Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 528 Die Chailiden
Geheimnisse von Ushun von Horst Hoffmann
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 528 Die Chailiden
Geheimnisse von Ushun von Horst Hoffmann
Auf der Spur des unsichtbaren Gegeners
Alles begann im Dezember des Jahres 3586, als Perry Rhodan mit seinen Gefährten die SOL verließ und zur BASIS übersiedelte, nachdem er den Solgeborenen das Generationenschiff offiziell übergeben hatte. Seit dieser Zeit, da die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Im Jahr 3791 ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Nach einer langen und dramatischen Rettungsaktion, die Atlan, nur von wenigen Helfern unterstützt, erfolgreich abschloß, konnte das Schiff schließlich das Mausefalle‐System verlassen und wieder frei seines Weges ziehen. Gegenwärtig hat die SOL ihren Flug im Chail‐System unterbrochen. Atlan, Bjo Breiskoll und Wajsto Kölsch sind von Bord gegangen und auf der Welt der Chailiden gelandet, um das Rätsel des Volkes der Meditierenden zu lösen. Bei ihren Untersuchungen stoßen Atlan und seine Gefährten auf DIE GEHEIMNISSE VON USHUN …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide versucht die Geheimnisse von Ushun zu enträtseln. Bjo Breiskoll und Wajsto Kölsch ‐ Atlans Gefährten. Heldis ‐ Ein junger Chailide verschwindet. Shyra ‐ Heldisʹ Geliebte. Malo‐Tees ‐ Ein Veraghe. SʹDunikh ‐ Ein Roxhare auf Chail.
1. »Ushun«, sagte Snowar und deutete auf die Stadt hinab, die so gleichmäßig von hohen, felsigen Hügeln umgeben war, als hätte die Natur selbst diese aus einer Laune heraus um die Ansiedlung der Chailiden herum wachsen lassen. Nur wenige Pfade führten zwischen ihnen hindurch nach Ushun, und auf diesen war die Stadt um ein Vielfaches bequemer zu erreichen als über die Anhöhe, auf die Snowar die Gefährten geführt hatte. Atlan hatte ihn nicht nach seinen Beweggründen gefragt. Jetzt glaubte er, sie zu kennen. »Die Blaue Stadt«, flüsterte Snowar, als hätten die Bäume und Felsen Ohren, die jedes zu laut gesprochene Wort aufnahmen. Der Chailide hob den Arm noch ein Stück und deutete mit dem Zeigefinger auf das Land hinter den Hügeln. »Die Blaue Stadt der Roxharen.« Atlan kniff die Augen zusammen. Die Sonne stand bereits tief. Als glutroter Ball hing sie fast genau über den nur schemenhaft erkennbaren Bauwerken im Westen von Ushun. Atlan glaubte, Kuppeln und Türme erkennen zu können. Doch das mochte täuschen, einem in seiner Vorstellung vorgefaßten Bild entsprechen. Die untergehende Sonne blendete. So nahe! dachte er. Wajsto Kölsch blickte ihn vielsagend an. Er und Bjo Breiskoll wußten so gut wie der Arkonide selbst, daß allein die Roxharen sie
zur SOL zurückbringen konnten, falls nicht ein Wunder geschah und Chart Deccon weitere Beiboote nach Chail schicken würde. Das war unwahrscheinlich. Erstens traute Atlan dem High Sideryt einen solchen Sinneswandel nicht zu, und zum anderen war ihm das Schicksal der CAMELOT noch allzu gut in Erinnerung. Er versuchte, die Gedanken an die SOL zu verscheuchen, denn sonst stellte sich die Frage, ob das ehemalige Fernraumschiff Perry Rhodans überhaupt noch im Orbit um Chail stand. Jede Verbindung war abgerissen. Es gab keinen Funkverkehr, und auch Bjo vermochte niemanden an Bord des Schiffes auf telepathischem Weg zu erreichen – nicht einmal Sternfeuer. Nein, dachte Atlan bitter. Wir sind auf uns selbst gestellt. Früher oder später würde es notwendig werden, den Kontakt zu den Roxharen zu suchen. Vorerst jedoch gab es anderes zu tun. »Es sind nur etwa eineinhalb Tagesmärsche bis zur Blauen Stadt«, sagte Snowar, wobei er Atlan beobachtete, als versuchte er, eine Gefühlsregung aus dem maskenhaft starren Gesicht des Arkoniden herauszulesen. Atlan schüttelte den Kopf. »Ushun ist unser Ziel«, sagte er. »Wir sollten zusehen, daß wir vor Einbruch der Dunkelheit dort sind. Gibt es noch etwas, das wir wissen sollten, bevor wir die Stadt betreten?« Die Murlen begannen unruhig zu werden. Nach dem anstrengenden, zweitägigen Ritt durch die Wildnis sollte den störrischen Tieren die Rast guttun. Doch schien es, als übte die Nähe der Stadt eine geradezu magische Anziehungskraft auf sie aus. Bislang hatte Snowar sich über ihr Ziel ausgeschwiegen. Nun erklärte er: »Ushun gleicht in vielem Syrgan. Ihr werdet bald sehen, daß ihre Bewohner sich noch weniger als die Außenseiter in Syrgan mit den Traditionen verhaftet fühlen. Der hauptsächliche Unterschied besteht jedoch darin, daß es in Ushun sechs Familien gibt.« »Familien?« fragte Bjo Breiskoll irritiert.
»So werden sie hier genannt. Es handelt sich um die typischen, chailidischen Lebensgemeinschaften, wie ihr sie kennengelernt habt. Ihre Häuser bilden einen eigenen kleinen Bezirk am westlichen Rand der Stadt, um die Hütte des Uralten.« »Ein Uralter?« entfuhr es Atlan. »Hier, bei den Außenseitern?« Snowar lachte trocken. »Es gibt einiges, das in Ushun nicht zusammenzupassen scheint. Ihr werdet es ja sehen. Die Mitglieder dieser sechs Familien sind überaus selbstbewußt, fast arrogant. Sie werden mit großer Hochachtung behandelt, sind aber im Grunde genommen in Ushun nicht sonderlich beliebt. Viele wittern in ihnen Spitzel der Uralten – und denen ist man hier alles andere als freundlich gesinnt.« »Ich verstehe«, murmelte Wajsto Kölsch. Snowar blickte den Magniden spöttisch an. »Wirklich?« Er brachte sein Murl zur Ruhe. »Ihr solltet noch die Namen dieser Familien kennen. Ich werde mich nicht ständig um euch kümmern können, und dann ist es gut, wenn ihr Bescheid wißt, wenn von den Heldim, den Assora, den Rhiskor, den Yuban, den Faridar und den Komondat gesprochen wird. Zu jeder Familie gehören etwa dreißig Personen.« »Von denen einige, euren Gewohnheiten entsprechend, in der Wildnis unterwegs sein dürften«, vermutete Atlan. »So ist es, mein silberhaariger Freund. Nun laßt uns keine Zeit mehr verlieren. Was ich euch nicht sagen kann, werdet ihr mit ein wenig Geschick in einer der Schankstuben erfahren. In Ushun wird großer Wert auf Geselligkeit gelegt und viel getrunken, manchmal zuviel. Auf den Hängen der Hügeln gedeihen ausgezeichnete Reben, und die Stadtbewohner verstehen sich aufs Keltern.« Überrascht blickten die Gefährten sich an. Snowar schien jedoch nicht bereit zu sein, noch länger zu warten. Er trieb sein Murl an, und diesmal blieb es nicht wie festgewachsen stehen, sondern machte einen Satz nach vorn, daß es den Chailiden fast aus dem
Sattel warf. »Was sind Reben?« fragte Kölsch. Am letzten Wort verschluckte er sich fast, denn gleich Snowars Reittier setzten sich nun auch die anderen Murlen bockend in Bewegung und suchten sich über das Felsgestein ihren Weg den Hügel hinab. Kölsch schrie auf und schlang die Arme um den Hals des Murls, um nicht abgeworfen zu werden. Atlan und Breiskoll erging es nicht viel anders. Doch sicher wie Bergziegen sprangen die pferdegroßen Tiere von einem Felsen zum anderen, fanden Halt und bewegten sich über die schmalsten Leisten, bis bewachsenes Gelände erreicht war. Die Gefährten folgten Snowars Beispiel und blieben flach auf den Rücken der Murlen liegen, als Zweige über sie hinwegpeitschten. Nach einer Weile ging es über einen ausgetretenen Pfad weiter bergab, an einigen außerhalb der eigentlichen Stadt vereinzelt stehenden und offenbar verlassenen Hütten vorbei. Atlan konnte sich keine rechte Vorstellung vom »geselligen Treiben« in Ushun machen. Er dachte an Syrgan und die bösen Überraschungen, die er dort erleben mußte – an Crusok und an dessen Mordpläne. So sah er den Tagen in Ushun mit gemischten Gefühlen entgegen. Waren die Konflikte nicht allein durch die sechs Familien vorprogrammiert, von denen Snowar recht geheimnisvoll gesprochen hatte? Wo bereits Spannungen existierten – mußte da das Auftauchen von Fremden nicht wieder wie ein Katalysator wirken? Atlan nahm sich vor, alles zu tun, um eine ähnliche Entwicklung wie in Syrgan von vorneherein zu vermeiden. Dennoch beschlichen ihn dunkle Vorahnungen, als das Tal erreicht war und die Murlen, nun ruhiger geworden, ihre vier Reiter über gepflasterte Straßen in die Stadt trugen, von deren Bewohnern er sich Antworten auf so viele Fragen erhoffte. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt. Zwischen zum Teil zweigeschossigen Häusern aus Holz, behauenen Steinen oder
gebrannten Ziegeln waren Chailiden dabei, an hohen Pfählen lose aufgehängte Öllampen anzuzünden. Sie drehten sich um, als sie das Hufgetrappel der Murlen hörten. Einige winkten Snowar freundschaftlich zu und begrüßten auch seine Begleiter, wenn auch etwas zurückhaltender. Atlan drehte sich nicht um, aber er glaubte, prüfende, mißtrauische Blicke in seinem Rücken förmlich spüren zu können. War die Kunde von ihrem Eintreffen bereits unterwegs zu den Familien – zum Uralten? Atlan war fest entschlossen, wenigstens dieses eine hier herauszufinden – was es mit diesen mysteriösen Uralten wirklich auf sich hatte, wer sie überhaupt waren. Vieles von dem, was Crusok über sie gesagt hatte, war seinem Haß entsprungen. Dennoch war Atlan klar, daß kein Weg an den Uralten vorbeiführte, wollte er endlich die Wahrheit über Chail, die Chailiden und die Roxharen erfahren. Und erst dann konnte er daran denken, der Blauen Stadt einen Besuch abzustatten. * Vorerst ließ sich alles recht gut an. Snowar machte keine langen Umwege. Wie er sein Murl durch die schmalen Straßen trieb, machte deutlich, daß er sich in Ushun gut auskannte. Er schien viele Freunde hier zu haben. Einmal glaubte Atlan zwei Chailiden flüstern zu hören: »Snowar ist zurückgekehrt!« Bei aller Zurückhaltung und jedem vielleicht verständlichen Mißtrauen Fremden gegenüber gaben die Bewohner der Stadt sich freundlich und zuvorkommend. Vor einem zweigeschossigen Haus brachte Snowar sein Reittier zum Stehen und hob einen Arm. Er mußte sich halb im Sattel umdrehen, denn die Straße war nicht breit genug, um alle vier
Männer nebeneinander reiten zu lassen. Snowar deutete auf das Haus. Wie fast alle in Ushun und auch Syrgan, war es viereckig, von nahezu exakt quadratischer Grundform. Zur Straße hin war es offen. Unter der Überdachung sah der Arkonide zwei Türen, die ins eigentliche Gebäude hineinführten. Dahinter, so wußte er, befanden sich Räume, die auch untereinander verbunden und um einen quadratischen Innenhof herum gruppiert waren. Diese Höfe waren Kochstellen und Versammlungsorte. In den Dörfern der Chailiden bildete ein besonderer Raum, meist in der nördlichsten Ecke eines Gebäudes gelegen, das geistige Zentrum der Häuser. Ein solcher Meditationsraum war in der Regel in zwei Abschnitte unterteilt, von denen einer eine geschlossene, fensterlose Kammer mit einem Ausgang zum Innenhof war, der andere ein Raum direkt an der Außenmauer gelegen und mit freiem Blick zum Himmel. Ob dies hier nun gleichermaßen der Fall war, wußte der Arkonide nicht zu sagen. Das Treiben auf den Straßen deutete darauf hin, daß in Ushun ebenso wenig meditiert wurde wie in Syrgan. Aber sicher gab es hier wie dort Ausnahmen. Mit Sicherheit bildeten die Häuser der sechs Familien solche. »Hier werdet ihr euer Quartier aufschlagen können!« rief Snowar. Er ließ sich vom Murl gleiten und ging auf die überdachte Veranda zu, als eine der Türen aufgerissen wurde und vier, fünf Chailiden erschienen. Atlan nickte den Gefährten zu. Auch sie saßen ab, Kölsch mit einigen Schwierigkeiten. »Ein bockiges, stures Biest bist du!« beschimpfte der Magnide sein Murl. Er griff sich in die Haare. »Wie kann jemand nur auf die Idee kommen, auf Tieren zu fahren!« Atlan lächelte. Die Schwierigkeiten, die vor allem Kölsch noch hatte, waren gering im Vergleich zu den ersten Stunden auf einem Planeten. Er wandte seine Aufmerksamkeit Snowar und den Chailiden zu.
Zwei von ihnen waren Frauen, davon eine noch sehr jung. Im Licht der Öllampen von der Straße und dem aus dem Gebäude dringenden hellen Schein wirkte ihre Haut wie mit schimmerndem, poliertem Kupfer überzogen. Das lange, blaue Haar schien ebenfalls zu leuchten. Die Männer trugen es im Nacken zusammengeknotet, die Frauen in vielen dünnen Zöpfen. Gekleidet waren die Planetarier nicht viel anders als auch in Syrgan und den Dörfern – die jüngeren in ihre farbenprächtigen Phantasiekostüme, die älteren schlichter. Was sie um die Lenden geschlungen hatten, sollte in erster Linie die Blößen bedecken. Die Begrüßung war überschwänglich, wie bei engen Freunden oder Verwandten, die sich lange Zeit nicht mehr gesehen hatten. Atlan versuchte, einiges von dem aufzuschnappen, was geredet wurde. Doch offenbar war sein kleiner Translator überfordert. Viel mehr als das, was das Gerät ihm übersetzte, sagten ihm die Gesten der Chailiden, die er inzwischen gut zu deuten gelernt hatte. Endlich drehte Snowar sich zu ihm um. Er deutete auf die Ankömmlinge, sagte noch etwas zu seinen Artgenossen und winkte Atlan, Bjo und Kölsch dann heran. Auf sein Zeichen kümmerte sich einer der Chailiden um die Murlen. »Atlan«, begann Snowar. »Dies hier sind Freunde, bei denen ihr wohnen könnt.« Er stellte sie der Reihe nach vor: »Mugon, Slekst, Nahda und Shyra. Mugon ist das Oberhaupt dieser Familiengemeinschaft.« Atlan lächelte und nickte den vieren zu. Shyra, die jüngste der Gruppe, blickte ihn lange neugierig an. »Wohnt hier, solange ihr wollt«, sagte Snowar. »Ich selbst werde die meiste Zeit über ebenfalls hier sein. Bin ich es einmal nicht, dann werden sie sich um euch kümmern. Sagt ihnen nur, was ihr möchtet. Shyra wird euch jetzt eure Quartiere zeigen. Danach könnt ihr euch entscheiden, ob ihr schlafen oder euch in der Stadt umsehen wollt.« »Für mich keine Frage«, seufzte Kölsch. Er rieb sich über den Rücken. »Ich bin hundemüde.«
»Die Nacht ist die beste Zeit, um neue Kontakte zu knüpfen«, meinte Snowar vielsagend. »Vor allem die Zeit für Fragen und Antworten, wenn der Wein die Zunge der Chailiden gelockert hat.« »Mag sein«, brummte Kölsch. »Ich lege mich trotzdem aufs Ohr.« »Wir sollten ausgeruht sein«, stimmte Bjo ihm zu. Atlan nickte und legte dem Katzer die Hand auf die Schulter. »Sicher hast du recht, Bjo. Ich für meinen Teil …« »Verstehe schon. Der Wein.« Atlan lachte. Die Chailiden blickten sich etwas irritiert an. Inzwischen waren die Murlen, auch die Packtiere, hinter das Haus geführt worden. Die Nacht war schwül warm, irgendwo sangen Vögel, und große, leuchtende Insekten umschwirrten die Lampen. Chailiden kamen die Straße entlang, warfen den Fremden neugierige Blicke zu und grüßten. Unwillkürlich mußte der Arkonide an die Dörfer denken, in denen sich die Meditierenden bei Einbruch der Dunkelheit zurückzogen, um erst bei Sonnenaufgang die Häuser wieder zu verlassen. Hier aber herrschte ein buntes, reges Treiben. Atlan und die beiden Solaner ließen sich von dem Mädchen ins Haus führen, über eine einfache Treppe zu drei geräumigen Zimmern ohne viel Einrichtung. Doch alles war da, was die Gäste brauchten. Snowar war unten geblieben, wo er sich laut mit den anderen unterhielt. Als Kölsch sich der Länge nach auf sein Lager fallen ließ und auch Bjo andeutete, daß er in dieser Nacht nirgendwo mehr hingehen wollte, blieb Shyra vor Atlans Zimmertür stehen. Und du? schienen ihre Blicke sagen zu wollen. Sie war in dem Alter, in dem andere junge Chailiden in die Wildnis zogen, um zu jagen, die Alten mit Nahrung zu versorgen oder sich einfach ihre Hörner abzustoßen. Vielleicht zwanzig, schätzte Atlan. Aber wer konnte das bei einem Chailiden schon genau sagen – außer sie selbst? Irgend etwas war an ihr, das ihn schon unten, auf der Straße,
beeindruckt hatte. Schön waren die Planetarier für menschliche Begriffe nicht gerade, mit ihren schmalen, harten Gesichtern, den sehr weit auseinanderstehenden Augen und der Sittichnase, mit dem großen Mund und dem Raubtiergebiß. Doch auf solche Äußerlichkeiten kam es nicht an. Atlan betrachtete das Mädchen genauer. Sein Blick wanderte an ihrem Körper hinauf, über blaue, rote und lila Tücher, die kunstvoll über den Hüften und der Brust zusammengeknotet waren, über Blumengestecke und sonstigen Schmuck, der mit diesen Tüchern verwachsen zu sein schien. Er traf Shyras große Augen, rauchgrau und mit übergroßer Iris, und sie hielt ihm stand. Sie wartet darauf, daß ich etwas tue oder etwas sage, dachte Atlan. Er kam sich fast unbeholfen vor und lachte schließlich über sich selbst. »Ins Bett bringen sollst du mich sicher nicht«, sagte er. Sie blieb ernst und sah ihn an, unverwandt. »Du willst wissen, was ich tun werde?« »Ich kann dich führen«, antwortete sie. »Wohin?« »In eine der Schankstuben.« »Wie kommst du darauf, daß …« Er kniff die Augen zusammen, ging zur Treppe und sah Snowar noch ins Gespräch mit seinen Freunden vertieft. »Er hat es gesagt?« »Ihr habt Fragen und wollt Antworten, Atlan. Snowar wird uns für eine Weile verlassen und nicht vor morgen früh zurück sein. Er war lange Zeit nicht mehr in Ushun und hat viele Freunde zu begrüßen.« »So? Und da sollst du an seiner Stelle …?« Er lächelte, als er sich vorstellte, wie er an der Seite Shyras, die vielleicht für chailidische Maßstäbe eine Schönheit war, ein Wirtshaus betrat. Snowar schien an alles gedacht zu haben. In Shyras Begleitung mochte er schneller Kontakt finden.
Nur hoffentlich nicht zu einigen eifersüchtigen Freiern, dachte er belustigt. Dann fiel ihm etwas anderes ein. »Shyra, wenn ihr Snowars und somit unsere Freunde seid, warum könnt ihr uns dann nicht sagen, was wir wissen wollen? Wieso muß erst der Wein die Zungen der Chailiden lockern?« »Es gibt viele Dinge, über die auch wir nichts wissen«, entgegnete sie ernst. »Wir nicht, aber die Mitglieder der Familien.« Der Arkonide zog eine Braue in die Höhe. »Ich dachte, sie meditieren um diese Zeit?« »Nicht alle. Es gibt Ausnahmen.« Mitglieder dieser sechs Familien, die mit den Traditionen brachen wie die Außenseiter? Atlan konnte es sich nach allem, was er von Snowar über sie gehört hatte, kaum vorstellen. Eher erwartete er das Gegenteil, fast fanatisch in ihrer Idee von der geistigen Raumfahrt gefangene Männer und Frauen. »Du kennst die Familien gut?« fragte er. »Vielleicht einen jungen Chailiden aus ihrer Mitte?« Es war ein Schuß ins Blaue, doch Shyras Reaktion bewies ihm, daß er getroffen hatte. »Einen«, sagte sie leise. Zum erstenmal wich sie Atlans Blick aus. »Ich kenne einen, ein Mitglied der Familie Heldim. Wir wären schon ein Paar, wenn nicht …« Auch wenn sie nicht weitersprach, konnte sich Atlan den Rest denken. Es schien die immer gleiche Geschichte zweier Liebender zu sein, die zueinander nicht kommen konnten, weil sie in verschiedenen Lagern standen. »Seine Familie will nicht, daß ihr euch verbindet?« »Nein!« Shyra warf den Kopf in den Nacken. »Sie wollen es nicht, und sie werden Mittel und Wege suchen, uns voneinander zu trennen. Nimm dich in acht vor ihnen, Atlan. Sie sind gefährlich und werden auch euch nicht gerne in ihrer Nähe sehen.« »Gefährlich?« Shyra schien nicht weiter darüber reden zu wollen. Sie winkte ab.
»Ich kann dich zu Heldis bringen, wenn du möchtest.« Atlan zuckte die Schultern. Kurz fragte er sich, ob es nicht besser wäre, Bjo mitzunehmen. Doch Breiskoll wollte mit sich alleine sein. Atlan glaubte nicht, daß er schlief. Ihm machte zu schaffen, daß seine mentalen Fähigkeiten seit der Landung auf Chail fast völlig versiegt waren. Vielleicht brauchte er einige Stunden Ruhe. Vielleicht gelang es ihm doch, die Gedanken einiger Chailiden in diesem Haus aufzufangen. »Schön«, sagte Atlan. »Ich denke, ein guter Schluck wäre jetzt gerade das Richtige für meine ausgedörrte Kehle. Aber ich will Snowar Bescheid sagen.« »Das ist unnötig«, entgegnete Shyra. »Er sagte uns, daß du keine Minute verschwenden würdest.« Atlan schüttelte lächelnd den Kopf und folgte ihr die Stufen hinab. Drei dunkle Gestalten drückten sich schattengleich an eine Häuserwand, als Atlan und Shyra Mugons Haus verließen, für einige Augenblicke im Schein einer Öllaterne stehenblieben und sich dann auf den Weg in die Stadtmitte machten. »Sie sind es«, flüsterte einer der drei. »Der Fremde mit dem silbernen Haar und seine Begleiter.« »Wo sind die anderen?« »Im Haus. Ich sah sie und schickte Yabsul nach euch. Die Beschreibung, die unsere Alten aus Syrgan erhielten, paßt genau auf sie.« »Was tun wir jetzt?« »Du beeilst dich, zu den Familien zu kommen und ihnen zu berichten, Sanat. Kolfyrt, du bleibst hier und beobachtest das Haus. Ich folge dem Fremden und Shyra.« »Heldis wird erfreut sein, sein Liebchen mit dem Silberhaarigen zu sehen.« »Vielleicht anders, als du glaubst, Kolfyrt. Jetzt mag er die Gelegenheit für gekommen sehen, seine wirren Ideen in die Tat umzusetzen. Wenn er heute soviel trinkt wie sonst, dürfen wir ihm
keine Gelegenheit geben, lange und viel zu reden. Beeile dich, Sanat, und komm mit Verstärkung zurück. Du weißt, wo wir uns treffen.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verschwand einer der drei in der Dunkelheit einer unerleuchteten Gasse. Der zweite ging auf die Straße, als gerade kein anderer Chailide seines Weges kam, und folgte Atlan und Shyra. Der dritte blieb zurück und ließ Mugons Haus nicht aus den Augen. Manchmal zuckte es um seinen Mund, und dann nickte er, als unterhielte er sich lautlos mit jemandem. Dann wieder fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht, betastete Stirn, Nase und Kinn, so als fürchtete er, irgend etwas nicht mehr am alten Platz vorzufinden. Er tat dies nicht, wenn jemand bei ihm war. Niemand, der Grund zur Angst hatte, zeigte diese Angst vor anderen. Dies war ein ungeschriebenes Gesetz – eines von vielen. 2. Die Schankstube hatte keinen Namen. Sie war, wie Shyra erklärte, eine von dreien in Ushun. Wer sich dort verabredete, nannte sie einfach »die bei Mikarts Haus« oder »die Stube des Dicken«. »Der Dicke« – das war Garfaz, ein wahres Monstrum von einem Chailiden, mehr als zwei Meter groß und gut und gern drei Zentner schwer. Shyra machte Atlan auf den Wirt aufmerksam, als sie im Eingang standen und sich umsahen. Sie nannte ihm seinen Namen und die einiger anderer Stadtbewohner, von denen sie meinte, daß er sie kennen sollte. Einen »normalen« Chailiden aus den Dörfern hätte vermutlich der Schlag getroffen, wäre er nach Ushun und speziell in eine der Schankstuben verschlagen worden. Und auch Atlan, inzwischen einiges gewohnt, hatte Mühe, den Anblick zu verdauen, der sich ihm hier und jetzt bot.
Zu einer Zeit, da die »normalen« Chailiden in den unzähligen, über den ganzen Planeten verstreuten Dörfern in ihren Häusern waren und meditierten, saßen hier Männer und Frauen fast jeden Alters an rechteckigen Tischen und tranken aus hohen, sehr schmalen Gefäßen eine bernsteinfarbene Flüssigkeit, die Atlan eher an Whisky erinnerte als an Wein. Auch die Wirkung schien mehr der von hochprozentigen Getränken zu entsprechen, denn an jedem Tisch saß mindestens ein schon reichlich angeheiterter Chailide. Und das war noch nicht alles. Viele hielten kurze, nach unten gebogene Pfeifen in den Händen, setzten sie an den Mund, zogen daran, bis der scharf riechende Tabak in den Köpfen aufglühte, und bliesen den Rauch genüßlich aus den Sittichnasen. Blaue Dunstwolken hingen über den Tischen und dem Tresen, der eine ganze Seite des großen Raumes ausmachte. »Sie trinken«, flüsterte Shyra, »um zu vergessen.« Atlan nickte. Auch das kam ihm nur allzu bekannt vor. Er sah die Bewohner Syrgans wieder vor sich, wie sie arbeiteten und tauschten, ihre Felder bestellten und sich über eine gute Ernte freuen konnten wie kleine Kinder. In Ushun dürfte dies ähnlich sein. Was also wollten die Chailiden vergessen? Daß sie zwar ein neues Leben gefunden hatten, das sie aber nur zum Teil befriedigen konnte? Daß sie sich von den Traditionen und festgefügten Verhaltensschemata befreit hatten, dafür aber darauf verzichten mußten, ihre Sehnsüchte nach dem Kontakt mit fremden Welten und deren möglichen Bewohnern zu befriedigen? In Syrgan hatte man sich damit zu helfen versucht, eine Technologie zu entwickeln, die eines fernen Tages den Bau von Raumfahrzeugen ermöglichen sollte. Hier nun schien man die Raumfahrt innerlich zu vollziehen – im Alkoholrausch und vielleicht in den Träumen, die das Kraut schenkte, das in den Pfeifen geraucht wurde. »Es ist harmlos«, sagte Shyra auf eine entsprechende Frage. »Nur getrocknete Blätter der Rebstöcke. Es hat keine berauschende Wirkung.« Sie legte die Hand auf seinen Arm.
»Komm jetzt. Es wird Zeit, daß wir uns einen Tisch suchen. Siehst du ihre Blicke nicht?« Er sah sie. Vor allem Garfaz musterte ihn und Shyra neugierig, wohl abschätzend, welchen neuen Gast ihm das Mädchen da brachte. Aber auch die Chailiden an den Tischen hatten – soweit sie dazu noch in der Lage waren – die Köpfe gehoben und starrten herüber. Einer von ihnen winkte. »Das ist Heldis«, flüsterte Shyra. Sie winkte zurück und zog den Arkoniden mit sich. Die Chailiden blickten ihnen nach, doch bald schon schienen die meisten von ihnen das Interesse an dem Fremden zu verlieren. Sie tranken und rauchten, sprachen kaum miteinander und gaben sich dafür Grübeleien hin. Die Betrunkenen pöbelten einander nicht an, sondern gerieten in einen kurzen Rederausch, bis sie ein Stadium erreicht hatten, in dem sie sich halb über den Tisch fallen ließen und einschliefen. Heldis saß allein an seinem Tisch. Shyra bedeutete Atlan, sich auf einen Schemel zu setzen, und ließ sich selbst neben Heldis nieder, dem anzusehen war, daß auch er bereits tief ins Glas geschaut hatte. Ganz kurz nur nahm er Shyras Hand und drückte sie liebevoll. Für diese Augenblicke schien Atlan für beide gar nicht mehr zu existieren. Der Arkonide wollte sich gerade räuspern, als ihm jemand auf die Schulter klopfte. Er drehte sich um. Garfaz stand vor ihm. »Du bist neu in der Stadt«, stellte der Dicke fest. »So? Sieht man das?« Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte Atlan zwei Chailiden, die sich nicht wie die anderen mit sich selbst beschäftigten. Sie beobachteten ihn und wandten schnell die Köpfe ab, als er zu ihnen hinübersah. Garfaz beugte sich ein Stück zu ihm herab und brachte den Mund ganz nahe an sein Ohr.
»Es ist jedermanns eigene Sache, welche Gesellschaft er sich sucht, solange ich keine Schwierigkeiten dadurch bekomme. Verstanden, Fremder?« Garfaz hatte geflüstert, doch nicht leise genug. Heldis ließ Shyras Hand los und versteifte sich. Schnell machte Atlan ihm ein Zeichen, daß er die Ruhe bewahren sollte. Er nickte Garfaz zu. »Verstanden.« »Das ist gut. Und nun – was trinken wir?« »Wir?« »Es ist seine Art, neue Gäste willkommen zu heißen«, erklärte Shyra lächelnd. »Er erweist ihnen die Gunst, ihm ein Glas spendieren zu dürfen.« Atlan konnte sich gerade noch eine Bemerkung über Garfazʹ Leibesumfang verkneifen. Er seufzte und machte eine ausladende Geste. »Eine Runde für alle, Freund. Was hast du da?« »Wein.« »Nur Wein?« Der Dicke schien ihn nicht zu verstehen. Shyra lachte laut und sagte: »Das ist schon in Ordnung, Garfaz. Ich bezahle alles. Vielleicht setzt du dann ein anderes Gesicht auf.« »Möglich«, versetzte der Wirt. »Ganz gut möglich.« Damit zog er ab und begab sich hinter den Tresen. »Was meinte er damit«, fragte Atlan, »daß er keine Schwierigkeiten bekommen will?« »Er meint mich«, sagte Heldis finster. »Weil ich ein Mitglied der Familie bin und dennoch hier sitze.« »Tun das die Mitglieder der anderen Familien nicht?« Heldis sah aus, als wüßte er nicht, ob er über die Frage lachen oder weinen sollte. Er sah Shyra an. »Wer ist er, daß er so dumm daherkommt und fragt? Wieso hast
du ihn überhaupt mitgebracht?« »Sein Name ist Atlan. Er ist ein Freund von Snowar – und unser Freund.« »So?« Das klang nicht sehr begeistert. Atlan musterte den Chailiden genauer. Heldis war noch jung und in jenem Alter, in dem andere Chailiden vom Dschungelleben zurückkamen und sich auf ein Leben als Familienvater vorbereiteten. »Er war in Syrgan und mußte fliehen«, fügte Shyra schnell hinzu. »Nun komm schon, Heldis. Er ist hier, weil er mit dir reden möchte.« »Fliehen? Weshalb?« Atlan erklärte es ihm. Heldis trank sein Glas aus, als Garfaz mit neuen Gefäßen kam. Die bereits bedienten Chailiden an den anderen Tischen prosteten dem edlen Spender zu, um dann sogleich wieder in ihre Grübelei zu verfallen. Nur jene beiden nicht, die Atlan schon vorher aufgefallen waren. Er versuchte, sich ihre Gesichter zu merken. »Dann wirst du auch hier vorsichtig sein müssen«, sagte Heldis, als Garfaz gegangen war. Wieder trank er. »Welche Meinung du auch immer vertrittst, welche Ziele du verfolgst – es gibt überall Fanatiker und Querulanten, in Ushun wie anderswo.« »Du sprichst aus Erfahrung?« »Möglich. Du kommst zu mir, warum?« Heldis winkte ab, ehe Atlan die Frage beantworten kann. »Du setzt dich nicht zu einem anderen, weil ich zu einer der Familien gehöre. Ich muß dich enttäuschen. Ich bin auf meine Art ein Außenseiter.« »Weil du nicht im Dschungel bist, wie du es sein solltest?« Heldis winkte ab. Noch immer wirkte er abweisend, doch er taute zusehends auf – mit jedem Glas ein wenig mehr. Atlan hatte an seinem noch nicht getrunken. Er schob es ihm zu. »Ich war in der Wildnis. Ich soll eine Familie gründen, Kinder zeugen und sie dem Uralten vorwerfen.« »Und du tust es nicht?«
»Ich denke nicht daran!« Heldis trank. »Ich will etwas Nützliches tun und als freier Handwerker leben, bis die Zeit des Meditierens kommt.« Atlan pfiff durch die Zähne. Er sah, wie Shyra wieder Heldisʹ Hand nahm und sie drückte. »Wir sind ein Paar«, sagte die Chailidin, als sie den Blick des Arkoniden bemerkte. »Aber wir werden unsere Zukunft selbst bestimmen, auch dann, wenn es einigen in Ushun nicht gefällt.« »Den Familien?« Heldis lachte trocken. Seine Zunge wurde bereits schwer. »Allen! Die Familien sehen mit Argwohn, daß ich Shyra liebe. Und Shyras Leute sehen in mir einen Spitzel der Uralten. Du hast Garfaz ja gehört.« »Dann bist du das nicht?« Heldis starrte ihn aus glasigen Augen an. »Ich bin überhaupt nichts, und ich glaube an überhaupt nichts! Nicht an die Uralten und an das, was uns gelehrt wird. Vielleicht werde ich als Handwerker leben. Vielleicht beginne ich auch gleich mit der Meditation.« »In deinem Alter?« »Das Alter spielt keine Rolle. Hör nicht auf das, was die Dummköpfe erzählen. Die Meditation ist nichts, das ausschließlich den Älteren vorbehalten ist. Wenn ich wollte, könnte ich gleich damit anfangen. Dieser ganze Glaube, daß ein Chailide in diesem Alter das, in jenem Alter etwas anderes zu tun habe, ist doch Humbug! Ich sage dir, was ich denke: daß dieser ganze Glaube nur dazu da ist, damit die Jungen nicht aufhören, für die Älteren zu schuften!« Atlan lehnte sich zurück. Das waren wahrhaftig ganz neue Töne aus dem Mund eines Chailiden. Wieder fing er einen Blick von Shyra auf. Gewisser Stolz auf Heldis sprach daraus, aber noch etwas anderes. Bedauern? Angst?
Heldis aber hatte einen geduldigen Zuhörer gefunden, und nun redete er, als hätte er lange Zeit nur darauf gewartet, sich jemandem mitteilen zu können. Heldis berichtete, daß es in Ushun allerlei Gruppen und Grüppchen gab, die wie er mit den Traditionen seines Volkes noch weniger im Sinn hatten als die Chailiden etwa in Syrgan oder anderen Städten. Und nach allem, was er sagte, schienen zu diesen Gruppen auch die ungeliebten Familien zu gehören. Atlan lauschte begierig seinen mit jedem Schluck schwerer zu verstehenden und lauter hervorgestoßenen Worten. Dann und wann stellte er gezielte Fragen, doch selbst im Rausch brauchte Heldis anscheinend seine Zeit, um Genaueres über diese Familien von sich zu geben. Als Atlan glaubte, ihn endlich soweit zu haben, verstummte der junge Rebell. Seine Augen klärten sich und richteten sich auf etwas in Atlans Rücken. »Yabsul!« flüsterte Shyra. »Und Konhar!« Atlan drehte sich um und sah zwei Chailiden die Schankstube betreten. Kurz sahen sie sich um, dann blieben ihre Blicke auf Heldis haften, der sogleich ein weiteres Glas hinunterstürzte und sich betrunkener gab, als er war. Irgend etwas in Atlan schlug Alarm. Shyras Blicke warnten ihn. »Wein!« rief einer der Fremden Garfaz zu, der sie nicht gerade mit Begeisterung zu sehen schien. »Dorthin!« Der Chailide deutete auf die freien Schemel an Heldisʹ Tisch. Sie kamen heran und setzten sich – einer rechts, der andere links neben Heldis. Das Gemurmel der Zecher war verstummt. Jetzt erhoben sich auch die beiden, die Atlan nicht aus den Augen gelassen hatten, und stellten sich provozierend hinter ihn. »Wieder gesprächig, Heldis?« fragte einer der neben ihm Sitzenden. »Laß mich in Ruhe!« zischte der Jüngling.
»Aber, aber!« Der Chailide sah zu den beiden auf, die hinter Atlan standen. »Ihr wollt euch auch zu uns setzen?« »Wenn wir Platz hätten, Yabsul …« »Platz? Ich sehe nur zwei leere Hocker. Nehmt sie euch!« Die beiden machten Anstalten, Atlan zu packen. Ehe der Arkonide sie zurückstoßen konnte, erschien Garfaz und versuchte, den sich anbahnenden Streit zu schlichten, bevor es Trümmer gab. Die Chailiden schoben ihn fort und rissen Atlan in die Höhe. »Wir wollten ohnehin gehen!« rief Shyra schnell. Sie war aufgesprungen und winkte dem Arkoniden heftig zu. Atlan machte sich frei. Für Sekunden stand er den beiden Rauflustigen Auge in Auge gegenüber, bereit, ihnen eine Lektion zu erteilen. Aber war das der richtige Weg, sich in Ushun einzuführen? Shyra nahm seinen Arm und zog ihn fort. Ihre Blicke flehten. »Das ist vernünftig«, kommentierte Yabsul ihren Rückzug. »Sehr vernünftig. Und ich hoffe, ihr wißt, was gut für euch ist.« »Komm!« beschwor Shyra Atlan. Widerstrebend folgte er ihr zum Ausgang. Die Chailiden ließen sich auf den freigewordenen Schemeln nieder. Heldis saß zwischen ihnen, den Kopf gesenkt, ein Bild des Elends. »Es sind Mitglieder seiner Familie«, sagte das Mädchen, als sie auf der Straße standen. »Wir können von Glück reden, daß … Atlan, was willst du tun?« Er stand unschlüssig vor ihr, den Blick auf den Eingang der Schänke gerichtet, aus dem nun wieder Gemurmel drang, als hätten die Zecher endlich etwas gefunden, über das sie reden konnten. »Was werden sie mit ihm tun?« »Mit Heldis? Sie bringen ihn zu ihrem Haus und lassen ihn seinen Rausch ausschlafen. Oh, du glaubst, wir hätten ihn im Stich gelassen?« »So ähnlich«, knurrte der Arkonide. »So ist es nicht!« versicherte Shyra. »Es war schon öfter so, wenn
er zuviel trank und redete. Sie wollen nicht, daß er über sie spricht.« Aber sie würden nun wissen, daß er es bereits getan hatte – und diesmal nicht zu Chailiden, die in ihm vielleicht einen Schwärmer oder Verrückten sahen, sondern … »Wir sollten ihn da herausholen«, sagte Atlan unentschlossen. »Das wäre ein großer Fehler!« Shyra schüttelte heftig den Kopf. »Komm, laß uns fortgehen! Du würdest ihn nur in Gefahr bringen! Mach es nicht schlimmer, als es ohnehin schon ist!« »Ich denke, sie bringen ihn nur nach Hause und lassen ihn zu sich kommen? Shyra, er ist dein Partner!« »Aber wir sind machtlos gegen …!« Sie sah sich schnell um. Niemand folgte ihnen aus der Schänke. »Du verstehst das alles nicht! Glaub mir, ich würde alles für Heldis tun, wenn es nur etwas nützen würde!« »Machtlos gegen wen?« Sie antwortete nicht mehr, stand nur vor ihm und blickte ihn flehend an. Widerwillig folgte er ihr. Und er hatte dabei das Gefühl, beobachtet zu werden. Mehr noch: es war, als versuchte etwas, in seinen Geist einzudringen. Er war mentalstabilisiert. Wer auch immer in seinen Gedanken herumstöbern oder ihn unter seine Kontrolle bringen wollte, würde sich an ihm die Zähne ausbeißen. Aber die Unruhe in ihm wuchs. Atlan sah ein, daß er den Bogen nicht überspannen durfte. Er hatte genug für heute und mußte sich erst einmal über dieses und jenes, was er von Heldis gehört und was er beobachtet hatte, klar werden. Shyra hatte Angst, größere Angst, als sie zu zeigen bereit war. Vor den Familien? Wer waren sie? Welche Macht hatten sie über die Stadtbewohner? Gab es eine Verbindung zwischen ihnen und der Blauen Stadt der Roxharen? Diese Fragen beschäftigten Atlan auch noch, als sie Mugons Haus erreichten. Nur wenige Lampen brannten noch. Von den
Bewohnern und Snowar war nichts mehr zu sehen. Unaufgefordert begleitete Shyra den Arkoniden die Treppe hinauf bis zu seinem Zimmer. Er hatte wieder das Gefühl, daß sie noch etwas sagen wollte. »Warum mußte Heldis erst trinken, um über euch zu sprechen?« »Ich will nicht, daß er fast jeden Abend in der Schänke hockt«, flüsterte Shyra. »Wie oft habe ich versucht, ihn davon abzubringen, bis ich einsah, daß er von selbst zu sich finden wird, wenn er weiß, wie er seine – unsere – Zukunft gestalten soll. Er ist verschlossen, Atlan. Ich wäre die letzte, die seinen Hang zum Wein ausnutzen oder gar bestärken würde. Er ist verzweifelt und gleichzeitig zu stolz, um über sich und die Familien zu reden, wenn er nüchtern ist.« Kurz blitzte es in ihren Augen auf. Sie nahm seine Hände. »Atlan, vielleicht kannst du uns helfen!« Er starrte sie im Halbdunkel an. Sie glaubte es wirklich! Was hatte Snowar ihr alles über ihn erzählt? »Erwarte nicht zuviel von mir und meinen Freunden«, versuchte er, ihre Hoffnungen zu dämpfen. »Und falls wir etwas tun können, dann müßt ihr uns schon entgegenkommen. Kannst du mir nicht sagen, was Heldis nicht sagen durfte?« Bedauernd schüttelte sie den Kopf. »Nur zu gerne, Atlan, wenn ich es vermochte. Aber ich bin selbst nicht klüger als du. Jeder in Ushun weiß, daß die Familien Dinge tun, die geheimnisvoll und vielleicht sogar verboten sind. Aber was das ist …« Sie machte eine Geste, die ihre ganze Verzweiflung ausdrückte. »Verboten?« fragte Atlan. »Heldis sagte dir ja, daß auch sie mit den Traditionen der Chailiden gebrochen haben. Und heute abend redete er mehr als je zuvor. Ich weiß, daß es dir schwerfällt, das zu glauben. Doch selbst mir erzählte er niemals mehr.« Sie schlug die Augen nieder. »Selbst dann nicht, wenn wir allein waren. Wir konnten tun und lassen, was nur uns beide etwas anging. Aber wirklich allein waren wir nie.
Niemand ist allein in Ushun. Sobald Heldis von den Familien sprechen wollte, waren plötzlich einige Mitglieder der Heldim da und sorgten dafür, daß er schwieg.« Niemand ist allein in Ushun … Atlan lauschte in sich hinein, aber da war nichts mehr, das versuchte, in seinen Geist einzudringen. Wirklich nicht? »Wenn ihr frei sein wollt, Shyra«, sagte er, »dann habt ihr in uns Verbündete gefunden. Wenn es euch darum geht, selbst über euer Leben bestimmen zu dürfen, so werden wir alles tun, was in unserer Macht steht, um euch zu helfen. Aber dazu müßten wir wissen, wer euch diese Selbstverwirklichung untersagt.« Es schien leicht zu sein, die Schuld den Roxharen in die Schuhe zu schieben, denen jede Veränderung auf Chail einen Strich durch ihre Rechnungen machen mußte. Doch die starren Strukturen auf Chail hatten sich lange vor ihrer Ankunft herausgebildet. »Die Uralten«, flüsterte Shyra. »Heldis meinte es nicht so, als er sagte, er glaube nicht an sie. Er weiß, daß es sie gibt. Er weiß mehr als du und ich. Aber er …« Sie ließ Atlans Hände los und lief zur Treppe, wo sie noch einmal stehenblieb und sich umwandte. »Suche die Uralten!« rief sie. »Es gibt sie, und sie sind schuld an allem! Sie haben die Macht, und sie gebrauchen sie!« Damit rannte sie die Treppe hinab und verschwand in der Dunkelheit. Atlan hörte noch, wie eine Tür zugeschlagen wurde. Dann war es totenstill im Haus. Atlan zog sich in sein Zimmer zurück und streckte sich auf dem Lager aus, schob die Arme unter den Kopf und starrte die Decke an. Die Uralten … Er spürte ganz deutlich, daß er ihnen und dem Geheimnis, das sie umgab, hier in Ushun näher war denn je. Die Hütte des Uralten im Bezirk der Familien… Wieviel Zeit blieb ihm, das Geheimnis von Chail zu lösen? Wieviel Zeit gab ihm Deccon? Wann reagierten die Roxharen, die mit Sicherheit wußten, daß er, Bjo und Kölsch auf Chail waren?
Alles in ihm drängte darauf, gleich am nächsten Morgen dem westlichen Stadtrand einen Besuch abzustatten. Doch vorher wollte er sich noch einmal mit Snowar besprechen. Es sollte ganz anders kommen. 3. Erst gegen Morgen war Atlan endlich eingeschlafen. Das Klopfen an der Tür weckte ihn unsanft. »Herein!« rieferund setzte sich auf. Wajsto Kölsch betrat das Zimmer. Der Magnide hatte einen hochroten Kopf, gestikulierte heftig und stammelte Unverständliches. Endlich schwieg er, schluckte hörbar, ballte die Fäuste und preßte zwischen den Zähnen hervor. »Man hat bei mir eingebrochen!« »Was hat man?« »Eingebrochen! Jemand war in meinem Zimmer! Ich sah ihn noch, als ich aufwachte. Es war nur ein Schatten. Und dann … schwupp!« Atlan stand auf, kniff die Augen zusammen und ging auf Kölsch zu. »Hauch mich mal an«, forderte er ihn auf. Kölsch hob abwehrend die Hand. »Oh nein, Arkonide! Ich pflege nicht heimlich zu trinken, wenn du das meinst. Es ist mir verdammt ernst. Jemand war in meinem Zimmer und verschwand wie ein Geist! Durch das Fenster vielleicht. Der Kerl muß so verdammt schnell gewesen sein, daß ich gar nicht sah, wie er das machte!« »Und was wollte er wohl bei dir?« fragte Atlan spöttisch. Er glaubte Kölsch kein Wort. »Fehlt dir etwas?« »N … nein.« »Hat dieser geheimnisvolle Einbrecher dich bedroht?« »Auch nicht. Aber ich sage dir, er war da und …« »Einbrecher? Wer hat wo eingebrochen?«
Das war Bjo Breiskoll. Gähnend stand der Katzer am Eingang und blickte Kölsch fragend an. »Bei mir!« Der Magnide wandte sich an Breiskoll. »Hast du etwas gehört oder gesehen? Seit wann bist du auf?« »Viel zu lange schon.« Bjo reckte sich. »Ich bin müde und kann dennoch kein Auge zutun. Verrückt, was? Aber gehört oder gesehen? Nein, Wajsto, ich muß dich enttäuschen. Die einzige, die mir über den Weg lief, war Shyra. Und die wollte wissen, wann ihr wohl aufstehen würdet, weil sie das Frühstück …« »Moment«, sagte Atlan. »Sie lief dir über den Weg?« Bjo nickte. »Ich sagte doch, ich konnte nicht schlafen, und ging auf den Gang vor den Zimmern hinaus. Ich stand aufs Treppengeländer gelehnt, als sie mich sah. Nein, durch die Tür kam bestimmt niemand in dein Zimmer, Wajsto.« »Dann eben durchs Fenster!« beharrte der Magnide. »Hast du hinausgeblickt?« Zögernd schüttelte Kölsch den Kopf. Bjo lächelte, trat zum Fenster von Atlans Zimmer und winkte den Bruder der ersten Wertigkeit heran. »Da«, sagte er. »Schau hinaus. Siehst du die beiden Männer? Sie streichen die Fassade, und das tun sie schon seit Sonnenaufgang. Ich sprach mit ihnen. Sie gehören zu Mugons Familie und hätten bestimmt gesehen, wenn jemand zu dir hereingestiegen wäre.« Kölsch steckte den Kopf aus dem Rahmen. Die Chailiden winkten ihm freundlich zu. Snowars Freunde zu beschuldigen, das brachte denn auch Kölsch nicht fertig. Verstört schüttelte er den Kopf. »Du hast geträumt«, sagte Atlan. »Bestimmt war es so.« »Langsam glaube ich selbst daran. Aber ich werde in der nächsten Nacht wach bleiben. Was ist mit euch? Habt ihr noch keinen Hunger?« »Mir knurrt der Magen«, gab Bjo zu. »Aber jetzt werden wir uns
noch gedulden müssen. Shyra ist fortgegangen, und außer ihr und den beiden Anstreichern ist niemand im Haus.« »Fortgegangen?« fragte Atlan schnell. Er ahnte etwas. »Weißt du, wohin?« »Ich nehme an, zum Stadtrand. Jedenfalls sagte sie etwas von einer Familie Heldim und einem Heldis. Ich sollte dir das ausrichten. Sie will sehen, wie es diesem Heldis geht. Du wüßtest dann schon Bescheid. Und du sollst nichts unternehmen, bis sie zurück ist.« Atlan murmelte eine Verwünschung und setzte sich. »Ärger?« wollte Bjo wissen. »Noch nicht. Aber ich fürchte, wir haben ihn bald.« Kölsch schüttelte den Kopf und rieb sich über den Magen. »Eine Unverschämtheit von Snowar, uns uns selbst zu überlassen«, knurrte er. »Ich sehe mich unten nach etwas Eßbarem um. Ihr könnt ja nachkommen, wenn ihr mit eurer Geheimnistuerei zu Ende seid.« »Du kannst es wohl gar nicht mehr erwarten«, sagte Bjo spöttisch. »Ich habe mir für heute einiges vorgenommen«, entgegnete Kölsch. »Ich will mich in der Stadt umsehen und überhaupt …« Er winkte ab. »Bis gleich dann. Ihr findet mich unten.« Bjo wartete, bis die Schritte des Solaners auf der Treppe zu hören waren. Dann erst sagte er leise: »Er hatte recht, Atlan. Es war jemand in seinem Zimmer, denn auch ich hatte ungebetenen Besuch.« Atlan runzelte die Stirn. Bjo nickte heftig. »Mein Raumanzug. Er ist fort. Der Einbrecher muß in meinen Zimmer gewesen sein, als ich mit Shyra sprach, denn vorher war der Anzug noch da, wo ich ihn abgelegt hatte. Du hast fest geschlafen?« Atlan nickte. »Du meinst, auch bei mir .?« »Ich kann es mir vorstellen. Ich dachte mir, Kölsch braucht nicht zu wissen, daß er recht hatte. Er ist unruhig genug. Aber allem
Anschein nach ist jemand sehr daran interessiert, bei uns herumzuspionieren.« Er deutete auf Atlans Raumanzug, der so auf einem Schemel lag, wie der Arkonide ihn dort zusammengefaltet hatte. »Nur zu spionieren, jedenfalls vorerst. Wenn diesem Jemand daran gelegen wäre, uns durch den Diebstahl aller drei Anzüge bewegungsunfähiger zu machen, hätte er es mit Leichtigkeit erreichen können. Ich kann mir denken, daß man den meinen nur untersuchen will.« »Aber wozu?« Bjo zuckte die Schultern. »Was weiß ich? Ich denke, wir werden es früher oder später erfahren.« Atlan schwieg, ging ans Fenster und blickte hinaus. In den Straßen herrschte bereits reger Betrieb. Chailiden standen vor den Häusern und unterhielten sich. Einige zogen mit Spaten und Hacke wohl auf ihre Felder außerhalb der Stadt. Andere schoben einfache Wagen vor sich her, auf denen sie Früchte und Gemüse feilboten. Was hatte Shyra ihm verschwiegen? Was hatte sie ihm weismachen wollen? Entweder verstand sie sich besser mit den Familien, als sie zugeben wollte, oder ihre Zuversicht, daß Heldis nichts geschehen würde, war nur gespielt gewesen. Und ein Einbrecher, der wie ein Phantom verschwand? Atlan hatte in der Regel einen leichten Schlaf. Auch vom Wein hatte er kaum getrunken. Er hätte aufwachen müssen. Er drehte sich um. »Hast du irgend etwas bemerkt, Bjo?« fragte er. »Ich meine, hast du einmal das Gefühl gehabt, daß jemand in deinen Geist einzudringen versuchte?« Der rotbraungefleckte Katzer verneinte. Atlan berichtete ihm von seiner Begegnung mit Heldis, vom Auftauchen der Familienmitglieder und dem versuchten mentalen Vorstoß. »Ich kann dir nicht weiterhelfen«, bedauerte Bjo. »Aber wenn du
meinst, daß dieser Unbekannte bei den Familien zu suchen ist oder sogar in der Hütte des Uralten, so sollten wir uns dort umsehen. Vielleicht finden wir dort auch meinen Raumanzug.« »Ich wollte eigentlich auf Snowar warten«, murmelte Atlan. »Aber das hat wohl wenig Zweck. Du hast recht, Bjo. Suchen wir Kölsch.« Sie verließen das Zimmer und gingen die Treppe hinunter. Das Haus schien tatsächlich verlassen zu sein. Kölsch war nicht zu finden. Selbst im Innenhof hielt sich niemand auf. Auf einem Rost über einem kleinen Feuer aber lagen zwei mächtige Fleischstücke, goldbraun gebraten. »Ich möchte wetten, daß es drei waren«, sagte Bjo. »Und hier!« Atlan kam zu ihm. Hinter dem Baum, der in fast jedem Häuserhof der Chailiden zu finden war, sah er etwas in den sandigen Boden geschrieben: »Ich bin in der Stadt!« »Dieser Narr!« fluchte Atlan. »Er ist hier nicht auf der SOL! Er kennt niemanden und …« »Wahrscheinlich hat er das selbst schon eingesehen«, rief Bjo lachend aus und drehte sich zur Tür um, durch die sie den Hof betreten hatten. Doch das Lachen verging ihm schnell. Nicht Kölsch war es, dessen Schritte er und Atlan gehört hatten – Schritte wie von einem Menschen, der sich die Lunge aus dem Hals lief. Shyra stand vor ihnen, und sie zitterte am ganzen Leib. »Heldis!« brachte sie nur stammelnd hervor. »Er ist … verschwunden!« Ihre Beine trugen sie nicht mehr. Atlan sprang vor und konnte sie gerade noch auffangen. In seinen Armen schluchzte sie hemmungslos. Etwas hilflos sah der Arkonide zu Bjo hinüber, der nicht weniger schockiert war als er. »Er ist verschwunden!« schrie Shyra. »Sie haben ihn …!« »Ruhig, ruhig!« versuchte Atlan, sie zur Besinnung zu bringen. Er
strich ihr über das glatte, blaue Haar und schüttelte sie leicht. »Niemand verschwindet einfach. Außerdem sagtest du selbst gestern abend …« Sie machte sich los, sprang zurück und blieb an die Wand gelehnt stehen. »Gestern abend sagte ich nicht die Wahrheit. Ich … wollte nicht lügen, und im Grunde war es auch keine Lüge.« Sie holte tief Luft. »Atlan, ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie ihn einfach … wie die anderen …« »Was?« Atlan stützte sie wieder und führte sie zu einer Bank. Sie hielt seine Hand fest. »Was konntest du dir nicht vorstellen, Shyra?« »Daß die ihn verschwinden ließen!« »Aber niemand …« »Es geschieht doch!« fuhr sie auf. Tränen glitzerten in ihren großen Augen. Ihre Lippen bebten. »Es geschah schon oft, daß Chailiden verschwanden. Sie waren plötzlich fort, ohne ihre Habseligkeiten mitgenommen zu haben. Und wenn auch ganz Ushun und das ganze Tal nach ihnen abgesucht wurden, sie blieben für immer verschwunden.« »Die Familien?« fragte er nur. »Bestimmt stecken sie dahinter. Ich … hielt die Ungewißheit nicht mehr aus. Ja, ich sagte dir, daß Heldis keine Gefahr drohte, aber jetzt sehe ich ein, daß ich mich nur selbst beruhigen wollte. Ich schlich mich in aller Frühe zum Westrand der Stadt und zu dem Haus der Heldim. Ich tat das oft und kenne dort Verstecke, von denen aus ich in Heldisʹ Zimmer blicken und mit ihm sprechen kann.« »Und war er nicht da?« »Nein! Ich … war so verzweifelt, daß ich durchs Fenster in sein Zimmer kletterte. Alles, was ihm gehört, war noch da. Nur er selbst nicht. Atlan, sie haben ihn … verschwinden lassen. Ich gebe dir nicht die Schuld, aber sie haben ihn verschwinden lassen, weil sie befürchten mußten, daß er dir etwas gesagt hat, was nicht einmal wir anderen Stadtbewohner wissen dürfen.«
Erschüttert hockte der Arkonide sich neben sie. Sie legte den Kopf in die Hand und weinte wieder. Atlan suchte nach Worten, um sie zu trösten. Er fand keine. Verschwinden lassen … Die Kinder, die zu den Hütten der Uralten gebracht werden, verschwinden manchmal! durchfuhr es den Arkoniden. Kölsch faselte etwas von einem Einbrecher, der urplötzlich verschwand. War doch mehr an seiner Geschichte, als er geglaubt hatte? »Willst du immer noch auf Snowar warten, Atlan?« fragte Bjo leise. »Nicht auf ihn und nicht auf Kölsch! Shyra, wenn du meinst, daß du wieder stark genug bist – kannst du uns zu den Familien führen?« Sie erschrak heftig. »Ihr wollt …? Nein, das dürft ihr nicht! Mit uns wird das gleiche geschehen wie mit Heldis!« »Das werden wir sehen. Du sagst, du gibst mir keine Schuld. Dafür danke ich dir. Aber ich mache mir Vorwürfe. Und ich will wissen, was an der ganzen Geschichte dran ist.« »Atlan«, kam es von Bjo. »Du willst noch etwas anderes. Ich brauche deine Gedanken nicht zu lesen, um das zu wissen.« »Ich will mit Heldisʹ Angehörigen reden, nichts weiter«, entgegnete der Arkonide härter als beabsichtigt. »Götter Arkons! Ich kann und will dich nicht zwingen, mitzukommen, Bjo, auch Shyra nicht. Ich finde den Weg allein.« »Du kämst nicht einmal bis an ihre Häuser heran«, flüsterte das Mädchen. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und sah ihn forschend an. Sie zitterte nicht mehr. Atlan mußte ihre Kraft bewundern. »Du … willst es wirklich tun?« Sie sah die Antwort in seinen Augen. »Vielleicht mache ich einen Fehler«, flüsterte sie. »Aber das wäre nur einer von vielen, die schon gemacht wurden. Ich führe euch. Aber ich muß eine Nachricht hinterlassen.«
»Wo sind deine Leute?« fragte Bjo. »Wo steckt überhaupt Snowar?« »Sie gingen noch in der Nacht zu Freunden. Mehr weiß ich auch nicht.« Sie stand auf und ging ins Haus. Bjo schloß zu Atlan auf und hielt ihn am Arm fest. Die beiden ungleichen Männer sahen sich in die Augen. »Erzähle mir, was du machst, Atlan«, flüsterte Bjo. »Du willst nicht nur reden, denn du weißt, daß dies zwecklos ist. Du willst eine Macht herausfordern, der wir kaum etwas entgegenzusetzen haben.« Der Arkonide antwortete nicht darauf. 4. Für Wajsto Kölsch war das Leben auf einem Planeten zwar nach wie vor ungewohnt und vor allem unangenehm, doch von Tag zu Tag ließ es sich leichter ertragen. Er war sich dessen erst vor zwei, drei Tagen bewußt geworden, nach dem überstürzten Aufbruch aus Syrgan. Hatte er bislang der Nacht und dem Schlaf entgegengefiebert, um zu vergessen, wo er sich befand, war ihm jedes Erwachen unter dem unendlichen, blauen Firmament ein Greuel gewesen, so überlegte er sich nun schon beim Schlafengehen, was wohl der neue Morgen bringen würde. In diesem Fall einen Einbrecher! dachte er, als er durch die Straßen Ushuns schlenderte. Er ließ sich Zeit. Wie er Atlan und Breiskoll kannte, hatten sie viel vor und würden in ihm ohnehin nur eine Belastung sehen. Sie kamen auch gut ohne ihn zurecht. Einen Einbrecher! Er lachte laut bei dem Gedanken daran, daß er sich durch einen dummen Traum hatte schrecken lassen. Was sollte ein Einbrecher bei ihm wollen – ausgerechnet bei ihm?
Die Chailiden waren freundliche Leute. Viele grüßten ihn, obwohl sie ihn nie zuvor gesehen hatten. Andere, die Obst und Gemüse verkauften, boten ihm ihre Waren an, und einer hatte ihm gar eine Frucht ohne Bezahlung überlassen. Womit sollte er auch bezahlen? Er hatte ja nichts, das er tauschen könnte, und Geld kannten die Planetarier nicht. Sie waren glücklich und zufrieden mit dem, was die Natur ihnen schenkte, auch ohne Technik. Technik! Kölsch fiel es noch schwer, sich dies selbst gegenüber zuzugeben. Aber er glaubte fast, daß die Chailiden gerade wegen des Fehlens komplizierter Technik so glücklich waren. Und er? Die Solaner? Kölsch sah eine Gruppe von zwei Männern und drei Frauen, die einen hölzernen Karren zogen und Schaufeln, Harken und leere Säcke über den Schultern trugen. Offensichtlich wollten sie aus der Stadt hinaus. Einer Laune folgend, schloß er sich ihnen an. »Auf die Felder?« fragte er. »Die Ernte einbringen?« Er konnte sich kaum erinnern, wann und wo er diese Floskeln aufgefangen hatte. Sicher in einer der SOL‐Farmen. Und damals hatte er nur ein verächtliches Lächeln für die Farmer übrig gehabt. »So ist es, Freund«, sagte eine der Frauen. »Hoffen wir, daß es eine gute sein wird. Wenn du möchtest, kannst du uns dabei helfen.« So war seine Frage gerade nicht gemeint gewesen. Doch er nickte freundlich und ging weiter mit ihnen. Wajsto Kölsch, der von allen gefürchtete Monsterjäger! Der ehrgeizige und zynische Magnide! Fast kam ihm dieser Kölsch nun wie ein Fremder vor. War es denn wirklich so erstrebenswert, Tag für Tag um die Macht zu kämpfen, sich immer neuer Intrigen zu erwehren und mit den anderen Magniden zu streiten? War er nicht ein Narr gewesen, den Solanern den skrupellosen Monsterjäger vorzuspielen? Und warum konnte es auf der SOL nicht so friedlich zugehen wie hier, auf Chail?
Was in Syrgan geschehen war, war bedauerlich. Schwarze Schafe gab es überall. Kölsch mußte an Akitar denken. Wie hatten ihn die Solaner behandelt? Waren sie etwa so zuvorkommend zu ihm gewesen wie die Chailiden hier zu ihm? »Du hast Sorgen, Freund?« fragte die Chailidin. »An einem herrlichen Morgen wie diesem?« »Ich dachte nur an … an eine andere Welt«, hörte der Magnide sich sagen. »Habt ihr das gehört?« rief einer der Landarbeiter. »Er will meditieren!« Die anderen lachten. Kölsch blieb stehen wie vom Schlag getroffen. War er dabei, den Verstand zu verlieren? Eine andere Welt – die SOL? Das Schiff war seine Welt, seine einzige! Er würde zurückkehren und seinen Platz wieder einnehmen, bald schon! Er verwechselte schon eine wohltuende Luftveränderung mit … Ja, womit eigentlich? »Na, komm schon, du nimmst uns den kleinen Scherz doch nicht übel, Freund?« »Nein, nein!« rief Kölsch. »Aber ich … muß eine Weile mit mir allein sein. Ich komme nach.« »Immer der Straße nach, dann links hinter dem letzten Haus den Pfad hinauf!« Kölsch blickte ihnen nach, wie sie weiterzogen. Er hörte das fröhliche Gezwitscher von Vögeln und sah in allen Farben schillernde Käfer durch die Luft fliegen, die von würzigem, süßlichen Geruch erfüllt war. Täuschung! sagte er sich. Das alles ist Blendwerk! Kein Wunder, daß ich auf abartige Gedanken komme! Es wird höchste Zeit, daß wir von hier verschwinden! Er blickte sich um und war nicht sicher, ob er zu Mugons Haus
zurückfinden würde. Zur Not konnte er Chailiden nach dem Weg fragen. Und nun sah er die Männer und Frauen, die vor ihren Häusern standen, auch mit ganz anderen Augen. Nicht alle waren so fröhlich und von Tatendrang erfüllt wie die fünf mit dem Karren. Kölsch sah einige, die an den Wänden lehnten oder auf dem Boden saßen, aus trüben Augen vor sich hin starrten oder gelangweilt und übelgelaunt mit kleinen Steinen warfen. »Sicher waren sie in den Schänken und haben jetzt schwere Köpfe«, sagte er zu sich selbst. »Und wer trinkt, hat meistens auch Grund dazu. Sie sind unzufrieden und haben das Leben hier satt.« Aber würden sie tauschen wollen und auf einem Raumschiff leben? Kölsch kickte einen Stein, der ihm vor die Füße rollte, hoch in die Luft. Wieso mußte er eigentlich immer diese Vergleiche ziehen? Es stand außer Zweifel, wo es sich besser leben ließ – und vor allem, wo er hingehörte. Was also sollte er tun? Er brauchte Ruhe, und die würde er in Atlans und Breiskolls Nähe kaum finden. Was konnte er falsch machen, wenn er den Landarbeitern folgte und ihnen bei der Arbeit zuschaute? Langsam setzte er sich wieder in Bewegung. Wo die Straße gepflastert war, mußte er aufpassen, daß er nicht stolperte. Die Steine waren unregelmäßig eingefügt und locker. Hier und da lag Unrat herum, was ihn wieder an die SOL erinnerte. Aber die Korridore des Schiffes waren schöner! Da gab es richtige Wände, nicht diese endlose Leere. Es gab keine Stürme und keine Regengüsse. Über dem Kopf hatte man die Decke mit den Leuchtplatten. Alle paar Schritte fand man einen Interkom‐ Anschluß, mit dem sich Hilfe herbeirufen ließ. Der Muskelkater der ersten Tage auf Chail hatte sich zwar gelegt, doch wie konnten die Chailiden ihre langen Fußmärsche nur Tag für
Tag ertragen? Wie hatten es die Menschen auf der Erde und anderen Planeten ertragen können? Kölsch merkte, daß er sich Rechtfertigungen für seine eigenen, abwegigen Gedankengänge und Gefühle zurechtlegte. Und das machte ihn wütend. Er wußte bald nicht mehr, was er überhaupt denken sollte. Er fühlte sich wohl hier auf Chail, mit jedem neuen Tag besser. Was war falsch daran? Im Grunde bewies es doch nur die Anpassungsfähigkeit eines Solaners an alle möglichen Gegebenheiten. Solaner konnten sehr wohl auf Planeten leben, wenn die Angstschwelle und die ersten Umstellungsschwierigkeiten erst einmal überwunden waren. Konnten die Chailiden an Bord eines Raumschiffs leben? Wieder sah er Akitar vor sich, wie er völlig verstört durch die Korridore der SOL wanderte. »Mach dich nicht selbst verrückt!« sagte er zu sich. Die Abstände zwischen den Häusern wurden größer, und anstelle der teilweise zweigeschossigen Steinbauten säumten nun Holzhäuser und Hütten den Weg. Chailiden waren kaum noch zu sehen. Hinter dem letzten Haus links von der Straße, dann den Pfad hinauf … Kölsch fand ihn. Zwischen Büschen kletterte er über nacktes Felsgestein, zwischen dem das Erdreich fortgespült worden war. Große blaue Blütenkelche streckten sich ihm auf langen Stielen entgegen und verbreiteten Wohlgerüche, die ihn in eine ganz seltsame Stimmung versetzten. Immerhin – er schaffte es, ohne Laufbänder und ohne Lift den flachen Hügel zu erklimmen, der einer der felsigen Anhöhen vorgelagert war. Das war eine Leistung, die er sich nie zugetraut hätte. Zwar hämmerte sein Herz, und die naßgeschwitzte Kombination klebte an seinem Körper, doch die frische, würzige Luft hier oben entschädigte ihn dafür. Er sah auf die Stadt hinab, ohne daß es ihn schwindelte.
»Freund!« Er drehte sich um, schob sich an einer Buschgruppe vorbei und sah die fünf Chailiden auf einem großen, grünen Feld. Sie winkten ihm zu. Der Magnide winkte zurück und ging ihnen entgegen. Am Feldrain blieb er stehen, sah sich um und setzte sich auf einen großen Felsen. Er schlug die Beine übereinander. »Macht nur weiter!« rief er. »Laßt euch durch mich nicht stören!« Sie lachten, lockerten den Boden zwischen den Reihen großer, kugelrunder Gemüsepflanzen und summten dabei eine Melodie. Dann und wann ging einer zum Karren, holte eine bauchige Flasche unter den Geräten hervor und gab sie an die anderen weiter, nachdem er selbst getrunken hatte. Kölsch fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. So saß er da, etwa eine Stunde lang, und er konnte nicht anders – er mußte diese fleißigen Männer und Frauen einfach bewundern. Plötzlich hatte er selbst eine Harke in der Hand, kratzte und riß Unkraut aus. Auf dem Weg zum Stadtrand versuchte Atlan vergeblich, unter den Chailiden, die vor ihren Häusern standen oder ihm, Bjo und Shyra entgegenkamen, einen der Zecher aus der Schankstube wiederzuerkennen. Entweder schliefen sie noch ihren Rausch aus, oder sie hatten Grund, sich nicht sehen zu lassen. Aber Ushun war groß. Shyra hatte sich gefangen. Atlan glaubte zu wissen, wie es jetzt in ihr aussah, und er bewunderte ihre Kraft. Nichts an ihr erinnerte mehr an das entnervte, fast hysterische Bündel von vorhin. »Auf normalem Weg«, erinnerte er sie. »Wir kommen als Besucher, denk bitte daran.« »Aber ich könnte euch die Verstecke zeigen, wo du erst einmal …« »Vielleicht später.« Atlan lächelte aufmunternd. »Später können wir uns dort auf die Lauer legen. Jetzt will ich zuerst wissen, woran
ich mit den Familien bin.« Bjo schüttelte nur den Kopf. Je näher sie dem westlichen Stadtrand kamen, desto weniger Chailiden waren auf den Straßen zu finden. Es gab immer mehr freie Plätze und verwinkelt aneinandergesetzte Bauwerke mit viel freiem Raum dazwischen. Als Straßen konnte man die sich überall verzweigenden, schmalen Gassen kaum mehr bezeichnen. Shyra ging nun langsamer. Die wenigen Ushuner, die sich noch zeigten, beobachten die drei mit offenem Mißtrauen. Manche bedachten sie mit Beschimpfungen. »Stört euch nicht daran«, flüsterte Shyra. »Wer hier, an der Grenze zum Bezirk der Familien, noch wohnt, ist hartgesotten. Alle anderen haben sich umquartiert. Und für diese hier ist jeder, der zu den Familien geht, schon ein Verräter.« »Es gibt keinen Kontakt zwischen diesen Chailiden und den Familien?« »Angeblich nicht. Aber das weiß niemand so ganz genau.« Shyra bog in eine Gasse ein. Hier gab es fast nur noch Holzhäuser, deren Wände vermodert und feucht waren. Auf dem Boden lag viel Unrat herum. Dann und wann lugte ein Kopf aus einem der kleinen Fenster – und verschwand schnell wieder, wenn Atlan oder Bjo sich umdrehten. Shyra sah nur geradeaus. Weitere Gassen folgten. Dann endlich blieb das Mädchen vor zwei Hütten stehen, die so dicht beieinander standen, als sollten sie eine Barriere bilden. »Dahinter«, verkündete Shyra mit gedämpfter Stimme, »liegen die Häuser der Familien.« Noch einmal sah sie Atlan und Bjo an, als erwartete sie, daß die im letzten Moment ihre Absicht änderten. Als Atlan ihr zunickte, zuckte sie resignierend die Schultern. »Nehmt euch jetzt in acht«, flüsterte sie. »Es kann sein, daß euch Steine und Gefäße an die Köpfe fliegen. Hättet ihr euch allein hierher gewagt, so wäre das längst geschehen.«
Sie zwängte sich zwischen den beiden Hütten hindurch – und blieb abrupt stehen, als sich vor ihrer Brust ein starkes Seil spannte. »Nicht weiter!« hörte Atlan. »Geht dorthin zurück, von wo ihr gekommen seid! Sonst machen wir euch Spitzeln Beine!« Atlan konnte den Sprecher nicht sehen. Aber irgendwo hinter den Hütten standen zwei Chailiden und spannten das Seil. Er bedeutete Bjo, zurückzubleiben, und zog Shyra an einem Arm zurück. »Augenblick«, flüsterte er. »Sind das schon Mitglieder der Familien?« »Die werden uns anders empfangen. Nein, das sind Dummköpfe, die glauben, diesen Bezirk bewachen zu müssen.« Der Arkonide nickte, trat an ihr vorbei, drückte sich zwischen den Hüttenwänden hindurch und ergriff das Seil. Mit einem Ruck zog er es an sich heran. Jemand schrie auf. Im nächsten Augenblick wirbelten zwei kräftige Chailiden auf ihn zu, um deren Hände die Seilenden geschlungen waren. Atlan packte sie und schlug ihre Köpfe zusammen, bevor sie überhaupt begriffen, wie ihnen geschah. Shyras Blick verriet Entsetzen. Atlan stieg über die Bewußtlosen hinweg und winkte den Freunden zu. Nur zögernd kamen sie heran. Ihre Blicke gingen an ihm vorbei. Atlan drehte sich langsam um. Vor ihm lag ein gut dreißig Meter breiter, freier Streifen Land. Dahinter wuchs ein imposantes, zweigeschossiges Haus in die Höhe. Links und rechts davon sah der Arkonide zwei weitere und hinter ihnen eine kleine, unauffällige Hütte. Die sechs großen Häuser der Familien waren in der Form eines Sechsecks um sie gruppiert. In den Zwischenräumen wuchsen Büsche und Blumen und standen flache Schuppen. Vor dem Eingang des ersten Hauses wartete ein Chailide. Breitbeinig stand er da, die langen Arme über der Brust verschränkt.
Atlan erkannte ihn auf Anhieb wieder. »Yabsul«, murmelte er. »Unser zuvorkommender Freund aus der Schänke.« »Beeindruckend«, sagte Yabsul. Mit dem Kinn deutete er auf die bei den Hütten liegenden Bewußtlosen, um die sich jetzt andere Chailiden kümmerten und wüste Beschimpfungen von sich gaben. »Ich kann nicht sagen, daß ichʹs den Kerlen nicht gönne.« Atlan, Bjo und Shyra standen vor ihm. Yabsul hatte seine Position nicht verändert. Er versperrte den Eingang. »Gestern abend warst du zurückhaltender.« Atlan zuckte die Schultern. »Das mag sein, Yabsul. War es ein Fehler?« Der Chailide ging nicht darauf ein. »Also – was wollt ihr?« Er schenkte Shyra einen spöttischen Blick. »Sie ist wohl hier, um nach ihrem Schatz zu sehen. Ihr kaum.« »Wir wollen mit euch reden.« »Reden, so! Sie hat euch wohl auch gesagt, daß ihr gleich wieder verschwinden könnt. Heldis ist ohnehin nicht da.« »Das dachte ich mir fast«, sagte Atlan. »Ich denke, daß er verschwunden ist.« Er betonte das Wort und unterstrich es durch eine entsprechende Geste. Wenn er aber geglaubt hatte, Yabsul zu einer Reaktion veranlassen zu können, so sah er sich enttäuscht. Der Chailide verzog keine Miene. »So, das denkst du dir. Was noch?« Hinter Yabsul erschien eine zweite Gestalt, nur undeutlich erkennbar im Halbdunkel des Eingangs. Shyra griff nach Atlans Arm. »Das ist Heldim!« flüsterte sie. »Das Oberhaupt der Familie!« Atlan nickte zufrieden. Auch wenn Heldim sich noch im Hintergrund hielt – er sollte hören, was er vorzubringen hatte. »Ich denke, daß wir möglicherweise über die Roxharen reden sollten, über die Uralten und über Einbrecher, die plötzlich da sind und sich ebenso plötzlich wieder in Luft auflösen.«
»Das reicht!« Yabsul riß die Arme auseinander und schüttelte eine Faust. »Verschwindet, bevor …« Eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter. Yabsul zuckte kaum merklich zusammen und machte Platz für Heldim. Für Sekunden sahen sich Atlan und das Oberhaupt dieser Familie in die Augen. Dabei hatte der Arkonide wieder das Gefühl, durchleuchtet zu werden, etwas zu spüren, das an seinen Geist tastete. Heldim war alt, aber sicher nicht uralt. Erst jetzt, als er ihn sah, wurde Atlan bewußt, daß er im stillen erwartet hatte, zum erstenmal einen der Uralten vor sich zu sehen. Aus Heldims Blicken sprach Überheblichkeit, aber sie waren nicht drohend wie Yabsuls. Heldim schien über solchen Dingen zu stehen. Von ihm strahlte eine Würde aus, eine Unberührbarkeit, was sich noch verstärkte, als er zu sprechen begann. »Ein Einbrecher, sagst du? Einer, der lautlos kommt und wieder verschwindet? Wo?« »Ich glaube, das weißt du sehr gut«, erwiderte der Arkonide unbeeindruckt. »In Mugons Haus. Dort, wo wir einquartiert sind.« Täuschte er sich, oder sah er einen Anflug von Bestürzung auf Heldims Gesicht? War Yabsuls heftige Reaktion nur – Angst? »Kein Mitglied meiner Familie hat euch einen solchen Besuch abgestattet«, sagte der Alte. »Und auch kein Mitglied der anderen.« »Der Raumanzug meines Freundes wurde gestohlen. Auch ihn habt ihr nicht gesehen?« »Nein!« »Heldis ist dein Sohn, Heldim?« »Ja.« »Deine Redseligkeit ist überwältigend«, versetzte der Arkonide sarkastisch. »Können wir Heldis sehen? Ich werde das dumme Gefühl nicht los, daß er nicht nur ›nicht da‹ ist, sondern überhaupt nicht mehr in Ushun.« »Das ist dein Problem«, antwortete der Alte abweisend. Er machte
Anstalten, sich ins Haus zurückzuziehen. »Ihr könnt ihn nicht sehen, und jetzt geht. Es gibt zwischen uns nichts zu besprechen.« Atlan machte einen Schritt auf den Eingang zu. Yabsul stellte sich ihm sofort in den Weg. »Heldim! Ich habe das noch viel schlimmere Gefühl, daß Heldis für etwas büßen muß, an dem er keine Schuld trägt. Er hat uns nichts über die Familien verraten können, wenn es dir darum geht. Das wußten schon Yabsul und seine Spießgesellen zu verhindern. Ich ging zu ihm, und ich gebe zu, ich wollte ihn zum Reden bringen. Aber doch nur deshalb, weil wir die gleichen Interessen haben dürften! Warum behandelt ihr uns als Gegner? Zugegeben, wir sind Fremde. Aber wir sollten uns wenigstens einmal zusammensetzen. Uns liegt das Wohl der Chailiden ebenso am Herzen, wie es euch heilig sein sollte.« Heldim, der ihm schon den Rücken zugewandt hatte, drehte sich um. »Wie kann Fremden das Wohl der Chailiden am Herzen liegen?« »Weil …« Atlan unterbrach sich, bevor er einen vielleicht unverzeihlichen Fehler beging. Durfte er diesen arroganten Männern gegenüber von Akitar sprechen? Bevor er sich zu einer Entscheidung durchringen konnte, drang aus einem der Fenster ein gräßlicher Schrei, der ihm kalte Schauder über den Rücken jagte. So schrie ein Wesen in höchster Todesangst. Yabsul und Heldim sahen sich alarmiert an, und für Augenblicke ließ der Alte die Maske fallen. Sie sahen sich an wie zwei Männer, die wußten, daß etwas geschehen war, das nicht geschehen durfte. Hinter verschlossenen Türen wurden Laufschritte laut. Noch einmal klang der grauenvolle Schrei auf, langgezogen und schrill. Dann gab es ein dumpfes Geräusch, als schlüge ein weicher Gegenstand auf Stein. »Verschwindet!« schrie Heldim. »Fort mit euch! Ich lasse die
Zhittas auf euch los, wenn ihr nicht gleich …!« Das genügte, zumindest für Shyra. Sie packte Atlan am Arm und riß ihn mit sich von der Veranda fort. »Die Zhittas!« schrie sie entsetzt. »Er tut es wirklich, Atlan! Du kennst diese Bestien nicht!« Unerwartet erhielt sie Hilfestellung von Bjo. Breiskoll nahm Atlans anderen Arm und zog ihn vom Haus fort. Irgendwo öffneten sich Türen. Lautes Geheul klang schaurig aus dem Haus. Atlan machte sich los und rannte. Zurück in Mugons Haus, wurden die drei von Snowar erwartet. Nahda, die sie bereits bei der Ankunft kennengelernt hatten, führte sie in den Innenhof. Snowar saß auf einer Bank und lächelte nicht mehr, als er den Ausdruck in den Gesichtern der Freunde sah. »Ihr konntet es also wieder nicht erwarten«, sagte er. Atlan setzte sich zu ihm und wischte sich Schweiß aus der Stirn. Bjo und Shyra blieben vor der Bank stehen. »Du mußt gerade reden!« knurrte Atlan. »Wo warst du denn, als wir dich brauchten?« »Unterwegs. Bei Freunden. Ich sagte euch, daß ich …« »Jaja.« Atlan winkte ab. Er holte tief Luft und griff dankbar nach einem Gefäß, das Nahda ihm reichte, trank es in einem Zug aus und schüttelte sich. »Was ist das? Gift?« »Gegengift«, lächelte die Chailidin. »Gegen zuviel genossenen Wein und zuviel Kopfschmerzen, ganz gleich, welcher Art sie sind.« Atlan schluckte einige Male, um den bitteren Geschmack loszuwerden. Danach fühlte er sich wahrhaftig wohler. Er berichtete Snowar von seinem Besuch in der Schänke, dem Einbrecher und dem Vorstoß zum Bezirk der Familien. »Alle Achtung«, sagte Snowar anerkennend. »Du bist noch ungeduldiger, als ich dachte. Hoffentlich siehst du ein, daß blindes Handeln hier zu nichts führt.«
»Dieser Schrei.« Atlan blickte Shyra an. »Es könnte Heldis gewesen …« »Er war es nicht! Heldis ist verschwunden! Snowar, sage ihm, daß Chailiden verschwinden, die den Unwillen der Familien erregt haben!« »Es stimmt«, bestätigte Snowar. »Dann hat eben ein anderer geschrien und wurde zum Verstummen gebracht! Und ich werde herausfinden, wer und warum!« Snowar seufzte, stand auf und begann, im Hof auf und ab zu gehen. »Du hättest Heldims und Yabsuls Gesichter in diesem Moment sehen müssen, Snowar! Ich sage dir, der Schreck fuhr ihnen in alle Glieder! Auch sie hatten plötzlich Angst, und wenn wir herausfinden, wovor, dann sind wir ein gutes Stück weiter!« »So?« Atlan seufzte. Das alles schien den Chailiden wohl gar nicht erschüttern zu können. Oder war er es selbst, der zu heftig auf das reagierte, was innerhalb weniger Stunden geschehen war? Etwas ruhiger, fragte er: »Snowar, du kannst uns nicht zufällig weiterhelfen?« »Wenn du die Familien meinst, und an etwas anderes kannst du ja anscheinend nicht mehr denken, nein. Es heißt zwar, daß in ihrem Bezirk Dinge vor sich gehen, die noch am besten mit Zauberei zu umschreiben wären. Aber was das ist …« »Manche mögen es wissen«, warf Nahda ein. »Aber die sprechen nicht darüber.« »Weil sie Angst haben, danach zu verschwinden?« »Vielleicht.« Es gab zu viele Vielleichts. Aber Snowar mochte recht haben. Durch Überstürzen brachte man keine Klarheit in den Wust von Fragen und Rätseln. »Ich werde dem Bezirk einen weiteren Besuch abstatten, aber
diesmal auf die Art, die du vorgeschlagen hast, Shyra«, sagte Atlan. »Heute nicht mehr. Aber vielleicht in der Nacht?« »Ja«, sagte sie. Der erwartete Widerspruch blieb aus. »Diese Zhittas – ihr Chailiden haltet euch Haustiere, obwohl ich in diesem Haus noch keine gesehen habe. Ich nehme an, die Zhittas sind ganz besondere Haustiere?« »Oh, es sind Bestien«, murmelte Snowar. »Die Familien richten sie darauf ab, ungebetene Besucher zu vertreiben. Manch einer überlebte das nicht.« »Können sie wittern? Ich meine, lassen die Familien sie nachts frei herumlaufen? Können sie im Dunkeln sehen und einen Eindringling riechen?« »Auf alle Fragen: nein.« »Immerhin etwas. Dann bleibt es dabei. Wir besprechen am Abend, wie wir vorgehen wollen. Jetzt interessiert mich, wo unser Freund Kölsch ist.« Snowar lächelte breit. »Ich glaube, da kann ich euch weiterhelfen. Schließlich warst du mit Bjo bei Heldim, und so kann mit dem Fremden, der mit fünf Chailiden heute morgen beim Verlassen der Stadt gesehen wurde, nur Wajsto Kölsch gemeint sein.« »Er … hat die Stadt verlassen?« entfuhr es Bjo. Snowar nickte. »Offenbar möchte er sich darüber informieren, wie man auf Chail Gemüse anbaut. Die fünf waren Bauern.« Bjo grinste und drehte sich zu Atlan um. »Hast du das gehört? Unser zynischer, ehrgeiziger Magnide widmet sich dem Ackerbau!« Atlan schmunzelte. »Wie sollte er auch sonst seine Zeit totschlagen? Ich fürchte, wir haben uns zuwenig um ihn gekümmert.« »Er wird mit einem Reformprogramm zur SOL zurückkehren«, prophezeite Bjo. »Er wird sicher vorschlagen, die Algentanks wieder außer Betrieb zu setzen und zur gemäßigten Hydrokultur
zurückzukehren – mit allem, was dazugehört.« Die Vorstellung, einen schnauzbärtigen Wajsto Kölsch in Farmerkluft und mit der Unkrauthacke in der Hand durch irgendwelche Felder kriechen zu sehen, ließ die Freunde für kostbare Augenblicke ihre ärgsten Sorgen vergessen. Shyra beobachtete sie mit Befremden. Und Bjo und Atlan wären vermutlich an ihrer Heiterkeit erstickt, hätten sie zu diesem Zeitpunkt bereits gewußt, was wirklich mit dem Solaner vorging. 6. Atlan und Breiskoll verbrachten den Rest des Tages damit, mit Snowar durch die Straßen von Ushun zu bummeln. Sie gaben sich unbefangen, kamen mit Chailiden ins Gespräch und erfuhren einiges, das ihre bisherigen Beobachtungen bestätigte: Die Bewohner von Ushun hatten mit dem, was den Lebensinhalt der »normalen« Chailiden ausmachte, kaum noch etwas zu tun. Manche jungen Leute gingen erst gar nicht in die Wildnis, wenn sie das vierzehnte Lebensjahr erreicht hatten. Wer es dennoch tat und bereits einen Partner gefunden hatte, kehrte wie in Syrgan in den wenigsten Fällen zurück. Auch hier galt, daß die Städter ihre Kinder zu 99 Prozent verloren, wenn sie sie zur Hütte des Uralten brachten. Die Neugeborenen verschwanden und wurden – wenn die Eltern Glück hatten – durch andere Kinder »ersetzt«. Bei Kindern, die in einem Dorf zur Welt kamen, standen die Chancen ungleich besser, sie nach der Prüfung (oder was immer mit ihnen in den Hütten der Uralten geschah) zurückzuerhalten. Allerdings brachen auch in Ushun viele junge Paare mit dieser vielleicht heiligsten aller Traditionen und stellten ihr Kind dem Uralten erst gar nicht vor. Es brachte ihnen kein Glück: Die Neugeborenen verschwanden in der Regel nach einigen Wochen. Niemand wußte, wer sie holte und wohin sie gebracht wurden.
Heldis, auch das stellte sich heraus, war kein Einzelfall. Viele Paare verzichteten darauf, in jungen Jahren eine Familie zu gründen, um erst einmal ein Handwerk zu erlernen oder Felder zu bestellen, als Weinbauern zu leben oder Häuser zu bauen. Zwanzigjährige versuchten, zu meditieren. Atlan sah Chailiden unterschiedlichsten Alters einfach auf der Straße hocken. Sie zogen sich zu ihren Übungen nicht einmal mehr in die Zimmer zurück. Erst am Abend kehrten die Freunde zu Mugons Haus zurück. Shyra ließ sich nicht blicken, doch Nahda erklärte, daß sie sich in ihrer Kammer befand und zur rechten Zeit erscheinen würde. Atlan machte sich nun Vorwürfe. Vielleicht war es falsch gewesen, sie in ihrem Zustand allein zu lassen. Möglicherweise brauchte sie einige Stunden der Einsamkeit. Möglich war aber auch, daß sie in ihrer Verzweiflung Dinge tat oder sich in den Kopf setzte, die sie selbst in noch größere Gefahr brachte als die, in der sie ohnehin schon schweben mochte. Sie tat Atlan leid, und er wünschte sich, daß sie ihren Heldis wiedersehen möge. Was er dazu tun konnte, würde er tun. Nahda und Mugon brachten Stühle auf die Veranda. Die Freunde saßen vor dem Haus und beobachteten das rege Treiben auf den Straßen. Atlan hatte den Eindruck, daß die Chailiden sich auf irgend etwas vorbereiteten. Es waren mehr unterwegs als gestern um diese Zeit. »Die Veraghen werden zurückerwartet«, sagte Mugon auf eine entsprechende Frage. »Es ist lange her, daß sie auf ihrer rastlosen Wanderung über den Kontinent Nahar Ushun besuchten. Sie ziehen von einer Stadt zur an deren und lassen auch keines der Dörfer aus, das auf ihrem Weg liegt.« »Die Veraghen?« Atlan legte die Stirn in Falten. Das klang geheimnisvoll. »Wer sind sie? Ein Chailidenstamm?« »Oh nein.« Snowar lächelte tiefgründig. »Die Veraghen kamen einst wie ihr von einer fernen Welt zu uns. Aber warte ab. Morgen werden sie da sein. Die Bewohner von Ushun bereiten ein großes
Fest zu ihrem Empfang vor. Und viele Chailiden kommen aus anderen Städten hierher.« Unwillkürlich hatte der Arkonide sich in seinem Stuhl aufgerichtet. Von einer fernen Welt! Der Gedanke elektrisierte ihn. Es hieß doch, daß sich keine Fremden außer den Roxharen für längere Zeit auf Chail aufhalten konnten, ohne Schaden zu nehmen. Atlan hatte KʹEsbahs Warnungen nicht vergessen. Bot sich nun hier die Gelegenheit, wenigstens über diesen einen Punkt Klarheit zu erhalten? »Ich sehe die Fragen in deinen Augen«, sagte Snowar. »Aber stelle sie nicht jetzt. Unterhalte dich mit den Veraghen selbst.« Er kam auch gar nicht dazu, bei seinen Gastgebern nachzuhaken, denn nun kehrte Wajsto Kölsch zurück. Er kam die Straße heraufgeschlendert und pfiff eine Melodie. Bjo bekam große Augen. Er stand auf, lachte unsicher und stemmte die Fäuste in die Hüften. Die einfache Bordkombination, die der Magnide gegen das weiße Gewand eingetauscht hatte, starrte vor Schmutz. Kölsch hielt voller Stolz einen Kohlkopf in die Höhe. »Mein Lohn!« verkündete er gutgelaunt, als er vor der Veranda stehen blieb. »Dein … was?« Atlan verschluckte sich fast. »Oh, nur ein kleiner Teil davon. Ich habe mir einen Vorrat angelegt, oben auf den Feldern.« Kölsch reichte den Kohl mit galanter Geste Nahda und nahm von ihr ein Gefäß mit Wein in Empfang. Er setzte sich auf den Stuhl, von dem Bjo aufgesprungen war, und schlug die Beine übereinander. Genüßlich trank er und wischte sich mit dem schmutzigen Ärmel den Mund ab. »Was starrt ihr mich so an? Ich bin lediglich dabei zu beweisen, daß Solaner sich planetaren Gegebenheiten sehr wohl anpassen können.«
»Aha«, machte Atlan. »Was mich zu der Frage bringt, ob ihr mich braucht. Morgen, meine ich.« »Eigentlich wollten wir …«, begann Bjo, doch Kölsch ließ ihn nicht ausreden. »Dann ist es gut. Ich habe noch vieles zu lernen. Ich werde in aller Frühe aufbrechen und mich auf den Weg machen. Solltet ihr mich suchen: Einfach die Straße entlang bis zum Stadtrand.« Er bestimmte mit der Hand die Richtung. »Dann hinter dem letzten Haus links ab und den Pfad hinauf.« »Links ab und den Pfad hinauf«, wiederholte Atlan. »Aber sonst fühlst du dich wohl?« »Bestens!« versicherte der Solaner. Er reckte sich. »Nur müde und zerschlagen. Ich denke, ich werde jetzt gleich schlafen gehen.« Er stand auf, ging zum Eingang und drehte sich noch einmal um. »Oder gibt es noch etwas?« Als er keine Antwort erhielt, trat er schulterzuckend ins Haus. Bjo setzte sich. Er schien die Welt nicht mehr zu verstehen. »Bist du jetzt wütend auf ihn, oder lachst du innerlich?« fragte Snowar den Arkoniden, der konsterniert vor sich hin blickte. Atlan schrak auf. »Was?« »Ob du wütend auf ihn bist.« »Snowar«, sagte Atlan gedehnt, »ich habe eine ganz bestimmte Befürchtung.« Er drehte sich zu Bjo um. »Spürst du etwas an dir? Ich meine, hast du manchmal das Gefühl, daß du Dinge denkst oder fühlst, die nicht zu dir passen?« »Nein. Sicher nicht. Du glaubst doch nicht etwa …?« Er sprach ins Leere. Die Köpfe der Chailiden und Atlans fuhren herum, als sie Kölsch im Haus schreien hörten. Der Magnide stürzte fast die Treppe hinunter. »Feuer!« schrie er. »Atlan, Bjo, Snowar! Es brennt in unseren Zimmern!«
* Ein einziger Blick genügte, und Atlan und Bjo wußten beide, was die Stunde geschlagen hatte. Jetzt allerdings blieb ihnen kaum Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Sie sprangen auf und rannten hinter Snowar, Mugon und Nahda her ins Gebäudeinnere. Kölsch stand an der Treppe und dirigierte die Chailiden nach oben. Erst als auch die Gefährten an ihm vorbei waren, schloß er sich wieder an. Andere Bewohner des Hauses erschienen. Überall wurden Türen aufgerissen. Von oben brüllte Snowar: »Wasser her! Bringt soviel Wasser, wie ihr könnt!« »Unsere Zimmer!« zeterte Kölsch. »Jemand will uns an den Kragen!« Oder uns einschüchtern! dachte Atlan. Schon auf dem Gang schlug ihm die Hitze entgegen. Holz knisterte. Funken sprühten aus den Eingängen. Atlan arbeitete sich bis zu seinem Zimmer durch, sah, daß blaßrote und blaue Flammenzungen die Wände emporleckten und aus dem Fenster schlugen, und hielt den Atem an, als ein scheußlicher Gestank in seine Nase drang. Was immer die Chailiden in ihre Matrazen steckten – es roch schlimmer als verbrannter Gummi. Eine dichte, gelbe Rauchwolke stand über seinem Lager. Kleine Flammen züngelten empor und … »Die Raumanzüge!« rief Atlan den Gefährten zu. »Hol deinen Anzug, Wajsto!« Er selbst drehte sich um, holte einmal tief Luft und machte einen Satz in sein Zimmer hinein. Mit zwei, drei schnellen Schritten war er bei dem brennenden Schemel, auf dem sein Raumanzug lag, schnappte sich diesen und lief damit auf den Gang zurück. Über das Treppengeländer warf er ihn nach unten. Kölsch stand wie erstarrt noch genau an der Stelle an der er ihn zuletzt gesehen hatte. Dafür
kam Bjo nun mit zwei Anzügen auf den Armen aus den Flammen. »Meiner ist wieder da!« rief er verstört. »Hinunter damit! Hier!« Atlan stand am Treppenaufgang, wo die Chailiden inzwischen eine Kette gebildet hatten. Eimer und Bottiche mit Wasser wurden von Hand zu Hand gereicht. Atlan gab sie an Bjo weiter, der an Kölsch, der nun endlich zu sich kam. Die Flammen schlugen aus den Zimmern auf den Gang hinaus. Vorhänge und das Holz des Treppengeländers fingen Feuer. Das Wasser vermochte den Brand nicht zu löschen. »Wir müssen diesen Teil des Hauses aufgeben!« schrie Atlan, um das Knistern und die angstvollen Rufe der Chailiden zu übertönen. »Wir können das Feuer nur eindämmen und dafür sorgen, daß es sich nicht nach unten und nach den Seiten hin ausbreitet! Wir brauchen noch mehr Wasser!« »Aber wir haben kaum noch …« »Die Nachbarn, Mugon!« Atlan nahm einen Eimer, reichte ihn an Bjo weiter und warf einen schnellen Blick nach unten. Vor dem Treppenaufgang standen Dutzende von Chailiden. »Zwischen deinem und dem Nachbarhaus ist ein Brunnen! Bildet alle eine Kette bis dorthin!« »Wir müssen zurück!« rief Kölsch. »Der Gang steht in Flammen! Gleich stürzt das Dach über unseren Köpfen zusammen!« Atlan schwitzte. Die Hitze ließ seine Augen tränen. Er sah Kölsch aus den Flammen kommen und schüttete das Wasser aus dem nächsten Bottich über den Holzboden. Plötzlich kam ihm ein furchtbarer Gedanke. »Mugon, Nahda! Wo ist Shyra?« »Bei den Göttern der Ahnen!« schrie Mugon. »Ihr Zimmer liegt noch hinter den euren am Ende des Ganges!« Atlan handelte, ohne lange zu überlegen. Bjo versuchte, ihn festzuhalten, als er seine Absicht erkannte. »Komm zurück, Atlan! Das schaffst du nicht mehr!«
Aber er sprang schon durch eine Flammenwand. Über, neben und unter ihm knisterte und knallte es. Die Hitze war infernalisch. Qualmwolken versperrten die Sicht. Atlan hielt die Luft an und riß sich die Arme vors Gesicht. Zwei, drei weitere Sprünge brachten ihn hinter die Feuer. Das Ende des Ganges lag in dunklem Rauch. Atlan hörte, wie jemand schrie: »Spring aus dem Fenster! Ich fange dich auf!« Er glaubte, daß es Bjo war, konnte es aber nicht genau sagen. Das letzte Zimmer am Ende des Ganges! Atlan sah es vor sich. Er rüttelte an der Tür und fand sie verschlossen. Verzweifelt versuchte er, sie aufzustoßen, doch er mußte erst zwei, drei Schritte zurückgehen und einen kurzen Anlauf nehmen. Dann warf er sich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers mit der Schulter dagegen. Die Tür flog krachend aus den Angeln. Alles in Atlan schrie nach Luft, aber er durfte nicht atmen! In Shyras Zimmer brannte es noch nicht, doch der Qualm war durch die Türritzen eingedrungen. Das Fenster war ein verwaschener, heller Fleck. Atlan wischte sich über die Augen, preßte die Lippen aufeinander und fand Shyra besinnungslos in der Mitte des Raumes auf dem Boden liegend. Er bückte sich – und war für Sekunden nahe daran, das Gleichgewicht zu verlieren. Helle Punkte tanzten vor seinen Augen. Ihm blieb keine Zeit mehr, wollte er nicht neben dem Mädchen zusammenbrechen. Er nahm all seine verbliebene Kraft zusammen. Der Zellaktivator peitschte belebende Ströme durch seinen Körper, aber auch er konnte ihn nicht vor dem Ersticken bewahren. Atlan hob Shyra vom Boden auf, legte sie sich über die Arme und wankte zum Fenster. Draußen im Gang hörte er das Krachen von herabstürzenden Holzbalken und die Entsetzensschreie der Chailiden. Das Fenster!
Er legte Shyras reglosen Körper über den unteren Rahmen und schob seinen Oberkörper so weit wie möglich hinaus. Ganz kurz nur teilten sich die Rauchschwaden, und er atmete gierig aus und ein. Der Schwindel ließ etwas nach. Atlan sah im Schein vieler Öllampen eine Chailidenmenge auf der Straße und direkt unter dem Fenster eine Gestalt mit ausgebreiteten Armen – Bjo. »Spring!« rief der Katzer. Das Fenster war etwa vier Meter über der Straße. Atlan nahm Shyra in die Arme, hob sie durch den Rahmen und warf sie. Bjo fing sie geistesgegenwärtig auf. Atlan kletterte aus dem Fenster, holte noch einmal tief Luft und sprang. Ein Aufschrei ging durch die Menge, als er federnd auf den Beinen aufkam und sich auf dem harten Pflaster abrollen ließ. Er hatte das Gefühl, daß seine sämtlichen Knochen gebrochen sein müßten. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen. Dann sah er Bjo über sich gebeugt. »Atlan! Hast du dir …?« Der Arkonide nahm seine Hand und preßte sie. »Kümmert euch um Shyra«, preßte er unter Schmerzen hervor. »Lebt sie?« »Ich … weiß es nicht.« Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis das Feuer unter Kontrolle war, und eine weitere, bis Mugon schwitzend und rußgeschwärzt aus dem Haus trat und verkünden konnte, daß alles überstanden sei. Zwar hielten noch einige Chailiden bei Schwelbränden Wache, doch bestand keine Gefahr mehr, daß der Brand sich noch einmal ausbreitete. Atlan nickte geistesabwesend und blickte am Haus hoch. Er saß auf der Veranda des gegenüberliegenden Gebäudes und sah, daß von Mugons Heim nur noch das Untergeschoß und ein Teil des Obergeschosses stand. Es wieder aufzubauen, würde Wochen harter Arbeit kosten. Doch wichtiger war, daß kein Chailide ernsthafte Verletzungen erlitten
hatte. Auch Shyra nicht. Sie lag in Atlans Armen. Noch benommen, blickte sie von ihm zu Mugon und wieder zurück. Sie schien noch nicht fassen zu können, was geschehen war. Aus dem wenigen, das sie gesprochen hatten, nachdem sie das Bewußtsein zurückerlangt hatte, wußte der Arkonide, daß sie sich eingeschlossen hatte, um mit sich allein zu sein. Dabei war sie eingeschlafen und hatte den giftigen Rauch eingeatmet. Atlan war keine Minute zu früh gekommen. Zwar litt Shyra noch unter den Vergiftungserscheinungen, doch bald würde es auch ihr besser gehen. – »Wir sind dir alle zu großem Dank verpflichtet, Atlan«, sagte Mugon. »Das Haus läßt sich wieder aufbauen. Shyra aber hätte niemand aus dem Reich der Toten zurückholen können.« »Das Feuer wäre niemals gelegt worden, hättest du uns nicht bei dir aufgenommen.« Mugon winkte barsch ab. »Davon will ich nichts hören! Ihr wohnt weiterhin bei mir. Wir werden schon einen Platz für euch finden. Was geschehen ist, bestärkt uns nur in dem, was wir über einige Bewohner von Ushun denken.« Wen er damit meinte, war klar. Atlan schüttelte den Kopf. »Macht jetzt keine Dummheiten, Mugon! Laßt euch nicht zu etwas hinreißen, das ihr bitter bereuen würdet. Der Anschlag galt mir und meinen Freunden. Es ist demnach allein unsere Sache, darauf zu antworten. Ich will nicht, daß ihr euch wegen uns in Gefahr begebt.« »Du bist ein seltsamer Mann«, sagte Mugon. »Du hättest dir bei dem Sprung aus dem Fenster das Genick brechen können.« Atlan lächelte matt. »Die Knochen eines Zehntausendjährigen halten eben doch noch etwas aus.« Er winkte ab, als Mugon ihn ungläubig anstarrte. »Vergiß es. Wir werden euch beim Wiederaufbau helfen, so gut es uns …«
»Das kommt nicht in Frage. Ihr habt Wichtigeres zu tun, und schon jetzt können wir uns vor Chailiden kaum retten, die dieser Arbeit entgegenfiebern. Für die nächsten Tage müssen wir alle im Untergeschoß leben. Dann sehen wir weiter. Tut ihr das, was ihr glaubt, tun zu müssen. Wir dagegen werden uns nicht die Freude über die Rückkehr der Veraghen verderben lassen.« Mugon bekräftigte seine Worte durch heftige Gesten. Atlan lächelte ihn dankbar an. Shyra regte sich in seinen Armen. »Es war eine Warnung«, flüsterte sie. »Vielleicht die letzte. Das Feuer galt auch mir.« Bjo und Kölsch setzten sich zu ihnen, während Mugon und einige andere Mitglieder seiner Familie sich unter die Menge mischten. Atlan wußte nicht, ob er sie bewundern oder bedauern sollte. Unwillkürlich fragte er sich, wie sich Menschen in ihrer Situation verhalten hätten. Aber auch das war jetzt nicht sein Problem. Shyra mochte recht haben. Aber er dachte nicht daran, sich von seinem Vorhaben abbringen zu lassen – nun erst recht nicht. »Es war der gleiche Besucher wie heute morgen«, flüsterte der Arkonide, damit Kölsch es nicht hörte. »Daß er den Raumanzug zurückbrachte, beweist es. Vermutlich sollten wir wissen, wer uns die Warnung zukommen ließ.« »Eine Warnung?« fragte Breiskoll. »Atlan, wir hätten alle verbrennen können, wären wir in unseren Zimmern gewesen!« »Das waren wir aber nicht, und der Unbekannte wußte es. Daß sich Shyra in ihrem Zimmer befand, ahnte er nicht.« »Die Familien stecken dahinter, nicht wahr?« »Ohne jeden Zweifel, Bjo. Aber das ändert nichts daran, daß wir uns in wenigen Stunden auf den Weg machen werden. Shyra?« »Ich führe euch zu den Verstecken, von denen aus ihr sie beobachten könnt, auch beim Meditieren.« Sie richtete sich auf und konnte schon wieder sicher auf ihren eigenen Beinen stehen. »Und
ich werde mit euch dort bleiben. Schlagt mir das nicht ab.« Sie denkt nur an Heldis, dachte Atlan. Auch wenn sie davon überzeugt ist, daß er nicht mehr in Ushun ist. Vielleicht nicht einmal mehr auf Chail? Er wollte ihr helfen, ihr zureden, aber jeder Trost wäre nur eine Phrase gewesen. Also schwieg er und gab sich der Hoffnung hin, beim Beobachten der Familien etwas herauszufinden, das auch Licht in Heldisʹ Schicksal zu bringen vermochte. Er hatte einen ganz bestimmten Verdacht. Das »Verschwinden« von Chailiden aus Ushun, das Verschwinden der Kinder in dieser und anderen Städten ließ im Grunde nur eine Erklärung zu. Aber Atlan hütete sich, seine Vermutung auszusprechen. Der Gedanke war zu phantastisch. Immerhin glaubt Shyra, das machte ihr ganzes Verhalten deutlich, nicht, daß Heldis tot war – umgebracht als Verräter an den Familien und der Macht, die hinter ihnen stand. Sie wollte einen Weg zu ihm finden, und es gab nur einen. Es war der Weg, den auch Atlan gehen mußte – früher oder später. 7. Shyra führte Atlan und Bjo durch stille und dunkle Gassen wieder zum westlichen Stadtrand. Diesmal nahmen sie andere Wege und mieden den Schein der hier nur noch sehr verstreut stehenden Lichtmasten. Die Chailiden schienen sich früher als sonst in ihre Häuser zurückgezogen zu haben. Nur wenige Male mußten die drei einigen Nachtwanderern ausweichen. Anscheinend wollten die Ushuner ausgeruht für den Empfang der Veraghen und das Fest sein. »Wir gehen besser nicht zum Haus der Heldim«, flüsterte das Mädchen, als sie den Außenbezirk erreicht hatten. »Heldim wird nun doppelt wachsam sein. Er weiß, daß wir irgendwann
zurückkommen werden.« Damit spielte sie auf den erneuten Versuch an, ihre Bewußtseine zu durchleuchten. Kurz nach ihrem Aufbruch war es geschehen. Atlan hatte es gespürt wie bei den ersten beiden Malen, und auch Bjo und Shyra waren davon betroffen gewesen. Der Katzer hatte den Versuch abblocken können, in seinen Geist einzudringen – ebenso wie Shyra, der es am schwersten von allen dreien fiel. Aber niemand konnte wissen, ob nicht doch die unbekannten Gegner die Absichten der Freunde durchschaut hatten. Bei allem, was Atlan vorerst noch für Aberglaube oder Produkt der Einbildung hielt, war er doch hundertprozentig davon überzeugt, daß die Chailiden sich in andere Wesen hineinversetzen konnten, wenn sie eine gewisse Stufe der geistigen Reife erreicht hatten. So mußten die Freunde bei aller Vorsicht damit rechnen, bereits erwartet zu werden – ganz gleich, welchem Haus sie sich zuwandten. Shyra führte sie durch den Gürtel der Holzhütten und zwischen Gebüschen an ein Haus heran, das ganz am Stadtrand lag, fast genau gegenüber dem der Heldim. Kein Heulen verriet, daß Zhittas zwischen den mächtigen Gebäuden herumstreiften. Wie Diebe näherten die drei sich dem Haus. Hier gab es keine Masten mit Öllampen. Nur aus einigen offenen Fenstern drang heller Lichtschein, und jedesmal, wenn Atlan eine Bewegung in diesen Fenstern sah, warfen er, Bjo und Shyra sich zu Boden und warteten, bis die Gestalt wieder verschwunden war. »Der Schuppen dort vorne«, flüsterte die Chailidin. »Ich war oft in ihm und …« »Du hast auch andere Familien beobachtet?« fragte Atlan. »Nicht nur die Heldim?« »Sie gehören alle zusammen.« Mit dieser Auskunft hatte er sich zu begnügen. Im Schutz der Dunkelheit schlich Shyra sich weiter auf den Schuppen zu. Eine breite, halb offen stehende Tür zog sie vorsichtig ein Stück weiter
auf und ließ die beiden Männer an sich vorbeischlüpfen. Sie folgte und drückte die Tür wieder zu. Es war stockdunkel im Schuppen. Atlan ging voran, achtete darauf, daß er keine Geräte oder auf dem Boden liegenden Gegenstände umstieß, und war auf einen Angriff gefaßt. Es geschah nichts. Der Schuppen war verlassen. Er verfügte nur über ein kleines Fenster, vor dem eine breite, hölzerne Truhe stand. Shyra kletterte hinauf und bedeutete ihren Begleitern, sich neben ihr auf die Truhe zu knien. Vorsichtig deutete sie aus dem Rahmen auf ein erleuchtetes Fenster schräg gegenüber. Es war groß, und in der matten Beleuchtung im Innern des dahinterliegenden Raumes waren drei Chailiden zu erkennen, die am Boden saßen. »Der Meditationsraum«, flüsterte sie. »Dort sitzen die Mitglieder der Faridar Tag und Nacht und geben sich ihren Übungen hin.« »Tag und Nacht?« Atlan runzelte die Stirn. »Du meinst, sie meditieren immer?« »Natürlich wechseln sich die Mitglieder der Familien ab. Aber immer befinden sich einige von ihnen im Meditationsraum.« Shyra schwieg. Dann, nach einer Pause, flüsterte sie: »Und sie meditieren nicht nur.« »Was tun sie dann?« »Ich weiß es nicht. Niemand außer ihnen weiß es. Aber dort geht etwas vor, das unheimlich ist.« Allein die Tatsache, daß diese Chailiden nicht wie die Dörfler nur nachts meditierten, war verwunderlich genug. Aber was hatten Shyras weitere Andeutungen zu bedeuten? »Ihr müßt Geduld haben«, flüsterte sie. Was bleibt uns anderes übrig? dachte der Arkonide. So knieten sie für Stunden auf der Truhe und sahen, wie die Chailiden im Meditationsraum sich in regelmäßigen Abständen abwechselten. Die Entfernung vom Schuppen zum Haus betrug keine fünf Meter. Atlan und Bjo konnten alles sehen, was in dem
Raum vorging. Und bald schon hatte der Arkonide den Eindruck, daß die Mitglieder der Familien ihren Geist nicht einfach ins Blaue hinausschickten, sondern irgend etwas oder irgend jemanden gezielt beobachteten. Sie? Wußten sie, daß er, Bjo und Shyra im Schuppen steckten? Waren sie dabei, die Bewohner der Stadt ebenso »auszuhorchen«, wie sie es bei ihnen versucht und vielleicht auch zum Teil geschafft hatten? Ein bedrückender Gedanke kam ihm. Hatten sie sich denjenigen von ihnen ausgesucht, bei dem ihre Bemühungen – was immer sie auch erreichen wollten – am ehesten Erfolg brachten? Kölsch? War dessen merkwürdiges Verhalten darauf zurückzuführen? Der Magnide war auf eigenen Wunsch bei Snowar und Mugon geblieben, um am Morgen in aller Frühe wieder mit seinen neuen Freunden auf die Felder zu ziehen. Zwar hatte Atlan Snowar gebeten, ein wachsames Auge auf ihn zu haben, doch reichte das? Atlan war versucht, sich von hier zurückzuziehen und in die Stadt zurückzugehen. Aber dann sagte er sich, daß Kölsch keinen großen Schaden anrichten konnte und er sich nur etwas einredete. Und es war wichtig, die Familien jetzt nicht aus den Augen zu lassen. »Bjo«, flüsterte er. »Zwei von uns bleiben hier. Der dritte versucht, sich an Heldims Haus anzuschleichen.« »Und dieser dritte bist du, wie ich annehme?« »Es geht darum, daß ihr mir Rückendeckung gebt. Shyra, ich weiß, daß du am liebsten sofort zu den Heldim gehen möchtest, um zu beobachten. Ich verspreche dir, daß ich nichts unversucht lasse, um Aufschluß über Heldisʹ Schicksal zu erhalten. Wir haben das gleiche Ziel. Bitte, vertraue mir auch jetzt. Wenn die Familien wissen, daß wir hier in diesem Schuppen sind, werden sie ihre ganze Aufmerksamkeit darauf konzentrieren. Ich glaube nicht, daß sie noch einmal versuchen, sich in uns hineinzuversetzen. Erstens
haben sie merken müssen, daß sie damit wenig Erfolg haben, und zweitens scheint es mir, daß sie uns in Sicherheit wiegen wollen. Das aber tun wir nun mit ihnen.« Sie blickte ihn verständnislos an. »Ihr macht euch bemerkbar, während ich fort bin. Macht Geräusche, aber nicht so, daß unsere Freunde merken, daß sie sie hören sollen. Euch wird schon etwas einfallen. Sie sollen weiterhin glauben, daß wir alle drei hier sind. Das wird es leichter für mich machen.« »Du willst nicht warten«, flüsterte Bjo. »Atlan, du willst jetzt gleich hinüber.« »Solange es dunkel ist, stehen meine Chancen besser, unentdeckt zu bleiben. Shyra, kannst du mir das Versteck beschreiben, von dem aus du mit Heldis Kontakt aufgenommen hast?« »Ja«, antwortete sie zögernd. »Ich weiß, ich verlange viel von dir. Aber du mußt mir vertrauen.« »Das tue ich. Sonst wäre ich nicht hier bei euch.« »Still!« flüsterte Bjo. Im Meditationsraum des Faridar‐Hauses erfolgte die nächste Ablösung. Diesmal aber entging den Freunden der kurze Blick nicht, den einer der eben noch Meditierenden aus dem Fenster zum Schuppen herüber warf. »Jetzt wissen wir, daß sie uns hier vermuten«, flüsterte Atlan. »Shyra, sag mir bitte jetzt, wohin ich gehen muß.« Mit Worten und Gesten beschrieb sie ihm den Weg. * Es war zu riskant. Von der Stadt her wäre es zwar auch nicht gerade leicht gewesen, sich an das kleine Getreidesilo beim Haus der Heldim anzuschleichen, doch Erfolg versprechender als von diesem
Schuppen aus. Atlan hätte an zwei Häusern vorbeihuschen müssen, auf meist freiem Gelände. Er wählte den direkteren Weg, ließ Shyra und Bjo aber im Glauben, den von ihr vorgeschlagenen zu nehmen. Denn auch der direkte war gefährlich. Wenn Atlans Vermutung stimmte, noch weitaus gefährlicher, wenn auch die Gefahr einer Entdeckung durch Angehörige der Familien geringer sein mochte. Aber er mußte das durch die Häuser gebildete Sechseck durchqueren, und das hieß: an der Hütte des Uralten vorbei. Atlan verließ den Schuppen und wartete zwischen Büschen, bis er sicher sein konnte, daß ihm niemand folgte. Es standen keine Wachen um den Schuppen herum. Die Faridar fühlten sich offensichtlich sehr sicher. Er schlich weiter. Zwischen den sechs Gebäuden waren regelrechte Ziergärten angelegt. Es gab hohe, schlanke Büsche, deren Blüten sich bei Nacht geschlossen hielten und dennoch einen betörenden Duft verbreiteten. Es gab Blumenbeete und kleine Springbrunnen, deren sanftes Geplätscher die Geräusche überlagerte, die der Arkonide nicht zu vermeiden vermochte. Und inmitten dieser gepflegten Anlagen stand die Hütte des Uralten, ein besserer Schuppen, finster und drohend. Etwas ging von ihr aus, das Atlan schaudern ließ. Er zögerte. Sollte er weitergehen oder die Gelegenheit nutzen, um vielleicht einen Blick durch die Ritzen zwischen den Holzbrettern oder die Luke werfen zu können, durch die der Uralte seine Mahlzeiten in Empfang nahm? Er schalt sich einen Narren. Schließlich wußte er, daß niemand durch die Luke hindurchzusehen vermochte. Die Uralten taten alles, um ihr Geheimnis zu wahren. Aber worin bestand das? Wieder mußte der Arkonide an die zweifellos vorhandene, starke parapsychische Begabung der Chailiden denken. Gut, auf einer
gewissen Stufe angelangt, konnten sie ihren Geist in den anderer Wesen schlüpfen lassen – etwas, das der Telepathie nahekam, aber nicht das gleiche war. Sie glaubten daran, auf dem Weg der »geistigen Raumfahrt« selbst Geschöpfe auf weit entfernten Planeten so erreichen zu können. Atlan konnte es sich nicht vorstellen, wenngleich ihm manchmal Zweifel kamen. Er wußte, daß die Roxharen nicht daran glaubten, obwohl gerade sie angeblich nur deshalb Chailiden in großer Zahl zu fremden Welten transportierten, weil sie die intelligenten Völker dieser Sterneninsel durch ihre Gabe einen sollten. In Wahrheit konnte es ihnen nur darum gehen, potentielle Rivalen um die Vorherrschaft in diesem Raumsektor auszuschalten. Sie lähmten deren technologische Entwicklung, indem sie von Chailiden auf ihren Welten das Virus der Meditation ausstreuen ließen – lange bevor diese Völker auf der kosmischen Bühne Bedeutung erlangen konnten. So weit, so gut. Aber welche Macht hatten die Uralten? War es denn wirklich denkbar, daß sie eine solche geistige Potenz erreicht hatten, die es ihnen erlaubte, nicht nur ihren Geist an andere Orte zu versetzen? Konnten sie Teleporter sein? Und falls es so wäre: Hätten vielleicht die Angehörigen der Familien eine gewisse Macht über sie, um sie für ihre Zwecke einzusetzen? Atlan wußte, daß sich ihm hier und jetzt die Gelegenheit bot, sich Gewißheit zu verschaffen. Er konnte in die Hütte eindringen. Niemand war da, der ihn daran hindern konnte. Wirklich nicht? Saß der Uralte nicht vielleicht in seinem Verschlag und beobachtete jeden seiner Schritte, kannte seine geheimsten Gedanken? Wartete er möglicherweise nur darauf, daß er alle Vorsicht vergaß?
Der Gedanke an Bjo, Kölsch, Shyra und vor allem an das, was ihm in der Hütte geschehen mochte, gab schließlich den Ausschlag. Er würde hierher zurückkehren, doch erst, wenn er sich mit den Gefährten abgesprochen hatte. Der Arkonide gab sich einen Ruck. Er schlich weiter, und bald hatte er unangefochten das kleine Silo erreicht. Es war ein drei, vier Meter hoher, runder Turm auf vier mannshohen Stützen. Eine Leiter führte hinein. Atlan hatte ihn schon gesehen, als er mit Heldim sprach. Er überzeugte sich ein letztesmal davon, daß er allein war. Dann kletterte er ins Silo, das zu seinem Glück leer war, wie von Shyra vorausgesagt. Eine Klappe im Boden ließ sich leicht öffnen. Atlan zwängte sich hindurch und zog die Beine nach. Kornstaub wirbelte auf und stieg ihm in die Nase. Er mußte sie sich zuhalten, um nicht zu niesen. Nach einer Weile gewöhnte er sich daran. Nach kurzem Suchen in der Dunkelheit fand er die im oberen Teil des Silos befindliche Öffnung, durch die Shyra schon so oft beobachtet hatte. Er sah hindurch. Scheinbar direkt vor ihm lag ein Fenster, das dunkel war. Heldisʹ Zimmer! dachte er. Ein gutes Stück daneben befand sich das größere Fenster des Meditationsraums. Wieder sah Atlan Chailiden, die in ihrer Versenkung dort saßen, und wieder gewann er nach einer Weile den Eindruck, daß sie alles andere taten, als ihren Geist wahllos in die Ferne zu schicken. Er konnte nicht hören, was gesprochen wurde, als die Ablösung erfolgte. Jetzt sah er Heldim selbst, und aus dessen Gesten war zu schließen, daß er den anderen Anweisungen gab. Heldim wirkte aufgeregt. Atlan erinnerte sich an den grauenvollen Schrei und an Heldims und Yabsuls Reaktion darauf.
Hatten die Familien Probleme mit sich selbst? War Heldis kein Ausnahmefall gewesen? Oder gab es in diesen großen, stillen Häusern noch etwas, das die Chailiden mehr zu schrecken vermochte als die Angst vor einem Verrat ihrer Geheimnisse? Atlan ahnte nicht, wie nahe er der Wahrheit kam. Doch seine Hoffnungen, in den nächsten Stunden irgendeinen Hinweis zu erhalten, der ihm weiterhalf, erfüllten sich nicht. Chailiden meditierten, wurden abgelöst und verschwanden im Haus. Daran änderte sich auch nichts, als der Morgen anbrach. Als es völlig hell geworden war, wußte der Arkonide, daß er hier seine Zeit verschwendete. Er mußte zurück zu Bjo und Shyra, bevor es von Mitgliedern der Familien zu wimmeln begann. Zurück bei den anderen, berichtete er leise von seinen Beobachtungen. Viel Neues war es ja nicht, und Shyras gefaßtes Nicken machte deutlich, daß sie nicht mehr erwartet hatte. »Auch hier hat sich nichts getan, das wir nicht ohnehin schon gesehen hätten«, flüsterte Bjo. »Das alles sieht mir sehr nach Routine aus. Die Burschen kontrollieren, überwachen etwas, aber was?« »Oder wen«, murmelte Atlan. »Ich glaube, wir haben lange genug auf der Lauer gelegen. Später werden wir zurückkommen. Jetzt aber möchte ich mir jemand anderen ansehen.« »Kölsch?« Atlan nickte. »Dann sollten wir uns beeilen«, flüsterte Shyra. »Wenn erst einmal die Veraghen in der Stadt sind, findest du so leicht niemanden mehr.« Sie zogen sich vom Fenster zurück. Mit mehr Glück als Verstand schafften sie es, den Bezirk der Familien zu verlassen, ohne von Chailiden gestellt zu werden, die jetzt aus den Häusern kamen. Vielleicht hatten sie dies nur dem Umstand zu verdanken, daß die Mitglieder der Familien viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Sie standen in Gruppen beieinander und unterhielten sich erregt, gerade so, als wäre etwas Unerwartetes geschehen.
Atlan gab es auf, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Und als erst die Innenbezirke von Ushun erreicht waren, ließ ihn der Trubel dort die Familien vorübergehend vergessen. In Ushun war die Hölle los. Von überallher strömten Chailiden ins Zentrum – Frauen und Männer, Alte und Junge. Selbst Kinder wurden auf den Schultern getragen. »Die Veraghen!« hörte Atlan die Rufe. »Sie sind zurück! Sie sind in der Stadt!« »Zu spät«, sagte Shyra bedauernd. Aber in ihren Augen glomm die Neugierde. »Du brauchst dir keine Hoffnungen zu machen, deinen Freund im Gedränge zu finden, falls er nicht in Mugons Haus geblieben ist.« »Du hast die Veraghen auch noch nicht gesehen?« fragte Bjo. Shyra schüttelte den Kopf. »Ich war ein Kind, als sie zuletzt durch Ushun zogen. Aber ich werde sie sehen! Diesmal sehe ich sie!« Atlan fragte sich, was an diesen Fremden so Besonderes sein mochte, daß Shyra selbst ihren Schmerz über Heldisʹ Verschwinden zu vergessen schien. Aber das Fieber, das sich in den Straßen ausbreitete, steckte auch ihn schnell an. Vor einer Schankstube standen und saßen Chailiden und tranken Wein aus großen Gefäßen. Einige tanzten. Je näher die Freunde dem Zentrum kamen, desto schwieriger war das Durchkommen. Die Straßen waren verstopft, und immer noch strömten weitere Chailiden nach. Es wurde gesungen, getrunken und gelacht. Kinder schwangen bunte Tücher wie Fähnchen. Das alles erinnerte Atlan sehr an die Erde in früheren Jahrhunderten, an Straßenkarneval und Volksfeste. Die drei hatten Mühe, zusammenzubleiben. Immer wieder wurde Shyra zur Seite gerissen und von freudetrunkenen Chailiden hochgehoben. Sie mußte mit ihnen tanzen, um wieder freizukommen, und selbst Bjo und Atlan konnten sich der Feiernden kaum erwehren.
Irgendwie schafften sie es dann doch, sich zusammen bis zu Mugons Haus durchzuschlagen. Mugon und seine Familienmitglieder standen auf Bänken und Stühlen und klatschten rhythmisch in die Hände. »Das ist unfaßbar!« entfuhr es Breiskoll. »Diesen Leuten ist das halbe Haus abgebrannt! Und sie … tun, als ob gar nichts geschehen wäre!« »Ihr versteht uns Chailiden noch lange nicht«, sagte Shyra nur. Und schon kletterte sie zwischen Mugon und Nahda auf die Bank und reckte den Kopf in die Höhe, um besser sehen zu können. Die verkohlten Balken, Steine und anderer Schutt waren fortgeräumt worden. Bjo ließ sich von Atlan auf die Veranda ziehen, als Bewegung in die Menge der Wartenden kam. »Sie sind da!« erscholl es von allen Seiten. »Seht! Dort kommen sie!« Atlan stellte sich auf die Zehenspitzen, Bjo ebenfalls. Und dann sah er sie, als das Volk eine Gasse bildete. 8. Sie ritten auf besonders hochbeinigen Murlen und waren selbst schlanke, beinahe dürre Humanoiden. Ihre Haut war spröde und gelblichbraun. Sie waren etwa so groß wie durchschnittliche Terraner, hatten flache Gesichter mit sehr schmalen Augen und verschließbaren Nasenschlitzen und verbargen ihre mageren, eckig wirkenden Körper unter dichten, langen Umhängen. Nur dürre und sehnige Hände und Füße schauten daraus hervor, mit je drei Fingern, beziehungsweise Zehen. Die Chailiden machten Platz für sie. Hinter ihnen schloß sich die Gasse wieder. Kinder liefen hinter den Reitern her und berührten die Murlen. Und nicht nur sie zeigten Interesse an diesen ungeheuer kräftigen, sehnigen und beweglichen Tieren. Atlan fiel bald auf, daß
eine Reihe von Chailiden offenbar mehr von den Murlen angetan waren als von den Veraghen selbst. Er zählte zwölf von ihnen – zwölf Reiter und zwölf Tiere. Jetzt, als sie fast auf der Höhe von Mugons Haus waren, verstärkte sich sein Eindruck, daß es sich bei diesen Fremden um ehemalige Wüstenbewohner handelte. Ihre Art, sich zu bewegen, ihr Aussehen – alles an ihnen ließ ihn an steppen‐ und wüstenbewohnende Reitervölker denken, die er in der Frühgeschichte der Erde kennengelernt hatte. Sie winkten freundlich zurück, warfen kleine, bunte Kugeln in die Menge und trieben von den Sätteln aus Späße mit den Kindern. Atlan, der der Ankunft dieser Fremden mit einiger Skepsis entgegengesehen hatte, fühlte schon sehr bald eine starke Sympathie für die Veraghen. Aber Snowar hatte gesagt, daß sie von einer fernen Welt nach Chail gekommen waren! Wie Raumfahrer sahen sie bestimmt nicht aus. Hatte Chail sie also tatsächlich verändert? »Mugon!« Atlan stieß den Chailiden leicht an und wartete, bis dieser sich vom Anblick der Veraghen losmachen konnte und zu ihm herabbeugte. Er mußte schreien, um den Straßenlärm zu übertönen. »Mugon! Sind alle Veraghen so wie diese hier?« »Was heißt alle?« brüllte Mugon zurück. »Es gibt nur diese zwölf!« »Du meinst …?« »Nur diese zwölf, ja! Was dachtest du?« Er wußte es selbst nicht. Daß es irgendwo in der Wildnis ein Raumschiff gab, von dem aus die Veraghen zu ihren Reisen aufbrachen? Aber das war absurd. Falls sie noch eine Technik besaßen – würden sie sie dort zurücklassen, um in den Dörfern und Städten als schlichte Nomaden aufzutreten? »Sie reiten nur über den Kontinent?« schrie er in Mugons Ohr. »Einfach so?« »Nein!« Chailiden drängten sich an der Bank vorbei, um den
weiterziehenden Veraghen zu folgen. Mugon wurde heruntergestoßen und landete in Atlans Armen. Er schien das gar nicht zu bemerken. »Nein, sie bringen uns Murlen! Die, auf denen sie reiten, führen sie nur vor, und die behalten sie natürlich!« »Was?« Atlan verstand immer weniger. »Das sind natürlich ihre Tiere! Die anderen, die sie hier verkaufen oder gegen unsere Güter eintauschen werden, stehen gut bewacht am Stadtrand! Was glaubst du, warum so viele Chailiden aus anderen Städten in Ushun sind? Sie kamen allein deshalb, weil sie einige dieser Murlen erstehen wollen! Die Veraghen sind dafür bekannt, daß sie die besten, ausdauerndsten, schnellsten, aber vor allem auch gehorsamsten Murlen züchten! Sie ziehen von Stadt zu Stadt, um sie zu verkaufen, und leben bestimmt ganz gut von dem Erlös!« »Sie tun nichts anderes?« Mugon lachte laut. »Was sollten sie anderes tun? Meditieren?« »Und weil es hier einen Murlenmarkt gibt, sind alle so ausgelassen?« »Atlan, man merkt, daß du ein Fremder bist. Die Veraghen waren es auch einmal, aber sie haben schnell gelernt. Sie verstehen uns, und wir verstehen sie! Prächtig sogar! Sieh dir die Kinder an! Und abgesehen davon, daß wir die Veraghen und ihre Murlen gern in Ushun sehen, ist uns ihr Kommen Anlaß genug für ein großes Fest! Es gibt viel zu wenig Feste in den Städten! Jeder trägt sich mit seinen trüben Gedanken herum, du weißt schon. Aber heute …« Mugon lachte wieder und rückt sich den Lendenschurz zurecht. »Heute wird gesungen, gelacht und getrunken. Und genau das gedenke auch ich jetzt zu tun!« »Mugon, dein Haus ist halb heruntergebrannt!« »Indem ich Trübsal blase, baue ichʹs nicht wieder auf!« Das war wahrhaftig ein Argument, dem Atlan nichts mehr entgegenzusetzen hatte.
»Warte noch!« rief er, als Mugon sich der davonströmenden Menge anschließen und zur nächsten Schankstube ziehen wollte. »Warte! Wann findet der Murlenmarkt statt?« »Heute nachmittag, wenn der Trubel vorbei ist!« »Bleiben die Veraghen danach in der Stadt?« »Sicher! Meist einige Tage. Ihnen schmeckt unser Wein wie uns! Du willst mit ihnen reden?« Atlan nickte heftig. »Komm nach Anbruch der Dunkelheit in eine der drei Schänken! Ganz gleich, in welche. Du triffst dort mit Sicherheit einige Veraghen!« Dann war er nicht mehr zu halten. Andere Chailiden nahmen ihn in ihre Mitte, und bald war er in der Menge untergetaucht, die sich die Straße hinabwälzte. Atlan kehrte schulterzuckend zu Bjo und Shyra zurück, die mit hängendem Kopf auf der einzigen noch nicht umgestürzten Bank saß. Jetzt schien sie sich Vorwürfe zu machen. »Verstehst du das, Bjo?« fragte der Arkonide. »Nicht die Bohne.« »Wo hast du denn den Ausdruck her?« »Weiß nicht, von Bull? Von Perry? Muß schon lange her sein, daß ich ihn aufgeschnappt habe. Was tun wir jetzt, Atlan?« »Was wir schon lange tun wollten: Wir suchen Kölsch. Du weißt ja: letztes Haus, dann links den Pfad hinauf …« »Ich bleibe hier«, verkündete Shyra. »Ich will … allein sein.« Ihre Gefühle wechselten wie auf anderen Planeten das Wetter. Eben noch jubelte sie den Veraghen zu, und nun schien sie sich wieder ganz ihrem Gram hinzugeben. »Nun gut. Aber tu uns den einen Gefallen, und schließe dich nicht wieder in ein Zimmer ein …«
9
. Sie fanden den Weg, und sie fanden auch Kölsch. Was sie nicht mehr fanden, das waren Worte. Kölsch, Wajsto Kölsch, der in der SOL Zynismus und Verachtung für alle »Schwachen« gezeigt hatte, der glaubte, nur mit starker Hand ließe sich die Situation an Bord noch retten – dieser Kölsch nun kroch zwischen langen Reihen des kohlähnlichen Gemüses hin und her und kratzte den Boden auf. Der Mann, der die SOL‐Farmer einmal als »notwendige Plage« und als »verdrecktes Pack« bezeichnet hatte, wühlte mit den Händen im Boden herum, wischte sie sich an der ohnehin schon verdreckten Kombination ab und grub Löcher, in die er neue Sämlinge steckte. Mit einer Kanne begoß er dann die jungen Pflänzchen und meistens auch seine Knie. Und er pfiff dabei so fröhlich vor sich hin, als gäbe es für ihn nichts Schöneres mehr, als Felder zu bestellen; als gäbe es keine SOL mehr, die auf ihn wartete, keine Chailiden und keine Roxharen. Chailiden zumindest sahen Atlan und Breiskoll hier tatsächlich nicht mehr. Jene fünf, von denen Snowar gesprochen hatte, mußten in Ushun sein und mit den anderen feiern. Wajsto Kölsch, der Solaner, dem das Leben auf einem Planeten wie allen Solanern ein Greuel gewesen war, ließ sich von den Knien aufs Gesäß fallen, sog genüßlich die würzige, frische Luft ein, stützte sich mit den Händen hinter dem Rücken ab und ließ sich mit geschlossenen Augen von der Sonne bescheinen. Atlan und Bjo waren am Feldrain stehengeblieben und sahen sich betroffen an. Sie konnten über das Bild, das sich ihnen hier bot, nicht lachen. Beide wußten, was sie davon nun zu halten hatten. Es fängt an! dachte Atlan erschüttert. Ich hatte recht! Ihn trifft es als ersten von uns!
* Es macht Spaß – nein, nicht allein Spaß. Es war etwas, wonach er sich vielleicht unbewußt sein ganzes Leben lang gesehnt hatte. Wem er es nun zu verdanken hatte, daß er den richtigen Weg gefunden hatte, war zweitrangig. Atlan, den Roxharen, den Chailiden – welche Rolle spielte das schon? Er war rundherum glücklich und zufrieden, auch wenn ihm alle Glieder höllisch weh taten. Harte Körperarbeit war eben noch etwas Ungewohntes für ihn. An Bord der SOL hatten ihm Antigravschächte das Klettern abgenommen, Antigravplatten das Tragen schwerer Lasten und Laufbänder das Laufen. Doch auch der Muskelkater würde vergehen. Das war eine Sache der ersten Tage. Eigentlich, dachte Kölsch, sollte die SOL dieses System überhaupt nicht wieder verlassen. Die fast hunderttausend Menschen und Monster, Buhrlos und Halbbuhrlos an Bord sollten alle nach Chail gebracht werden und lernen, was es hieß, zu leben. Wirklich zu leben! Frische Luft zu atmen, Hände und Füße wieder gebrauchen zu lernen und die Früchte ihrer Arbeit heranwachsen zu sehen! Die Buhrlos klammerte er nachträglich aus. Sollten sie im Schiff und im Weltraum glücklich werden. Aber die Extras, all jene Wesen, die in den letzten zweihundert Jahren an Bord gekommen waren – sie hatten zuvor auf Planeten gelebt. Himmel, wie konnten sie es im Schiff nur ertragen! Kölsch kniete im fruchtbaren Boden und besah sich die Gemüsereihen. Für einen Augenblick gönnte er sich Ruhe. Die Pflänzchen, die er gestern gesetzt hatte, waren noch schwach. Ihre Blätter hingen noch schlaff auf den Boden. Doch bald schon würden auch sie sich aufrichten, kräftiger werden und sprießen, bis sie sich zu großen, runden Köpfen schlossen. Man sät etwas, und man erntet. Nicht gleich von heute auf
morgen, aber in überschaubarer Zeit. Man zieht morgens auf die Felder hinaus, verrichtet sein Tageswerk und kehrt abends zerschlagen, aber glücklich in die Stadt zurück. Man wußte, was man getan hatte. Das war etwas, was Kölsch an Bord der SOL niemals kennengelernt hatte. Und es gab noch einen Unterschied. Niemand stand hinter ihm und überwachte ihn. Im Gegenteil: Yaink, Sibynt, Holka, Närrin und Dreeda besaßen schon soviel Vertrauen zu ihm, daß sie in die Stadt gegangen waren und ihm die Arbeit überließen. Kein Chart Deccon beobachtete ihn aus seiner Klause. Keine Magniden waren da, die im Grunde nie etwas anderes getan hatten, als gegeneinander zu intrigieren, und die nachts nicht schlafen konnten, weil sie ständig Angst um ihre Position haben mußten. Kölsch konnte an die SOL denken, ohne von Gewissensbissen geplagt zu werden. Gestern war das noch anders gewesen, und er hatte dafür nur ein müdes Lächeln übrig. Arjana müßte hier sein! dachte er. Arjana Joester, mit der er Macht, Sorgen und sein Bett geteilt hatte. Was ein rechter Bauer war, der brauchte eine Bäuerin, eine Frau, die abends auf ihn wartete, für ihn kochte und ihn verwöhnte. Vielleicht ließ sich das machen. Vielleicht konnte er einen Chailiden finden, der Arjana geistig erreichen und ihr eine Nachricht von ihm übermitteln konnte. Von dieser Aussicht beschwingt, machte er sich wieder an die Arbeit. Ein Unkraut – weg damit! Aber halt! Hatte nicht auch Unkraut ein Recht auf Leben? Sicher, wenn man es wuchern ließ, erstickte das Gemüse darin. Aber es wuchs, es war ein Stück Natur, und manches Kraut blühte schöner als alle Blumen an den Wegrändern. Kölsch begann, alles Unkraut zu sammeln, um es später am Feldrand neu einzupflanzen. Yaink und die anderen würden staunen, wenn sie zurückkehrten.
Kölsch holte neue Pflänzchen, grub mit den Händen kleine Löcher für sie, setzte sie ein und goß sie an. Erst als er das letzte gesteckt hatte, setzte er sich hin und schloß die Augen, spürte die wärmenden Strahlen der Sonne auf seinem Gesicht. Er hatte die Rast wahrhaftig verdient. Sein Magen knurrte, und die Lippen waren trocken. Kölsch stand auf, um sich vom Karren den Wein zu holen. Da sah er die beiden. Atlan und Bjo! Sie hatten also endlich den Weg gefunden und begriffen, daß es im Leben wichtigere und schönere Dinge gab, als zu kämpfen und vermeintlichen Bösewichtern hinterher zu jagen. Aber was machten sie für Gesichter! Sie waren doch nicht etwa nur gekommen, um ihn von hier fortzuholen? Ach was, dachte er. Sie sehen aus, als könnte auch ihnen ein guter Schluck nicht schaden. Yaink hatte ihm ja genug Wein dagelassen. Der Magnide wischte sich die Hände an der Kombination ab, lachte und trat auf sie zu. »Da seid ihr überrascht, was?« fragte er. »Allerdings«, erwiderte Atlan, und er sah gar nicht glücklich dabei aus. Kölsch drehte sich halb um und machte eine weit ausladende Geste. »Es ist ein gutes Werk, Früchte anzubauen und zu ernten«, sagte er, »Und wartet nur. Heute arbeite ich noch für Yaink. Bald aber soll ich selbst ein Stück Land bekommen, das ich ganz allein bestelle.« »Das ist … unglaublich!« entfuhr es Breiskoll. Kölsch faßte es anders auf, als es gemeint war. »Das ist es. Und nun, Freunde, trinken wir etwas.« Er wollte zum Karren. Atlan stellte sich ihm in den Weg. »Was soll das? Willst du keinen …?« »Wajsto!« sagte der Arkonide ernst. »Ich dachte, du wolltest lediglich beweisen, daß ein Solaner sich planetaren Gegebenheiten
anzupassen vermag.« Der Magnide zuckte die Schultern. Er verstand Atlan nicht. »Natürlich«, sagte er. »Seht ihr das nicht? Ich fühle mich wohl und …« »Wenn du also diesen Beweis jetzt erbracht hast, kannst du ja mit uns in die Stadt zurückkehren.« »Jetzt schon?« Kölsch lachte irritiert. »Aber es ist noch nicht Abend! Es ist noch viel zu tun, und Yaink würde enttäuscht sein, wenn ich nicht mehr …« »Darüber würde ich mir jetzt keine Sorgen machen, Wajsto. Eher darüber, was mit dir geschieht.« Also darauf wollten die beiden hinaus. Jetzt wurde Kölsch ärgerlich. Mit einer Spur des alten Zynismus erklärte er barsch: »Ich denke, ich weiß ganz gut selbst, was gut und was schlecht für mich ist – im Gegensatz zu gewissen anderen Herrschaften, die keine Ruhe geben, bis ihnen der Feuerteufel zum zweitenmal einheizt. Und dann gibt es vielleicht keine Rettung mehr.« »Wajsto Kölsch! Du bist ja überhaupt nicht mehr du selbst!« »Ach nein!« Der Solaner stemmte die Fäuste in die Hüften. »Und wer bin ich dann? Nicht ich bin krank, wenn ihr das glaubt, sondern ihr!« Um Atlans Mundwinkel zuckte es. Bjo Breiskoll sah aus, als hätte er ein Insekt verschluckt. Diese beiden Männer waren verstört. Plötzlich begriff Kölsch: Sie hatten in Wirklichkeit nur Angst! Es war lächerlich, aber sie hatten Angst davor, zu sich selbst zu finden! Als er das erkannte, schwand sein Groll. Er hob beide Hände und sagte sanft: »Friede! Friede, Freunde! Wehrt euch nicht gegen euer Glück.« »Du bist ein Bruder der ersten Wertigkeit!« appellierte Breiskoll an ihn. »Hast du die SOL denn ganz vergessen?« »Natürlich nicht.« Kölsch mußte Nachsicht mit ihnen haben. »Nie werde ich mein Schiff vergessen, wo denkt ihr hin? Ich habe keinen größeren Wunsch, als daß alle Solaner in den Genuß dieses neuen
Lebens kommen und …« »Das reicht«, knurrte Atlan. »Du kommst jetzt mit uns.« »Das werde ich nicht tun. Seht doch, wir …« Er sah den Arkoniden nur herankommen, viel zu schnell, um ihm auszuweichen. Er sah die Faust und konnte nicht fassen, was er in Atlans Augen las. Im nächsten Moment spürte er einen heftigen Schmerz an der Schläfe. Lichter explodierten vor seinen Augen. Dann fühlte er nichts mehr. Atlan aber brauchte eine Weile, bis er sich zu Bjo umwandte und ihm matt zunickte. »Wir tragen ihn in die Stadt. Es gab keine andere Möglichkeit.« Er bückte sich, zog Kölsch in die Höhe und warf ihn sich über die Schulter. »Atlan«, flüsterte Bjo. »Wann … sind wir an der Reihe?« »Ich bin mentalstabilisiert, du bist Telepath. Ich denke, das verzögert den Prozeß für eine Weile. Aber wir werden es genau wissen, wenn wir mit einem der Veraghen gesprochen haben.« »Es ging ihnen wie ihm, nicht wahr?« »Und wir werden nicht darauf warten, daß auch wir zu Opfern dieser Welt werden, Bjo. Wir werden versuchen, mit den Veraghen zu reden. Danach gibt es nur noch ein Ziel für uns.« »Die Hütte des Uralten.« Bjo brauchte kein Hellseher zu sein, um Atlans Worte richtig zu deuten. Der Arkonide nickte nur. Nebeneinander gingen sie den Pfad hinunter. Sie sprachen kaum. Besorgt fragte sich Atlan, ob das, was mit dem Magniden geschehen war, jemals wieder rückgängig zu machen war. Würde er wieder der Alte sein, wenn er an Bord der SOL war? Aber um das zu erfahren, mußten sie erst einmal dorthin zurück. Sicher bot die Mentalstabilisierung einen gewissen Schutz, einen starken sogar. Doch Atlan kannte die Kräfte nicht, die auf Chail wirkten.
Und es ging nicht nur um ihn selbst. Es ging um viel mehr. Er mußte die SOL nach Varnhagher‐Ghynnst führen, in einen Raumsektor, über den ihm kaum mehr der Name und die kosmische Position bekannt war. Ebenso wenig wie über Varnhagher‐Ghynnst wußte er über die Ladung, die er dort an Bord nehmen sollte. Aber die Kosmokraten hätten ihn nicht ins Normaluniversum zurückgeschickt, wäre sein Auftrag nicht von ungeheurer Bedeutung – vielleicht für das ganze bekannte Universum. In diese trüben Gedanken versunken, erreichte Atlan mit Bjo und dem noch bewußtlosen Kölsch Mugons Haus. Einige Chailiden warfen ihnen befremdete Blicke zu. Atlan störte sich nicht daran. Die Straßen waren hier wie leergefegt. Das Geschehen spielte sich tiefer in der Stadt ab, wie der Lärm verriet. Nur Nahda und Shyra waren im Haus. »Hast du ein Zimmer, in dem wir ihn sicher einsperren können?« fragte der Arkonide, als er Kölsch auf eine Bank gleiten ließ. »Bei den Ahnen!« rief die Chailidin aus. »Ist ihm ein Unglück passiert?« »So kann man es nennen. Also – gibt es ein solches Zimmer? Ohne Fenster und mit einer Tür, die sich gut verriegeln läßt?« Nahda verstand nichts. Doch sie nickte und führte die Männer. »Und jetzt«, sagte Atlan, »sehen wir uns die Veraghen an.« »Laßt mich mit euch gehen«, bat Shyra. * Der Trubel hatte sich weitgehend gelegt. Einmal angeheitert, vergaßen viele Chailiden offensichtlich die Fremden und feierten um des Feierns willen in und vor ihren Häusern weiter. Manche schwankten bedenklich über die Straßen oder lagen einfach auf den Veranden.
Der Murlenmarkt war vorbei. So drängte sich das Volk vor den drei Schänken zusammen und bildete dichte Trauben. Atlan, Bjo und Shyra hatten Mühe, sich durch die Chailiden zu drängen und sich Zutritt zu verschaffen. Sie betraten jene Schänke, in der das zu kurze Gespräch mit Heldis stattgefunden hatte, und Atlan hoffte, diesmal keine Begegnung mit Yabsul und anderen Mitgliedern der Familien zu erleben. »Dort!« rief Bjo in den Lärm. Er stieß den Freund an. »Da drüben am Tisch!« Es waren fünf Veraghen, umlagert von Chailiden, die auf sie einredeten und ihnen Wein spendierten. Atlan vermochte nicht zu sagen, ob auch die Veraghen bereits angetrunken waren, ob ihr Metabolismus überhaupt auf Alkohol ansprach. »Wir müssen versuchen, einen von ihnen in eine ruhige Ecke zu bringen. Shyra, gibt es hier Nebenräume?« Sie nickte und deutete in die entsprechende Richtung. Atlan sah zwei schmale, verschlossene Türen, als er sich auf die Zehenspitzen aufrichtete. Durch Tabakrauch und Leiber arbeitete er sich bis zu Garfaz vor, dem Wirt, der alle Hände voll zu tun hatte. Er selbst erhielt eine Abfuhr, als er sein Begehren äußerte, Garfaz möge ihm eines der Zimmer aufschließen. Dann aber flüsterte Shyra dem Dicken etwas ins Ohr, woraufhin er ihr murrend einen Schlüssen reichte. »Später mußt du mir sagen, wie du das geschafft hast«, rief Atlan ihr zu, während er Bjo und sie sich zum Tisch der Veraghen drängten. Es fiel leichter als erwartet, das Interesse der Fremden zu wecken. Eigentlich genügte allein der Anblick von Wesen, die keine Chailiden waren. Einige Worte wurden gewechselt. Dann erklärten sich zwei der Murlenzüchter bereit, Atlan und seinen Freunden ins Nebenzimmer zu folgen. Weit schwieriger war es, die Vielbestaunten den Chailiden zu entführen, aber schließlich schaffte man auch das. Shyra schloß die Tür auf. Schnell schlüpften die
Männer hindurch, und Bjo mußte Chailiden zurückdrängen, die ihnen folgen wollten. Shyra schloß die Tür von innen ab und legte zur Sicherheit zusätzlich einen Riegel vor. Schon nach den ersten gewechselten Worten wuchs Atlans Sympathie für diese Fremden. Es gab keinen Bann, der gebrochen werden mußte, keine Mauern zwischen ihnen. Die Veraghen waren freundlich und antworteten bereitwillig auf jede Frage. Wieder verglich der Arkonide sie mit Völkern aus der Vergangenheit der Erde. Doch war er sich dabei stets bewußt, daß diese ehemaligen Raumfahrer eine weitaus höhere Qualifikation erreicht haben mußten. Auf Chail erst waren sie auf die Stufe ihrer fernen Vorfahren zurückgesunken. Und keiner der Veraghen bedauerte dies. Sie bestätigten Snowars Worte. Und sie hatten nichts vergessen. »Es ist wahr«, erklärte jener, der sich Malo‐Tees nannte. »Wir kamen nach Chail auf der Suche nach neuem Lebensraum für unser Volk. Viele brachen zu dieser Zeit so wie wir auf. Es war eine Flucht.« »Flucht?« Bjo runzelte die Stirn. Er schien nicht einmal den Versuch zu unternehmen, in die Gedanken dieser Fremden einzudringen. Zu groß war auch seine Sympathie für sie, seine Hochachtung. »Du meinst, ihr wurdet vertrieben? Von Aggressoren?« Malo‐Tees lächelte nachsichtig, wobei seine Nasenschlitze sich leise knackend öffneten und schlossen. Erst jetzt sahen die Freunde, wie hager und ausgezehrt die Veraghen wirkten. Und doch schien es ihnen an nichts zu mangeln. Sie waren glücklich und zufrieden. Wenigstens gaben sie sich so. »Es gab keine Aggressoren, zumindest keine aus dem Weltall. Darauf wolltest du doch hinaus … äh …« »Bjo«, sagte Breiskoll schnell. Malo‐Tees nickte, und auch dies wirkte so vollkommen
menschlich. »Bjo. Es gab keine fremden Angreifer, die uns unsere Welt nehmen wollten. Wir selbst sorgten dafür, daß sie sich mit der Zeit in ein einziges, großes Gefängnis verwandelte.« Der Veraghe lächelte nicht mehr. Er beugte sich über den großen, runden Tisch, an dem sie alle saßen, und blickte Bjo, Atlan und Shyra der Reihe nach ernst an. »Wißt ihr, was Malo‐Tees in unserer Sprache heißt? Es bedeutet soviel wie Goldener Reiter. Diesen Namen bekam ich auf Chail. Früher hieß ich anders. Malo‐Torn – Goldene Rakete. Jeder von uns hatte einen Namen wie diesen. Jeder von uns hieß nicht nur so, sondern war ein Stück Technik, integriert in die alles beherrschende Maschinerie, die wir auf unserer Heimatwelt aufbauten – und die uns zu Sklaven machte.« »Es war kein Leben mehr, das sich zu leben lohnte«, sagte ein anderer Veraghe. »Unsere Vorfahren begannen damit, alles zu technisieren, wirklich alles, was ihr euch nur vorstellen könnt. Die Kinder wuchsen nach der elektronisch überwachten gesteuerten Geburt in Computerkammern auf. Sie sahen ihre Mütter nicht mehr. Sie wurden gemessen, beobachtet, nach speziell auf sie abgestimmten Programmen gefüttert und trainiert, bis sie etwa ein Jahr alt waren. Dann ging es weiter. Computer maßen ihre Intelligenz und regelten ihre weitere Entwicklung. Computer waren ihr Lehrer, und Computer bestimmten, wer wen als Partner zu nehmen hatte.« Malo‐Tees legte seinem Gefährten die Hand auf den Arm. »Wir reden nicht mehr gerne darüber, aber nichts ist vergessen. Einige von uns wurden als Kleinkinder von Rebellen gegen dieses System aus den Computerkammern befreit. Andere wuchsen von ihrer ersten Stunde an in Freiheit auf. Ihre Eltern versteckten sich und brachten sie in aller Heimlichkeit zur Welt. So entstand mit der Zeit ein Widerstandszentrum, und es wuchsen Veraghen heran, die von dem Willen beseelt waren, die Herrschaft der Maschine zu brechen, die unsere Welt regierte. Ein entsprechender Versuch
scheiterte, aber wir konnten uns Freiräume schaffen. Es zeigte sich, daß in Freiheit aufgezogene Veraghen intelligenter und kreativer waren als die anderen. So gelang es uns, den Gegner mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Wir programmierten Teile der Maschine so um, daß sie glaubte, in ihrem eigenen Interesse zu handeln, als sie damit begann Raumschiffe zu bauen. Bevor sie die Wahrheit erkannte, hatten Tausende von uns unsere Welt verlassen.« Malo‐Tees machte eine Pause. Niemand sprach. »Wir zwölf gelangten nach Chail, und wir fanden ein neues, besseres Leben.« Atlan nickte. Was der Veraghe da erzählte, kam im seltsam bekannt vor. Kurz dachte er an sein eigenes Volk, an den Robotregenten und auch an die Erde, deren Bewohner auch erst hatten lernen müssen, mit der Technik umzugehen. »Also wolltet ihr vergessen. Ihr wolltet ein Leben ohne Technik führen und …« Malo‐Tees hob eine Hand. »Ganz so ist es nicht. Wir wollten uns schon unsere Technik zunutze machen, denn wir hatten uns wieder zu ihren Herren gemacht. Wir waren ursprünglich nicht zwölf, sondern dreißig Männer und Frauen. Achtzehn starben während der ersten Monate auf Chail. Dies wäre kaum geschehen, hätten wir nicht nach kurzer Zeit vergessen, wie man ein Raumschiff oder die simpelsten technischen Vorrichtungen bedient. Aber sie starben glücklich und in der Gewißheit, freie Geschöpfe des Großen Erschaffers zu sein. Nein, Atlan und Bjo. Wir trauern unserer Vergangenheit nicht nach. Wir haben unser Glück und zu uns selbst zurückgefunden. Wir züchten Murlen, und das ist sinnvoller, als Computern zu gehorchen oder ein Raumschiff zu fliegen. Wir können kein Funkgerät mehr bedienen, keine unserer elektronischen Spiele mehr spielen, nicht einmal mehr unsere Bodenfahrzeuge bedienen. Dafür haben wir die Murlen. Und der Goldene Reiter trauert der Goldenen Rakete nicht nach. In keiner Weise.«
Atlan hatte eine Frage auf der Zunge, war jedoch im Augenblick unfähig, sie zu stellen. Er wußte, daß Malo‐Tees aus Überzeugung sprach. Und doch bedeutete das, was er sagte, nichts anderes, als daß Chail tatsächlich fatal auf die Sinne von Fremden wirkte. Kölsch hatte es bereits erwischt. Er, Atlan, durfte nicht all diese Dinge »vergessen«, die sein Leben ausgemacht hatten. Für die Veraghen mochte dieses Vergessen eine Erlösung sein, und nach ihrer Geschichte war dies sogar verständlich. Er aber hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Er hatte einen Weg zu gehen. Plötzlich erfüllte ihn Panik. Wie lange noch? Wann begann auch bei ihm die Veränderung einzusetzen? Spürte man es überhaupt, oder geschah es schleichend, unmerklich? Mit Mühe gewann er die Kontrolle über sich zurück. Er hörte Bjo fragen: »Und ihr wißt nicht, warum ihr so wurdet? Weshalb ihr eure Technik nicht mehr beherrscht?« »Niemand weiß das, Bjo. Aber es spielt keine Rolle mehr für uns. Wir leben, und das genügt. Wir sind ein Teil von Chail geworden. Die Chailiden akzeptieren und lieben uns, wie wir sie lieben. Wenn ihr hören wollt, ob wir dennoch Probleme haben …« Er verzog leicht das Gesicht zu einem Lächeln. »Wir haben eines. Wir züchten hervorragende Murlen und verkaufen sie zu guten Preisen. Aber es schmerzt uns doch, wenn wir sehen müssen, was die Chailiden mit unseren Tieren anfangen. Sie reiten sie eine Weile, zeigen sie stolz vor – und dann lassen sie sie frei herumlaufen und sich mit einfachen Murlen paaren, gerade wie es ihnen gefällt. Das Ergebnis könnt ihr euch vorstellen. Von den Eigenschaften, die wir ihnen anzüchten, bleibt nicht viel übrig. Unsere Arbeit war quasi umsonst, und wir müssen wieder von neuem beginnen.« Malo‐Tees blickte Atlan fragend an. Es war einfach, die Mimik und Gesten dieser Fremden zu deuten. »Aber das wolltet ihr nicht hören, nicht wahr?
Ihr habt noch andere Sorgen.« Atlan gab sich einen Ruck und erhob sich. »So ist es allerdings, mein Freund«, sagte er. »Ihr mögt euch nicht nach eurer Heimat zurücksehnen. Wir dagegen tun es. Wir können es noch.« »Versucht nicht, gegen den Planeten anzukämpfen. Es ist sinnlos. Ihr werdet es bald einsehen und …« »Nicht allein gegen den Planeten, Goldener Reiter, sondern gegen das, was ihn beherrscht! Chail ist nicht das Paradies, für das ihr den Planeten offenbar haltet. In einem Garten Eden müssen keine intelligenten Geschöpfe um ihre Leben und das ihrer Kinder fürchten.« Und er winkte ab, ehe er sich stundenlang über die Roxharen, die Uralten und so vieles mehr auszulassen begann. »Ihr geht euren Weg, wir haben einen anderen zu gehen. Ich wünsche euch weiterhin alles Glück. Wir aber …« »Wir haben ein Problem, ein großes«, warf der andere Veraghe ein. Als Malo‐Tees ihn zum Schweigen bringen wollte, winkte er nur ab. »Warum sollen sie nicht wissen, daß es zwar für uns ein Leben in Zufriedenheit auf Chail gibt, aber daß es in absehbarer Zukunft keine Veraghen mehr auf dieser Welt geben wird?« »Ich verstehe nicht«, sagte Atlan. »Chail hat uns unseren Frieden gegeben«, fuhr der Veraghe fort. »Aber wie es scheint, fordert diese Welt einen hohen Preis dafür. Wir haben uns damit abfinden müssen, doch unsere Frauen werden keine Kinder mehr zur Welt bringen, nie mehr. Wir sind unfruchtbar geworden.« Zurück im Innenhof von Mugons Haus, dauerte es eine Weile, bis einer der Freunde die Sprache wiederfand. »Sie leiden darunter«, sagte Bjo leise. »Und auch wenn sie es nie zugeben würden – vielleicht würden sie alles wieder rückgängig machen, böte sich ihnen die Möglichkeit.« Atlan dachte das gleiche. Er hatte Mitleid mit den zwölf Heimatlosen, denn auch dies stand für ihn fest: Die Veraghen hatten
eine neue Welt gefunden. Sie waren zufrieden. Aber Chail konnte ihnen niemals genug geben, um damit den Verlust ihrer Zukunft gutzumachen. Nicht ohne Grund versuchte Malo‐Tees alle Gedanken daran zu verdrängen. Atlans Gedanken aber drehten sich wieder im Kreis, und immer wieder stieß er an die gleiche, zentrale Frage: Welche Macht beeinflußte die Fremden auf Chail? Wer oder was hatte Kölsch verändert? Waren es die Roxharen? Sorgten sie, die selbst immun zu sein vorgaben, dafür, daß ihnen auf diesem Planeten keine Konkurrenz erwuchs? Es würde zu der Art und Weise passen, wie sie mit Hilfe der Chailiden ihre vermeintlichen Rivalen im Kosmos auszuschalten versuchten. Oder waren es die Chailiden selbst – die Meditierenden und Uralten? War die Denkweise der Chailiden allein schon so gefährlich? Wirkte sie ansteckend? Und wie lange konnten er und Bjo noch widerstehen? Immer wieder beobachtete er den Katzer, lauschte er in sich selbst hinein, fühlte er die aufkommende Angst und Unsicherheit. Er war nicht gewillt, sie auch nur noch eine Stunde länger zu ertragen. »Wir brechen jetzt gleich auf«, entschied er. »Dreh‐ und Angelpunkt dieses ganzen, undurchschaubaren Systems sind die Uralten. Ich bin überzeugter denn je davon. Bjo und Shyra, wir statten dem Bezirk der Familien einen letzten Besuch ab.« Breiskoll erschrak über die Bestimmtheit, mit der er redete. Shyra, bislang verschlossen und in sich gekehrt, blickte zu ihm auf. Sprach Hoffnung aus ihrem Blick oder Angst? Ahnte sie, was er tun wollte? »Du kannst nicht erwarten, durch weiteres Beobachten der Familien zu neuen Aufschlüssen zu gelangen«, sagte Bjo gedehnt. »Du hast etwas anderes vor. Ich glaube zu wissen, was es ist. Atlan, ich habe die gleiche Angst wie du. Aber was du tun willst, ist …«
»Es ist unsere einzige Chance, die Wahrheit herauszufinden«, schnitt der Arkonide ihm das Wort ab. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Erspare dir den Vorschlag, an meiner Stelle in die Hütte des Uralten zu gehen. Du, Shyra und Kölsch, ihr werdet euch wieder im Schuppen verstecken. Ich verschaffe mir Zugang zur Hütte. Ganz gleich, was ich darin finden werde und was mit mir geschehen mag – die Familien werden in irgendeiner Form darauf reagieren. Ihr sollt diese Reaktion beobachten. Kehre ich nicht zurück, so sucht Snowar und berichtet ihm alles.« »So!« rief Bjo heftig aus. »Und was sollen wir deiner Meinung nach dann tun? Warten? Wie lange? Tage? Wochen?« Atlan zögerte mit einer Antwort. Schließlich entschied er sich dagegen, Bjo von seinem Verdacht zu erzählen. Es war durchaus möglich, daß er die falschen Schlüsse zog. Das aber würde Bjo nur noch mehr verwirren. »Wir nehmen Kölsch mit«, sagte er also nur. »Bjo, ich lasse mich nicht mehr umstimmen. Vielleicht habe ich schon zu lange gezögert. Ich will, daß ihr Kölsch dabei habt, daß ihr zusammen seid, wenn …« »Wenn was?« Atlan wußte die Antwort nicht. Er stand auf und nickte Shyra und Bjo zu. »Bist du bereit, Shyra?« Die Chailidin nickte nur. Müde, wie es schien, erhob sie sich. Doch dann sah sie Atlan wieder auf diese seltsame Weise an, und dieser erschrak, als er glaubte, das stumme Flehen in ihrem Blick richtig zu deuten. Mach es nicht noch schwerer für uns alle, tapferes Mädchen! dachte er. Weiß Gott, ich werde genug damit zu tun haben, auf mich selbst zu achten! Bjo maunzte leise, als sie Kölsch aus seinem Zimmer holten. Würde er den Katzer wiedersehen? Würde er die SOL
wiedersehen? Er begab sich ins Ungewisse. Bedeutete dies nicht, daß er dies alles aufs Spiel setzte? Noch konnte er zurück. Er wußte es besser. Er wußte, daß es nicht so war. Er kam sich vor wie in einem endlosen Labyrinth, das ihn zu ersticken drohte. Wo war das Licht? Wie konnte er jemals wissen, welcher Weg der richtige war? Kölsch kam wutschnaubend aus dem Zimmer und blieb mit geballten Fäusten vor Atlan stehen. »Ich bin frei, ja?« fragte er bissig. Atlan erklärte ihm, was er von ihm erwartete. »Oh nein!« widersetzte sich der Magnide. »Das werde ich nicht tun! Wozu soll ich mit euch gehen, um mir meditierende Chailiden anzusehen? Auf den Feldern wartet eine Menge Arbeit auf mich, und …« Atlan verlor die Geduld. Er packte den Solaner an den Schultern und schüttelte ihn. »Ich will dir eines sagen, Wajsto Kölsch! Vielleicht hast du Glück und kannst bis zu deinem Lebensende im Boden herumwühlen! Dann wird niemand mehr da sein, der dir Vorschriften macht! Dann wirst du eines Tages prämiertes Gemüse auf den Märkten feilbieten können, und die Chailiden werden dir zujubeln, wie sie es heute bei den Veraghen taten! Aber bis es soweit ist, tust du, was wir für richtig halten! Denn wir können im Gegensatz zu dir noch denken!« Kölsch wurde bleich. Fassungslos starrte er den Arkoniden an. 10. Die Stadt war zu dieser nächtlichen Stunde wie ausgestorben. Nur in den Schankstuben war noch Leben. Die anderen Häuser waren dunkel. Selbst die Öllaternen brannten nicht. Ganz Ushun war berauscht gewesen. Nun folgte, wie es schien, der große
Katzenjammer. Atlan konnte das recht sein. Niemand hielt sie auf oder belästigte ihn, Shyra, Bjo und Kölsch mit Fragen. Sie hatten sich aus dem Haus geschlichen, ohne Mugon oder Snowar eine Nachricht zu hinterlassen. Schweigend fanden sie den Weg zum westlichen Stadtrand. Unangefochten erreichten sie ihr Versteck und schlüpften in den Schuppen. »Ihr bleibt hier und beobachtet«, schärfte der Arkonide den Gefährten noch einmal ein. »Und starrt mich nicht alle so an! Wahrscheinlich bin ich eher wieder aus der Hütte heraus, als wir uns alle denken!« Bjo sagte nichts. Er reichte ihm nur die Hand und drückte sie. Die beiden sahen sich für lange Sekunden in die Augen. Dann mußte sich Atlan mit Gewalt losreißen. Er schlug dem Magniden auf die Schulter, nickte Shyra zu und verschwand vom Fenster. Erst als er aus dem Schuppen heraus war, hatte er das Gefühl, wieder atmen zu können. Er sah sich um. Alles war still. Selbst die Familien schienen in den Dornröschenschlaf gefallen zu sein, der sich über ganz Ushun gelegt hatte. Aber das konnte täuschen. Einige Fenster in den großen Häusern waren erleuchtet, dabei ohne Ausnahme die der Meditationszimmer. Atlan legte sich flach auf den Bauch und schob sich durch Pflanzenhecken und an Beeten entlang. Die Hütte des Uralten wirkte finster und drohend wie eh und je. War sie bewacht? Konzentrierten sich einige der Meditierenden nur auf sie? Atlan hatte den halben Weg bis zu ihr zurückgelegt, als ihn ein Geräusch zusammenfahren ließ. Sein Kopf ruckte herum. Im fahlen Licht der Fenster sah er einen Schatten auf sich zukriechen, als sich Büsche teilten. Schon waren seine Muskeln gespannt, war er bereit, aufzuspringen und zu
kämpfen, als er die dunkle Gestalt erkannte. Eine Verwünschung murmelnd, drehte er sich zu Shyra um, als sie ihn ebenfalls erreichte. »Du solltest im Schuppen bleiben!« flüsterte er. »Geh zurück! Ich kann dich nicht gebrauchen!« »Dann mußt du mich mit Gewalt zurückbringen!« entgegnete sie heftig. »Ich gehe mit dir!« Er seufzte. »Shyra, glaubst du im Ernst, du könntest Heldis dort finden? In der Hütte.« »Nicht in der Hütte, Atlan. Und das weißt du so gut wie ich.« Sie hatte Tränen in den Augen, und sie wußte alles! Sie wußte, was er vermutete. Und nichts in der Welt würde sie jetzt davon abhalten können, ihrer verzweifelten Hoffnung nachzujagen. »Dann komm!« flüsterte der Arkonide. »Aber bleib hinter mir und tue nichts auf eigene Faust!« »Ist gut«, hauchte sie. Sie schlichen weiter. Erst als die Hütte erreicht war, richteten sie sich auf. Sie mußten halb um sie herumgehen, um die Seite mit der Luke zu erreichen, durch die dem Uralten seine Nahrung gebracht wurde. Schattengleich drückten sie sich an die Wände, blieben immer wieder stehen und lauschten. Nichts rührte sich – nichts bei den Häusern, nichts im Innern der Hütte. Zumindest war kein Laut zu hören. Atlan schauderte es. Er mußte den Impuls unterdrücken, einfach davonzulaufen. Zu deutlich spürte er das Fremde, das sich hinter den hölzernen Wänden verbarg, eine Aura des Unheimlichen, eine Macht, die sich jedem Begreifen entzog. Weiter! Nicht stehen bleiben! Und Shyra blieb dicht hinter ihm. Sie mußte Höllenängste durchstehen, aber sie klagte nicht. »Wenn du noch etwas weißt, das du bisher verschwiegen hast«,
flüsterte er ihr zu, als sie die Luke am Boden sahen, »dann sag es mir jetzt.« »Ich weiß nichts, Atlan.« Prüfend sah er sie an, sah sie zittern. Er wandte sich um und ging in die Knie. Dann mußte er sich wieder hinlegen, um an die Luke heranzukommen. Sie war rund und hatte einen Durchmesser von etwa vierzig Zentimeter – genug, um ihn durchschlüpfen zu lassen. Ein Hieb auf den Kopf konnte sein Abenteuer sehr schnell enden lassen. Atlan verscheuchte den Gedanken daran, alle Gedanken. Er tastete mit den Händen vor, berührte eine Klappe hinter der Luke, die sich nach innen drücken ließ, und schob den Oberkörper in die Öffnung. Er sah nichts. Die Klappe, mit einer starken Feder versehen, drückte auf seinen Hinterkopf, dann auf den Nacken, auf die Schultern. Atlan verhielt einen Moment, als er mit den Händen über nackten Boden strich. Keine Kerze, keine Lampe brannte in der Hütte. Und noch immer war nichts zu hören außer seinen eigenen Atemzügen. Er kroch weiter, bis er die Beine aus der Luke zog. Shyra war bereits hinter ihm. Er hielt die Klappe hoch, bis sie ebenfalls durch die Luke gekrochen war, und schloß lautlos die Öffnung. Er richtete sich auf. Shyra atmete heftig neben ihm. Plötzlich hatte sie ein brennendes Zündholz in der Hand. Atlan erschrak heftig, drehte sich schnell zu ihr um und wollte ihr das Stäbchen entreißen. Doch er sah, daß es nicht nötig war. Es befand sich tatsächlich niemand in der Hütte außer ihnen selbst. Und nun, als er sah, daß sie über keinerlei Einrichtung verfügte außer einem winzigen Tisch und einem Hocker, glaubte er die Gewißheit erhalten zu haben, daß tatsächlich nie jemand hier gewohnt hatte. Er hatte sich bereits einige Male gefragt, ob in diesen Hütten überhaupt jemand lebte, ob dieser ganze Kult um die Uralten nicht
nur ein einziger, großer Humbug war, um die unwissenden Chailiden gefügig zu machen, Wer aber nährte dann diesen Glauben? Daß möglicherweise alle Hütten, in den Dörfern wie in den Städten, unbewohnt waren, mußte aber noch lange nicht heißen, daß es die Uralten nicht gab. Es gab sie. Atlan war fester denn je davon überzeugt. Aber wo? Keine Einrichtung – weder ein Bett noch das sonst bei den Chailiden übliche Mobiliar. Aber das paßte eher ins Bild, das Atlan sich in den letzten Stunden gemacht hatte, als es zu widerlegen. Die Nähe einer unheimlichen Macht war hier drinnen noch stärker zu spüren als draußen im Freien. Und die Aura wurde stärker. Etwas baute sich auf. Shyra schrie leise auf, als das Zündholz herabgebrannt war und die erlöschende kleine Flamme ihr die Finger verbrannte. Sie ließ es fallen, und wieder umfing völlige Dunkelheit die beiden Eindringlinge. Und genau in diesem Moment hörte der Arkonide ein Geräusch, das ihm nur allzu vertraut war. In diesem kurzen Augenblick wußte er, daß alles, was er sich zusammengereimt hatte, der Wahrheit entsprach. Es war ihm so phantastisch erschienen, daß er sich bis jetzt dagegen gesträubt hatte, es zu akzeptieren. Und nun … Nichts geschah mit ihm. Vergeblich suchte er mit seinen Blicken die Dunkelheit zu durchdringen. Aber von dort, wo Shyra gestanden hatte, war das Geräusch von schabenden Füßen zu hören, dann wieder der vertraute Laut. »Shyra?« fragte Atlan leise. Er erhielt keine Antwort mehr. Dennoch begab er sich zu der betreffenden Stelle und tastete in der Dunkelheit. »Teleporter«, murmelte er. »Die Uralten – oder noch andere, von deren Existenz wir nichts wußten? Ist jemand hier? Hört ihr mich?« Keine Antwort. Dafür war nun von draußen Motorengeräusch zu hören, und das konnte nur eines bedeuten.
Schnell ließ er sich wieder auf den kahlen Boden nieder, fand die Luke und zog die Klappe gerade so weit nach oben, daß er den Kopf unter ihr hindurchstecken und nach draußen spähen konnte. Das Gelände zwischen den sechs Häusern war in helles Scheinwerferlicht getaucht. Atlan kniff geblendet die Augen zusammen, bis er einen großen Fluggleiter erkennen konnte, der sich zwischen die Gebäude herabsenkte. Roxharen! durchfuhr es ihn. Sie reagieren also endlich! Sie sind des Spieles müde geworden und kommen, um die Störenfriede einzukassieren! Verzweifelt überlegte er, wie er Bjo und Kölsch eine Warnung zukommen lassen konnte. Dann sagte er sich, daß sie den Gleiter ebenso wie er hörten und sahen. Fast vergaß er darüber, wo er sich befand und warum er hierhergekommen war. Das Geräusch des materialisierenden Teleporters erinnerte ihn sehr nachhaltig daran. Atlan ließ die Klappe zurückschnellen, sprang auf und fühlte sich im gleichen Moment an den Schultern gepackt. »Warte!« rief er. »Laß uns …!« Weiter kam er nicht. Er hatte nichts von seinem Gegenüber erkennen können, als die Dunkelheit der Hütte einer noch größeren wich. Dort, wo er und seine Entführer gestanden hatten, schlug mit einem dumpfen Laut die Luft in das Vakuum, das ihre entmaterialisierten Körper hinterlassen hatten … 11. Bjo machte sich schwere Vorwürfe. Er hätte Atlan nicht gehen lassen dürfen. Er hätte versuchen müssen, ihm sein wahnwitziges Unterfangen doch noch auszureden. Und vor allem hätte er verhindern müssen, daß Shyra
ihm folgte. Viel zu überraschend und schnell war sie aufgesprungen und zur Tür gelaufen. Sie hatte von Anfang an die Absicht gehabt, dem Arkoniden zu folgen. Wenn Kölsch nicht gewesen wäre … »Das habt ihr nun von eurer Besessenheit«, zischte der Magnide. Er rutschte auf den Knien hin und her. »Warum müßt ihr mich auch noch in diese verdammte Sache hineinreißen?« »Ach, sei still!« Kölsch klarzumachen versuchen, was mit ihm geschehen war, hieß gegen eine Wand reden. Bjo beachtete ihn gar nicht mehr. In diesen Augenblicken war es ihm fast schon egal, wenn der Magnide sich heimlich davonstehlen würde. Fast wünschte er es sich, damit er allein sein könnte. Er legte die Hände auf den Fensterrahmen und spähte zum Haus der Faridar hinüber. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, im Meditationsraum mehr zu erkennen. Alles, was er sah, waren drei Chailiden in ihrer geistigen Versenkung. Zwei von ihnen hatten ihm den Rücken zugewandt. Der dritte saß mit dem Gesicht zu ihm. Das war alles, was er für Atlan jetzt tun konnte – beobachten, auch wenn dabei gar nichts herauskam. Bjo versuchte, sich selbst zu beruhigen. Aber immer wieder ertappte er sich dabei, wie er den linken Arm hob und auf das Armbandgerät mit der Zeitanzeige blickte. Zehn Minuten war Atlan nun schon fort. Als er den Kopf wieder hob, erfolgte im Meditationsraum des Faridar‐Hauses gerade die Ablösung. Die Meditierenden erhoben sich, und andere kamen, um ihre Plätze einzunehmen. Einer der beiden, die Bjo bislang den Rücken zugekehrt hatten, drehte sich um und trat ans Fenster. In diesem Moment glaubt Breiskoll, das Herz müßte ihm stehenbleiben. Kölsch sah das gleiche wie er. Bjo war geistesgegenwärtig genug,
um schnell die Hand auf den Mund des Magniden zu pressen. Dieser Meditierende, dessen Gestalt durch einen schweren Umhang verborgen gewesen war, war kein Chailide! Am Fenster des großen Hauses stand – ein Roxhare! Es konnte keinen Zweifel daran geben, so sehr Bjo sich auch einzureden versuchte, daß seine Phantasie mit ihm durchging, daß seine überreizten Nerven ihm böse Streiche spielten. Er kniff die Augen zusammen, hielt sie für Sekunden geschlossen und sah wieder hin. Der Roxhare war wie die beiden anderen Meditierenden verschwunden. Nur noch die drei Neuen saßen mit gekreuzten Beinen im Zimmer und bereiteten sich auf die Versenkung in sich selbst vor. Bjos Gedanken überschlugen sich. Noch versuchte er verzweifelt, einen Sinn in das eben Geschehene zu bringen, als zweierlei fast gleichzeitig geschah. Er spürte einen starken psionischen Impuls. Und bevor er ihm nachgehen konnte, hörte er das Motorengeräusch. * Bjo wußte, was die Stunde geschlagen hatte, als die Scheinwerfer aufflammten und das Gelände in taghelles Licht tauchten. Ganz kurz nur kreiste der Fluggleiter über dem Bezirk der Familien. Dann landete er vor dem Faridar‐Haus. Das war ebensowenig Zufall wie das Auftauchen der Roxharen ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, da Atlan in der Hütte des Uralten verschwunden war. Bjo konnte vom Schuppenfenster aus den Gleiter selbst nicht sehen. Er hörte nur, daß die Motoren weiterliefen, und aufgeregt klingende Stimmen. Chailiden, ganz offenkundig Mitglieder der Faridar, unterhielten sich lautstark mit den Roxharen.
Auch wenn Bjo kein Wort verstehen konnte, wußte er, was da geredet wurde und wem diese nächtliche Aktion galt. Er maunzte verzweifelt. Hörte er bereits Schritte vor der Tür? Er konnte nicht hoffen, den Roxharen zu entkommen. Die Chailiden kannten sein und Kölsches Versteck. Und wie viele Roxharen befanden sich in den sechs Häusern? Einer von ihnen mußte seine Artgenossen auf den Plan gerufen haben – oder auch ein Chailide. Welche Rolle spielte das jetzt noch? Bjo wußte nur eines: Ganz gleich, was er von Atlans Besuch in der Hütte hielt, er mußte dem Arkoniden Zeit verschaffen. Sicher hatte er das Motorengeräusch gehört. »Sie kommen, Wajsto!« Er stieß den Magniden, dem die Entwicklung der Dinge überhaupt nichts auszumachen schien, mit dem Ellbogen an. Kölsch sah auf. Gleichgültigkeit sprach aus seinen Blicken. »Sie kommen zur Tür! Wir müssen durchs Fenster, solange das noch geht!« »Es hat keinen Sinn, Bjo«, entgegnete Kölsch. »Warum regst du dich auf? Sie werden uns nichts tun. Die Roxharen sind unsere Freunde. Das mußt du begreifen. Wir …« »Du verdammter Narr!« entfuhr es Breiskoll. Jemand schlug von außen gegen die Tür. Bjo zögerte nicht länger. Er packte den Magniden und stieß ihn durch das Fenster, bevor Kölsch Widerstand leisten konnte. Bjo sprang ihm nach. Der Boden war weich. Kölsch stand schon wieder und begann, wüste Beschimpfungen auszustoßen. Bjo versetzte ihm einen Tritt ins Gesäß und stieß ihn vorwärts. »Später kannst du dir Luft machen! Jetzt renne! Wir müssen sie von Atlan ablenken!« Das Wunder geschah. Vielleicht gewann Wajsto Kölsch durch den Sturz und den Tritt für Augenblicke die Fähigkeit des klaren Denkens zurück. Das war jetzt gleichgültig. Wichtig war allein, daß er ohne weiteren Protest zu laufen begann, vom Schuppen und der Hütte des Uralten weg geradewegs in die Gasse zwischen zwei
Häusern hinein. Bjo folgte ihm, so schnell er konnte. Er erreichte den Magniden, und dann war es Kölsch, der Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. »Warte!« Bjo blieb stehen und sah sich um. Hinter dem Magniden erschienen dunkle Gestalten. Scheinwerfer flammten plötzlich überall auf. Sie spielen Katz und Maus mit uns! durchfuhr es Breiskoll. Der ganze Bezirk ist umstellt! Kölsch war heran. Bjo packte ihn am Arm und flüsterte hastig: »Wir haben keine Chance. Aber je später sie uns kriegen, desto besser für Atlan und Shyra. Wajsto, wenn du nicht willst, daß sie dir deine Parzelle wegnehmen, dann sag ihnen um Himmels willen nicht, wohin Atlan gegangen ist! Und jetzt weiter!« Bjo wußte nicht, ob seine Drohung wirkte. Kölsch rannte sich jedenfalls fast die Lunge aus dem Hals. Sie bogen nach links ab, als sie zwischen den Häusern hindurch waren und zwei Gleiter in der freien Zone zwischen dem Bezirk der Familien und Ushun stehen sahen. Sie mußten lautlos gelandet sein, lange vor dem anderen. Das alles war gründlich vorbereitet worden. »Zur Stadt, Wajsto!« Kölsch nickte. Roxharen schwärmten aus und versuchten, ihnen den Weg zu verstellen. Bjos Herz schlug heftig. Blut hämmerte in seinen Schläfen. Er schlug Haken, duckte sich, wenn Lähmstrahlen über ihn hinwegfauchten, und lief weiter, immer weiter, nur fort von der Hütte. Er blickte sich nicht mehr um. Die ersten Baracken wuchsen vor ihm in die Höhe. Scheinwerferkegel wanderten über die Wände und fanden ihn. Er hatte nie eine Chance gehabt. Bjo brach zusammen, als ihm seine Beine den Dienst versagten. Schwer wie ein Stein fiel er und blieb reglos liegen, bis er von kräftigen Armen gepackt und zu einem der wartenden Gleiter getragen wurde.
Die Roxharen legten ihn neben Wajsto Kölsch ab, der ebenfalls paralysiert war. Die Motoren des Gleiters heulten auf. Das Fahrzeug hob sich in die Luft. Breiskoll konnte keinen Finger bewegen. Seine Augen waren geschlossen, doch er hörte alles, was um ihn herum gesprochen wurde. Die Roxharen suchten noch nach Atlan. Anscheinend durchstöberten sie ganz Ushun nach ihm, nachdem die Suche im Bezirk der Familien keinen Erfolg gebracht hatte. Aus ihren Gesprächen ließ sich weiter schließen, daß sich der Gleiter, in dem Bjo sich befand, über Ushun bewegte, während andere überall in der Stadt gelandet waren und deren Besatzungen dort ihr Glück versuchten, was unter den Chailiden für einigen Wirbel sorgte. Sie werden ihn nicht finden! dachte Bjo erleichtert – trotz seiner eigenen mißlichen Lage. Wenn sie ihn in der Hütte nicht fanden, werden sie sich die Zähne daran ausbeißen! Er bezweifelte nicht, daß die Hütte des Uralten ebenso durchsucht worden war wie der gesamte Bezirk. Aber wo war Atlan dann? Verschwunden wie Heldis, und Shyra nun mit ihm. Bjo hatte die ganze Zeit über geahnt, was Atlan wirklich vorhatte. Nun hatte er die Gewißheit. Dann und wann kamen Roxharen und rüttelten an ihm. Als er spürte, wie das Leben in seine Glieder zurückkehrte, stellte er sich noch eine Zeitlang gelähmt und blinzelte nur hin und wieder, wenn er sich allein fühlte. Er sah Kölsch neben sich liegen. Als der Magnide sich zu regen begann, hatte Bjo erfahren, daß der Anführer der Roxharen SʹDunikh hieß. Und als er die Augen aufschlug und sich aufrichtete, um den Magniden daran zu hindern, den Roxharen die Wahrheit zu sagen, sah er, daß die Gruppe der Fremden fünf Wesen umfaßte. Allein am spärlichen Schmuck an ihren Körpern konnte er zwei der Roxharen als Frauen erkennen.
»Wo ist er?« Der, den die anderen mit SʹDunikh anredeten, stand vor Bjo und richtete eine Waffe auf ihn. »Wo ist Atlan?« »Wir wissen es nicht!« gab Bjo heftig zurück. »Ihr sucht ihn, nicht wir!« Zwei Tage lang glich Ushun einem aufgewühlten Ameisenhaufen. Zwei Tage lang wurden Bjo und Kölsch Verhören unterzogen und bedroht. Von der Höflichkeit der Roxharen war nicht mehr viel zu spüren, obgleich sie auf die Anwendung von physischer Gewalt verzichteten. Dann stiegen die Gleiter von Ushun auf, und der gesamte Verband nahm Kurs auf die Blaue Stadt. Kölsch hatte noch kein Wort gesprochen, und nun wußte Bjo nicht, ob er darüber glücklich oder bestürzt sein sollte. Der einst so machtbewußte Magnide schien ein gebrochener Mann zu sein. Sie waren Gefangene. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Endlich zeigten die Roxharen ihr wahres Gesicht. ENDE Von Ushun aus wird Atlan unversehens an einen Ort teleportiert, den er noch nie gesehen hat. Es handelt sich um eine große klosterähnliche Anlage, die in einer völlig unzugänglichen Gebirgsgegend liegt. Dieser Ort ist Hashilan, und in ihm leben und wirken DIE URALTEN … DIE URALTEN – so lautet auch der Titel des nächsten Atlan‐Bandes. Der Roman wurde ebenfalls von Horst Hoffmann geschrieben.