Das neue Abenteuer 496
Helmut Bürger: Feuer backbord voraus
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
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Das neue Abenteuer 496
Helmut Bürger: Feuer backbord voraus
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Mit Illustrationen von Thomas Binder ISBN 3-355-00757-9 © Verlag Neues Leben, Berlin 1988 Lizenz Nr. 303(305/113/88) LSV 7503 Umschlag: Thomas Binder Typografie: Walter Leipold Schrift: 8 p Timeless Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 644 513 6 00025
Um zwei Uhr morgens schrillte die Alarmglocke durch die ROS 521. Den Männern, die unter Deck buchstäblich in Schildmakrelen wateten, stockten die Hände. Die das Netz zum Pieren klarmachten, erstarrten. Und wer in der Koje lag, sprang auf, fuhr in die Sachen und stolperte, lief, hetzte nach oben. Kapitän Sandmann machte da keine Ausnahme. Sofort fiel ihm auf, daß der Trawler nicht die beim Schleppen üblichen fünf Knoten, sondern Höchstgeschwindigkeit lief. Die Signale jagten einander: die Doppeltöne der Feuerrolle und die kurz aufeinanderfolgenden, durch einen langen Ton abgeschlossenen Signale der Bootsrolle. An Bord gab es niemanden, der besser wußte als er, daß keinerlei Übungen angesetzt waren. Fragen erübrigten sich: "Feuer backbord voraus!" ließ sich eben der Erste Offizier durch die Lautsprecher vernehmen. "Feuerschutzleute an ihre Plätze! Das Fangdeck, frei! Produktion wird vorerst nicht gestoppt! Achtung, die Rettungsbootsleute ." Anweisung folgte auf Anweisung. Daß Achim Dahl, der Erste, sein Handwerk verstand, davon konnte sich der Kapitän heute nicht das erstemal überzeugen. Und was ihm wieder einmal auffiel, war die Wirkung, die die Stimme des Ersten hinterließ: Sie unterstrich, daß es sich um Befehle handelte, zugleich aber beruhigte sie die Leute, verhinderte, daß Hektik aufkam. Kapitän Sandmann war aufrichtig genug, sich einzugestehen, daß er sich in dieser Beziehung von seinem Ersten durchaus eine Scheibe abschneiden konnte. Solange die Fahrt normal verlief, war Sandmann die berühmte Seele
von Mensch. Die Matrosen nannten ihn, wenn er nicht in der Nähe war, Sandmännchen, und so gab er sich denn auch: ausgeglichen, umgänglich, fast nachsichtig. Traten dagegen Ereignisse ein, die nach seiner Meinung nicht einzutreten hatten: Muckerte die Hauptmaschine, verspätete sich das Mutterschiff, die sogenannte "Mama", oder blieb der Fang allzu deutlich hinter den Erwartungen zurück, dann tobte er durch Gänge und Kammern, dann bekam jeder, ob beteiligt oder nicht, sein Fett ab, das war wie ein Klar-Schiff-Machen. Und er begnügte sich nicht damit, Anordnungen zu erteilen, sondern er würzte sie mit "Aber ein bißchen plötzlich!" oder "Ich mache euch Beine!" - Zusätze, auf die der Erste eben verzichtete. Allerdings wurde heute kein Fluch laut und kein Spaß, kaum daß man ein Wort hörte. Sie wußten: Es ging nicht darum, mit einem kräftigen Wasserstrahl ein paar Seehunde, die das Netz mit an Bord gefördert hatte, zu vertreiben. Es handelte sich auch nicht um eine der vorgeschriebenen Überprüfungen, wie sie sie erst vorige Woche absolviert hatten. Vielmehr war jene Situation eingetreten, auf die sie zwar vorbereitet waren, die sie bis jetzt jedoch nicht erlebt hatten: der Ernstfall. Dort draußen, backbord voraus, brannte es! Und was brannte, konnte hier, in der Nähe der angolanischen Küste, eigentlich nur ein Fischereifahrzeug sein, und an Bord waren Leut? wie sie - Fischer. Immer wieder warfen sie einen schnellen Blick übers Schanzkleid in Richtung Südwest. Mancher, dem der Zufall half und der nicht geblendet war von den Lampen auf dem Fangdeck, gewahrte fern im Dunkel eine winzige Halbkugel aus schwacher, zuckender Helligkeit; die meisten sahen nichts. Kapitän Sandmann, oben auf der Brücke und das Glas
vor Augen, fragte: "Wer hatte das gesehen?" Dahl wies wortlos zum Ruder. "Der Rudergänger?" "Nein. Der Dritte." Sandmann räusperte sich. Der Dritte also . Vor einem halben Jahr hatte der schmächtige junge Mann, auf dessen Haut die Tropensonne kaum Spuren hinterlassen hatte, noch die Hochschulbank gedrückt. An seiner Diensterfüllung konnte der Kapitän nichts aussetzen. Allerdings mißfiel ihm die Zurückhaltung, die der Dritte an den Tag legte. Sosehr Sandmann Schwätzer verabscheute - andererseits mochte er es, wenn jemand aufgeschlossen und mitteilsam war: Man mußte schließlich wissen, mit wem man es zu tun hatte. Ungewohnt lange hatte er gebraucht, um sich dessen Namen zu merken, nannte ihn aber weiterhin bei sich nur den "Dritten", und manchmal dachte er: Dieser Milchbart hätte sich einen anderen Beruf suchen sollen; ein Witz, daß der zur See gegangen ist. Immerhin: Wenn der Hol an Deck kam, waren die Augen des Brükkenpersonals fast ausschließlich nach achtern gerichtet und trotzdem war der Dritte auf den Widerschein des Feuers aufmerksam geworden. Das sprach auf jeden Fall für Verläßlichkeit. Sandmann nickte ihm mehr überrascht als anerkennend zu und trat in die Nock hinaus. Die Maschine der ROS 521 lief volle Kraft. Das Feuer war nun auch von Deck aus mit bloßem Auge auszumachen: Die Halbkugel hatte sich zu einer halben Ellipse verformt, die ihr rötliches Spiegelbild auf die See warf. "Wie weit, schätzt du?" frage der Kapitän seinen Ersten, der ihm gefolgt war. Dahl zuckte die Schultern. "Drei Meilen vielleicht."
"Informationen?" "Keine." Verblüfft ließ Sandmann das Glas sinken. "Was soll das heißen?" "Eben: nichts. Kein SOS." Und Dahl fügte hinzu: "Außer uns hat das", sein rechter Arm ruckte in Richtung des Feuers, "niemand bemerkt. Unser Funker hat sein möglichstes getan: die Position durchgegeben; nachgefragt, wer das sein könnte. Fest steht jedenfalls: Von uns ist es keiner. Alles, was in der Nähe ist, kommt zu Hilfe." "Hilfe", murmelte Sandmann. Wenn Hilfe noch etwas ausrichtet, dachte er. Er hätte das getrost aussprechen können. Dahl dachte dasselbe. Von Deck drang erregter Wortwechsel herauf. Sandmann bemerkte Händegefuchtel, und er bemerkte Vanselow, den Politoffizier, der begütigend auf einen Matrosen einsprach. Sandmann hängte den Oberkörper übers Schanzkleid. "Was gibt's denn da?" Vanselow eilte auf die Brücke. Sandmann wunderte sich nicht, daß Vanselow sich erst jetzt hier einfand: Er war gewissermaßen ständig auf dem Schiff unterwegs, immer da, wo "was los" war, wie er sich ausdrückte. "Schulze empört sich, weil er nicht ins Boot soll. Dabei tränen ihm die Promille förmlich aus den Klüsen", erklärte er. Sandmann fiel ein, daß Schulze sich gestern abend seine Monatsbuddel abgeholt hatte: die Flasche Schnaps, die ihm im Monat zustand - er hatte Geburtstag. Der Alarm dürfte der Feier im Kreise von zwei, drei Kameraden ein jähes Ende bereitet haben. "Nehmen wir an seiner Stelle den Jörg Mitscherlich",
schlug Vanselow vor. "An der Winde gibt es jetzt ohnehin nichts zu tun." "Hol ihn her." Mitscherlich war etwa fünfundzwanzig Jahre alt, hochgewachsen, ein auffallend sportlicher Typ, an seinem Körper war kein Gramm zuviel. Die Augen unter den weißblonden Brauen waren unstet; ständig schienen sie irgendwohin in die Ferne zu blicken und dort Dinge wahrzunehmen, die für andere unsichtbar blieben. Der Dritte Offizier war nur wortkarg, Mitscherlich aber war fast stumm. "Sehen Sie mich mal richtig an", sagte Kapitän Sandmann. Mitscherlich war ihm nicht unsympathisch. Dieser Blick jedoch reizte ihn immer aufs neue. "Sie müssen wieder mal den rettenden Engel spielen." Rettender Engel war Mitscherlich bereits in Rostock gewesen: Er war wenige Stunden vor dem Auslaufen an Bord gekommen. Sandmann hatte sich die Haare gerauft: Unter Deck in der Produktion hatten sie mit Mühe und Not die Mindestbesetzung beisammen, zwei Matrosen hatte der Arzt nicht aufsteigen lassen, bei einem dritten war mit dem Seefahrtsbuch etwas nicht in Ordnung - keine Leute, keine Leute! Mitscherlich war Bestmann und besaß die Qualifikation für den Windenfahrstand - ein Geschenk des Himmels beziehungsweise des Kombinates! "Der Schulze, der hat ziemlich tief in die Buddel geguckt - für den gehen Sie ins Boot. Für die Winden haben wir ja dann den Mann aus der anderen Schicht." Mitscherlich hatten wenige Tage genügt, um sich an Bord einzuleben. Sandmann betrachtete ihn nach zwei Monaten offenbar immer noch als den "Neuen" - von der Stammbesatzung pflegte er jeden zu duzen.
"Okay, Käpt'n", sagte Mitscherlich nur und verschwand. Sandmann sah bereits wieder durchs Glas. Und er fragte sich erneut, ob hier Hilfe noch möglich sein würde: Sie waren jetzt bis auf eine knappe Meile heran, und wenn die Qualmwolke, die das brennende Schiff einhüllte, für einen Moment seitwärts getrieben wurde, war deutlich erkennbar, daß es sich tatsächlich um einen Trawler handelte. Das merkwürdige war, daß das Feuer nicht auf einzelne Bereiche des Fahrzeugs beschränkt war, sondern es gänzlich erfaßt hatte. Das Feuer zuckte, züngelte, schlug aus allen Öffnungen, es lief über das Deck, es wütete auf der Brücke. Was aus Stahl war, schien wie Holz in Flammen aufgegangen zu sein. Über dem treibenden Wrack zitterte es wie eine tiefrote, dann wieder grellgelbe Qualle aus Licht. Wenn der Rauchvorhang zuzog, Verdüsterte sie sich; lichtete er sich, sah es aus, als habe selbst das Meer Feuer gefangen. Dahl preßte das Glas an die Augen. Erst als sie im Begriff waren, das Heck zu passieren, konnte er fernöstliche Schriftzüge entdecken und darunter den Namen des Heimathafens entziffern: Wönsan. "Ein Koreaner!" rief er. Seine Stimme war jetzt heiser und erregt. Die Fischer aus der KDVR waren hier mit fünf Trawlern und einem Verarbeiter im Einsatz. Man hatte sich gefragt, ob das lohnend war - bei der Entfernung von zu Hause. Vielleicht waren dort die Fanggründe überfischt und bedurften der Schonung. Sandmann erteilte seine Befehle. Sie umrundeten den Trawler. Überall das gleiche Bild: Flammen, die am Schiff leckten und fraßen. Unmöglich, an Bord zu gehen; schwierig schon, sich ihm bis auf eine Entfernung zu nähern, die den Einsatz der C-Rohre erlaubte: Hitze und Rauch prall-
ten herüber, glühende Fetzen wirbelten durch die Luft und landeten auf Deck und Aufbauten der ROS 521. Die Matrosen hatten alle Hände voll zu tun, um ihr eigenes Schiff vor dem Schicksal des Trawlers zu bewahren. Allen war klar: Hier gab es höchstens etwas zu verzögern, aber nichts mehr zu retten. Die See war wenig bewegt - günstige Bedingungen für die mit Motoren ausgerüsteten Schlauchboote. Daß sich die Koreaner möglichst weit von ihrem Fahrzeug entfernt hatten, war logisch. Moderne Rettungsboote oder -inseln verfügen jedoch über vielerlei Mittel, um auf sich aufmerksam zu machen, Handfackeln, Rettungslichter, Lampen. Da mußte man schon halb blind sein, wenn man die nicht bemerkte. Außerdem trafen jetzt weitere Schiffe an der Unglücksstelle ein - bulgarische, italienische, sowjetische, darunter der Supertrawler "Walentin Ischtschenko". Da müßte es doch mit dem Teufel zugehen . Jörg Mitscherlich war jedes Zeitgefühl abhanden gekommen. Wie lange suchten sie schon? Es ging wohl wirklich mit dem Teufel zu. Sosehr er seine Augen auch anstrengte - nichts. Kein Signal, kein Floß, kein im Wasser treibender Mann. Immer weitere Kreise zogen sie um das brennende Schiff, drehten ihm schließlich das Heck zu und folgten der Gasse aus Licht, die ihnen ein Scheinwerfer in die Finsternis legte - vergebens. Jörg wandte sich um. Jetzt verstand er den Ausbilder, der sie im Brandschutz unterwiesen hatte und dessen Eifer sie oft belächelten: Ein Brand auf hoher See ist das Schlimmste, was einem Seemann zustoßen kann. Er ist zwar rings von Wasser umgeben, aber wie schnell brennt ihm der Boden, auf dem er steht, unter den Füßen weg . Gleich ihnen waren andere Boote auf der Suche. Es
schwand immer mehr die Hoffnung, Überlebende zu finden. Doch dann: "Da!" Aufgeregt zeigte Jörg auf ein Etwas, das einige Meter entfernt vorbeitrieb. Während das Boot scharf über Backbord wendete und zurücklief, befreite sich Jörg vom Rettungskragen, ließ sich ins Wasser fallen und tauchte. Kam prustend wieder hoch, sah sich um . "Mehr rechts!" riefen die Kameraden und wiesen auf einen länglichen Gegenstand, der sich nur wenige Zentimeter aus dem Wasser drehte, dann glitt er wieder unter die Oberfläche. Drei schnelle Schwimmstöße, und wieder verschwand Jörg. Diesmal schien er Erfolg zu haben: Der Schein einer Handlampe, die sie im Boot angeschaltet hatten, ließ ihn einen Schatten erkennen, mehr die Ahnung eines Schattens, aber das genügte: Jörg griff hin. Der Gegenstand entwand sich ihm und sank. Jörg folgte in die Tiefe, obwohl seine Lungen zu bersten drohten und es in seinem Kopf dröhnte. Er packte erneut zu, sah nichts mehr. Das waren doch Arme, Fetzen von Kleidung, Schultern, und da . Da war nur Wasser zwischen seinen Fingern. Jörg spürte, wie sie kalt und empfindungslos wurden. Mit letzter Kraft tauchte er empor, während der Körper in die Tiefe absackte. Mit Mühe zogen sie Jörg ins Boot. Er legte sich über den Rand und rang keuchend nach Luft. Dann mußte er sich übergeben. Als Jörg erwachte, fiel das Licht schräg durch das offene Bullauge. Es dauerte ein Weilchen, bis er sich zurechtgefunden hatte. Er lag in seiner Koje. Sanftes Vibrieren, das ferne Geräusch der Maschine - das Schiff machte wieder Fahrt.
Er drehte den Kopf und erblickte Bartgestrüpp, eine spitz vorspringende Nase und Augen, unter denen dunkle Halbmonde der Übermüdung lagen - Dieter Schönborn, mit dem er gemeinsam diese Kammer bewohnte. Jörg richtete sich auf, schüttelte heftig den Kopf, als könne er dadurch das Brummen in seinem Schädel loswerden. "Wie spät ist es eigentlich?" "Es geht auf fünf. Abends", fügte Dieter hinzu und gähnte. Langsam kehrte Jörgs Erinnerung zurück. "Was ist mit dem Koreaner?" Dieter zuckte die Schultern. "Als es hell wurde, hofften wir, doch noch jemanden zu finden. Seltsam ." Er trat ans Bullauge und schaute hinaus. "In der Sonne sah das alles viel kleiner aus und nicht mehr so nach Weltuntergang . Jedenfalls haben wir weitergesucht. Alle Schiffe. Im Umkreis von mehr als zwanzig Meilen. Bis zum Nachmittag." "Und?" "Nichts. Soviel wir wissen, ist keiner davongekommen." Und nach einer Pause: "So vor einer Stunde ist der Trawler explodiert und gesunken. Unglaublich, wie schnell der weg war ." "Keiner", sagte Jörg leise. Sie schwiegen lange. "Wie bin ich eigentlich in die Koje gekommen?" fragte Jörg schließlich. Dieter winkte ab. "Gehen wir erst mal duschen." Erst jetzt bemerkte Jörg, daß Dieter noch immer in der Arbeitsbekleidung steckte, und er rechnete: Seit mindestens siebzehn Stunden ist der jetzt auf den Beinen . Sie standen lange unter dem lauwarmen Wasser, seiften sich
gegenseitig den Rücken ab, ließen sich dann kalte Schauer auf Kopf und Schultern trommeln. Es kam vor, daß sie eine Mahlzeit ausließen, auf das Duschen verzichteten sie nie! "Also", nahm Dieter nach der Rückkehr in die Kammer den Faden wieder auf. "Ganz einfach: Wir haben dich an Bord gehievt, dich ausgezogen und in die Heia gepackt wie ein kleines Kind." Jörg rieb sich die Schläfen. Da waren Eindrücke, wenn auch schwach und zusammenhanglos: Spritzer wie rote Funken, das Glucksen der Wellen, die gegen das Boot schlugen, Gerede, Geschepper, für Sekunden das besorgte Gesicht von Vanselow. Dieter ließ sich ächzend in die Koje fallen. "Wenn man sich das so überlegt: Da dampfen sie um die halbe Erde und dann erwischt es sie. Alle. Aus und vorbei. Da müßte man ja kälter sein als ein Fisch, wenn man einfach so darüber wegginge. Und du - nur ein paar Tage Land zwischen zwei Reisen - da machen eben selbst die Nerven von so einem Athleten nicht mit, wie du einer bist." "Halt doch die Klappe!" rief Jörg aufgebracht. Dieter drehte sich auf die Ellenbogen, sah Jörg an und spottete: "Also, das muß in den ,Hochseefischer': Der Mitscherlich kann ja reden! Der hat eine richtige Stimme und wird wütend wie andere auch!" Es war das erstemal, daß sie aneinandergerieten. Nie war es vorgekommen, daß Jörg die Beherrschung verloren hatte. Es war schon fast ein Ereignis gewesen, wenn er ein paar zusammenhängende Sätze gesprochen hatte. Was bildet der sich denn ein! Ich mache drei Fahrten hintereinander, wenn's sein muß, ohne umzukippen! Noch nie hat mir einer was vorgeworfen. Schwäche, Laschheit, Versa-
gen! Daß ich diesmal - das hat schließlich seinen Grund! "Mensch!" schrie er. "Wenn du das hinter dir hättest, was ich ." "Weiß ich doch." "Weißt du eben nicht!" "So?" Dieter wurde ernst. "Dir ist doch klar, daß du mir verdammt auf den Keks gehst? Wochenlang höre ich kaum ein Wort von dir. Du sicherst dich wie eine Bank - wer was von dir wissen will, muß dich knacken wie die OlsenBande einen Franz-Jäger-Geldschrank. Mehr, als daß du Jörg Mitscherlich heißt, konnten wir von dir nicht erfahren. Und jetzt kommst du mit Andeutungen: Ich hab allerhand hinter mir . Also, entweder machst du nun endlich den Mund auf, oder du läßt mich pennen! Mitternacht fängt unsere Schicht an!" Jörg sah in die bereits abendlich gefärbte Helligkeit. Sein Aufruhr ebbte ab. Er trug Dieter die deutlichen Worte nicht nach. Auf See herrschte nun mal kein feiner Ton. Außerdem hatte Dieter nicht unrecht. Er weiß ja nicht, was gewesen ist. Und überhaupt - er ist kein übler Kerl. Ein Kumpel, der seine Sache versteht . Daran gab es nichts zu rütteln: Bei der Arbeit kamen sie hervorragend miteinander aus. Dieter hatte seinen Platz auf dem Fangdeck, an der Stelle, wo der Steert entleert wurde. Da waren Umsicht und Reaktionsschnelligkeit gefragt: Unversehens konnte man bis zur Hüfte im zukkenden, zappelnden, schlagenden Fisch stehen. Jörg, der vom Windenfahrstand unmittelbar hinter der Brücke günstigen Überblick hatte, warnte Dieter und dessen Kollegen vor unangenehmen Überraschungen: vor Seehunden, die verteufelt aggressiv sein konnten, vor halbmeterlangen Seeschlangen, von denen sich selbst der Zoologe fernge-
halten hatte, mit dem Jörg im vorigen Jahr zusammen gefahren war. Dieter wiederum wies Jörg durch Armbewegungen und Zurufe so ein, daß der Steert genau dort zu liegen kam, wo er liegen sollte, er signalisierte ihm jede Störung an der Leinenführung. In den freien Stunden jedoch ging jeder seiner Wege: Dieter zog es in die Gesellschaft der Skatrunden, der Filmfans, der Witzeerzähler. Jörg suchte sich eine Ecke, wo er mit seinen Büchern ungestört war. Er war immer ein eifriger Leser gewesen. Auf dieser Fahrt jedoch verschlang er geradezu, was der Vorrat an Gedrucktem hergab - da kam er wenigstens auf andere Gedanken. Früher hatte er zu den unentwegtesten Teppichknüpfem gehört. Aber bei aller Konzentration, die diese Tätigkeit erforderte: Sie verleitete zum Grübeln. Außerdem: Wofür sollte er denn jetzt seine Geschicklichkeit noch einsetzen. Für die Wohnung, in der er nicht mehr zu Hause war? "Eigentlich ist es eine ganz alltägliche Geschichte. Wenn sie dir auf den Keks geht, mußt du's sagen." Dieter gab ein zustimmendes Brummen von sich. "Ich mach's kurz", versprach Jörg und begann zu Dieters Erstaunen mit den Möglichkeiten, die Rügen-Radio bietet: "Da kannst du bei Fleurop Blumen bestellen und Geburtstagstelegramme übermitteln lassen, du kriegst Nachricht, wenn zu Hause einer gestorben ist oder wenn der Klapperstorch was abgeliefert hat. Aber wenn deine Frau die Scheidung, eingereicht hat, erfährst du das erst, wenn du heimkehrst." Mit Hannelore war er seit der Sportschule zusammen. Spitzenathleten wurden aus ihnen nicht. Ihm, dem Mehrkämpfer und Spezialisten für Weitsprung, machte das rechte Knie einen Strich durch die Rechnung, Hannelore,
die Mittelstrecklerin, brachte nicht den erwarteten Leistungszuwachs. Nach dem Abitur nahm sie ein Pädagogikstudium auf, Biologie/Sport, da waren die Jahre des Trainings wenigstens nicht vertan. Er fand sich weniger leicht ab. Es mußte nicht unbedingt ein Weltrekord sein. Aber eine ganz große Bewährung, Teilnahme an einer Europameisterschaft, an den Olympischen Spielen vielleicht, einmal im Platzregen des Beifalls stehen - das hatte in seinen Plänen und Träumen schon eine Rolle gespielt. Zur See war er nicht gegangen, weil er in der Arbeit des Hochseefischers eine Ersatz-Bewährung gesehen hatte: Sie war lediglich eine Möglichkeit, das Stadion, wo er eine Niederlage erlitten hatte, an der er nicht schuld war, hinter sich zu lassen, und zwar weit, sehr weit. Erst allmählich hatte er begriffen, daß das Schiff einen Platz darstellte, wo er sich bestätigen konnte, wo er wichtig war, und Hannelores Verständnis half ihm, sich in das neue Dasein, in den Rhythmus von langer Fahrt und langem Urlaub zu finden. Sie heirateten, ein Jahr darauf wurde Marion geboren, Eltern und Schwiegereltern kümmerten sich - keine Wolke am Horizont. "Bis ich letztes Mal nach Hause kam. Wir hatten vor Labrador gefischt, kein Vergnügen im Spätherbst, aber wem sage ich das . Hörst du überhaupt zu?" "Aber ja doch!" So klar und so laut konnte nur jemand antworten, der hellwach war. "Sie machte nicht viel Federlesens. Sagte es mir gleich am ersten Abend: ,Im Prinzip habe ich nichts gegen dich, gar nichts, nur, daß du so selten da bist, ich kann nicht warten, ich brauch jemanden um mich, und nun bin ich da einem begegnet, es ist besser so.' Das muß erst mal einer begreifen: Das, womit sie früher einverstanden war, ist auf
einmal der Hinderungsgrund!" "Weiberlogik", warf Dieter ein, "oder sie hatte es auf deinen Verdienst abgesehen." "Sie gab mir nicht einmal eine Chance", sagte Jörg bitter. "Ich war bereit, abzumustern und im Hafen zu arbeiten ." "Der andere ist ihr wichtig. Klarer Fall." "Für mich ist da gar nichts klar. Ich werd das wohl nie kapieren." Jörg schüttelte hoffnungslos den Kopf. "Jedenfalls: Meine Schwiegermutter: ,Es tut mir ja leid, Junge, aber du mußt auch Hannelore verstehen.' Mein Vater; ,Ich hab immer befürchtet, daß eines Tages so was kommt, ein Seemann sollte nicht heiraten, also wir töten jetzt diese Buddel hier, dann sieht das schon ganz anders aus.' Marion: ,Jetzt bleibst du wieder ganz lange zu Hause, nicht wahr, Papa?' Da hab ich's nicht mehr ausgehalten. Bin hin zur Kombinatsleitung: Gebt mir einen Dampfer, wo ich aufsteigen kann, sofort; gebt mir Arbeit, die mich nicht zur Besinnung kommen läßt ." Dieter zerrte gedankenverloren am Bart. "Ganz schöner Schlag, so was." Vielleicht hat er deshalb diesen Blick, so durch einen hindurch, so über einen hinweg: als ob er einem Schiff nachsieht, das sich unaufhaltsam entfernt . "Du hättest schon längst mal deine verkorkste Seele ausschütten sollen, Mitschi. Die Kumpels ." Da rückte Jörg trotz der unerwartet vertraulichen Anrede wieder auf Distanz. Das Leben an Bord war nicht jedermanns Sache. Mit vielem hatte Jörg sich abfinden müssen, manchem sich angepaßt. Wenn ihm aber bis heute etwas gründlich zuwider war, dann das Lauem gewisser "Kumpels" auf Nachrichten dieser Art, möglichst garniert mit pikanten Details: Anlaß zu zweifelhaften Mitleidsbekun-
dungen, zu nicht enden wollenden Frotzeleien. Bestimmt ist es ein Fehler gewesen, Dieter einzuweihen. Morgen hat die ganze Schicht einen prima Gesprächsstoff . "Schluß jetzt", sagte Jörg. "Jeder hat eben seinen Seesack zu schleppen." Er legte sich hin, obwohl er wußte, daß er nicht würde schlafen können. Er wußte auch, daß es nicht die Scheidung war, die seine Gedanken fesselte und ihn vielleicht mit Alpträumen heimsuchte: Darüber war er zwar bei weitem nicht hinweg, aber er vermochte es jetzt wenigstens als Tatsache zu nehmen. Etwas anderes war es, was seine Kräfte so sehr ausgehöhlt hatte: das Entsetzen über jenes Etwas, das ihm entglitten und in die Tiefe des Ozeans gesunken war. Jörg krallte die Finger ins Kissen. Darüber müßte man sprechen! Aber mit wem denn! Mit diesem Schönborn etwa? Gibt es überhaupt einen an Bord, mit dem man über so was reden kann? Bleibt eben nun Nicht daran denken. Aber Gedanken nehmen keine Befehle entgegen . Sie fischten wieder. Schleppten und hievten und setzten wieder aus, rund um die Uhr - wie immer. Und doch war es nicht mehr so wie bisher. Bei der Arbeit wurde nur das Nötigste gesprochen, die Atmosphäre in den beiden Messen war gedämpft, Lachen hörte man kaum, und es gab nicht wenige, die während der Freiwache nachdenklich am Schanzkleid lehnten. Die Katastrophe wirkte nach. So nannte man an Bord der ROS 521 das, was sich vor zwei Nächten ereignet hatte, was in der täglichen Kapitänsrunde ebenso eingehend wie die Fangergebnisse erörtert wurde, was die Medien möglicherweise bereits auf allen Kontinenten verbreiteten. Eine Katastro-
phe, die, so tragisch sie war, dennoch insofern nichts Außergewöhnliches darstellte, als jedes Jahr auf den Weltmeeren etwa dreihundertfünfzig Schiffe verlorengehen und Mannschaften den "nassen Tod" sterben. Außergewöhnlich waren die mysteriösen Umstände, unter denen das Unglück eingetreten war. Umstände, über die debattiert und gerätselt wurde und die allem Anschein nach in jene Kategorie einzuordnen waren, von der die Seeleute früherer Generationen sagten: Die Wahrheit kennen nur der Himmel und die See. Der Morgen kündigte sich an. Jörg Mitscherlich drehte sich um: Eine Tür ging, in der Nock zündete sich jemand eine Zigarette an. Im Schein des Feuerzeugs erkannte Jörg Vanselows Gesicht. "Irrtum ausgeschlossen?" "Ich fahre seit acht Jahren." Das war die beleidigte Stimme des Funkoffiziers. "Ich meine ja bloß", lenkte Vanselow ein. "Unbekanntes Schnellboot behindert die Manöver eines bulgarischen Trawlers . Ein Zwischenfall; kommt immer wieder vor . Trotzdem - als eine Alltagsinformation dürfen wir das nicht ansehen. Bleib weiter auf Empfang. Falls Einzelheiten ." "Ich fahre seit acht Jahren. Sagte ich doch." Der Funker verschwand. In Jörgs Kopf überschlugen sich die Gedanken. Dann zog er entschlossen die Arbeitshandschuhe aus und trat zu Vanselow. "Ich muß den Kapitän sprechen." "Der Kapitän schläft." "Es ist wichtig", beharrte Jörg. Vanselow betrachtete ihn aufmerksam. "Vorschlag", meinte er. "Du sagst es mir. Ich werd ihn nämlich ohnehin
wecken müssen. Da ist das ein Abwasch." Jörg überlegte. Im Grunde kannte er Vanselow besser als den Kapitän - durch den Kontakt bei FDJ-Versammlungen und beim Parteilehrjahr. Ein Mann, der seinen Standpunkt nicht irgendwo ablas, sondern ihn sich erarbeitete, der Kritik nicht scheute und Zweifel nicht verschwieg. Jörg hatte Leute erlebt, die einem auf jede Frage sofort eine Antwort um die Ohren schlugen. Vanselow gab zu, etwas nicht zu wissen. So einem mußte man eigentlich vertrauen können. "Ich hab Ihr Gespräch mit dem Fu-Offizier gehört." "Kannst ruhig du sagen." "Das geht mir schwer von den Lippen." Vanselow lächelte. "Deine schweren Lippen sind an Bord ja zur Genüge bekannt. Um dein Gehör scheint es besser bestellt zu sein." Er wurde sachlich: "Was hast du mitzuteilen?" Jörg konzentrierte sich. "Mitteilen . Es ist mehr eine Überlegung. Oder eine Kombination. Der Brand auf dem Koreaner - da ist etwas faul." "Wieso?" fragte Vanselow. "So schnell greift kein Feuer um sich, nicht mal auf einem Tanker, daß das ganze Schiff gleichmäßig in Flammen steht, daß es nicht wenigstens ein paar Überlebende gäbe. Und SOS haben sie auch nicht gefunkt." "Woher weißt du das? Ich meine, daß kein SOS kam?" "Das hat sich rumgesprochen." Jörg schluckte und sah an Vanselow vorbei. "Sie - du weißt, ich bin ins Wasser gesprungen, weil . Ich habe immer wieder darüber nachgedacht, was es gewesen sein könnte, was ich in den Händen gehabt habe. Jetzt bin ich mir sicher: Es war ein Mensch. Und der hatte keinen Kopf mehr."
Vanselow drückte umständlich die Zigarette aus und sah forschend, in Jörgs Gesicht. Ein starker Charakter, dieser Mitscherlich! Vanselow räusperte sich. "Bei Vorkommnissen dieser Art", er suchte nach einem treffenden Ausdruck, "kann es durchaus solch scheußliche Erscheinungen geben." "Die scheußlichen Erscheinungen", sagte Jörg fest und blickte Vanselow jetzt gerade in die Augen, "kommen daher, daß der Brand gelegt worden ist. Es wurde verhindert, daß SOS gefunkt wurde und daß die Leute in die Boote kamen. Und wie verhindert man so was? Wie verliert ein Mann seinen Kopf?" Und da Vanselow schwieg: "Denk an den sogenannten Zwischenfall mit dem Bulgaren! Wenn du mich fragst - da gibt es einen Zusammenhang!" Vanselow schwieg noch immer. Die Helligkeit des Morgens war so weit fortgeschritten, daß Jörg deutlich sehen konnte, wie bleich und müde dessen Gesicht war. Wann schlief er eigentlich, der Hartmut Vanselow? Gab es überhaupt eine Stunde, in der er Briefe nach Hause schrieb, bei einem Buch Zerstreuung suchte oder einfach seinen Gedanken nachhing? "Also Quatsch", sagte Jörg. Es fiel ihm schwer, nicht aufzubrausen. "Seemannsgarn." "Hab ich das behauptet? - Ich verständige den Kapitän." Jörg ging zurück zum Windenfahrstand und legte die Hände auf die feuchten Hebel. In einer halben Stunde würden sie das Netz einholen, und ihm kam der Gedanke, daß es vielleicht das letztemal sein, daß auch sie das Schicksal des Koreaners ereilen könnte, und ihn fröstelte. "Mitscherlich!" Jörg fand den Kapitän im Kartenraum. Eine Lampe warf
einen grellen Lichtkegel auf den Kartentisch. Sandmann harkte mit einem Kamm seine störrischen Haare durch, wieder und wieder, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun. Dann baute er sich vor Jörg auf. "Sieh mich an, Mitscherlich", sagte er. "Deine Mutmaßungen sind nicht von der Hand zu weisen. Aber es sind eben Mutmaßungen, nichts weiter. Ich warne davor, übereilte Schlußfolgerungen zu ziehen." Jörgs Freude über das Du des Kapitäns dauerte so lange, wie Sandmann für ein paar Schritte durch den kleinen Raum brauchte. Dann blieb der Kapitän wieder vor ihm stehen und sagte: "Hör zu, Mitscherlich. Es gibt Dinge, die in einem bestimmten Stadium nicht über die Brücke hinausgehen. Mit anderen Worten: Ich untersage, irgend etwas über deine Vermutungen und über unser Gespräch in die Mannschaft zu tragen und dadurch Unruhe hervorzurufen. Klar?" Eine Handbewegung - Jörg war entlassen. Im Ruderhaus glühten die Kontrollampen der Geräte und Anlagen. Schwaches Schimmern, phosphoreszierendes Leuchten huschte über blanke Flächen, spiegelte sich in Scheiben, brach sich an Kanten. Jörg mochte die Atmosphäre hier; sie vermittelte ein Gefühl von Zuverlässigkeit und Geborgenheit. Jetzt hatte er es eilig hinauszukommen: Sie glauben mir nicht. Sie nehmen mich nicht für voll. Ich bin ja bloß ein einfacher Matrose. Er konnte nicht hören, wie Vanselow im Funkraum sagte: "Eine Verbindung zum Kombinat. Dringend." Vanselow nickte dem Kochsmaat, der ihm eine große Tasse dampfenden Kaffees hinstellte, dankend zu, ordnete seine Papiere und blickte auf Matrosen und Produktions-
arbeiter, die sich in der Messe drängten und auf sein Wort warteten. Als Vanselow die Funktion eines Politoffiziers angetragen worden war, hatte er aufbegehrt: "Ich hab mein Patent, ich will fahren!" Die Genossen hatten nicht lockergelassen: "Natürlich sollst du fahren - zuständig für einen besonderen Aufgabenbereich, für den du nach unserer Einschätzung genau der richtige Mann bist: Kümmere dich um die Menschen an Bord! Sorg dafür, daß das nicht nur eine Losung bleibt: Im Klassenauftrag zur See! Daß unsere Hochseefischer genau wissen, was von ihnen abhängt, wofür sie sich einsetzen! Wir verschweigen dir allerdings nicht, daß es weiter zu lernen gilt, daß du eine hohe Verantwortung übernimmst ." Vanselow rieb sich die geröteten Augen. Vor dem Lernen hatte er sich nie gefürchtet, Verantwortung hatte ihn stets herausgefordert. In all den Jahren, die er als Politoffizier gefahren war, hatte es jedoch nicht annähernd eine Situation gegeben, in der ihn die Verantwortung so gedrückt hatte . Er verständigte sich mit Sandmann und Leppin, dem Zweiten Offizier, und stand auf. "Dieser Versammlung", erklärte er, "muß einige Stunden später eine weitere folgen, und zwar für die, die jetzt an der Maschine, im Fisch oder auf Deck stehen, damit jeder einzelne an Bord informiert ist. Wie ihr wißt, gibt es den Totalverlust eines Trawlers der Koreanischen Demokratischen Volksrepublik samt Besatzung, wie dem Stand der Dinge nach angenommen werden muß. In der letzten Nacht wurde die Behinderung eines bulgarischen Fahrzeugs in offensichtlich provokatorischer Absicht gemeldet." Vanselow hob den Kopf und ließ die Stimme anschwel-
len. "Es ist augenscheinlich, daß die genannten Vorfälle in Verbindung stehen. Daß es sich um gezielte Aktionen handelt. Daß wir es, im Klartext gesprochen, mit skrupelloser Piraterie zu tun haben." Unruhe brach aus. Vanselow blätterte in seinen Unterlagen, die er, nach langen Gesprächen mit dem Kombinat und unterstützt von Kapitän Sandmann, zusammengestellt hatte. "Wir dürfen", sprach Vanselow weiter, und sofort wurde es still, "wir dürfen nicht von der landläufigen Vorstellung ausgehen, es handle sich um Schiffe mit schwarzen Segeln und Totenkopfflagge, um unrasierte Gestalten mit Augenklappe und Enterbeil." Zögernd griff Heiterkeit um sich. Nicht zuletzt wegen seiner Fähigkeit zu ironischer Darstellung genoß Vanselow viele Sympathien. Das Lachen erstarb, als er fortfuhr: Es ist logisch, daß Piraterie sich heute grundlegend von der früherer Zeiten unterscheidet. Die Freibeuter der Gegenwart sind nicht selten mit überaus schnellen Fahrzeugen ausgerüstet. Sie verfügen über die verschiedensten Mittel und Waffen, und sie machen hemmungslos davon Gebrauch. "Das Feuer auf dem Trawler der KDVR zum Beispiel kann nur durch Brandsätze hervorgerufen worden sein, und zwar mit dem Ziel der vollständigen Vernichtung. Und die Mannschaft ." Vanselow dämpfte die Stimme. "Daß ein Sprenggeschoß durchaus in der Lage ist, einem Mann den Kopf abzureißen, kann euch Jörg Mitscherlich bestätigen." Ein paar drehten sich ungläubig zu Jörg um. Der sah mit ruhiger Miene an die Stirnseite des Raumes. Im Innern war er alles andere als ruhig: Die Erinnerung an seinen Versuch, der See ein Opfer zu entreißen, war noch so
frisch, daß sie auch ohne Anstoß immer wieder zupackte. Jetzt, da sein Name genannt worden war, hier vor allen und in dieser Sache, kam ein zweites hinzu, das ihn bewegte: Er hatte nie einen Grund gehabt, die Männer von der Schiffsführung nicht zu schätzen. Nun zeigte es sich, daß er sie unterschätzt hatte. Daß sie sehr wohl etwas gaben auf das Wort eines Matrosen. "Der Schutz der Piraten", führte Vanselow seine Darlegungen weiter, "ist die Dunkelheit, ihr Vorteil das Überraschungsmoment. Auch vor großen und neuen Pötten haben sie keinen Respekt, im Gegenteil: Die fahren auf Grund des hohen Automatisierungsgrades mit zahlenmäßig geringen Besatzungen, die leicht zu überwältigen sind. Der Schaden, der der Schiffahrt durch die Gangster zu Wasser zugefügt wird, ist beträchtlich: In jedem Jahr fallen ihnen Dutzende Einheiten zum Opfer - und die Zahl steigt. Bevorzugte Handlungsräume sind die Karibik, Indonesien, insbesondere die Straße von Malakka, und - die Westküste Afrikas." Es war so still, daß das Zischen des Windes, der hier meist nur mäßig, aber ständig wehte, deutlich zu hören war. Erst jetzt schienen sie richtig begriffen zu haben: Westafrika - davor lagen die Gewässer, in denen sie fischten. Gelesen hatte man ja verschiedentlich etwas darüber. Auch gehört: Der eine oder andere hatte in einer Kneipe jemanden getroffen, der Abenteuerliches erzählte - oder erfand. Selbst dabeigewesen war von denen an Bord der ROS 521 keiner. Nun war das auf einmal ganz nah gerückt. Und Vanselow hatte eine Verbindung hergestellt, die keinen Zweifel daran ließ, daß sie einer ernsten Gefahr gegenüberstanden.
"Verdammt!" Ein Matrose klatschte die Hand auf den Tisch. "Wenn sie über einen Frachter herfallen, die Piraten, wenn sie die Ladung verhökern - da geht es um das große Geschäft. Aber was gibt es denn auf einem Fischereifahrzeug schon zu holen!" "Gut!" sagte Sandmann. "Gut, der Zwischenruf!" Und er sprach gleich weiter, obwohl die Analyse der Hintergründe eigentlich Vanselows Feld war. "Richtig, das mit dem Geschäft. Aber denkt mal an Kuba: versenkte Kutter, verschleppte Besatzungen. Nikaragua: gekaperte Handelsschiffe. Und Angola: Auf der Reede von Luanda beschädigen Haftminen unsere ,Arendsee', an sowjetischen Schleppern ereignen sich rätselhafte Havarien. Das ist politische Piraterie! Wir fischen hier vor Angola. Und ihr kennt die Situation, in der sich Angola befindet; ihr wißt um den Abwehrkampf, den es gegen die politischen Gegner aus dem Süden führen muß. Was gibt es auf einem Trawler schon zu holen - Fisch natürlich. Und wohin liefern wir einen Teil des Fangs? An Angola; so lautet der Vertrag. Vernichtet man also unseren Fisch, trifft man die Bevölkerung des Landes. Kapiert?" Raunen wogte durch die Messe. Natürlich hatte man kapiert. "Folgendes." Der Kapitän fuhr sich durch das störrische Haar. "Selbstverständlich haben wir bereits das Kombinat und die angolanischen Behörden in Kenntnis gesetzt. Wir werden jedoch nicht warten, bis Anweisungen kommen, sondern sofort handeln. Also: den Ausguck verstärken, besonders nachts. Das Schiff im bestmöglichen Zustand halten. Einsatzbereit sein - zu jeder Minute. Und sollte es wirklich zu einer Berührung mit den Piraten kommen: volle Deckung. Wir haben nur ein Leben. Ja - so deutlich
muß man das sagen! Daß wir Kontakt zu den anderen Schiffen halten, versteht sich von selbst; in der Funkerbude glühen die Geräte, das könnt ihr euch denken! Bange machen gilt nicht! Ihr seid doch Kerle! Das habt ihr hundertmal bewiesen!" Schuhe schurrten. Die Männer verließen schweigend den Raum. Draußen traf Jörg auf Dieter Schönborn. Nicht einmal der dichte Bart konnte verbergen, wie bleich dessen Gesicht war. "Mensch, Mitschi", sagte er nur.
Es gab Tage, an denen Kapitän Sandmann die Brücke kaum verließ. Nun streifte er mit Vanselow durch das Schiff, suchte mehr als sonst das Gespräch mit den Männern. Die Gefahr war zu groß, als daß man sich allein auf das Können der Leitung verlassen konnte; hier richteten nur die Kraft und die Klugheit des gesamten Bordkollektivs etwas aus. Darin waren sich Sandmann und Vanselow einig. Entscheidungen fielen auf der Brücke. Aber sie würden desto wirkungsvoller sein, je eindeutiger die Besatzung dahinterstand. Was jedoch die Besatzung betraf - da war Sandmann anderer Meinung. "Das ist nicht das Problem. Ich kenne unsere Leute." "Im Gegenteil - das ist das Hauptproblem, Heiner!" beschwor ihn Vanselow. "Natürlich kennen wir unsere Leute. Aber sind sie noch dieselben wie früher? Was wir ihnen auf der Versammlung gesagt haben - welchen Eindruck hinterläßt das? Fühlen sie sich ausgeliefert? Resignieren sie? Gerade jetzt dürfen wir sie nicht allein lassen, müssen die Verzagten wieder aufrichten!" "Es gibt keine Verzagten", behauptete Sandmann.
Auf dem Dampfer roch es überall nach Fisch. Der Geruch nistete in den entferntesten Winkern und kapitulierte nicht einmal vor einer Überholung des Schiffes. In der Fischverarbeitung jedoch empfing die beiden Männer beklemmender Gestank. Die Maschinen und Bänder lärmten. Der Böden war mit Küt bedeckt. Sie waren in den Schichtwechsel geraten. Vor dem Trokkenraum stießen sie auf einige Arbeiter, die Stiefel und Gummischürzen in den Händen trugen. Juso, wenn die an Bord kommen sollten, ich nehme, was ich gerade in die Flossen kriege, und hau zu. Es ist doch unser Dampfer", meinte einer. "Wer weiß denn, ob es überhaupt zu einem Überfall kommt", sagte ein anderer gelassen. "Die Sache mit dem Trawler - einverstanden. Aber das Boot, das dem Bulgaren in die Quere gelaufen ist . Ich glaube nicht, daß das miteinander zu tun hat." Ein dritter schlenkerte nur ungeduldig seine Stiefel: Sechs Stunden bis zur nächsten Schicht waren nicht viel. "Na, was ist?" fragte Vanselow, als sie wieder auf der Brücke standen. "Gute Stimmung, was?" "Sie wollten uns loswerden", verteidigte sich der Kapitän. "Sie sehnen sich nach Ruhe. Du weißt, wie hart es in der Produktion zugeht. Wer hat da noch Lust, lang und breit zu diskutieren." "Vielleicht haben die da Lust. Zumindest Zeit haben sie." Vanselow wies aufs Vordeck, wo Mitscherlich und Schönborn auf einer Laderaumluke saßen. Seit der Bordversammlung sah man sie häufig zusammen, im Gespräch oder im gemeinsamen Schweigen, das mehr verbinden kann als Worte. Jetzt genossen sie die Sonne: Als die ROS 521 ausgelaufen war, hatten Schnee-
schauer die Silhouette von Rostock schnell außer Sicht gebracht. Vanselow und Sandmann gingen hinunter. Vansekow fragte betont forsch: "Na, Jungs, wie fühlt ihr euch?" "Wie wir uns fühlen ." Dieter Schönborn wußte sogleich, worauf der Kapitän anspielte. Er hob die Schultern. "Wenn ich von mir ausgehe: beschissen, Kapitän. Ehrlich. Da hat man eine Menge Filme gesehen, auch hier an Bord, spannende Streifen, viel Action: Überfall, Raub, Schießerei. Hat sich das angesehen und sich manchmal sogar amüsiert. Und sich nichts dabei gedacht. Oder höchstens: Das ist ja alles erfunden und dick übertrieben, so was gibt's in Wirklichkeit gar nicht. Und wenn doch, dann ist das lange her oder weit weg. Und nun kommt das auf uns zu - nein, es ist schon da! Jede Nacht kann es uns treffen, kann es uns die Bordwand aufreißen, kann uns Feuer in den Kammern einschließen!" Er hatte Mühe mit der Stimme. "Ich hab doch niemandem was getan", sagte er deprimiert. "Ich will bloß meine Arbeit machen. Den Hafen wiedersehen, Rostock, Mecklenburg. Und Christa möchte ich wiederhaben und Birgit und Heike!" Jörg dachte an die Fotos, die Dieter in den Rahmen des Spiegels geklemmt hatte: eine hübsche junge Frau und zwei Mädchen, so zwischen drei und fünf Jahre alt, mit dunklen Haaren und großen fröhlichen Augen. Mehr als einmal war Jörg versucht gewesen, Dieter anzuschreien: Nimm die Bilder weg, verstehst du, nimm sie weg, oder es bleiben nur noch Fetzen davon übrig! Jetzt war er froh, daß er sich unter Kontrolle gehabt hatte. Daß Dieter nicht mehr der alte war, fiel Jörg schon seit Tagen auf. Aber welche Wandlung mit Dieter vor sich gegangen war, wurde ihm erst jetzt bewußt: Die heitere Unerschütterlichkeit,
das Bestreben, die Dinge leichter zu nehmen, als sie waren, die zuweilen verletzende Überheblichkeit - das waren nur Hüllen gewesen, die nun abpellten wie alte Haut. Ein anderer Dieter Schönborn war zum Vorschein gekommen, der wahre. Und Jörg fragte sich: Warum verschließen wir uns voreinander? Wieso muß erst so ein Ereignis eintreten wie neulich nacht, daß wir zeigen, wie wir wirklich sind? Dieser Schönborn - mit dem läßt sich reden, mit dem läßt sich vielleicht durch dick und dünn gehen, wenn man ihn stärkt . "Ehrlich, Kapitän", sagte Dieter leise und sah Sandmann mit flackernden Augen an, "ich habe Angst." Sandmann vermied es, zu Vanselow hinüberzublicken. Dieter Schönborn gehörte zum Stamm der Besatzung. Er war einer von denen, die er genau kannte - zu kennen glaubte. Jetzt wußte er nichts zu erwidern. "Sag doch was, Mitschi", bat Dieter. Inzwischen waren einige weitere Matrosen hinzugetreten. Jörg fand sich auf einmal im Mittelpunkt. Alle Augen richteten sich auf ihn. Schwer, da zu reden. Schwerer noch, mit seiner Meinung nicht hinterm Berg zu halten und Dieter trotzdem Zuversicht zu geben. Jörg stützte das Kinn auf. "Ich werde das nie vergessen den brennenden Trawler, den Mann, der keinen Kopf mehr hatte. Und mir geht's wie dir - auch ich hab Angst, nicht wieder nach Hause zu kommen, obwohl da keine Frau mehr auf mich wartet. Nur, finde ich - Angst lähmt. Sie macht uns kaputt, wenn wir ihr nicht Fesseln anlegen." Dieter begann zu lachen, leise, heiser - das Lachen eines Menschen, der keinen Ausweg sieht. "Fesseln anlegen! Schön gesagt. Und einleuchtend ist es, nicht wahr - Fesseln anlegen, und schon läuft's." Und plötzlich ernst wer-
dend: "Und wie machst du das, Jörg Mitscherlich?" "Indem ich mir immer wieder sage, daß wir hier nicht allein sind. An Bord nicht und nicht im Fanggebiet. Wir sind viele. So um die fünfzig Dampfer. Eine ganz schöne Flotte. Und wenn die zusammenhält ." Die Männer sahen auf die See. Lichtreflexe spielten auf den Wellen. Ein Schwärm Delphine begleitete das Schiff.
Vanselow heftete eine mit dicker roter Umrandung kenntlich gemachte Mitteilung an und rührte sich nicht aus der Nähe des Schwarzen Bretts weg. Er wußte: Hier würde gleich "was los" sein. Und wie die Dinge jetzt standen, war es geradezu gefährlich, Diskussionen auszuweichen. Und Diskussionen gab es. Nachdem der erste gelesen hatte, verbreitete sich die Nachricht mit Windeseile im Schiff. Bald stand vor dem Brett eine Menge von Arbeitern und Matrosen, ein erregter Haufen, aus dem es Vanselow entgegenprasselte: "Die haben schon wieder zugeschlagen!" "Ich sag's ja, jetzt kommen wir dran. Könnt schon eure Abschiedsbriefe schreiben, falls die überhaupt jemand in die Finger kriegt." "Leute, nun behaltet doch mal die Nase oben!" "Was sollen wir denn machen! Die verarbeiten uns doch zu Fischmehl!" "Ich finde, jetzt muß was passieren, sonst ." "Aber genau! Wenn wir uns nicht wehren, machen die einen nach dem anderen fertig, die ganze Flotte! Seht euch doch das an!" Eine Hand klatschte auf das rot umrandete Papier. Der Text lautete: "Heute morgen, 5.20 Uhr, hat ein unbekanntes Fahrzeug
die ROS 523 mit Maschinenwaffen beschossen. Zum Versuch, das Schiff zu entern, kam es nicht: Zwei in der Nähe befindliche portugiesische Trawler eilten unverzüglich zu Hilfe. Daraufhin drehte das Schiff ab. Durch den Beschuß wurden die Aufbauten der ROS 523 in Mitleidenschaft gezogen. Personen kamen nicht zu Schaden." Ein hünenhafter Matrose schüttelte vor Vanselows Gesicht die Fäuste. "Beinahe hätte es unsere Kameraden getroffen! Landsleute! Nun tut doch mal was! Oder wollt ihr, daß die Banditen uns zum Sieb machen?" Und eine schneidende Stimme: "Jeder eine MPi in die Hand! Und dann durchziehen, Dauerfeuer, wozu haben wir denn das bei der Fahne gelernt!" Vanselow hob die Hände, bat geduldig um Ruhe. Daß die Information die Leute bis aufs äußerste aufbringen würde, hatte er vorausgesehen. Bedenklicher jedoch waren die Töne der Ratlosigkeit und der Niedergeschlagenheit. "Folgendes!" Er sprach absichtlich leise, um die Umstehenden zum Zuhören zu zwingen. "Wenn wir den neuerlichen Vorfall analysieren, dann ergeben sich zwei Aspekte. Zum einen werden die Piraten immer unverschämter. Sie fühlen sich offenbar sicher und wagen es nun bereits, gegen Morgen anzugreifen. Andererseits wissen wir jetzt durch die Beobachtungen, die man auf der ROS 523 machen konnte, einiges mehr über Größe, Geschwindigkeit und Bewaffnung des Fahrzeugs, über die Taktik der Piraten. Das wird uns helfen, unsere Maßnahmen zu treffen." Ein paar Sekunden blieb es still. Dann begehrte der Hüne auf: "Maßnahmen! Das ist typisch! Was denn für Maßnahmen? Alles Gerede, Beruhigungspillen, Trostpflaster! Was habt ihr denn bisher unternommen?" Die Debatte hatte eine kritische Wendung genommen: Es
wurde - ob bewußt oder nicht, war unwesentlich, es zählte die Tatache -, es wurde versucht, die Einheit von Mannschaft und Schiffsführung in Frage zu stellen und der Brücke die alleinige Verantwortung zuzuschieben! Dieser Tendenz mußte entschieden begegnet werden. "Paß auf, Schorsch", sagte Vanselow und tippte dem Riesen gegen den Brustkasten. "Es ist richtig, daß ihr von uns", er betonte dieses Wort, "erwartet, daß etwas geschieht. Und ich versichere euch, daß wir unsere Pflichten kennen und danach handeln. Dazu gleich Näheres. Die Sicherheit des Schiffes ist aber Sache aller! Der Kapitän ist kein Leithammel, dem die anderen blind folgen. Er führt ein Kollektiv, in dem jeder seinen Platz hat und mitverantwortlich ist! Deshalb: Wer Vorschläge hat, wie wir wirkungsvoll einen Angriff abwehren können, der teile sie uns mit! Jede Idee kann von Nutzen sein!" Er schwieg, ließ seine Worte wirken. "Nun zu dem, was wir unternehmen werden. Fest steht, daß wir uns nicht der Hoffnung hingeben können, uns werde es schon nicht treffen. Dann trifft es andere, und ich brauche euch nicht auseinanderzusetzen, daß unser Gewissen es uns verbietet, das mit Erleichterung aufzunehmen. Wir werden uns nur behaupten können, wenn die gesamte Flotte, die hier fischt, einheitlich handelt, alle zweiundfünfzig Schiffe." Er dachte an den Koreaner und korrigierte sich: "Einundfünfzig. - Heute abend wird sich die Flotte treffen und ihr Vorgehen absprechen. Über das Ereignis werdet ihr selbstverständlich informiert. Und ich fordere euch nochmals auf, dieses Ergebnis nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern eigene Überlegungen beizusteuern."
Am Abend traf Schiff um Schiff ein, und zur vereinbarten Zeit begaben sich Kapitän Sandmann und Vanselow in Begleitung des Zweiten Offiziers Leppin, der über die besten Sprachkenntnisse verfügte, an Bord der "Walentin Ischtschenko". Kapitän Beloussow empfing sie am Eingang der Messe. Man kannte sich; sie hatten schon einmal gemeinsam gefischt. Die Messe füllte sich. Jede der in diesem Gebiet vertretenen Flottillen hatte eine Abordnung entsandt. Beloussow, ein kleiner, fast unscheinbarer Mann, bat, Platz zu nehmen, und ließ Tee und Gebäck servieren. Dann übergab er Sandmann das Wort. Der erhob sich, strich nervös über den ungebärdigen Schöpf. Es machte ihm nichts aus, gegenüber einer ganzen Mannschaft unbequeme Forderungen durchzusetzen. Jetzt scheute er sich zu unterbreiten, wie er die Lage einschätzte. Immerhin saßen vor ihm erfahrene Schiffsoffiziere aus vier weiteren Ländern. Mußte gerade ihm diese Aufgabe zufallen? Der Gang der Ereignisse hatte es jedoch mit sich gebracht, daß die Initiative auf die ROS 521 übergegangen war: Schließlich hatte sie die Versuche, den koreanischen Trawler und seine Besatzung zu retten, koordiniert. Außerdem übte Heiner Sandmann in der Flottille der Rostokker Schiffe die Funktion des Fangleiters aus. Alles in allem war es also logisch, daß er als erster sprach. Er begann mit der Feststellung, daß die jeweiligen Kombinate, Reedereien beziehungsweise die zuständigen Stellen der Außenministerien mit der Volksrepublik Angola das Recht ausgehandelt hätten, in diesen Gewässern zu fischen. Nun käme es darauf an, aus diesem Recht den größtmöglichen Nutzen zu ziehen, also hohe Fänge nach
Hause zu bringen und Angola den vereinbarten Anteil zu liefern. Andererseits wäre es jedoch verantwortungslos, dieses Recht zu ertrotzen um den Preis von Menschenleben. In den Anweisungen seines Kombinates stünde dieser Punkt an erster Stelle. Die Flottille der KDVR habe sich nach dem Verlust eines Trawlers vom Fangplatz zurückgezogen - eine verständliche Entscheidung. Er selbst könne einem weiteren Verbleiben nur zustimmen, wenn man sich auf gemeinsames Vorgehen einige, das Erfolg verspreche, also: Fortführung des Fischens bei Gewährleistung der Sicherheit aller Beteiligten. Er dachte an das, was Jörg Mitscherlich gesagt hatte, dort auf dem Vordeck, und schloß: "Schiffahrt auf den Meeren kann nur gedeihen, wenn sie sich auf die Solidarität der Seeleute stützt. Auch neute, wo wir moderne Fahrzeuge und zuverlässige Nachrichtentechnik haben." Er setzte sich und wischte sich den Schweiß von den Schläfen. Auch Leppin, der als Dolmetscher fungiert hatte, war die Anspannung vom Gesicht abzulesen. Erholung gab es für ihn jedoch nicht: Der nächste Redner, Beloussow, sprach ebenfalls ausgezeichnet englisch. "Erstens: Alles deutet darauf hin, daß wir es mit einem reaktionären Gegner zu tun haben. Es ist nicht nur sein Ziel, das friedliche Nebeneinander und Miteinander, wie wir Hochseefischer es hier praktizieren, zu stören und zu zerstören. Vielmehr besteht seine Absicht darin, Angola zu schädigen, die dort bestehende Ordnung zu untergraben. Zweitens: Die Erfahrung zeigt, daß der Gegner mit äußerster Brutalität vorgeht. Soeben ist bekannt geworden, daß entgegen bisheriger Annahme einige Matrosen der KDVR den Untergang ihres Trawlers überlebt haben. Sie wurden von angolanischen Küstenfischem gerettet und
nach Luanda gebracht. Inzwischen sind sie soweit wiederhergestellt, daß sie aussagen können. Demnach enterten die Piraten das Schiff, schossen wild um sich, warfen Handgranaten in die Räume der Brücke, wobei die Funkerkabine zerstört wurde, und legten systematisch Brände. Ich bin mit dem Genossen Sandmann einer Meinung", fuhr Kapitän Beloussow fort. "Erfüllen wir weiter unsere Aufgabe - aber mit dem geringsten Risiko. Ich bin ermächtigt zu erklären, daß wir sowjetischen Seeleute zu gemeinsamem Handeln bereit sind." Er trank sein Glas leer. "Ich bitte Sie um Ihre Meinungen, noch mehr aber um Ihre Entscheidungen." Einige Delegationen gönnten sich eine Pause - bei ihnen waren die Entscheidungen bereits gefallen. Andere durchdachten noch einmal die Empfehlungen ihrer Reedereien, erwogen die Größe des Risikos, von dem Beloussow gesprochen hatte. Als erster erhob sich Kapitän Meiro, der die Portugiesen vertrat, und erklärte seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Die Fahrzeuge, die hier unter der Flagge seines Landes fischten, gehörten einer Genossenschaft. Und die hatte es schwer genug, sich gegen die Konkurrenz der großen Unternehmen zu behaupten. Für Kapitän Meiro gab es nur einen Weg: sich den anderen anzuschließen - zumal er aus Erfahrung wußte: Die Partner waren zuverlässig. Kapitän Coreggio von den Italienern dagegen spielte die Bedrohung herunter. Zielgerichtete Aktionen vermöge er nicht zu erkennen; vielmehr sähen die Übergriffe sehr nach Zufall aus. Im übrigen lebe man nun einmal in einer Welt der Gewalt, und darauf müsse man sich eben einstellen und damit leben. Corregio war Kapitän, in einiger-
maßen sicherer Position - und er wollte es bleiben. Kapitän Mladenow, Sprecher der Bulgaren, äußerte sein Befremden über die Interpretation der Lage durch Coreggio. Auch für ihn kam nur ein Zusammengehen mit den anderen in Frage. "Werden wir konkret", nahm Beloussow wieder das Wort. "Welche Schritte schlagen Sie vor?" Nach reichlich zwei Stunden war man übereingekommen: Ab sofort wird nachts nicht mehr gefischt. Die ganze Flotte findet sich, wie heute, abends zusammen, an jeweils anderer Position, und dunkelt ab. Beim Fischen ist auf Sichtkontakt zu mindestens einem anderen Fahrzeug zu achten; laufend sind die Standorte auszutauschen, um gegebenenfalls schnell reagieren zu können. Das Fanggebiet ist nach Norden zu verlagern. Das dürfte den Anmarschweg der Piraten verlängern, so daß Angriffe erschwert werden. Alle Maßnahmen treten sofort in Kraft. Sandmann hob die Hand. "Die Bunker der ROS 523 sind voll. Sie muß erst Luanda anlaufen, zum Löschen." "Wie lange wird das dauern?" "Etwa drei Tage." "Gut", sagte Beloussow. "Lassen Sie bei dieser Gelegenheit die angolanischen Behörden von unseren Festlegungen unterrichten, durch den Kapitän der ROS 523 persönlich. Es ist nicht auszuschließen, daß die Piraten den Funkverkehr mithören. - In drei Tagen also: Kurs Nord!" Zum Abschluß ließ Beloussow den Gästen eisgekühlten russischen Wodka anbieten. "Ich bitte Sie, mit mir das Glas zu erheben auf das Andenken der koreanischen Fischer. Auf unsere Zusammenarbeit. Und darauf, daß unsere Bemühungen erfolgreich sein mögen."
Als Kapitän Sandmann wieder auf der Brücke seines Schiffes stand, bot sich ihm ein phantastischer Anblick: die Flotte im Schmuck ihrer Lichter, die durch die Spiegelung des Wassers vervielfältigt wurden - es hatte den Anschein, als sei hier eine große Stadt vor Anker gegangen. Sandmann seufzte. Dieses Bild würde es in Kürze nicht mehr geben.
Vor Vanselow auf dem Tisch lag ein engbeschriebenes Blatt Papier. "Es sind aus der Mannschaft Hinweise und Vorschläge gekommen, was wir zu unserem Schutz tun können", erläuterte er. "Notiert habe ich sie alle. Gehen wir sie durch und trennen wir sie in brauchbare und utopische." Die Beratung, zu der auch der Funkoffizier, der Chief, der FDJ-Sekretär, der Vertrauensmann der Gewerkschaft und einige Bestleute hinzugezogen worden waren, begann unmittelbar nach der Begegnung auf der "Walentin Ischtschenko". Punkt für Punkt wurde durchgesprochen, und allmählich nahmen die Pläne konkrete Gestalt an: Überprüfung der Maschine. Sie war das Herz des Schiffes, und sollte eintreten, worauf sie sich hier vorbereiteten, würde deren Beanspruchung ungeheuer groß sein. Besondere Fürsorge galt den elektrischen Anlagen und Aggregaten. Ihre Beschädigung schloß Brandgefahr ein, und was Feuer auf einem Schiff bedeutet, hatten sie erst kürzlich erlebt. Dezentralisierung des Vorrats an Arzneimitteln und Verbandmaterial, um sofort und überall auf dem Schiff Hilfe leisten zu können. Der Kapitän stieß energisch den Bleistift auf die Tischplatte: Noch immer lasse die medizini-
sche Betreuung Wünsche offen. Er werde deswegen im Kombinat vorstellig werden; aus dem, womit sie hier konfrontiert seien, müßten entsprechende Schlüsse gezogen werden. Vorrangige Sicherung der Heckaufschleppe. Sie war die kritische Stelle eines Trawlers, ein Tor, das förmlich dazu einlud, sich des Decks zu bemächtigen. Zusätzliche Scheinwerfer sollten so installiert werden, daß gerade die Schleppe voll im Licht lag. Obwohl jetzt, da Schiff bei Schiff lag, in der Nacht ein Angriff kaum noch befürchtet werden mußte. Anbringung weiterer Fender an den Bordwänden . . und so weiter. Schon jetzt zeichnete sich ab, daß anhand der Besatzungsliste, der sogenannten Musterrolle, ein spezieller Alarmplan ausgearbeitet werden mußte, der jedem einzelnen seinen Platz und seine Aufgabe zuwies. Kapitän Sandmann ordnete fünfzehn Minuten Pause an. Angespannte Tätigkeit lag noch vor ihnen. Die meisten gingen ins Freie, um frische Luft zu schöpfen. Achim Dahl, der Erste Offizier, blieb sitzen und nahm eine Zigarette. Er selbst hatte sich immer für einen Gelegenheitsraucher gehalten. In den letzten Tagen war ihm der Griff nach der Schachtel zur Gewohnheit geworden: Der Belastung, unter der sie alle standen, hatte er nur mit äußerster Anstrengung standzuhalten vermocht, und jetzt brach es aus ihm heraus: "Der verdammte Fisch! Alles dreht sich um ihn; Fisch und wieder Fisch, der Fisch muß kommen, koste es, was es wolle, vielleicht sogar unseren Kopf!" Einen Moment lang glaubte Sandmann, sein Erster habe den Fischkoller. Das hatte jeder schon mal durchgemacht oder machte es immer wieder durch, besonders im letzten
Drittel der Fahrt; daß man es satt hatte, an Hols und Tonnen und Prozente zu denken; daß man Fisch nicht mehr riechen, geschweige denn essen konnte, mochte ihn der Koch noch so verlockend zubereiten. Dann begriff der Kapitän, daß es eigentlich nicht der Fisch war, der Dahl zu schaffen machte. Sandmann setzte sich zu ihm. "Achim - hast du unseren Dampfer schon mal von weitem gesehen?" "Hab ich. Ein ungemein häßlicher Pott. Eine Rostschleuder." "Genau. Und es gibt Stunden, da hasse ich diesen häßlichen, stinkenden Pott, ich möchte von Bord gehen und ihn nie wieder betreten. Aber seit jener Nacht - da steht er mir sehr nahe, unser Dampfer. Gegenüber den Medizinern, Landwirtschaftsexperten, Technikern, Lehrern, die in Angola, Mosambique, Nikaragua arbeiten, sind wir doch eigentlich glücklich dran: Sie stehen auf fremdem Boden wir aber haben ständig ein Stück Heimat unter den Füßen. Du winkst ab. Natürlich, du weißt das.. Ich habe es ja auch gewußt. Aber erst jetzt spüre ich, wieviel mir jede Einzelheit wert ist, vom Stag bis zum Kiel - jetzt, wo Gefahr droht!" Sandmann strich sich übers Haar. "Ich könnte dir verbieten, kleinmütig zu werden. Nur: Dir ist ja wohl selbst klar, daß auf einen Offizier alle anderen schauen. Ich bitte dich, Achim, ich bitte dich, hörst du: Mach gerade du jetzt nicht schlapp!" "Ich habe nicht die Absicht schlappzumachen", sagte Dahl. "Aber auch ein Offizier, Heiner, ist ein Mensch! Ein ganz normaler Mensch!" Er zündete eine neue Zigarette an und starrte vor sich hin. Vanselow hatte die Szene aus einer Ecke des Raumes
verfolgt. Was ist aus Achim geworden, dachte er betroffen, aus dem ruhigen, beherrschten Achim Dahl, der immer auf der Höhe seiner Aufgaben gewesen ist und seine Pflicht erfüllt hat mit der Verläßlichkeit eines Uhrwerks. Und ich, Politoffizier, Parteisekretär, habe es nicht bemerkt. Um die Mannschaft hab ich mich gekümmert - nicht aber um die Offiziere. Die stehen fest, habe ich gedacht, jeder einzelne. Er hat ganz recht, der Achim Dahl: Auch ein Offizier ist ein Mensch - und er ist nicht fertig, wenn er von der Schule kommt, und er ist auch nach zehn Fahrten noch nicht fertig. Er trat zu Dahl, der seine Kippe zerdrückte. "Der Fisch, Achim ." "Für den verfluchten Fisch", fiel ihm Dahl ins Wort, "setzen wir unser Leben aufs Spiel." "Falsch, Achim. Wir setzen uns ein. Aber nicht für den Fisch. Wer soll ihn denn haben, den Makrelensegen? Im übrigen: Fisch - das ist austauschbar. Wo du auch fährst, auf einem Frachter oder auf einem Fährschiff oder einem Schlepper - überall kannst du in eine Situation geraten, die von dir das Höchste fordert. Wir haben nun mal so einen Beruf." Dahl hob den Kopf, sah Vanselow an, machte eine Handbewegung, die den Tisch umschloß. "Was, meinst du, findet hier statt?" "Eine erweiterte Leitungssitzung." Dahl lächelte verzerrt. "Ich würde eher sagen: Wir machen den Dampfer klar zum Gefecht!" "Weil wir verantwortlich sind für rund vierzig junge, gesunde Männer, die ohne Tadel ihre Arbeit tun, die Familie haben und eine Menge Pläne. Und worauf wir sie hier vorbereiten, Achim, das ist nicht das Sterben, das ist,
wie man am Leben bleibt!" "Schöner Satz", sagte Dahl. "Hast du dir den ausgedacht?" "Er steht, in anderer Formulierung, bei Alexander Bek, in der ,Wolokolamsker Chaussee'." Solche Bücher zählte Vanselow zu seiner Pflichtlektüre. Achim Dahl verbarg das Gesicht in den Händen. Eine Geste der Abwehr? Ein Versuch, sich zu fangen und in eine andere Richtung zu denken? Vanselow wußte es nicht. Die anderen kamen zurück. "Machen wir weiter", sagte Sandmann.
Seit jener Leitungsberatung waren die Beanspruchungen für jeden an Bord spürbar gestiegen. Da war einmal die tägliche Arbeit. Sie hatten zu fischen, und daran gab es keine Abstriche. Sandmann hatte wieder und wieder gerechnet: Wie groß war die Einbuße, die dadurch entstand, daß während der Nachtstunden nicht gefangen wurde? Noch hievten sie tagsüber pralle Steerts, so um die zweihundertfünfzig Korb, und wenn das anhielt, dürfte das Ergebnis am Ende nicht übel ausfallen. Es konnte aber auch geschehen, daß der Fisch urplötzlich ausblieb; Sandmann hatte das oft genug erlebt. Es war also notwendig, alle Mittel auszuschöpfen, daß wenigstens diese zweihundertfünfzig Korb kamen und mit möglichst geringen Verlusten eingefrostet wurden. Und so überließ Sandmann nur selten einem anderen seinen Platz auf dem sogenannten Jagdsitz, von dem aus er alle Geräte im Blick hatte, die ihm gestatteten, Fischschwärme ausfindig zu machen und das Schiff danach zu führen. Versuchsweise ließ er auf allen Schiffen der Flottille die Schleppgeschwindigkeit erhöhen; manchmal hatte auch das etwas
eingebracht. Die Bezeichnung Jagdsitz hatte übrigens ihre Berechtigung: Sandmann war ja ein Jäger, nur daß ihn nicht Leidenschaft trieb, sondern Pflicht: Reiche Beute wurde von ihm nicht erhofft, sie wurde erwartet. Abends, nach dem letzten Hol, kontrollierte er die Ausführung der beschlossenen Maßnahmen. Dann tauchte er unversehens in den Kammern auf, durchforschte Winkel, für die er sich nie interessiert hatte, und drang auf Einhaltung einer peinlichen Ordnung. Gegebenenfalls holte er die Leute aus den Kojen: "Ich mache euch Beine!" Er schränkte die Ausgabe des Alkohols drastisch ein und untersagte Jörg Mitscherlich, der für die Zeit, da sie schleppten, stets ein Buch in Reichweite hatte, das Lesen: "Nimm ein Glas und beobachte die Kimm!" Sie fischten. Das war an sich eine harte Sache. Und zusätzlich trugen sie die Last der Ungewißheit: Was wird werden? Besonders nervenaufreibend waren die Nächte auf dem finsteren Schiff. Vor die Bullaugen waren die Blenden geklappt, die Luft in den Kammern war stickig, eine Klimaanlage gab es auf diesem Trawlertyp nicht. Die Männer wälzten sich im Halbschlaf, oder sie tauschten flüsternd ihre Besorgnisse aus; sie kamen sich eingesperrt vor, und eines Nachts schrie einer und schlug um sich, Leppin gab ihm eine Injektion. Wenn der Morgen anbrach, besserte sich die Stimmung. Man überrechnete die Tage. Die Einsatzzeit näherte sich ihrem Ende. Bald würde die "Mama" eintreffen und diesmal neben Ausrüstung, Ersatzteilen und Proviant auch die ablösende Mannschaft mitbringen, sie würde den Fang und sie selbst übernehmen und nach Luanda bringen, von wo aus die Heimreise mit dem Flugzeug angetreten wurde.
Saß man erst mal in der Maschine, maß man die Zeit nur noch nach Stunden . Eines Abends traf Kapitän Sandmann bei einem Rundgang über das Fangdeck auf Dieter Schönborn und Jörg Mitscherlich. Sie lehnten an einem Spill und waren so in ihre Unterhaltung vertieft, daß sie Sandmann nicht kommen hörten. "Bald haben wir's geschafft, Mitschi", sagte Dieter. Jörg nickte. "Vielleicht machen wir uns unnötige Gedanken. Seitdem sie bei der ROS 523 abgeblitzt sind, haben sie sich nicht mehr gerührt. Sie haben die Büx voll, die Gangster!" "Ich wünsche es ihnen", mischte sich der Kapitän trokken ein. "Ich will euch die Zuversicht nicht nehmen, Jungs. Aber kann es nicht sein, daß sie sich absichtlich zurückhalten, um uns in Sicherheit zu wiegen?" Dieter wies über Bord. "Da liegt die ganze Flotte. Alle machen mit." "Mit Ausnahme der Italiener." "Was ist denn mit denen?" Auf eine solche Frage hätte Sandmann früher kaum geantwortet. Die Ereignisse der letzten Zeit hatten ihm jedoch vor Augen geführt, daß es angebracht war, die Mannschaft auch über Zweifel und Sorgen der Schiffsführung zu unterrichten. "Sie geben ihre Positionen nicht zur vereinbarten Zeit durch, manchmal gar nicht. Und in der Nacht halten sie sich abseits von der Flotte, als wollten sie demonstrieren: Eigentlich gehören wir ja gar nicht dazu. Wie sehr kann man also auf sie bauen?" "Wenig", sagte Dieter. "Überhaupt nicht. Halbe Verbündete sind keine!" Irgendwo knarrte es leise in der Verspannung. Eine
Welle schlug. "Wir packen's schon, Kapitän", sagte Jörg. "Wir werden doch nicht stillhalten." Langsam wandte sich Dieter ihm zu. Sah ihm in die Augen. Faßte ihn schließlich bei den Schultern. "Weißt du, was du da gesagt hast, Mitschi?" Dann ließ der Griff nach. "Ist ja doch Unsinn. Schnapsidee ." "Was denn? Wieso denn, Dieter?" Der winkte ab. Jörg zog ihn am Arm herum. "Du hast mal zu mir gesagt: Mach endlich den Mund auf! Ich habe auf dieser Fahrt einiges begriffen. Auch das: Schweigen schadet. Dem einzelnen und allen. Wenn ich mich dir sofort anvertraut hätte, den wirklichen Grund, warum ihr mich in die Kammer schleppen mußtet: der Mann ohne Kopf - vielleicht hätten wir viel eher kapiert, daß der Brand des Koreaners nicht einfach ein Unglücksfall war! Statt dessen habe ich dir die Geschichte von meiner Scheidung aufgetischt . Mach den Mund auf, Dieter! Wenn deine Idee eine Schnapsidee ist, wird sich das herausstellen, und dann kann man sie vergessen. Wenn aber nicht ." Dieter holte eine Streichholzschachtel hervor und schüttete sie auf Deck aus. Der Kapitän knipste eine Taschenlampe an. Das Licht fiel auf einen Haufen Hölzer. "Wir werden nicht stillhalten, hast du gesagt." Dieter ordnete die Hölzer. "Das sind unsere Schiffe. Dies hier", er brach ein Ende ab, "die Piraten. Wenn sie kommen dann müssen die Schiffe in Bewegung sein! In einen stehenden Zug kannst du ohne Probleme einsteigen. Aber spring mal auf einen fahrenden ,- da brichst du dir alle Gräten!" Er schaute noch eine Weile auf die Hölzer, wischte sie dann durcheinander. "Spielerei wahrscheinlich.
Und wenn nicht - ist bestimmt schon besprochen worden, neulich auf der ,Ischtschenko'." "Ist nicht besprochen worden", erwiderte Sandmann, "so genau nicht. Und es ist auch keine Spielerei. Natürlich können wir davon ausgehen, daß jede Mannschaft ihr Schiff zu führen versteht, daß sie schnell und umsichtig reagiert. Aber es kommt darauf an, daß alle dasselbe tun; Koordination . Danke, Dieter." In dieser Nacht geschah nichts Besonderes. Nur, daß lautlos Boote von Schiff zu Schiff eilten .
Man verlor keine Zeit. Gegen vier Uhr morgens meldete sich die ROS 523 aus Luanda zurück, und wenig später nahm die Flotte Fahrt auf - Kurs Nord. Sandmann und Dieter Schönborn standen in der Nock, die Gläser vor den Augen. Die Nacht war nicht völlig finster, außerdem waren die Positionen bekannt, und so wußte man auf der ROS 521, daß voraus die Bulgaren und Portugiesen fuhren, dwars backbord die sowjetischen Schiffe, steuerbords die Italiener, und im Kielwasser folgten die Rostocker Fahrzeuge. Dieter sah auf die Uhr. Jede Minute brachte sie weiter aus der Gefahrenzone. Bald würde es dämmern - schnell, beinahe wie im Zeitraffer, verglichen mit dem Hellwerden in heimatlichen Breiten. Die Sonne würde steigen - und dann war alles ausgestanden . "Verflucht", knurrte Sandmann. "Die drehen doch wohl nicht etwa ab?" "Wer?" "Wer schon. Die Italiener!" Dieter holte sie sich ins Glas. "Sie drehen nicht nur ab, Käpt'n. Die fieren. Sie fischen!"
"Ich hab's gewußt!" Sandmann ballte die Fäuste. "Ich hab's ja gewußt!" "Sehen Sie mal da, Käpt'n!" Sandmann preßte das Glas an die Augen, suchte. Dann hatte er sie: zwei Boote, jachtähnlich, aber flacher, hielten mit hoher Geschwindigkeit auf den Italiener zu, der der ROS 521 am nächsten stand. Normalerweise wären sie nicht auszumachen gewesen - die Bugwelle verriet sie. Plötzlich ratterte es in der Feme. "Schüsse!" rief Dieter. "Hart steuerbord!" schrie Sandmann. "Alarm!" Er stürzte in den Funkraum. Die Glocke riß die Männer aus den Kojen. Sie taumelten, liefen an ihre Plätze. Die Maschine schuftete. Der Rumpf der ROS 521 bebte. Sandmann kam zurück, überzeugte sich: Ja, die Flotte schwenkte ein. Jetzt galt's! Er warf einen Blick auf Leppin, der am Ruder stand: mit schmalen Lippen, die Konzentration selbst. Eine richtige Entscheidung, dachte Sandmann. Achim Dahl hatte er mit Aufgaben unter Deck betraut: Der, in seiner gegenwärtigen Verfassung, hier auf der Brücke . "Dieter!" rief Sandmann. "Komm rein! Schott zu!" Schnell näherten sie sich. Die Scheinwerfer der Schiffe zerschnitten das Dunkel. Die Vorgänge waren nun bereits ohne Glas zu verfolgen. Eben jagte ein Boot der Piraten am Heck des italienischen Trawlers vorbei. Plötzlich bäumte es sich auf, stand steil in der Luft, klatschte dann aufs Wasser zurück, krängte stark nach Steuerbord. "Der hängt fest!" rief Dieter triumphierend. "Wahrscheinlich die Kurrleine - ist in die Schraube geraten!" "Backbord!" befahl Sandmann. "Wir wollen dem Italiener nicht das Netz in den Grund fahren. - Deckung!"
schrie er. Sie warfen sich zu Boden. Die Piraten waren kaltblütig. Sie bemühten sich nicht nur, die Schraube wieder freizubekommen, sondern eröffneten auf die ROS 521 das Feuer. Leppin hatte mit einem schnellen Blick die Situation erfaßt und ließ sich auf die Knie fallen, ohne die Hände loszulassen: Er steuerte das Schiff blind. Geschosse prasselten. Scherben streuten. Querschläger flogen mit widerwärtigem Sirren vorbei und klatschten in Wände und Decke. Sandmann hob den Kopf und sah seinen Dritten Offizier. Und er sah, daß der keineswegs lag, sondern stand. Und er erkannte, daß da durchaus kein Leichtsinn im Spiele war: Der Dritte hatte sich klug in einen Winkel gepreßt, das Gesicht an die Wandverkleidung gedrückt, und nun, da die Rückseite der Brücke sie vor Beschüß schützte, wagte er es hinauszuspähen. Was er mitbekam, genügte, daß er sich das Bevorstehende auszumalen vermochte: Die ROS 521 driftete auf den Italiener zu. "Achtung!" warnte der Dritte - und dann gab es trotz der Fender einen derartigen Stoß, daß alles, was nicht niet- und nagelfest war, durcheinander flog und sprang und rollte. Auch der Dritte schwankte, lief dann zu einem der zu Bruch gegangenen Fenster. Sandmann raffte sich auf. Glas schnitt in seine Hände, er fluchte und stürzte dem Dritten nach. Auch Leppin stand wieder, gab Anweisungen an die Maschine durch, drehte das Schiff vom Trawler weg . "Vorsicht!" rief Sandmann, als das Heck des Italieners wieder in Sicht kam. Aber die Piraten schossen nicht. Ihr Boot war frei. Die Schraube begann das Wasser aufzuwerfen. "Sie entkommen!" rief Dieter, und in seiner Stimme schwang Enttäu-
schung. Irgendwie hatte man sich das anders vorgestellt. Zum Beispiel so: Ein Netz darüber, und Mitscherlich hievt die Bande an Deck. Man stürzt sich auf sie - Seeleute beherrschen viele zuverlässige Knoten. Und dann schreitet man die Reihe der Gefesselten ab und blickt in die Gesichter von diesen Leuten . Solche Szenen waren während der nächtlichen Gespräche in der Phantasie der Männer abgelaufen wie Abenteuerfilme. In Wirklichkeit wurde kein Netz geworfen, und es wurden keine Knoten geknüpft. Das Boot schoß vorwärts. Doch da schob sich ihm ein Bug in den Weg, und von Steuerbord glitt wie eine Mauer ein Rumpf heran, vergleichsweise langsam, fast träge, aber unaufhaltsam. Auch die Nerven von Piraten sind nicht unbegrenzt belastbar. Sie schossen wieder, wütend, ziellos auf die Schiffe, die näher rückten, sie einschlossen; der Bootsführer unternahm ein verzweifeltes Manöver - das letzte: ohrenbetäubendes Krachen. Wirbelnde Bootsteile. Säulen aus Gischt, die sekundenlang standen, ehe sie in sich zusammenfielen . Vanselow, der sich auf dem Fangdeck aufgehalten hatte, wankte herein und hielt sich den Kopf: Der Zusammenprall mit dem Italiener hatte ihn gegen das Schanzkleid geschleudert. "Bei uns alles okay", sagte er und verschwand im Funkraum. Sandmann klopfte Dieter Schönborn anerkennend auf die Schulter. "Ein Labyrinth, das sich ständig verändert. Wer es da wagt . Du hattest schon recht." Dieter, noch völlig unter dem Eindruck dessen, was sich eben abgespielt hatte, brachte nur ein verwirrtes Lächeln zustande.
Auf einmal sackte der Dritte zu Boden. Aus seiner Hüfte quoll Blut - ein Querschläger, ein Splitter. "Verbandzeug!" schrie Sandmann. "Schnell!" Während Dieter loslief, riß Sandmann dem Dritten das Hemd herunter. "Schluß", sagte Vanselow von der Tür her. "Auch das zweite Boot ist ." Er erblickte den Dritten, auf der Wunde den Mull, der sich rot zu färben begann, und verstummte. Dann machte er ruckartig kehrt und wies den Funker an, eine Verbindung zu Kapitän Beloussow herzustellen. Die "Walentin Ischtschenko" hatte einen Arzt an Bord. Leppin handelte unverzüglich, ein Zittern lief durch den Rumpf der ROS 521, sie nahm Kurs auf. Sandmann kniete immer noch neben dem Dritten. Der lag schwer atmend, mit geschlossenen Augen. Eine schmächtige, sehr jungenhafte Gestalt. Ein schweigsamer Milchbart, der für die Seefahrt nicht zu taugen schien .