neoplasien und Alzheimerdemenz zeigt sich eine vielversprechende Evidenz. Dabei ist zu beachten, dass sich das Ernährungsverhalten in den Ursprungsländern dieser Kostform in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert hat, es also entscheidend ist, auf die traditionelle Ausprägung mediterraner Ernährung hinzuweisen. Die Charakteristika der mediterranen Kost zeigen in vielerlei Hinsicht Parallelen zur Vollwerternährung nach Leitzmann. »Slow Food« und
204
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 12 · Mediterrane Ernährung
»Siesta« sollten als gesundheitsfördernde Kofaktoren in den ärztlichen Empfehlungen Berücksichtigung finden.
Literatur [1] Keys AB. Seven countries: a multivariate analysis of death and coronary heart disease. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1980. [2] Renaud S, de Lorgeril M, Delaye J et al. Cretan Mediterranean diet for prevention of coronary heart disease. Am J Clin Nutr 1995; 61: 1360S–7S. [3] de Lorgeril M, Renaud S, Mamelle N et al. Mediterranean alpha-linolenic acid-rich diet in secondary prevention of coronary heart disease. Lancet 1994; 343: 1454–9. [4] de Lorgeril M, Salen P, Martin JL et al. Mediterranean diet, traditional risk factors, and the rate of cardiovascular complications after myocardial infarction: final report of the Lyon Diet Heart Study. Circulation 1999; 99: 779–85. [5] de Lorgeril M, Salen P, Martin JL et al. Mediterranean dietary pattern in a randomized trial: prolonged survival and possible reduced cancer rate. Arch Intern Med 1998; 158: 1181–7. [6] Singh RB, Dubnov G, Niaz MA et al. Effect of an Indo-Mediterranean diet on progression of coronary artery disease in high risk patients: a randomised single-blind trial. Lancet 2002; 360: 1455–61. [7] Trichopoulou A, Costacou T, Barmia C et al. Adherence to a mediterranean diet and survival in a greek population. N Engl J Med 2003; 348: 2599–608. [8] Trichopoulou A, Kouris-Blazos A, Wahlqvist ML et al. Diet and overall survival in elderly people. BMJ 1995; 311: 1457–60. [9] Martinez-Gonzalez MA, de la Fuente-Arrillaga C, NunezCordoba JM et al. Adherence to Mediterranean diet and risk of developing diabetes: prospective cohort study. BMJ 2008; 336: 1348–51. [10] Martinez-Gonzalez MA, Fernandez-Jarne E, SerranoMartinez M et al. Mediterranean diet and reduction in the risk of a first acute myocardial infarction: an operational healthy dietary score. Eur J Nutr 2002; 41: 153–60. [11] Scarmeas N, Stern Y, Mayeux R et al. Mediterranean diet and mild cognitive impairment. Arch Neurol 2009; 66: 216–25. [12] Trichopoulou A, Lagiou P, Kuper H et al. Cancer and Mediterranean dietary traditions. Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2000; 9: 869–73. [13] Esposito K, Marfella R, Ciotola M et al. Effect of a mediterranean-style diet on endothelial dysfunction and markers of vascular inflammation in the metabolic syndrome: a randomized trial. JAMA 2004; 292: 1440–6. [14] Estruch R, Martinez-Gonzalez MA, Corella D et al. Effects of a Mediterranean-style diet on cardiovascular risk factors: a randomized trial. Ann Intern Med 2006; 145: 1–11.
[15] Skoldstam L, Hagfors L, Johansson G. An experimental study of a Mediterranean diet intervention for patiPents with rheumatoid arthritis. Ann Rheum Dis 2003; 62: 208–14. [16] Jula A, Marniemi J, Huupponen R et al. Effetcs of diet and simvastatin on serum lipids, insulin, and antioxidants in hypercholesterolemic men. JAMA 2002; 287: 598–605. [17] Shai I, Schwarzfuchs D, Henkin Y et al. Weight loss with a low-carbohydrate, Mediterranean, or low-fat diet. N Engl J Med 2008; 359: 229–41. [18] Naska A, Oikonomou E, Trichopoulou A et al. Siesta in healthy adults and coronary mortality in the general population. Arch Intern Med 2007; 167: 296–301. [19] Maruyama K, Sato S, Ohira T et al. The joint impact on being overweight of self reported behaviours of eating quickly and eating until full: cross sectional survey. BMJ 2008; 337: a2002.
205 ·
Ernährung bei bestimmten Patientengruppen 13
Nahrungsmittelunverträglichkeiten – 207 Claus Leitzmann
14
Hypotonie – 219 Rolfdieter Krause
15
Nierenerkrankungen – 229 Rolfdieter Krause, Irmgard Landthaler
16
Dyslipoproteinämien – 239 Marion Burkard, Karl Huth
17
Hyperurikämie und Gicht – 255 Marion Burkard, Karl Huth
18
Adipositas – 271 Marion Burkard, Karl Huth
19
Diabetes – 285 Marion Burkard, Karl Huth
20
Chronisch entzündliche Erkrankungen – 301 Rainer Stange
13 IV
207
Nahrungsmittelunverträglichkeiten Claus Leitzmann
13.1
Einleitung – 208
13.2
Nahrungsmittelallergien – 208
13.3
Pseudoallergien – 212
13.4
Enzymopathien – 213
13.4.1 13.4.2 13.4.3
Laktoseintoleranz – 214 Phenylketonurie – 216 Hereditäre Fruktoseintoleranz – 217
13.5
Zusammenfassung – 218
13 X
208
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 13 · Nahrungsmittelunverträglichkeiten
Der Begriff Nahrungsmittelunverträglichkeiten umfasst verschiedene krankhafte Reaktionen nach dem Verzehr von Lebensmitteln. In der Bevölkerung besteht fälschlicherweise der Eindruck, dass eine Reihe von chronischen Krankheiten wie Migräne, Reizdarm und Hyperaktivitätssyndrom bei Kindern durch Unverträglichkeiten von Nahrungsmitteln verursacht werden. Diese Vorstellung stellt ein zunehmendes Problem in der ärztlichen Praxis dar. Dieser Beitrag ordnet die vorliegenden Erkenntnisse und stellt die bisherigen Erfahrungen und Therapieerfolge dieser oft in ihrer Häufigkeit überschätzten Gesundheitsstörung vor. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 die Merkmale der verschiedenen Nahrungsmittelunverträglichkleiten, 4 die Verfahren zur Bestimmung von Nahrungsmittelallergien, 4 die Bedeutung der bewussten Auswahl und Zubereitung der Nahrungsmittel, 4 die Möglichkeiten der Prävention und Therapie von Nahrungsmittelunverträglichkeiten.
13.1
Einleitung
Unverträglichkeitsreaktionen oder Hypersensitivitäten auf Nahrungsmittel können aus verschiedenen Gründen bei genetisch dafür prädisponierten Menschen auftreten. Diese individuellen Überempfindlichkeitsreaktionen sind abzugrenzen von pharmakologischen und toxischen Effekten wie Nahrungsmittelvergiftungen, die durch giftige (Toxine von Mikroorganismen), kontaminierte (Rückstände von Pestiziden und Medikamenten) oder verdorbene (infektiöse Keime) Nahrungsmittel hervorgerufen werden können. Der Begriff Nahrungsmittelunverträglichkeiten umfasst eine Reihe verschiedener Reaktionen des Körpers auf Nahrungsmittelinhaltsstoffe.
Definitionen Nahrungsmittelallergien (Nahrungsmittelunverträglichkeiten) sind immunologisch vermittelte Reaktionen auf den Verzehr bestimmter Nahrungsmittel. Nach wiederholtem Kontakt mit Antigenen in Lebensmitteln treten klinische Symptome auf. Lebensmittelintoleranzen sind nicht immunologisch ausgelöste Reaktionen nach Konsum gewisser Nahrungsmittel. Die wichtigsten Formen dieser Intoleranzen sind Pseudoallergien und Enzymopathien. Pseudoallergien sind nicht immunologisch bedingte Unverträglichkeiten z. B. gegenüber biogenen Aminen in der Nahrung, die von den gleichen Symptomen begleitet und therapiert werden wie eine Nahrungsmittelallergie. Enzymopathien sind Erkrankungen, die durch Störungen der Aktivität von Enzymen oder Coenzymen verursacht werden, z. B. Laktoseintoleranz und Phenylketonurie. Eine primäre Enzymopathie ist angeboren, sekundäre Enzymopathien werden u. a. durch Entzündungen und Pharmaka hervorgerufen.
13.2
Nahrungsmittelallergien
Nahrungsmittelallergien beruhen auf immunologischen Reaktionen, die nach Zufuhr eines Nahrungsmittels oder eines Nahrungsmittelbestandteils vielfältige klinische Symptome hervorrufen können. Die Identifikation und Elimination der allergentragenden Nahrungsmittel kann zu einer unzureichenden Nährstoffzufuhr führen. Nahrungsmittelallergien sind entgegen häufig anzutreffender Meinung keine Entwicklungen aus jüngerer Zeit, sondern es hat sie praktisch schon immer gegeben. Die Ursachen für Nahrungsmittelallergien bei Kindern können eine mangelnden Reife des Immunsystems und der Permeabilität der Darmmukosa sein. Im Kleinkindalter verschwinden bestimmte Nahrungsmittelallergien, wie eine Kuhmilchallergie (gegen Molkenproteine oder Kasein), bereits nach einigen Jahren mit der Reifung
209 13.2 · Nahrungsmittelallergien
des Immunsystems. Dagegen bleiben Allergien gegen Fisch oder Nüsse oft über viele Jahre bis ins Erwachsenenalter bestehen (Ballmer-Weber 2001). Bei Erwachsenen führt meist eine Sensibilisierung gegenüber Inhalationsallergenen zu einer Nahrungsmittelallergie. Eine Kreuzallergie liegt vor, wenn Menschen mit einer Pollenallergie allergisch auf Früchte und Nüsse reagieren. Im Erwachsenenalter erworbene Nahrungsmittelallergien bestehen oft lebenslang. Menschen, die eine genetische Veranlagung für eine Allergie haben, werden als Atopiker bezeichnet. Die Einteilung der Allergien erfolgt in verschiedene Typen. Die häufig auftretende Typ-I-Allergie ist eine Sofortreaktion, bei der die vorhandenen Allergene in Nahrungsmitteln bei genetisch prädestinierten Menschen die Bildung von IgEAntikörpern bewirken, welche sich an Mastzellen binden. Dadurch wird der Patient für das entsprechende Allergen sensibilisiert und bei erneutem Kontakt mit dem Allergen erfolgt eine Granulation der Mastzellen mit starker Freisetzung von Histamin und weiteren vasoaktiven Mediatoren. Die folgende Vasodilatation sowie die Bildung von Ödemen und Bläschen in der Haut erfolgen innerhalb weniger Stunden nach der Aufnahme des Allergens. Die Allergie lässt sich durch spezielle allergologische Testverfahren nachweisen, wie den PrickTest und RAST (Radio-Allergo-Sorbens-Test). Die weiteren Allergietypen treten seltener auf und spielen bei Lebensmittelreaktionen kaum eine Rolle. Typ II kann bei Transfusionen auftreten, wenn Unverträglichkeiten verschiedener Blutgruppen eine Hämolyse auslösen. Beim Typ III schädigen Komplexe von Antigenen mit Antikörpern körpereigene Gewebe wie die Nieren. Der Typ IV wird direkt über Zellen des Immunsystems vermittelt. Zur Häufigkeit von Nahrungsmittelallergien gibt es keine genauen Daten, da eine definitive Diagnose recht aufwendig ist. Die einzig verlässliche doppelblinde Provokation wird nur selten angewendet. Expertenschätzungen gehen von einer Prävalenz von 2–5 % aus, während Angaben anhand standardisierter Fragebögen bei 5 bis über 30 % liegen. Professionelle Überprüfungen dieser Angaben zeigen, dass die reale Häufigkeit mit den Expertenschätzungen übereinstimmt, wobei Frauen fast doppelt so häufig betroffen sind wie Männer (Schä-
13
fer u. Breuer 2003). Nicht überraschend treten Allergien gegen Nahrungsmittel immer dort auf, wo sie häufig verzehrt werden. So finden sich Fischallergien häufiger in Küstenregionen und Erdnussallergien vermehrt in Nordamerika. Die Globalisierung des Nahrungsmittelmarktes hat dazu geführt, dass Allergien bei uns gegen tropische und andere nicht heimische Produkte entsprechend ihrer Verzehrshäufigkeit zugenommen haben. Häufige Auslöser allergischer Reaktionen sind unverarbeitete Lebensmittel, deren Glykoproteine als Antigene oder Allergene wirken und immunologische Reaktionen hervorrufen. Wenn Allergenmoleküle mehrere antigene Bereiche besitzen, werden verschiedene Antikörper gebildet. Manche Antigene können durch Erhitzen der Kost teilweise oder völlig zerstört werden. So verlieren Karotten in erhitzter Form ihre Allergenität, dagegen sind die Allergene im Sellerie hitzestabil. Feinstaub und Zigarettenrauch können das Allergierisiko erhöhen. Alkohol, Schwefeldioxid (in Trockenfrüchten, Fruchtsäften, Wein u. a.), biogene Amine (in Käse, Fisch, Rohwurst, Bier, Wein u. a.), Schimmel und nichtsteroidale Antiphlogistika können anaphylaktische Reaktionen fördern. Wichtige Symptome einer Nahrungsmittelallergie zeigen sich überwiegend in der Haut. Es bilden sich juckende Quaddeln (Urtikaria) und eine vorhandene Neurodermitis kann sich verschlimmern. Betroffen sein können auch die Atemwege, der Gastrointestinaltrakt und das Herz-KreislaufSystem (. Tab. 13.1). Der Grad der Sensibilisierung und Wirkung der Allergene bestimmt die Ausprägung der Symptome. So zeigen Reaktionen auf Meeresfrüchte meist einen schweren Verlauf. Sehr unterschiedlich sind auch die Mengen der verzehrten Nahrungsmittel, die zur Auslösung einer Allergie führen; diese reichen von Spuren bis zu mäßigen Mengen (Einicke 2001). Bei der Diagnose von Nahrungsmittelallergien kommen mehrere Verfahren zur Anwendung, von der elementaren Anamnese über den relativ einfachen Hauttest bis zur oralen Provokation (. Tab. 13.2). Eine Anamnese ist ausreichend bei selten verzehrten Nahrungsmitteln, da die auftretenden Symptome mit dem Verzehr in Verbindung gebracht werden können. Bei seltener verzehrten
210
Kapitel 13 · Nahrungsmittelunverträglichkeiten
1
. Tab. 13.1 Haut- und Schleimhautsymptome, die
. Tab. 13.2 Übliche Verfahren zur Diagnose von
durch Nahrungsmittel ausgelöst werden können
Nahrungsmittelallergien
2
Organe
Symptome
Verfahren
Anmerkungen
Haut
Pruritis; atopische Symptome: Rhinoconjunctivitis allergica, Asthma bronchiale, Flush, Urtikaria; Schwellung der Lippen und Mundschleimhaut, Quinckeödem; Stomatitis, Glossitis (Papillitis linguae), Lingua nigra; rezidivierende Aphthen; Immunkomplexvaskulitis; Purpura pigmentosa progressiva; allergische Kontaktdermatitis; phototoxische und photoallergische Reaktionen; Exantheme; Bromoderm, Indoderm; Dermatitis herpetiformis
Anamnese
Keine Abgrenzung zur Nahrungsmittelintoleranz möglich; Gefahr der Überbewertung oder Fehleinschätzung
Hauttest
Positiver Befund ist nicht mit einer klinisch relevanten Allergie gleichzusetzen; teilweise ergeben sich falsch negative Befunde
In-vitro-Test (IgE)
Positiver Befund ist nicht immer klinisch relevant
Eliminationsdiät
Placeboeffekt möglich
Orale Provokation
Einzig zweifelsfreie Diagnosemöglichkeit; sehr aufwendig
3 4 5 6 7 8
Atemwege
Rhinitis; Konjunktivitis; Heiserkeit; Larynxödem; Asthma bronchiale
9
Gastrointestinaltrakt
Bauchschmerzen; Koliken; Erbrechen; Diarrhö
Herz-Kreislauf-System
Blutdruckveränderungen; Herzfrequenzveränderungen; Zyanose; Schock
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Produkten muss eines der aufwendigeren Verfahren eingesetzt werden. Wenn die Allergiesymptome keinem bestimmten Nahrungsmittel zugeordnet werden können, dann müssen Haut- und In-vitro-Untersuchungen durchgeführt werden. Wenn eine Sensibilisierung für eines der wichtigsten Nahrungsmittelallergene nachgewiesen werden kann, sollte eine diagnostische Eliminationsdiät durchgeführt werden, bei der die verdächtigen Nahrungsmittel nicht verzehrt werden. Wenn sich nach 2 Wochen keine Besserung einstellt, liegt keine Allergie gegen die ausgeschlossenen Nahrungsmittel vor. Wenn sich die Symptome bessern, wird eine offene Provokation durchgeführt, da Diäten eine ausgeprägte Placebowirkung haben können. Bei wieder auftretenden Beschwerden muss eine doppelblinde placebokontrollierte Provokation den Befund bestätigen (Ballmer-Weber 2000). Bei diesem Test werden identische Mahlzeiten ohne und mit dem zu prüfenden Nahrungsmittel angeboten. Um die Schleimhaut zu testen wird das Essen für einige Sekunden im Mund behalten und
. Tab. 13.3 Lebensmittel, die in Mitteleuropa häufig Nahrungsmittelallergien auslösen Kinder
Erwachsene
Kuhmilch
Baum- und Erdnüsse
Hühnereiweiß
Fische und Schalentiere
Fische
Gewürze
Erdnüsse
Gemüse (z. B. Sellerie)
Soja
Getreide
Steinobst
Obst, besonders Steinobst
wieder ausgespuckt. Wenn Symptome ausbleiben oder nicht eindeutig sind, wird das Essen geschluckt. Die Diagnose gilt als gesichert, wenn sich nach 3 Testmahlzeiten keine Symptome zeigen (Henzgen et al. 2004). Dieser aufwendige Test erfordert eine erhebliche Disziplin des Patienten, die aber bei entsprechendem Leidensdruck meist gegeben ist. Das Auftreten einer Nahrungsmittelallergie hängt von den Essgewohnheiten eines Kulturkreises ab und variiert entsprechend zwischen den geographischen Regionen. Die bekanntesten Nahrungsmittelallergien in Mitteleuropa unterscheiden sich zwischen Kindern und Erwachsenen (. Tab. 13.3). Reaktionen auf Gemüse und Früchte finden sich häufiger bei Pollenallergikern. Diese Kreuzreaktivität von Pollen und Nahrungsmitteln beru-
211 13.2 · Nahrungsmittelallergien
hen auf ähnlichen Proteinen. So hat das wichtigste Birkenallergen (Bet v 1) ähnliche Strukturen wie Proteine in Nüssen, Sellerie, Äpfeln, Karotten und Petersilie. Ein weiteres Birkenallergen (Bet v 2) ähnelt Proteinen in Sellerie, Artischocken, Paprika und Beifuß. Es gibt auch Kreuzreaktivitäten zwischen bestimmten Früchten (z. B. Kastanien, Bananen, Avocado, Kiwi) und Naturlatex. Aufgrund der Kreuzreaktionen können besonders bei stark sensibilisierten Menschen während der Pollenflugzeit additive Belastungen auftreten. Zur Prävention von Nahrungsmittelallergien wird ausschließliches Stillen in den ersten 4 bis 6 Monaten empfohlen, danach gibt gut geplante Beikosternährung einen gewissen Schutz gegen Nahrungsmittelallergien. Ansonsten gelten die gleichen Leitlinien wie für atopische Erkrankungen allgemein. Diese Leitlinien wurden besonders für Risikokinder mit einer familiären Disposition entwickelt und sind weitergehend als diejenigen für unbelastete Kinder und für die Allgemeinbevölkerung.
Leitlinien zur Prävention von Allergien für Kinder mit familiärer Vorbelastung (Sekundärprävention; nach DGAKI u. DDG 2004) 5 Mindestens 4 Monate ausschließliches Stillen*; alternativ hyperallergene Säuglingsnahrung 5 während der Stillzeit Vermeidung potenter Nahrungsallergene durch die Mutter 5 keine allgemeine Diät zur Allergieprävention* 5 keine Haltung von felltragenden Tieren (besonders Katzen) 5 Reduktion der Belastung durch Hausstaubmilben 5 Vermeidung eines schimmelpilzfördernden Klimas* 5 Vermeidung der Exposition gegenüber Tabakrauch, aktiv und passiv (auch während der Schwangerschaft)* 5 Impfen nach Empfehlungen der ständigen Impfkommission* * auch für Risikokinder ohne familiäre Vorbelastung; Primärprävention)
13
Die Therapie einer Nahrungsmittelallergie setzt eine eindeutige Diagnose voraus, die in Form entsprechender Symptome von klinischer Relevanz sein muss. Mit einem individuellen Ernährungsplan, der keine der allergieauslösenden Lebensmittel enthält, kann eine Allergenkarenz erreicht werden. Dabei ist es einfacher, eher selten verzehrte Lebensmittel wie Hummer und Kaviar zu meiden, als typische Grundnahrungsmittel wie Milchprodukte und Eier. Je nach Schwere der Krankheit müssen die problematischen Nahrungsmittel entsprechend konsequent gemieden werden. Für Säuglinge gibt es heute hypoallergene Produkte, deren Allergenität durch eine teilweise Hydrolysierung der Proteine stark reduziert ist. Bei hochgradig sensibilisierten Kindern müssen stark hydrolysierte Semi-Elementar-Nahrungen eingesetzt werden. Wenn keine Allergie vorliegt, sollte ein vorbeugender Einsatz dieser Produkte nicht erfolgen. Da viele Kinder auch auf Ziegen- oder Sojamilch allergisch reagieren, sind diese nicht zu empfehlen. Unabhängig vom Alter ist das Meiden von Milch- und Eierprodukten sehr schwierig, da diese als Zutaten teilweise in kleinen, nicht deklarierten Mengen in vielen Nahrungsprodukten enthalten sind. So finden sich Eier in den unterschiedlichsten Produkten wie Backwaren, Würsten, Soßen und Mayonnaisen (Henzgen et al. 2004). Inhaltsstoffangaben auf Produkten, die auf Ei hinweisen können, betreffen verschiedene Substanzen wie Bindemittel, Emulgatoren, Koagulanzien und Lezithin. Bei ausgeprägten Nahrungsmittelallergien sind das Meiden von Fertigprodukten und eine weitgehende Selbstherstellung von Speisen erforderlich. Damit es nicht zu einer Mangelversorgung kommt, müssen dem Patienten entsprechende Speisepläne erstellt werden. So kann beispielsweise bei einer Kuhmilchallergie die Kalziumversorgung mit Brokkoli, Grünkohl und anderen kalziumhaltigen Nahrungsmitteln gesichert werden. Bei der Hyposensibilisierung (Desensibilisierung) handelt es sich um eine spezifische Immuntherapie, die durch eine wiederholte subkutane oder sublinguale Zufuhr eines gereinigten Extraktes des Allergens in langsam zunehmender Dosis zu dessen besserer Verträglichkeit führt. Diese Hyposensibilisierung kann bei verschiedenen
212
1 2 3 4 5
Kapitel 13 · Nahrungsmittelunverträglichkeiten
Allergien recht erfolgreich eingesetzt werden, wurde aber bei Nahrungsallergien bisher nicht systematisch erforscht. Allerdings ist bei baumpollenassoziierten Allergien meist eine Besserung erreichbar (Lepp et al. 2002). Eine medikamentöse Therapie mit Antihistaminika und Cromoglizinsäure wird bei multiplen und schwer zu behandelnden Nahrungsmittelallergien empfohlen. Antihistaminikumlösung und Adrenalinspray sollten Patienten stets bei sich führen, die mit einem anaphylaktischen Schock reagieren könnten.
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
13.3
Pseudoallergien
Die Unverträglichkeitsreaktionen bei Pseudoallergien ahmen klinisch alle immunologischen Reaktionstypen einer Allergie nach, ohne dass immunologische Mechanismen zugrunde liegen. Die häufigste Reaktion besteht gegen Azetylsalizylsäure (Aspirin) und weitere in der Natur nicht vorkommende pharmazeutische Substanzen. Pseudoallergien gegenüber Nahrungsmitteln sind weniger anzutreffen. Die Häufigkeit von Pseudoallergien nach Aufnahme von Lebensmittelzusatzstoffen liegt unter 1‰, bei Kindern mit atopischer Dermatitis wird sie auf 2–7 % geschätzt (DGE 2004). Die teilweise dosisabhängigen Reaktionen können ohne eine vorangegangene Sensibilisierung bereits nach der ersten Exposition eintreten. Die Ursachen der Pseudoallergien können bei prädisponierten Menschen in Nahrungsmitteln vorkommende Verbindungen sein, die eine Freisetzung von Histamin aus Mastzellen bewirken. Der genaue Mechanismus ist bisher nicht bekannt, tritt aber besonders nach dem Verzehr von Schokolade, Erdbeeren, Tomaten oder Zitrusfrüchten in Erscheinung. Kompliziert wird dieser Vorgang durch in Nahrungsmitteln vorkommende Amine (Histamin, Tyramin, Putrescin, Kadaverin u. a.), die als Mediatoren klinische Symptome auslösen können. Üblicherweise werden diese Amine durch Diaminooxidase im Gastrointestinaltrakt inaktiviert (Ballmer-Weber 2000); dieses Enzym weist bei Pseudoallergikern meist eine geringe Aktivität auf. Auch der Arachidonstoffwechsel kann durch
Freisetzung von Neurotransmittern und eine Erregung von entsprechenden Reizrezeptoren zur Auslösung von Pseudoallergien führen oder beitragen. Diese verschiedenen Mechanismen werden durch körperlichen oder psychischen Stress intensiviert, sodass ein Zusammenwirken verschiedener Parameter zum Tragen kommt und die Ermittlung der eigentlichen Ursachen erschwert. Die Symptome, die durch biogene und in Lebensmitteln vorkommende Amine ausgelöst werden können, sind u. a. Hautrötungen, Urtikaria, Übelkeit, Kopfschmerzen sowie Migräne. So können Tyramin und Serotonin bei Migränepatienten Kopfschmerzen verursachen und Tyramin kann durch die Freisetzung von Noradrenalin den Blutdruck erhöhen. Zur Diagnose von Pseudoallergien sind lediglich orale Provokationstest oder Karenzdiäten erfolgreich, alle anderen Diagnosen sind nicht geeignet. Auslöser von Pseudoallergien sind die biogenen Amine, die als Geschmacks- und Aromastoffe natürlicherweise in Nahrungsmitteln enthalten sind. Eine genaue Bestimmung dieser Verbindungen wird durch ihre Anwesenheit in den verschiedensten Lebensmitteln erschwert (. Tab. 13.4, mod. nach Ballmer-Weber 2000). Neben den typischen Vertretern der biogenen Amine können weitere in Nahrungsmitteln enthaltene Substanzen wie Methylxanthine (Koffein, Theobromin, Theophyllin u. a.) Intoleranzreaktionen verursachen. Bei Intoleranzsymptomen können Zusatzstoffe in Lebensmitteln als eine Ursache gelten, die Beweislage ist aber nicht immer einfach.
Lebensmittelzusatzstoffe, die Intoleranzreaktionen hervorrufen können (nach DGE 2004) 5 5 5 5 5 5
Farbstoffe Konservierungsstoffe Antioxidanzien Süßstoffe Aromastoffe Glutamat (?)
213 13.4 · Enzymopathien
13
. Tab. 13.4 Konzentrationen biogener Amine in verschiedenen Nahrungsmitteln Nahrungsmittel
Histamin [mg/kg]
Tyramin [mg/kg]
Serotonin [mg/kg]
Fisch
0–4.640
0–500
–
Käse
0–1.300
0–953
–
Sauerkraut
6–200
20–95
–
Spinat
38
–
–
Wein
0–30
2–25
–
Tomaten
22
–
12
Wurst
2–4
85–244
–
Himbeeren
–
13–93
–
Avocados
–
23
–
Walnüsse
–
–
170–340
Bananen
–
–
23–78
Ananas
–
–
17–65
Bei den in der Verarbeitung von Nahrungsmitteln eingesetzten Farbstoffen sind es die früher oft verwendeten Azofarbstoffe und hier besonders das Tartrazin, das sich als problematisch erwiesen hat. Tartrazin selbst übt eine pseudoallergische Wirkung nur durch seine Derivate aus, und da es sich auch in bestimmten Medikamenten und Antiallergika als Farbstoff befindet, ist eine Prüfung dieser Gefahrenquelle erforderlich. Zu den bekannten Konservierungsstoffen, die Intoleranzreaktionen hervorrufen können, zählen die Benzoesäure und deren Salze, die natürlicherweise auch in Früchten und Gemüse enthalten sind. Diese Substanzen werden verschiedenen Gemüseprodukten, Getränken und u. a. Kaugummi zugesetzt. Sorbinsäure, eine gegen Schimmelpilze eingesetzte kurzkettige, ungesättigte Fettsäure, kann gelegentlich zu Unverträglichkeitsreaktionen führen. Asthmatiker sollten auf zugesetzte Schwefelverbindungen in Produkten achten, die in Fruchtsäften, Trockenfrüchten, Kartoffelprodukten, Essig, Gelatine und Glukosesirup vorkommen und bei der Herstellung von Bier und Wein entstehen. Glutamat ruft nach derzeitigen Erkenntnissen keine pseudoallergischen Reaktionen hervor. Das sogenannte »China-Syndrom« hat demnach andere Ursachen.
Zur Therapie von Pseudoallergien ist eine Elimination der Nahrungsmittel erforderlich, die die verantwortlichen Substanzen enthalten. Da Fertigprodukte meist mit Zusatzstoffen hergestellt werden, ist das Meiden dieser Erzeugnisse eine der effektivsten Maßnahmen. Wenn bei chronischer Urtikaria zusätzlich Intoleranzsymptome auftreten, sollten keine histaminhaltigen Nahrungsmittel verzehrt werden. Liegt eine hole Empfindlichkeit gegenüber biogenen Aminen vor, dann empfiehlt es sich, Käse und Rotwein nicht zeitnah zu konsumieren, weil eine kompetetive Hemmung die Metabolisierung von Histamin durch andere biogene Amine verhindert.
13.4
Enzymopathien
Die primäre, angeborene, genetisch bedingte Enzymopathie beruht auf einer Strukturveränderung eines Enzyms oder auf einen Enzymmangel u. a. durch eine verminderte oder fehlende Synthese oder eine erhöhten Abbaurate des Enzyms. Die sekundäre Form entsteht durch exogene Störungen der Synthese oder Aktivität eines Enzyms durch Entzündungen, Intoxikationen oder chemische Einflüsse. Die Folgen können eine unzureichende
214
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 13 · Nahrungsmittelunverträglichkeiten
Synthese biologisch wichtiger Substanzen sowie ein Substratstau, eine Zellvergiftung durch verstärkten Anfall oder eine Akkumulation von Produkten aus einem Stoffwechselnebenweg sein und eventuell zu Intoxikationen führen. Die am weitesten verbreitete Emzymopathie ist der Laktasemangel. Bei der offensichtlich immer häufiger auftretenden Intoleranz gegenüber Fruktose handelt sich um einen Defekt des Enzyms Aldolase. Bei der Phenyketonurie liegt ein Mangel an Phenylalaninhydroxylase vor und der Favismus ist ein X-chromosomal-rezessiv erblicher Mangel an Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase, bei dem es nach dem Verzehr von Pferdebohnen zu einer schweren hämolytischen Anämie kommt. Bei allen Enzymopathien muss jeweils die Intoleranz hervorrufende Substanz beim Essen und Trinken gemieden werden.
13.4.1
Laktoseintoleranz
Laktoseintoleranz beruht auf einem Mangel an Laktase in der Darmschleimhaut. Dadurch kann Milchzucker nicht in seine Bestandteile Glukose und Galaktose gespalten werden. Unterschieden wird zwischen dem sehr seltenen kongenitalen, autosomal-rezessiv erblichen Laktasemangel (Alaktasie), bei dem die Intoleranz gegenüber Muttermilch gleich nach der Geburt auftritt (Rusynyk u. Still 2001), und der ebenfalls autosomal-rezessiv erblichen Erwachsenenform, der primären Laktoseintoleranz. Nach der Entwöhnung erfolgt eine kontinuierliche Abnahme der Enzymaktivität, die meist mit 5 bis 10 Jahren abgeschlossen ist (Swallow 2003). Wenn noch eine Restaktivität verbleibt, kann seltener oder kein Milchkonsum im Erwachsenenalter zu einem vollständigen Rückgang der Laktaseaktivität und damit zu einer völligen Laktoseunverträglichkeit führen. Laktoseintoleranz ist nicht gleichzusetzen mit einer Allergie gegen Milch. Die sekundäre Laktoseintoleranz ist eine vorübergehende Form, die auf einer Schädigung der Dünndarmschleimhaut beruht, hervorgerufen durch eine Reihe von intestinalen Erkrankungen (virale Infektionen, Zöliakie, chronische Enteritis). Die Symptome bei einer vorliegenden Laktaseintoleranz werden durch die in den Dickdarm
. Tab. 13.5 Häufigkeit der Laktoseintoleranz bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen Ethnische Gruppe
Häufigkeit [%]
Nordeuropäer
40–55
Südeuropäer
80–85
Schwarzafrikaner
85–90
Asiaten
90–100
Indianer (USA)
95–100
gelangte Laktose eingeleitet, die einen osmotischen Einstrom von Wasser ins Darmlumen bewirkt, was zu einer Diarrhö führt. Durch den bakteriellen Abbau der Laktase entstehen Gase, die Blähungen und Krämpfe auslösen können (Swagerty et al. 2002). Der dabei freigesetzte Wasserstoff dient als Maß der Laktoseintoleranz im H2-Exhalationstest. Die Häufigkeit der primären Laktoseintoleranz hängt von der ethnischen Herkunft der Menschen ab. Während der Milchzucker von den Nord- und Mitteleuropäern überwiegend metabolisiert werden kann, nimmt die Laktoseintoleranz bei Indianern bis auf 100 % zu (. Tab. 13.5, mod. nach Rusynyk u. Still 2001). Dabei muss bedacht werden, dass die offizielle Häufigkeit deutlich höher liegt als die erlebten Symptome, denn die Laktoseintoleranztests werden immer noch mit 50 g Laktose, aufgelöst in 400 ml Wasser, durchgeführt, das auf nüchternen Magen getrunken werden muss. Diese Menge Laktose ist in einem Liter Milch enthalten, eine unübliche Menge, die kaum auf nüchternen Magen getrunken wird. Eine Laktoseintoleranz liegt vor, wenn der Blutglukosespiegel um weniger als 20 mg/ dl ansteigt und wenn nach anschließender oraler Gabe von je 50 g Glukose und Galaktose die Konzentrationen dieser beiden Zucker im Blut ansteigen. Viele mit dieser Methode als laktoseintolerant ermittelte Menschen vertragen gewisse Mengen an Milch und Milchprodukten. Bei kontinuierlichem Konsum von Milchprodukten kann die Intoleranz sogar allmählich weiter abgebaut werden. Der heute oft verwendete H2–Exhalationstest beruht auf der Menge Wasserstoff, die über die Lunge abgeatmet wird. Dieser Wasserstoff entsteht beim bakteriellen Abbau der Laktose im Kolon.
215 13.4 · Enzymopathien
Ein Anstieg von >20 ppm H2 in der Atemluft wird als Laktasemangel interpretiert. Die so gewonnenen Fallzahlen liegen unter denen, die mit der oralen Gabe von Glukose erreicht werden, aber immer noch höher als die Zahl der Menschen, welche Symptome aufweisen. Die Therapie der Laktoseintoleranz folgt wie bei allen Enzymopathien dem Grundsatz der Vermeidung derjenigen Substanz, die nicht metabolisiert werden kann – in diesem Fall also der Laktose. Dabei ist eine absolut laktosefreie Ernährung nicht erforderlich, denn eine gewisse Menge an Laktose wird von vielen Menschen vertragen, die anhand der Standardtests als laktoseintolerant eingestuft wurden. Individuell unterschiedlich vertragen viele dieser Menschen bis zu 500 ml Milch, besonders wenn sie über den Tag verteilt und mit den Mahlzeiten getrunken wird. Fermentierte Milchprodukte wie Joghurt, Kefir und Sauermilchkäse werden meist symptomlos vertragen, da ein Teil der Laktose von den Mikroorganismen gespalten wird. Diese Aktivität der Mikroorganismen wird bei unerhitzten Milchprodukten im Verdauungstrakt fortgeführt. In einer verblindeten Studie mit unterschiedlichen Laktosegaben konnten laktoseintolerante Probanden etwa 6 g Laktose pro Mahlzeit symptomfrei vertragen (Hertzler 1996). Da sehr viele peroral einzunehmende Medikamente und auch viele Fertigprodukte Laktose enthalten, müssen Menschen mit einer sehr geringen Laktosetoleranz die Zutatenliste dieser Produkte genau lesen. In peroral einzunehmenden Medikamenten beträgt der Laktoseanteil einer Einzeldosis allerdings meist weit weniger als ein Gramm. So findet sich Laktose in zahlreichen Getreideprodukten, Süßigkeiten und Süßstoffen sowie in Margarine, Suppen und Dressings. Es gibt Laktasepräparate, die – unmittelbar vor einer Laktosebelastung eingenommen – für empfindliche Menschen oder in besonderen Situationen hilfreich sein können. Kalzium wird bei der Durchschnittsernährung in Deutschland fast zur Hälfte mit Milch und Milchprodukten zugeführt. Um einen Kalziummangel und damit einer Osteoporose vorzubeugen, muss bei vorliegender Laktoseintoleranz eine ausreichende Zufuhr an Kalzium durch andere Nahrungsmittel sichergestellt werden. Dieses erweist sich als relativ unproblematisch, da es eine große
13
. Tab. 13.6 Einflussfaktoren auf die Kalziumverfügbarkeit Verminderte Absorption
Vitamin D-Mangel (zu wenig Aufenthalt im Freien) Exzessive Phosphatzufuhr (Colagetränke, bestimmte Wurstsorten) Medikamente (Glukocorticoide, Antikonvulsiva) Anchlorhydrie (wenig Magensäure) Chronische Lebererkrankungen Zöliakie, Morbus Crohn, Collitis ulcerosa
Vermehrte Ausscheidung
Überversorgung mit Protein Überversorgung mit Speisesalz Reichlicher Kaffeekonsum (Koffein) Reichlicher Alkoholkonsum Störung des Säure-Basen-Gleichgewichts (Azidosen)
Auswahl an Nahrungsmitteln gibt, die pro Gramm genauso viel oder mehr Kalzium enthalten wie Milch.
Kalziumreiche Nahrungsmittel 5 5 5 5 5 5
Grünkohl Spinat Brokkoli Sardinen Krabben Tofu
Es zeigt sich, dass in Ländern ohne Milchwirtschaft die Osteoporosehäufigkeit teilweise deutlich niedriger liegt als in Ländern mit dem höchsten Konsum an Milchprodukten. Für dieses scheinbare Paradoxon sind über die Kalziumzufur hinausgehende Verhaltensweisen verantwortlich (. Tab. 13.6).
216
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
13.4.2
Kapitel 13 · Nahrungsmittelunverträglichkeiten
Phenylketonurie
Die Phenylketonurie (PKU) ist eine autosomalrezessiv vererbte Enzymopathie, bei der das Enzym Phenylalaninhydroxylase eine verringerte Aktivität besitzt oder völlig fehlt. Es handelt sich dabei um eine von bisher 400 bekannten Mutationen des Enzymgens, sodass die Umwandlung von Phenylalanin zu Tyrosin gestört oder ganz unterbrochen ist. An dieser Reaktion ist der Kofaktor Tetrahydrobiopterin (TH4) beteiligt, der seinerseits Mutationen unterliegt und für die PKU verantwortlich sein kann. Zur sicheren Diagnose müssen daher Tests der beiden möglichen Mutationen durchgeführt werden. Die Häufigkeit der PKU beläuft sich in Deutschland auf etwa 1:7.000 und ist damit die häufigste Störung des Aminosäurenstoffwechsels. Die Symptome bei einer PKU sind schwere neurologische Störungen, die zur geistigen Behinderung führen können, ausgelöst durch eine erhöhte Konzentration von Phenylalanin und unphysiologische Phenylalaninderivate wie Phenylpyruvat im Blut. Die Akkumulation dieser Substanzen hemmt die Aufnahme anderer Aminosäuren wie Methionin und Tyrosin ins Gehirn. Der Mangel an diesen Aminosäuren führt zu einer verminderten Synthese von Proteinen und Neurotransmittern sowie zum Abbau der Myelinschicht und so zur Beeinträchtigungen der Gehirnentwicklung. Zur Diagnose der PKU wird heute ein staatliches Screening-Programm am Ende der ersten Lebenswoche durchgeführt. Bei diesem mikrobiologischen Guthrie-Test wird die Konzentration von Phenylalanin im Blut ermittelt. Werte von unter 2 mg/dl gelten als normal, Werte darüber als auffällig. Bei Werten von über 8 mg/dl besteht Behandlungsbedarf. Dieser Test gibt nur zuverlässige Daten, wenn folgende Umstände zutreffen: 4 kein Blutaustausch und keine Bluttransfusion 4 ausreichende Proteinzufuhr über 3 Tage 4 keine antibiotische Therapie Bei der Therapie der PKU muss zunächst durch den TH4-Test eine Störung des Koenzymsystems ausgeschlossen werden. Danach erfolgt eine phenylalaninfreie Ernährung auf Milchersatzbasis, bis die Konzentration von Phenylalanin im Blut
. Tab. 13.7 Täglicher Bedarf an Phenylalanin Altersgruppe
Bedarf an Phenylalanin [mg/kg KG]
0–3 Monate
45
4–11 Monate
30
1–6 Jahre
20
>6 Jahre
15
unter 8 mg/dl gesunken ist. Aus einer berechneten Mischung aus adaptierter Säuglingsmilch und einem phenylalaninfreien Proteinersatzpräparat kann die Phenylalaninzufuhr so gesteuert werden, dass Werte von 2–4 mg/dl erreicht werden. Muttermilch enthält durch einen geringeren Proteingehalt nur etwa ein Drittel der Phenylalaninmenge von Kuhmilch und etwa zwei Drittel von Standardsäuglingsmilch auf Kuhmilchbasis. Deshalb sollte wegen der vielseitigen Vorteile des Stillens nach einer Verfütterung von 30–50 ml eines phenylalaninfreien Milchersatzpräparates ad libitum gestillt werden. Durch wöchentliche Kontrollen kann die Menge des Milchersatzpräparats so bemessen werden, dass die Phenylalaninkonzentration auf 2–4 mg/dl gehalten wird. Nach der Stillzeit muss lebenslang eine phenylalaninkontrollierte Diät eingehalten werden. Die Phenylalaninkonzentrationen in Lebensmitteln sind hinreichend bekannt, sodass eine entsprechende Kost unter Einbeziehung phenylalaninfreier Aminosäurenhydrolysate zusammengestellt werden kann. Tierische Lebensmittel enthalten deutlich mehr Phenylalanin als pflanzliche Lebensmittel, sodass eine pflanzenbetonte Kost den Bedarf an Ersatzprodukten deutlich senken kann. Der Bedarf an Phenylalanin pro Kilogramm Körpergewicht nimmt im Laufe der ersten 6 Lebensjahre deutlich ab (. Tab. 13.7). Der Phenylalaningehalt sollte etwa 5 % vom Proteinbedarf betragen. Als problematisch erweist sich oft der unangenehme Geruch und Geschmack der Aminosäuremischungen. Dadurch kommt es häufig zur Ablehnung der Diät, besonders bei Kindern, deren Geschmack und Geruch nicht von Anfang an und konsequent durch diese Supplemente geprägt wurde. Da die erforderliche Diät im Jugendalter nur sel-
217 13.4 · Enzymopathien
ten eingehalten wird, empfiehlt es sich, eine vegetarische Ernährung zu praktizieren. Die damit zugeführten Mengen an Phenylalanin werden meist gut vertragen. Sollten sich Konzentrationsstörungen und Unruhe einstellen, muss zu einer strikten Diät zurückgekehrt werden. Durch eine ungenügende Zufuhr von Phenyalanin kann es zu einem Proteinabbau kommen, bei dem Phenylalanin freisetzt wird. Die daraus folgende Erhöhung der Phenylalaninkonzentration im Blut kann zu Durchfall, Krampfanfällen, Hautausschlag, megaloblastärer Anämie, osteolytischen Veränderungen des Skeletts und langfristig zu Gedeihstörungen führen. Diese Auswirkungen lassen sich durch eine entsprechende Zufuhr an Phenylalanin beseitigen. Bei PKU wird häufig ein Eisenmangel festgestellt, der durch eine Verbesserung der Eisenresorption behoben werden kann (7 Kap. 9, . Tab. 9.5). Auch der Selenstatus ist bei Patienten mit PKU nicht immer optimal. Ein gezielter Verzehr von selenreichen Lebensmitteln kann hier Abhilfe schaffen (Paranüsse; gemahlene Sesamsamen). Bei Kindern von PKU-Müttern, die während der Schwangerschaft eine zu hohe Phenylalaninkonzentration im Blut aufweisen, kann das sich entwickelnde Nervensystem geschädigt werden. Es kann zu so unterschiedlichen Folgen wie Herzfehlern, Mikrozephalien und geistiger Retardierung, Minderwuchs und Skelettanomalien kommen. Frauen mit einer PKU und Kinderwunsch sollten vor der Empfängnis mindestens einen Monat eine strenge PKU-Diät einhalten oder so lange, bis ein Wert von 1–3 mg/dl Phenylalanin im Serum vorliegt. Mit der Nahrung dürfen bis zu 20 % des Proteinbedarfs (1,5 g/kg KG/Tag), also 0,3 g/kg KG/Tag, mit der Nahrung aufgenommen werden, 80 % müssen mit einer Aminosäurenmischung zugeführt werden. Bei der PKU-Diät ist eine ausreichende Zufuhr von Tyrosin erforderlich. Wenn die Tyrosinzufuhr nicht die erforderliche Menge von etwa 50 mg/ kg KG erreicht, muss der Rest substituiert werden. Bei Säuglingen werden 300–350 mg und bei Kindern und Jugendlichen etwa 120 mg/kg KG zugeführt (Elsas u. Acosta 1999).
13.4.3
13
Hereditäre Fruktoseintoleranz
Die primäre Ursache der hereditären Fruktoseintoleranz (HFI) ist eine stark verminderte Aktivität des Enzyms Fruktose-1-Phosphat-Aldolase, die den zweiten Schritt der Fruktoseassimilation katalysiert. Die Folge ist eine Anhäufung von dem toxisch wirkenden Fruktose-1-Phosphat in der Dünndarmschleimhaut, der Leber und den Nieren. Die Häufigkeit dieser autosomal-rezessiven vererbten Erkrankung ist recht gering, nach Schätzungen gibt es etwa 3.000 Fälle in Deutschland. Als Symptome der HFI sind Erbrechen, Durchfall und Schock bekannt; aber auch Dystrophie, Hypoglykämie, Gerinnungsstörungen und Hepatomegalie mit späterem Übergang in Zirrhose und Proteinurie können auftreten. Die Diagnose der HFI erfolgt durch Nachweis des Enzymdefekts in Biopsiematerial der betroffenen Organe (Dünndarm, Leber, Nieren). Die Therapie der HFI besteht in der vollständigen Meidung von fruktosehaltigen Nahrungsmitteln wie Obst und Gemüse. Außerdem findet sich Fruktose in Verbindung mit Glukose in Saccharose (Rohrzucker, Rübenzucker), Invertzucker und Sorbitol sowie in Honig. Inulin besteht aus einem Polysaccharid aus Fruktose und wird deshalb in der Ernährung von Diabetikern eingesetzt. Inulin findet sich besonders in Topinambur, aber auch in Artischocken und einigen anderen Gemüsearten. Da Milch keine Fruktose enthält, können Säuglinge voll gestillt oder mit einer nur laktosehaltigen Milch ernährt werden. Nach Entwöhnung dürfen keine Obst- und Gemüsezubereitungen gefüttert werden, deshalb sind Vitaminsupplemente erforderlich. Mütter sollten die Breikost selbst herstellen, um sicher zu sein, dass diese fruktosefrei sind. Nach dem 1. Lebensjahr können vielerlei Nahrungsmittel verzehrt werden, andere sollten gemieden werden (. Tab. 13.8). Falls eine Infusionstherapie oder eine parenterale Ernährung für Patienten mit HFI erforderlich sein sollte, dürfen die Flüssigkeiten unter keinen Umständen Fruktose enthalten, die Folgen können fatal sein.
218
Kapitel 13 · Nahrungsmittelunverträglichkeiten
mittel bei Fruktoseintoleranz ab dem 1. Lebensjahr
los. Bei der Phenylketonurie und weiteren Enzymopathien gelten im Prinzip ähnliche Überlegungen.
2
Erlaubte Gemüse
Nicht erlaubte Nahrungsmittel und Produkte
Literatur
3
Kopfsalat, Feldsalat, Chicorée
Alle saccharose- und fruktosehaltigen Nahrungsmittel
Brokkoli, Blumenkohl, Weißkohl
Fruchtsäfte, Süßigkeiten, Konserven
5
Erbsen, grüne Bohnen
Weißbrot, Vollkornbrot, Pumpernickel
6
Rettich, Radieschen
Diabetikerzucker, Haushaltszucker, Invertzucker, Sorbit
Gurken, Tomaten, Pilze
Honig, Marmelade
Spinat, Rhabarber
Mayonnaise, Ketchup, Fertigsaucen
Ballmer-Weber BK: Die hyperallergene Diät. Ther Umsch 58: 121–127 (2000) Ballmer-Weber BK: Nahrungsmittel als Allergieauslöser. Ther Umsch 58: 278–284 (2001) DGAKI, DDG (Deutsche Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie, Deutsche Dermatologische Gesellschaft): Allergieprävention. Allergol J 13: 252–260 (2004) DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung): Begriffsbestimmungen und Abgrenzung von Lebensmittel-Unverträglichkeiten. www.dge.de (2004; Stand Juli 2009) Einicke U: Bauchschmerzen nach dem Essen. Vorsicht mit der Diagnose »Nahrungsmittelallergie«: MMW Fortschr Med 143: 18–19 (2001) Elmadfa I, Leitzmann C: Ernährung des Menschen. Ulmer, Stuttgart (2004) Elsas LJ, Acosta PB: Nutritional support of inherited matabolic disease. In: Shils ME et al. (ed.): Modern nutrition in health and disease, Williams & Wilkins, Baltimore (1999) Henzgen M, Vieths S, Reese I: Nahrungsmittelallergien durch immunologische Kreuzreaktionen. Allergol J 14: 48–59 (2004) Hertzler SR, Huynh BC, Savaiano DA: How much lactose is low lactose?J Am Diet Assoc 96(3): 243–246 (1996) Lepp U, Ehlers I, Erdmann S et al.: Therapiemöglichkeiten bei der Ig-vermittelten Nahrungsmittelallergie Allergol J 11: 156–162 (2002) Rusynyck RA, Still CD: Lactose intolerance. J Am Osteopath Assoc 101(Suppl 4): 10–12 (2001) Schäfer T, Breuer K: Epidemiologie von Nahrungsmittelallergien. Hautarzt 54: 112–120 (2003) Swagerty DL Jr, Walling AD, Klein RM: Lactose intolerance. Am Fam Physician 65: 1845–1850 (2002) Swallow DM: Genetics of lactase persistence and lactose intolerance. Annu Rev Genet 37: 197–219 (2003)
1
4
7 8
. Tab. 13.8 Erlaubte und nicht erlaubte Nahrungs-
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
13.5
Zusammenfassung
Nahrungsmittelunverträglichkeiten beruhen auf verschiedenen Mechanismen, die zu krankhaften Reaktionen nach dem Verzehr bestimmter Nahrungsmittel führen. Die Nahrungsmittelallergie ist eine immunologische Reaktion auf einen Nahrungsmittelinhaltsstoff, die zu unterschiedlichen Symptomen an verschiedenen Organen führen kann. Bei Kindern sind es primär Kuhmilch und Eier, bei Erwachsenen vornehmlich Gemüse und Früchte, die sich als problematisch erweisen. Zur Prävention und Therapie müssen die entsprechenden Allergene gemieden werden. Bei Pseudoallergien liegt keine immunologische Reaktion vor, die Symptome und die Therapie sind die gleichen wie bei der Nahrungsmittelallergie, d. h. Meidung der problematischen Nahrungsmittel, Selbstherstellung von Speisen und Vorsicht beim Einkauf von Fertigprodukten. Bei der Laktoseintoleranz liegt ein Mangel oder eine verringerte Aktivität der Laktase vor, sodass nach Konsum von Milchprodukten Diarrhö mit Gasbildung auftritt. Der Verzehr geringer Mengen an Milchprodukten ist auch bei bestätigter Laktoseintoleranz meist symptom-
219
Hypertonie Rolfdieter Krause
14.1
Einleitung – 220
14.1.1 14.1.2 14.1.3 14.1.4
Definition der Hypertonie – 220 Pathophysiologie – 220 Klinik – 220 Behandlungsprinzipien – 221
14.2
Ernährungstherapie der Hypertonie – 221
14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.2.4 14.2.5 14.2.6 14.2.7 14.2.8 14.2.9 14.2.10
Übergewicht – 221 Kochsalz- und Natriumgehalt der Nahrung – 221 Kaliumgehalt – 222 Ungesättigte Fettsäuren/ω-3-Fettsäuren – 223 Alkoholkonsum – 224 Vegetarische Kost – 224 Mediterrane Kost – 224 DASH-Diät – 225 Koffeinzufuhr – 225 Spezielle Lebensmittel – 225
14.3
Lebensstilmodifikation – 225
14.4
Zusammenfassung – 226
14
220
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Kapitel 14 · Hypertonie
Die arterielle Hypertonie ist eine sogenannte Volkskrankheit. Bürger über 50 Jahre haben zu mehr als der Hälfte zu hohen Blutdruck. In über 90 % der Fälle liegt eine essenzielle Hypertonie vor. Genetische Disposition begünstigt die Krankheit, Übergewicht und kochsalzreiche Ernährung können zur Manifestation führen. Jede Form der Hypertonie ist behandlungsbedürftig. Eine Säule der nichtmedikamentösen Therapie ist die Ernährung. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 die Pathophysiologie, Klinik und Behandlungsprinzipien der Hypertonie, 4 die Beziehungen zwischen überkalorischer Ernährung bzw. Übergewicht und Hypertonie, 4 den Einfluss von Kochsalz- bzw. Natriumgehalt, 4 den Einfluss von Alkoholkonsum, 4 und die Wirkung vegetarischer Kostformen auf den Blutdruck.
14.1
Einleitung
14.1.1
Definition der Hypertonie
Eine Hypertonie liegt dann vor, wenn die im Sitzen oder Liegen gemessenen Blutdruckwerte mehrfach über 140 (systolisch) bzw. 90 mm Hg (diastolisch) erhöht sind (Deutsche Hochdruckliga 2001, 2009; . Tab. 14.1). Ca. 50 % der Bevölkerung leiden an Hypertonie, von diesen wiederum wissen ca. 75 % nichts von ihrer Erkrankung (Chobanian 2009).
15 16
. Tab. 14.1 Hochdruckklassifikation der Deutschen Hochdruckliga (Deutsche Hochdruckliga 2010)
17
Optimal
<120/<80 mm Hg
Normal
120–129/80–84 mm Hg
Hoch normal
130–139/85–89 mm Hg
Leichte Hypertonie
140–159/90–99 mm Hg
Mittlere Hypertonie
160–170/100–109 mm Hg
Starke Hypertonie
>180/>110 mm Hg
Isolierte systolische Hypertonie
>140/<90 mm Hg
18 19 20
Nur ein kleiner Teil der Hypertoniepatienten wird jemals im Verlauf der Erkrankung symptomatisch (Kopfschmerz, Schwindel, Konzentrationsstörungen). Aber die Hypertonie ist ein Hauptrisikofaktor für Arteriosklerose und deren Komplikationen, insbesondere für Schlaganfall und Herzinfarkt. Auch die Entwicklung einer Niereninsuffizienz, der Herzinsuffizienz im Rahmen der hypertensiven Herzkrankheit sowie ophthalmologischer Komplikationen wie Netzhautablösung werden durch die Hypertonie begünstigt.
14.1.2
Pathophysiologie
Man unterscheidet den primären oder essenziellen Hochdruck, der in ca. 90 % aller Fälle vorliegt, von den sekundären Formen. Beim essenziellen Hochdruck ist die Ursache unbekannt. Er geht in der Regel mit einer erblichen Disposition einher, die meist durch Übergewicht oder durch eine kochsalzreiche Ernährung im Alter zwischen 35 und 55 Jahren manifest wird. Ursache des sekundären Hochdrucks können folgende Erkrankungen bzw. auslösenden Faktoren sein: 4 chronische Nierenerkrankungen (wie Glomerulonephritis, Pyelonephritis, Zystennieren oder Schwangerschaftsnephropathien) 4 Gefäßerkrankungen (wie allgemeine Arteriosklerose, Einengung einer Nierenarterie oder Aortenisthmusstenose) 4 hormonelle Erkrankungen (wie Cushing-Syndrom, Phäochromozytom, primärer Hyperaldosteronismus oder Hyperthyreose) 4 Medikamente (z. B. Analgetika, Östrogene, Anabolika oder Kortikoide) 4 Nahrungsmittel (insbesondere übermäßiger Genuss von Lakritz)
14.1.3
Klinik
Die absolute Höhe des Blutdrucks ist sowohl beim Gesunden als auch beim Hypertoniker abhängig von der Intensität körperlicher Anstrengung und psychischer Belastung. Beim Hypertoniker liegen diese Blutdruckspitzen entsprechend dem höhe-
14
221 14.2 · Ernährungstherapie der Hypertonie
ren Ruhewert auf einem höheren Niveau. Das gleiche gilt für die Schwankungen in der 24-StundenRhythmik der Blutdruckregulation. Nachts liegen die Blutdruckwerte bei Gesunden und bei Hypertonikern deutlich niedriger als am Tage. Diese Rhythmik ist bei sekundären Hypertonieformen öfter gestört.
14.1.4
Behandlungsprinzipien
Alle Patienten mit arterieller Hypertonie sind behandlungsbedürftig, da schwere Gefäßkomplikationen drohen. Therapieziel ist immer die Normalisierung des Blutdrucks (Rahn 2009). Bei der essenziellen Hypertonie sind die Basis nichtmedikamentöse Maßnahmen (Diät, körperliches Training, Ausschalten von Stress). Erst wenn diese Maßnahmen nicht ausreichen, muss eine medikamentöse Therapie ergänzt werden (Lichtenstein et al. 2006). Häufig ist die essenzielle Hypertonie Folge von anderen Krankheiten wie Diabetes mellitus und metabolischem Syndrom mit Risikofaktoren wie Rauchen, Übergewicht, Hyperlipidämie und Insulinresistenz. Es muss immer auch eine entsprechende Behandlung dieser Begleiterkrankungen und Risikofaktoren erfolgen.
14.2
Ernährungstherapie der Hypertonie
Von den nichtmedikamentösen Behandlungsmöglichkeiten ist die Diättherapie bei einer Vielzahl der essenziellen Hypertoniker bereits allein wirksam. Von den vielen Diäten sind einige auch bereits in Studien untersucht worden.
14.2.1
Übergewicht
Dass Übergewicht (BMI etwa >35 kg/m2) häufig mit essenzieller Hypertonie assoziiert ist, gilt insbesondere seit der Framingham-Studie (Johnson et al. 1973) sowie einer groß angelegten Studie des National Institute of Health (Trials of Hypertension Pre-
. Tab. 14.2 fuhr.
Richtwerte für die tägliche Energiezu-
Alter (Jahre)
Energiezufuhr Mann
Energiezufuhr Frau
15 bis 19
3100 kcal
2500 kcal
19 bis 25
3000 kcal
2400 kcal
25 bis 51
2900 kcal
2300 kcal
51 bis 65
2500 kcal
2000 kcal
über 65
2300 kcal
1800 kcal
Die Werte gelten für Personen mit leichter körperlicher Tätigkeit. Quelle: »D-A-CH: Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr«
vention Collaborative Research Group 1997) als gut belegt. Der systolische Blutdruck konnte hier z. B. um etwa 1 mm Hg pro kg Gewichtsabnahme gesenkt werden. Alleinige Kalorienreduktion mit einer konsekutiven Gewichtsabnahme von 50 % über BrocaNormalgewicht auf 30 % über Broca-Normalgewicht führte ebenfalls zu einer Verbesserung oder sogar Normalisierung der Hypertonie. Eine Erklärung dafür, dass Übergewicht zu hohem Blutdruck führt, wird auch darin gesehen, dass bei Übergewichtigen eine erhöhte sympathikotone Regulationslage vorliegt, die mit dem Ausmaß der Hypertonie korreliert (Manicardi et al. 1986) (. Tab. 14.2).
14.2.2
Kochsalz- und Natriumgehalt der Nahrung
Dass Kochsalz in der Genese der Hypertonie eine wichtige Rolle spielt, ist heute allgemein anerkannt. Epidemiologische Studien (Übersicht bei Smith 1978) zeigen, dass bei Völkern mit niedriger Kochsalzzufuhr Hypertonie sowie Blutdruckanstieg mit zunehmendem Alter seltener sind (Luft et al. 1991). Anderseits leiden Angehörige von Völkern mit hoher Kochsalzzufuhr häufig an Hypertonie. Dementsprechend empfiehlt die WHO (2006) eine natrium- und zugleich kochsalzarme Diät.
222
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 14 · Hypertonie
. Tab. 14.3 Hauptlebensmittelquellen für die Zufuhr von Natrium %
Mittelwert [g/Woche]
Gebäck
31,2
5,73
Fleischwaren
26,2
4,81
Brot
18,5
3,40
Käse
8,6
1,58
Fisch, Fischwaren
4,4
0,80
Fleisch
4,2
0,78
Gesamt
93,1
17,10
> Der durchschnittliche Kochsalzverzehr liegt in Deutschland sehr hoch, er beträgt 8–12 g/Tag (Deutsche Hochdruckliga 2009).
Die Natriumzufuhr ist besonders bei männlichen Jugendlichen und bei Frauen bis zum 50. Lebensjahr um das 1,5- bis 2-Fache erhöht. Die hauptsächlichen Kochsalzquellen sind Brot, Fleisch und Wurstwaren (zus. 40–50 %) sowie Milchprodukte und Käse (ca. 10–20 %). Eine Senkung dieser Salzbelastung wäre nur durch eine entsprechende Einflussnahme auf die Nahrungsmittelindustrie erreichbar. Eine strenge Natriumrestriktion mit weniger als 1 g Kochsalz/Tag führt praktisch immer zum Blutdruckabfall, während eine weniger strenge Einschränkung nur bei den sogenannten »salzsensiblen« Menschen – das sind etwa 60 % der Hochdruckpatienten – den Blutdruck senkt. Eine Reduktion auf 3–4 g Kochsalz (entspricht ca. 1.500– 2.000 mg Natrium) pro Tag kann den systolischen Blutdruck um 2–8 mm Hg senken (Trials of Hypertension Prevention Collaborative Research Group 1997; . Tab. 14.3, mod. nach Kasper 2000). Ob die blutdruckerhöhende Wirkung des Kochsalzes dem Natriumion allein oder auch dem Chlorid zuzuschreiben ist, ist nicht geklärt. So ergab die Zufuhr von Natriumhydrogenkarbonat in Form einer Mineralwassertrinkkur sogar eine Blutdrucksenkung (Gutenbrunner et al. 1990). Eine kochsalzarme Diät (mit 2–3 g Salz/Tag) oder eine salzreduzierte Kost (mit 3–4 g Koch-
salz/Tag) ist bei essenziellen Hypertonikern immer angezeigt. Da in der Lebensmittelindustrie außer Kochsalz auch andere, nicht salzig schmeckende Natriumsalze wie Natriumphosphat, -nitrat und -nitrit oder -alginat Verwendung finden, ist es am günstigsten, zur Herstellung einer natriumarmen oder -reduzierten Kost auf naturbelassene und zusätzlich auf speziell hergestellte und entsprechend deklarierte natriumarme Lebensmittel, die nicht mehr als 120 mg Na+/100 g enthalten dürfen, zurückzugreifen. Getränke dürfen in Deutschland als natriumarm bezeichnet werden, wenn sie weniger als 20 mg Na+/l enthalten. Der Natriumgehalt von Mineralwässern ist in . Tab. 14.4 (mod. nach Kluthe u. Quirin 1993) aufgeführt.
14.2.3
Kaliumgehalt
Eine Reihe von Untersuchungen spricht dafür, dass die Höhe des Blutdrucks nicht allein von der Natriumzufuhr, sondern auch vom Natrium-KaliumVerhältnis in der Nahrung abhängt (Cook et al. 2009). Eine hohe Kaliumzufuhr schwächt offenbar die blutdruckerhöhende Eigenschaft des Natriums ab. In Populationen mit hoher Kaliumzufuhr ist Hochdruck selten. Ursache der Blutdrucksenkung durch Kaliumzufuhr könnte eine Erhöhung der Natrium- und Wasserausscheidung durch die Niere sein. Kalium ist reichlich enthalten in Obst, Reis und Kartoffeln. Sogenannte »Obsttage« (1–1,5 kg Obst/Tag), »Kartoffeltage« (1 kg Kartoffeln ohne Salz gekocht/Tag), Kempnersche Reistage (Kemp-
14
223 14.2 · Ernährungstherapie der Hypertonie
. Tab. 14.4 Natriumgehalt von Heilbrunnen resp. Mineralwässern Natrium [mg/l]
Chlor [mg/l]
Kalzium [mg/l]
Natriumgehalt unter 20 mg/l Brückenauer Wernarzer Brunnen
2,4
4,2
15,0
Dürrheimer Johannisquelle, stilles Mineralwasser
4,3
9,6
342,8
Bertholdsquelle
4,3
5,1
324,6
Volvic
8,0
11,5
309,9
Rietenauer Heiligenthalquelle
10,0
18,5
546,0
Bismarck-Quelle
11,8
18,3
82,0
Dürrheimer Johannisquelle, Mineralwasser
12,8
37,9
338,7
Perrier
14,0
30,0
140,4
Wildunger Reinhards-Quelle
16,4
17,7
155,4
Harzer Grauhof
18,4
28,9
113,0
Niedernauer Römerquelle
24,0
19,4
–
Auberg-Quelle
24,4
23,0
110,0
Göppinger Sauerbrunnen
26,9
7,2
–
Wildunger Georg-Viktor-Quelle
41,7
7,8
202,3
Gerolsteiner Stern
128,2
38,9
–
Rippoldsauer Leopoldsquelle
147,2
25,2
205,8
Rippoldsauer Mineralwasser
201,0
30,0
321,0
Natriumgehalt 20–200 mg/l
– es liegen keine Analysen vor
ner 1948) oder auch Saft- oder Rohkosttage haben eine günstige Wirkung auf erhöhte Blutdruckwerte (Kasper 2000). Wichtig scheint das Verhältnis von Natrium- und Kalium-Ausscheidung im Urin zu sein. Als tägliche Aufnahme mit der Nahrung werden deshalb bei 50–65 mmol Natrium etwa 120 mmol Kalium empfohlen (Adrogué u. Madias 2007). Naturbelassene Nahrungsmittel entsprechen diesem Verhältnis von Kalium zu Natrium bei 10–20:1 (Hoyer 2009). (. Tab. 14.5)
14.2.4
Ungesättigte Fettsäuren/ ω-3-Fettsäuren
Die Ergebnisse diesbezüglicher Studien sind widersprüchlich. So konnte Puska (1983) zeigen, dass eine fettreduzierte Kost mit einem hohen Anteil an mehrfach ungesättigten Fettsäuren den Blutdruck senkt. Der blutdrucksenkende Effekt ungesättigter Fettsäuren scheint jedoch sehr gering (Margetts et al. 1988). Ihre blutdrucksenkende Wirkung kann durch eine Steigerung der Prostaglandinbildung durch die vermehrt gebildete Arachidonsäure erklärt werden. Prostaglandine führen zu einer Verbesserung der renalen Durchblutung sowie zu einer Gefäßdilatation.
224
1 2
Kapitel 14 · Hypertonie
. Tab. 14.5 Kaliumreiche Lebensmittel Besonders Kaliumreich (mehr als 500 mg je 100 g Ware) sind: Gemüse
Fenchel, Gartenkresse, Kartoffeln, Meerrettich, Petersilie (bis 1000 mg/100 g), Knoblauchsaft
Pilze
Pfifferlinge, Steinpilze
Dörrobst
Äpfel, Aprikosen und Bananen sowie Pfirsiche (über 1100 mg/100 g), Birnen, Datteln, Feigen, Korinthen/Rosinen/Sultaninen, Pflaumen
Obst, frisch
Avocado; in Mengen über 300 mg/100 g auch: Bananen, schwarze Johannisbeeren, Kiwi, Passionsfrucht
Hülsenfrüchte
Bohnen und Sojabohnen (mehr als 1000 bzw. 1750 mg /100 g), Erbsen, Kichererbsen, Linsen
Nüsse und Samen
Erdnüsse, Kokosnuss, Kürbiskerne, Mandeln, Haselnüsse, Paranüsse, Walnüsse, Sonnenblumenkerne
Getreide, Getreideerzeugnisse
8
Weizen, Weizenkeim-Flocken (über 1000 mg/100 g), Sojamehle (bis über 2000 mg/100 g)
Fleisch, Geflügel, Wild
Für die gängigen Fleischsorten liegen die Kaliumgehalte mit Werten zwischen 300 und 400 mg ebenfalls hoch
9
Fisch, frisch
Für die gängigen Frisch-Fischsorten liegen die Kaliumgehalte mit Werten zwischen 300 und 500 mg ebenfalls hoch
3 4 5 6 7
10
aus: Blutdruck senken ohne Medikamente. Middeke MRF, Pospisil E, Völker K. 6. Aufl, TRIAS-Verlag, 2005
11 12 13 14
Auch den ω-3-Fettsäuren, langkettigen, hoch ungesättigten Fettsäuren, die in Meeresalgen gebildet werden und in Fischölen vorkommen, wird eine blutdrucksenkende Wirkung zugeschrieben (7 Kap. 7). Dies beruht wohl ebenfalls auf der vermehrten Bildung von gefäßerweiterndem Prostazyklin.
15 14.2.5
16 17 18 19 20
Alkoholkonsum
Regelmäßiger Alkoholkonsum erhöht den Blutdruck, und zwar kommt es bei einer Alkoholzufuhr von 30 g/Tag zu einem Anstieg des systolischen und diastolischen Blutdrucks um 2–6 mm Hg (Saunders u. Beevers 1981, Trials of Hypertension Prevention Collaborative Research Group 1992, 1997). Hochdruckkranke sollten auf regelmäßigen Alkoholgenuss verzichten bzw. eine Zufuhr von 20 g reinem Alkohol pro Tag nicht überschreiten, das entspricht 0,2 l Wein oder 0,5 l Bier. (. Tab. 14.6)
14.2.6
Vegetarische Kost
Unter vegetarischer Kost (7 Kap. 9) sinkt der Blutdruck leicht ab (Rouse u. Beilin 1984, Hu 2003, Berkow u. Barnard 2005). Dabei ist unklar, welcher Faktor in der vegetarischen Kost diese Senkung bewirkt bzw. ob es sich um einen Selektionsmechanismus handelt, nach dem Vegetarier trotz Korrektur für Körperkonstitution, Rauch- und Alkoholgenuss usw. noch weitere gesundheitsfördernde Eigenschaften aufweisen. Infrage kommen bei gleicher Natriumzufuhr höhere Aufnahmen für Kohlenhydrate, mehrfach ungesättigte Fettsäuren, Kalium, Kalzium und Ballaststoffe sowie niedrigere für Eiweiß.
14.2.7
Mediterrane Kost
Zur mediterranen Kost und ihrem Einfluss auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen 7 Kap. 12.
225 14.3 · Lebensstilmodifikation
14
. Tab. 14.6 Alkoholgehalt von Getränken Getränk
Alkoholgehalt in Vol %
in g/100 ml
alkoholfreies Bier
< 0,5
<0,4
Leichtbier
2–3
1,5–2.5
Altbier
3,6–5
3–4
Bier, hell, Export
3,5–5
3–4
Starkbier
5–8
4–6
Apfelwein
5
4
Rotwein
9–12
7–9
Weißwein
10–12
8–9
Sekt
10–12
8–9
Dessertwein
16–18
13–14
Liköre
30–40
24–31
Korn
31–35
25–28
Schnaps (Geist, Weinbrand)
38–45
30–36
Cognac
10
31
Rum
45–55
36–43
aus: Bluthochdruck – das lässt sich regeln! Empfehlungen für Betroffene. Deutsche Hochdruckliga e.V. Heidelberg (7. Auflage) 2009
14.2.8
DASH-Diät
Die DASH-Diät (Dietary Approches to Stop Hypertension) beinhaltet 8 Elemente: Obst und Gemüse, Vollkornprodukte, Nüsse, Ballaststoffe, fettarme Milchprodukte, Fisch; Verzicht auf rotes Fleisch und Süßigkeiten; Getränke mit Süßstoff. Diese Auswahl gewährt eine hohe Zufuhr an Kalium, Kalzium und Magnesium. Es wurde eine Blutdrucksenkung bis zu 11/6 mm Hg beobachtet, zudem eine Senkung der Risiken für koronare Herzkrankheit bis 24 % und für Schlaganfall bis 18 % (Sacks et al. 2001).
14.2.9
te Blutdruckwerte hatten, gegenüber den NichtKaffeetrinkern allerdings nicht erhöht (Klag et al. 2002).
14.2.10
Spezielle Lebensmittel
In der Volksmedizin wird diversen Lebensmitteln wie z. B. Knoblauch, Zwiebeln, Joghurt, Hülsenfrüchten eine blutdrucksenkende Wirkung zugesprochen. Dies ist bisher aber wissenschaftlich durch entsprechende Studien nicht ausreichend gesichert.
Koffeinzufuhr 14.3
Koffein kann zu einem kurzfristigen Blutdruckanstieg und einer Aktivierung des Sympathikotonus führen (Risken et al. 2009). In der FraminghamStudie (1968) war die Gesamtmortalität der Kaffeetrinker, die normotone oder nur leicht erhöh-
Lebensstilmodifikation
Die aufgezeigten Möglichkeiten erfordern zur Behandlung der Hypertonie eine Änderung des Lebensstils. Dies beinhaltet Gewichtskontrolle und ggf. -reduktion, regelmäßige körperliche Aktivität,
226
1 2 3 4 5 6
Kapitel 14 · Hypertonie
Alkoholreduktion, Kochsalzreduktion und Erhöhung der Kalium- und Magnesiumzufuhr. Durch diese Maßnahmen können folgende systolische Blutdrucksenkungen erreicht werden: 4 10 kg Gewichtsabnahme: bis zu 5–10 mm Hg 4 körperliche Aktivität: 4–9 mm Hg 4 Natriumreduktion: 2–8 mm Hg 4 Alkoholreduktion: 2–4 mm Hg Ohne strukturierte Schulungsprogramme ist dies oft schwierig zu erreichen. Die Deutsche Hochdruckliga (DHL) hat im Rahmen der Schulung für Hypertonieassistenten ein entsprechendes Curriculum entwickelt (www.hochdruckliga.de).
7 14.4
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Zusammenfassung
Als bedeutsamer Teil der Lebensstiländerungen ist eine gezielte Ernährung Bestandteil der nichtmedikamentösen Therapie der Hypertonie. Wichtigste Komponenten sind salzarme, kaliumreiche Kost sowie Alkoholabstinenz. Dadurch lässt sich eine leichte bis mittlere Hypertonie oft ohne Einsatz von Medikamenten normalisieren. Zusätzlich sind Gewichtsreduktion, regelmäßige körperliche Aktivität sowie der Abbau evtl. vorhandenen Stresses (z. B. auch durch autogenes Training oder progressive Muskelrelaxation) zu empfehlen.
Literatur Adrogué HJ, Madias NE: Sodium and potassium in the pathogenesis of hypertension. NEJM 356:1966–1978 (2007) Berkow SE, Barnard ND: Blood pressure regulation and vegetarian diets. Nutrition Reviews 63:1–8 (2005) Chobanian C: The Hypertension Paradox – More uncontrolled Disease despite Improved Therapy. NEJM 361:878–887 (2009) Cook NR, Obarzanek E, Cutler JA et al.: Joint effects of sodium and potassium intake on subsequent cardiovascular disease: the trials of hypertension prevention follow-up study. Arch Intern Med 169:32–40 (2009) D-A-CH (Deutschsprachige Gesellschaften für Ernährung): Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr. Umschau /Braus, Frankfurt/Main (2008) Deutsche Hochdruckliga: Leitlinien für die Prävention, Erkennung, Diagnostik und Therapie der arteriellen Hypertonie. DMW 126:S201–S238 (2001)
Deutsche Hochdruckliga: Leitlinien zur Behandlung der arteriellen Hypertonie. http://leitlinien.net/046-001.pdf. Cited 23 Oct 2009 Gutenbrunner C, Beudet-Jalladeu M, Hildebrandt G: Doppelblindstudie über die Wirkung von Haustrinkkuren mit einem Natrium-Hydrogenkarbonat-Säuerling auf den Blutdruck von Patienten mit arterieller Hypertonie. VitaMinSpur 5:73–79 (1990) Heine H, Heinemann L, Barth W et al.: Salt consumption and salt intervention studies in the German Republic. In: Rettig R, Ganten D, Luft F (Ed.): Salt and Hypertension. Dietary minerals, volume homeostasis and cardiovascular regulation. Springer, Berlin Heidelberg New York (1989), S. 293–299 Hoyer J (Hrsg.): Weniger Salz für alle. DMW 134(Suppl. 3): S108–S118 (2009) Hu FB: Plant-based foods and prevention of cardiovascular disease: an overview. Am J Clin Nutr 78(Suppl. 3):544S– 551S (2003) Johnson VC, Karunas M, Epstein FH: Longitudinal change in blood pressure in individuals, families and social groups. Cli Sci Molec Med 45:35S (1973) Kasper H: Ernährungsmedizin und Diätetik. 9. Aufl. Urban und Schwarzenberg, München (2000) Kempner W: Treatment of hypertensive vascular disease with rice diet. Amer J Med 4:545s (1948) Klag MJ, Wang NY, Meoni LA et al.: Coffee intake and risk of hypertension: the John Hopkins precursors study. Arch Intern Med 261: 657–662 (2002) Kluthe R, Quirin H. Diätbuch für Nierenkranke. Ratgeber für Nierenkranke, Diätassistenten und Ärzte. 7. Aufl. Trias, München (1993) Lichtenstein AH, Appel LJ, Brands M et al.: Diet and lifestyle recommendations revision 2006: a scientific statement from the American Heart Assiciation Nutrition Committee. Circulation 114:82–96 (2006) Luft FC, Miller JZ, Grim CE et al.: Salt sensitivity and resistance of blood pressure. Age and race as factors in physiological responses. Hypertension 17(Suppl. 1):I102– I108 (1991) Manicardi V, Camellini L, Bellodi G et al.: Evidence for an association of high blood pressure and hyperinsulinaemia in obese men. J Clin Endokr Metabol 62:1302S (1986) Margetts BM, Beilin LJ, Armstrong BK: Vegetarian diet in mild hypertension – effect of fat and fiber. Am J Clin Nutr 48:801–805 (1988) Middeke MRF, Pospisil E, Völker K: Blutdruck senken ohne Medikamente. 6. Aufl. TRIAS, Stuttgart (2005) Puska P: Controlled randomized trial of the effect of dietary fat on blood pressure. Lancet I:1 (1983) Rahn KH: Leitliniengerechte Differentialtherapie der Hypertonie. Internist 50:433–441 (2009) Risken NP, Rongen GA, Smits P: Acute and long-term cardiovascular effects of coffee; implications for cononary heart disease. Pharmacol Ther 121(2): 185–191 (2009) Rouse JL, Beilin LJ: Vegetarian diet and blood pressure. J. Hypertension 2:231–340 (1984)
227 Literatur
Sacks FM, Sveikey LP Vollmer WM et al./DASH-Sodium Collaborative Research Group: Effects on blood pressure of reduced dietary sodium and dietary approches to stop hypertension (DASH) diet. NEJM 344:3–10 (2001) Saunders JB, Beevers BG: Alcohol-induced hypertension. Lancet 2:653–656 (1981) Smith WM: Natrium-Aufnahme und Epidemiologie der Hypertonie des Menschen. Akt Ernährung 6:201–206 (1978) The Trials of Hypertension Prevention Collaborative Research Group: The effects of nonpharmacologic interventions on blood pressure of persons with high normal levels. Results of the trials of hypertension prevention, Phase I. JAMA 267: 1213 ff. (1992) The Trials of Hypertension Prevention Collaborative Research Group: Effect of weight loss and sodium reduction intervention on blood pressure and hypertension incidence in overweight people with high-normal blood pressure. The Trials of Hypertesion Prevention, Phase II. Arch Intern Med 157:657ff. (1997) World Health Organisation (WHO):Reducing Salt Intake in Populations. Report of a WHO Forum (2006)
14
229
Nierenerkrankungen Rolfdieter Krause, Irmgard Landthaler
15.1
Häufigkeit, Einteilung und Verlauf von Nierenerkrankungen – 230
15.2
Ernährungstherapeutische Maßnahmen – 230
15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4
Akute bakterielle Nierenerkrankungen – 230 Akutes Nierenversagen – 231 Chronische Niereninsuffizienz – 231 Nierensteine – 237
15.3
Zusammenfassung – 237
15
230
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 15 · Nierenerkrankungen
Bei den Nierenerkrankungen können akute und chronische Verlaufsformen unterschieden werden. Beide können bis zum terminalen Nierenversagen mit Dialysepflicht führen. Als nichtmedikamentöse Maßnahmen müssen in den verschiedenen Stadien unterschiedliche diätetische Regeln beachtet werden. Hierdurch kann die Progression oft günstig beeinflusst werden. Zusätzlich ist auf eine ausreichende Trinkmenge und Urinausscheidung zu achten. In diesem Beitrag lesen Sie: 4 eine kurze Darstellung der Häufigkeit und Einteilung von Nierenerkrankungen, 4 eine Beschreibung der ernährungstherapeutischen Maßnahmen in den verschiedenen Stadien der chronischen Niereninsuffizienz, bei Dialysepatienten und bei Nierentransplantierten.
15.1
Häufigkeit, Einteilung und Verlauf von Nierenerkrankungen
Nicht jede akute Nierenerkrankung führt zu einer chronischen Niereninsuffizienz. Viele Menschen haben im Laufe ihres Lebens eine oder mehrere Mandelentzündungen, Blasenentzündungen oder sogar eine Nierenbeckenentzündung durchgemacht oder ein Nierenstein ist abgegangen, ohne dass sich daraus eine chronische Nierenerkrankung entwickelt hat (White et al. 2005). Bis eine Nierenerkrankung chronisch geworden ist, erstreckt sich dies häufig über Jahre bis Jahrzehnte und verläuft in der Regel symptomlos. Oft wird die Erkrankung zufällig bei einer Routineuntersuchung festgestellt. Zurzeit werden in Deutschland etwa 1.200 Patienten/Mio. Einwohner mit Nierenersatztherapie, d. h. Dialyseverfahren und/oder Nierentransplantat, behandelt. Die zum terminalen Nierenversagen führenden Grundleiden verteilten sich wie folgt (Frei u. Schober-Halstenberg 2008): 4 bei 34 % lag eine Schädigung der Niere durch Diabetes mellitus vor (Typ 2: 32 %, Typ 1: 2 %, diabetische Nephropathie), 4 bei 24 % lag eine Schädigung infolge Hypertonie vor (vaskuläre Nephropathie), 4 13 % hatten eine chronische Entzündung der Nierenkörperchen (Glomerulonephritis),
4 bei 8 % der Fälle handelte es sich um chronische Entzündungen des Nierenbeckens oder des Nierengewebes (Folge von aufsteigenden Infektionen oder (Medikamenten-/Kontrastmittel-) toxische Folgen). 4 Die restlichen verteilen sich auf Zystennierenerkrankungen (5 %), andere angeborene oder vererbliche Erkrankungen (1 %) oder Nierenbeteilungen bei sog. Systemerkrankungen (4 %), in den übrigen 11 % blieb die Genese ungeklärt.
15.2
Ernährungstherapeutische Maßnahmen
Die Problematik in der Ernährungstherapie bei Nierenerkrankungen besteht darin, dass es aus mehreren Gründen keine einheitliche »Nierendiät« gibt. Bei den verschiedenen Nierenkrankheiten werden die renalen Funktionen unterschiedlich gestört (Zürcher 2003). Auch innerhalb derselben Krankheitsgruppe bestehen oft sehr große Unterschiede, so kann es beispielsweise im Prädialysestadium sowohl zu einer Hypokaliämie als auch zu einer Hyperkaliämie kommen. Beim akuten Nierenversagen entspricht der Nährstoffbedarf dem der Patienten mit chronischem Nierenversagen. Als Übersicht ist der Nährstoff- und Mineralstoffbedarf von nierenkranken Patienten in . Tab. 15.1 zusammengefasst.
15.2.1
Akute bakterielle Nierenerkrankungen
Die häufigsten »Nierenerkrankungen« überhaupt sind »aufsteigende« bakterielle Harnwegsinfekte, die meistens nur die Harnblase betreffen, bei denen aber eine Beteiligung des Nierenbeckens möglich ist. Während der banale Harnwegsinfekt in aller Regel ausheilt, können Entzündungen des Nierenbeckens chronisch werden, insbesondere wenn als begünstigender Faktor eine Harnabflussstörung vorliegt. Bei diesen akuten Urozystitiden oder Pyelonephritiden ist die Förderung der Diurese und damit der Bakteriurese durch reichliches Trinken von
15
231 15.2 · Ernährungstherapeutische Maßnahmen
. Tab. 15.1 Täglicher Nährstoff- und Mineralstoffbedarf von Patienten mit chronischem Nierenversagen (EDTNA/ERCA 2003) Chronisches Nierenversagen
Hämodialyse
Peritonealdialyse
Energie
35 kcal/kg KG/Tag
35 kcal/kg KG/Tag
35 kcal/kg KG/Tag inklusive der Glukose aus der Dialyselösung
Protein
0,6–1,0 g/kg KG/Tag
1,0–1,2 g/kg KG/Tag
1,0–1,5 g/kg KG/Tag
Phosphora
600–1.000 mg (19–32 mmol)
1.000–1.400 mg (32–45 mmol)
1.000–1.400 mg (32–45 mmol)
Kaliuma,b
2.000–2.500 mg (50–65 mmol) selten reduziert
2.000–2.500 mg (50–65 mmol)
2.000–2.500 mg (50–65 mmol) selten reduziert
Natriuma,c
1.800–2.500 mg (80–110 mmol)
1.800–2.500 mg (80–110 mmol)
1.800–2.500 mg (80–110 mmol)
Flüssigkeit
Individuelle Verordnung
500 ml + Restausscheidung
800 ml + Restausscheidung
a
Die Mengen bei Kalium, Natrium und Phosphor beziehen sich auf einen Patienten mit einem Durchschnittsgewicht von 60–80 kg und müssen für Patienten mit einem Körpergewicht außerhalb dieser Werte angepasst werden b Der individuelle Bedarf kann sehr unterschiedlich sein c Supplementierung bei Salzverlustniere
Flüssigkeit von großer Bedeutung (Ziel ca. 2–2,5 l Urinmenge in 24 h). Als Getränke sind natriumarme Mineralwässer oder (Blasen-)Tees besonders geeignet, und zwar etwa 2,5 bis max. 3,0 l in 24 h. Die Ernährung soll qualitativ hochwertig und eher energiereich sein (. Abb. 15.1, mod. nach Kluthe u. Quirin 1993).
15.2.2
Akutes Nierenversagen
Das akute Nierenversagen, bei welchem die Nieren ihre Funktion vorübergehend auch völlig einstellen können, ist in der Regel eine Folge von Vergiftungen, schweren Unfällen oder Operationskomplikationen. Hier ist immer eine klinisch-stationäre Behandlung notwendig.
15.2.3
Chronische Niereninsuffizienz
Die chronische Niereninsuffizienz wird nach der glomulären Filtrationsrate in verschiedene Stadien eingeteilt (. Tab. 15.2). Die Früherkennung einer Niereninsuffizienz ist besonders wichtig, da alle Maßnahmen zur Pro-
. Tab. 15.2 Stadieneinteilung der Niereninsuffizienz nach glomerulärer Filtrationsrate (National Kidney Foundation 2002) Stadium
GFR [ml/min]
Schwerergrad
1
>90
–
2
60–89
Leichte Niereninsuffizienz
3
30–59
Mittelgradige Niereninsuffizienz
4
15–29
Präterminalstadium
5
<15
Terminale Niereninsuffizienz
GFR Glomeruläre Filtrationsrate
gressionshemmung in den Frühstadien der Niereninsuffizienz viel wirksamer sind als bei spät diagnostizierten und/oder spät behandelten Patienten. Das Ziel aller therapeutischen Bemühungen ist, das Fortschreiten der Nierenerkrankung zu verzögern. In aller Regel wird dies nicht durch eine einzelne Maßnahme möglich sein. Durch Kombi-
232
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Kapitel 15 · Nierenerkrankungen
nation verschiedener Ansätze lassen sich jedoch beachtliche Erfolge erzielen. Die Therapie beim chronischen Nierenversagen umfasst die Behandlung des Grundleidens (z. B. Hypertonie, Diabetes mellitus), die Verzögerung des Fortschreitens der Krankheit sowie die Behandlung der Begleiterkrankungen und Komplikationen (Davison et al. 2008). Der Serumkreatininspiegel ist primär von der Muskelmasse abhängig, während der Serumharnstoffspiegel von der Proteinzufuhr und der noch vorhandenen Nierenfunktion abhängt. > Bei einer glomerulären Filtrationsrate (GFR) <15 ml/min handelt es sich um eine terminale Niereninsuffizienz. Ein sofortiger Beginn der Dialyse ist notwendig, wenn urämische Symptome (Übelkeit, Erbrechen, Mangelernährung, Müdigkeit, Bewusstseinstrübung) oder Komplikationen wie beispielsweise Lungenödeme auftreten.
12
Generell ist unbedingt auf eine ernährungsphysiologisch vollwertige Ernährung zu achten, da der Ernährungsstatus entscheidend zur Prognose des Patienten beiträgt. Eine chronische Niereninsuffizienz ist auch schon bei milder Ausprägung mit einer deutlichen Steigerung von Morbidität und Mortalität assoziiert.
13
Allgemeine ernährungstherapeutische Maßnahmen
14
Um einen nierenkranken Patienten adäquat beraten zu können, muss die Therapie individuell geplant werden (National Kidney Foundation 2000). Dazu zählt eine Anamnese, die Folgendes umfassen sollte: 4 Stadium der Nierenerkrankung bzw. Art der Nierenersatztherapie 4 Grund- und Begleiterkrankungen (z. B. Diabetes mellitus, Zystennieren, Fettstoffwechselstörungen, gastroenterologische Erkrankungen, Tumorerkrankungen) 4 Ernährungsstatus 4 Laborparameter (Natrium, Kalium, Phosphat, Kalzium, Parathormon (PTH), Albumin, Kreatinin, Harnstoff) 4 Medikamente 4 Alter und Sozialstatus (psychosoziale Situation, Familienintegration, Lebensplanung, Unter-
10 11
15 16 17 18 19 20
stützung innerhalb und außerhalb der Familie, finanzielle Situation) 4 Bewältigungsmechanismen, beispielsweise ob der Patient seine Krankheit akzeptiert Die beschriebenen Ernährungsempfehlungen gelten primär für die Stadien 1 bis 4 der chronischen Niereninsuffizienz. Denn das Ziel der nephrologischen Therapie ist es, das sog. Terminalstadium, also die Nierenersatztherapiepflichtigkeit, zu verhindern. Nachfolgend sind einige Besonderheiten herausgestellt, die bei den 3 unterschiedlichen Modalitäten der Nierenersatztherapie zusätzlich zu beachten sind:
Besonderheiten bei Hämodialysebehandlung Ist eine regelmäßige Dialysebehandlung erforderlich, ergeben sich für den Nierenkranken erneut Ernährungsumstellungen. Diese beziehen sich v. a. auf die Proteinzufuhr, da unter Dialysebehandlung der Proteinbedarf erhöht ist. Die dabei anfallenden harnpflichtigen Substanzen werden durch die Dialyse eliminiert. Außerdem gehen während der Dialyse Aminosäuren und wasserlösliche Vitamine verloren, die durch eine adäquate Ernährung ersetzt werden müssen. Eine gezielte ernährungsmedizinische Therapie bringt für den Patienten eine Verbesserung der Lebensqualität und eine Verminderung therapiebedingter Nebenwirkungen. Dialyseleistung und Ernährung müssen miteinander im Gleichgewicht gehalten werden. Im Vergleich von Hämo- und Peritonealdialyse (HD bzw. PD) sind die Ernährungsempfehlungen bei Peritonealdialyse etwas weniger restriktiv, vor allem was Kalium betrifft.
Besonderheiten bei Peritonealdialysebehandlung Die Ernährungstherapie bei Peritonealdialyse unterscheidet sich von der Ernährungstherapie bei Hämodialyse in verschiedenen Punkten. Bei der Peritonealdialyse haben die Patienten meist eine bessere renale Restfunktion, sodass verschiedene urämische Symptome und Stoffwechselstörungen (z. B. Elektrolytentgleisungen) weniger ausgeprägt sind als bei Patienten unter einer HD-Therapie. Besonderheiten ergeben sich durch den peritonea-
233 15.2 · Ernährungstherapeutische Maßnahmen
len Verlust von Nährstoffen, besonders von Proteinen, und der zusätzlichen Glukoseaufnahme aus dem Dialysat. Der Verlust an Gesamtprotein ist bei der PD höher als bei der HD, ebenso der Verlust von proteingebundenen Substanzen wie Spurenelementen und einigen Vitaminen. Dagegen werden niedermolekulare, wasserlösliche Substanzen weniger effizient eliminiert. Durch eine Peritonitis kann der Verlust an Proteinen weiter erheblich ansteigen. Für die Phosphorzufuhr gelten für Hämodialyse und Peritonealdialyse die gleichen Richtlinien.
Nach Nierentransplantation Wenn die transplantierte Niere normal arbeitet, ist keine besondere Diät erforderlich. Häufig liegt aber mit leicht erhöhten Kreatininwerten eine Niereninsuffizienz im Stadium 2 oder beginnendem Stadium 3 vor. Die Immunsuppressiva können eine Reihe von Nebenwirkungen hervorrufen, die dann in eine Diätbehandlung mit einzubeziehen sind.
15
Der Fettanteil in der Nahrung für Nierenpatienten sollte bei ca. 35–40 % der Gesamtenergie liegen. Eine Fettstoffwechselstörung, besonders in Kombination mit einer Hypertonie, hat eine negative prognostische Bedeutung. Im Rahmen der Prävention und der Therapie von Fettstoffwechselstörungen gilt bei der täglichen Fettaufnahme allgemein: Gesättigte Fettsäuren heben die Cholesterinwerte im Blut an, einfach und mehrfach ungesättigte Fettsäuren senken sie. Die Empfehlung für die Höhe der Kohlenhydratzufuhr liegt bei ca. 50 % der Gesamtenergie. Unter Umständen ist eine Anreicherung der Nahrung mit Fett und Kohlenhydraten erforderlich, um eine ausreichende Energieversorgung zu erzielen. > Gesamtnährstoffzusammensetzung: ca. 45–50 % Kohlenhydrate, 35–40 % Fett, 10– 20 % Eiweiß (je nach GFR).
Protein Energie, Fett und Kohlenhydrate Die Nahrungsenergieaufnahme sollte bei Patienten unter 60 Jahren 35 kcal/kg KG/Tag betragen, bei Patienten über 60 Jahren 30–35 kcal/kg KG/Tag. Mit zunehmender Niereninsuffizienz steigt die Gefahr der Mangelernährung. Die Ursachen sind beispielsweise Appetitlosigkeit, Übelkeit, Geschmacksstörungen, Begleiterkrankungen, Medikamente oder falsche Ernährungsempfehlungen. Eine Gewichtsreduktion bei erhöhtem BMI ist geeignet, hypertone Blutdruckwerte positiv zu beeinflussen. Da eine Körpergewichtsreduktion jedoch eindeutig eine katabole Stoffwechsellage induziert, muss hier mit größter Vorsicht vorgegangen werden. Bei fortgeschrittener Niereninsuffizienz kann eine katabole Stoffwechsellage zu einer Verschlechterung der Nierenfunktion führen. Dies ist umso bedeutender, als im Rahmen der Katabolie auch eine Azidose auftreten kann, die ihrerseits wiederum eine Progression der chronischen Nierenerkrankung begünstigen kann. Somit ist eine wesentliche Gewichtsreduktion nur bei Patienten mit geringgradiger bis mittelgradiger Niereninsuffizienz (Stadium 1–2) möglich. Bei der Beurteilung der Gewichtszunahme sollte immer auch daran gedacht werden, dass diese durch Einlagerung von Wasser (Ödeme) bedingt sein kann (Druml et al. 2003).
Der Einfluss der Proteinzufuhr auf den Verlauf einer Niereninsuffizienz ist immer wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen. Unstrittig ist, dass bei eingeschränkter, auch bei nur mäßig veränderter Nierenfunktion eine gesteigerte Zufuhr von Protein unterlassen werden muss. Eine Metaanalyse zeigt, dass eine hohe Proteinzufuhr die Nierenfunktion bei nierengesunden Patienten nicht ungünstig beeinflusst, aber bei bestehenden Nierenerkrankungen selbst bei nur geringer Einschränkung der Nierenfunktion mit ihrer weiteren Verschlechterung und einer Progression der renalen Grundkrankheit zu rechnen ist (Bergstrom et al. 1975, Walser u. Mitch 1976, Brenner et al. 1982). Nach einer Hypothese von Brenner führt eine hohe Proteinaufnahme zu einem Anstieg des intraglomerulären Filtrationsdrucks, zur Steigerung des renalen Blutflusses und zur Proliferation von Mesangialzellen, wodurch langfristig die Nierenfunktion verschlechtert wird (Brenner et al. 1982). > Eine Verminderung der Proteinzufuhr kann demnach das Fortschreiten einer chronischen Niereninsuffizienz und den Beginn einer Nierenersatztherapie verzögern.
In der Praxis erweist sich für die meisten Nierenpatienten eine tägliche Proteinaufnahme von
234
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 15 · Nierenerkrankungen
0,8 g/kg KG/Tag als sinnvoller Kompromiss. Diese Menge entspricht den Empfehlungen, die auch für gesunde Menschen gelten (D-A-CH 2008), liegt aber deutlich unter den durchschnittlich aufgenommenen Proteinmengen. Die mediane Proteinzufuhr in Deutschland liegt laut Nationaler Verzehrsstudie 2007 für Männer bei 85 g/Tag und für Frauen bei 64 g/Tag und damit sowohl für Männer als auch für Frauen in allen Altersgruppen oberhalb der empfohlenen Zufuhr (Max-Rubner-Institut 2008). Problematisch bei proteinarmen Diäten ist allerdings, dass diese für die Patienten relativ schwierig einzuhalten sind. Zudem besteht die Gefahr, dass die Ernährung unausgewogen und insgesamt mangelhaft ist. Für viele Patienten ist deshalb die Empfehlung sehr hilfreich, vorwiegend vegetarisch zu essen und tierische Lebensmittel nur in kleinen Mengen – etwa 20–30 g tierisches Protein pro Tag – zu verzehren. Ein erwünschter Nebeneffekt einer verminderten Proteinzufuhr liegt in der damit verbundenen Reduktion der Phosphoraufnahme, dem verminderten Anfall saurer Valenzen und damit einhergehend einer geringeren Ausprägung der Azidose. Die Azidose ist per se ein progressionsfördernder Faktor. Selbst wenn noch keine klinischen Symptome durch eine Niereninsuffizienz bestehen, kommt es durch diese Maßnahme zu einer Verlangsamung des Krankheitsprozesses in der Niere.
Kochsalz Da Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz in der Regel eine sekundäre nephrogene Hypertonie (7 Kap.14) entwickeln, sollte die Kochsalzzufuhr eher eingeschränkt werden. Die Empfehlungen zur Natriumzufuhr bei Niereninsuffizienz und Dialysebehandlung liegen bei 1.800–2.500 mg (80–110 mmol)/Tag gesamt bzw. 23–25 mg (1–1,1 mmol)/kg KG/Tag. Als Beispiel für eine 70 kg schwere Person: 1.610–1.750 mg Natrium/Tag ≙ 4,0–4,4 g Kochsalz. Patienten mit Natriumverlust benötigen eine höhere Salzmenge. Gegebenenfalls kann durch Modifikation der Natriumkonzentration in der Dialysierflüssigkeit die Natriumbilanz verändert werden. Spezielle Kochsalzersatzmittel (Diätsalze) dürfen bei einer kaliumarmen Diät nicht verwendet werden, da diese
. Tab. 15.3 mittel
Kochsalzgehalt ausgewählter Lebens-
Nahrungsmittel
Kochsalz [g]
100 g Matjesfilet
5,6
1 Pizza (330 g)
4,2
100 g Salami
3,2
1 EL Sojasoße
3,1
100 g Gouda
2,5
1 Brühwürfel (5 g)
2,4
5 Oliven
1,0
10 Salzstangen, klein
0,8
1 EL Tomatenketchup
0,6
Salze in der Regel große Mengen Kalium enthalten. Bestimmte Lebensmittel enthalten besonders viel Salz (. Tab. 15.3). > Richtwert: 10 g Salz (1 gehäufter Teelöffel) binden 1 l Wasser im Organismus.
Kalium Mit zunehmender Niereninsuffizienz wird die Kaliumausscheidung eingeschränkt, teilweise erfolgt eine kompensatorische Kaliumausscheidung über den Stuhl. Um eine Hyperkaliämie, die lebensbedrohlich sein kann, zu verhindern, ist eine Kaliumrestriktion notwendig. Der Kaliumgehalt der Nahrung kann um etwa die Hälfte reduziert werden, indem man Gemüse und Kartoffeln klein schneidet, in viel Wasser kocht und das Kochwasser abgießt. Außerdem muss der Verzehr stark kaliumhaltiger Lebensmittel wie Trockenobst, Obstsäfte, Bananen, Nüsse oder Tomatenkonzentrate vermieden werden. Unsere Lebensmittel enthalten sehr unterschiedliche Mengen an Kalium (. Tab. 15.4). Bei einer Hyperkaliämie empfiehlt sich neben der diätetischen Kaliumeinschränkung ein Ausgleich der Azidose des Blutes. Der Azidoseausgleich ist ein wichtiger Ansatzpunkt bei der Behandlung und Prophylaxe einer Hyperkaliämie. Eine Hyperkaliämie kann unabhängig von der Ernährung auch durch Gewebezerfall (Hämolyse), innere Blutungen, Hämatome oder Shuntprobleme verursacht
235 15.2 · Ernährungstherapeutische Maßnahmen
. Tab. 15.4 Kaliumgehalt ausgewählter Lebensmittel Lebensmittel
Kalium [mg/100 g]
Haselnuss
635
Spinat
630
Pellkartoffel, gekocht
400
Banane
390
Apfel
140
Kuhmilch
140
Nudeln, Reis gekocht Zucker, Öl
20 0
werden. Bei Diabetikern ist die Neigung zur Hyperkaliämie durch die Insulinresistenz erhöht. > Empfehlungen zur Kaliumzufuhr bei Nierenerkrankungen: Nach den Empfehlungen bzw. Ernährungsstandard der European Dialysis and Transplant Nurses Association/European Renal Care Association (EDTNA/ERCA) sollte die Kaliumzufuhr 2.000–2.500 mg oder 50– 65 mmol pro Tag nicht überschreiten.
Phosphor Ab dem Stadium 3 der chronischen Niereninsuffizienz kommt es häufig und im Stadium 4 sowie bei Dialysepatienten nahezu regelmäßig zu einem Anstieg des Serumphosphats und später des Kalziumphosphatprodukts. Das Risiko der Verkalkungen ist von der Höhe des Kalziumphosphatprodukts abhängig und steigt ab einem Wert von 5,5 mmol/l deutlich an (normal bis etwa 3,3 mmol/l; National Kidney Foundation 2003). Erhöhte Phosphatwerte bedeuten generell eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit und eine geringere Lebenserwartung. Ein zu hoher Phosphatgehalt im Blut bewirkt eine Senkung des Kalziumspiegels und eine vermehrte Ausschüttung des Parathormons. Die Therapie der Hyperphosphatämie erfolgt durch: 4 Hemmung der Phosphorresorption durch Gabe von Phosphatbindern
15
4 Entfernung des Phosphats durch Dialysebehandlung 4 Einschränkung der Phosphorzufuhr mit der Nahrung Nach den europäischen Richtlinien liegt die akzeptable Phosphormenge im Prädialysestadium bei 600–1.000 mg/Tag und im Dialysestadium bei 1.000–1.400 mg oder 32–45 mmol/Tag. Bestimmt wird der Phosphatgehalt im Blut bzw. der Phosphorgehalt in der Nahrung. Phosphor ist in sehr vielen Nahrungsmitteln enthalten. Reich an Phosphor sind v. a. proteinreiche Lebensmittel wie Milch, Fleisch, Fisch und Eier. Auch Nüsse und Hülsenfrüchte enthalten größere Mengen Phosphor. Relativ wenig Phosphor liefern dagegen Obst und frisches Gemüse. Vielen industriell hergestellten Lebensmitteln wird Phosphat zugesetzt. Di-, Tri- und Polyphosphate sind seit Langem als Lebensmittelzusatzstoffe in Gebrauch und in der EU als solche zugelassen, beispielsweise Orthophosphorsäure (E 338) als Säuerungsmittel bei Cola-Getränken. Zu erkennen sind diese an folgenden E-Nummern: E 322, E 338, E 339, E 340, E 341, E 450a, E 450b, E 450c, E 540, E 543, E 544. Meist gelingt es nicht, allein mit dietätischen Maßnahmen die Phosphatwerte im Normalbereich zu halten. Deshalb benötigen fast alle Patienten zusätzlich sogenannte Phosphatbinder. Diese binden einen Teil des Phosphors, der in der Nahrung enthalten ist, bereits im Magen-Darm-Trakt. Phosphatbinder müssen je nach Wirksubstanz individuell zur phosphorhaltigen Mahlzeit vor oder zum Essen eingenommen werden, um möglichst effektiv zu sein.
Kalzium Im Prädialysestadium und im Dialysestadium sind sowohl Hypo- als auch Hyperkalzämien möglich. Ursachen für eine Hypokalzämie im Rahmen einer chronischen Niereninsuffizienz sind beispielsweise die Störung der Vitamin D-abhängigen Kalziumresorption aus dem Darm und der Mangel an Trägerprotein. Eine Hypokalzämie wird durch Vitamin D-Gabe ausgeglichen. Der Kalziummangel kann nicht mit der Nahrung ausgeglichen werden, da kalziumreiche Lebensmittel wie Milch und
236
Kapitel 15 · Nierenerkrankungen
1
Milchprodukte in der Regel auch zu viel Phosphor und Protein enthalten.
2
Eisen
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Ausreichendes Speichereisen (Ferritin) und frei verfügbares Eisen sind mit Zunahme der chronischen Nierenfunktionseinschränkung wichtige Stoffwechselparameter. Sie müssen ausreichend vorhanden sein und ggf. diätetisch oder medikamentös supplementiert werden, um beispielsweise einen zu starken Abfall der Erythropoese zu kompensieren. Wenn eine Erythropoetin-(EPO-)Therapie notwendig wird, sollten die Eisen- und Ferritinspiegel im hochnormalen Bereich liegen.
Vitamine und Spurenelemente Zur Supplementierung von Vitaminen und Spurenelementen bei Patienten mit Niereninsuffizienz gibt es keine von den Empfehlungen für die Normalbevölkerung abweichenden Richtlinien. Wasserlösliche Vitamine gehen leicht durch die Dialyse verloren, während fettlösliche Vitamine retiniert werden – die Blutspiegel von fettlöslichen Vitaminen sind bei Dialysepatienten in der Regel erhöht. Deshalb ist die Supplementierung von Vitamin A nicht zu empfehlen. Eine besondere Rolle kommt dem Vitamin DStoffwechsel zu, da der hormonell wirksame Metabolit, das sog. »aktive Vitamin D« Calcitriol, in der Niere gebildet wird. Entsprechend entwickelt sich mit zunehmender Niereninsuffizienz immer ein Vitamin D-Mangel. Dieser muss rechtzeitig ausgegleichen werden, primär mit diätetischen Maßnahmen bzw. medikamentöser Supplementierung von nativem Vitamin D (Cholecalciferol) oder durch ausreichende Sonnen- bzw. künstliche UV-B-Exposition (7 Kap. 20). Vitamin E kann aufgrund seiner antioxidativen Eigenschaften auch als kardiovaskulär protektiv angesehen werden. Vitamin K ist nur bei nachgewiesenem Mangel zu substituieren. Die wasserlöslichen Vitamine sind vermindert, wenn eine einseitige Ernährung, beispielsweise eine kaliumarme Diät, praktiziert wird. Diese Vitamine sollten dann supplementiert werden. Eine übermäßige Vitamin C-Zufuhr erhöht die Gefahr einer Kalziumoxalatsteinbildung (Druml et al. 2003).
Zurzeit gibt es keine eindeutigen Empfehlungen zur Supplementierung der Spurenelemente beim chronisch Nierenkranken, sodass die Empfehlungen für Gesunde zur Orientierung herangezogen werden müssen.
Trinkmenge Die Flüssigkeitszufuhr muss anhand verschiedener klinischer Parameter, wie Ausscheidung oder Ödembildung, individuell angepasst werden. Ein exzessives Trinken ist nicht zu empfehlen. > Die maximale Flüssigkeitsaufnahme sollte 3,0 l/Tag nicht überschreiten.
Die volkstümliche Meinung, bei Nierenerkrankungen sei eine hohe Trinkmenge sinnvoll, konnte durch Studien nicht bestätigt werden. Die Progression wird dadurch in bestimmten Situationen (z. B. Zystennieren) nicht verzögert, sondern eher beschleunigt. Die Fähigkeit der Niere, Wasser auszuscheiden, lässt erst im Endstadium der Erkrankung nach. Generell gilt zur Vermeidung von Ödemen folgende Regel: Die Menge des am Tag zuvor ausgeschiedenen Urins plus 500 ml entspricht der erlaubten Trinkmenge. Geeignete Getränke sind Leitungswasser, Tafelwasser, natriumarmes Mineralwasser, Kräuter- und Früchtetees. Die normale Wasserbilanz gesunder Menschen (. Tab. 15.5) kann u. a. durch Körpergewicht, körperliche Aktivität und Umgebungstemperatur erheblich beeinflusst werden. . Tab. 15.5 Durchschnittliche Flüssigkeitsaufnahme und -abgabe in 24 Stunden des (nieren-)gesunden Erwachsenen (D-A-CH 2008) Flüssigkeitsaufnahme [ml/Tag]
Flüssigkeitsabgabe [ml/Tag]
Getränke
Urin
1.440
1.440
Wasser in fester Nahrung
875
Stuhl
160
Oxidationswasser
335
Haut
550
Atmung
500
Gesamtaufnahme
2.650
Gesamtabgabe/ausscheidung
2.650
237 15.2 · Zusammenfassung
15
. Tab. 15.6 Ernährung bei häufig auftretenden Nierensteinen
Kalziumoxalatsteine
Kalziumphosphatsteine
Harnsäuresteine
Diätetische Maßnahme
Ziel
Mäßiger Konsum von Rhabarber, roter Beete, Spinat, Mangold
→ Reduktion der Oxalsäurezufuhr
Bevorzugung von Gemüse, Kartoffeln, Obst, reichlich Zitrone
→ Harnalkalisierung
Mäßige Proteinzufuhr, wenig Zucker
→ Reduktion der Kalzium- und Oxalsäureausscheidung im Urin
Einschränkung von Zitrusfrüchten; mäßige Proteinzufuhr
→ Reduktion der Kalzium- und Phosphatausscheidung im Urin
Bikarbonathaltige Mineralwässer
→ Harnansäuerung (zusätzlich medikamentös)
Einschränkung von Fleisch- und Wurstwaren, Innereien, Hülsenfrüchten sowie Sojaprodukten; mäßige Proteinzufuhr, wenig Alkohol
→ Reduktion der Harnsäureausscheidung im Urin
Bevorzugung von Gemüse, Kartoffeln, Obst, reichlich Zitrone
→ Harnalkalisierung
Unabhängig von der Steinzusammensetzung sollte die tägliche Trinkmenge 2,5 l nicht unterschreiten (Ziel: 2 l Urin/24 Stunden)
15.2.4
Nierensteine
In . Tab. 15.6 sind die unterschiedlichen Empfehlungen bei häufig auftretenden Nierensteinen zusammengefasst.
15.3
Zusammenfassung
Die Diättherapie hat bei Nierenerkrankungen generell einen hohen Stellenwert. Die Diät muss individuell nach renaler Grundkrankheit, Begleitsymptomatik und Krankheitsstadium (akut oder chronisch bzw. Form der Nierenersatztherapie) ausgewählt werden. Wichtig sind eine ausreichend energetische Ernährung und eine angepasste Trinkmenge. Neben einem adaptierten Angebot an Protein, Kohlenhydraten und Fett sind zudem der Mineral- und Säure-Basen-Haushalt, Spurenelemente und Vitamine (insbesondere Vitamin D) zu beachten.
Literatur Bergstrom J, Furst P, Norée L-O: Treatment of chronic uremic patients with protein-poor-diet and oral supply of essential amino acids. Clin Nephrol 3:187 (1975) Brenner BM, Meyer TW, Hostetter TH: Dietary protein intake and the progressive nature of kidney disease. New Engl J Med 307:652 (1982) D-A-CH (Deutschsprachige Gesellschaften für Ernährung):Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr. Umschau Braus, Frankfurt/Main (2008) Davison A, Cameron SJ, Grunfeld JP et al.: Oxford Textbook of Clincal Nephrology. Oxford University Press, Oxford (2008) Druml W, Kuhlmann M, Mann H et al.: DGEM-Leitlinie Enterale Ernährung: Nephrologie. Aktuel Ernaehr Med 28(Suppl. 1):S93–S102 (2003) EDTNA/ERCA (European Dialysis and Transplant Nurses Association/European Renal Care Association): European Guidelines for the Nutritional Care of Adult Renal Patients. EDTNA/ERCA Journal XXIX(1): 22–46 (2003) Frei U, Schober-Halstenberg HJ: Nierenersatztherapie in Deutschland 2006/2007. QuaSi-Niere gGmbH, Berlin (2008) Max Rubner-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel (Hrsg.): Nationale Verzehrsstudie II, Ergebnisbericht, Teil 2 (2008)
238
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 15 · Nierenerkrankungen
National Kidney Foundation: K/DOQI clinical practice guidelines for nutrition in chronic renal failure. Am J Kidney Dis 35(Suppl. 2): S1–S140 (2000) National Kidney Foundation: K/DOQI clinical practice guidelines for chronic kidney disease: evaluation, classification, and stratification. Am J Kidney Dis 39(Suppl. 1):S1– S266 (2002) National Kidney Foundation: K/DOQI clinical practice guidelines for bone metabolism and disease in chronic kidney disease. Am J Kidney Dis 42(Suppl. 3):S1-S202 (2003) Walser M, Mitch WE: The effect of nutritional therapy on progression of chronic renal failure: quantitative assessment. Clin Res 24:407A (1976) White SL et al.: Chronic kidney disease in the general population. Adv Chronic Kidney Dis. 12(1):5–13 (2005) Zürcher G: Bekanntes und Neues in der Ernährung nierenkranker Menschen. Nieren- und Hochdruckkrankheiten 32:390–400 (2003)
239
Dyslipoproteinämien Marion Burkard, Karl Huth
16.1
Definition und Risikofaktoren – 240
16.2
Typen der Dyslipoproteinämie – 242
16.3
Ernährungstherapeutische Maßnahmen – 242
16.4
Der Einfluss der Fette auf Serumcholesterinund Triglyzeridspiegel – 243
16.4.1 16.4.2 16.4.3 16.4.4 16.4.5
Gesättigte Fettsäuren – 244 Einfach ungesättigte Fettsäuren – 244 Mehrfach ungesättigte Fettsäuren – 244 Trans-Fettsäuren – 246 Cholesterin – 246
16.5
Einfluss anderer Nährstoffe auf die Serumlipidkonzentration – 247
16.5.1 16.5.2 16.5.3 16.5.4 16.5.5 16.5.6 16.5.7
Kohlenhydrate – 247 Ballaststoffe – 248 Proteine – 249 Antioxidanzien – 249 Knoblauch – 250 Koffein – 250 Phytosterole und Phytostanole – 250
16.6
Grundsätzliche ernährungstherapeutische Maßnahmen bei primären Hyperlipidämien – 251
16.6.1 16.6.2 16.6.3
Ernährung bei Hypercholesterinämie – 251 Ernährung bei Hypertriglyzeridämie – 251 Ernährung bei Chylomikronämie – 252
16.7
Zusammenfassung – 252
16
240
1 2 3 4 5 6 7
Kapitel 16 · Dyslipoproteinämien
Die Dyslipoproteinämien zählen zu den wesentlichen Risikofaktoren für Arteriosklerose und Herzinfarkt. Im Rahmen einer Therapie lässt sich durch geeignete Umstellung der Ernährungsgewohnheiten dieses Risiko reduzieren. Die dabei notwendigen Maßnahmen sind im Gesamtkontext des Risikoprofils des jeweiligen Patienten zu wählen. In diesem Beitrag lesen Sie: 4 wie sich das KHK-Risiko für Ihre Patienten abschätzen lässt, 4 welche Dyslipoproteinämie-Typen es gibt, 4 wie verschiedene Nahrungsmittel die Blutfettwerte beeinflussen, 4 welche ernährungstherapeutischen Maßnahmen Sie in Erwägung ziehen können.
8
16.1
9
Eine Vermehrung der Plasmalipide beziehungsweise der Lipoproteine wird als Hyperlipidämie oder Hyperlipoproteinämie bezeichnet. Da eine Hyperlipidämie ohne Vermehrung der für die Löslichkeit der Lipide erforderlichen Trägerproteine nicht möglich ist, sollte die exaktere Bezeichnung Hyperlipoproteinämie bevorzugt werden. Da jedoch auch eine Senkung von Lipidfraktionen auftreten kann (z. B. des High Density Lipoprotein, HDL) wird heute der Begriff Dyslipoproteinämien bevorzugt. Sekundäre Dyslipoproteinämien sind Folgen von Erkrankungen wie 4 einem dekompensierten bzw. schlecht eingestellten Diabetes mellitus, 4 einem gestörten Gallenabfluss (Cholestase), 4 einer Niereninsuffizienz oder 4 einer Hypothyreose.
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Definition und Risikofaktoren
Außerdem können sie durch bestimmte Medikamente ausgelöst werden. Primäre (heriditäre oder familiäre) Dyslipoproteinämien sind genetisch bedingt. Ihnen liegen unterschiedliche Defekte zugrunde (Wahrburg u. Assmann 1999; Kasper 2000; Burkard 2006) wie z. B. 4 metabolische Basisdefekte, 4 LDL-Rezeptor-Defekte (LDL: Low Density Lipoprotein) 4 Mutation der Gene von Apo-Lipoproteinen,
4 gesteigerte Bildung von Apo-Lipoproteinen, 4 Lipoproteinlipase-Mangel. Neben den genetischen beeinflussen verschiedene exogene Faktoren die Höhe der Serumlipid- und Lipoproteinkonzentrationen. In der Mehrzahl der Fälle liegt eine Kombination von erblichen und nutritiven Faktoren vor. Der Fettstoffwechsel kann von zahlreichen Ernährungsfaktoren auf ganz unterschiedliche Weise beeinflusst werden. Von entscheidender Bedeutung sind hierbei (Wahrburg u. Assmann 1999): 4 hyperkalorische Ernährung 4 Alkoholabusus 4 Menge und Art der Nahrungsfette, Kohlenhydrate sowie Ballaststoffe In vielen epidemiologischen Studien ergab sich eine Korrelation zwischen der Höhe der Gesamtcholesterinkonzentration im Serum und der Häufigkeit arteriosklerotischer Gefäßerkrankungen, insbesondere des Herzinfarkts. Später konnte gezeigt werden, dass nur das LDL-Cholesterin das Arterioskleroserisiko steigert, während das HDL-Cholesterin eine protektive Wirkung besitzt. Sowohl die Göttinger Risikoinzidenz-und-Prävalenz-Studie als auch die Ergebnisse der MRFITStudie (Multiple Risk Factor Intervention Trial), an der mehr als 361.000 Männer teilnahmen, ergaben eine enge Beziehung zwischen der Konzentration des LDL-Cholesterins und dem Auftreten eines Myokardinfarktes, und zwar dergestalt, dass die KHK-Mortalität (KHK: Koronare Herzkrankheit) sich bei einem Anstieg des Gesamt-Serumcholesterins auf 240 mg/dl (6,2 mmol/l) im Vergleich zu <200 mg/dl (5,2 mmol/l) verdoppelt und bei 280 mg/dl (7,2 mmol/l) verdreifacht. Auch hohe Serumtriglyzeride erhöhen das KHK-Risiko, vor allem in Kombination mit niedrigen HDL-Cholesterinwerten. Diese Konstellation findet sich vor allem bei Typ-2-Diabetikern und beim metabolischen Syndrom. Dieses ist eine typische Zivilisationskrankheit, die durch androide Adipositas, Insulinresistenz, Hyperinsulinämie, Dyslipoproteinämie mit Vermehrung der Triglyzeride, Verminderung des HDL-Cholesterins und Auftreten kleiner, dichter LDL-Cholesterinpartikel, Hypertonie und Hyperurikämie gekennzeich-
241 16.1 · Definition und Risikofaktoren
16
. Tab. 16.1 Risikobewertung und Zielwerte Gesamtrisiko
Zielwert Gesamtcholesterin [mg/dl (mmol/l)]
Zielwert LDL-Cholesterin [mg/dl (mmol/l)]
Leicht erhöhtes Risiko
195–230 (5,0–6,0)
155–175 (4,0–4,5)
195 (5,0)
135–155 (3,5–4,0)
Cholesterin vor der Behandlung 200–300 (5,2–7,8) Keine weiteren Risikofaktoren Quotient Gesamtcholesterin/HDL-Cholesterin 4,5–5,0 Mäßig erhöhtes Risiko
Cholesterin vor der Behandlung 200–300 (5,2–7,8) und ein weiterer Risikofaktor oder Cholesterin vor der Behandlung 200–300 (5,2–7,8), gleichzeitig HDL-Cholesterin <39 (<1) Hohes Risiko
175–195 (4,5–5,0)
115–135 (3,0–3,5)
Koronare und/oder periphere Gefäßerkrankung oder Familiäre Hypercholesterinämie oder Cholesterin vor der Behandlung >300 (>7,8) oder Cholesterin vor der Behandlung 200–300 (5,2–7,8) und zwei weitere Risikofaktoren oder Cholesterin vor der Behandlung 200–300 (5,2–7,8) und ein ausgeprägter weiterer Risikofaktor (Rauchen)
net ist. Infolge der viszeralen Fettvermehrung ist ein Leibesumfang von mehr als 102 cm bei Männern und mehr als 88 cm bei Frauen typisch. Wenngleich unterschiedliche Definitionen des metabolischen Syndroms existieren, die dann auch zu recht unterschiedlichen Prävalenzen führen, kann die Prävalenz heute in den Vereinigten Staaten bei Männern zwischen 60 und 70 Jahren auf rund 40 % (Ford et al. 2002) geschätzt werden. Typische Folgekrankheiten sind eine vorzeitige Arteriosklerose, Gallensteine und eine Fettleber, vermutlich auch eine Begünstigung bösartiger Erkrankungen. Da Herz-Kreislauf-Erkrankungen unverändert für etwa die Hälfte aller Todesfälle in Deutschland verantwortlich sind und den vorliegenden Studien zufolge Dyslipoproteinämien damit in direktem Zusammenhang stehen, sind Therapiemaßnahmen dringend geboten. Die Risikobewertung und die empfohlenen Zielwerte für eine Therapie sind in . Tab. 16.1 zusammengefasst.
LDL-Cholesterin = Gesamtcholesterin – HDL-Cholesterin – X = 5,0 für die Berechnung in mg/dl X = 2,2 für die Berechnung in mmol/l
Folgende Kriterien sind für die Abschätzung des koronaren Risikos in der Praxis geeignet: 4 Statistisch steigt das Risiko koronarer Herzerkrankungen ab einer Gesamtcholesterinkonzentration von 180 mg/dl (4,6 mmol/l). 4 Das HDL-Cholesterin sollte höher als 45 mg/dl (1,2 mmol/l) liegen. 4 Die Triglyzeride sollten 150–200 mg/dl (1,7– 2,3 mmol/l) nicht überschreiten. Das Lipoprotein(a) – Lp(a) – ist epidemiologischen Studien zufolge ein weiterer Faktor, der ab einem Lp(a)-Spiegel >30 mg/dl mit einem erheblichen kardiovaskulären Risiko einhergeht. Es handelt sich dabei um eine Plasmafraktion, die neben Apo B auch Apo(a) enthält. Lp(a) ist sehr cholesterinreich. Zur Ermittlung des LDL-Cholesterins kann die Friedewald-Formel angewendet werden (. Abb. 16.1). Triglyzeride X
. Abb. 16.1 Friedewald-Formel zur Berechnung des LDL-Cholesterins
242
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
16.2
Kapitel 16 · Dyslipoproteinämien
Typen der Dyslipoproteinämie
Die in der Vergangenheit übliche Einteilung der Dyslipoproteinämien nach Fredrickson wird den praktischen Bedürfnissen nicht gerecht, da diese starre Typisierung relativ willkürlich ist. Außerdem unterscheidet sie nicht nach primären und sekundären Fettstoffwechselstörungen. Heute wird deshalb folgende Einteilung primärer Dyslipoproteinämien vorgenommen: 4 polygene und monogene Hypercholesterinämie 4 kombinierte (gemischte) Dyslipidämien 4 Hypertriglyzeridämien k Familiäre Dyslipoproteinämien
Bei der polygenen Hypercholesterinämie handelt es sich um die in westlichen Industrieländern am häufigsten anzutreffende Form der Hypercholesterinämie. Die Manifestation ist bedingt durch eine gewisse genetische Disposition, die Entwicklung eines Diabetes mellitus, Schilddrüsenfunktionsstörungen, hyperkalorische, relativ fettreiche Ernährung, insbesondere bei hoher Zufuhr an gesättigten Fettsäuren oder auch bestimmte Medikamente. Charakteristisch ist eine Erhöhung des LDL-Cholesterins auf 70 % des Gesamtcholesterins. Liegt das Gesamtcholesterin über 200 mg/dl bei einem LDL-Cholesterin von mehr als 135 mg/dl, wird von einer polygenen Hypercholesterinämie ausgegangen, vorausgesetzt, eine monogene Form oder eine sekundäre LDL-Erhöhung wurde ausgeschlossen. Diese Form der Dyslipidämie geht mit einem hohen Arteriosklerose- und Infarktrisiko einher. Sie entspricht in etwa dem Typ IIa nach Fredrickson und ist in 10–15 % aller DyslipoproteinämieFälle anzutreffen. Als monogene Hypercholesterinämie werden 3 unterschiedliche erbliche Stoffwechseldefekte zusammengefasst: 4 Die familiäre Hypercholesterinämie: Aufgrund eines LDL-Rezeptordefektes kommt es zu einer erheblichen LDL-Cholesterinerhöhung. 4 Die familiäre Dysbetalipoproteinämie (Hyperlipidämie Typ III nach Fredrickson): Bei dieser Form handelt es sich um eine erblich bedingte Störung der hepatischen Elimination von Chylomikronen-Remnants und von VLDL (Very
Low Density Lipoprotein) infolge der Apolipoproteinkonstellation Apo E-2/E-2. LDL und VLDL sind atypisch. Das Arterioskleroserisiko ist deutlich erhöht. Außerdem kommt es häufiger zu peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK) und Schlaganfall. 4 Die kombinierte Hyperlipidämie: Aufgrund einer genetischen Störung kommt es zu einer Überproduktion von Apolipoprotein B-100, dem hauptsächlichen Apolipoproteinanteil von VLDL und LDL. Auch bei dieser Form treten gehäuft Herzinfarkte auf; typischerweise vor dem 60. Lebensjahr. Bei fehlender Behandlung weisen etwa ⅓ der Betroffenen bereits im Alter von 35 Jahren klinische Zeichen der KHK auf (Richter 2005).
16.3
Ernährungstherapeutische Maßnahmen
Noch heute werden sowohl medikamentöse als auch diätetische Maßnahmen kontrovers diskutiert, da ein eindeutiger »Normalwert« weder für den Cholesterin- noch für den Triglyzeridspiegel definiert werden kann. Vielmehr sind die notwendigen Therapiemaßnahmen im Gesamtkontext des Risikoprofils eines jeden Patienten bezüglich einer arteriosklerotischen Gefäßerkrankung zu sehen. Wie in . Tab. 16.1 dargestellt, liegt der besonders wichtige LDL-Cholesterin-Zielwert bei leicht erhöhtem koronaren Risiko höher als bei mäßig erhöhtem und hier wieder höher als bei hohem Risiko. Im Rahmen der Tertiärprävention bei bereits manifester koronarer Herzkrankheit ist ein LDL-Cholesterin von weniger als 100 mg/dl erstrebenswert. Therapiemaßnahmen sind immer dann erforderlich, wenn bei grenzwertiger Hypercholesterinämie weitere Risikofaktoren oder Grunderkrankungen vorliegen; beispielsweise: 4 Diabes mellitus 4 Hypothyreose 4 Übergewicht bzw. Adipositas, v. a. der androiden Form 4 arterielle Hypertonie 4 Rauchen 4 ein niedriges HDL-Cholesterin
243 16.4 · Der Einfluss der Fette auf Serumcholesterin- und Triglyzeridspiegel
Heute steht außer Zweifel, dass der Ernährungsweise eine entscheidende Bedeutung bei der Entstehung und Therapie der Dyslipoproteinämien zukommt. In Zeiten der Mangelernährung treten ischämische Herzerkrankungen kaum auf. Notzeiten gehen vor allem mit geringer Fettzufuhr und vermehrtem Verzehr von Stärkeprodukten mit hohem Ballaststoffgehalt einher. Schon 1956 konnte Keys basierend auf weltweit durchgeführten epidemiologischen Studien belegen, dass ischämische Herzerkrankungen positiv mit der Höhe des Verzehrs von Nahrungs-Cholesterin und gesättigten Fettsäuren korrelieren und die Zufuhr von gesättigten Fettsäuren sowie Cholesterin die Cholesterinkonzentration im Serum proportional beeinflusst. Daneben ist die körperliche Aktivität von entscheidender Bedeutung; einmal kann sie die Energiebilanz negativieren, zum anderen zu einer Zunahme des HDL-Cholesterins beitragen. Neuere Untersuchungen zeigen außerdem, dass die LDL-Oxidation wesentlich von der Zufuhr an Antioxidanzien wie Vitamin A, E, C, Carotinoiden und Selen abhängt. Oxidierte LDL-Partikel schädigen die Arterienwände und werden als eine Grundursache der Arteriosklerose angesehen. Sie können nicht an die LDLRezeptoren gebunden werden, andererseits werden sie aber bevorzugt von Monozyten und Makrophagen phagozytiert, die sich dann in Schaumzellen umwandeln. Rauchen trägt wesentlich zur Oxidation von Lipoproteinen bei; schon deshalb gehört die Raucherentwöhnung zur Prävention und Therapie der Dyslipoproteinämien und der koronaren Herzkrankheit. Die Ernährungstherapie gilt als die Grundlage der Behandlung quasi jeder Form von Dyslipoproteinämie. Vor allem die am häufigsten auftretende polygene Hypercholesterinämie und die Hypertriglyzeridämie (nahezu 80 % aller Fälle) können durch diätetische Maßnahmen korrigiert werden. Diese sind allerdings bei kombinierter Dyslipoproteinämie und familiärer Hypercholesterinämie nicht ausreichend und müssen durch medikamentöse Maßnahmen ergänzt werden. Grundsätzlich basiert die Ernährungstherapie auf einem Stufenschema, das primär darauf abzielt, die Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankun-
. Tab. 16.2 krankungen
16
Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Er-
Risikofaktoren erster Ordnung
Hypercholesterinämie, v. a. bei hohem (oxidiertem) LDLCholesterin Hypertonie Rauchen
Risikofaktoren zweiter Ordnung
Diabetes mellitus Adipositas, Übergewicht Bewegungsmangel Hyperurikämie
gen zu minimieren. Die Einordnung der Risikofaktoren gibt . Tab. 16.2 wieder. Bei Übergewicht und Fettsucht sowie bei den meisten Fällen von Hypertriglyzeridämie wie beim metabolischen Syndrom steht eine Reduktion des Körpergewichts mit dem Ziel, einen Body Mass Index von 25 bis max. 30 kg/ m2 zu erreichen, an erster Stelle der diätetischen Maßnahmen. Das gelingt am besten durch eine Senkung der Energiedichte der Kost, sei es durch Vermehrung des Ballaststoffgehalts oder eine Vermehrung des Wassergehalts. Dadurch wird ein größeres Volumen und Gewicht der Nahrung erzielt, was zu einer besseren Sättigung führt. Auch die Reduktion besonders hochkalorischer Nährstoffe wie Fett und Alkohol sind hilfreich, desgleichen eine Steigerung der körperlichen Aktivität.
16.4
Der Einfluss der Fette auf Serumcholesterin- und Triglyzeridspiegel
Ernährungsphysiologisch unterscheiden sich die verschiedenen Fette in ihrer Wirkung. Daher kann der Verzehr unterschiedlicher Fette die Serumlipidwerte sowohl positiv als auch negativ beeinflussen. Grundsätzlich gilt, dass das Fettsäuremuster der Nahrung bei einer Gesamtfettaufnahme unter 30 % der Energiezufuhr hinsichtlich des Einflusses auf eine Hypercholesterinämie an Bedeutung verliert.
244
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
16.4.1
16.4.2
20
Gesättigte Fettsäuren
Gesättigte Fettsäuren können je nach Kettenlänge den Cholesterinspiegel mehr oder weniger beeinflussen. Wahrscheinlich führen nur Fettsäuren mit mehr als 12 C-Atomen zu einem Anstieg des Cholesterinspiegels. Eine Ausnahme macht die Stearinsäure mit 18 C-Atomen, die sich in dieser Hinsicht neutral verhält. Laurinsäure (C 12:0), Palmitinsäure (C 16:0) und Myristinsäure (C 14:0) führen in unterschiedlicher Ausprägung zu einem Anstieg des Cholesterinspiegels, wobei letzterer ein 4-fach höherer Effekt als Palmitinsäure zugeschrieben wird. Da in den meisten Lebensmitteln unterschiedliche gesättigte Fettsäuren enthalten sind, sollte deren Verzehr bei Hypercholesterinämie höchstens 7–10 % der Energiezufuhr betragen. Besonders reich an Myristinsäure sind Palmkern- und Kokosfette (16 bzw. 18 %), die als Frittierfette oder zur Härtung von Margarinen Verwendung finden. Gesättigte Fettsäuren sind in versteckter Form vor allem in Produkten tierischer Herkunft enthalten. Deshalb sollten insbesondere Fleisch und Wurstwaren, aber auch fettreiche Milchprodukte sowie insbesondere preiswerte Schokolade mit einem Kakaoanteil <70 % und fettreiche Kuchen, Gebäck sowie sonstige fettreiche Backwaren nur in kleinen Mengen verzehrt werden. Fische bilden eine Ausnahme unter den tierischen Produkten, da sie entweder sehr mager sind (u. a. Schellfisch, Kabeljau, Seelachs) oder reich an ω-3-Fettsäuren, die kardioprotektiv wirken. Bei den sichtbaren Fetten sollte vor allem Kokosfett gemieden werden. Auch Butter, Schmalz und gehärtete Pflanzenfette (meistens niedrigpreisige Back-, Koch- oder Bratfette) sollten nur in kleinen Mengen (ca. 10–20 g pro Tag) verzehrt werden.
18 19
Kapitel 16 · Dyslipoproteinämien
Einfach ungesättigte Fettsäuren
Einfach ungesättigte Fettsäuren (C 18:1) werden aufgrund entsprechender Studienergebnisse heute als besonders empfehlenswert angesehen, da ihre kardioprotektive Wirkung als erwiesen gilt (Kasper
2004). Auch zur Therapie des metabolischen Syndroms wird heute eine monoensäurereiche Kost (bis 20 % der Gesamtenergiezufuhr) zur Optimierung der Stoffwechsellage und als Arterioskleroseschutz empfohlen. Im Vergleich zu einer Kost, die kohlenhydratreich ist, kommt es beim Verzehr von einfach ungesättigten Fettsäuren nur zu einer Senkung der LDLFraktion, nicht aber zu einer Senkung des HDLSpiegels. Letzterer bleibt unter monoensäurereicher Kost konstant oder steigt sogar an. Die VLDL-Synthese in der Leber wird durch einfach ungesättigte Fettsäuren nicht beeinflusst. Bei einem Ersatz von 5 % der Energiezufuhr gesättigter Fettsäuren durch einfach ungesättigte Fettsäuren ist eine Senkung des Serum-Cholesterins von –9,3 mg/dl ermittelt worden (Clarke et al. 1997) Reich an einfach ungesättigten Fettsäuren ist vor allem Olivenöl, aber auch Raps-, Soja- und Erdnussöl sind relativ reich an der einfach ungesättigten Ölsäure. Außerdem sind Mandeln und Erdnüsse sowie Avocados ölsäurereich.
16.4.3
Mehrfach ungesättigte Fettsäuren
Mehrfach ungesättigte Fettsäuren bewirken eine ausgeprägte Senkung des Cholesterinspiegels. Ein 5 %iger Ersatz von gesättigten Fettsäuren durch mehrfach ungesättigte führte zu einer Senkung des Serum-Cholesterins von 15,1 mg/dl (Clarke et al. 1997). Diese Fettsäuren sind chemisch gesehen sehr reaktionsfreudig, das heißt, sie können leicht von freien Sauerstoffradikalen oxidiert werden. Derartige Nahrungsfette werden deshalb nicht nur schnell ranzig, sondern können auch im Körper bei niedrigen Antioxidanzienspiegeln zu Membranschädigungen führen. Sie können in LDL chemisch modifiziert werden und ermöglichen damit die Aufnahme der LDL in Makrophagen. Die Zufuhrempfehlung lautet deshalb bis zu 10 % der Gesamtenergiezufuhr. Reich an mehrfach ungesättigten Fettsäuren sind fast alle Pflanzenöle, vor allem Distelöl (Safloröl) gefolgt von Maiskeim-, Soja- und Sonnenblumenöl. Wegen ihrer hohen Peroxidationsanfäl-
16
245 16.4 · Der Einfluss der Fette auf Serumcholesterin- und Triglyzeridspiegel
ligkeit sollten diese Fette möglichst nicht (Distelöl) oder nur wenig erhitzt werden. Zu den mehrfach ungesättigten Fettsäuren zählen auch die ω-3-Fettsäuren (Linolensäure, C 18:3 ω-3, Eicosapentaensäure, C 20:5 ω-3, Docosahexaensäure C 22:6 ω-3). Sie sind wesentlicher Bestandteil von Leinsamen, Nüssen und fettreichen Kaltwasserfischen und zeichnen sich durch eine Reihe protektiver Stoffwechseleffekte aus. Aus diesen Fettsäuren werden Gewebshormone der sogenannten 3er-Reihe wie Thromboxan A3 und Prostazyklin PGI3 gebildet, die eine vasodilatative Wirkung haben und die Thrombozytenaggregation hemmen. Außerdem senken sie die Triglyzeridspiegel signifikant. (7 Kap. 7) Wegen dieser Merkmale kommt den ω-3Fettsäuren im Rahmen der Arterioskleroseprophylaxe eine besondere Bedeutung zu. Weitere Wirkungen sind (Kasper 2000): 4 Senkung der VLDL-Konzentration 4 Hemmung der VLDL-Apolipoprotein-B- und VLDL-Triglyzerid-Synthese in der Leber 4 Dämpfung des Triglyzeridanstiegs nach Kohlenhydratzufuhr 4 Dämpfung des Chylomikronenanstiegs nach Fettzufuhr 4 Steigerung des VLDL-Abbaus 4 Verhinderung von Herzrhythmusstörungen 4 Senkung des systolischen (–0,66 mm Hg/g Fettsäure) und diastolischen Blutdrucks [–0,35 mm Hg/g Fettsäure; (Richter 2005)] Eine entsprechende Wirkung wurde nach täglicher Zufuhr von 1,5–3 g pro Tag beobachtet. Das Ausmaß der VLDL-Reduktion ist dosisabhängig und liegt bei durchschnittlich 26 %. Als negativ kann die Tatsache bewertet werden, dass unter Umständen ein Anstieg des LDL-Cholesterins, insbesondere bei bereits vorhandener Hyperlipidämie, auftreten kann. Bei Normolipidämie ist dies jedoch kaum der Fall. Mit einer Senkung des HDL-Cholesterins ist erst bei einer sehr hohen Zufuhr von 15–30 g pro Tag zu rechnen (Wahrburg u. Assmann 1999). Im Rahmen der Sekundär- und Tertiärprophylaxe kommt den ω-3-Fettsäuren eine Bedeutung bei der Verhinderung von Restenosierungen nach PTCA (perkutane transluminale koronare Angio-
plastie) zu. Im Rahmen von Langzeitstudien konnte gezeigt werden, dass eine Gabe von nur 3,2 g ω-3Fettsäuren die Triglyzeridkonzentration im Serum um 26 % senken kann. Durch regelmäßigen Fischverzehr (200–400 g pro Woche) oder täglich 3 Kapseln Fischöl à 500 mg konnte im Rahmen einer Langzeitstudie eine um 29 % höhere Überlebensrate als in der Vergleichsgruppe verzeichnet werden (Singer 1997; Kasper 2004). Die GISSI Prevenzione Trial (GISSI: Gruppo Italiano per lo Studio della Streptochinasi nell´Infarto Miocardio, 1999) zeigte, dass durch Aufnahme von 1 g Fischöl pro Tag nach Herzinfarkt tödliche kardiale Ereignisse um 15 % und der plötzliche Herztod um 45 % gesenkt werden konnte. Besonders reich an ω-3-Fettsäuren sind Fische aus kalten Meeresgewässern (. Tab. 16.3, mod. nach Singer 1997). Bei einer Makrelendiät (täglich etwa 100 g) mit 2,2 g Eicosapentaensäure konnte eine signifikante Senkung der Cholesterin- und Triglyzeridkonzentration im Serum sowie des systolischen Blutdrucks festgestellt werden. Bei einer Heringsdiät (täglich etwa 100 g) mit 1,0 g Eicosapentaensäure waren die Effekte weniger ausgeprägt, und der Blutdruck blieb unverändert (Kasper 2004). Jedoch kann der Verzehr von mehr als 30 g Seefisch täglich die Häufigkeit der KHK mindern.
. Tab. 16.3 Gehalt an ω-3-Fettsäuren in Seefischen, Lebertran und Fischöl(-kapseln) Fischart
EPA [g/100 g]
DHA [g/100 g]
Makrele
0,5
1,6
(Wild-)Lachs
0,5
0,7
Hering
1,0
0,7
Thunfisch
0,4
1,2
Lebertran
12
8
Lachsöl-Konzentrat
18
12
Extrakte
DHA Docosahexaensäure, EPA Eicosapentaensäure
246
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
16.4.4
Kapitel 16 · Dyslipoproteinämien
Trans-Fettsäuren
Den trans-Fettsäuren wird unter anderem eine Beteiligung an arteriosklerotischen Gefäßerkrankungen zugeschrieben. Sie entstehen bei der Hydrierung oder der Erhitzung mehrfach ungesättigter Fettsäuren, bei der Härtung von pflanzlichen Ölen und unter dem Einfluss von Mikroorganismen im Pansen von Wiederkäuern. In Deutschland spielt die Zufuhr von trans-Fettsäuren bisher eine untergeordnete Rolle. Dennoch ist in Schnellimbissrestaurants und bei Fertigprodukten vermehrt mit trans-Fettsäuren zu rechnen. Vorsicht ist ebenfalls bei dem Verzehr von Knabberwaren (Chips, Flips etc.) geboten. In den USA, wo Margarinesorten und hydrierte Pflanzenfette einen höheren Anteil an trans-Fettsäuren aufweisen, konnte gezeigt werden, dass Cholesterin- und LDL-Konzentration ansteigen, während die HDL-Konzentration bei hoher Zufuhr (>6 Energieprozent) bis zu 15 % sinkt. Auch in der Nurses’ Health Study konnte eine positive Beziehung zwischen verzehrter Menge an partiell gehärteten Fetten und der Häufigkeit an Myokardinfarkten festgestellt werden (Ascherio 1994).
12 13 14 15 16 17 18 19 20
16.4.5
Cholesterin
Der Einfluss des Nahrungscholesterins auf die Serumcholesterinkonzentration wird unterschiedlich bewertet, da dessen Ausprägung von Art und Menge der gleichzeitig verzehrten Nahrung abhängig ist. Auch die Höhe des bereits vorhandenen Serumcholesterins scheint die weitere Entwicklung bei der Nahrungszufuhr mitzubestimmen. Außerdem gibt es Hyper- und Hyporesponder. Die Studienergebnisse sind nicht eindeutig, in vielen Fällen findet sich jedoch eine direkte Korrelation zwischen Cholesterinzufuhr und Serumcholesterinkonzentration. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) empfiehlt, die mit der Nahrung zugeführte Cholesterinmenge auf ein Maß von 300 mg täglich zu beschränken. Besonders cholesterinreiche Lebensmittel sind in der . Tab. 16.4 (mod. nach Elmadfa et al. 2000) aufgeführt.
. Tab. 16.4 Cholesterinreiche Lebensmittel Lebensmittel
Cholesteringehalt [mg/100 g]
Milchprodukte Schlagsahne 30 % Fett
109
Schlagsahne extra
124
Crème fraîche 40 % Fett
141
Mascarpone
138
Robiola 75 % Fett i. Tr.
100
Bavaria blue 70 % Fett i. Tr.
112
Cambozola 70 % Fett i. Tr.
112
Eier und Trockeneipulver Hühnerei
604
1 Hühnerei Stück 58 g (Gew.-Kl. 4)
314
1 Hühnerei Stück 48 g (Gew.-Kl. 6)
264
Hühnereigelb
1.650
1 Eidotter mittelgroß 19 g
314
Hühnervollei getrocknet
2.200
Hühnereigelb getrocknet
3.100
Tierische Fette und Öle Butter (Süß- und Sauerrahm)
240
Butterschmalz
340
Gänseschmalz
100
Hammeltalg
100
Rindertalg
100
Lebertran
500
Mayonnaise 80 % Fett
142
Fische und andere Meerestiere Austern
260
Garnelen
138
Hummer
135
Flusskrebse
158
Miesmuscheln
150
Steckmuscheln (Klaffmuscheln)
113
Tintenfisch
170
Aal, Flussaal
164
16
247 16.5 · Einfluss anderer Nährstoffe auf die Serumlipidkonzentration
. Tab. 16.4 Fortsetzung
. Tab. 16.4 Fortsetzung
Lebensmittel
Cholesteringehalt [mg/100 g]
Lebensmittel
Cholesteringehalt [mg/100 g]
Aal, geräuchert
190
Leberpastete
150
Kaviar, echt russischer
300
Münchner Weißwurst
100
Ölsardinen in Dosen
140
Schinken, gesalzen/geräuchert
110
Geflügel Hühnerherz
170
Hühnerleber
492
16.5
Einfluss anderer Nährstoffe auf die Serumlipidkonzentration
16.5.1
Kohlenhydrate
Fleischwaren Hammelherz
140
Hammelhirn
2.200
Hammelleber
30
Hammellunge
215
Kalbsbries
250
Kalbsherz
140
Kalbshirn
2.000
Kalbsleber
360
Kalbslunge
370
Kalbsniere
380
Kalbszunge
140
Rinderkeule
120
Rinderherz
150
Rinderhirn
2.000
Rinderleber
260
Rinderlunge
235
Rinderniere
350
Rinderzunge
108
Schweinerückenspeck (frisch)
100
Schweineherz
154
Schweineleber
350
Schweineniere
385
Hase-/Hirsch-/Rehfleisch
110
Wurstwaren Bock-/Dosenwurst
100
Bratwurst
100
Kohlenhydrate spielen vordergründig bei der Hypertriglyzeridämie eine entscheidende Rolle, können jedoch indirekt auch eine Hypercholesterinämie beeinflussen. Trotz unterschiedlicher Studienergebnisse ist generell festzustellen, dass der Verzehr von Zucker, zuckerhaltigen Lebensmitteln, Süßwaren, Fruchtsäften und bei entsprechender Disposition auch der Verzehr größerer Obstmengen einen zum Teil beträchtlichen Anstieg der Triglyzeridspiegel zur Folge hat. Zumindest trifft dies für die Ernährungsgewohnheiten der westlichen Industrienationen zu, die durch erhöhte Energie- und Fettzufuhr und regelmäßigen Alkoholkonsum gekennzeichnet sind. Besonders häufig findet sich diese Konstellation bei Typ-2-Diabetikern und anderen übergewichtigen Patienten. Die in den genannten Lebensmitteln vorwiegend enthaltenen Mono- und Disaccharide steigern die hepatische VLDL-Triglyzeridsynthese. Das gleiche trifft auf die Zuckeraustauschstoffe wie Fruktose, Sorbit(ol) und Xylit zu. Deshalb sind sie auch bei Diabetikern, die häufig an einer Hypertriglyzeridämie leiden, keine Alternative zum Zucker. Süßstoffe wie Aspartame, Acesulfam-K, Cyclamat, Saccharin, Thaumatin und Neohesperidin sind ein geeigneter Ersatz. Kohlenhydrate in Form von Polysacchariden (Stärkeprodukte) sind insofern als positiv zu bewerten, als sie bei üblichen Verzehrmengen keine triglyzeridsteigernde Wirkung haben. Ein erhöhter Verzehr geht normalerweise gleichzeitig mit einer
248
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Kapitel 16 · Dyslipoproteinämien
Reduktion des Fleisch- und Wurstverzehrs einher, sodass auf diese Weise eine Senkung des Cholesterinspiegels erzielt werden kann. Die entsprechenden Lebensmittel wie Vollkornbrot, Vollkornreis oder -nudeln sowie Gemüse oder Rohkost zeichnen sich außerdem durch einen hohen Ballaststoffanteil aus. Daraus resultiert ein niedriger glykämischer Index und in vielen Fällen (. Tab. 16.5, mod. nach Foster-Powell et al. 2002) auch eine niedrige glykämische Last. Unter glykämischem Index (GI) versteht man die Fläche unter der Blutzuckerkurve nach dem Verzehr von 50 g Kohlenhydraten in Form verschiedener Lebensmittel im Vergleich zur Fläche unter Kurve nach Verzehr von 50 g reiner Glukose bzw. Weißbrot. Die glykämische Last (GL) berücksichtigt den jeweiligen Kohlenhydratgehalt je 100 g Lebensmittel.
. Tab. 16.5 Glykämischer Index und glykämische Last einiger Lebensmittel Lebensmittel
GI (wobei Glukose = 100)
GL pro Portion
Croissant
67
17
Waffeln
76
10
Franz. Baguette
95
15
Roggenvollkornbrot
41
5
Coca-Cola
63
16
Apfelsaft
40
12
Orangensaft
57
15
Gebäck
Getränke
Cerealien
> Berechnung der glykämischen Last
All-Bran (Kelloggs)
38
9
Kartoffeln haben z. B. einen hohen glykämischen Index, aber eine niedrige glykämische Last, da sie viel Wasser und nur relativ wenig Kohlenhydrate enthalten. Viele Hülsenfrüchte weisen eine optimal niedrige glykämische Last auf. Eine niedrige glykämische Last geht mit einem geringeren Insulinbedarf und niedrigen Triglyzeridspiegeln einher. Eine langjährige Ernährung mit Kohlenhydraten, die einen niedrigen glykämischen Index aufweisen, geht mit einer Abnahme des koronaren Risikos und einer geringeren Gesamtmortalität einher (Nurses‘ Health Study; Liu 1999). Vollkornbrot ist besonders günstig.
Cornflakes
72
18
Reis gekocht
69
30
Weizen
90
34
Durumweizen
50
17
Vollmilch
27
3
Joghurt
36
3
Äpfel
38
6
Kirschen
22
3
Bohnen
29
9
Linsen
30
9
Milchprodukte
Früchte
Gemüse
16 17 18 19 20
16.5.2
Ballaststoffe
Ballaststoffe haben einen cholesterinsenkenden Effekt, vor allem wenn es sich um Quellstoffe handelt. Sie sind in der Lage, Gallensäuren zu adsorbieren und die Resorption von Nahrungscholesterin zu mindern. Sie sind enthalten in Getreide (Hafer), vor allem aber in Gemüse, Leguminosen (Bohnen) und pektinreichen Obstsorten (Äpfel, Beeren, Zitrusfrüchte, Pfirsiche, Nektarinen, Mangos und andere exotische Früchte). Auch isoliert zugeführte Ballaststoffe wie Psyllium (indischer Flohsamen
GI Glykämischer Index, GL glykämische Last
und dessen Schalen), Guar oder Pektine werden seit Jahren mit Erfolg zur Senkung des Cholesterinspiegels eingesetzt. Sie führen zu einer Senkung des LDL-Cholesterins und zu einem Anstieg des HDLSpiegels.
249 16.5 · Einfluss anderer Nährstoffe auf die Serumlipidkonzentration
> Die Verabreichung isolierter Ballaststoffe sollte stufenweise in kleinen Mengen von etwa 2 g täglich mit den Mahlzeiten erfolgen und allmählich auf 15 g (5 g mit jeder Hauptmahlzeit) gesteigert werden.
Hafer und Gerstenkleie wirken ebenfalls cholesterinsenkend. Dieser Effekt konnte nach Gabe von Weizenkleie nicht beobachtet werden (Jenkins 1979). Die Empfehlung der DGE liegt bei mehr als 30 g Ballaststoffen pro Tag. Nach oben wird kein Limit gesetzt, entscheidend ist jedoch eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr von mindestens 1,5 l pro Tag. Zur Prävention und Therapie von Dyslipoproteinämien besonders günstig sind die löslichen Ballaststoffe, wie sie in Obst, Gemüse, Hülsenfrüchten und Vollkornprodukten vorkommen oder isoliert als Psyllium, Guar und Pektin. Sie senken nicht nur erhöhte Cholesterinspiegel, sondern können auch dazu beitragen, dass es nicht zu einer kohlenhydratinduzierten Hypertriglyzeridämie kommt. Allerdings gilt zu beachten, dass bei hoher Ballaststoffzufuhr die Wirkung von CSE-Hemmern (Cholesterin-Syntheseenzym-Hemmern) aufgehoben werden kann. Eine ballaststoffreiche Kost ist insbesondere dann von Vorteil, wenn im Rahmen der Therapiemaßnahmen gleichzeitig eine Gewichtsreduktion angestrebt wird, da sie ein hohes Maß an Sättigung gewährleistet.
16.5.3
Proteine
Pflanzliche Proteine, insbesondere das Sojaprotein, haben einen das LDL-Cholesterin senkenden Effekt. Als mögliche Ursache wird die im Vergleich zu tierischem Protein andersartige Lysin-ArgininRelation sowie die vermehrte Ausscheidung neutraler und saurer Sterole mit dem Stuhl, d. h. auch von Cholesterin diskutiert. Einer Metaanalyse zufolge war bei einem mittleren Verzehr von 47 g/ Tag eine signifikante Senkung des Serum-Cholesterinspiegels, des LDL-Cholesterins sowie der Triglyzeride zu verzeichnen (ca. 20 mg/dl), wobei der Effekt bei höheren Cholesterinspiegeln deutlich ausgeprägter war.
16.5.4
16
Antioxidanzien
Das mit Fleisch aufgenommene Häm- und Myoglobineisen scheint den oxidativen Stress zu steigern. Auch Nicht-Hämeisen aus Fleisch und Fisch wird besser resorbiert als Eisen aus pflanzlichen Lebensmitteln. Auf diese Weise steigt das Infarktrisiko. Eine entgegengesetzte Wirkung wird vor allem Vitamin E und β-Carotin zugesprochen. Als Radikalfänger und Reduktionsmittel schützen sie ungesättigte Fettsäuren vor Oxidation und mindern auf diese Weise die Bildung von oxidiertem LDL. Eine optimale Wirkung wird jedoch nur in Kombination mit Vitamin C erzielt, da dieses die Funktion hat, oxidiertes Vitamin E durch Reduktion zu reaktivieren. Als ausgeglichen gilt die Bilanz bei Maiskeimöl und Butter (pro Gramm zweifach ungesättigter Fettsäuren 0,5 mg Vitamin E zum Schutz vor Oxidation). Eine positive Vitamin-E-Bilanz ist vor allem durch Weizenkeimöl zu erreichen. Auch Baumwollsamenöl, Sonnenblumen- und Haselnussöl sind relativ reich an Vitamin E, während die Bilanz bei Distel-(Saflor-)öl und Sojaöl negativ ist. Als ausreichend im Sinne der Primärprävention gelten gemäß dem Hohenheimer Konsensusgespräch (Bässler et al. 2001) folgende Plasmakonzentrationen: 4 Vitamin C: ≥ 50 μmol/l 4 α-Tocopherol: ≥ 30 μmol/l 4 β-Carotin: ≥ 0,4 μmol/l Um ausreichende Plasmakonzentrationen an Antioxidanzien zu erreichen, werden die folgenden täglichen Zufuhrmengen empfohlen (Biesalski 1999; Elmadfa et al. 2000; Kasper 2004): 5 75–150 mg Vitamin C (beispielsweise enthalten in einer Kiwi bzw. 100 g Paprika, Broccoli oder Grünkohl), 5 15–30 mg Vitamin E (beispielsweise enthalten in 100 g Sonnenblumenkernen bzw. Mandeln oder Haselnüssen bzw. 10 g Weizenkeimöl) – die Gabe von reinem Vitamin E hat allerdings bisher nicht zu eindeutigen Erfolgen bzgl. der Entwicklung einer koronaren Herzkrankheit geführt , 6
250
1 2 3 4 5 6 7
Kapitel 16 · Dyslipoproteinämien
16.5.6 5 2–4 mg β-Carotin (beispielsweise enthalten in 50 g Grünkohl und Karotten oder 100 g Wirsing, roter Paprika, Feldsalat, Chicorée, Spinat oder Kürbis; in 0,5–1 kg BlutGrapefruit, Mangos oder Aprikosen). Weitere Inhaltsstoffe von Lebensmitteln mit protektiver, antioxidativer Wirkung sind neben den Carotinoiden die sekundären Pflanzenstoffe Phytosterine, Saponine, Glucosinolate, Polyphenole, Protease-Inhibitoren, Monoterpene, Sulfide und Lektine (DGE 2000).
12
Die Flavonoide zeichnen sich durch ihre protektive Wirkung hinsichtlich des Herzinfarktes aus. Eine signifikante inverse Beziehung ergab sich im Rahmen der Zutphen Elderly Study (Hertog et al. 1993). Besonders reich an Flavonoiden (Quercetin, Kämpferol, Myricetin) sind – neben grünen und schwarzen Tees – Rotweine sowie Gemüse und bestimmte Obstsorten: Grünkohl, Broccoli, grüne Bohnen, Endivien, Zwiebeln und Knoblauch sowie Äpfel, Kirschen, Aprikosen, Erdbeeren, Weintrauben und Johannisbeeren (Elmadfa et al. 2000).
13
16.5.5
8 9 10 11
14 15 16 17 18 19 20
Knoblauch
Knoblauch wird seit Langem eine positive Wirkung auf das Gefäßsystem, vor allem eine antiarteriosklerotische Wirkung, nachgesagt. Die biochemischen Grundlagen sind nicht genau geklärt, frischer Knoblauch bzw. frisch zubereitete Extrakte konnten in mehreren Studien das Serum-Cholesterin bis zu 18 % senken. Die Verzehrmenge entsprach dabei jedoch 7 bis 28 Knoblauchzehen bzw. 15–60 g Knoblauch. Weniger eindeutig sind die Studienergebnisse bei Anwendung von kommerziellen Knoblauchzubereitungen. Senkungen des LDLCholesterins lagen bei einigen Studien im Bereich von ca. 4–7 mg/dl . Die im Knoblauch reichlich enthaltenen sekundären Pflanzenstoffe wie Terpene und Phenolverbindungen könnten für eine reduzierte Oxidation des LDL-Cholesterins sorgen.
Koffein
Der Einfluss von Koffein auf den Cholesterinspiegel beziehungsweise auf das Infarktrisiko ist bisher nicht eindeutig belegt. Verschiedene Untersuchungen ergaben jedoch, dass eine lipidlösliche Fraktion des Kaffees zu einem Anstieg des Gesamtcholesterins, LDL-Cholesterins, Triglyzeriden und Apolipoprotein B führt. Diese Fraktion (Diterpene) kann durch das Filtern des Kaffees zu etwa 80 % eliminiert werden. Aufgebrühter Kaffee ist deshalb ebenso wie Espresso weniger empfehlenswert (Ahola et al. 1991). Koffeinfreier Kaffee erhöht das LDL-Cholesterin und Apolipoprotein B stärker als koffeinhaltiger Kaffee. Außerdem wird die Proteinlipaseaktivität im Serum reduziert (Kasper 2004).
16.5.7
Phytosterole und Phytostanole
Als therapeutischer Ansatz werden β-Sitosterin und β-Sitostanol sowie andere Phytosterole Diätmargarine und Milchprodukten wie Joghurts zur Senkung des LDL-Cholesterins beigemischt. Sie hemmen kompetitiv die Absorption von exogenem und die Reabsorption von endogenem (biliärem) Cholesterin aus dem Darm. Zahlreiche Studien mit entsprechend angereicherten Margarinen belegen besonders deutlich den senkenden Effekt auf das LDL-Cholesterin, der 18–25 % betragen kann, wenn täglich ca. 25 g als Butterersatz verwendet werden. Dieser Effekt zeigt sich selbst bei fettmodifizierter Ernährung und unter Einsatz von CSE-Hemmern – nicht jedoch bei Behandlung mit Ezetimib (Richter 2005).
251 16.6 · Grundsätzliche ernährungstherapeutische Maßnahmen bei primären Hyperlipidämien
16.6
16.6.1
Grundsätzliche ernährungstherapeutische Maßnahmen bei primären Hyperlipidämien Ernährung bei Hypercholesterinämie
Bei Übergewicht empfiehlt sich eine Reduktionskost mit einer Kalorienminderung von etwa 500 Kilokalorien pro Tag. Die Zufuhr gesättigter Fettsäuren sollte maximal 10 % der Gesamtenergie betragen und die Zufuhr an Cholesterin 300 mg/Tag unterschreiten. Bei einer Zufuhr an mehrfach ungesättigten Fettsäuren von ca. 10 % kann die Gesamtfettzufuhr dann durchaus bei ca. 40 % liegen (was die Compliance erleichtern kann). Vermehrter Verzehr von Ballaststoffen (40–50 g/Tag) wäre ebenfalls von Vorteil. Eine vegetarische Kost mit maximal 2 Eiern pro Woche wäre optimal, zumal diese gleichzeitig ballaststoffreich ist. Eier können heute durch entsprechende dotterfreie beziehungsweise cholesterinfreie Ei-Ersatzprodukte, die in Apotheken oder Reformhäusern angeboten werden, ersetzt werden. Auf Streich-, Brat- und Backfette sollte weitgehend verzichtet werden. Es sollte hauptsächlich Raps- oder Olivenöl verwendet werden. Statt Kokosfett sollten andere hocherhitzbare, ungehärtete Pflanzenfette verwendet werden. Zur Zubereitung von Salatsaucen empfiehlt sich außerdem Weizenkeim- oder Nussöl. Statt Fleisch sollten mehr Gemüse und Leguminosen sowie Kartoffeln verzehrt werden. Ansonsten eher Fisch als Fleisch essen – etwa 150 g pro Portion. Wurstwaren können durch vegetarische Pasten ersetzt werden. Vorzugsweise sollten Vollkornbrot oder Hafervollkornerzeugnisse verzehrt werden. Zum Abendbrot empfehlen sich Rohkostsalate und vorzugsweise Fischerzeugnisse (außer Krustentieren), ebenso Gemüseaufläufe oder -suppen.
16
Wenn alle diätetischen Maßnahmen genutzt würden, d. h. das Körpergewicht um 5 kg reduziert würde, 10 g lösliche Ballaststoffe aufgenommen, die Zufuhr gesättigter Fettsäuren unter 7 % der Gesamtenergie gesenkt, die Cholesterinaufnahme unter 200 mg täglich reduziert würde, 25 g Sojaeiweiß und auch 1–3 g Pflanzensterole, wie sie z. B. in becel pro-activ vorliegen, gegessen würden, gelänge es, die Blutfette um 35 % (Jenkins et al. 2000) und damit auch das Risiko kardiovaskulärer Krankheiten zu senken; eine medikamentöse Therapie wäre in der Regel überflüssig.
16.6.2
Ernährung bei Hypertriglyzeridämie
Die häufigsten Ursachen für eine Hypertriglyzeridämie sind Übergewicht, Alkoholabusus und erhöhter Verzehr von Süßigkeiten und Backwaren sowie zuckerhaltigen Getränken (leicht resorbierbare Kohlenhydrate). Die Korrektur dieser Ursachen führt im Allgemeinen schnell zu einer Senkung der Triglyzeride, wobei Zuckeraustauschstoffe keine Alternative zum Zucker darstellen, sie erhöhen den Triglyzeridspiegel zum Teil noch mehr als Zucker. Eine Alternative sind nur die bereits vorgestellten Süßstoffe. Auch bei einer Hypertriglyzeridämie wirkt sich eine ballaststoffreiche Kost positiv aus. Der Verzehr von Fleisch und Wurstwaren muss nicht so drastisch gesenkt werden wie bei der Hypercholesterinämie, wenn kein erhöhter Cholesterinspiegel und kein Übergewicht vorliegen. Als adjuvante Mittel gelten hingegen die ω-3-fettsäurereichen Fische (beispielweise Makrele, Sardinen, Hering, Thunfisch und Wildlachs). Anstelle von Fruchtsäften und Limonaden sollten Mineralwässer und Tees getrunken werden. Auch Obst kann zu einer gesteigerten hepatischen VLDL-Triglyzeridsynthese führen, wenn es in großen Mengen auf einmal genossen oder im Rahmen einer Reduktionsdiät reichlich verzehrt wird.
252
1 2
Gekochtes Gemüse und Rohkost wirken sich hingegen vorteilhaft aus.
16.6.3
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Kapitel 16 · Dyslipoproteinämien
Ernährung bei Chylomikronämie
Dieses Krankheitsbild tritt zwar relativ selten auf, geht jedoch mit spezifischen diätetischen Empfehlungen einher, zumal klinische Komplikationen wie eine akute Pankreatitis oder eruptive Xanthome zu befürchten sind. Akut empfiehlt sich für 1 bis 3 Tage eine Nulldiät (3 l kalorienfreie Flüssigkeit/Tag) um den hohen Triglyzeridspiegel zu senken. Dauerhaft muss sowohl auf Alkohol wie auf leicht resorbierbare Kohlenhydrate verzichtet werden. Fruchtsäfte, Limonaden sowie Cola-Getränke sollten ebenso gemieden werden wie Süßigkeiten und Gebäck. Da nur langkettige Fettsäuren (mit mehr als 12 C-Atomen) in Chylomikronen umgewandelt werden, ist ebenso auf eine Reduktion der Fettzufuhr zu achten. Diese sollte zunächst auf 10 % der Gesamtenergie reduziert werden. Dies entspricht etwa 20–25 g Fett pro Tag. Allmählich kann eine Steigerung der Fettzufuhr erfolgen – bis auf etwa 15–25 %. Die Anhebung erfolgt in Abhängigkeit vom Triglyzeridspiegel, der möglichst unter 500 mg/dl (5,5 mmol/l) liegen sollte. Anstelle der üblichen Fette können »MediumChain-Triglyceride« (MCT)-Fette verwendet werden, die nicht zu Chylomikronen verstoffwechselt werden. MCT-Fette gibt es derzeit in Form von Öl, Margarine, Streichkäse und NussnougatcremeErsatz im Handel (Reformhäuser). Um den Bedarf an essenziellen Fettsäuren zu decken, sollten täglich etwa 5–10 g eines linolsäurereichen Öls (Sonnenblumen- oder Maiskeimöl) verwendet werden. Grundsätzlich sollte eine fettarme, ballaststoffreiche Kost bei Normalgewicht beibehalten werden.
Zusammenfassung
19
16.7
20
Die Therapie der Hyperlipidämien wie Hypercholesterinämie und Hypertriglyzeridämie ist insofern von großer Bedeutung, als sie zu den wesentlichen Risikofaktoren für die Entstehung einer Arterioskle-
rose und/oder eines Herzinfarktes zählen. Genetische Faktoren und Lebensgewohnheiten wie Rauchen oder Bewegungsarmut spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle bei der Arterioskleroseentstehung. In jedem Fall lohnt sich eine Änderung der Ernährungsgewohnheiten, um das diesbezügliche Risiko zu minimieren. Im Vordergrund der Ernährung bei Hypercholesterinämie steht die Reduktion der Aufnahme gesättigter Fettsäuren auf maximal 10 % der Gesamtenergie. Die tägliche Cholesterinzufuhr sollte nicht mehr als 300 mg betragen. Der Verzehr an Innereien und tierischen Fetten, also Fleisch und Wurstwaren sowie fettreichen Milchprodukten, sollte auf ein Minimum reduziert werden. Empfehlenswert sind eine ballaststoffreiche Kost, reichlich Vollkornprodukte, Gemüse, Leguminosen und Obst. Monoensäurereiche Fette wie Oliven- oder Erdnussöl sind ebenfalls empfehlenswert. Eine solche Kost ist gleichzeitig reich an Antioxidanzien und sekundären Pflanzenstoffen, die als protektive Wirkstoffe gelten. Bei Übergewichtigen mit einer Dyslipidämie und besonders bei der Therapie der Hypertriglyzeridämie steht eine Gewichtsreduktion im Vordergrund. Mit ω-3-Fettsäuren können erhöhte Triglyzeride gesenkt werden; gleichzeitig sinkt die Mortalität an koronarer Herzkrankheit. Auch hier empfiehlt sich eine ballaststoffreiche Ernährung. Als Alternative zur kohlenhydratreichen Kost gilt eine Kost, die reich an Monoensäuen ist. In zahlreichen Studien hat eine Senkung der Cholesterin- und Triglyzeridspiegel die Inzidenz koronarer Herzerkrankungen sinken lassen, und sogar Rückbildungen arteriosklerotischer Veränderungen an Koronargefäßen wurden nachgewiesen. Diätetische Maßnahmen sind neben medikamentösen Maßnahmen somit auch im Rahmen der Sekundärund Tertiärprophylaxe lohnend.
Literatur Ahola I, Jauhiainen M, Aro A: The hypercholesteremic factor in boiled coffee is retained by a paper filter. J Intern Med 230:293–297 (1991) Ascherio A, Hennekens CH, Buring JE et al.: Transfatty acid intake and risk of myocardial infarction. Circulation 88:94–101 (1994) Bässler KH et al.: Hohenheimer Konsensusgespräche: Kaffee. Akt Ernährungsmed 26:202–212 (2001)
253 Literatur
Biesalski HK et al.: Vitamine. Thieme, Stuttgart, New York (1997) Biesalski HK et al.: Ernährungsmedizin. 2. Aufl. Thieme, Stuttgart, New York (1999) Burkard M: Dylipoporteinämien und Arteriosklerose In: Koula-Jenik H et al. (Hrsg.): Leitfaden Ernährungsmedizin. Elsevier, Urban & Fischer, München, Jena, S. 437-455 (2006) Clarke R, Frost C, Collins R et al.: Dietary lipids and blood cholesterol: quantitative meta-analysis of metabolic ward studies. Brit Med J 314:112–117 (1997) DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V.): Ernährungsbericht. DGE, Frankfurt a. M., S. 297–309 (2000) Elmadfa I, Aign W, Muskat E et al.: Die große GU Nährwert Kalorien Tabelle. Gräfe und Unzer, München (2000) Ford ES, Glies WH, Dietz H: Prevalence of the metabolic syndrome among US adults. J Am Med Ass 287:356–359 (2002) Foster-Powell K, Holt SHA, Brand-Miller JO: International table of glycemic index and glycemic load values: 2002. Am J Clin Nutr 76:5–56 (2002) Fredrickson DS, Levi RI, Lees RS: Fat transport in lipoproteins – an integral approach to mechanism and disorders. N Engl J Med 276:34, 94 148, 215, 273 (1967) GISSI-Prevenzione Investigators: Dietary supplementation with n-3 polyunsaturated fatty acids and vitamin E after myocardial infarction; results of the GISSI Prevenzione Trial. Lancet 354:447–455 (1999) Hertog GL, Feskens JM, Hollman CH et al.: Dietary antioxidant flavonoids and risk of coronary heart disease: The Zutphen Elderly Study. Lancet 342:1007–1011 (1993) Jenkins DJA, Reynold D, Leeds AR et al.: Hypocholesterolemic action of dietary fiber unrelated to fecal bulking effect. Amer J Clin Nutr 32:2430–2435 (1979) Jenkins DJA et al.: Viscous fibers, health claims and strategies to reduce cardiovascular disease risks. Am J Clin Nutr 71:401–402 (2000) Kasper H: Ernährungsmedizin und Diätetik. 8. Aufl. Urban & Schwarzenberg, München, Wien, Baltimore (1996) Kasper H: Ernährungsmedizin und Diätetik. 10. Aufl. Urban & Fischer, München (2004) Keys A: The diet and the development of coronary heart disease. J Chron Dis 4:364 (1956) Liu S, Stampfer MJ, Hu FB et al.: Whole grain consumption and risk of coronary heart disease: results from the Nurses‘ Health Study. Am J Clin Nutr 70:412–419 (1999) Richter WO: Taschenbuch der Fettstoffwechselstörungen. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart (2006) Singer P: Was sind, wie wirken Omega-3-Fettsäuren? Umschau, Frankfurt (1995) Singer P: Fisch gegen Herzinfarkt. Umschau, Frankfurt (1997) Wahrburg U, Assmann G: Fettstoffwechselstörungen, Herz und Kreislauf. In: Biesalski H-K et al. (Hrsg.): Ernährungsmedizin. Thieme, Stuttgart, New York, S. 376–390 (1999) Watts GF, Lewis B, Brunt JNH: Effects on coronary artery disease of lipidlowering diet or diet plus cholestyrami-
16
ne, in the St. Thomas‘ Atherosclerosis Regression Study (STARS). Lancet 339:563–569 (1992) Welsch A: Krankenernährung. 5. Aufl. Thieme, Stuttgart, New York (1986) Wolfe BM, Giovanetti PM, Cheng DCH et al.: Hypolipidemic effect of substituting soybean protein isolate for all meat and dairy protein in the diets of hypercholesterolemic men. Nutr Rep Intern 24:1187–1198 (1991)
255
Hyperurikämie und Gicht Marion Burkard, Karl Huth
17.1
Definitionen und Charakteristika – 256
17.1.1 17.1.2
Hyperurikämie – 256 Gicht – 256
17.2
Der Purin- und Harnsäurestoffwechsel – 258
17.2.1 17.2.2
Serumharnsäurekonzentrationen – 258 Bildung, Turnover-Rate und Poolgröße der Harnsäure – 259
17.3
Der Einfluss von Nahrungsmitteln auf Hyperurikämie, Uratsteine und Gicht – 260
17.3.1 17.3.2 17.3.3 17.3.4
17.3.6 17.3.7
Purine und deren Bausteine in Lebensmitteln – 260 Einfluss der Lagerung auf die Purine – 260 Einfluss der Zubereitung auf die Purine – 260 Einfluss unterschiedlicher Purinbausteine auf die Serumharnsäurekonzentration – 260 Einfluss weiterer diätetischer Faktoren auf den Purinstoffwechsel – 261 Alkohol – 263 Andere Getränke – 264
17.4
Diätetische Maßnahmen bei Hyperurikämie und Gicht – 264
17.5
Diätetische Maßnahmen zur Therapie und Prophylaxe von Harnsäuresteinen – 268
17.6
Zusammenfassung – 269
17.3.5
17
256
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 17 · Hyperurikämie und Gicht
Im Zuge der heute verbreiteten Fehl- und Überernährung treten bei entsprechender Veranlagung Hyperurikämie, Gicht und Harnsäuresteine vermehrt auf. Übergewicht, purinreiche Kost und Alkoholabusus gelten als die entscheidenden Auslöser. Daher bleibt trotz medikamentöser Möglichkeiten die richtige Ernährung die Basis jeder Therapie. In diesem Beitrag lesen Sie: 4 wie Hyperurikämie und Gicht mit der Ernährung zusammenhängen, 4 welche Rolle dabei den Purinen und der Harnsäure zukommt, 4 mit welchen diätetischen Maßnahmen Sie gegen Hyperurikämie, Gicht und Harnsäuresteine vorgehen können, 4 welche Lebensmittel dabei besonders zu empfehlen sind – und welche nicht.
17.1
Definitionen und Charakteristika
17.1.1
Hyperurikämie
Die Hyperurikämie ist die Vorstufe für Gicht und die auf Harnsäuresteinen beruhende Uratnephropathie. Die primäre Hyperurikämie (90 % aller Fälle) beruht auf einer angeborenen Harnsäurestoffwechselstörung. In etwa 99 % der Fälle handelt es sich um eine Störung der tubulären Harnsäuresekretion. Nur in weniger als 1 % der Fälle liegt eine vermehrte endogene Harnsäurebildung vor, entweder infolge mehrerer Enzymdefekte des Purinstoffwechsels oder aufgrund nur einer einzigen identifizierten Störung wie zum Beispiel beim LeschNyhan-Syndrom. In der Regel ist die Pathogenese multifaktoriell. Exogene Faktoren scheinen heute durch Förderung überhöhter Serumharnsäurekonzentrationen von entscheidender Bedeutung für die Manifestation einer Gicht zu sein. Unterschiedlichste Umweltfaktoren spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle. Wichtig sind vor allem (Kasper 2004): 4 hyperkalorische Ernährung 4 exzessiver Genuss von Fleisch und Wurstwaren 4 Alkoholabusus 4 mangelnde körperliche Aktivität 4 Medikamente
Eine sekundäre Hyperurikämie kommt relativ selten vor (10 % aller Fälle). Sie kann unterschiedlichste Ursachen haben (Siener 2005): 4 Vermehrte Harnsäurebildung 5 vermehrte alimentäre Purinzufuhr 5 Adipositas 5 Hämoblastosen (Polyzythämie, Leukämie, myeloproliferative Erkrankungen) 5 maligne Erkrankungen – mit vermehrtem Zellzerfall bei zytostatischer Behandlung 5 systemische Erkrankungen (Psoriasis) 5 Glukose-6-Phosphatase-Mangel 5 Fruktose, Xylit, Sorbit 4 Verminderte renale Harnsäureausscheidung 5 Niereninsuffizienz 5 Medikamente (z .B. Diuretika, Nikotinsäure) 5 Alkohol 5 Hyperlaktazidämie 5 Ketoazidose (z. B.Fasten, entgleister Diabetes mellitus) 5 respiratorische Azidose 5 Vergiftungen (z. B. Blei, Beryllium, Kohlenmonoxid/CO) 5 arterielle Hypertension 5 Myxödem 5 Hyperparathyreoidismus 4 Kombination aus vermehrter Harnsäurebildung und verminderter renaler Harnsäureausscheidung: 5 Glykogenspeicherkrankheit vom Typ I (Von-Gierke-Krankheit) 5 akute schwere körperliche Belastung 5 fette bzw. fettreiche Kost
17.1.2
Gicht
Jegliche Form der Hyperurikämie führt in Abhängigkeit von der Höhe der Harnsäurekonzentration im Plasma früher oder später zum Gichtanfall. Eine Gicht ist gekennzeichnet durch anfallsartig auftretende, sehr schmerzhafte Gelenkentzündungen. Nicht selten beginnt diese Arthritis urica nachts im Großzehengrundgelenk und kann mit Schüttelfrost und Fieber einhergehen. Die Häufigkeit der Anfälle ist individuell verschieden. Neben dem Großzehengrundgelenk können auch die Sprunggelenke,
257 17.1 · Definitionen und Charakteristika
das Daumengrundgelenk, die Fingergelenke, die Kniegelenke (Gonagra), die Handwurzelgelenke (Chiragra), die Schulter (Omagra) oder die Wirbelsäule (Ruchisagra) betroffen sein. Die für die Gichtanfälle gebräuchliche Bezeichnung Podagra (Fußschlinge) war früher gleichbedeutend mit Gicht. Gemäß der Vorstellung, dass Säuretropfen aus dem Blut in die Gelenke gelangen, entstand aus dem lateinischen Wort »gutta« (Tropfen) der Begriff Gicht. In typischen Fällen können 4 Stadien der primären Gicht unterschieden werden (Mertz 1987): 4 die asymptomatische Gichtanlage, die gleichbedeutend ist mit einer familiären oder primären Hyperurikämie 4 der akute Gichtanfall 4 die interkritischen Phasen 4 das chronische Stadium Als sinnvoll hat sich daneben die Einteilung in 2 Stadien erwiesen: 4 das Stadium der akut rezidivierenden Anfälle 4 das Stadium der chronischen Gicht Im Verlauf der Erkrankung kann es zu chronischen Gelenk- und Skelettveränderungen kommen. Durch Bildung von Tophi (lokalen Ablagerungen von Natriumurat) an Gelenken, Sehnen und Knorpelgewebe treten persistierende Gelenkbeschwerden auf und der Gelenkknorpel degeneriert. Im späteren Stadium entstehen Knochentophi im Bereich der Hände und Füße sowie Weichteiltophi in der Subkutis oder im Schleimbeutel (Siener 2005). Im höheren Alter kann sich die Gicht auch ohne akute Phase als primär chronische Gicht manifestieren, während bei jüngeren Patienten Nierenveränderungen dem Auftreten von Gichtanfällen um Jahre vorausgehen können. Beides kann die Unterscheidung von anderen, auch primär nicht entzündlichen Gelenkerkrankungen, beziehungsweise die Frühdiagnose erschweren. Bei jeder akuten Monoarthritis des erwachsenen Mannes sollte an einen Gichtanfall gedacht werden, wobei Fieber und Leukozytose die Diagnose eher bestätigen (Wolfram 1995). Die Angaben über das Verhältnis von männlichen zu weiblichen
17
Gichtkranken schwanken von 7:1 (Mertz 1987) bis 10:1 (Kasper 2004). Infolge der allgemeinen kalorischen Überernährung und zunehmender Verringerung der körperlichen Aktivitäten tritt die Gicht heute bei etwa 1–2 % der Durchschnittsbevölkerung auf. Bei chronischem Verlauf kann die klinische Abgrenzung zur chronischen Polyarthritis Schwierigkeiten bereiten. Diagnostisch hilfreich sind der typische Gelenkbefall am Daumen, aber auch der Nachweis einer Hyperurikämie. Grundsätzlich umfasst die Diagnostik folgende Bereiche:
Labor 5 Serumharnsäurekonzentration, Harnsäureausscheidung im 24-h-Harn, Kreatininclearance 5 Urinstatus (pH-Wert, Eiweiß, Leukozyten, Zylinder) 5 Harnsediment, Harnsteinanalyse (Infrarotspektroskopie, Röntgendiffraktion) 5 Blutbild und Differenzialblutbild, Blutsenkungsgeschwindigkeit, C-reaktives Protein, Rheumafaktoren 5 Leberparameter Glutamat-OxalacetatTransferase, Glutamat-Pyruvat-Transaminase, Gamma-Glutamyltransferase, alkalische Phosphatase (Hinweis auf Alkoholabusus) 5 Blutzuckertagesprofil, Glukoseausscheidung im 24-h-Harn und evtl. orale Glukosebelastung, Lipidprofil 5 Arthro- und Weichteilsonographie, Abdomen-Sonographie 5 diagnostische Gelenkpunktion: bei unklaren Fällen, Ausschluss septische Arthritis 5 Röntgenuntersuchung, NMR (nuclear magnetic resonance bzw. Kernspinresonanz): bei unklaren Fällen (Siener 2005)
Als sekundäre Gicht bezeichnet man gichtige Veränderungen als Folge anderer Krankheiten oder Ursachen, die eine Anhäufung von Harnsäure bedingen. Sie sind bereits im Zusammenhang mit der sekundären Hyperurikämie erwähnt worden.
258
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Kapitel 17 · Hyperurikämie und Gicht
Eine Beteiligung der Niere ist bei den meisten Gichtkranken zu erwarten. 50–70 % der Patienten mit Uratsteinen weisen eine Hyperurikämie auf. Allerdings stellte Mertz (1987) nach Beobachtung an 675 Patienten fest, dass die Häufigkeit der Nephrolithiasis erst nach Überschreiten einer Harnsäurekonzentration von 9 mg/100 ml Serum stärker ansteigt. Bei Überschreiten dieser kritischen Konzentration kommt es zur Ausfällung und Ablagerung von Mononatriumuratkristallen. Diese Materialansammlungen wirken vermutlich als Gewebereize und geben Anlass zur Entwicklung einer Gichtnephropathie. Voraussetzung für die Steinentstehung bei Hyperurikämie ist die erhöhte Harnsäurekonzentration im Harn; für die Steinbildung selbst ist der Säuregrad des Urins ausschlaggebend. Bei einem pH-Wert des Urins von 5,4 sind 70 % der Harnsäuremoleküle dissoziiert, bei 6,4 nur noch 20 %. Die Bildung gemischter Nierensteine wird auf bereits ausgefällte Harnsäurekristalle zurückgeführt. Mononatriumuratkristalle sind wirksame heterogene Kondensationskerne, die eine Kristallisation von Kalziumoxalat aus einem übersättigten Harn hervorrufen können. Normalerweise ist der tubuläre Transport von Urat und Oxalat auf das proximale Nephron beschränkt. Hohe Konzentrationen im Bereich der Henle-Schleife begünstigen aufgrund ihrer Länge und des extrem engen Lumens die Präzipitation von Natriumurat und Kalziumoxalat.
Gefährdet ist der Gichtkranke insbesondere durch die häufige Nierenbeteiligung, die zur Niereninsuffizienz, verbunden mit einem nephrogenen Bluthochdruck, und in der Folge zu einer Herzinsuffizienz führen kann (Kasper 2004).
17.2
Der Purin- und Harnsäurestoffwechsel
17.2.1
Serumharnsäurekonzentrationen
Der Abbau von Purinen führt im Stoffwechsel des Menschen zum Endprodukt Harnsäure, was in geringem Umfang auch für den Aminosäurestoffwechsel zutrifft. Zwischen Serum- und Plasmakonzentration besteht bei der Harnsäure kein signifikanter Unterschied. Ihre Höhe ist abhängig von: 4 der endogenen Harnsäuresynthese, die durch die Umwandlung von im Körper gebildeten purinhaltigen Zellkernbausteinen bedingt ist, 4 der exogenen Purinzufuhr mit der Nahrung, 4 der entsprechenden Ausscheidung. Eine Fülle von endogenen und exogenen Faktoren nimmt Einfluss auf den sogenannten Harnsäurepool (. Abb. 17.1, mod. nach Wolfram 1995). Bis zum 5. Lebensjahr liegen die Serumharnsäurekonzentrationen beider Geschlechter am
14 15
endogene Harnsäuresynthese
exogene Purinzufuhr
ca. 300 mg/Tag
ca. 400 mg/Tag
16 Harnsäurepool ca. 900 bis 1,600 mg
17 18 19
Abbau
45 bis 85 %
Ausscheidung
Darm
Niere
20 %
80 %
20
. Abb. 17.1 Harnsäurestoffwechsel beim Menschen
259 17.2 · Der Purin- und Harnsäurestoffwechsel
. Tab. 17.1 Harnsäure-Normwerte pro 100 ml Serum Männer
3,5–5,5 mg
Frauen (prämenopausal)
2,5–4,5 mg
Frauen (postmenopausal)
3,5–5,5 mg
Oberer Normwert
6,5 mg
niedrigsten, und zwar bei etwa 3,5 mg/100 ml. Eine deutliche Geschlechtsdifferenz entwickelt sich ab dem 10. Lebensjahr, sie ist zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr am deutlichsten ausgeprägt. Männer erreichen in dieser Lebensspanne bereits ihre maximalen Werte. Für die Alters- und Geschlechtsunterschiede scheinen hormonelle Einflüsse verantwortlich zu sein. Unter Östrogenbehandlung erhöhen sich beispielsweise die renale Ausscheidung und Clearance der Harnsäure. Frauen weisen entsprechend bis zur Menopause beziehungsweise unter Östrogenwirkung um 1 mg/100 ml niedrigere Konzentrationen auf (Mertz 1987). Normwerte der Harnsäurekonzentration sind in . Tab. 17.1 (mod. nach cpc 1997) wiedergegeben. Die Löslichkeit von Natriumurat im Plasma beträgt bei Körpertemperatur 6,4 mg/100 ml. Bei höheren Serumharnsäurewerten liegt eine Hyperurikämie vor. Ab derartigen Konzentrationen kann es zur Ausfällung und Ablagerung von Harnsäuresalzen kommen. Bei 140 mmol Natriumionen pro Liter Plasma wurde die maximale Gleichgewichtskonzentration von Urationen mit 6,8 mg/100 ml bei 37,0 °C gemessen. Bei 10 °C fällt sie bereits auf 1,2 mg/100 ml. Wegen dieser Temperaturabhängigkeit muss damit gerechnet werden, dass bei Körperteilen, die weit unter der Kerntemperatur liegen und hinsichtlich des Natriumurats chronisch übersättigt sind, eher Uratpräzipitationen auftreten können.
17.2.2
Bildung, Turnover-Rate und Poolgröße der Harnsäure
Purine sind Bestandteile der Nukleinsäuren DNS (Desoxyribonukleinsäure) und RNS (Ribonukleinsäure) oder von energiereichen Phosphaten wie
17
dem ATP (Adenosintriphosphat). Sie werden zum einen im Körper selbst synthetisiert und abgebaut, zum anderen über Nahrungsmittel tierischer und pflanzlicher Herkunft exogen aufgenommen. An der endogenen Harnsäuresynthese sind sämtliche Organe beteiligt. Löffler und Mitarbeiter (1992) schätzen jedoch, dass etwa ein Drittel bis die Hälfte aus dem Abbau der Kerne in den Erythroblasten resultiert. Die bei der täglichen Regeneration der Erythrozyten freigesetzte endogene Härnsäuremenge beziffern sie auf 100–290 mg. 4 Durch den Abbau von Nukleotiden und die direkte Synthese einfacher stickstoffhaltiger Verbindungen scheiden gesunde Menschen bei purinfreier Kost 300–500 mg Harnsäure pro Tag aus. 4 Durch den Verzehr purinhaltiger Kost steigt der Harnsäureumsatz um 100–500 mg pro Tag (Mertz 1987; Wolfram 1995). 30–70 % davon erscheinen als Harnsäure im Urin. 4 Bei einer Zufuhr von etwa 300 mg Purin-Stickstoff ist bereits mit einer Überschreitung der oberen Normgrenze der Serumharnsäurekonzentration zu rechnen (Mertz 1987). 4 Die Summe aus endogenem und exogenem Harnsäureanfall, also die mittlere TurnoverRate, wird von Scott und Mitarbeitern (1969) mit 701 mg pro Tag beziffert (Spannbreite 602– 838 mg). 4 Bei Patienten mit Gicht und/oder Hyperurikämie betrug die mittlere Turnover-Rate 861 mg pro Tag (Spannbreite 506–1.542 mg). 4 Der aus den beiden Harnsäurequellen resultierende Harnsäurebestand, der sogenannte Harnsäurepool, lag bei einer gesunden Vergleichsgruppe im Bereich von 1.221 mg (Spannbreite von 992–1650 mg). Etwa 60 % davon werden pro Tag durch Neubildung ersetzt. 4 Bei Patienten mit Gicht und/oder Hyperurikämie betrug der Harnsäurepool durchschnittlich 2.027 mg (Spannbreite 1.248–3.199 mg). Die Existenz eines »zweiten Harnsäurepools«, der sich in höheren Werten ausdrückt, wurde von Scott (1969) bei Gichtpatienten mit definierten klinischen Tophi beobachtet.
260
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 17 · Hyperurikämie und Gicht
17.3
Der Einfluss von Nahrungsmitteln auf Hyperurikämie, Uratsteine und Gicht
17.3.1
Purine und deren Bausteine in Lebensmitteln
Trotz vielfältiger medikamentöser Möglichkeiten bleibt auch heute noch eine purinarme Ernährung die Basis jeder Gichttherapie. Auf diese Weise wird das bei Hyperurikämikern gestörte Gleichgewicht zwischen Bildung und Ausscheidung von Harnsäure entscheidend beeinflusst. In einer durchschnittlichen Kost werden bei uns mehr als 300 mg Nahrungspurine täglich aufgenommen. Der Puringehalt pflanzlicher und tierischer Lebensmittel richtet sich nach deren ursprünglicher biologischer Funktion und Aufgabe. So zeichnen sich Samen und Körner, die der Erhaltung und Fortpflanzung der Art dienen, durch einen sehr hohen Gehalt an Zellkernen aus. In Innereien ist der Zellkerngehalt ebenfalls besonders hoch. Das gleiche gilt für die Haut von Geflügel und Fischen sowie für Schweineschwarte. Tierisches Fleisch ist funktionsgemäß mit vielen energiereichen Phosphaten wie ATP, AMP (Adenosinmonophosphat) oder IMP (Inosinmonophosphat) angereichert. Bedingt durch ihren verschiedenen biologischen Ursprung können Lebensmittel auch in ihrem Gehalt an RNS und DNS starke Unterschiede aufweisen. Neben den unterschiedlichen Nukleinsäuren enthalten die einzelnen Produkte auch unterschiedliche Anteile und Zusammensetzungen an Purinbasen. Je höher der Fettgehalt, desto niedriger der Puringehalt. Auch einzelne Körperpartien von Tieren können unterschiedliche Purinbausteine aufweisen. Die Brustmuskulatur von Hähnchen enthält beispielsweise mehr Mononukleotide als deren Beinmuskulatur (Stoll 1971). Auch Meerestiere unterscheiden sich in ihren Purinkonzentrationen. Besonders purinreich sind Sprotten, Ölsardinen, Forelle und Thunfisch, während Räucheraal, Scholle und Zander vergleichsweise niedrige Konzentrationen aufweisen (Wolfram 1995; cpc 1997).
17.3.2
Einfluss der Lagerung auf die Purine
Die Zusammensetzung der niedermolekularen Purinkörper hängt wesentlich von der Lagerung ab. Während beim lebenden Tier die energiereichen Phosphate in Form von ATP, ADP (Adenosindiphosphat) und AMP vorliegen, werden diese nach der Tötung der Tiere in Abhängigkeit von der Lagertemperatur abgebaut, sodass nach einer gewissen Zeit 60–80 % der Purine in abgebauter Form vorliegen (Wolfram 1995).
17.3.3
Einfluss der Zubereitung auf die Purine
Zubereitungsverfahren wie Kochen, Braten und Grillen haben ebenfalls einen Einfluss auf die Purinkörper. Die Konzentrationen in Fleisch, Wurstwaren und Fisch verändern sich im Vergleich zum rohen Lebensmittel (. Tab. 17.2, mod. nach Wolfram 1995). Gesamtpuringehalt, RNS und DNS werden zugunsten von Mononukleotiden, Nukleosiden und Purinbasen reduziert. Durch einen Verlust an Wasser, wie beim Räuchern, kann der Anteil an Purinen pro Gewichtseinheit ansteigen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass geräucherte Produkte grundsätzlich purinreicher sind als nicht geräucherte Produkte. Räucheraal enthält 78 mg Harnsäure pro 100 g, frische Forelle dagegen 297 mg (cpc 1997). Beim Kochen und Braten geht ein Teil der Purine ebenfalls verloren. Verwirft man das Kochwasser, ist der Verlust beim Kochen wesentlich größer.
17.3.4
Einfluss unterschiedlicher Purinbausteine auf die Serumharnsäurekonzentration
Die verschiedenen in den Lebensmitteln enthaltenen Purine werden durch unterschiedliche Enzyme des Darms über Zwischenstufen in Nukleoside und Mononukleotide gespalten. DNS wird im Verdauungstrakt nur halb so gut gespalten wie RNS. Damit wirkt sich die Aufnahme von DNS weniger stark auf die Serumharnsäurekonzentration aus als
17
261 17.3 · Der Einfluss von Nahrungsmitteln auf Hyperurikämie, Uratsteine und Gicht
. Tab. 17.2 Gehalt an Gesamtpurinen, DNS und RNS vor und nach Speisenzubereitung Lebensmittel
Bezugsgröße
Gesamtpuringehalt
RNS-Purine
DNS-Purine
Kalbsbraten Roh Gebraten
mg/100 g
188
29
4
mg/77 g
161
8
3
mg/100 g
384
132
164
mg/68 g
307
39
25
mg/100 g
319
100
49
mg/81 g
324
50
7
mg/100 g
182
11
7
mg/75 g
151
3
3
Schweinemilz Roh Gebraten Schweineleber Roh Gebraten Schweinebraten Roh Gebraten
die RNS-Zufuhr. Eine purinreiche Kost mit hohem DNS-Gehalt wird die Harnsäurewerte daher weniger erhöhen als eine relativ purinarme Kost, die vergleichsweise RNS-reich ist. Der Verzehr von 4 g RNS pro Tag bewirkt bereits eine Verdoppelung der Serumharnsäurekonzentration. Bei Innereien – mit Ausnahme des Pankreas – überwiegt der Gehalt an DNS den an RNS (. Tab. 17.3, mod. nach Mertz 1987). Stark harnsäureerhöhend wirkt das Nukleosid Guanosin, das reichlich in Bier vorhanden ist. Auch die Purinbasen Hypoxanthin und Adenin erhöhen die Harnsäurekonzentration stark, während Xanthin und Guanin nur eine geringe Wirkung haben. Hypoxanthin ist die am meisten vorhandene niedermolekular gebundene Base, die in höchsten Konzentrationen in Fleischextrakt und Fischen vorkommt. Auch Herz und Muskelfleisch sind reich an Hypoxanthin.
17.3.5
Einfluss weiterer diätetischer Faktoren auf den Purinstoffwechsel
Proteinreiche Kost ruft per se keine Hyperurikämie hervor, da Protein in größeren Mengen genossen durch die urikosurische Wirkung der Aminosäuren einen Anstieg der renalen Harnsäureausscheidung bewirkt. Fettreiche Kost kann in Extremfällen, beispielsweise bei der Atkins-Diät, bei gleichzeitig geringer Kohlenhydratzufuhr zu einem Anstieg der Serumharnsäure führen. Da fettreiche Kost die Bildung von Ketosäuren fördert und diese die Ausscheidung der Harnsäure hemmen, kommt es zu einem entsprechenden Anstieg der Serumwerte. Bestimmte Kohlenhydrate wie die Zuckeraustauschstoffe Fruktose, Sorbit und Xylit führen in relativ hohen Dosen bei einmaliger oraler Gabe oder bei i. v.-Gabe zu einem kurzfristigen, bis zu vierstündigen Anstieg der Serumharnsäurekonzentration und der renalen Ausscheidung von Harnsäure. Zu beachten ist dieser Aspekt lediglich bei zu Anfällen neigenden Gichtkranken und parenteral ernährten Patienten. Unter parenteraler Ernährung und Dauerinfusion von 0,5 g Xylit pro Kilogramm Körperge-
262
1 2
Kapitel 17 · Hyperurikämie und Gicht
. Tab. 17.3 Gehalte verschiedener Lebensmittel an Nukleinsäuren und Inosinmonophosphat/Hypoxanthin* RNS [g/kg TM]
DNS [g/kg TM]
IMP [g/kg TM]*
TM [%]
Rind
3
Rückenmark
2,98
1,00
4,16
33,80
Muskel (abgehangen)
3,96
1,70
6,25
25,80
4
Muskel (frisch)
3,70
1,70
4,54
22,70
Leber
27,58
21,78
14,92
28,00
Niere
16,30
18,65
8,84
22,50
Herz
7,32
6,12
16,30
20,20
5 6
Schwein
7
Roh
4,36
3,09
19,32
24,74
Gekocht
7,56
5,63
14,03
25,51
8
Gebraten
3,64
2,71
14,37
38,29
Muskel
4,92
2,40
11,64
11,75
93,78
21,64
9,21
23,10
5,02
2,52
3,84
31,72
Leber
24,30
10,06
6,44
28,10
Herz
8,36
4,78
7,81
22,30
Muskel
6,10
2,34
12,26
19,40
19,02
17,86
11,01
17,54
Thunfisch (Konserve)
2,04
0,96
14,23
(Konserve)
Seelachsfilet
3,48
0,44
19,86
15,38
Rotbarschfilet
4,54
1,86
19,86
22,00
Kabeljaufilet
5,66
0,36
10,67
19,09
Geräucherte Makrele (mit Haut)
1,86
0,68
6,70
40,10
Eingelegte Anchovis (mit Haut)
2,46
0,90
10,27
37,90
Geräucherte Sprotten (mit Haut)
3,40
3,12
14,50
35,70
Matjes (mit Haut)
2,40
0,72
9,00
43,20
Scholle (mit Haut)
1,08
2,30
7,82
25,80
27,76
23,34
7,98
22,41
3,94
3,11
2,40
55,50
10,82
4,98
7,04
45,40
9
Bauchspeicheldrüse Hirn
10 11 12
Schaf
Niere
13 14 15 16 17 18 19
Fisch
Kalb Kalbsleber
20
Kalbsleberwurst Grobe Leberwurst
17
263 17.3 · Der Einfluss von Nahrungsmitteln auf Hyperurikämie, Uratsteine und Gicht
. Tab. 17.3 Fortsetzung RNS [g/kg TM]
DNS [g/kg TM]
IMP [g/kg TM]*
TM [%]
Weizen
1,39
0,71
–
88,30
Linsen
4,60
0,75
–
90,40
Entfettetes Sojamehl
9,52
–
–
96,60
Liebigs Fleischextrakt
–
–
74,26
80,20
80,04
6,89
14,13
24,60
Bäckerhefe
* Hypoxanthin wurde als Inosinmonophosphat berechnet DNS Desoxyribonukleinsäure, IMP Inosinmonophosphat, RNS Ribonukleinsäure, TM Trockenmasse
wicht (kg KG) wurde bereits nach wenigen Minuten ein Anstieg des Serumharnsäurewertes beobachtet (Heuckenkamp 1972). Nach hochdosierter, rascher Infusion von Fruktose (1,5 g/kg KG innerhalb von 20 min) tritt ebenfalls eine Hyperurikämie auf, die allerdings durch Allopurinol oder Orotsäure hemmbar ist (Mertz 1987). Als Ursache wird ein vermehrter Katabolismus präformierter Purinkörper angesehen, da die rasche Phosphorylierung von Fruktose zu einer Verarmung an energiereichen Phosphaten führt. Beobachtet wurde eine gesteigerte Abgabe von Harnsäure aus der Leber (Grunst et al. 1974). Bei Verwendung dieser Zuckeraustauschstoffe als Süßungsmittel werden die genannten Mengen in der Regel nicht erreicht. Normalerweise gleicht sich die hyperurikämisierende Wirkung tagsüber verzehrter Zuckeraustauschstoffe über Nacht wieder aus (Förster 1971). Unter saccharosearmer Ernährung nimmt die Serumharnsäurekonzentration um etwa 0,5 mg/100 ml ab.
17.3.6
Alkohol
Alkoholkonsum trägt auf unterschiedliche Weise zur Hyperurikämie bei: 4 Alkohol fördert die Harnsäurebildung in der Leber und setzt die Harnsäureausscheidung durch die Nieren herab. Für die Alkoholoxidation zu Acetaldehyd und Acetat werden große Mengen an NAD (Nicotinsäureamidadenindinucleotid) zu NADH reduziert. Der NADHAnstieg beeinflusst das Gleichgewicht aller
NAD-NADH-abhängigen Stoffwechselreaktionen. Daraus resultiert auch eine vermehrte Umbildung von Pyruvat in Laktat. Die Rückführung von Laktat in Pyruvat erfordert NAD, das bei entsprechendem Alkoholkonsum nicht mehr in ausreichenden Mengen zur Verfügung steht. Bei Zufuhr von weniger als 100 g innerhalb von 4 Stunden hat dieser Stoffwechselprozess jedoch nur einen geringfügigen Anstieg des Serumlaktats zur Folge. 4 Eine durch vermehrten Alkoholkonsum bedingte Hyperlaktatazidämie hat durch Verminderung der renalen Harnsäureausscheidung eine hyperurikämisierende Wirkung. Außerdem hat Alkohol eine diuretische und eine geringe urikosurische Wirkung. Durch die Diurese wird der Extrazellulärraum verkleinert und die Rückresorption von Harnsäure erhöht, was eine Verminderung der Harnsäure-Clearance zur Folge hat (Wolfram 1995). Bei Gichtikern führt bereits eine mäßige Alkoholbelastung von weniger als 150 mg/100 ml Plasma zu einer Förderung der Uratsynthese durch die Erhöhung des Umsatzes von ATP zu AMP. Dieses kann entweder in Oxipurine oder Harnsäure umgewandelt werden (Faller 1982). 4 Die Zufuhr von Alkohol während einer Fastenphase führt zu einem vermehrten Anstieg des Serumharnsäurespiegels und zu einem Fortschreiten der durch das Fasten induzierten Ketonämie und Ketonurie. Alkohol ist eher als Fett in der Lage, eine Hyperketonämie hervorzurufen. Eine Hyperketonämie kann die durch Hyperlaktazidämie bedingte Azidose und Hyperurikämie verstärken und im Einzelfall
264
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Kapitel 17 · Hyperurikämie und Gicht
durchaus eine alkoholinduzierte Ketoazidose auslösen. Falls Gichtiker während einer Fastenphase Alkohol trinken, muss mit einem akuten Gichtanfall gerechnet werden (Mertz 1987). 4 Neben den metabolischen Wirkungen des Alkohols ist ferner der unterschiedliche Puringehalt alkoholischer Getränke zu berücksichtigen. Biere sind aufgrund ihres Hefegehalts besonders purinreich. Alkoholfreie Biere sind davon nicht ausgenommen. Chronischer Alkoholkonsum, der sich bei vielen Hyperurikämikern und Gichtkranken nachweisen lässt, ist ein bedeutender Manifestationsfaktor der arteriellen Hypertonie. Die Schwellendosis für eine eigenständige, alkoholinduzierte Hypertonie wird mit nur 30 g Alkohol pro Tag angesetzt. Eine halbe Million Menschen beziehungsweise 7–10 % der Hypertoniker zählen schätzungsweise zu den Betroffenen in der Bundesrepublik. Das Therapiebestreben lohnt sich in jedem Fall, da selbst bei chronischen Alkoholikern nach 3- bis 9-monatiger Alkoholabstinenz eine vollständige Reversibilität der Hypertension nachgewiesen werden konnte (Mertz 1987).
18 19 20
mg Purin-N, entsprechend 2,4 mg (0,14 mmol) Harnsäure Getränke
Harnsäuregehalt [mg/100 ml]
Apfelsaft
8
Cola-Getränk
10
Cola-Getränk, light
2
Grapefruitsaft, frisch gepresst
10
Karottensaft
5
Orangensaft, frisch gepresst
12
Sanddornsaft
3
Tomatensaft
5
Biere, alkoholhaltig Vollbier
13
Pils
11
Export
11
Kölsch
6
Alt
5
Weißbier
15
Biere, alkoholfrei
17.3.7
Andere Getränke
Kaffee, Kakao und Tee enthalten zwar Methylpurine, aber diese Xanthinbasen werden nicht zu Harnsäure abgebaut. Diese Getränke können infolgedessen hinsichtlich einer Hyperurikämie bedenkenlos getrunken werden (. Tab. 17.4, mod. nach Wolfram 1995; cpc 1997).
16 17
. Tab. 17.4 Harnsäuregehalt von Getränken pro
17.4
Diätetische Maßnahmen bei Hyperurikämie und Gicht
Von alters her gilt die Gicht als klassische Wohlstands- oder Zivilisationskrankheit. So wird die seit Jahren in Deutschland vorherrschende Über- und Fehlernährung als der entscheidende manifestationsfördernde Faktor dieses Krankheitsbildes angesehen. Die Änderung des Essverhaltens in Richtung auf eine purinreichere Kost und der vermehrte Alkoholkonsum scheinen direkt mit dem Überge-
Gerstel
9
Jever
3
Wirichs Light
11
Waitzinger Weiße
30
Weizenthaler
17
Löwenbräu
14
wicht zu korrelieren. Wegen des höheren Alkoholkonsums bei Männern ist auch die Häufigkeit der Hyperurikämie von nahezu 20 % bei 50-jährigen Männern eine mögliche Konsequenz des Trinkverhaltens. Trotz wirksamer medikamentöser Therapiemaßnahmen wie der Gabe von Urikosurika (Benzbromaron), die die Harnsäureausscheidung über die Niere steigern, oder der Verabreichung von Xanthinoxidasehemmern bzw. Urikostatika (Allopurinol), die das Enzym beziehungsweise die Harnsäuresynthese hemmen, bleiben diätetische Maß-
265 17.4 · Diätetische Maßnahmen bei Hyperurikämie und Gicht
nahmen die Basis der Therapie. Die traditionellen Ernährungsrichtlinien bei Hyperurikämie und Gicht lauten: 4 Purinarme Diät: bis zu 500 mg Harnsäure pro Tag, weniger als 3.000 mg Harnsäure pro Woche 4 Streng purinarme Diät: bis zu 300 mg Harnsäure pro Tag, weniger als 2.000 mg Harnsäure pro Woche Diese traditionellen Verhaltensrichtlinien lassen sich mit den heutigen Lebensgewohnheiten vielfach nicht mehr in Einklang bringen. Kantinenessen und der Verzehr von Fertigprodukten erschweren die genaue Berechnung der Purinzufuhr. Infolgedessen ist mit einer geringeren Compliance zu rechnen. Rigide Forderungen scheinen auch deshalb nicht gerechtfertigt, weil unter streng purinarmer Kost die Serumharnsäurekonzentration im Vergleich zu einer frei gewählten Kost nur um 2 mg/100 ml vermindert werden konnte (Griebsch 1974).
Allgemeine praktische Behandlungsprinzipien bei Hyperurikämie und Gicht Empfohlen werden sollten im Allgemeinen die folgenden Maßnahmen: 5 langfristig angelegte Reduzierung des Körpergewichts 5 Förderung körperlicher Aktivität 5 Reduktion purinreicher Lebensmittel 5 Reduktion des Alkoholkonsums Die diätetische Behandlung sollte sich bei der häufig vorhandenen Adipositas auf eine Reduktion des Körpergewichts konzentrieren.
Grundsätzlich ist eine Kombinationstherapie, die neben einer Reduktionskost körperliches Training beinhaltet, der Monotherapie, die nur eine Reduktionskost beinhaltet, vorzuziehen. Die Gründe liegen darin, dass die mit der Gicht vielfach einhergehenden Begleiterkrankungen wie Hypertonie und Dyslipoproteinämie sowie der Kohlenhydratmetabolismus besser beeinflusst werden können. Außerdem reagieren Untrainierte auf körperliche Belastung mit einem signifikanten Anstieg der Harnsäure-
17
konzentrationen, was bei trainierten Personen normalerweise nicht zu beobachten ist (Mertz 1987). Dem Patienten sollte also nahegelegt werden, schrittweise eine Korrektur seiner Lebensgewohnheiten vorzunehmen. Von entscheidender Bedeutung ist die Kooperationsbereitschaft und Einsicht des Patienten. Je praktikabler und leichter umsetzbar die diätetischen Richtlinien gestaltet sind, umso größer wird der Erfolg sein. Um eine reduzierte Zufuhr von Purinen mit der Nahrung zu erreichen, genügt es, besonders purinreiche Lebensmittel zu meiden. Dies gilt vor allem für: 4 zellkernreiche Innereien wie Bries, Gehirn, Leber, Niere, Herz und Zunge 4 Fische, vor allem geräucherte; Sprotten, Sardellen, Ölsardinen, Makrele, Hering 4 die Haut von Fischen (sollte stets entfernt werden) 4 Meeresfrüchte wie Muscheln, Garnelen, Hummer und Flusskrebse 4 größere Mengen an Fleisch- oder Hefeextrakten Ferner empfiehlt es sich, den Verzehr von Hülsenfrüchten einzuschränken, also von Linsen, Bohnen, Erbsen und Sojaprodukten. Zur Proteinversorgung können Milchprodukte eingesetzt werden, die purinarm oder nahezu purinfrei sind (. Tab. 17.5). Was die generellen Kostempfehlungen betrifft, so eignet sich eine den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) entsprechende kalorienreduzierte Mischkost: 4 55 % der Kalorien in Form von Kohlenhydraten bei täglich mindestens 30 g Ballaststoffen 4 15 % in Form von Protein – unter Vermeidung purinreicher Lebensmittel 4 30 % in Form von Fett: maximal 10 % gesättigte Fettsäuren, 10 % mehrfach ungesättigte Fettsäuren und mindestens 10 % einfach ungesättigte Fettsäuren 4 maximal 300 mg Cholesterin pro Tag Eine Fleisch- oder Fischportion von 100–150 g pro Tag wäre ein Kompromiss. Vorteilhafter ist eine ovo-lakto-vegetabile Kost. Zu berücksichtigen ist allerdings der oft erhebliche Puringehalt pflanzlicher Lebensmittel wie Hülsenfrüchte, Hefepasten
266
1 2 3 4
Kapitel 17 · Hyperurikämie und Gicht
und Sojaprodukte, die als Fleisch- oder Wurstersatz gelten. Auch bei größeren Gemüse- oder Pilzmahl-
zeiten (mehr als 250 g) ist die Purinzufuhr nicht unerheblich (. Tab. 17.6).
. Tab. 17.5 Milch- und Milchprodukte: Gehalt an Harnsäure, Eiweiß, Kohlenhydraten, Fett und Energie 100 g essbarer Anteil enthalten durchschnittlich
Harnsäure [mg]
Eiweiß [g]
Kohlenhydrat [g]
Fett [g]
Energie [kJ/ kcal]
Trinkmilch, 3,5 % Fett
0
3
5
4
270/64
Trinkmilch, 1,5 % Fett
0
3
5
2
195/47
Kondensmilch, 4 % Fett
0
9
13
4
535/130
6
Buttermilch
0
4
4
<1
155/37
Süßmolke
0
<1
5
+
105/25
7
Vollmilchjoghurt natur, 3,5 % Fett
0
4
4
4
295/70
8
Joghurt teilentrahmt, 1,5 % Fett
0
4
4
2
210/50
Speisequark, mager
–
14
3
+
305/71
Sahne, süß, 30 % Fett
0
2
3
32
1.270/308
Sahne, süß, 10 % Fett
0
3
4
11
510/123
Sahne, sauer, 10 % Fett
0
3
3
10
410/115
Brie, 50 % Fett i. Tr.
7
23
+
28
1.430/345
Camembert, 45 % Fett i. Tr.
–
21
+
22
1.185/285
Camembert, 30 % Fett i. Tr.
–
24
+
14
900/215
Edamer, 30 % Fett i. Tr.
7
26
+
16
1.050/251
14
Edelpilz, 50 % Fett i. Tr.
–
21
+
30
1.470/355
Emmentaler, 45 % Fett i. Tr.
–
29
0
30
1.595/383
15
Gouda, 45 % Fett i. Tr.
–
26
0
29
1.515/365
Gruyère
–
30
0
32
1.715/412
Harzer
–
30
+
<1
540/127
Hüttenkäse
9
12
3
4
430/102
Mozzarella
–
20
+
16
935/225
18
Parmesan
–
36
+
26
1.560/375
Limburger, 20 % Fett i. Tr.
32
26
+
9
765/183
19
Schafskäse, Fetakäse
30
17
<1
18
985/237
Schmelzkäse, 60 % Fett i. Tr.
13
10
3
31
1.370/330
Schmelzkäse, 40 % Fett i. Tr.
20
15
5
19
1.045/250
Schmelzkäse, 20 % Fett i. Tr.
26
17
8
10
795/190
5
9 10 11 12 13
16 17
20
Käse
+ Spuren, – keine Angaben
17
267 17.4 · Diätetische Maßnahmen bei Hyperurikämie und Gicht
. Tab. 17.6 Gemüse und Hülsenfrüchte: Gehalt an Harnsäure, Eiweiß, Kohlenhydraten, Fett und Energie 100 g essbarer Anteil enthalten durchschnittlich
Harnsäure [mg]
Eiweiß [g]
Kohlenhydrat [g]
Fett [g]
Energie [kJ/ kcal]
Artischocke
78
2
3
+
95/22
Aubergine
21
1
2
+
70/17
Bambussprossen
29
3
1
+
70/17
Blumenkohl
51
3
3
+
95/22
Bohnen, grün
37
2
5
+
140/33
Broccoli
81
3
3
+
110/26
Chicoree
12
1
2
+
70/16
Chinakohl
21
1
1
+
50/12
Endivie
17
2
+
+
40/10
Erbsen (Schote und Samen)
84
7
12
<1
340/80
Feldsalat
38
2
1
+
55/13
Fenchel
14
2
3
+
100/24
Gartenkresse
28
4
2
<1
140/33
Grünkohl
48
4
3
1
155/37
Karotten
17
1
5
+
110/26
Kartoffeln
16
2
15
+
300/70
Kohlrabi
25
2
4
+
100/24
Kopfsalat
13
1
1
+
50/11
Kürbis
44
1
5
+
105/25
Lauch, Porree
74
2
3
+
105/25
Oliven, grün (mariniert)
29
1
2
14
570/138
Paprikaschote
55
1
3
+
85/20
Petersilie, Blätter
57
4
7
<1
215/50
Radieschen
13
1
2
+
60/14
Rosenkohl
69
4
3
<1
150/36
Rote Bete
19
2
8
+
175/41
Rotkraut
32
2
4
+
90/22
Salatgurke
7
<1
2
+
50/12
Sauerkraut, abgetropft
16
2
2
+
70/17
+ Spuren
268
1
17.5
Kapitel 17 · Hyperurikämie und Gicht
Diätetische Maßnahmen zur Therapie und Prophylaxe von Harnsäuresteinen
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Das Prinzip der Therapie von Harnsäuresteinen beruht auf einer Stoffwechselalkalisierung und der vermehrten Flüssigkeitszufuhr. Durch die Verabreichung von 10 g Uralyt-U (Alkalizitrat) kann eine Alkalisierung um den Faktor 100 erreicht werden. Verabreicht man Kaliumzitrat, so kann man durch zusätzliche Hemmung der H+-Ionensekretion in den Nierentubuli die Neutralisierung des Harns beschleunigen. Dieser urolitholytische Effekt ist 10- bis 100-mal stärker als eine Allopurinolbehandlung. Deshalb ist letztere ohne gleichzeitige Alkalisierung des Stoffwechsels wertlos (Mertz 1987). Eine gleichzeitige Gabe von Allopurinol (etwa 300 mg) ist jedoch erforderlich, um Komplikationen einer Überdosierung der alkalisierenden Therapie zu vermeiden. Im Rahmen der Prophylaxe kann diese zu Phosphatsteinen, im Rahmen der therapeutischen Phase bei Patienten mit Hyperurikosurie und Harnwegsinfekt zu Mononatriumurat- oder Monoammoniumuratsteinen führen. Harn-pH-Werte im Bereich von 6,4–6,8 werden als optimal angesehen. Bei pH-Werten über 7,0 können sich eventuell Phosphatsteine bilden (Gröbner 1995). Kontraindikationen einer Zitrattherapie sind (Mertz 1987): 4 fortgeschrittene Niereninsuffizienz 4 hydropische Herzinsuffizienz 4 Operationsindikationen bei Steinbefall Die diätetischen Maßnahmen leiten sich aus den wesentlichen pathologischen Faktoren ab. Zu diesen zählen: 4 Veränderung des renalen Ausscheidungsmechanismus für Harnsäure bei familiärer Hyperurikämie 4 Erhöhung der Harnsäurekonzentration im Endharn durch vermehrte renale Ausscheidung von Harnsäure 4 Verringerung der Löslichkeit von Harnsäure durch vermehrte Harnkonzentrierung und/ oder Harnsäuerung (Gröbner 1995).
Die Möglichkeiten, mit diätetischen Maßnahmen eine Steinbildung zu vermeiden, sind zwar begrenzt, dennoch sollten einige wesentliche Aspekte beachtet werden. Eine reichliche Flüssigkeitszufuhr von mindestens 2–3 l täglich ist ein wesentlicher Bestandteil der Therapie. Durch Diuresesteigerung wird die Harnsäurekonzentration im Endharn vermindert. Auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr ist vor allem bei tropischen Temperaturen und bei starkem Schwitzen zu achten. Durch eine alkalisierende Kost kann eine Neutralisierung des Harns erreicht werden. Alkalisierend wirken: 4 Kartoffeln 4 Mehlspeisen 4 Zitrusfruchtsäfte 4 alkalische Mineralwässer 4 Natrium-Kalium-Zitrat-Gemische (EisenbergLösung) Nicht alle Getränke sind aufgrund ihres unterschiedlichen Gehalts an Mineralstoffen geeignet. Deshalb sollten bei Harnsäuresteinen wenig Mineralwässer mit pH-senkendem Effekt getrunken werden (. Tab. 17.7). Uneingeschränkt können mit Ausnahme von Johannisbeersaft konservierte Fruchtsäfte getrunken werden – bevorzugt Orangensaft und ohne Einschränkung Früchte-, Blätterund Nierentees (Kasper 1996; cpc 1997). Bei Kalziumoxalatsteinen sollten alle Getränke mit einem pH-senkenden Effekt gemieden werden, außerdem alle Lebensmittel, die reich an Oxalsäure sind: 4 Spinat 4 Mangold 4 Rhabarber 4 rote Bete 4 Löwenzahn 4 Walnüsse 4 Mandeln 4 Erdnüsse 4 Kakao 4 Schokolade Bei Kalziumphosphatsteinen sollten alle Getränke mit einem pH-steigernden Effekt gemieden werden. Außerdem sollten wenige Zitrusfrüchte ver-
269 17.4 · Zusammenfassung
. Tab. 17.7 Der pH-Effekt unterschiedlicher Getränke Getränke mit pH-senkendem Effekt
Mineralwässer
5 Harzer Sauerbrunnen 5 Marie-Luisen-Quelle 5 Rhenser-Brunnen 5 Brolina-Brunnen 5 Apollinaris-Brunnen
4 4 4 4
17
nicht geeignet (Alternativen sind Süßstoffe wie Saccharin, Cyclamat, Acesulfam K, Thaumatin und Neohesperidin) Fettzufuhr auf höchstens 30 % reduzieren als Proteinlieferanten fettarme Milchprodukte bevorzugen statt Kochsalz mehr Kräuter verwenden mindestens 1,5–2 l täglich trinken – möglichst alkalisierende Getränke
Auf Tee und Kaffee muss nicht verzichtet werden.
Johannisbeersaft Pils Kölsch Getränke mit pH-steigerndem Effekt
Mineralwässer
5 Fachinger 5 Marienbader 5 Rudolfsquelle 5 Wildunger Helenenquelle Konservierte Fruchtsäfte, vor allem Orangensaft Früchte-, Blätter-, Nierentees Altbier (in geringem Maße)
Getränke ohne pH-Effekt
Apfelsaft Himbeersaft Traubensaft Kaffee Schwarzer Tee Kakao Kräutertees
zehrt werden. Ansonsten ist eine normale Mischkost anzuraten (Heepe 1990; Kasper 1996). Eine ausgewogene Mischkost sollte folgendermaßen aussehen: 4 Kohlenhydrat- und ballaststoffreiche Lebensmittel bevorzugen 4 leicht resorbierbare Kohlenhydrate (Zucker) meiden, vor allem, wenn gleichzeitig eine Hypertriglyzeridämie oder ein Diabetes mellitus vorliegen 4 die Zuckeraustauschstoffe Fruktose, Sorbit und vor allem Xylit sind für den Hyperurikämiker
17.6
Zusammenfassung
Im Rahmen der heute verbreiteten Fehl- und Überernährung treten bei entsprechender Veranlagung Hyperurikämie, Gicht und Harnsäuresteine relativ häufig auf. Übergewicht, purinreiche Kost und Alkoholabusus sind die entscheidenden Manifestationsfaktoren. Infolgedessen ist trotz medikamentöser Möglichkeiten eine richtige Ernährung die Basis jeder Therapie. Bei einer Serumharnsäurekonzentration von 8–9 mg/100 ml muss bei jedem vierten und ab 9 mg/100 ml bei fast jedem Menschen mit einem Gichtanfall gerechnet werden. Das Risiko der Harnsteinbildung steigt proportional zur Serumharnsäurekonzentration. Die diätetische Therapie konzentriert sich heute auf die Risikofaktoren. Im Vordergrund steht die in den meisten Fällen vorhandene Adipositas, die mittels einer ausgewogenen Mischkost und Bewegungstherapie korrigiert werden sollte. Statt der klassischen purinarmen Kost werden heute praxisorientierte Ratschläge wie die Reduktion von Fleisch und Wurstwaren sowie Fischmahlzeiten von 100–150 g pro Tag empfohlen. Vorteilhafter ist: nur 1 Fleischmahlzeit und 2 Fischmahlzeiten pro Woche. Eine ovo-lakto-vegetabile Kost ist besonders vorteilhaft, wobei Hülsenfrüchte und andere purinreiche Gemüsesorten sowie Soja- und Hefeprodukte nur in Maßen verzehrt werden sollten. Der Alkoholkonsum sollte so gering wie möglich sein: pro Tag nicht mehr als 1 Glas Wein. Bei Bier spielt neben dem Kaloriengehalt (7 kcal/g Alkohol) noch der Harnsäuregehalt eine Rolle (10–15 mg/100 ml).
270
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 17 · Hyperurikämie und Gicht
Literatur cpc Ernährungsinformationen: Gicht, Hyperurikämie, Harnsäuresteine. 2. Aufl. Bauer, Hamburg (1997) Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE): Ernährungsbericht 1988. DGE, Frankfurt a. M. (1988) Faller J, Fox IH: Ethanol-induced hyperuricemia. Evidence for increased production by activation of adenine nucleotide turnover. NEJM 307:1598 (1982) Förster H, Ziege M: Anstieg der Serumharnsäurekonzentration nach oraler Zufuhr von Fruktose, Sorbit und Xylit. Z Ernährungsw 10:394 (1971) Götz M-L, Rabast U: Diättherapie. Thieme, Stuttgart, New York (1987) Griebsch A: Diät bei Gicht und Hyperurikämie. Z Allgemeinmed 50:65 (1974) Gröbner W: Hyperurikämie und Gicht. In: Biesalski H-K et al.: Ernährungsmedizin, Thieme, Stuttgart, New York (1995), S. 360 Grunst J, Dietze G, Wicklmayr et al.: Die Harnsäureproduktion der menschlichen Leber während parenteraler Fruktosezufuhr. Verh Dtsch Ges Inn Med 80:487 (1974) Heepe F: Diätetische Indikationen. Springer, Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokyo, Hong-Kong (1990) Kasper H: Ernährungsmedizin und Diätetik. 8. Aufl. Urban & Schwarzenberg, München, Wien, Baltimore (1996) Kasper H: Ernährungsmedizin und Diätetik. 10. Aufl. Urban & Fischer, München (2004) Löffler W, Gröbner W, Medina R et al.: Influence of dietary purines on pool size turnover and excretion of uric acid during balance conditions. Res exp Med 181:113 (1892) Mertz DP: Gicht: Störungen des Purin- und Pyrimidinstoffwechsels. Grundlagen, Klinik und Therapie. 5. Aufl. Thieme, Stuttgart , New York (1987) Scott JT, Holloway VP, Glass HI et al.: Studies of uric acid pool size and turnover rate. Ann rheum Dis 28:366 (1969) Siener R: Hyperurikämie und Gicht. In: Koula-Jenik H et al. (Hrsg.): Leitfaden Ernährungsmedizin, Urban & Fischer, München, Jena (2005) Stoll U: Zur Veränderung der Inosinmonophosphorsäure und ihrer Spaltprodukte bei kurzzeitiger Lagerung von tierischen Lebensmitteln. Lebensmitteluntersuchung und -Forschung A, 146(4) (1971) Welsch A: Krankenernährung. 5. Aufl., Thieme, Stuttgart, New York (1986) Wolfram G: Das moderne Konzept der Ernährung bei Gicht. Akt Ernähr Med 17:24–32 (1992) Wolfram G: Hyperurikämie und Gicht. In: Kluthe R (Hrsg.): Ernährungsmedizin in der Praxis. Aktuelles Handbuch zur Prophylaxe und Therapie ernährungsabhängiger Erkrankungen. Spitta, Balingen (1995)
271
Adipositas Marion Burkard, Karl Huth
18.1
Problematik und Perspektiven – 272
18.2
Prävalenz der Adipositas – 272
18.3
Definition und Klassifikation der Adipositas – 273
18.3.1 18.3.2 18.3.3
Der Broca-Index – 273 Der Body-Mass-Index – 273 Klassifikation der Adipositas – 273
18.4
Ursachen der Adipositas – 275
18.5
Strategien zur Gewichtsreduktion – 277
18.5.1 18.5.2
Verhaltensmanagement – 278 Nahrungsmittelauswahl – 280
18.6
Zusammenfassung – 282
18
272
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 18 · Adipositas
In Deutschland gilt heute jede zweite Person als übergewichtig, jeder fünfte ist adipös. Das wahre Ausmaß dieses Gesundheitsrisikos scheint jedoch in vielen Bereichen nicht erkannt zu sein. Eine wirksame Therapie sollte langfristig angelegt sein und eine Korrektur in der Lebensmittelauswahl, dem Essverhalten und eine Steigerung der körperlichen Aktivität beinhalten. In diesem Beitrag lesen Sie: 4 welche verschiedenen Formen der Adipositas es gibt, 4 wie sich das Essverhalten ändern lässt, 4 welche Strategien Ihren Patienten helfen können, das Gewicht zu reduzieren und niedrig zu halten, 4 welche Nahrungsmittel dazu geeignet sind und welche nicht.
18.1
Problematik und Perspektiven
Weltweit nimmt die Verbreitung der Adipositas mit beängstigender Geschwindigkeit zu. In den Ländern mit »westlichem Lebensstil« wie der Bundesrepublik Deutschland sind die Zuwachsraten zwar nicht so drastisch (dennoch 7 % im Zeitraum von 1989–1999) wie in den sogenannten Schwellenländern, dafür werden wir vermehrt mit der rapiden Zunahme adipositasassoziierter Wohlstandskrankheiten wie Diabetes mellitus, koronarer Herzkrankheit, Hyperlipoproteinämien und Gicht konfrontiert. Dieses Phänomen wird heute unter dem Begriff des metabolischen Syndroms subsumiert. Die durch Adipositas verursachten Kosten im Gesundheitssystem werden mit mehr als 20 Milliarden Euro pro Jahr beziehungsweise mit nahezu 10 % der gesamten Krankheitskosten in unserem Land beziffert. An der Entstehung des Typ-2-Diabetes hat die Adipositas einen geschätzten Anteil von etwa 60 %. Etwa 75 % aller Diabetiker könnten jedoch durch Gewichtsnormalisierung von der Krankheit befreit werden (Wirth 1997). Bisherige Präventions- und Behandlungsprogramme haben nicht zum erwarteten Erfolg geführt. Außerdem haben weder die meisten Betroffenen noch die Ärzte oder die Gesundheitspolitiker und Krankenkassen das wahre Ausmaß dieses Gesund-
heitsrisikos und die dringende Notwendigkeit einer effektiven Therapie erkannt. Besorgniserregend ist vor allem die Zahl der überwichtigen Kinder, die laut KiGGS-Studie (Kinder- und Jugendgesundheitssurvey 2006) 16 % beträgt. 800.000 Kinder und Jugendliche gelten demnach sogar schon als adipös. Bereits im Kindesalter bestehendes Übergewicht gilt als ein besonders ungünstiger Prädiktor, da etwa die Hälfte aller übergewichtigen Kinder im Erwachsenenalter adipös bleibt. Erfahrungsgemäß ist die Therapie umso schwieriger, je länger die Adipositas besteht und je ausgeprägter sie ist. Die Adipositas zählt bereits zu den häufigsten Ernährungsstörungen im Kindesalter. In diesen Altersgruppen nimmt die Zahl der Betroffenen weiterhin permanent zu. Unter Experten wird der dringende Handlungsbedarf nicht mehr infrage gestellt.
18.2
Prävalenz der Adipositas
Bei der Adipositas handelt es sich um eine chronische Erkrankung mit ständig zunehmender Prävalenz in Deutschland. Nach den Daten des Bundesgesundheitssurveys von 1998 sind >50 % der Bevölkerung übergewichtig (BMI >25, jeweils kg/m2), über 20 % der Erwachsenen adipös (BMI >30) und damit behandlungsbedürftig und 1 % ist extrem adipös [BMI >40 (Müller 2002), Die Nationale Verzehrsstudie II 2006]. Unter anderem wurde im Rahmen der Nationalen Verzehrsstudie I (Vera-Studie) festgestellt, dass bei den jüngeren Erwachsenen häufiger die Männer übergewichtig sind, während in der älteren Bevölkerung (nach dem 50. Lebensjahr) vermehrt Frauen betroffen sind. Mit zunehmendem Lebensalter steigt das Gewicht bis zum 60. Lebensjahr weiter an. Bei den 50- bis 60-Jährigen ist die Adipositas (BMI >30) etwa viermal so häufig wie bei den 20bis 30-Jährigen (Wirth 1997). Für die Gesamtbevölkerung gilt: 4 Jede zweite Person in Deutschland ist übergewichtig – Tendenz steigend. 4 Jede fünfte Person ist adipös.
273 18.3 · Definition und Klassifikation der Adipositas
18.3
Definition und Klassifikation der Adipositas
18.3.1
Der Broca-Index
Nationale und Internationale Gremien Adipositasexperten haben sich zum Ziel gesetzt, das Problem der zunehmenden Verbreitung der Adipositas durch die Konzeption adäquater Therapieprogramme gezielt anzugehen und deshalb anlässlich des Europäischen Adipositas-Kongresses 1996 die International Obesity Task Force (IOTF) gegründet. Ein Bericht mit dem Titel »Obesity – a major global public health problem« wurde bereits erstellt, ebenso ein entsprechender WHOBericht. Ferner wurde ein Aktionsplan erstellt, um finanzielle Mittel geworben und Informationsmaterial ausgearbeitet, um die verschiedensten Zielgruppen anzusprechen. Auch die Deutsche Adipositas-Gesellschaft hat eine Planungsgruppe zusammengestellt und ist an jeder Form der Unterstützung interessiert. Kontaktadresse: Sekretär Prof. Dr. J. Westenhöfer Deutsche Adipositas-Gesellschaft e. V. Waldklausenstr. 20 D-81377 München Außerdem hat sich 1998 eine Arbeitsgruppe »Adipositas im Kindes- und Jugendalter« gegründet. Experten werden um aktive Mitarbeit gebeten. Kontaktadresse: Prof. Dr. J. Hebebrand Leiter des Netzwerks »Adipositas im Kindesund Jugendalter« Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter der Universität Marburg Schützenstr. 49 D–35033 Marburg Die Konsensusgruppe Adipositasschulung im Kindes- und Jugendalter (KgAS – seit 2006 eingetragener Verein) hat das Trainermanual »Leichter, aktiver, gesünder« herausgegeben (Cremer 2008) und bildet zum KgAS-Adipositastrainer aus.
18
Der Broca-Index wird in der ärztlichen Praxis noch heute gelegentlich verwendet, um Adipositas, Normal- oder Untergewicht zu bestimmen. Er errechnet sich wie folgt: Korpergewicht [in cm]– 100 = Normalgewicht [in kg]
Dieser auf die Körpergröße bezogene Index gilt jedoch in Fachkreisen seit Jahren als zu unpräzise und somit obsolet.
18.3.2
Der Body-Mass-Index
Der international verwendete Body-Mass-Index (BMI) korreliert relativ gut mit Parametern der Morbidität und Mortalität sowie der Fettmasse. Er errechnet sich nach folgender Formel:
BMI =
Gewicht [in kg] Größe [in m2]
Zur Charakterisierung von Übergewicht und Adipositas wird die auf Garrow (1988) zurückgehende Einteilung vorgenommen (. Tab. 18.1).
18.3.3
Klassifikation der Adipositas
Um ursächliche Faktoren der Adipositas zu dokumentieren, wurden unterschiedliche Klassifikationen vorgenommen.
. Tab. 18.1 Einteilung des Körpergewichts nach dem Body-Mass-Index BMI [kg/m2]
Adipositasgrad
20–25
0
25–30
I
30–40
II
>40
III
274
1 2 3 4
Kapitel 18 · Adipositas
Ätiologische Klassifikation Die ätiologische Klassifikation differenziert zwischen endogenen und exogenen Ursachen. Sie unterscheidet (Bray 1992): 4 genetische Syndrome 4 neuroendokrine Formen der Adipositas 4 iatrogene Formen 4 Überernährung und Inaktivität
Phänomenologische Klassifikation
5
12
Die phänomenologische Klassifikation ist klinisch und wissenschaftlich gebräuchlich. Sie differenziert zwischen einer hypertrophen und einer hyperplastischen beziehungsweise hyperzellulären Adipositas. Die hypertrophe Form, bei der lediglich die Fettzellen vergrößert sind, tritt meistens im Erwachsenenalter oder nach Schwangerschaften auf. Sie ist häufig mit stammbetonter, abdominaler Adipositas vergesellschaftet und spricht gut auf therapeutische Maßnahmen an. Die hyperplastische Adipositas mit vermehrten Fettzellen beginnt meistens in der Kindheit, kann sich aber auch im Erwachsenenalter entwickeln, wenn eine extreme Adipositas vorliegt. Diese Form spricht auf Energierestriktion oder vermehrte körperliche Aktivität weniger gut an.
13
Klassifikation nach regionaler Fettverteilung
14
Die Klassifikation nach der regionalen Fettverteilung steht seit Jahren im Mittelpunkt des Interesses, da metabolische Komplikationen am besten mit den Fettverteilungstypen korrelieren. Bei der sogenannten männlichen beziehungsweise androiden, abdominalen, zentralen oder viszeralen Form der Adipositas treten metabolische Komplikationen gehäuft auf. Mit dieser Form der Adipositas sind häufig vergesellschaftet: 4 Diabetes mellitus 4 Arteriosklerose 4 koronare Herzkrankheit 4 Hypertonie 4 Cholelithiasis
6 7 8 9 10 11
15 16 17 18 19 20
Die klassische Stammfettsucht wird auch »apple type« (Apfeltyp) genannt. Die Fettvermehrung liegt hauptsächlich intraabdominal vor. Sie tritt zu etwa
80 % bei Männern, aber auch zu etwa 15 % bei Frauen auf. Bei der sogenannten weiblichen beziehungsweise gynoiden, peripheren, gluteal-femoralen Adipositas sind metabolische Komplikationen seltener. Sie geht häufig mit Immobilität, Veneninsuffizienz und Wasserretention einher. Diese Form der Fettvermehrung wird auch »pear type« (Birnentyp) genannt. Sie ist hauptsächlich im Bereich der Hüften und Oberschenkel vorhanden und ist vorwiegend subkutan lokalisiert. Sie tritt zu etwa 85 % bei Frauen, aber auch zu etwa 20 % bei Männern auf. Die Unterscheidung der Fettverteilungstypen ist klinisch von großer Bedeutung: Bei der weiblichen (peripheren) Form der Adipositas treten metabolische Begleiterkrankungen nur geringgradig häufiger auf als bei Normal- oder Idealgewichtigen, während das Risiko bei der abdominalen Form sehr groß ist. Deshalb sollten einzuleitende Therapiemaßnahmen heute unter Berücksichtigung dieser Phänomenologie erfolgen. Die Bestimmung des Fettverteilungstyps erfolgt durch Umfangsmessungen mit einem Zentimetermaß. Bestimmt wird das Verhältnis von Taille zu Hüfte, die sogenannte waist-to-hip ratio (WHR, . Abb. 18.1). Der Taillenumfang sollte in der Mitte zwischen Beckenkamm und unterer Rippe gemessen werden, der Hüftumfang in Höhe des Trochanter major. Die WHR sollte bei Männern unter 1,0 und bei Frauen unter 0,85 liegen. Ein Taillenumfang von >94 cm bei Männern bzw. >80 cm bei Frauen stellt ein erhöhtes Risiko für Herz-KreislaufErkrankungen dar, bei >102 cm bei Männern resp. >88 cm bei Frauen ist dieses stark erhöht (WHO, Adipositas Leitlinien).
Die Klassifikation nach genetischen Gesichtspunkten Die Erkenntnisse auf dem Gebiet der genetischen Einflüsse auf die Adipositas sind derzeit noch lückenhaft. Vermutlich werden zukünftige Forschungsergebnisse zu einem besseren Verständnis dieser Aspekte und zu gezielteren Therapiemaßnahmen führen. Bisherige wissenschaftliche Untersuchungen lassen vermuten, dass Körpergewicht und Fettmasse zu 60–84 % polygenetisch bestimmt sind (Hanssen 2007). Adipositas kann auch in
275 18.4 · Ursachen der Adipositas
Androide Fettverteilung Frauen >0,85 Männer >1,0
18
. Abb. 18.1 Adipositasformen nach regionaler Fettverteilung und waistto-hip ratio
Gynoide Fettverteilung Frauen <0,85 Männer <1,0
android/viszeral
gynoid/femoral
Kombination mit anderen Erkrankungen auftreten (. Tab. 18.2). Adipositasformen, die sich auf eine genetisch bedingte Störung zurückführen lassen (nach Farooqi et al. 2005) 5 Angeborene Leptindefizienz 5 Propionmelanocortin-(POMC-)-Defizienz 5 Melanocortin-Rezeptor-4-(MC4R-)-Defizienz 5 Prohormonkonvertase-1-(PC-1)-Defizienz (Enzym katalysiert die Umwandlung von POMC zu αMSH (Alpha-Melanozytenstimulierendes Hormon bzw. Melanotropin))
Die Erbanlagen bestimmen in gewisser Weise, ob jemand dick werden kann, aber die Umweltbedingungen und das Verhalten entscheiden, ob die entsprechende Person tatsächlich dick wird. Durch vernünftige Ernährungs- und Lebensweise kann auch bei ungünstigen Erbanlagen das Gewicht stabil gehalten werden.
18.4
Ursachen der Adipositas
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind in unserem Land und in anderen Teilen der westlichen Welt bedeutsame soziokulturelle Veränderungen
. Tab. 18.2 Adipositas in Kombination mit anderen Erkrankungen – pleiotrope Syndrome Syndrom
Krankheitsbilder
Bardet-BiedlSyndrom
Fehlbildungen von Extremitäten, Netzhaut, Geschlechtsorganen; verminderte geistige Kapazität u. a.
Cohen-Syndrom
Minderwuchs, verminderter Muskeltonus, schwache Pigmentbildung, generelle Entwicklungsverzögerung u. a.
AlströmSyndrom
Diabetes mellitus, beeinträchtigte Nierenfunktion, Netzhautdegeneration, Innenohrtaubheit u. a.
Prader-WilliSyndrom
Häufigstes genetisch bedingtes Adipositas-Syndrom; Symptomatik ähnlich Cohen-Syndrom
WAGR-Syndrom
Komplex mit Wilms-Tumor, Aniridie, Anomalien der Genitalien, mentaler Retardierung
zu verzeichnen, die in direktem Zusammenhang mit der Verbreitung der Adipositas zu sehen sind. Die Intensität der körperlichen Arbeit hat in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen. Heute macht der Ruheenergieumsatz für viele Menschen den größten Teil des gesamten Energieverbrauchs aus, während in der Vergangenheit ein Großteil des Energieverbrauchs auf eine hohe
276
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 18 · Adipositas
körperliche Arbeitsintensität zurückzuführen war. Unsere Vorfahren konnten, bedingt durch schwere körperliche Arbeit, bedenkenlos über 3.000 kcal pro Tag zu sich nehmen. Heute liegt der durchschnittliche Energieverbrauch aufgrund der meist nur leichten körperlichen Tätigkeit bei Frauen im Bereich von 2.000 kcal und bei Männern bei 2.400 kcal. Das Ernährungsverhalten wurde dem geringeren Energiebedarf jedoch nicht angepasst. Eine weitere Ursache der hohen Inzidenzraten der Adipositas ist das veränderte Essverhalten. Während in der Vergangenheit eine kohlenhydratreiche Kost verzehrt wurde, die nur geringe Mengen an Zucker enthielt, dafür aber umso mehr komplexe Kohlenhydrate und Ballaststoffe, wird heute eine fettreiche Nahrungszusammensetzung bevorzugt. Nahezu 45 % der Gesamtenergiezufuhr stammt heute von Fetten, die meist in Nahrungsmitteln tierischer Herkunft enthalten sind – den sogenannten »versteckten« Fetten. Ferner hat der Genuss von Alkohol, der mit 7 kcal/g zu Buche schlägt, stetig zugenommen. Fette und Kohlenhydrate werden vom Körper unterschiedlich verstoffwechselt. Die Verstoffwechselung von Kohlenhydraten geht mit einem erhöhten Energieverbrauch einher. Durch den Metabolismus werden bereits zwischen 20 und 30 % der in den Kohlenhydraten enthaltenen Energie verbraucht. Erst bei einer längerfristigen Aufnahme von mehr als 400 g Kohlenhydraten (Trockengewicht) – bei normaler körperlicher Aktivität – wäre mit einer de-novo-Lipogenese zu rechnen. Der Verzehr derartig großer Nahrungsvolumina ist jedoch unrealistisch (z. B. ca. 20 kg Blumenkohl). Bei Fetten liegt der durch den Metabolismus bedingte Energieverbrauch bei lediglich 3–5 %. Das Ausmaß ihrer Oxidation hängt von der Aufnahme der anderen Nährstoffe ab. Bei einer Kohlenhydrataufnahme von mehr als 500 g pro Tag wird die Oxidation des gleichzeitig aufgenommenen Fetts nahezu vollständig supprimiert, die Kohlenhydrate werden allerdings nur zu einem kleinen Teil in Körperfett konvertiert. Fette lassen jedoch die Mahlzeiten schmackhafter erscheinen, ohne dabei trotz höheren Energiegehalts von >9 kcal/g zu einer schnelleren Sättigung zu führen (Hauner 1996, Ellrott 1997).
Alkohol wird ebenfalls ohne großen Energieaufwand in Fett umgewandelt (Fettleber), außerdem supprimiert er die Fettoxidation und wirkt appetitanregend. Der Alkohol in einer Flasche Bier (0,5 l) hemmt die Oxidation von 16 g Fett. Dies addiert sich bei einem Glas pro Tag auf 5,8 kg im Jahr (Ellrott 1997). Trotz des hohen Kaloriengehalts gehen weder Fett noch Alkohol mit einem entsprechenden Sättigungsgefühl einher. Vielmehr verleitet der bei Alkohol und Fetten zu verzeichnende höhere Genusswert leicht dazu, nach einer bereits ausreichenden Energiezufuhr weiter zu essen. Hinzu kommen die breite Palette kulinarischer Genüsse und die permanenten Versuche über die Medien, zum Essen und Trinken zu animieren. Darin sind weitere mögliche Ursachen für die ständig steigende Zahl adipöser Menschen zu sehen. Tucker und Kano (1992) stellten fest, dass Übergewichtige mehr Fett verzehren als normalgewichtige Vergleichspersonen. Durchschnittlich lag die zusätzliche Menge in dieser Untersuchung bei etwa 25 g pro Tag. Das erscheint zwar gering, schlägt jedoch pro Jahr mit einer Gewichtszunahme von etwa 9 kg Körperfett zu Buche. Pudel und Westenhöfer konnten im Rahmen der sogenannten Vier-Jahreszeiten-Kur die Verzehrgewohnheiten von über 200.000 Teilnehmern überprüfen und dabei feststellen, dass der Fettverzehr adipöser Personen bei nahezu 50 % liegt (Ellrott u. Pudel 1997). Die Höhe des Verzehrs von Kohlenhydraten korrelierte dabei invers mit dem Gewicht. Dennoch wird die Zusammensetzung von Diäten heute kontrovers diskutiert. Radast konnte in vergleichenden Untersuchungen feststellen, dass mit monoensäurereicher Reduktionskost ein identischer Fettverlust wie bei kohlenhydratreicher Diät erzielt wurde. Allerdings stieg die waist-to-hip ratio bei kohlenhydratreicher Diät als Ausdruck einer Zunahme des Bauchfetts an (Radast 2000). Die pauschale Empfehlung einer kohlenhydratreichen, fettarmen Kost ist den Erkenntnissen zufolge nicht mehr vertretbar. Die Qualität der Kohlenhydrate ist von entscheidender Bedeutung, da leicht resorbierbare Kohlenhydrate, d. h. Zucker, zu einer schnellen Insulinausschüttung führen. Die daraus resultierende Fettakkumulation (statt Fettreduktion) und der durch die rasche Blutzucker-
277 18.5 · Strategien zur Gewichtsreduktion
senkung erneut einsetzende Hunger sind eher kontraproduktiv. Einer Renaissance erfreut sich infolgedessen der glykämische Index (GI, 7 Kap. 19), mit dessen Hilfe Lebensmittel ausgewählt werden können, die nur einen geringen Einfluss auf den Blutzuckeranstieg nehmen (Chanteleau 2000). In Ergänzung dazu wird die sogenannte glykämische Last (glycemic load, GL) in Betracht gezogen, die den jeweiligen Kohlenhydratgehalt je 100 g Lebensmittel berücksichtigt (Miko 2006) und eher darstellt, wie ausgeprägt die Blutzuckerbelastung nach Verzehr einer Mahlzeit sein wird (Foster-Powell 2002). Vor allem für Diabetiker, die wesentlich häufiger als die Durchschnittsbevölkerung an Adipositas leiden, ist dieser Aspekt besonders hilfreich.
18.5
Strategien zur Gewichtsreduktion
Eine erfolgreiche Adipositastherapie ist nur dann zu erwarten, wenn alle bisher genannten relevanten Aspekte berücksichtigt werden. Die wesentlichen Gesichtspunkte dabei sind: 4 Korrektur des Lebensmittelverzehrs: weniger Fett, mehr komplexe Kohlenhydrate/Ballaststoffe 4 Korrektur des Essverhaltens: kognitive, emotionale Aspekte der Ernährung 4 Korrektur der körperlichen Inaktivität: Bewegungstherapie, Ausdauersport Die Bewegungstherapie ist nicht Gegenstand dieses Kapitels, dennoch ist dieser Aspekt integraler Bestandteil einer Adipositasberatung. Der Ratsuchende sollte über die positiven Aspekte einer Bewegungstherapie informiert werden, wobei die praktische Durchführung individuell abgestimmt von einer Fachkraft mit dem Betroffenen besprochen werden sollte. Als positive Aspekte der körperlichen Aktivität kommen in Betracht: 4 schnellere Gewichtsreduktion 4 verstärkte Fettreduktion 4 vermehrte Bildung von stoffwechselaktiver Muskelmasse und damit eine Erhöhung des Grundumsatzes
4 4 4 4 4 4 4
18
erhöhter Energieverbrauch erhöhte Leistungsfähigkeit Senkung des Blutdrucks Senkung der Herzfrequenz Senkung der Serumlipidspiegel Senkung des Insulinspiegels Senkung der Glukosespiegel
Zwar erfordern spektakuläre Gewichtsreduktionen einen erheblichen Trainingsaufwand, aber auch eine mäßige Steigerung der körperlichen Aktivität führt langfristig gesehen bei einer Reduktionskost zu einem additiven Effekt. Hagan et al. (1986) beobachteten bei einer Reduktionskost von 1.200 kcal/Tag eine fünfmal ausgeprägtere Gewichtsreduktion als durch alleiniges Training, jedoch hatte zusätzliches Training zur Reduktionskost einen additiven Effekt von 36 %. Je nach Trainingsprogramm konnte Wirth (1997) eine zusätzliche Gewichtsreduktion von 10–40 % beobachten. Unzählige Interventionsstudien und die Aussagen der Betroffenen scheinen zu belegen, dass mit Crash-Diäten oder Außenseiterdiäten kein langfristiger Erfolg zu erzielen ist. Vielmehr sind erhebliche metabolische und endokrine Adaptationsmechanismen zu verzeichnen. Neben der Senkung des Grundumsatzes nimmt auch die Thermogenese ab, sodass eine kontinuierliche Gewichtsreduktion erheblich erschwert wird. Durch unzureichende Proteinzufuhr verliert der Körper vermehrt Muskelmasse und damit stoffwechselaktives Gewebe, sodass eine erneute normale Energiezufuhr zu vermehrter Akkumulation von Fettgewebe führt. Das in den 1960er- und 1970er-Jahren praktizierte Wasser- und Tee-Fasten (»Null-Diät«) als Maßnahme zur Gewichtsreduktion ist wegen Komplikationen und geringen Langzeiterfolgen völlig verlassen worden. In naturheilkundlichen Behandlungskreisen ist im Unterschied dazu das Heilfasten weit verbreitet. Durch geeignete Auswahl der Fastenverpflegung, der Trinkmenge, der Beachtung von Ausschlusskriterien usw. treten keine ernsthaften Komplikationen, sondern allenfalls Befindlichkeitsstörungen wie Hypotonie auf. Begleitend von intensiven physio- und ordnungstherapeutischen Maßnahmen kann ein so praktiziertes Fasten
278
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 18 · Adipositas
in einzelnen Fällen einen Einstieg in grundlegende Verhaltensänderungen darstellen. Die Folgen extremer diätetischer Maßnahmen sind in vielen Fällen Essstörungen, die in den letzten Jahren besorgniserregend zugenommen haben und inzwischen auch bei Männern beobachtet werden (Wunderer 2007). Bei besonderen Indikationen, wie extremer Adipositas oder vor operativen Eingriffen, können hypokalorische Kostformen (very low calory diet, VLCD) oder Formuladiäten in Erwägung gezogen werden. Formuladiäten können in der einleitenden Phase einer Gewichtsreduktion auch motivationsfördernd wirken, da mit ihrer Hilfe eine schnellere Gewichtsreduktion zu erzielen ist. Allerdings sollten diese nie als alleinige Methode in Betracht gezogen werden. Vielmehr ist hier ein durch ErnährungsFachkräfte gestaltetes und betreutes Programm zur Reduktion des Gewichts, das eine langfristige Korrektur des Essverhaltens zum Ziel hat, eine Grundvoraussetzung. Im Rahmen eines solchen Programms sollten fundierte Kenntnisse über sinnvolle kalorienreduzierte Mischkostformen vermittelt werden. Dies beinhaltet Kenntnisse über den Fettgehalt von Lebensmitteln und das Aufzeigen sinnvoller Alternativen (Burkard 2006). An die Stelle des in der Vergangenheit propagierten, aber im Alltag sehr unpraktischen genauen Zählens der Kalorien ist die Kenntnis über den Fettgehalt der Produkte und den Umgang mit Lebensmitteln getreten. Für fettreiche Lebensmittel sollten sinnvolle Alternativen mit geringem Fettgehalt aufgezeigt werden. In diesem Zusammenhang haben sich sogenannte Anstatt-Listen gut bewährt. Die Betroffenen sollten außerdem erfahren, welche Lebensmittel reich an komplexen Kohlenhydraten und Ballaststoffen sind bzw. einen niedrigen glykämischen Index aufweisen. Diese sind meistens gleichzeitig reich an Vitaminen und Mineralstoffen, nahezu ausnahmslos kalorienärmer, erzeugen ein länger anhaltendes Sättigungsgefühl, haben nur einen geringen oder keinen Anstieg des Insulinspiegels zur Folge (z. B. Gemüse) und erleichtern dadurch das Abnehmen. Alle Bemühungen führen jedoch nur dann zum Erfolg, wenn die Ernährungsempfehlungen eingebunden werden in das soziokulturelle Umfeld des
Betroffenen und wenn die Ursachen des gestörten Essverhaltens analysiert und bewusst gemacht werden.
18.5.1
Verhaltensmanagement
Die Adipositastherapie ist primär die langfristige Therapie des mit dem Essen einhergehenden Verhaltens. Deshalb sollten an dieser Stelle zumindest die wesentlichen Interventionsmaßnahmen erwähnt werden:
Verhaltensdiagnose Ziele der Verhaltensdiagnose sind seitens des Betreuers, Erkenntnisse über das Essverhalten, die Ursachen und Präferenzen des Ratsuchenden zu gewinnen. Für den Patienten bietet die Verhaltensdiagnose die Möglichkeit der kritischen Selbstbeobachtung, die erfahrungsgemäß schon zu ersten Korrekturen des Essverhaltens führt. Bewährt haben sich Ernährungsprotokolle, die mindestens über 7 Tage geführt werden (. Abb. 18.2). Der Betroffene sollte möglichst präzise aufführen, was er isst und trinkt. Ebenso aufschlussreich sind Angaben über Zeit und Ort der Nahrungsaufnahme sowie Essdauer und die Empfindung beim Essen. Standardisierte Ernährungsprotokolle, in denen die am häufigsten verzehrten Lebensmittel aufgelistet sind, können die Arbeit erleichtern, da lediglich eine Strichliste geführt werden muss. Die Auswertung der Daten kann mithilfe entsprechender Computerprogramme erfolgen. Weitere nützliche Hilfsmittel sind Nahrungsmittelpräferenzlisten und Schemata zur Beratungsplanung, die von Pudel (1993) ausführlich erläutert werden.
Zieldefinition Inhalt der Ernährungsberatung sollte die Formulierung und Erläuterung von Zieldefinitionen sein. Sie sind Bestandteil einer Zielhierarchie, die kurzfristig und längerfristig anzustrebende Ziele beinhaltet. Ein kurzfristiges Ziel wäre etwa der Abbau des Fettgewebes um 1 kg (ca. 7.000 kcal) innerhalb von 4 Wochen. Langfristig könnten Ziele wie »10 kg im Halbjahr oder Jahr« formuliert werden.
18
279 18.5 · Strategien zur Gewichtsreduktion
Ernährungsprotokoll
Datum: __________
. Abb. 18.2 So könnte der Kopf eines vom Patienten zu führenden Ernährungsprotokolls aussehen
. Tab. 18.3 Beispiel für eine »Anstatt-Liste« Lieber … Lebensmittel
Statt … kcal
Lebensmittel
Fettgehalt [g]
10
195
125 g Schweinekotelett, durchwachsen
31
390
60 g Corned Beef
6
130
60 g Cervelatwurst
22
240
80 g Rotbarsch geräuchert
5
95
80 g Matjesfilet
18
215
125 g Schweineschnitzel
Fettgehalt [g]
100 ml fettarme Milch
1,5
47
100 ml Vollmilch
100 g Magerquark
0,3
73
100 g Quark (40 % Fett i. Tr.)
11
160
30 g Gouda (30 % Fett i. Tr.)
5
80
30 g Tilsiter (60 % Fett i. Tr.)
12
130
27,8
620
Addition
Die entsprechenden Ziele werden nach dem Prinzip »ein Ziel zu einer Zeit« ausführlich mit dem Betroffenen besprochen und möglichst von ihm selbst bestimmt. Den Wünschen und Möglichkeiten des Betroffenen entsprechend kann eine realistische Maßnahmenplanung erfolgen. Zielbezogene Empfehlungen sollten handlungsorientiert sein und keine abstrakten Vorschläge beinhalten. Statt prozentuale Nährstoffrelationen aufzuzeigen, sollten konkrete Empfehlungen formuliert werden: »Statt Leber- oder Blutwurst sollten Sie lieber Corned Beef oder Putenaufschnitt kaufen«. Eine entsprechende Anstatt-Liste findet sich in . Tab. 18.3. Beispiele dieser Art zeigen, wie viel Fett und Kalorien möglicherweise an einem Tag durch geringfügige Korrekturen bei der Lebensmittelauswahl eingespart werden können. Durch solche Anstatt-Listen kann man die Möglichkeiten, Fett beziehungsweise Kalorien zu sparen, besonders eindrucksvoll verdeutlichen.
3,5
kcal
97,5
64
1.199
Verhaltensbewertung Eine Verhaltensbewertung erfolgt auf der Grundlage der Verhaltensbeobachtungen des Betroffenen. Sie ist Bestandteil der festgelegten Zieldefinitionen. Basierend auf dem registrierten Essverhalten und den Empfindungen können zukünftige Ziele definiert werden. Die flexible Kontrolle des Essverhaltens ermöglicht jederzeit Korrekturen der Zieldefinition.
Verhaltenskontrolle Durch die Kontrolle der Verhaltensänderungen ist der Betroffene jederzeit in der Lage, seine Situation zu bewerten und die Änderung seines Essverhaltens zu trainieren. Dieser Prozess von Verhaltensbeobachtung, -bewertung und -kontrolle kann im Rahmen der Zielhierarchie beliebig häufig wiederholt werden und langfristig zu einer schrittweisen Änderung des Essverhaltens führen.
280
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 18 · Adipositas
Rückfallprophylaxe Integraler Bestandteil jeder Suchtberatung ist die Rückfallprophylaxe. Gleich zu Beginn des Beratungsprozesses sollten problematische Situationen besprochen werden. Mit dem Betroffenen können Strategien zur Problemlösung erwogen und der Umgang mit derartigen Situationen geübt werden. Das Aufkommen von Schuldgefühlen, wenn die auferlegten Limitierungen einmal überschritten werden, kann auf diese Weise schon im Vorfeld verhindert werden. Auch dem Gefühl, »gesündigt« oder »versagt« zu haben, wird rechtzeitig vorgebeugt. Derartige Empfindungen sind häufig die Ursache eines frühzeitigen Therapieabbruchs. Falls der Betroffene sich selbst zu rigide und drastische Korrekturmaßnahmen auferlegt, sollte der Berater auf eventuell daraus resultierende Schuldgefühle aufmerksam machen und zu einer flexiblen Kontrolle ermutigen, die dem Betroffenen mehr Spielraum einräumt und eventuell aufkommende Zweifel am Durchsetzungsvermögen und Erfolg gar nicht erst entstehen lässt.
18.5.2
Nahrungsmittelauswahl
Die richtige Auswahl der Nahrungsmittel ist nicht das zentrale Thema der Beratung, da eine Korrektur des Essverhaltens erfahrungsgemäß im Kopf beginnt. Dennoch sind gewisse Kenntnisse unerlässlich. Entscheidend ist die Reduktion der Fettzufuhr, auf die von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) empfohlene Menge von 30 % der Gesamtenergiezufuhr und die Reduktion der Zuckerzufuhr. Da im Allgemeinen vermehrt Fertigprodukte verzehrt werden, sollte der Betroffene für das Kleingedruckte sensibilisiert werden. Die Zutatenliste gibt Hinweise über den Fett- und Zuckergehalt beziehungsweise den Energiegehalt der Produkte. Lebensmittel, die besonders fetthaltig sind, sind im 7 Kasten aufgelistet. Die Kaloriengehalte verschiedener Brotaufstriche und belegter Brote sind in . Tab. 18.4 wiedergegeben; . Tab. 18.5 zeigt die Brennwerte von Backwaren. Auch durch die Art der Zubereitung von Speisen kann ein beachtlicher Beitrag zur Gewichtsreduktion geleistet werden (. Tab. 18.6).
Besonders fettreiche Lebensmittel 5 fettreiche Fleisch- und Wurstwaren (z. B. Bauchfleisch, Braunschweiger, Teewurst) 5 fettreiche Fische und Fischwaren (z. B. Heilbutt, Bückling) 5 fettreiche Milchprodukte 5 die meisten Süßigkeiten und Backwaren 5 Nüsse und Samen
. Tab. 18.4 Kaloriengehalte von Brotaufstrichen und belegten Broten Durchschnittliche Portion [g]
kcal
Brotaufstriche Die Fruchtvolle ohne Zucker (Tino)
20
30
Marmelade, Konfitüre
20
45
Pflaumenmus
20
50
Honig
20
60
Nuss-Nougat-Creme
20
105
Orangen-NougatCreme
20
125
Milchbrotaufstrich, Streichrahm
50
145
Sardellenpaste
10
30
Soja-Aufstrich »Zwiebel«
25
50
Pflanzliche Brotaufstriche »Alevita, Tartex«
25
60/70
Butterbrot
50
140
Schinkenbrot
80
255
120
360
Belegte Brote
Hamburger Hamburger Royal
205
560
Fischmac
150
450
281 18.5 · Strategien zur Gewichtsreduktion
. Tab. 18.6 bereitung
. Tab. 18.5 Kaloriengehalte von Backwaren Durchschnittliche Portion [g]
kcal
Apfelstrudel
150
345
Baumkuchen
100
430
Bienenstich
18
Fettarme und fettreiche Arten der Zu-
Fettarme/fettfreie Zubereitungsarten
Fettreiche Zubereitungsarten
Dämpfen
Frittieren
Dünsten
Panieren
Grillen
Mit Fett anbraten/kochen
75
215
Buttercremetorte
120
610
Frankfurter Kranz
55
185
In Gemüsebrühe kochen
In Öl einlegen
Käsekuchen
100
230
Fettarme Soßen
Fettreiche Soßen
Käsesahnetorte
120
335
Tomaten
Butter
Nusstorte
100
420
Meerrettich
Margarine
Obsttorte
100
350
Senf
Öl
Obstkuchen (Hefeteig)
100
170
Curry
Mayonnaise
70
295
Gemüse
Béchamel
Schwarzwälder Kirschtorte
140
575
Saure Sahne
Crème fraîche
Fettarmer Joghurt
Sahne
Berliner, Kreppel
60
190
Fettarme Milch
Kondensmilch
Blätterteigstückchen
70
275
Mehlschwitze
Milchschnitte
30
125
Johannisbrotkernmehl, Guar
Nussecke
50
250
Schuss Rot-/Weißwein
Hochprozentiger Alkohol
Plunder mit Marzipan
90
365
Essig
Cocktailsoße
Rosinenschnecke
65
180
Schweineöhrchen
40
170
Yes Torty
38
180
Zwieback (Vollkorn)
10
50
Rührkuchen
Gewisse Kenntnisse über die Diätverordnung können ebenfalls hilfreich sein: Definitionsgemäß sind diätetische Lebensmittel nicht etwa solche, die grundsätzlich kalorienreduziert sind. Vielmehr handelt es sich um Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind. Eine Diätmargarine ist also genauso energiereich wie andere Margarinesorten, Butter oder Öle. Nur Halbfettprodukte sind energieärmer. Unter die Diätverordnung, die den rechtlichen Rahmen bei Lebensmitteln für eine besondere Ernährung festlegt, fallen auch solche Produkte, die brennwert- oder nährstoffvermindert sind. Der
Hinweis »geringer Brennwert« – »kalorienarm« ist nur dann erlaubt, wenn: 4 der Energiegehalt pro 100 g maximal 210 kJ (50 kcal) beträgt oder 4 der Energiegehalt pro 100 ml maximal 84 kJ (20 kcal) beträgt (Getränke, Suppen, Brühen). Die Hinweise »verminderter Brennwert« – »verminderter Nährstoffgehalt« sind nur dann erlaubt, wenn der Nährstoff- oder Energiegehalt um mindestens 40 % niedriger liegt als der vergleichbarer Lebensmittel: 4 40 % weniger Zucker bei Marmelade, 4 30 % weniger Energiegehalt bei Brot-, Backund Teigwaren sowie Mischungen zu deren Herstellung. Der Hinweis »light« ist bisher nicht gesetzlich geregelt. Er bedeutet in der Regel einen verminderten
282
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Kapitel 18 · Adipositas
Brennwert oder Nährstoffgehalt des Lebensmittels. Der Energie- oder Nährstoffgehalt muss dabei weniger als 40 % eines vergleichbaren herkömmlichen Lebensmittels betragen. Der Hinweis kann je nach Lebensmittel ganz unterschiedliche Bedeutung haben: Bei Fruchtsaftgetränken, Konfitüren, Bonbons bedeutet er zuckerreduziert, bei Wurst fettreduziert, bei Kaffee entkoffeiniert, bei Zigaretten nikotinarm, bei Bier alkohol- bzw. kalorienreduziert. Zumindest kann nicht sicher davon ausgegangen werden, dass ein auf diese Weise gekennzeichnetes Produkt einen geringeren Energiegehalt aufweist –Ausnahmen sind Light-Getränke. Der Hinweis »ohne Zucker« besagt lediglich, dass das betreffende Produkt keinen Haushaltszucker (Saccharose) enthält. Es kann jedoch durchaus Zuckeraustauschstoffe (Fruktose, Isomalt, Lactit, Maltit, Mannit, Sorbit, Xylit) enthalten, die im Gegensatz zu Süßstoffen ebenfalls über einen gewissen Brennwert verfügen. Der Hinweis »essen Sie weniger Fett« ist nur dann hilfreich, wenn im Rahmen der Beratung konkrete handlungsbezogene Informationen gegeben werden. Der Betroffene sollte erkennen und verstehen, dass es sich bei fettarmem Essen nicht um eine Diät handelt, sondern dass dies eine Ernährung ist, die dauerhaft praktiziert werden sollte. Die Umstellung der Kost erfordert Geduld und sollte Schritt für Schritt erfolgen. Die Mühe lohnt sich, denn sie bietet die Gewähr, langfristig das Gewicht zu halten.
tens führen. Der Betroffene sollte lernen, sein Verhalten zu beobachten und zu kontrollieren. Durch eine flexible Kontrolle seines Essverhaltens wird ihm die Möglichkeit eingeräumt, jederzeit Korrekturen der gesteckten Ziele vorzunehmen, ohne dabei Schuldgefühle zu entwickeln. Die Erläuterung einer Rückfallprophylaxe und das Management kritischer Situationen sollten frühzeitig Gegenstand der Beratung sein. Da Fett als der kritische Nährstoff zu betrachten ist, sollten die Ernährungsempfehlungen sich vor allem auf die Einsparung von Fett konzentrieren. Die Deutsche Adipositas-Gesellschaft empfiehlt eine energiereduzierte Mischkost (1.000–1.500 kcal/ Tag). Das entsprechende Ernährungswissen sollte praxis- und handlungsorientiert von Ernährungsfachkräften vermittelt werden. Im Bedarfsfall kann in der einleitenden Phase eine niedrigkalorische Formuladiät (<1.000 kcal/Tag) in Betracht gezogen werden, jedoch nie als dauerhafte oder alleinige Therapiemaßnahme und ohne begleitende Ernährungsberatung. Bei geringerer Kalorienzufuhr sollte auf eine ausreichende Proteinzufuhr geachtet werden (mindestens 50 g/Tag), um den Verlust an stoffwechselaktivem Gewebe (Muskelmasse) so gering wie möglich zu halten. Zur Optimierung der Körperfunktionen und zur Verbesserung der Compliance sollte stets eine gleichzeitige Bewegungstherapie unter Einsatz großer Muskelgruppen bei Gelenkschonung empfohlen werden.
Literatur
15
18.6
16
Die Adipositas ist eine chronische Erkrankung, deren Therapie nur durch langfristig angelegte Strategien erfolgreich sein kann. Die effektivste Therapie ist eine Reduktion der Energiezufuhr, die allerdings nicht mittels Blitz-, Crashoder Hungerdiäten erzielt werden sollte, sondern in enger Kooperation mit dem Betroffenen auf der Grundlage einer strukturierten Beratung. Die einzuleitenden Maßnahmen erfordern die aktive Mitarbeit des Adipösen. Seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten entsprechend werden im Rahmen einer Zielhierarchie einzelne realisierbare Ziele formuliert, die zu einer schrittweisen Änderung des Essverhal-
17 18 19 20
Zusammenfassung Bray GA: An approach to the classification and evaluation of obesity. In: Björntorp P, Brodoff BN (ed.): Obesity. Lippincott, Philadelphia, S. 294–308 (1992) Brombach C et al.: Die Nationale Verzehrsstudie, EU 53: 4–9 (2006) Burkard M: Adipositas und metabolisches Syndrom, IN: Koula-Jenik H et al., Leitfaden Ernährungsmedizin. Elsevier, Urban & Fischer, München, Jena , S. 419–436 (2006) Chanteleau E: The Glycaemic Index of Carbohydrate Foods: An Update from a Diabetologist’s Perspective. Aktuel Ernähr Med 25:176–185 (2000) Cremer M: Leichter, aktiver, gesünder. aid Ernährung im Fokus 8-07:248-255 (2008) Ellrott T, Pudel V: Adipositastherapie. Thieme, Stuttgart, New York (1997)
283 Literatur
Farooqi IS et al.: Monogenetic obesity in humans. Annu Rev Med 56:443-458 (2005) Foster-Powell K, Holt SHA, Brand-Miller JC: International table of glycemic index and glycemic load values: 2002. Am J Clin Nutr 76:5–56 (2002) Garrow JS: Obesity and related diseases. Churchill Livingstone, Edinburgh, pp. 329–336 (1988) Hagan RD, Upton SJ, Wong L et al.: The effects of aerobic conditioning and/or caloric restriction in overweight men and women. Med Sci Sports Med 18:87–94 (1986) Hanssen H-P: Falsche Ernährung oder »falsche« Gene? Ernährungs-Umschau 4:195–199 (2007) Hauner D, Hauner H: Leichter durchs Leben. Trias, Stuttgart (1996) Kurth BM, Schaffrath Rosario A (Robert-Koch-Institut): Die Verbreitung von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse des bundesweiten Kinder- und Jugendsurveys (KiGGS). Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 50:736–743 (2007) Müller MJ: Prävention der Adipositas. Aktuel. Ernähr Med 27:139–141 (2002) Pudel V: Praxis der Ernährungsberatung 2. Aufl. Springer, Berlin, Heidelberg, New York (1993) Radast M: Möglichkeiten der Adipositastherapie. Aktuel Ernähr Med 25:170–175 (2000) Tombek A: Adipositastherapie – gibt es den Schlüssel zum Erfolg? Ernährungs-Umschau 4:200–205 (2007) Tucker LA, Kano MJ: Dietary fat and body fat: a multivariate study of 205 adult females. Am J Clin Nutr 56:616– 622 (1992) Wirth A: Adipositas. Springer, Berlin, Heidelberg, New York (1997) Wunderer E: Essen gegen die innere Leere. EU 4:180–187 (2007)
18
285
Diabetes Marion Burkard, Karl Huth
19.1
Einleitung – 286
19.2
Generelle Aspekte einer diabetesgerechten Kost – 286
19.3
Diabetes und Adipositas – 287
19.4
Die Bedeutung der Kohlenhydrate – 289
19.4.1 19.4.2 19.4.3 19.4.4 19.4.5
Der glykämische Index und die »glykämische Last« – 289 Ballaststoffe – 290 Die Broteinheit definiert als Kohlenhydrat-Austauscheinheit – 292 Der BE-Faktor – 293 Zucker, Zuckeraustauschstoffe und Süßstoffe – 293
19.5
Die Bedeutung der Eiweiße – 294
19.6
Die Bedeutung der Fette – 295
19.6.1 19.6.2
Wie Nahrungsfette die Blutfettwerte beeinflussen – 295 Empfehlungen der Deutschen Diabetes Gesellschaft – 296
19.7
Die Bedeutung des Alkohols – 297
19.8
Sonstige Empfehlungen – 298
19.8.1 19.8.2
Kochsalz – 298 Vitamine und Mineralstoffe – 298
19.9
Zusammenfassung – 298
19
286
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Kapitel 19 · Diabetes
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) hat bereits vor Jahren grundlegende Änderungen der diätetischen Empfehlungen im Sinne einer Liberalisierung vorgenommen. Den Diabetikern wird heute keine spezielle Diät mehr empfohlen. Vielmehr sollten sie sich so ernähren, wie es zur Gesunderhaltung allen Menschen angeraten wird. Eine Grundlage zur Empfehlung von Speziallebensmitteln für Diabetiker existiert nicht. Sind bereits Folgeerkrankungen im Sinne des metabolischen Syndroms zu verzeichnen, so sollte die Kohlenhydrat- und Fettzufuhr in Abhängigkeit von individuellen Vorgaben und festgelegten Behandlungszielen erfolgen. In diesem Beitrag lesen Sie: 4 warum sich die Empfehlungen zur Ernährung bei Diabetes geändert haben, 4 von welch entscheidender Bedeutung die Gewichtsreduktion bei adipösen Diabetikern ist, 4 wie ein sinnvoller Kostplan für Diabetiker aussehen sollte, 4 wie die verschiedenen Nährstoffe den Blutzuckerspiegel beeinflussen.
11 19.1
Einleitung
12 13 14 15 16 17 18 19 20
Der Diabetes mellitus gilt bei uns als die häufigste und bedeutsamste Stoffwechselerkrankung. Mit zunehmender Verschiebung der Alterspyramide wird die Diabetesmorbidität für das Jahr 2010 unter Einbeziehung der vermuteten Dunkelziffer in Deutschland auf 10 Millionen Betroffene geschätzt (Hauner u. Recktenwald 2008) Dies gilt insbesondere für den Typ-2-Diabetes (ca. 90 %). Beide Diabetesformen, der Typ-1- und der Typ2-Diabetes, können mit gravierenden Folgeerkrankungen einhergehen. Deshalb genügt es aus heutiger Sicht nicht, lediglich die Blutzuckerspiegel zu kontrollieren und zu normalisieren. Vielmehr ist es Aufgabe der Diätetik, die gesamte atherogene und diabetesspezifische Risikokonstellation zu berücksichtigen und je nach Stoffwechsellage individuell angepasste Ernährungsempfehlungen auszusprechen. Aufgrund der Erkenntnisse der American Heart Association (AHA), der European Association for the Study of Diabetes (EASD), der Diabetes and Nutriti-
on Study Group und anderer Diabetes-Gesellschaften erfolgte 1994 eine grundlegende Änderung der diätetischen Empfehlungen, denen sich auch die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) anschloss (Wolfram 1996).
19.2
Generelle Aspekte einer diabetesgerechten Kost
Aus den gewonnenen Erkenntnissen der letzten Jahre folgt, dass Diabetikern im Prinzip keine andere Ernährung empfohlen werden muss als die, die zur Gesunderhaltung allen Menschen angeraten wird. Kalorienfreie Süßstoffe können nach Meinung der DDG bei der Zubereitung von Getränken und Speisen von Diabetikern genutzt werden. Ansonsten existiert keine Grundlage zur Empfehlung von Speziallebensmitteln für Diabetiker. Fruktose und Zuckeralkohole (Sorbit, Xylit) bieten für Diabetiker keinen substanziellen Vorteil gegenüber Haushaltszucker und sollten nicht empfohlen werden. Viele Spezialprodukte für Diabetiker sind kalorien- und fettreich. Die Vermarktung solcher Produkte – die im Allgemeinen wesentlich teurer sind – behindert das Bemühen, sich gesund zu ernähren 7 Kap. 19.4). Die Nahrungsmittelauswahl des Diabetikers muss sich von der der Familie und des Freundeskreises nicht unterscheiden, vorausgesetzt, es werden die Regeln einer gesunden Ernährung befolgt. Diese Regeln sind von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) klar definiert worden. Danach sollte man täglich folgende Nährstoffrelation zu sich nehmen: 4 55 % Kohlenhydrate, mindestens 30 g Ballaststoffe 4 15 % Eiweiß 4 30 % Fett Die DDG hat diese Empfehlungen abgewandelt – hauptsächlich hinsichtlich der mit dem Diabetes mellitus einhergehenden Folgeerkrankungen beziehungsweise wegen des gemeinsamen Vorkommens von Typ-2-Diabetes und Adipositas, Hypertonie und Dyslipoproteinämie (metabolisches Syndrom; Hofele u. Burkard 2008).
287 19.3 · Diabetes und Adipositas
Die Kohlenhydratzufuhr sollte in Abhängigkeit von den individuellen Vorgaben und den festgelegten Behandlungszielen erfolgen. Das gleiche gilt für die Fette, mit der Einschränkung, dass weniger als 10 % der Kalorien aus gesättigten Fettsäuren stammen sollten. Hinsichtlich der Proteinzufuhr liegt die zulässige Schwankungsbreite zwischen 10 und 20 % der Gesamtenergiezufuhr. Auch hier sind Folgeerkrankungen – wie eine Niereninsuffizienz – der limitierende Faktor. Trotz der grundsätzlich gleichen diätetischen Empfehlungen sind bei den unterschiedlichen Diabetes-Typen verschiedene Prioritäten zu setzen: Bei Typ-1-Diabetikern ist normalerweise die Auswahl, Menge und Verteilung der kohlenhydrathaltigen Nahrungsmittel von besonderer Bedeutung, was sich jedoch bei intensivierter Therapie vor allem mit den seit einigen Jahren auf dem Markt befindlichen sofort wirksamen Insulinanaloga relativiert. Dies bedeutet, je häufiger ein Diabetiker spritzt, desto freier kann er seinen Kostplan gestalten. Die Einhaltung von Zwischenmahlzeiten ist dann auch nicht mehr erforderlich. Die meisten Typ-2-Diabetiker – ca. 90 % – sind übergewichtig. In diesen Fällen sollte der Gewichtsreduktion absolute Priorität eingeräumt werden.
19.3
Diabetes und Adipositas
Eine gute Blutzuckereinstellung und Vermeidung von Folgeerkrankungen ist nur dann gewährleistet, wenn die Energieaufnahme dem Energiebedarf entspricht. Denn selbst relativ geringe Gewichtsverluste führen in der Regel bereits zu: 4 einer geringeren Insulinresistenz, 4 einer Senkung der beschleunigten Glukoseproduktion in der Leber, 4 einer verbesserten Insulinsekretion, 4 einer Korrektur von Fettstoffwechselstörungen sowie 4 einer Senkung des Blutdrucks. Bezüglich der Therapie der Adipositas sei auf 7 Kap. 18 verwiesen. Im Vordergrund stehen die Reduktion der Energiezufuhr und eine Steigerung des Energieverbrauchs.
19
Wegen der adipositasbedingten Gesundheitsstörungen sollte jedoch bei Diabetikern bereits ab einem Body-Mass-Index (BMI; 7 Kap. 18) zwischen 25 und 29,9 eine Behandlung in Erwägung gezogen werden; vor allem dann, wenn eine abdominelle Adipositas vorliegt. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es von besonderer Bedeutung ist, wie sich das Fett im Körper verteilt. Bei einem erhöhten Quotient aus Taillen- und Hüftumfang (waist-to-hip ratio, WHR; 7 Kap. 18) steigt das Risiko von Stoffwechselstörungen oder für einen vorzeitigen Tod. Da speziell bei Diabetikern, wie bereits die Build Study 1979 dokumentieren konnte, die Mortalitätsrate bei Übergewicht um ein Vielfaches erhöht ist, sollte dieser Aspekt engmaschig kontrolliert und adäquat therapiert werden. Ab einem WHR von über 0,85 bei Frauen und über 1,0 bei Männern ist ein Anstieg des Risikos zu verzeichnen. Weiteren Erkenntnissen zufolge gilt dies auch bei einem Taillenumfang von >88 cm bei Frauen bzw. >102 cm bei Männern. Auch für adipöse Diabetiker empfiehlt sich eine energiereduzierte, ballaststoffreiche Mischkost mit einem Energiegehalt von etwa 1.000–1.500 kcal/ Tag. Der Proteingehalt sollte mindestens 50 g betragen und hochwertig sein. Hochwertiges Protein findet sich besonders in Eiern, Kartoffeln, Fisch, Fleisch und Hülsenfrüchten. Die Wasserzufuhr sollte mindestens 2,5 l/Tag betragen, vorausgesetzt, es liegen keine Kontraindikationen wie die Neigung zu Ödembildung vor. Je ausgeprägter die Adipositas, desto bedeutender ist vor allem in der Anfangsphase der Gewichtsreduktion der Einsatz adäquater Mineralwässer, die etwa 500 mg Natrium enthalten sollten, um den vermehrten Elektrolytverlust zu kompensieren und Kreislaufproblemen vorzubeugen. Die anzustrebende Gewichtsreduktion sollte bei 500 g pro Woche liegen. Auch weniger ist akzeptabel, zumal der Diabetiker, bedingt durch die Hyperinsulinämie, auf spezielle Schwierigkeiten bei der Gewichtsreduktion stößt. Zusätzliche Vorsicht ist geboten, wenn bereits eine Niereninsuffizienz vorliegt. Medikamentöse Therapiemaßnahmen können die Bemühungen zusätzlich erschweren. Deshalb sollte auch dieser Aspekt berücksichtigt und darüber nachgedacht werden, ob wirklich das richtige, die Gewichtsreduktion positiv beeinflussende Prä-
288
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Kapitel 19 · Diabetes
parat verschrieben wurde. Drastischere Diätmaßnahmen wie z. B. Crash-Diäten haben sich nicht bewährt, da der erwünschte Langzeit- und Lerneffekt nicht erzielt wird. Sollte im Einzelfall doch eine geringere Energiezufuhr erforderlich werden – möglichst nicht unter 700 kcal – so sollte eine solche Diät mindestens 50 g hochwertiges Eiweiß enthalten. Der Anteil der Kohlenhydrate sollte mindestens 45 g und der des Fetts 7 g betragen. Gleichzeitig sind Vitamine und Mineralstoffe zu substituieren. Die Dauer einer solchen Diät sollte 4 bis 6 Wochen nicht überschreiten. Von entscheidender Bedeutung ist die allmähliche Korrektur des Essverhaltens. Schrittweise Modifikationen konkreter Verhaltensmuster haben sich am besten bewährt: zum Beispiel statt täglich Wurstbrot zum Abendessen nur noch jeden zweiten Abend; oder: statt täglich Süßwaren als Zwischenmahlzeit nur noch zweimal pro Woche. Eine entsprechende Vereinbarung mit dem Patienten ist Grundvoraussetzung. Am sinnvollsten und erfolgreichsten ist es, wenn der Patient lernt, die Ziele selbst zu bestimmen. Ein Beispiel eines Tageskostplans, wie er Patienten im Rahmen einer Reduktionsdiät empfohlen werden kann, ist dem nachfolgenden Kasten zu entnehmen. Weitere praktisch leicht umsetzbare Rezepte finden sich in Burkard et al. 1997.
Zwischenmahlzeit: Herzhaftes Frühstücksknäcke 5 2 Scheiben Vollkornknäckebrot (ca. 20 g) 5 1 TL Butter 5 1 St. Salatgurke (ca. 50 g) 5 1 Tomate (ca. 100 g) 5 2 Radieschen 5 2 EL Quark 20 % Fett i. Tr. 5 1 EL Kresse 5 Salz, Pfeffer 5 → ca. 140 kcal, ca. 1 KHE
Mittagessen Möhren-Sellerie-Frischkost 5 2 EL Dinkel- oder Weizenkörner (ca. 20 g) – über Nacht einweichen und ca. 20 min kochen 5 1kl. Möhre (ca. 40 g) – raspeln 5 1 St. Sellerieknolle (ca. 40 g) – raspeln 5 1/2 Scheibe ungezuckerte Ananas ( ca. 20 g) – würfeln 5 1 St. Ingwerknolle (ca. 1 cm) – schälen und fein würfeln 5 1 TL Kürbiskerne 5 30 g Kefir 5 1 TL Zitronensaft, Salz, Pfeffer, flüssiger Süßstoff 5 alles zu einem Frischkostsalat vermischen 5 →ca. 150 kcal, ca. 2 KHE
Schweinefilet mit Pilzen und Pellkartoffeln
14
Beispiel eines Tageskostplans im Rahmen einer Reduktionskost von etwa 1.500 kcal
15
Frühstück: Süßer Sechskornbrei
16
5 5 5 5
17 18 19 20
5 5 5 5
4 EL Sechskorn-Getreidemischung (ca. 40 g) 125 ml Milch (1,5 % Fett) flüssiger Süßstoff, Zimtpulver 1/2 TL abgeriebene Schale einer unbehandelten Zitrone 1/2 Apfel (ca. 50 g) 1/2 Banane (ca. 60 g) 1 TL gemahlene Nüsse → ca. 310 kcal , ca. 4 1/2 KHE
5 100 g Schweinefilet in Scheiben schneiden und braten 5 125 g Waldpilze oder Champignons in Scheiben schneiden und braten 5 1 kl Zwiebel 5 1 EL Olivenöl 5 Rosmarin, Majoran, Salz, Pfeffer, Muskatnuss 5 1 EL Schnittlauchröllchen zum Garnieren 5 2 mittelgroße Pellkartoffeln 5 → ca. 360 kcal, ca. 2 KHE
Zwischenmahlzeit Joghurt-Mandarinen-Crème 5 1 Mandarine (ca. 50 g) 5 75 g Naturjogurt (1,5 % Fett)
6
289 19.4 · Die Bedeutung der Kohlenhydrate
5 1 EL saure Sahne 5 1 TL Zitronensaft 5 einige Johannisbeeren und Minzeblättchen zum Garnieren 5 → ca. 120 kcal, ca. 1 KHE
Abendessen 5 2 Scheiben Vollkorntoastbrot 5 1 Scheibe Gouda 30 % Fett i. Tr. ( ca. 30 g)
Lachstartar 5 50 g Wildlachs (oder Makrele oder Forelle) – in Stückchen schneiden 5 1 St. Zwiebel – hacken 5 1 kl. Gewürzgurke (ca. 20 g) – in kl. Würfel schneiden 5 1 St. Staudensellerie (ca. 3 cm) – in kleine Würfel schneiden 5 1 TL gehackter Dill 5 alles miteinander gut vermischen 5 1 TL Cognac 5 1 TL Zitronensaft, Salz, Pfeffer, zum Würzen 5 → ca. 360 kcal, ca. 2 KHE
Spätmahlzeit 5 1 mittlgroßer Apfel (ca. 115 g) 5 → ca. 60 kcal, ca. 1 KHE
19.4
Die Bedeutung der Kohlenhydrate
In neuerer Zeit wird die Empfehlung der Kohlenhydratzufuhr kontrovers diskutiert. Einerseits wird zur Prävention der koronaren Herzerkrankung (KHK), die gerade bei Diabetes mellitus ein besonderes Risiko darstellt, eine geringere Fettzufuhr empfohlen, was die Empfehlung einer kohlenhydratreicheren Ernährung nahelegt. Diese kann jedoch zum Anstieg von Diabetes und Übergewicht führen. Zur Reduktion des Übergewichtes werden andererseits Diäten empfohlen, die proteinreich sein können, was die American Heart Association veranlasst hat, diesbezüglich Bedenken auszusprechen, da derartige Diäten zu einer Belastung von Leber und Nieren führen können. Letztere sind bekanntlich bei Diabetes mellitus besonders gefährdet und nicht selten ist bei Diagnosestellung bereits eine Mikroangiopa-
19
thie zu verzeichnen. Somit befindet sich der beratende Arzt in dem Dilemma, keinen der 3 Nährstoffe uneingeschränkt empfehlen zu können. Für den Diabetiker können deshalb genauere Kenntnisse über die Kohlenhydrate und deren Einfluss auf den Stoffwechsel hilfreich sein. Zunächst sind die beiden Gruppen der Kohlenhydrate voneinander zu trennen, nämlich Zucker und Stärke bzw. Mono-/Disaccharide und Polysaccharide. Während Polysaccharide in jedem Fall enzymatisch gespalten werden müssen, werden Monosaccharide ohne enzymatische Spaltung in Abhängigkeit von der Transportform aus dem Darmlumen in die Epithelzelle und dann zum Teil sehr schnell ins Blut abgegeben. Galaktose und Glukose werden beispielweise aktiv (mittels Adenosintriphosphat/ATP) und damit schnell resorbiert, während Fruktose passiv im Sinne einer Diffusion und damit zeitlich verzögert aufgenommen wird, was beim Verzehr größerer Mengen erfahrungsgemäß eine abführende Wirkung hat. Letztendlich sind jedoch die Zusammensetzung des verzehrten Lebensmittels und vor allem die Gesamtzusammensetzung der verzehrten Mahlzeit sowie deren Kohlenhydratanteil für den Verlauf der Blutzuckerkurve von entscheidender Bedeutung. So hat sich im Rahmen von Studien gezeigt, dass bei Flüssignahrung wie enteraler Ernährung der Fruktoseanteil durchaus Einfluss auf den Blutzuckerspiegel haben kann. Beim Verzehr fester Nahrung scheint dies im Vergleich zu Saccharose nicht der Fall zu sein, zumal diese, also der Haushaltszucker, zu 50 % aus Fruktose besteht (Disaccharid aus Glukose und Frukose). Dies ist einer der Gründe, weshalb sogenannte Diabetikerprodukte nicht mehr empfohlen werden (7 Kap. 19.2).
19.4.1
Der glykämische Index und die »glykämische Last«
Einer gewissen Renaissance erfreut sich in diesem Zusammenhang die Betrachtung des glykämischen Index (GI) von Lebensmitteln (. Abb. 19.1, mod. nach Ziesenitz 1997). Um die richtige Auswahl zu treffen, hat sich ein Expertengremium der World Health Organisation/ Food and Agriculture Organization of the United Nations (WHO/FAO) bereits
290
Kapitel 19 · Diabetes
1
%0736) 08/36)
2
3 4
-6 '5)1)
%'',% 536) $8'/)5
-13 2%()
2%2%6 !5%8&)2
5%2+)2 6%*7
5&6)2
5
2%2%6 6%*7
%2%2)2
6 7
5%2+)2
58',7 .3+857 "300 1-0', %+)5 1-0',
3,2)2
B56-',
)-6 1; 036)
+)/%5 73>)02 34'352 ,-46
%+8)77)
537 8',)2
@60%*)5 ?3'/)2 807%2% 5%2
%61%7)-6 )-6
)/6) 8()02
4%5&3-0)( )-6
0&5%2
4*)0 6%*7
A4*)0 -52)2
-26)2
%573>)0 &5)-
',3/3 0%()
%/736)
-') &8&&0)6 352 ?%/)6 #,))7% &-:
%5 73>)02 267%27 311)6
811- &=5',)2 *)>)5 1-2< &32&326 @60- -)+)0
)-6 28()02
267%27 )-6
4% +)77-
814)5 2-'/)0
58/736)
-56',)2 3+857
8
631%07 35&-7
9 10
45
,
-0'
) /7
8 3(
)
@6
)1
67
)
%(
&
-1
*7)
&
3
32
5 ,%
''
6%
-
2(
= 676
)
8
2
5)
-(
32
% C9
@
0 >) 3 7 5
%
(
53
4 %-6
-6
)
6
'/
7@
6 @,
2
0-)
)%
5 ')
5
)2 %5 /9 ' % 37 5 2
5)
9%
-+ !)
11
. Abb. 19.1 Glykämischer Index von Lebensmitteln
12 13 14 15 16 17 18 19 20
vor Jahren für die Verwendung dieses Indexes zur Gestaltung der Kost ausgesprochen. Ein weiterer Schritt ist die Berechnung der »glykämischen Last« (glycemic load, GL – 7 Kap. 16), d. h. die Quantität der Kohlenhydrate pro verzehrter Portion, die letztendlich ermittelt, wie ausgeprägt die Blutzuckerbelastung nach Verzehr einer Mahlzeit sein wird (Foster-Powell et al. 2002). Ein üppiger Verzehr von Lebensmitteln mit hohem glykämischen Index, bei geringem Ballaststoff- und Fettgehalt wird einen hohen Blutzuckerspiegelanstieg zur Folge haben, während eine kleine Mahlzeit mit niedrigem glykämischen Index und hohem Ballaststoff- und Fettgehalt ein entsprechend niedriges Blutzuckerprofil zeigen wird. Schließlich ist im Tagesverlauf bei adäquater Lebensmittelauswahl wie Gemüse, Rohkost, Vollkornprodukten, Obst und im Rahmen der angemessenen Kalorienzufuhr auch von Fett (möglichst Monoensäuren) im Sinne eines second meal effect (Anstieg des Blutzuckerspiegels bedingt durch
die erste Mahlzeit beeinflusst die Reaktion auf die nachfolgenden Mahlzeiten) mit durchweg besseren Blutzuckerkurven zu rechnen als bei regelmäßigem Verzehr von Lebensmitteln mit hohem glykämischem Index/hoher glykämischer Last.
19.4.2
Ballaststoffe
Die Kohlenhydrate sollten auf mehrere Mahlzeiten über den Tag verteilt werden, um größere Schwankungen der Blutzuckerspiegel zu vermeiden. Positiv unterstützt werden diese Bemühungen durch einen möglichst hohen Anteil an Ballaststoffen. Besonders vorteilhaft auf die Stoffwechselsituation wirkt sich der Verzehr oder Zusatz von löslichen Ballaststoffen aus, da diese zu einer Senkung des postprandialen Blutzuckeranstiegs beitragen. Diese Eigenschaft wird auf mehrere Faktoren zurückgeführt: 4 eine Verzögerung der Magenentleerung
291 19.4 · Die Bedeutung der Kohlenhydrate
4 eine daraus resultierende verzögerte Resorption 4 die Verbreiterung des sogenannten unstirred water layer (Flüssigkeitsschicht, die die Oberfläche des Darmepithels bedeckt und eine Barriere für die Diffusion hydrophober Partikel bildet) 4 eine verzögerte Freisetzung von gastrointestinalen Hormonen wie GIP (glucose-dependent insulin-releasing polypeptide) und GLP I (glucagon-like polypeptide I). Ferner trägt eine ballaststoffreiche Ernährung zu einer Senkung des Cholesterinspiegels bei, da durch die Adsorption von Gallensäuren – insbesondere durch lösliche Ballaststoffe – eine verminderte Rückresorption von Gallensäuren und damit eine vermehrte Resynthese aus Cholesterin erfolgt. Die EASD plädiert für eine Zufuhr von 20 g Ballaststoffen pro 1.000 kcal, die amerikanische Diabetesgesellschaft sogar für 25 g pro 1.000 kcal beziehungsweise 40 g pro Tag. Das Joslin Diabetes Center (richtungsweisend für die USA) empfiehlt sogar seit 2005 eine Zufuhr von 50 g/Tag unter eventueller Einbeziehung von Supplementen wie Psyllium (Flohsamen). Die Konsensuskonferenz der deutschen Diabetesgesellschaft sah sich außerstande, eine konkrete mengenmäßige Empfehlung auszusprechen; es wird jedoch ein regelmäßiger Verzehr ballaststoffreicher Lebensmittel empfohlen. Den Empfehlungen der DGE zufolge sollten mindestens 30 g Ballaststoffe pro Tag aufgenommen werden. Da es sich bei den Ballaststoffen um eine heterogene Gruppe von Verbindungen handelt, ist die gastrointestinale Wirkung der verschiedenen Substanzen unterschiedlich. Differenziert wird deshalb zwischen den sogenannten Füllstoffen und den Quellstoffen. Zu den Füllstoffen zählen Zellulose, Lignin und ein Teil der Hemizellulosen. Sie sind Bestandteil pflanzlicher Zellwände und können Wasser nur gering oder gar nicht binden, zum Beispiel Lignin. Sie werden nur in geringem Umfang durch die Darmbakterien gespalten, damit sind sie besonders geeignet, das Stuhlvolumen zu vergrößern und der Obstipation entgegenzuwirken. Zu den Quellstoffen zählen Pektine, einige Hemizellulosen, Gummen und Mucilagen (Schleimstof-
19
fe). Ihr Wasserbindungsvermögen kann bis zum 100-Fachen des Eigengewichts betragen. Neben der Verzögerung der Glukoseresorption bewirken sie eine Senkung der Transitzeit, des Cholesterinspiegels und eine Optimierung der Darmflora, der sie als Substrat dienen. Da Quellstoffe im Gegensatz zu den Füllstoffen zum großen Teil durch die Darmflora metabolisiert werden, können ihre Stoffwechselendprodukte wie Acetat, Propionat und β-Hydroxybutyrat vom Organismus genutzt werden. Vor allem Letzteres dient dem Kolonepithel als Nährstoff. Aus epidemiologischen Studien ergibt sich der Hinweis, dass eine quellstoffreiche Ernährung die Inzidenz des Kolonkarzinoms zu reduzieren vermag. Auch in isolierter Form sind Ballaststoffe einsetzbar: Guar weist neben Konjak (gewonnen aus Amorphophallus konjac, einem asiatischen Knollengewächs) das größte Quellvermögen auf und wird als adjuvantes Therapeutikum bei Diabetes mellitus eingesetzt. Die Menge von 15 g über den Tag verteilt, zeigt positive Einflüsse auf Blutzucker-, Insulin-, Serumlipidspiegel und auf das Körpergewicht. Carubin (Johannisbrotkernmehl) und Guar finden als Bindemittel – anstelle von Mais- oder Kartoffelstärke – Verwendung. Eine Messerspitze genügt, um eine Soße anzudicken. Außerdem ist keine Kohlenhydratanrechnung erforderlich. > Grundsätzlich gilt, dass Ballaststoffe stets einschleichend verabreicht werden sollten, da es bei den gegenwärtigen ballaststoffarmen Verzehrgewohnheiten einer Adaptationsphase bedarf.
Von größter Bedeutung ist eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr zusammen mit dem Verzehr der Ballaststoffe, da es sonst in Extremfällen zu einem Ileus kommen kann. Vor allem bei älteren Patienten ist dieser Hinweis wegen des verminderten Durstempfindens sehr wichtig. Besonders ballaststoffreiche Nahrungsmittel sind in . Tab. 19.1 (mod. nach aid 1989) aufgeführt. Die vielfach geäußerten Bedenken, dass eine erhöhte Ballaststoffzufuhr zu einer Unterversorgung mit Mineralstoffen führen kann, haben sich Untersuchungen zufolge als unbegründet erwiesen. Selbst bei einer Zufuhr von bis zu 1.100 g pro Tag an Obst und Gemüse wird die Ausnutzung von Kal-
292
1 2
Kapitel 19 · Diabetes
. Tab. 19.1 Ballaststoffgehalt in Lebensmitteln in g/100 g Vollkornbrote
6,3–9,0
Knäckebrote
13,0–24,0
Vollkornnudeln
6,0–8,0
Haferflocken
5,3–7,0
Andere Getreideflocken
9,4–11,8
Frische Leguminosen
2,9–5,9
Hülsenfrüchte
10,2–18,0
Grünkohl
4,8
Andere Kohlsorten
1,9–2,6
Broccoli
3,0–3,2
Möhren
1,5–3,0
Porree
1,5–4,0
9
Rettich
2,7
Rote Bete
0,19–2,5
10
Spinat
1,7
Champignons
1,9–2,5
Aprikosen
2,1–2,3
Äpfel
1,5–2,3
Beerenobst
1,4–4,8
13
Birnen
2,3–3,3
Orangen
1,9–2,0
14
Trockenobst*
4,0–9,6
Walnüsse
3,5–4,7
Andere Nüsse
6,1–9,6
3 4 5 6 7 8
11 12
15 16 17 18 19 20
* wegen des hohen Zuckergehalts für Diabetiker ungeeignet Weiteres Informationsmaterial zu Ballaststoffgehalten ist über die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (Godesberger Allee 18, 53175 Bonn) und den Auswertungs- und Informationsdienst für Verbraucherschutz, Ernährung, Landwirtschaft (aid infodienst Verbraucherschutz, Ernährung, Landwirtschaft e. V., FriedrichEbert-Straße 3, , 53177 Bonn) zu beziehen.
zium, Magnesium und Zink nicht beeinträchtigt. Auch die Eisenversorgung ist gewährleistet, zumal ballaststoffreiche Produkte stets auch einen höheren Mineralstoffgehalt aufweisen (Wisker u. Feldheim 1989).
19.4.3
Die Broteinheit definiert als Kohlenhydrat-Austauscheinheit
Der Vorstand der Deutschen Diabetes Gesellschaft hat auf Empfehlung des Ausschusses »Ernährung« die Broteinheit (BE) als einen Schätzwert definiert, der es erlaubt, Lebensmittelportionen, die 10–12 g verwertbare Kohlenhydrate enthalten, gegeneinander auszutauschen. Der bisherige Begriff BE wurde ersetzt durch die Bezeichnung Kohlenhydrat-Austauscheinheit. Lediglich bei diätetischen Lebensmitteln ist eine entsprechende Angleichung bisher nicht erfolgt. Diese breiter gefasste Definition stützt sich auf eine Reihe von Aspekten: 4 Die BE ist nur für die Minorität der insulinpflichtigen Diabetiker von Bedeutung, sie ist eine Schätz- und keine Berechnungseinheit. 4 Angaben über den Kohlenhydratgehalt eines Nahrungsmittels können den Blutzuckeranstieg nach seinem Verzehr nicht präzise voraussagen. 4 Die Schwankungsbreite des Kohlenhydratgehalts der einzelnen Träger liegt – je nach Jahreszeit und Herkunftsort – bei 20–30 %. 4 Im deutschen Sprachraum wurden mehrere Kohlenhydrat-Austauscheinheiten von 10 oder 12 g Kohlenhydraten verwendet. 4 Im europäischen Raum gibt es keine Äquivalente zur BE – dies wird voraussichtlich auch in Zukunft so sein. 4 Der Ballaststoffgehalt kann inzwischen genauer gemessen werden, deswegen mussten die Tabellen bereits überarbeitet werden. 4 Die Definition der BE ist auch gut geschulten älteren Diabetikern kaum zu vermitteln. Von besonderer Bedeutung sind die beiden ersten Punkte, die deshalb genauerer Erläuterung bedürfen. Über Kenntnisse anrechenbarer und nicht anrechenbarer Kohlenhydrate und der daraus resultierenden Beeinflussung der Blutzuckerspiegel sowie einer Hyper- oder Hypoglykämie sollte jeder Diabetiker verfügen, und das möglichst frühzeitig, damit Spätfolgen verhindert werden können. In den Genuss einer Schulung sollte also jeder Diabetiker gleich nach Diagnosestellung gelangen. Von
293 19.4 · Die Bedeutung der Kohlenhydrate
besonderer Bedeutung sind diese Kenntnisse nicht nur für insulinpflichtige Diabetiker, sondern auch für jene, die oral-medikamentös behandelt werden, da bei einigen Medikamenten die Gefahr einer Hypoglykämie gegeben ist. Bekanntlich ist es nicht möglich, den Blutzuckeranstieg anhand des bloßen Gehalts an Kohlenhydraten einzelner Lebensmittel vorauszusagen. Von entscheidender Bedeutung ist vielmehr die Kombination der Nahrungsmittel. Beim Verzehr eines Stücks Obst oder von Teigwaren in isolierter Form kommt es beispielsweise zu anderen Blutzuckerwerten als bei der Kombination dieser Nahrungsmittel mit Fett und Ballaststoffen. So ergibt sich ein anderes Resultat, wenn Obst in Form einer fettreicheren Quarkspeise oder eines fettreichen Kuchens verzehrt wird. Signifikante Veränderungen des Blutzuckerprofils konnten auch beim Verzehr einer Pizza beobachtet werden, wobei der resorptionsverzögernde Effekt von Fett gut dokumentiert werden konnte. Das bisher praktizierte Abwiegen von Lebensmitteln ist damit obsolet. Es genügt aufgrund dieser Erläuterungen, sich bei der Menge an anzurechnenden Kohlenhydraten auf den geschulten Blick zu beschränken, beziehungsweise die Portionen orientiert an Küchenmaßen (z. B. ein Esslöffel, eine Scheibe etc.) abzuschätzen. Für den praktischen Umgang mit diesen Kohlenhydrat-Austauscheinheiten (KHE) ist eine entsprechende Tabelle erhältlich (Schumacher u. Toeller 2009).
19.4.4
Der BE-Faktor
Auch der insulinpflichtige Diabetiker kann sich kohlenhydratreich ernähren (55 % der Gesamtenergiezufuhr). Bei der Berechnung des Insulinbedarfs sollte er lediglich berücksichtigen, dass bedingt durch den zirkadianen Rhythmus der Insulinsensitivität der Insulinbedarf zu den einzelnen Mahlzeiten unterschiedlich ist. Dieser Tatsache wurde durch die Entwicklung des BE-Faktors Rechnung getragen. Der BE-Faktor gibt an, wie viel Normalinsulin zu den einzelnen Mahlzeiten benötigt wird, um eine Kohlenhydrat-Austauscheinheit abzudecken 4 BE-Faktor morgens: etwa 2,0 I. E.
19
4 BE-Faktor mittags: etwa 1,0 I. E. 4 BE-Faktor abends: etwa 1,5 I. E. Individuelle Abweichungen können ausgeprägt sein. Ebenso kann die Wirkung des Insulins individuell sehr unterschiedlich sein und muss deshalb im Einzelfall angepasst werden. Als Faustregel gilt: 4 Insulinbedarf kleiner als 40 I. E./Tag: Blutzucker-Senkung von 40 mg/dl je I. E. Normalinsulin 4 Insulinbedarf größer als 40 I. E./Tag: Blutzucker-Senkung von 30 mg/dl je I. E. Normalinsulin Zusätzlich muss noch berücksichtigt werden, dass zu den Mahlzeiten eventuell Normalinsulin bzw. ein Insulin-Analogon gespritzt wird, das nach dem Korrekturfaktor berechnet wird (Dennin 1996; Jäckle et al. 1997).
19.4.5
Zucker, Zuckeraustauschstoffe und Süßstoffe
Eine Reihe von Studien und Untersuchungen der vergangenen Jahre hat gezeigt, dass niedermolekulare Zucker, die in Lebensmitteln oder Speisen enthalten sind, und Zusätze von Saccharose, die in der Diabetesdiät traditionsgemäß nicht zugelassen waren, im Vergleich zu anderen Kohlenhydraten keine nachteiligen Wirkungen auf die Blutzuckereinstellung haben (Chantelau 1988; Bantle 1989; Domke et al. 1995). Saccharose schneidet bezüglich des Stoffwechsels auch deshalb günstiger ab, weil sie zu 50 % aus Fruktose besteht, die wesentlich langsamer resorbiert wird als Glukose und außerdem rascher sowie nahezu ausschließlich in der Leber verstoffwechselt wird (CMA 1997). Nach Aussagen des Ausschusses »Ernährung« der DDG ist das traditionelle Saccharoseverbot in der Diabeteskost nach heutigem Kenntnisstand deshalb nicht mehr haltbar. Eine Menge von 10 % der Gesamtenergiezufuhr – verpackt in Lebensmitteln – wird als akzeptabel betrachtet. Getränke mit einem hohen Saccharosegehalt sollten allerdings der Behandlung von Unterzuckerungen vorbehalten bleiben.
294
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 19 · Diabetes
Die derzeit zugelassenen Zuckeraustauschstoffe Fruktose, Sorbit, Xylit, Mannit, Laktit und Isomalt wirken sich im Hinblick auf ihre begrenzten oder geringen blutzuckersteigernden Effekte und auf den daraus resultierenden verringerten Insulinbedarf vorteilhaft aus. Alle können jedoch bei übermäßigem Verzehr zu osmotisch bedingten Durchfällen führen. Wegen möglicher gastrointestinaler Nebenwirkungen und wegen des Energiegehalts wird empfohlen, eine Gesamtmenge von 50 g pro Tag nicht zu überschreiten (Jahnke 1990). Die derzeit geltende Zusatzstoff-Zulassungsverordnung vom 20.12.1993 lässt die Verwendung von Isomalt, Sorbit und Xylit für Lebensmittel (mit Ausnahme von Getränken) in einer Höchstmenge von 10 % einzeln oder insgesamt zu. Im Rahmen des europäischen Binnenmarktes wurde für alle mehrwertigen Alkohole wie z. B. Sorbit ein einheitlicher Brennwert von 2,4 kcal/g festgelegt, obwohl der effektive Brennwert beim Menschen bei 3–3,5 kcal/g liegt (Beaugerie et al. 1990). Wegen der begrenzten Einsatzmöglichkeiten kann eine Kalorienreduktion in diesem Zusammenhang nicht erwartet werden. Fruktose wird lebensmittelrechtlich gesehen nicht zu den Zusatzstoffen gezählt. Dennoch ist sie ebenfalls durch weitgehende insulinunabhängige Verwertung und fehlende akute blutzuckersteigernde Wirkung gekennzeichnet. Eine vermehrte Zufuhr kann sich jedoch nachteilig auf den Stoffwechsel auswirken, zum Beispiel durch gesteigerte Triglyzeridbildung, Fettleber oder verstärkte nichtenzymatische Glykosylierung von Proteinen und osmotische Diarrhöen. Zwar ist bei mäßigem Fruktoseverzehr nicht mit unerwünschten Nebenwirkungen zu rechnen, allerdings liegen keine Langzeitstudien vor, die Vorteile einer Fruktoseverwendung für Diabetiker belegen. Einige Autoren lehnen den Einsatz von Zuckeraustauschstoffen für Typ-1-Diabetiker und in der Diät des übergewichtigen Diabetikers kategorisch ab, zumal damit hergestellte Produkte vielfach besonders fettreich sind (Domke et al. 1995). Auch die Stellungnahme des Ausschusses »Ernährung« der DDG ist eindeutig. Nach Ansicht dieser Experten bieten Zuckeraustauschstoffe keine Vorteile für Diabetiker. Ihre Verwendung kann infolgedessen nicht angeraten werden. Außerdem
wird der Zielsetzung und dem Lerneffekt entgegengewirkt, den Prinzipien einer ausgewogenen Mischkost zu folgen (Toeller 1994). Süßstoffe wie Saccharin, Cyclamat, Aspartame, Acesulfam-K, Neohesperidin und Thaumatin werden als nützliche Süßungsmittel angesehen, zumal sie quasi kalorienfrei sind. Saccharin, Cyclamat und Acesulfam-K werden unverändert über die Nieren wieder ausgeschieden. Sie sind kalorienfrei. Aspartame ist ein Dipeptidmethylester, bestehend aus den Aminosäuren L-Phenylalanin und L-Asparaginsäure, wird wie jedes andere Protein verstoffwechselt und liefert entsprechend 17 kJ/g (4 kcal). Aufgrund der hohen Süßkraft (das 200-Fache von Saccharose) ist die daraus resultierende Energiezufuhr jedoch unbedeutend (Kasper 1996). Allerdings zerfällt Aspartame in sauren Lösungen und durch Hitzeeinwirkung und ist daher zum Kochen und Backen nicht geeignet. Da Aspartame Phenylalanin enthält, ist es auch für Personen, die an Phenylketonurie (PKU) leiden, nicht geeignet (Jäckle et al. 1996).
19.5
Die Bedeutung der Eiweiße
Wie bereits erwähnt, sollte die Eiweißzufuhr zwischen 10 und 20 % der Gesamtenergiezufuhr liegen. Grundsätzlich ist es korrekter, den Proteinbedarf auf das Körpergewicht zu beziehen. Die Empfehlung der DGE lautet 0,8 g/kg Körpergewicht für den gesunden Erwachsenen. Diese Menge entspricht auch der Empfehlung der amerikanischen Diabetes-Gesellschaft. Die DDG empfiehlt bei unkompliziertem Diabetes im Erwachsenenalter 15 % der Gesamtenergiezufuhr. Die EASD gibt keine konkreten Empfehlungen, warnt aber vor hoher Eiweißzufuhr. Diabetiker in der EURODIAB-Studie, die einen Hypertonus aufwiesen, zeigten generell erhöhte Albuminwerte im Urin. Diese Werte waren signifikant erhöht, wenn ausschließlich eine Proteinzufuhr von >20 % der Energie vorlag. Eine ansteigende Albuminausscheidung korrelierte mit steigender Aufnahme von Protein aus tierischen Quellen, nicht jedoch aus pflanzlichen (Toeller 2002). Da eine erhöhte Eiweißzufuhr bei Diabetikern im Hinblick auf die Entstehung und Progression der
295 19.6 · Die Bedeutung der Fette
diabetischen Nephropathie bedenklich erscheint, sollte dieser Aspekt bei den diätetischen Empfehlungen rechtzeitig beachtet werden. Eiweißreiche Mahlzeiten mit hohem Anteil an tierischem Eiweiß führen zu einem erhöhten renalen Plasmafluss und einer erhöhten glomerulären Filtrationsrate. Deshalb sollte dem Patienten bereits bei diagnostizierter Mikroalbuminurie eine Reduktion der Eiweißzufuhr, zumindest aber die Einhaltung der empfohlenen 0,8 g pro Kilogramm Körpergewicht (kg KG), nahegelegt werden. Untersuchungen haben gezeigt, dass eine Reduktion der Eiweißzufuhr auf 0,6 g/ kg KG unter Bevorzugung pflanzlicher Proteine im Stadium beginnender diabetischer Nephropathie zu einer Besserung der Mikroalbuminurie und einem Rückgang der glomerulären Filtrationsrate führt. Auch das verlangsamte Fortschreiten einer Nephropathie konnte unter eiweißreduzierter Kost dokumentiert werden (Hasslacher 1988; von Aerssen 1991). Ferner sollte darauf geachtet werden, dass die Energiezufuhr im Sinne einer ausgewogenen Kalorien/Stickstoffbilanz (C/N-Bilanz) ausreicht. Bei zu geringer Energiezufuhr (Kohlenhydratzufuhr) wird vermehrt Protein aus der Muskulatur freigesetzt, um aus den glukoplastischen Aminosäuren Glukose zu synthetisieren. Die Folge ist eine negative Stickstoffbilanz mit vermehrter Nierenbelastung und einer Abnahme der Muskulatur. Dieser Aspekt muss besonders im Rahmen einer Gewichtsreduktion berücksichtigt werden.
19.6
Die Bedeutung der Fette
Auch für die Fette gelten die Richtlinien einer vollwertigen Ernährung: Fette sollten nach den Regeln der DGE nicht mehr als 30 % der Energiezufuhr ausmachen. Da 1 g Fett einen Brennwert von mehr als 9 kcal aufweist, ist die effektive Verzehrmenge recht gering. Die Fettzufuhr sollte höchstens 10 % gesättigte, höchstens 10 % mehrfach ungesättigte – insbesondere ω-3-Fettsäuren (Fischöle) – und 10–15 % einfach ungesättigte Fettsäuren an der gesamten Energiezufuhr ausmachen. Wegen der hohen Prävalenz adipöser Diabetiker, der vermehrt auftretenden Arteriosklerose und der als häufigste Todesursache zu verzeichnenden
19
koronaren Herzkrankheit wurden in den letzten Jahren zahlreiche Studien mit dem Ziel durchgeführt, dieses Risiko durch Modifikation der Nährstoffanteile zu minimieren. Vergleichende Studien mit unterschiedlichen Kostformen zeigen vor allem bei Patienten mit einem metabolischen Syndrom den besonders positiven Einfluss einer monoensäurereichen Kost. Insbesondere zur Therapie der Hypertriglyzeridämie empfiehlt sich die Reduktion der Kohlenhydratzufuhr zugunsten einer prozentualen Anhebung der einfach ungesättigten Fettsäuren (Ölsäure) und der ω-3-Fettsäuren (Fischöle; 7 Kap. 16). Im Vergleich zu kohlenhydratreichen, ballaststoffarmen, aber auch ballaststoffangereicherten Kostformen führen Monoensäuren zu einer Verbesserung der glykämischen Stoffwechsellage, zur Senkung der VLDLTriglyzeride (VLDL: Very Low Density Lipoprotein) sowie zur Erhöhung der HDL-Spiegel (HDL: High Density Lipoprotein) und damit zu einer Verbesserung des LDL-/HDL-Cholesterin-Quotienten (LDL: Low Density Lipoprotein).
19.6.1
Wie Nahrungsfette die Blutfettwerte beeinflussen
Langkettige gesättigte Fettsäuren (C12–C18) 4 bewirken eine starke Erhöhung der Plasmacholesterinkonzentration; 4 Ausnahmen sind Stearinsäure (C18:0) sowie die mittelkettigen Fettsäuren (MCT); beide haben quasi keinen Einfluss auf die Cholesterinkonzentration. Mehrfach ungesättigte Fettsäuren (z. B. Linolsäure – C18:2 – und ω-3-Fettsäuren – C18:3) 4 senken die Plasma-Gesamt- und LDL-Cholesterinkonzentration (Richter 2005), 4 die cholesterinsenkende Wirkung von Fischölen (ω-3-Fettsäuren) ist schwächer als die von Linolsäure (Haller et al. 1989; Grundy u. Denke 1990; Wolfram 1996); 4 die triglyzeridsenkende Wirkung und die Verminderung der hepatischen VLDL-Synthese durch Fischöle gilt jedoch als sehr effektiv. 4 Außerdem sorgen Fischöle für eine Verringerung der Thrombozytenaggregation
296
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Kapitel 19 · Diabetes
(7 Kap. 16.4.3). Wie die Dresdner Interventionsstudie zeigte, zählt die Hypertriglyzeridämie zu den häufigsten Risikofaktoren bei Typ-2-Diabetes. Insulinresistenz und die damit zusammenhängende erhöhte Konzentration freier Fettsäuren führen zu einer Stimulation der VLDL-Synthese in der Leber und zu vermehrter Sekretion von Triglyzeriden aus der Leber ins Blut. Zwei Fischmahlzeiten pro Woche und der regelmäßige Verzehr von Fischen, die reich an ω-3-Fettsäuren sind, sind ein integraler Bestandteil der Therapie des metabolischen Syndroms. Außerdem vermindern sie die Häufigkeit tödlicher kardialer Ereignisse signifikant (GISSI Prevenzione Trial; GISSI: Gruppo Italiano per lo Studio della Sopravvivenza nell’Infarto Miocardio). Wird der Fischverzehr kategorisch abgelehnt, so ist die Empfehlung entsprechender Fischölkapseln in Erwägung zu ziehen (Keller 1993; Heyden 1996). Einfach ungesättigte Fettsäuren (z. B. Ölsäure – C18:1) 4 mäßige Senkung des Plasmacholesterins (schwächer als bei mehrfach ungesättigten Fettsäuren), 4 senken Konzentration der Triglyzeride signifikant, 4 HDL-Spiegel fällt nicht ab (im Gegensatz zu kohlenhydratreicher Kost), 4 verringerte Oxidierbarkeit der LDL im Plasma (im Gegensatz zu mehrfach ungesättigten Fettsäuren). Aus diesen Gründen kommt nach Wolfram (1996) der Ölsäure eine protektive Wirkung gegen Arteriosklerose und Herzinfarkt zu.
17 19.6.2
18 19 20
Empfehlungen der Deutschen Diabetes Gesellschaft
Aufgrund dieser Erkenntnisse hat die DDG hinsichtlich der einzelnen Fettsäuren folgende Empfehlungen formuliert: 4 Die Zufuhr mehrfach ungesättigter Fettsäuren sollte unter 10 % der Gesamtenergiezufuhr liegen.
4 Die tägliche Cholesterinaufnahme sollte 300 mg nicht überschreiten. 4 Die Zufuhr der einfach ungesättigten Fettsäuren sollte abhängig von den individuellen Vorgaben und den festgelegten Behandlungszielen erfolgen. 4 Patienten mit erhöhten Cholesterin- und Triglyzeridwerten sollten spezielle diätetische Empfehlungen, entsprechend der Behandlung von Dyslipoproteinämien, erhalten (7 Kap. 16) Zur Therapie des metabolischen Syndroms kann die Kohlenhydratzufuhr demzufolge reduziert und die Zufuhr von einfach ungesättigten Fettsäuren und Fischölen angehoben werden. Möglich wäre eine Kohlenhydratzufuhr von etwa 45 % der Gesamtenergiezufuhr mit mindestens 30 g Ballaststoffen vorwiegend der löslichen Art (Quellstoffe). Der Anteil einfach ungesättigter Fettsäuren könnte 15-20 % der Gesamtenergiezufuhr betragen. Die Proteinzufuhr bleibt im Bereich von 15 % (bzw. 0,6– 1,0 g/kg KG je nach Nierenstatus) und die Zufuhr gesättigter und mehrfach ungesättigter Fettsäuren bei jeweils etwa 10 % der Gesamtenergiezufuhr. Das Joslin Diabetes Center empfiehlt für übergewichtige/adipöse Diabetiker lediglich 4 40 % der Gesamtenergiezufuhr in Form von Kohlenhydraten, bei geringem GI und GL, 4 ca. 50 g Ballastoffe, 4 30–35 % der Gesamtenergiezufuhr in Form von Fetten (<10 % gesättigte Fettsäuren, <7 % bei LDL-Cholesterin >100 mg/dl), reichlich einfach und mehrfach ungesättigte Fettsäuren, insbesondere ω-3-FS, 4 und 20–30 % der Gesamtenergiezufuhr in Form von Protein (bevorzugt fettarme Quellen); bei Nephropathie: Reduktion. Die neuesten Empfehlungen der amerikanischen Diabetes-Gesellschaft sehen allerdings mangels Langzeitdaten kein Abweichen von einer kohlenhydratbetonten Kost, d. h. 50 % der Gesamtenergiezufuhr in Form von Kohlenhydraten bei 15–20 % an Protein, vor (Hauner 2008).
297 19.7 · Die Bedeutung des Alkohols
19
. Tab. 19.2 Fettsäuremuster verschiedener Öle in g/100 g Ölsorte
Gesättigte FS
Einfach ungesättigte FS
Mehrfach ungesättigte FS
Baumwollsamenöl
26,8
18,7
49,5
Distelöl (Safloröl)
8,6
12,0
74,9
Erdnussöl
18,8
55,6
22,2
Kokosfett
86,6
6,7
1,7
9,6
18,2
68,1
Maiskeimöl
12,9
29,0
53,2
Olivenöl
13,5
73,6
8,9
Palmöl
47,8
37,6
10,6
Rapsöl
13,0
56,0
31,0
Leinöl
Sesamöl
12,9
40,3
43,7
Sojaöl
13,6
20,9
61,9
Sonnenblumenöl
10,6
21,0
63,2
8,6
15,8
71,3
Walnussöl FS Fettsäuren
. Tab. 19.3 Alkoholische Getränke und ihr Einfluss
19.7
Die Bedeutung des Alkohols
auf den Blutzucker Den Blutzucker erhöhende alkoholische Getränke
Wenn erwünscht, sind 1–2 Gläser Wein pro Tag oder 1 Flasche Bier für viele Diabetiker akzeptabel. Mehr als 20–30 g reinen Alkohols pro Tag sollten es bei Frauen nicht sein, mehr als 30–40 g auch nicht bei Männern. Der Wein sollte für Diabetiker geeignet beziehungsweise trocken sein, wobei Rotwein wegen seiner antioxidativen Potenz bevorzugt werden kann (Kuhn et al. 1996). Verschiedene alkoholische Getränke und ihre Auswirkungen auf den Blutzuckerspiegel finden sich in . Tab. 19.3, (mod. nach Jäckle et al. 1996). Branntweine sind kohlenhydratfrei; Kohlenhydrate werden durch alkoholische Gärung vollständig in Alkohol umgewandelt. Alkohol enthält 7 kcal/g. Bei Insulin- und Sulfonylharnstoffbehandlungen sollten alkoholische Getränke wegen des Risikos einer Unterzuckerung nur während oder besser nach kohlenhydrathaltigen Mahlzeiten getrunken werden. Dies gilt vor allem für den Genuss hochprozentiger Alkoholika. Alkoholische Getränke sollten keinesfalls mit Insulin abgedeckt werden, sonst wird das Risiko noch erhöht. Vorsicht ist geboten bei Vorliegen von Adipositas, Hypertriglyzeridämie, Hypertonie sowie Polyneuropathie,
Likör
200–300 g Zucker/l
Aufgesetzte Brände
Unterschiedlich hoher Gehalt an Restzucker
Bier
ca. 40 g Malzzucker/l
Bockbier
ca. 70 g Malzzucker/l
Lieblicher Wein mit rotem Weinsiegel
bis 30 g Restzucker/l
Sekt, trocken
17–35 g Restzucker/l
Sekt, halbtrocken
35–50 g Restzucker/l
Sekt, lieblich
>50 g Restzucker/l
Kohlenhydratarme und kohlenhydratfreie alkoholische Getränke Diätbier
ca. 10 g Malzzucker/l
Light-Bier
ca. 20 g Malzzucker/l
Trockener Wein mit gelbem Weinsiegel
<9 g Restzucker/l
Trockener Wein mit grünem Weinsiegel
<18 g Restzucker/l
Sekt, brut
<15 g Restzucker/l
Sekt, extra trocken
12–20 g Restzucker/l
Branntweine
Kein Restzucker
298
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Kapitel 19 · Diabetes
denn Alkohol kann die genannten Folgeerkrankungen mit verursachen.
19.8
Sonstige Empfehlungen
19.8.1
Kochsalz
Die Menge an aufgenommenem Kochsalz sollte auf weniger als 6 g/Tag beschränkt bleiben, d. h. es sollte möglichst wenig Kochsalz verwendet werden. Eine Indikation für eine extrem natriumarme Kost (1 g/ Tag) oder eine natriumarme Kost (3 g/Tag) scheint sich aufgrund der Studienlage jedoch nicht zu ergeben, da eine signifikante Senkung des Blutdrucks auf diese Weise nicht erzielt werden konnte (Matzkies u. Webs 1992). Anstelle von Kochsalz wird die Verwendung von frischen Kräutern empfohlen, da diese besonders vitamin- und mineralstoffreich sind und die Kost außerdem viel schmackhafter gestalten. Besonders kochsalzhaltige Lebensmittel sind dem 7 Kasten zu entnehmen.
11
Lebensmittel mit mehr als 400 mg Kochsalzgehalt pro 100 g (nach DGE 1990)
12
5 alle gepökelten und geräucherten Fleischund Fischerzeugnisse 5 alle Fertiggerichte, Fertigsuppen und -soßen, Brühwürfel 5 Ketchup 5 viele Salatdressings 5 Sauerkraut, Salzgurken, Mixed Pickles 5 Brot und Brötchen (besonders Salz- und Laugengebäck) 5 Cornflakes 5 Käse (besonders Blauschimmel-, Münster-, Sauermilch- und Limburger Käse)
13 14 15 16 17 18 19 20
Die Einschränkung der Kochsalzzufuhr ist Bestandteil der Bluthochdrucktherapie. Bluthochdruck schädigt bekanntlich Herz, Nieren und Gefäße und sollte vor allem beim Diabetiker rechtzeitig behandelt werden. Durch entsprechende Ernährungsmaßnahmen wird die Wirkung von Medikamenten unterstützt (7 Kap. 19.3).
19.8.2
Vitamine und Mineralstoffe
Lebensmittel, die reichlich Vitamine und Mineralstoffe enthalten, sind besonders empfehlenswert, d. h. es sollten viel Leguminosen, Salate, Gemüse, Rohkost und Vollkornprodukte und in Maßen Frischobst sowie fettarme Milchprodukte und (Meeres-)Fisch verzehrt werden. Eine Supplementierung mit Nahrungsergänzungsmitteln ist in der Regel nicht indiziert.
19.9
Zusammenfassung
Der Diabetes mellitus ist die in westlichen Industrienationen am häufigsten auftretende Stoffwechselerkrankung. In den meisten Fällen handelt es sich um Typ-2-Diabetiker, die außer an entgleisten Blutzuckerspiegeln vor allem an einer Reihe von Folgeerkrankungen leiden. Neben Dyslipoporteinämie, Hypertonie und Gicht ist es die androide Adipositas, die die atherogene, diabetesspezifische Risikokonstellation kennzeichnet. Erkenntnisse der letzten Jahre haben dazu geführt, dass auch die DDG eine grundlegende Änderung der diätetischen Empfehlungen im Sinne einer Liberalisierung vornahm. Im Vordergrund steht die Minimierung der Risikofaktoren. Da Übergewicht der wichtigste Manifestationsfaktor ist, steht dessen Korrektur an erster Stelle. Den Erkenntnissen zufolge wird Diabetikern heute keine spezielle Diät empfohlen. Vielmehr wird Diabetikern im Prinzip die gleiche Art der Ernährung empfohlen, die zur Gesunderhaltung allen Menschen angeraten wird. Eine Grundlage zur Empfehlung von Speziallebensmitteln für Diabetiker ist nach Meinung der DDG nicht vorhanden. Lediglich Süßstoffe können für die Zubereitung von Speisen und Getränken genutzt werden. Ansonsten sollte die Ernährung den allgemeinen Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung entsprechen. Sind bereits Folgeerkrankungen im Sinne des metabolischen Syndroms zu verzeichnen, so sollte die Kohlenhydrat- und Fettzufuhr in Abhängigkeit von individuellen Vorgaben und festgelegten Behandlungszielen erfolgen. Insbesondere zur Therapie der Hypertriglyzeridämie empfiehlt sich die Reduktion der Kohlenhydratzufuhr zugunsten einer prozentu-
299 Literatur
alen Anhebung der einfach ungesättigten Fettsäuren (Ölsäure) und der ω-3-Fettsäuren (Fischöle). Bei Mikroalbuminurie, vor allem aber bei beginnender Niereninsuffizienz, sollte die Eiweißzufuhr auf 0,8 beziehungsweise 0,6 g/kg KG reduziert werden.
Literatur Aerssen M v: Diätetische Therapie des Diabetes mellitus. Akt Ernähr Med 16:47–50 (1991) aid (Auswertungs- und Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten e. V.): Ballaststoffe in der Ernährung. aid, Bonn (1989) Bantle JP: Clinical aspects of sucrose and fructose metabolism. Diabetes Care 12:56–61 (1989) Bantle JP, Laine DC, Castle GW et al.: Postprandial glucose and insulin responses to meals containing different carbohydrates in normal and diabetic subjects. New Engl J Med 309:7–12 (1983) Beaugerie L, Flourié B, Marteau P et al.: Digestion and absorption in the human intestine of three sugar alcohols. Gastroenterol. 99:717–723 (1990) Build Study: Society of Actuaries and Association of Life Insurance, Medical Directors of America (1979) Burkard M, Ciper H, Wolfram G (Hrsg.): Diät und Genuss, Diabetes mellitus Typ II. Falken, Niedernhausen (1997) Chantelau E: Haushaltszucker in der Diabetesdiät? Akt Ernähr 13:171–178 (1988) Chantelau E: The Glyceamic Index of Carbohydrate Foods: An Update from a Diabetologist‘s Perspective. Aktuel Ernaehr Med 25:176–185 (2000) CMA: Diabetesdiät im Wandel. KuG 10/97 Dennin DE: Diätempfehlungen für Typ-1-Diabetiker und intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT). Akt Ernähr Med 21:208–210 (1996) DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V.): Richtige Ernährung bei Herz-Kreislauferkrankungen und Bluthochdruck. 3. Aufl. DGE, Frankfurt/Main (1990) Domke A, Müller MJ, Przyrembel H: Sind diätetische Lebensmittel für Diabetiker noch zeitgemäß? Akt Ernähr Med 20:3–10 (1995) Elmadfa I, Aign W, Muskat E et al.: Die große GU Nährwert Kalorien Tabelle. Gräfe und Unzer, München (1998) Foster-Powell K, Holt SHA, Brand-Miller JC: International table of glycemic index and glycemic load values: 2002. Am J Clin Nutr 76:5–56 (2002) GISSI-Prevenzione Investigators: Dietary supplementation with n-3 polyunsaturated fatty acids and vitamin E after myocardial infarction; results of the GISSI Prevenzione Trial. Lancet 354: 447-455 (1999) Grundy SM, Denke MA: Dietary influences on serum lipids and lipoproteins. J Lip Res 31:1149–1172 (1990) Haller H, Hanefeld M, Leonhardt W: Das metabolische Syndrom. Akt Ernähr Med 14:309–314 (1989) Hasslacher C: Eiweiß- und Kochsalzrestriktion in der Diabetesdiät. Akt Ernähr Med13:20–23 (1988)
19
Hauner H: Kohlenhydratmoderate Ernährung für Menschen mit Diabetes? Ernährungs-Umschau 4:230–233 (2008) Hauner H, Recktenwald H: Menschen mt Diabetes in Deutschland – Tendez steigend. Ernährungs-Umschau 4:234–235 (2008) Heyden S: Ein zentraler Aspekt der präventiven Kardiologie: das HDL-Cholesterin. Akt Ernähr Med 21:223–228 (1996) Hofele K, Burkard M: Richtig einkaufen bei Diabetes. Trias, Stuttgart (2008) Jahnke K: Grundlagen der Ernährung und Diätempfehlungen für Diabetiker, Stellungnahme der Deutschen Diabetesgesellschaft. Akt Ernähr Med 15:27–38 (1990) Jäckle R, Hirsch A, Dreyer M: Gut leben mit Typ-1-Diabetes. 2. Aufl. Fischer, Stuttgart, Jena, New York (1996) Joslin Diabetes Center and Joslin Clinic: Clinical nutrition guidline for overweight and obese adults with type 2 diabetes, prediabetes or at high risk of developing typ 2 diabetes. Joslin Diabetes Center (2005) Kasper H: Ernährungsmedizin und Diätetik. 8. Aufl. Urban & Schwarzenberg, München, Wien, Baltimore, S. 264– 266 (1996) Kasper H: Ernährungsmedizin und Diätetik. 9. Aufl. Urban & Fischer, München, Jena, S. 291–321 (2000) Keller C: Wirksame und unsinnige Diäten in der Therapie von Stoffwechselkrankheiten. Akt Ernähr Med 18:112– 116 (1993) Kuhn W, Müller T, Büttner T et al.: Die antioxidative Potenz von Salizylsäure in Rotwein. Akt Ernähr Med 21:211– 212 (1996) Lenner RA: Specially designed sweeteners and food for diabetics – a real need? Am J Clin Nutr 29:726–733 (1976) Liebermeister H: Die Broteinheit – erneut und breiter definiert. Akt Ernähr Med 19:188–190 (1994) Matzkies F, Webs B: Was ist gesichert in der Therapie? Die Ernährungsbehandlung des Bluthochdruck., Arcis, München (1992) Ratzmann KP: Diabetologische Praxis – Leitfaden für den niedergelassenen Arz., Kirchheim, Mainz (1993) Richter W O: Taschenbuch der Fettstoffwechselstörungen. 2. Aufl. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart (2005) Schumacher W, Toeller M: KH-Tabelle für Diabetiker. Kirchheim + Co, Mainz (2009) Toeller M: Ausschuss Ernährung der Deutschen Diabetes Gesellschaft: Einordnung von Isomalt in der Ernährungstherapie von Diabetikern. Akt Ernähr Med 19:191 (1994) Toeller M: Ernährungstherapie bei Diabetes mellitus. Akt Ernähr Med 27:101–107 (2002) Wisker E, Feldheim W: Ballaststoffe in der Ernährun., aid, Bonn (1989) Wolfram G: Diätetik bei Stoffwechselkrankheiten 1996. Akt Ernähr Med 21:277–283 (1996) Ziesenitz SC: Zuckeraustauschstoffe in der Ernährung des Diabetikers. Ernährungs-Umschau 44:10 (1997)
301
Chronisch entzündliche Erkrankungen Rainer Stange
20.1
Einführung – 302
20.2
Grundlegende Möglichkeiten: Entzündungshemmung durch Ernährung? – 302
20.3
Ansätze in ihrer historischen Entwicklung – 302
20.3.1 20.3.2 20.3.3
Frischkostbetonte Konzepte – 302 Kohlenhydratarme Kostformen mit günstigen Fettsäuren – 304 Mediterrane Kost – 305
20.4
Beispiel chronisch entzündliche Gelenkerkrankungen – 306
20.4.1 20.4.2
Prävention – 306 Einstellung und Verhalten der Patienten mit RA – 306
20.5
Beispiel multiple Sklerose – 307
20.5.1 20.5.2 20.5.3 20.5.4 20.5.5 20.5.6
Zusammenhang zwischen MS und Ernährungsund Umweltfaktoren – 307 Vitamin D und MS – 308 Stellenwert der ω-6-Fettsäuren – 309 Glutentoleranz und MS – 310 Einstellung und Inanspruchnahme der Patienten mit MS – 310 Vorläufige Ergebnisse – 310
20.6
Zusammenfassung – 310
20
302
1 2 3 4 5 6 7 8
Kapitel 20 · Chronisch entzündliche Erkrankungen
Im weiten Spektrum chronisch entzündlicher Erkrankungen haben sich naturheilkundliche Ansätze mit Ernährung und Fasten überwiegend der chronischen Polyarthritis und ihr nahe stehenden Erkrankungsformen wie der Psoriasisarthritis gewidmet, weniger z. B. den Kollagenosen. Ältere und neuere Ansätze sowie die Praxis der Betroffenen weisen der Ernährung – je nach Schule ergänzt bzw. angeführt durch die Fastentherapie – einen hohen Stellenwert in der Entzündungskontrolle zu. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 Ernährungskonzepte, die bei chronisch entzündlichen Erkrankungen eingesetzt wurden und werden, 4 die Bedeutung von Frischkost, Kohlenhydraten und Fettsäuren innerhalb dieser Kostformen, 4 Einflüsse der Ernährung auf chronisch entzündliche Gelenkerkrankungen, 4 Einflüsse der Ernährung auf multiple Sklerose.
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
20.1
Einführung
Während Patienten und naturheilkundliche Ärzte früher bei der Behandlung der Polyarthritis noch häufig insbesondere Langzeittherapien (früher auch als Basistherapie, heute meist als Disease Modifying Antirheumatic Drugs bezeichnet) wie Goldpräparate, Resochin oder Sulfasalazin ablehnten, so beobachtet man heute eher Strategien, die die möglichen Erfolge einer Ernährungstherapie – einschließlich der Kontrolle von Genussmitteln – als additiven Therapiegewinn zusätzlich zu den eher realistisch eingeschätzten Möglichkeiten der konventionellen Rheumatologie bis hin zu den »Biologicals«, also Antikörpern gegen Tumornekrosefaktor-α oder Interleukin-1, einordnen. Die multiple Sklerose (MS) als häufigste chronisch entzündliche Erkrankung des Nervensystems nimmt dagegen eine andere Stellung ein: Erstens tritt diese Erkrankung wesentlich seltener als rheumatische Erkrankungen auf. Andererseits lassen epidemiologische Zusammenhänge zu Entstehung und Verlauf, die Erfahrungen der betroffenen Patienten und ärztliche Beobachtungen ernährungstherapeutische Ansätze in einem bedeutenderen Licht erscheinen. Obwohl es auch hier schubförmige Verläufe, jedoch oft wesentlich längere Remissi-
onen gibt als bei der Polyarthritis, sind drohende Invalidität sowie die weit verbreitete Kenntnis einer deutlich verkürzten Lebenserwartung der MS-Patienten offenbar in der Lage, die Motivation für eine dauerhafte Ernährungsumstellung zu fördern.
20.2
Grundlegende Möglichkeiten: Entzündungshemmung durch Ernährung?
Im Sinne der 4 alten therapeutischen Prinzipien exclusio (Entfernung, Weglassen), directio (zielgerichtete Beeinflussung), substitutio (Supplementierung, Substituierung) sowie stimulatio (Reiz, Anregung) wurde schon recht früh erkannt, dass ein Beitrag der Ernährung zur Entzündungskontrolle sowohl durch Weglassen entzündungsfördernder wie auch durch eine betonte Aufnahme entzündungshemmender Anteile der Ernährung gelingen könnte. Neben der Betonung einzelner Komponenten, für die solche Eigenschaften nachgewiesen werden konnten, hat sich ebenfalls schon sehr früh die Propagierung ganzer Ernährungskonzepte etabliert, z. B. 4 Kostformen ohne tierisches Eiweiß 4 Frischkost 4 vegane Ernährung 4 allergenarme Ernährung Darüber hinaus haben immer wieder auch bei entzündlichen Erkrankungen ausgefallene Ernährungsformen wie die makrobiotische Kost Vorteile beansprucht, ohne dass dies in eine breitere Anwendungspraxis mündete.
20.3
Ansätze in ihrer historischen Entwicklung
20.3.1
Frischkostbetonte Konzepte
Der erste ausformulierte Ansatz mit einer breiteren therapeutischen Praxis geht auf Max Bircher-Benner (1867–1939). Es heißt, dass er seine eigene Gelbsucht aufgrund eines zufälligen Hinweises nur mit rohen Äpfeln erfolgreich behandelte. Andere Quel-
303 20.3 · Ansätze in ihrer historischen Entwicklung
len schreiben der erfolgreichen Behandlung einer jungen kachektischen »Magenpatientin« mit einer Frischkostdiät sein Initialerlebnis zu. In seiner Privatklinik am Zürichberg behandelte Bircher-Benner in den mehr als 40 Jahren von 1897 bis zu seinem Tod Hunderte, wenn nicht mehrere Tausend Patienten überwiegend mit Frischkost. Einige Patientenverläufe wurden anhand der sichtbaren Gelenkschwellungen und Einschränkungen der Beweglichkeit in einem Film dokumentiert. Diesen zeigte Bircher-Benner im Rahmen einer Vortragseinladung 1937 durch die britische Food Education Society in London. Durch diese Vortragsserie wurde einerseits sein Konzept einer Ordnungstherapie mit Ernährung, andererseits aber auch die Frischkost insgesamt in Großbritannien bekannt (Melzer et al. 2004). Dennoch wurde diese Kostform in den Folgejahren nur sehr bedingt propagiert und praktiziert. In dieser Zeit widmeten sich auch europäische Universitätskliniken diesem Konzept, etwa die naturheilkundlichen Professuren in Berlin und Jena sowie die verschiedenen Lehrstühle für physikalische und diätetische Therapie – ohne dass allerdings ein selbst der damaligen Zeit angemessener wissenschaftlicher Beitrag zur Klärung seiner Erfolge bekannt geworden wäre. Bircher-Benners Konzept sieht insbesondere vor, dass Getreide unerhitzt gegessen wird. Dies ist nach entsprechender Vorbehandlung durch Schroten und Einweichen in Wasser oder Milch möglich. Aus heutiger Sicht ist ein Werterhalt insbesondere für hitzelabile Bestandteile wie Vitamin E auf diesem Wege optimal erreichbar. Gleichzeitig werden aber höhere Anforderungen an die Aufschlüsselung komplexer Kohlenhydrate gestellt. Für die minimal nötige und mögliche Prozessierung unverdaulicher Faserstoffe ist eine besonders gründliche Zermalmung durch den hier sehr intensiv durchzuführenden Kau- und Einspeichelvorgang nötig. Mehrere Schulen traten für Frischkostkonzepte bei chronischer Entzündung ein. Der Schwede Are Waerland (1876–1955, 7 Kap. 1), der später auch in Deutschland wirkte, hatte sein Konzept zu seiner eigenen Heilung aus einem diffus schlechten Gesundheitszustand zunächst in London entwickelt, später dann in seinem Heimatland auch in Sanatorien praktiziert. Dabei propagierte er es
20
zunächst ebenfalls bei entzündlichen Erkrankungen, später aber überwiegend für onkologische. Die Verwendung milchsauer vergorenen Gemüses spielt hier eine größere Rolle als bei Bircher-Benner (7 Kap. 6). Mit Pellkartoffeln und seinem berühmten »Kruska«, einem kurzzeiterhitzten Brei aus mehreren Getreidesorten, enthalten seine Kostformen auch erhitzte Anteile. Max Otto Bruker (1909–2001, 7 Kap. 1) beruft sich in seinen Schriften explizit auf Bircher-Benner. In der Behandlung seiner Patienten – zunächst in der Psychosomatischen Klinik Bad Salzuflen, ab 1977 dann in der Klinik Lahnhöhe bei Koblenz – kam das Frischkostkonzept bezüglich seiner Indikationsstellung und der Qualität der Umsetzung vermutlich dem Original am nächsten. Trotz einer breiten Praxis auch bei Patienten mit verschiedenen chronisch entzündlichen Erkrankungen sind aus dieser Zeit zwar eine Reihe populärer Schriften, aber keine wissenschaftlichen Arbeiten bekannt geworden. Das Konzept des deutschen Zahnarztes Dr. Johann Georg Schnitzer (geb. 1930) leitete sich ursprünglich aus einer Kritik der Zahnstatus bei Schulkindern ab und sollte insbesondere Zahnentwicklung und -erhalt dienen. Es wurde jedoch in seiner späteren Ausformulierung auch für Erwachsene auf das metabolische Syndrom und im Weiteren auch chronisch entzündliche Erkrankungen wie »Rheuma« ausgedehnt. Schnitzer unterscheidet zwischen einer veganen Intensivphase und einer ovolaktovegetabilen Normalphase, beide sind jedoch als strenge Frischkost zu verstehen. Auch Schnitzer hat seine Konzepte lediglich propagiert, nicht jedoch wissenschaftlich untermauert. > Die verschiedenen Frischkostformen konnten sich trotz aus heutiger Sicht wichtiger theoretischer Beiträge in der breiten naturheilkundlichen Praxis nicht durchsetzen. Dies mag bedingt auch an ihrer Tendenz zur geistigen Enge, letztlich zum Sektierertum liegen (7 Kap. 9; Semler 2006).
304
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
20.3.2
Kapitel 20 · Chronisch entzündliche Erkrankungen
Kohlenhydratarme Kostformen mit günstigen Fettsäuren
In Europa hat die Budwig-Diät lange nach ihrer Begründung erst in jüngster Vergangenheit eine größere Popularität erworben. Grund ist eine angenommene antientzündliche, aber auch antineoplastische Wirksamkeit. Diese von der deutschen Apothekerin und Chemikerin Johanna Budwig (1908– 2003) propagierte Öl-Eiweiß-Ernährungsform sieht einen hohen Anteil an pflanzlichen ω-3-Fettsäuren aus Leinöl vor (v. a. α-Linolensäure, 7 Kap. 7). Budwig hatte zunächst Grundlagenarbeiten über die Chemie der Fette durchgeführt und publiziert. Dabei führte sie 1950 erstmals die Unterscheidung in gesättigte und ungesättigte Fettsäuern ein. Später in den 1950er-Jahren beschäftigte sie sich dann u. a. mit biologisch negativen Wirkungen der Transfettsäuren, die im Rahmen der expandierenden Fettindustrie mehr und mehr in die breite Ernährung Einlass fanden. Ab 1957 bis zu ihrem Tode wurde sie siebenmal für den Nobelpreis vorgeschlagen. Ihre Kost besteht zentral aus der Budwig-Creme (7 Kasten) oder Varianten wie der Budwig-Mayonnaise, die überwiegend aus Leinsamen, kaltgepresstem Leinöl, Quark und Hüttenkäse, ergänzt durch frisches Obst, kalt hergestellt wird. Obwohl ähnlich wie etwa die Waerland-Kost eher auf onkologische Patienten zugeschnitten, kann sie auch entzündungshemmende Wirkungen beanspruchen. Die Budwig-Diät wird in Einzelfällen von MS-, seltener von Rheumapatienten praktiziert. Ihre Verbreitung war bis vor Kurzem sehr beschränkt, sie scheint jedoch an Popularität zuzunehmen und wird z. B. den Patienten einer großen onkologischen Reha-Klinik, die sich seit geraumer Zeit um naturheilkundlich-komplementäronkologische Konzepte bemüht, fakultativ angeboten. Auch aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse aus jüngerer Zeit über gesundheitliche Nachteile einer durch überhöhten Kohlenhydratkonsum dauerhaft überstimulierten Insulinproduktion auch beim Stoffwechselgesunden hat diese extrem kohlenhydratarme Kostform an Popularität gewonnen.
Quark-Leinöl-Creme nach Budwig 5 3 Esslöffel frisches Leinöl 5 3 Esslöffel rohe Milch 5 100 g Quark (magerer, möglichst BioQuark) 5 1 Teelöffel Honig 5 zur Geschmacksunterstützung: Zimt oder Vanille 5 Obst nach Saison, mit der Creme vermischt
Die Schweizer Kinder- und Allgemeinärztin russischer Abstammung Catherine Kousmine (1904– 1992) entwickelte, inspiriert durch den Krebstod zweier ihrer nahestehender Patienten, eine weitere Ernährungsform, die antiproliferative wie antientzündliche Wirksamkeit beansprucht. In der Kousmine-Diät spielt zwar auch noch die Budwig-Creme eine wichtige Rolle. Darüber hinaus treten aber bei Budwig nicht enthaltene Elemente wie Darmhygiene, Säure-Basen-Gleichgewicht, Nahrungsergänzungsmittel mit hochdosierten Vitaminen und Spurenelementen sowie psychosoziale Betreuung auf. Kousmine empfiehlt ihre Ernährung u. a. bei chronischer Polyarthritis und multipler Sklerose. Zu den wesentlichen Diätprinzipien gehören der Verzicht auf Fleisch, Fleischprodukte und weißen Zucker, der Verzehr von unverarbeitetem Getreide sowie von großen Mengen Obst und Gemüse wie überhaupt generell basische Lebensmittel. Als Mittel zur »Darmhygiene« werden regelmäßige Einläufe und Abführmittel propagiert. Kousmine ging davon aus, dass viele Krankheiten auf einen zu hohen Säureanteil im Körper aufgrund falscher Ernährung zurückzuführen seien. Patienten sollten regelmäßig den pH-Wert des Urins feststellen und bei Unterschreiten eines festgelegten Werts basische Nahrungsergänzungsmittel einnehmen. In ihrem Buch »Die Multiple Sklerose ist heilbar« werden u. a. 55 Patienten mit MS beschrieben, die mit dieser Ernährung geheilt worden seien. Eine weitere Variante einer naturbelassenen Vollwertkost wurde von Dr. med. Joseph Evers (1894–1975) speziell für MS-Kranke entwickelt und über viele Jahre in der nach ihm benannten Spezialklinik als obligatorische Ernährungsform praktiziert. Er betreute dort seit 1940 über 12.000 MS-
305 20.3 · Ansätze in ihrer historischen Entwicklung
Patienten und stellte seine Frischkost in den Mittelpunkt der Therapie. Die Evers-Diät beansprucht darüber hinaus, Bestandteil einer ganzheitlichen Vorgehensweise zu sein, die Körper, Geist und Seele anspricht. Entspannungstechniken, Bewegung und Ernährung sollen sich ergänzen. Durch die vorwiegend vegetarische Ernährung, kombiniert mit fettarmen Milchprodukten, wird weniger Arachidonsäure zugeführt. Die positiven Wirkungen der Diät werden zusätzlich auf weitere wirksame Inhaltsstoffe wie Vitamine, Mineralstoffe, sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe, Antioxidanzien und essenzielle Fettsäuren zurückgeführt. Das Konzept ist weitgehend mit dem von Bircher-Benner identisch, wurde jedoch trotz der großen Zahl der MS-Patienten nicht wissenschaftlich bearbeitet. Grundsätzlich ähnliche Ideen wie Budwig und Kousmine verfolgt die erst kürzlich ausformulierte Ernährung nach Coy. Diese ebenfalls kohlenhydratund insbesondere glukosearme, dafür öl- und proteinreiche Ernährung wird von dem deutschen Biologen Johannes F. Coy (geb. 1966) propagiert. Im Unterschied zu vielen anderen Kostformen standen hier Erkenntnisse der Grundlagenforschung Pate. Coy hatte sich in einer Arbeitsgruppe des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts erneut mit der Frage beschäftigt, ob die aus den 1920er-Jahren stammende Warburg-Hypothese belegbar sei, nach der Tumorzellen nur bzw. überwiegend durch anaerobe Vergärung von Glukose Energie gewinnen könnten. Über den Nachweis eines in vielen bösartigen Geweben intrazellulär erhöht konzentrierten Enzyms, der Transketolase TKTL-1, wurde die Warburg-Hypothese zumindest für ausgewählte Tumoren untermauert. Erhöhte Konzentrationen von TKTL-1 wurden mit allerdings geringer Sensitivität auch im Blut von onkologischen Patienten mit TKTL-1-positivem Tumorgewebe nachgewiesen (z. B. Langbein et al. 2006). Die Ernährung nach Coy, die dieser daraufhin für Patienten mit TKTL-1-positiven Tumoren vorschlug, ähnelt der Budwig-Diät, insbesondere in ihrer weitestgehenden Meidung von Kohlenhydraten. Dies geschieht, um den Insulinspiegel so niedrig wie möglich zu halten und damit bereits die Einschleusung von Glukose in maligne Zellen zu ver-
20
hindern. Coy empfiehlt z. B. proteinreiches Brot, das neben der geringen Glukosefreisetzung auch durch den Zusatz von Ölsamen (Leinsamen, Sesam, Hanfnuss) einen höheren Gehalt an pflanzlichen ω-3Fettsäuren aufweist als beispielsweise Lachs und Hering. Es sei sogar möglich, durch die Verwendung von Zuckern wie Fruktose, Palatinose™ und Isomalt, die nur noch einen moderaten oder gar keinen Glukoseanstieg im Blut nach sich zögen, Kohlenhydrate in die Ernährung einzubauen. Die Coy-Diät stellt derzeit eine aussichtsreiche Variante für eine wissenschaftlich begründbare Ernährungsform dar, die onkologisch günstige Effekte aufweisen kann. Coy empfiehlt seine Ernährungsform bislang nur Krebskranken. Allerdings weisen seine Ernährungsempfehlungen deutliche Gemeinsamkeiten mit den Entzündungshemmung beanspruchenden Konzepten von Budwig und Kousmine auf. Untersuchungen, ob auch chronische Entzündung zu einer intrazellulären Anreicherung von TKTL-1 in den betroffenen Geweben führen kann, sind bislang nicht angestellt worden.
20.3.3
Mediterrane Kost
Das in dieser Auflistung eher gemäßigt wirkende Konzept der mediterranen Kost (7 Kap. 7, 12) scheint mehrere Vorteile der sich zum Teil sehr einseitig festlegenden Kostformen zu vereinigen: 4 hoher Anteil an nicht bzw. schonend erhitzten Vegetabilien 4 günstiges Fettsäuremuster 4 komplexe Kohlenhydrate mit geringer Insulindynamik
Drei wesentliche Prinzipien Die naturheilkundliche Tradition sowie neuere Entwicklungen haben in Mitteleuropa, insbesondere in Schweden, der Schweiz, Frankreich und Deutschland, mehrere geschlossene Ernährungskonzepte hervorgebracht, nach denen ein Patient mit einer chronisch entzündlichen Erkrankung sich langfristig ausreichend und vorteilhaft ernähren kann. Diese lassen sich grob in 2 Gruppen einteilen: 6
306
1 2 3 4 5 6 7
Kapitel 20 · Chronisch entzündliche Erkrankungen
5 ausschließlich oder zumindest vornehmlich Frischkost 5 kohlenhydratarme bis -freie Kost mit günstigen Fettsäuren Zusammen mit der mediterranen Kost stehen somit 3 prinzipielle Ernährungsweisen mit grundlegender Plausibilität, Entzündung hemmen zu können, zur Verfügung. Dringend klärungsbedürftig sind die Effektstärken, mit denen eine meist leicht erreichbare mittelfristige, d. h. über Wochen durchgeführte Ernährungsumstellung die Krankheitsaktivität reduzieren kann. Auch die Langzeitcompliance verdient zusätzliche Aufmerksamkeit.
8 9
20.4
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
20.4.1
Beispiel chronisch entzündliche Gelenkerkrankungen
Dagegen konnten in einer britischen Studie bei 206 Patienten mit früher rheumatoider Arthritis, d. h. innerhalb 6 Monate nach ihren ersten Beschwerden, inverse Assoziationen zwischen den Serumkonzentrationen für Vitamin D (25-OH), der Anzahl druckschmerzhafter Gelenke, dem DAS28 (Disease Active Score 28) und dem Health Assessment Questionnaire (HAQ) registriert werden. Jedes Inkrement von 10 ng/ml Vitamin D (25-OH) war mit einer Absenkung des DAS28 von 0,3 und des C-reaktiven Proteins CRP um etwa 25 % assoziiert. Nach einem Jahr ohne Intervention bezüglich Vitamin D blieben inverse Relationen zwischen jeweils beiden Vitamin D3-Metaboliten und dem HAQ erhalten. Die Autoren schlossen, dass Vitamin D3 eine günstige immunmodulierende Rolle bei der frühen rheumatoiden Arthritis zu spielen scheint und deshalb in klinischen Studien untersucht werden sollte (Patel et al. 2007).
20.4.2
Einstellung und Verhalten der Patienten mit RA
Prävention
Eine dänische Kohortenstudie versuchte, mögliche Einflüsse der Ernährung auf die Manifestation einer Polyarthritis (Synonym: rheumatoide Arthritis, RA) zu erfassen. Dazu wurden rund 57.053 Teilnehmer mittels eines detaillierten Fragebogens zu ihren Essgewohnheiten interviewt. In der Beobachtungsphase (Mittelwert 5,3 Jahre) wurden die 69 Patienten aus der Kohorte, die im dänischen nationalen Patientenregister neu mit der Diagnose RA auftauchten, in ihrer Diagnose gesichert. Ihre Verzehrsgewohnheiten in multivariaten Modellen wurden mit gematchten Personen aus dem Normalkollektiv verglichen. Dabei ließ sich ein Mehrkonsum von 30 g/Tag fettem Fisch (d. h. >8 Gew.%) mit einer Risikoreduktion von 49 % (p=0.06) assoziieren, während ein Mehrkonsum von Fisch mit mittlerem Fettgehalt (d. h. 3–7 Gew.-%) sogar ein signifikant erhöhtes Risiko für RA darstellte. Keine veränderten Risiken konnten hingegen mit der Aufnahme von Obst und Kaffee, langkettigen Fettsäuren, Olivenöl, Fleisch, Vitamin A, E, C und D sowie Zink, Selen und Eisen assoziiert werden (Pedersen et al. 2005).
Über die meist ohne eine fachliche Beratung durchgeführten Veränderungen der Ernährung von Patienten mit chronisch entzündlichen Erkrankungen und deren mögliche Erfolge in der Krankheitsmanifestation ist wenig bekannt. Eine sehr sorgfältig beobachtete sog. Frühkohorte deutscher Patienten (n=879), die innerhalb der letzten 2 bis 3 Jahre vor ihrer Befragung gesichert an chronischer Polyarthritis erkrankt waren und in führenden, meist universitären Rheumazentren konventionell nach Leitlinien behandelt wurden, konnte systematisch u. a. nach ihrer Inanspruchnahme unkonventioneller Therapien befragt werden. An erster Stelle wurden Elemente aus der Ernährungsumstellung genannt (Westhoff et al. 2007). 30,3 % führten mindestens eine Maßnahme aus dem Bereich Ernährungstherapie einschließlich Eliminationsdiät durch (gefragt wurde u. a. nach vegetarischer, veganer oder glutenfreier Ernährung, nach Verzicht auf Schweinefleisch oder Milchprodukte sowie nach Fasten). 26,7 % gaben darüber hinaus den Verzicht auf mindestens eines der Genussgifte Nikotin, Alkohol oder Kaffee an. Nahrungsergänzungsmittel folgten mit 23,5 % an
307 20.5 · Beispiel multiple Sklerose
3. Stelle weit vor Phytotherapeutika, Homöopathika, Akupunktur usw.
20.5
Beispiel multiple Sklerose
Die Verlautbarungen der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband e. V., des größten Patientenverbandes, sowie die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie sehen keine Hinweise auf Zusammenhänge zwischen der Manifestation der Erkrankung und Ernährungs- oder anderen Umweltfaktoren. In den Leitlinien heißt es: »Strategien zur Primärprävention sind nicht bekannt« (Deutsche Gesellschaft für Neurologie 2008). Dagegen liefert eine Vielzahl epidemiologischer Untersuchungen aus verschiedenen Kontinenten und demzufolge ethnisch unterschiedlichen Bevölkerungen deutliche Hinweise auf solche Zusammenhänge, die sich sowohl bezüglich der Manifestation, aber auch hinsichtlich der spezifischen Verlaufsform einer MS auswirken können.
20.5.1
Zusammenhang zwischen MS und Ernährungsund Umweltfaktoren
Im Landesinneren von Kroatien ist die Inzidenz für MS nahezu doppelt so hoch wie in Küstenregionen, etwas geringer ausgeprägt sind auch Unterschiede in der Prävalenz erkennbar (Materljan et al. 2009). Aus ähnlichen Unterschieden der Krebsinzidenzen, die sich bekanntermaßen durch unterschiedliche Ernährungsgewohnheiten erklären lassen, schließen die Autoren, dass auch für MS eine Ernährung mit viel Fleisch und Fett, jedoch wenig Gemüse eine Risikoerhöhung bedeute. Als eine wirksame protektive Substanz diskutieren sie Oleocanthal, eine aphenolische Verbindung, die vor allem in Extra-vergine-Olivenöl vorkommt. Sie ist in vitro ein Hemmer der Cyclooxygenase, die wiederum an der Demyelinisierung beteiligt ist. Die Autoren sehen darin einen weiteren günstigen Effekt der mediterranen Ernährung (7 Kap. 12) gegenüber Krebs und MS. Die vermutlich größte Fallkontrollstudie zu dieser Frage mit 197 Erkrankten und 202 Kontroll-
20
personen aus Kanada legt ebenfalls einen protektiven Effekt bezüglich der Krankheitsmanifestation durch Verzehr von Vegetabilien nahe, darüber hinaus explizit auch durch Faserstoffe, Vitamin C, Thiamin, Riboflavin, Kalzium und Kalium. Manifestationsbegünstigend schienen sich dagegen überhöhte Aufnahmen der gesamten Nahrungsenergie sowie tierischer Fette auszuwirken (Ghadirian et al. 1998). In einer niederländischen Untersuchung gaben 80 MS-Erkrankte in einem sehr präzisen Protokoll über 14 Tage ihre spontanen Ernährungsgewohnheiten an. So ließ sich die Aufnahme von 23 Nährstoffen, Mineralien und Vitaminen berechnen und mit der niederländischen gesunden Bevölkerung sowie täglichen Aufnahmeempfehlungen vergleichen. Danach nahm die gesamte Studienpopulation weniger Gesamtenergie, Folsäure, Magnesium und Kupfer zu sich als die Normalbevölkerung. Verglichen mit den Aufnahmeempfehlungen bestanden Defizite bei Folsäure, Magnesium, Zink und Selen. Als Untergruppe nahmen die Erkrankten mit sekundär progressiver Verlaufsform (n=32 bzw. 40 %) weniger Magnesium, Kalzium und Eisen zu sich. Die Autoren schließen, dass Magnesium-, Kalzium- und Eisenmangel möglicherweise die Progression der Erkrankung begünstigen können (Ramsaransing et al. 2009). Der US-Neurologe Roy L. Swank (1909–1999) beobachtete bei seinen Feldforschungen in Norwegen bereits 1935–1948 ein Verhältnis der Inzidenzen für MS zwischen den Küsten- und den Binnenregionen von etwa 1:9. Später konnte er mit ähnlichen Methoden in der Schweiz einen deutlichen Unterschied zwischen italienisch- und deutschsprachigen Landesteilen feststellen. Für Norwegen machte er die großen Unterschiede im Fischkonsum verantwortlich.
308
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 20 · Chronisch entzündliche Erkrankungen
Swank-Diät Swank begründete ab 1950 eine Ernährungsform, die zwar auf ω-3-Fettsäuren aufbaut, vor allem aber eine fettarme Diät darstellt. Er modifizierte seine Auffassung später immer wieder, empfahl aber durchgängig eine vegetarisch orientierte Kost, die wenig tierische Fette enthält. Er verbietet Butter, empfiehlt 14 ml flüssige Pflanzenöle und 5 ml Fischöl täglich. Die Swank-Diät dürfte die erste aus gesundheitlichen Gründen propagierte »Low-fat«Ernährungsform überhaupt sein.
Swank war in der Lage, einige der insgesamt schätzungsweise 5.000 von ihm beratenen MS-Patienten bis in sein eigenes Alter von 90 Jahren nachzubeobachten. Zu Beginn der Propagierung seines Ernährungskonzeptes Anfang der 1950er-Jahre schätzte er die 2-Jahres-Mortalität eines Kollektivs von etwa 400 Patienten anhand der damals üblichen Kriterien mit 32,5 % ein. Diese Patienten erhielten strikte Anweisungen, sich nach den Swankschen Prinzipien zu ernähren. Etwa 30 Jahre später ergab eine Umfrageaktion in diesem Kollektiv eine Langzeitüberlebensrate von 80 %. Swank sah einen klaren Überlebensvorteil und führte ihn auf seine Ernährungsform zurück.
20.5.2
Vitamin D und MS
Neben der Aufnahme maritimer Nahrungsmittel weist die Epidemiologie der MS auf weitere Zusammenhänge hin. Mehrere epidemiologische Studien in verschiedenen Erdteilen konnten eine direkte Korrelation der Prävalenz der MS mit dem geographischen Breitengrad aufzeigen, ohne eine Kausalität hierfür aufzeigen zu können. Der ultraviolette Anteil am Sonnenlicht spielt eine wichtige Rolle in der Vitamin D-Synthese und könnte die Unterschiede in der Prävalenz der MS sowohl in Abhängigkeit vom Breitengrad wie von den Vitamin D-Spiegeln der Erkrankten erklären. Fallkontrollstudien in den USA zeigten eine deutliche inverse Korrelation der Prävalenz der MS mit einem UV-Index, der das Ausmaß der jah-
resdurchschnittlichen Vitamin D-wirksamen UVStrahlung angibt, mit einer relativen Risikoerhöhung von 3,78 % zwischen Gegenden mit kleinstem verglichen mit größtem Strahlungsindex. Andererseits erwiesen sich eine erhöhte Aufnahme von Vitamin D mit der Ernährung sowie erhöhte Serumspiegel für Vitamin D als protektiv gegenüber der Ausbildung einer MS. Eine Überrepräsentation des Vitamin D-Rezeptorgens Allel b wurde bei japanischen MS-Patienten gefunden, was auf eine Suszeptibilität für MS hinweist. Andererseits ist Fischöl ein ausgezeichneter Vitamin D-Lieferant und Ernährungsformen mit viel Fisch können Prävalenz bzw. Ausprägung der MS günstig beeinflussen. Vitamin D betrifft viele MS-Patienten auch über erniedrigte Knochendichte und erhöhte Knochenbruchrisiken. Die deutlichsten Hinweise, dass Vitamin D ein natürliches Hemmnis für die Entstehung der MS sein kann, stammt aus Tierversuchen mit experimenteller Autoimmunenzephalomyelitis (EAE), einem Modell für MS, bei dem die Behandlung von Mäusen mit Vitamin D die Induktion und Progression der EAE vollständig stoppte (Hayes 2000). > Es gilt heute als relativ gesichert, dass ein Vitamin D-Mangel die Entwicklung einer MS begünstigt, vermutlich vor dem Hintergrund einer genetischen Disposition und möglicherweise im Zusammenwirken mit anderen promotionsbegünstigenden Einflüssen wie ungünstigen Nahrungsfetten.
Daraus ergeben sich zunächst wichtige Konsequenzen für die Prävention: Laut Nationaler Verzehrsstudie II entspricht die mittlere Zufuhr der meisten Vitamine den Referenzempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Deutlich unter den empfohlenen Werten liegen die Aufnahmen allerdings bei Vitamin D, hier für beide Geschlechter und nahezu alle Altersgruppen, und für Folsäure. 2 % der Männer und 3 % der untersuchten Frauen nahmen Vitamin D in Supplementen ein (mind. 5 μg, entsprechend 200 I. E./Tag; Bundesministerium 2009). In Kongruenz mit dieser Aussage konnte in einer größeren Längsschnittkohortenstudie mit mehr als 4.000 deutschen Teilnehmern ein Vitamin D-Spiegel im Blut unterhalb des (allerdings recht hoch als
309 20.5 · Beispiel multiple Sklerose
. Tab. 20.1 Vitamin D3-Gehalt (Cholecalciferol) pro 100 g in Nahrungsmitteln und als Prozentanteil der täglich empfohlenen Zufuhr (5 μg/Tag gemäß DGE) Lebensmittel
Gehalt pro 100 g Lebensmittel [μg]
Anteil an der pro Tag empfohlenen Zufuhr [%]
Rinderleber
1,7
34
Champignons
1,9
38
Heilbutt
5
100
Thunfisch
5,4
108
Sardine
7,5
150
künstliche UV-Bestrahlung oder Gabe von Vitamin D-Supplementen gezeigt worden, nicht durch Ernährungsmaßnahmen. Es erscheint wünschenswert, den Stellenwert einfacher Ernährungstipps zur Verbesserung der Vitamin D-Versorgung gerade in nördlichen Breiten und während der Wintersaison aufzuzeigen.
20.5.3
Aal
13
260
Lachs
16,3
326
Hering
31
620
kritisch angesetzten) Grenzwerts von 50 nmol/l bei 57 % der untersuchten Männer und 58 % der Frauen über alle Altersstufen bestimmt werden. Bei den über 65-jährigen Frauen stieg dieser Anteil auf 75 % (Hintzpeter et al. 2008). Eine ausreichende Versorgung mit Vitamin D bleibt demzufolge eine wichtige Forderung an jede Ernährungsform, insbesondere wenn sie chronische Entzündung zu präventieren beansprucht. Allerdings sind die Möglichkeiten, durch Vitamin D-reiche Lebensmittel wie Pilze und Fisch die durchschnittliche Zufuhr von etwa 200 I. E. deutlich zu übertreffen, recht begrenzt (. Tab. 20.1). Früher wurde dies z. B. durch die Gabe von Lebertran realisiert, der heute aus geschmacklichen, aber auch aus toxikologischen Gründen kaum noch konsumiert wird. In Abhängigkeit von Hauttyp, Alter und Sonnenexposition wird der ganz überwiegende Teil des Vitamin D-Bedarfs durch intrakorporale Produktion in der Haut gedeckt. Beim jungen Hautgesunden, der sich gelegentlich kurz der Sonne ohne Sonnenschutzmittel exponiert, beträgt dieser Anteil bis zu 90 %. Gerade bei der älteren städtischen Bevölkerung reduziert sich diese Quelle jedoch in einem nicht abschätzbaren Ausmaß. In Studien ist bislang die Verbesserung eines erniedrigten Vitamin D-Spiegels nur durch
20
Stellenwert der ω-6-Fettsäuren
Im Unterschied zur Praxis in der Rheumatologie, in der die ω-3-Fettsäuren diese Versuche dominieren, wurden von MS-Kranken auch protektive Effekte der ω-6-Fettsäuren, insbesondere der γ-Linolensäure angenommen und entsprechende Ölkonzentrate aus Nachtkerze, schwarzer Johannisbeere und Borretsch in Kapselform zugeführt. Im Körper entsteht aus der γ-Linolensäure eine weitere ω-6-Fettsäure, die Dihomo-γ-Linolensäure, die wiederum ein Vorläufer des antiinflammatorischen Prostaglandins PGE1 ist. Direkt parenteral appliziert, weist dieses vor allem starke gefäßerweiternde Eigenschaften auf und wird als Pharmakon genutzt. Grundsätzlich weist γ-Linolensäure ähnliche Indikationen wie die Fischölsäuren EPA (Eicosapentaensäure) und DHA (Docosahexaensäure) auf, ist jedoch wesentlich weniger untersucht worden (7 Kap. 7). Der medizinische Gebrauch von Borretschöl, das neben geringeren Anteilen an α-Linolensäuren einen sehr hohen Anteil von bis zu 20 % γ-Linolensäure enthält, reicht bis in die frühe Neuzeit zurück. Unter anderem schrieb ihm der englische Gartenbauer und Buchautor John Evelyn (1620–1706) in seinem berühmten Salatbuch (Evelyn 1699) damals sehr populäre, vitalisierende Eigenschaften zu: »Borretsch gibt dem Hypochonder neue Lebenskraft und muntert den fleißigen Studenten auf.« Das lange Zeit zur äußeren wie inneren Anwendung bei Neurodermitis empfohlene Nachtkerzen- wie Borretschöl konnte dagegen in mehreren Studien für diese Indikation keinen überzeugenden Nutzen ausweisen.
310
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
20.5.4
Kapitel 20 · Chronisch entzündliche Erkrankungen
Glutentoleranz und MS
Die Frage, ob die Aufnahme von Gluten bei MS nachteilig sei, wurde ebenso wie für viele andere chronisch entzündliche bzw. Autoimmunerkrankungen immer wieder diskutiert, ohne dass hier bislang ein Konsens erkennbar wäre. Es findet sich zwar ein gehäuftes Auftreten zahlreicher Autoimmunerkrankungen mit einer Zöliakie, dabei ist derzeit jedoch unklar, ob hierbei z. B. gemeinsame genetische Dispositionen in formal unabhängige Krankheitsbilder münden oder ob z. B. die Expositionsdauer mit Gluten für die Promotion anderer Autoimmunphänomene kausal bedingend werden kann und dann möglicherweise die Berücksichtigung der Glutenunverträglichkeit eine klinische Besserung auch der nicht darmassoziierten Symptomatik bewirken kann. Aus klinischen Studien kann diese Frage derzeit nicht beantwortet werden, jedoch werden immer wieder eindrucksvolle Kasuistiken zur Besserung einer MS nach Diagnose und Therapie einer Zöliakie veröffentlicht (z. B. Hernandez-Lahoz et al. 2009).
11 20.5.5
12 13 14 15 16 17 18 19 20
Einstellung und Inanspruchnahme der Patienten mit MS
428 Patienten mit multipler Sklerose aus Südaustralien gaben zu hohen Anteilen an, z. T. auch in überlappender Praxis, Nahrungsergänzungsmittel und Ernährungskonzepte in Anspruch zu nehmen, die von den Autoren der Untersuchung als »komplementärmedizinisch« eingestuft wurden: Fischölprodukte (62,5 %), Vitamin B12 (41,3 %), Kombinationen weiterer B-Vitamine (38,3 %), Magnesium (34,6 %) und Nachtkerzenöl (23,0 %). Als Ernährungsformen wurden insbesondere fettarme (39,8 %), zuckerarme/-freie (23,8 %) und glutenfreie (16,4 %) Ernährung sowie die in Europa kaum bekannte Swank-Diät (7 Kap. 20.5.1; 16 %) genannt (Leong et al. 2009).
20.5.6
Vorläufige Ergebnisse
Ein schlechter Versorgungszustand bezüglich mehrerer Makro- und Mikronährstoffe kann sich ungünstig auf Manifestation und/oder Verlauf einer MS auswirken, deren Disposition unverändert auch vor einem deutlichen genetischen Hintergrund zu sehen ist. Vitamin D-Mangel kann als sicher promotionsbegünstigend angenommen werden. Je nach Ausprägung ist ein Ausgleich jedoch nur bedingt über Ernährung möglich. Eine geringe Aufnahme mariner ω-3-Fettsäuren scheint sich ähnlich ungünstig auszuwirken. Hierzu liegen bislang weniger Erkenntnisse vor, eine ausreichende alimentäre Zufuhr ist hier dagegen leichter möglich. In der Therapie fehlen bislang überzeugende Hinweise für Interventionen mit diesen Nährstoffen, während für die weitere klinische Forschung Konzepte wie die Budwig- oder die Kousmine-Diät dringend weiter beforscht werden sollten. Mikronährstoffe wie Zink, Eisen und Magnesium sind möglicherweise für die Verlaufsform mitbestimmend, was ebenfalls leicht durch Interventionsstudien gezeigt werden könnte
20.6
Zusammenfassung
Bereits früh wurde erkannt, dass sowohl das Weglassen entzündungsfördernder wie auch die vermehrte Aufnahme entzündungshemmender Anteile der Ernährung bei chronisch entzündlichen Erkrankungen präventiv und theraupeutisch genutzt werden kann. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurden immer wieder neue Ernährungskonzepte in diesem Zusammenhang entwickelt, die sich zum Teil als recht erfolgreich erwiesen haben. Hauptaspekte sind hier Frischkost, Kohlenhydratreduktion und die vermehrte Aufnahme ungesättigter Fettsäuren. Am Beispiel der chronisch entzündlichen Gelenkerkrankungen und der multiplen Sklerose werden Zusammenhänge zwischen Krankheitsentstehung/-verlauf und Ernährung aufgezeigt.
311 Literatur
Literatur Beretich BD, Beretich TM: Explaining multiple sclerosis prevalence by ultraviolet exposure: a geospatial analysis. Mult Scler 2009; 15(8): 891–8 Bourdette D, Yadav V, Shinto L: Multiple sclerosis. In: Oken BS (Ed.): Complementary Therapies in Neurology: An Evidence-Based Approach to Clinical Practice. The Parthenon Publishing Group, London; 2004, S. 291ff Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV): Verzehrsgewohnheiten der Deutschen. Fakten aus der Nationalen Verzehrsstudie. http://www.bmelv.de/SharedDocs/Standardartikel/Ernaehrung/GesundeErnaehrung/Ernaehrungsforschung/ NationaleVerzehrsstudie/2teAuswertungsrunde.html. Cited 23 Oct 2009 Deutsche Gesellschaft für Neurologie: Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose. http://www.dmsg.de/ dokumentearchiv/behandlungsleitlinien_der_dgn_ stand_2008.pdf. Cited 23 Oct 2009 Evelyn J: Acetaria: A Discourse of Sallets. London; 1699. Reprint 2006 Ghadirian P, Jain M, Ducic S et al.: Nutritional factors in the aetiology of multiple sclerosis: a case-control study in Montreal, Canada. Int J Epidemiol 1998; 27(5): 845–52 Hayes CE: Vitamin D: a natural inhibitor of multiple sclerosis. Proc Nutr Soc 2000; 59(4): 531–5 Hernandez-Lahoz C , Rodriguez S , Tunon A et al.: Sustained clinical remission in a patient with remittent-recurrent multiple sclerosis and celiac disease gluten-free diet for 6 years. Neurologia 2009; 24(3): 213–5 Hintzpeter B et al.: Vitamin D status and health correlates among German adults. Eur J Clin Nutr 2008; 62(9):1079– 89 Langbein S, Zerilli M, Zur Hausen A et al.: Expression of transketolase TKTL1 predicts colon and urothelial cancer patient survival: Warburg effect reinterpreted. Br J Cancer 2006; 94(4): 578–85 Leong EM, Semple SJ, Angley M et al.: Complementary and alternative medicines and dietary interventions in multiple sclerosis: what is being used in South Australia and why? Complement Ther Med 2009; 17(4): 216–23 Materljan E, Materljan M, Materljan B et al.: Multiple sclerosis and cancers in Croatia – a possible protective role of the »Mediterranean diet«. Coll Antropol 2009; 33(2): 539–45 Melzer J, Melchart D, Saller R: Entwicklung der Ordnungstherapie durch Bircher-Benner in der Naturheilkunde im 20. Jahrhundert. Forsch Komplementärmed Klass Naturheilkd 2004; 11: 293–303 Patel S, Farragher T, Berry J et al.: Association between serum vitamin D metabolite levels and disease activity in patients with early inflammatory polyarthritis. Arthritis Rheum 2007; 56(7): 2143–9 Pedersen M, Stripp C, Klarlund M et al.: Diet and risk of rheumatoid arthritis in a prospective cohort. J Rheumatol 2005;3 2(7): 1249-52
20
Ramsaransing GS, Mellema SA, De Keyser J: Dietary patterns in clinical subtypes of multiple sclerosis: an exploratory study. Nutr J 2009; 8(1): 36 Semler E: Rohkost: historische, therapeutische und theoretische Aspekte einer alternativen Ernährungsform. Dissertation, Institut für Ernährungswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen, 2006 Swank RL, Dugan BB: The Multiple Sclerosis Diet Book – LowFat Diet for the Treatment of MS. Doubleday, New York; 1987 Swank RL, Lerstad O, Strøma A et al.: Multiple sclerosis in rural Norway its geographic and occupational incidence in relation to nutrition. N Engl J Med 1952; 246(19): 722–8 Weaver KL, Ivester P, Seeds M et al.: Effect of dietary fatty acids on inflammatory gene expression in healthy humans. J Biol Chem 2009; 284(23): 15400–7 Westhoff G, Stange R, Zink A: Patienten mit früher rheumatoider Arthritis wenden alternative medizinische Maßnahmen unabhängig von der Krankheitsaktivität an. Forsch Komplementärmed 2007; 14(Suppl. 1):47 Yadav V, Bourdette D: Complementary and alternative medicine: is there a role in multiple sclerosis? Curr Neurol Neurosci Rep 2006; 6(3):259–67
313
A –E
Stichwortverzeichnis
A
B
Adipositas 69, 271, 287. 7 auch Übergewicht – Definition 17 – Fasten 174 – Grade 17 – Klassifikation 273 – mediterrane Ernährung 201 – Nahrungsmittelauswahl 280 – Vollwerternährung 118 Aktivität, körperliche 193, 224, 265, 275, 277 Alkoholkonsum 21, 203, 224, 251, 263, 276 – Insulinreaktion 297 Allergien 151. 7 auch Nahrungsmittelallergien Alpha-Linolensäure 87, 89 – Funktionen 87 Ölsäure 87 Alzheimerdemenz 201 Amine, heterozyklische 81 Amingehalt von Lebensmitteln 213 Aminosäuren 187 Ammoniakausscheidung 191 Anthozyaningehalt von Lebensmitteln 54 Antikanzerogene 20, 21, 52, 53, 55, 56, 58, 68, 79, 118, 201 – Fischölfettsäuren 100 – Vollwerternährung 118 Antioxidanzien 15, 177, 243, 249, 250 Übergewicht 132, 221, 242, 251, 271. 7 auch Adipositas – Definition 17 – Risiken 18 – Trennkost 151 Übersäuerung 140 Arachidonsäure 14 Arachidonsäuregehalt von Lebensmitteln 89 Arrhythmien 95 Arteriosklerose 132, 245 – Fischölfettsäuren 94, 100 – Vollwerternährung 118 Arzt-Klienten-Interaktion 35 Asthma bronchiale 210 – Trennkost 151 Augenerkrankungen 100 Ausbildung 181, 198 Autointoxikation, intestinale 160
Bakteriocine 77 Ballaststoffe 19, 50, 61 – Einteilung 63 – Löslichkeit 63 – physiologische Wirkungen 64 – Richtwerte für die Zufuhr 69 – Verdaulichkeit 63 Ballaststoffgehalt von Lebensmitteln 292 Ballaststoffpräparate 69 Ballaststoffzufuhr 64 – bei Adipositas 277 – bei Diabetes mellitus 290 – bei Fettstoffwechselstörungen 248 – bei Hypertriglyzeridämie 251 – Richtwerte 20 Beta-Carotin 16, 20, 52, 249 Biotin. 7 Vitamine: Biotin Bircher-Benner, Max 8, 302 Blutzuckerwerte 67 Body-Mass-Index (BMI) 17, 273 Broca-Index 273 Broteinheit 292 Bruker, Max Otto 10, 303 Buchhaltungsmethode 34 Buchinger, Otto 9, 169 Budwig, Johanna 304
C Carotinoide 21, 50 – sauerstofffreie 51 – sauerstoffhaltige. 7 Oxycarotinoide Carotinoidgehalt von Vegetabilien 52 Chlorid 16 Chlorophyll 58 Cholesteringehalt von Lebensmitteln 246 Cholesterinspiegel 69, 76, 240, 243 – mediterrane Ernährung 200 Chylomikronämie 252 Colitis ulcerosa 97 Coy, Johannes F. 305 Cyclosporin 100
D Darmfunktion 67
DASH-Diät 224 DDG-Empfehlungen 296 Dehntechniken. 7 Stretching DGE-Regeln 23 Diätverordnung 281 Diabetes mellitus 69, 132, 242, 285 – glykämischer Index 65 – mediterrane Ernährung 201 – Trennkost 151 – Vollwerternährung 118 Dihomogamma-Linolensäure 88 Disaccharide 14, 20 Divertikulose 69 Docosahexaensäure 245 Dosierung. 7 Trainingsgestaltung Durchfall 179
E Eicosanoidbildung 90 – Hemmstoffe 92 Eicosapentaensäure 14, 89, 245 Eicosapentaensäuregehalt von Lebensmitteln 89 Eier 25, 116, 246, 251 Eisen 16, 130 Eisenverfügbarkeit 131 Eisenzufuhr bei chronischer Niereninsuffizienz 236 Eiweiß. 7 Proteine Eiweißzufuhr bei Diabetes mellitus 294 Eliminationsdiät 178 Empowerment. 7 Motivation Energiegehalt 17 – Fette 14 Energiestoffwechsel 8 Enzymopathien 208, 213 Enzymsynthese 56 EPIC-Studie 69 Erkrankungen, chronisch entzündliche 179, 301 Erkrankungen, muskuloskeletale 99 Ernährung – Öl-Eiweiß- 304 – allergenarme 302 – ayurvedische 11 – innere 185 – kohlenhydratreduzierte 304 – makrobiotische 10 – mediterrane 11, 199, 305 – vegane 302
314
Stichwortverzeichnis
– Vollwert-. 7 Vollwerternährung Ernährungsberatung 1, 29 – Formen 36 – Gesprächsführung 39 – Gesprächskompetenz 38 Ernährungskinetik 203 Ernährungskreis 24 Ernährungsphysiologie 1, 8, 13 Ernährungsprinzipien 1, 13, 113, 205 Ernährungsprotokoll 34, 279 Ernährungstherapie – bei chronischer Niereninsuffizienz 233 – bei Chylomikronämie 252 – bei Diabetes mellitus 289 – bei Fettstoffwechselstörungen 242 – bei Fruktoseintoleranz 217 – bei Hypercholesterinämie 251 – bei Hypertonie 221 – bei Hypertriglyzeridämie 251 – bei Hyperurikämie/Gicht 264 – bei Laktoseintoleranz 215 – bei Nahrungsmittelallergien 211 – bei Nierenerkrankungen 230 – bei Phenylketonurie 216 – bei Pseudoallergien 213 – Formen 105 – Wirkprinzipien 108 Ernährungsumstellung 120 Ernährungsverhalten 22, 117, 276, 278, 288 – Störungen 32 – Untersuchung 30 Ernährungswissenschaft 8 Erschöpfungszustände 151 essenzielle Fettsäuren. 7 Fettsäuren Evers, Joseph 304
F Fasten 105, 167, 263 – Aufbauphase 189 – Dauer 193 – Definition 168 – für Gesunde 173, 183 – Formen 171 – Geschichte 168 – Indikationen 173 – Kontraindikationen 180 – Phasen 185 – physiologische Wirkungen 182 – Proteinabbau 189 – therapeutisches 170, 174, 183 Fastenazidose 191 Fermentierung 65, 73 – physiologische Wirkungen 75 Fette 14, 25, 188. 7 auch Triglyzeride
– Energiegehalt 14 – Gehalt an Alpha-Linolensäure 89 – Gehalt an Omega-6-Fettsäuren 89 – Risiken 18 – tierische 246 Fettgehalt von Lebensmitteln 266, 267, 280 Fettsäuremuster von Ölen 297 Fettsäuren 14, 191 – Anteil in Lebensmitteln 244 – Fischöl-. 7 Fischölfettsäuren – gesättigte 14, 244, 295 – Omega-3- 14, 87, 89, 91, 200, 222, 245, 295 – Omega-6- 14, 87, 88, 91, 309 – Omega-9- 87 – Richtwerte für die Zufuhr 19 – ungesättigte 14, 244, 295, 296 Fettstoffwechsel 276 Fettstoffwechselstörungen – ernährungstherapeutische Maßnahmen 242 – mediterrane Ernährung 201 – Typen 242 – Vollwerternährung 118 Fettverteilungstypen 274 Fettzufuhr 129 – bei chronischer Niereninsuffizienz 234 – bei Diabetes mellitus 286, 295 – bei Hyperurikämie/Gicht 261 Fettzusammensetzung 19 Fisch 25, 116, 244, 245, 246, 249 Fischölfettsäuren 85 – Nebenwirkungen 93 – physiologische Wirkungen 90, 92 – therapeutischer Einsatz 93 Flüssigkeitszufuhr. 7 Wasserhaushalt Flavonoide 54, 250 Fleisch 25, 116, 247, 249, 260 Folsäure. 7 Vitamine: Folsäure Friedewald-Formel 241 Frischkost 9, 160, 302 Fruktose 286, 293 Fruktoseintoleranz, hereditäre 217 – ernährungstherapeutische Maßnahmen 217 Funfack, Wolf 150
G Galenus 169 Gallenbeschwerden 69 Gallensäuren 81 Gamma-Linolensäure 88 Gastritis 69 Gastrointestinalerkrankungen 78
– Fasten 174 – Trennkost 151 Gastrointestinaltrakt 77 Geflügel 247 Gelenkerkrankungen, chronisch entzündliche 96, 306 Gemüse. 7 Vegetabilien Gesamtenergieaufnahme 231, 234 Geschichte der Ernährungstherapie 3 Getränke 25, 116 Getreideprodukte 25, 115 Gewichtsreduktion 190, 277 Gicht 192, 255 – ernährungstherapeutische Maßnahmen 264 Glukarate 57 Glukose 185 Glukosinolate 21, 50, 57 Glukosinolatgehalt von Lebensmitteln 57 Gluten 310 glykämische Last 19, 65, 248, 277, 289 – Lebensmittelbeispiele 248 glykämischer Index 19, 65, 147, 248, 276, 289 – Lebensmittelbeispiele 67, 248, 290 Glykogenolyse 185, 192 Grundumsatz 8, 17 Guanosin 261
H Hämodialyse 231, 233 Hämorrhoidalleiden 69 Hülsenfrüchte 25, 115 – glykämischer Index 65 – Nährstoffgehalt 267 Hahn, Theodor 7 Harnsäuregehalt von Lebensmitteln 264, 266, 267 Harnsäurespiegel 258 – Normwerte 259 Harnsäurestoffwechsel 258, 263 Harnsteine 268 Harnstoffausscheidung 191 Harnstoffspiegel 231 Hauptnährstoffe 8 Hautkrankheiten – Fasten 174, 178 – Trennkost 151 Haysche Trennkost. 7 Trennkost Hay, William Howard 139 Heilfasten. 7 Fasten, therapeutisches Herz-Kreislauf-Erkrankungen 132, 241, 243 – Fasten 174 – mediterrane Ernährung 200
315 Stichwortverzeichnis
– Trennkost 151 Hildegard von Bingen 5 Hippokrates von Kos 4, 169 Homocystein 130 Hufeland, Christoph Wilhelm 6 Hypercholesterinämie 242, 247 – ernährungstherapeutische Maßnahmen 251 – Fasten 174 Hyperkaliämie 235 Hyperlipidämien 94 Hyperphosphatämie 236 Hypertonie 132, 242 – Behandlungs- und Schulungsprogramm 225 – ernährungstherapeutische Maßnahmen 221 – Fasten 174 – Fischölfettsäuren 96 – Klassifikation 220 – Vollwerternährung 118 Hypertriglyzeridämie 247 – ernährungstherapeutische Maßnahmen 251 Hypertrophietraining. 7 Training, MuskelaufbauHyperurikämie 134, 255 – ernährungstherapeutische Maßnahmen 264 – Trennkost 151 – Vollwerternährung 118 Hypokalzämie 236 Hypothyreose 242
I Immunmodulation 80, 193 Infekt, akuter 179 InsuLean-Prinzip 150 Insulinreaktion 156, 248, 289 – Fasten 185 Insulin-Trennkost 147 Isoflavonoide 55 Isoflavonoidgehalt von Lebensmitteln 55
J Jod 16, 20, 131 Joghurt 75
K Kaffeesäure 54 Kalium 16, 231 Kaliumgehalt von Lebensmitteln 235
Kaliumzufuhr – bei Hypertonie 222 – bei Nierenerkrankungen 235 Kaloriengehalt von Lebensmitteln 280 Kalorien/Stickstoffbilanz 295 Kalzium 16, 215 Kalziumgehalt von Lebensmitteln 215 Kalziumverfügbarkeit 215 Kalziumzufuhr bei chronischer Niereninsuffizienz 236 Karies 69, 133 Kartoffel-Ei-Diät 232 Kartoffeln 25, 115, 248 Ketonsynthese 186 Kneipp, Sebastian 6 Knoblauch 250 Kochsalz 22 Kochsalzgehalt von Lebensmitteln 235, 298 Kochsalzzufuhr – bei chronischer Niereninsuffizienz 235 – bei Diabetes mellitus 298 – bei Hypertonie 221 Koffein 224, 250 Kohlenhydrate 14, 67, 80, 141, 155, 160, 293 – Abbau 77 – Auswahl 19 Kohlenhydratgehalt von Lebensmitteln 266, 267 Kohlenhydratstoffwechsel 276 Kohlenhydratzufuhr 128 – bei Adipositas 277 – bei chronischer Niereininsuffizienz 234 – bei Diabetes mellitus 286, 289 – bei Fettstoffwechselstörungen 247 – bei Hyperurikämie/Gicht 261 Kollagenosen 97 Kollath, Werner 10, 111 Kolonisationsresistenz 77 Koordinationstraining. 7 Training, KoordinationsKousmine, Catherine 304 Kraftausdauertraining. 7 Training, KraftausdauerKrafttraining. 7 Training, KraftKreatininspiegel 231 Krebs-Ballaststoff-Hypothese 68 Krebserkrankungen 133 Kreislauf, enterohepatischer 67 Kuhne, Louis 7
L Laktat 187
N –M
Laktose 14, 63 Laktoseintoleranz 75, 214 – ernährungstherapeutische Maßnahmen 215 Lebensmittelauswahl – bei Adipositas 279, 280 – bei Diabetes mellitus 286, 290 – Ge- und Verbote 22 – Trennkost 142 – Vegetarismus 128 – Vollwerternährung 113, 115 Lebensmittelzusatzstoffe 212 Lebensstilmodifikation 224, 265 Leistungsumsatz 17 LGSI. 7 low-grade systemic inflammation Liebig, Justus von 8 Light-Produkte 281 Lignane 55 Lignin 63, 64, 65, 291 Linolensäure 245 Linolsäure 87, 88 – Funktionen 87 Linolsäuregehalt von Fetten und Ölen 89 Liquid-Protein-Diät 184, 189. 7 auch Fasten
M Magenverdauung 153, 154 Magnesium 16 Mayr, Franz Xaver 9, 169, 183 Metabolic Balance 150 metabolisches Syndrom 65 – Fasten 174, 175 – mediterrane Ernährung 201 – Trennkost 151 Migräne 151 Mikronährstoffe 15, 20, 194 Milchprodukte 25, 116, 246 – fermentierte. 7 Fermentierung – Nährstoffgehalt 266 Milchsäurebakterien 75, 76, 79, 80 Mineralstoffe 15, 298 Mineralwasser, Natriumgehalt 223 Monosaccharide 14, 20, 289 Morbus Crohn 97 Motivation 42 multiple Sklerose 307 – Fischölfettsäuren 98 – Trennkost 151
N Nährstoffdichte 17
316
Stichwortverzeichnis
Nährstoffzufuhr – optimale 17 – Vegetarismus 128 Nüsse/Samen 115, 116 – Phytosteringehalt 53 Nahrungsenergieverteilung 17 Nahrungsmittelallergien 208 – AuslÃßer 209, 210 – ernährungstherapeutische Maßnahmen 211 – Prävention 211 – Vollwerternährung 119 Nahrungsmittelinhaltsstoffe 47 Nahrungsmittelintoleranzen 208 – Fasten 178 Nahrungsmittelunverträglichkeiten 207 Natrium 16, 224, 231 Natriumgehalt von Lebensmitteln 222, 223 Natriumzufuhr bei Hypertonie 221 Neurodermitis 99 Niacin. 7 Vitamine: Niacin Nierenerkrankungen 229 – ernährungstherapeutische Maßnahmen 230 – Fischölfettsäuren 98 – Trennkost 151 Niereninsuffizienz, chronische 231 – ernährungstherapeutische Maßnahmen 233 – Fischölfettsäuren 100 Nierensteine 192, 237 Nierentransplantation 233 Nierenversagen, chronisches 231 Noelke, Martin 146 Normalgewicht, Definition 17 Null-Diät 184, 252, 277. 7 auch Fasten
O Obst. 7 Vegetabilien Obstipation 69 – Vollwerternährung 118 Ordnungstherapie 9 Osteoporose 133 Oxycarotinoide 51
P Panthothensäure. 7 Vitamine: Panthothensäure Pape, Detlef 147 Paracelsus 6 Pavlov, Ivan 153 Pektin 63, 64, 291
Peritonealdialyse 231, 233 Pettenkofer, Max von 8 Pflanzenöle 244 Pflanzenstoffe, sekundäre 21, 49 – Wirkungen 50, 134 Phenolsäure. 7 Polyphenole Phenylalanin 216 Phenylketonurie 216 Phosphor 16, 231 Phosphorgehalt von Lebensmitteln 236 Phosphorzufuhr bei chronischer Niereninsuffizienz 236 Phtalide 57 pH-Wert 80 pH-Wert-Effekte von Lebensmitteln 269 Phytinsäure 50, 57 Phytoalexine 58 PhytoÃßtrogene 21, 50, 55 Phytochemicals. 7 Pflanzenstoffe, sekundäre Phytonzide 58 Phytostanole 250 Phytosterine 21, 50, 52 Phytosteringehalt von Nüssen/ Samen 53 Phytosterole 250 Polyphenole 21, 50, 54, 55 Polyphenolgehalt von Lebensmitteln 54 Polysaccharide 14, 247, 289 Präbiotika 68 Präferenzliste 35 Prävention 18, 21, 174, 306 – Fasten 174 Protease-Inhibitoren 21, 50, 56 Proteine 15, 141, 155, 160, 188, 191, 231 Proteingehalt von Lebensmitteln 266, 267 Proteinstoffwechsel 8, 188 Proteinzufuhr 129 – bei chronischer Niereninsuffizienz 234 – bei Diabetes mellitus 286 – bei Fettstoffwechselstörungen 249 – bei Hyperurikämie/Gicht 261 Proteolyse 187 Provitamin A 52 Provokationsdiät 178 Pseudoallergien 208, 212 – AuslÃßer 212 – ernährungstherapeutische Maßnahmen 213 Psoriasis 99 Psychologie 22
Puringehalt von Lebensmitteln 260, 265 Purinstoffwechsel 258 Pyruvat 186 Pythagoras von Samos 4
Q Quercetingehalt von Lebensmitteln 54
R Rückfallprophylaxe 44 range of motion. 7 Bewegungsamplitude Reduktionskost 288 Rehabilitation 174 res non naturales 5 Restenosen 95 Rheuma 134, 151 – Fasten 174, 176 Rohkost. 7 Frischkost Rotationsdiät 178 Rousseau, Jean-Jacques 6 Rubner, Max 8
S Säure-Basen-Haushalt 140, 159, 268 Süßstoffe 117, 286, 294 Saccharose 14, 67, 133, 217, 282, 293 Salz. 7 Kochsalz, Natrium Saponine 21, 50, 53 Saponingehalt von Lebensmitteln 53 Schadstoffe 21 Schnellkrafttraining. 7 Training, SchnellkraftSchnitzer, Johann Georg 303 Schroth-Kur 6 second meal effect 290 Selen 131 Siesta 203 Spurenelemente 15 Stärke 14, 19, 63, 141 – resistente 68 Stickstoffausscheidung 187, 188 Stoffwechseltypen 150 Sulfide 21, 50, 57 Summ, Ursula 146 Swank, Roy L. 307
T TCM 11 Terpene 21, 50, 56
317 Stichwortverzeichnis
trans-Fettsäuren 246 Transplantationsnachsorge 100 Trennkost 10, 105, 137 – Charakteristika 138 – Ernährungsphysiologie 152 – Geschichte 139, 144 – Indikationen 151 – nach Hay 142 – nach Noelke 146 – nach Pape 147 – nach Summ 146 – nach Walb/Heintze 144 Triglyzeride 14, 186 Triglyzeridspiegel 240, 243, 245, 252, 295
U Urogenitaltrakt, Infektionen 79
V Vaginalinfektionen 79 Vegetabilien 21, 25, 115 – Carotinoidgehalt 52 – Nährstoffgehalt 267 Vegetarismus 5, 7, 123 – Definition 124 – Formen 124 – Geschichte 126 – Hypertonie 224 – Nährstoffauswahl 128 – physiologische Wirkungen 128 very low calory diet 184, 278. 7 auch Fasten Verzehrempfehlungen 22 – Ballaststoffe 20, 69 – DGE-Regeln 23 – Fettsäuren 19 Vier-Säfte-Lehre 5 Vitamine 15, 236, 298 – antioxidative 15 – Biotin 16 – fettlÃßliche 14, 15 – Folsäure 16, 20 – Niacin 16 – Pathothensäure 16 – Vitamin A 16, 194 – Vitamin B1 16, 195 – Vitamin B2 16 – Vitamin B6 20 – Vitamin B12 16, 20, 129 – Vitamin C 16, 20, 194, 236, 249 – Vitamin D 16, 130, 237, 308 – Vitamin E 16, 20, 194, 249, 250 – Vitamin K 16
– Vorstufen 15 – wasserlÃßliche 15 Voit, Carl von 8 Vollkornprodukte, glykämischer Index 65 Vollwerternährung 10, 107, 202 – Charakteristika 110 – Definition 109 – Geschichte 109
W Waerland, Are 9, 303 waist-to-hip ratio 274, 287 Walb, Ludwig 144 Wasser 15 Wasserhaushalt 15, 17, 231, 268 – bei chronischer Niereninsuffizienz 237 Wasserheilkunde 6 Wiegemethode 33 Wirkungen von Lebensmitteln – antiinflammatorische 201, 302 – antimikrobielle 57, 58 – Ballaststoffe 64 – Enzymaktivität 81 – fermentierte Produkte 75 – Immunmodulation 80 – pH-Wert-Senkung 80 – tumorhemmende. 7 Antikanzerogene
X Xanthophylle. 7 Oxycarotinoide
Z Zellulose 14, 63, 64, 65, 291 Zink 131 Zivilisationskrankheiten 86 Zubereitung 260, 281 Zucker 14, 20, 21, 116 Zuckeraustauschstoffe 117, 294 Zuckerzufuhr bei Diabetes mellitus 293 Zuhören, aktives 44
N –Z