Hans-Georg Gadamer
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Gesammelte Werke
Ästhetik und Poetik ι Kunst als Aussage
J. C. B. Mohr (Paul S...
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Hans-Georg Gadamer
Hans-Georg Gadamer
Gesammelte Werke
Ästhetik und Poetik ι Kunst als Aussage
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1993
Vorwort
Die Deutsche BibHoÜiek - CIP-Einheitsaufiiahme Gadamer, Hans-Georg:
Gesammelte Werke / Hans-Georg Gadamer. - Unveränd. Taschenbuchausg. Tübingen : Mohr Siebeck (UTB für Wissenschaft : Uni-Taschenbücher ; 2115) ISBN 3-8252-2115-6 (UTB) ISBN 3-16-147182-2 (Mohr Siebeck) Bd. 8. Ästhetik und Poetik. - 1 . Kunst als Aussage. -1999
1. Auflage 1993 Unveränderte Taschenbuchausgabe 1999 © 1993 J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: Alfred Krugmann, Freiberg a.N., Druck: Presse-Druck, Augsburg. ISBN 3-8252-2115-6 U T B Bestellnummer
Meine hermeneutischen Studien stellten mich vor die Aufgabe, den Erkenntnis- und Methodenbegriff der philosophischen Erkenntnistheorie von der einseitigen Überbewertung der Grundbegriffe der modernen Erfahrungswissenschaften zu lösen und die Erfahrung des Verstehens daneben geltend zu machen. Erst in der Fortentwicklung der Phänomenologie, insbesondere Husserls und Heideggers, kam die Einseitigkeit dieser Orientierung am Faktum der Wissenschaft und an einem Begriff von Wahrheit, der in der Satzwahrheit gipfelt, in ein neues Licht. So konnte ich meinerseits an die aristotelische praktische Philosophie und ihren Zentralbegriff, die Phronesis, anknüpfen. Sie wird wiederholt und ausdrücklich ein alh eidos gnöseös genannt und als eine grundandere Art von Erkenntnis ausgezeichnet. Aber es waren nicht diese Anregungen allein, von denen aus ich die philosophische Allgemeinbedeütung dieser anderen Art von Wissen zu legitimieren unternommen habe. Es war, wie jeder Blick in >Wahrheit und Methode< lehrt, die richtungsweisende Rolle der Kunst. Wohin solche Orientierung führen mußte, läßt sich am Gedankengang von >Wahrheit und Methode< selber verfolgen. Die Überschreitung jedes ästhetischen Neutralismus, den ich mit Hilfe des umständlichen Ausdrucks »ästhetische Nichtunterscheidung« zurückzubinden suchte, gab der Kunst und ihrem Wahrheitsanspruch eine neue Legitimation. Sie kann sich, wie ich meine, neben den modernen Erfahrungswissenschaften behaupten. Natürlich gehört die richtungsweisende Rolle der Kunst in einen größeren Zusammenhang. Er betrifft das Verhältnis von Theorie und Praxis. Alle Theorie, und so auch die hermeneutische Theorie, muß ihren Rückhalt in hermeneutischer Praxis haben. Diese Ausgabe meiner Gesammelten Werke stellt neben die drei Bände (5—7), die der griechischen Philosophie gewidmet sind, nunmehr die Bände 8 und 9, die hier vorgelegt werden. Sie stellen keine neue Wendung der Thematik dar. Vielmehr soll so das Gleichgewicht zwischen Kunst und Wissenschaft, das den gemeinsamen Grund aller Geisteswissenschaften bildet, herausgearbeitet werden. Das ist das Gemeinsame, daß sich die unüberholbare Fragestellung des philosophischen Gedankens über all ihre geschichtlichen Verkleidungen und Veränderungen hinweg durchhält und damit eine intensive Verwandtschaft zwischen den Sprachen der Kunst und der Sprache des Begriffs stiftet.
VI
Vorwort
Dem suchte ich Ausdruck zu geben, als ich schon in Band 1 und 2 meiner Gesammelten Werke zwecks Einführung in meine hermeneutische Fragestellung einen größeren Beitrag über >Text und Interpretation< aufgenommen habe, der die Rolle des dichterischen Wortes und der Sprache des Begriffs, aber auch der Sprache des Bildes, der Töne und der Bauten zusammenfaßt. Auf diese Weise suchte ich in der Sammlung meiner Werke die Weite der hermeneutischen Fragestellung von vornherein zu unterstreichen. Inzwischen füge ich nun den Bänden, welche der griechischen Philosophie gewidmet sind, nach nunmehr dreißig Jahren, und seit dreißig Jahren im Wachsen, die Bände 8 und 9 an. Beide sind in einem strengen Sinne parallel zu sehen. Der Band 8 enthält eine Fülle kleinerer Reden und Aufsätze. Der gemeinsame Titel >Kunst als Aussage< zielt bewußt über den Fragehorizont der Ästhetik hinaus. Die bisher ungedruckte Arbeit >Von der Wahrheit des Wortes< und die beiden neuesten Arbeiten von 1991/92 stehen am Anfang und am Ende eines Weges, der die Ästhetik in Hermeneutik überführt. Arbeiten, die über einen so langen Zeitraum ihre Materialien zusammenordnen, nehmen seitens des Lesers eine selbstverständliche Nachsicht in Anspruch. Neuere Forschung konnte eigens für diese Ausgabe nicht angestellt werden. Auch die neuen, bisher unveröffentlichten Beiträge leben aus der Kontinuität meiner älteren Studien und setzen sich nicht ausdrücklich mit der neuesten Forschung auseinander. Was an meinen Arbeiten fruchtbar bleiben wird, muß sich selbst bewähren. HGG
Inhalt Ästhetik und Wahrheit 1. Ästhetik und Hermeneutik (1964)
1
2. Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins (1958)
9
3. Dichten und Deuten (1961)
18
4. Kunst und Nachahmung (1967)
25
5. Von der Wahrheit des Wortes (1971)
37
Poetik und Aktualität des Schönen
6. Zu Poetik und Hermeneutik: Lyrik als Paradigma der Moderne (1968) • DienichtmehrschönenKünste(1971)
58
7. Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit (1971)
70
8. Dichtung und Mimesis (1972)
80
9. Das Spiel der Kunst (1977)
86
10. Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest (1974)
94
VIII
Inhalt
Inhalt
IX
Zur bildenden Kunst
Die Transzendenz des Schönen 11. Ästhetische und religiöse Erfahrung (1964/78)
143
12. Reflexionen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft (1984)
156
13. Mythos und Vernunft (1954)
163
14. Mythos und Logos (1981)
170
15. Mythologie und Offenbarungsreligion (1981)
174
16. Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft (1981)
180
26. Ober die Festlichkeit des Theaters (1954)
296
27. Begriffene Malerei? - Zu A. Gehlen: Zeit-Bilder (1962)
305
28. Vom Verstummen des Bildes (1965)
315
29. Bild und Gebärde (1967)
323
30. Über das Lesen von Bauten und Bildern (1979)
331
An den Grenzen der Sprache Vom Schönen zur Kunst — von Kant zu Hegel 17. Anschauung und Anschaulichkeit (1980)
189
18. Ende der Kunst? Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst bis zur Anti-Kunst von heute (1985)
206
19. Die Stellung der Poesie im System der Hegeischen Ästhetik und die Frage des Vergangenheitscharakters der Kunst (1986)
221
20. Philosophie und Poesie (1977)
232
31. Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt (1990)
339
32. Grenzen der Sprache (1985)
350
33. Musik und Zeit. Ein philosophisches Postscriptum (1988)
362
34. Heimat und Sprache (1992)
366
Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie 35. Wort und Bild ->so wahr, so seiend< (1992)
373
36. Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache (1992)
400
Bibliographische Nachweise
441
Namenregister
447
Die Kunst des Wortes 21. Philosophie und Literatur (1981)
240
22. Stimme und Sprache (1981)
258
23. Hören - Sehen - Lesen (1984)
271
24. Lesen ist wie Übersetzen (1989)
279
25. Der >eminente< Text und seine Wahrheit (1986)
286
1. Ästhetik und Hermeneutik (1964) Sieht man die Aufgabe der Hermeneutik in der Überbrückung des menschlichen oder geschichtlichen Abstandes zwischen Geist und Geist, so scheint die Erfahrung der Kunst aus ihrem Bereiche herauszufallen. Ist sie doch unter allem, was uns in Natur und Geschichte begegnet, dasjenige, was am unmittelbarsten zu uns spricht und eine rätselhafte, unser ganzes Wesen ergreifende Vertrautheit atmet - als ob da überhaupt kein Abstand wäre und alle Begegnung mit einem Werke der Kunst eine Begegnung mit uns selbst bedeutete. Man darf sich dafür auf Hegel berufen. Er hat die Kunst zu den Gestalten des absoluten Geistes gerechnet, d. h., er sah in ihr eine Form der Selbsterkenntnis des Geistes, in der nichts Fremdes und Uneinlösbares, keine Kontingenz des Wirklichen, keine Unverständlichkeit des nur Gegebenen auftritt. In der Tat besteht zwischen dem Werk und seinem jeweiligen Betrachter eine absolute Gleichzeitigkeit, die sich aller steigenden historischen Bewußtheit zum Trotz unangefochten erhält. Die Wirklichkeit des Kunstwerks und seine Aussagekraft läßt sich nicht auf den ursprünglichen historischen Horizont eingrenzen, in dem der Betrachter mit dem Schöpfer des Werkes wirklich gleichzeitig war. Es scheint vielmehr zu der Erfahrung der Kunst zu gehören, daß das Kunstwerk immer seine eigene Gegenwart hat, daß es seinen historischen Ursprung nur sehr bedingt in sich festhält und insbesondere Ausdruck einer Wahrheit ist, die keineswegs mit dem zusammenfällt, was sich der geistige Urheber eines Werks eigentlich dabei dachte. Ob man das nun das bewußtlose Schaffen des Genies nennt oder ob man vom Betrachter her auf die begriffliche Unausschöpfbarkeit einer jeden künstlerischen Aussage hinsieht - jedenfalls kann sich das ästhetische Bewußtsein darauf berufen, daß das Kunstwerk sich selbst mitteilt. Auf der anderen Seite hat der hermeneutische Aspekt etwas so Umfassendes, daß er notwendig auch die Erfahrung des Schönen in Natur und Kunst einschließt. Wenn es die Grundverfassung der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins ist, sich verstehend mit sich selbst zu vermitteln, und das heißt notwendig mit dem Ganzen der eigenen Welterfahrung, dann gehört dazu auch alle Überlieferung. Diese umfaßt nicht nur Texte, sondern auch Institutionen und Lebensformen. Vor allem aber gehört die Begeg-
Ästhetik und Wahrheit
Ästhetik und Hermeneutik
nung mit der Kunst in den Integrationsvorgang hinein, der dem in Überlieferungen stehenden menschlichen Leben aufgegeben ist. Ja, es fragt sich sogar, ob nicht die besondere Gegenwärtigkeit des Kunstwerks eben darin besteht, für immer neue Integrationen grenzenlos offenzustehen. Mag der Schöpfer eines Werkes jeweils das Publikum seiner Zeit meinen, das eigentliche Sein seines Werkes ist das, was es zu sagen vermag, und das reicht über jede geschichtliche Beschränktheit grundsätzlich hinaus. In diesem Sinne ist das Kunstwerk von zeitloser Gegenwart. Aber das heißt nicht, daß es nicht eine Aufgabe des Verstehens stellte und daß nicht auch seine geschichtliche Herkunft in ihm anzutreffen ist. Gerade das legitimiert den Anspruch einer historischen Hermeneutik, daß das Kunstwerk, so wenig es historisch verstanden werden will und sich in Schlechthinniger Präsenz darbietet, dennoch nicht beliebige Auffassungsformen gestattet, sondern bei aller Offenheit und aller Spielweite seiner Auffassungsmöglichkeiten einen Maßstab der Angemessenheit anzulegen erlaubt, ja sogar fordert. Dabei mag es unentschieden sein und unentschieden bleiben, ob der jeweils erhobene Anspruch auf Angemessenheit der Auffassung richtig ist. Was Kant vom Geschmacksurteil mit Recht gesagt hat, daß ihm Allgemeingültigkeit angesonnen wird, obwohl seine Anerkennung nicht durch Gründe zu erzwingen ist, das gilt auch für alle Interpretation von Kunstwerken, die tätige des reproduzierenden Künstlers oder des Lesers so gut wie die des wissenschaftlichen Interpre-
noch die Grundlegung derselben in Kants >Kritik der Urteilskraft« einen sehr viel weiteren Rahmen spannte, indem sie das Schöne in Natur und Kunst, ja sogar das Erhabene mit umfaßte: Auch ist nicht zu bestreiten, daß für die grundlegenden Bestimmungen des ästhetischen Geschmacksurteils bei Kant, insbesondere für den Begriff des interesselosen Wohlgefallens, das Naturschöne einen methodischen Vorzug hat. Umgekehrt wird man zugeben müssen, daß das Naturschöne nicht in demselben Sinne etwas sagt, wie die von Menschen und für Menschen geschaffenen Werke uns etwas sagen, die wir Kunstwerke nennen. Man kann mit Recht sagen, daß ein Kunstwerk eben nicht im gleichen Sinne >rein ästhetisch< gefällt wie eine Blume oder allenfalls ein Ornament. Kant redet im Hinblick auf die Kunst von einem >intellektuierten< Wohlgefallen. Aber es hilft nichts: Dies »unreines weil intellektuierte Wohlgefallen, das das Kunstwerk erregt, ist gleichwohl das, was uns als Ästhetiker eigentlich interessiert. Ja, die schärfere Reflexion, die Hegel über das Verhältnis von Naturschönem und Kunstschönem angestellt hat, hat ein gültiges Ergebnis erzielt: Das Naturschöne ist ein Reflex des Kunstschönen. Wie etwas in der Natur als schön angesehen und genossen wird, das ist nicht eine zeit- und weltlose Gegebenheit des >rein ästhetischem Objektes, das seinen aufweisbaren Grund in der Harmonie von Formen und Farben und der Symmetrie der Zeichnung besitzt, wie sie ein pythagoreisierender mathematischer Verstand aus der Natur herauszulesen vermöchte. Wie uns Natur gefällt, das gehört vielmehr in den Zusammenhang eines Geschmacksinteresses, das jeweils von dem Kunstschaffen einer Zeit geprägt und bestimmt ist. Die ästhetische Geschichte einer Landschaft, beispielsweise die der Alpenlandschaft, oder das Übergangsphänomen der Gartenkunst sind dafür ein unwiderlegliches Zeugnis. Es ist also berechtigt, vom Kunstwerk auszugehen, wenn man das Verhältnis von Ästhetik und Hermeneutik bestimmen will.
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II· ten. Man kann sich skeptisch fragen, ob ein solcher Begriff vom Kunstwerk, das immer neuer Auffassung offensteht, nicht schon einer sekundären ästhetischen Bildungswelt angehört. Ist nicht das Werk, das wir ein Kunstwerk nennen, in seinem Ursprung Träger einer bedeutungshaften Lebensfunktion in einem kultischen oder gesellschaftlichen Raum und hat nur innerhalb desselben seine volle Sinnbestimmtheit? Indessen scheint mir, daß sich die Frage auch umkehren läßt. Ist es wirklich so, daß ein Kunstwerk, das aus vergangenen oder fremden Lebenswelten stammt und in unsere historisch gebildete Welt hineinversetzt ist, zum bloßen Objekt eines ästhetisch-historischen Genusses wird und von dem, was es ursprünglich zu sagen hatte, nichts mehr sagt? >Etwas sagen<, >etwas zu sagen haben< - sind das nur Metaphern, denen als eigentliche Wahrheit ein unbestimmter ästhetischer Gestaltungswert zugrunde liegt - oder ist es umgekehrt so, daß jene ästhetische Gestaltungsqualität nur die Bedingung dafür ist, daß das Werk seine Bedeutung in sich selber trägt und uns etwas zu sagen hat? An dieser Frage gewinnt das Thema >Ästhetik und Hermeneutik< die Dimension seiner eigentlichen Problematik. Die entwickelte Fragestellung überführt das systematische Problem der Ästhetik mit Bewußtsein in die Frage nach dem Wesen der Kunst. Zwar ist es richtig, daß die eigentliche Entstehung der philosophischen Ästhetik und
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Jedenfalls ist es für das Kunstwerk keine Metapher, sondern es hat einen guten und aufweisbaren Sinn, daß das Kunstwerk uns etwas sagt und daß es damit als etwas, das etwas sagt, in den Zusammenhang all dessen gehört, was wir zu verstehen haben. Damit aber ist es Gegenstand der Hermeneutik. Ihrer ursprünglichen Bestimmung nach ist Hermeneutik die Kunst, das von anderen Gesagte, das uns in der Überlieferung begegnet, durch eine eigene Anstrengung der Auslegung überall dort zu erklären und zu vermitteln, wo es nicht unmittelbar verständlich ist. Indessen hat diese Philologenkunst und Schulmeisterpraktik längst eine veränderte und erweiterte Gestalt angenommen. Denn seither hat das erwachende historische Bewußtsein die Mißverständlichkeit und die mögliche Unverständlichkeit aller Überlieferung zum Bewußtsein gebracht, und ebenso hat der Zerfall der christlichen Gesellschaft des Abendlandes - in Fortführung einer mit der Reformation einsetzenden Individualisierung - das Individuum für das Individuum zu
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Ästhetik und Wahrheit
einem letztlich unauflöslichen Geheimnis werden lassen. So ist seit der deutschen Romantik die Aufgabe der Hermeneutik dahin bestimmt, Mißverstand zu vermeiden. Damit hat sie einen Bereich, der grundsätzlich so weit reicht, wie überhaupt die Aussage von Sinn reicht. Aussage von Sinn sind zunächst alle sprachlichen Äußerungen. Als die Kunst, das in einer fremden Sprache Gesagte dem Verständnis eines anderen zu übermitteln, heißt die Hermeneutik nicht ohne Grund nach Hermes, dem Dolmetsch der göttlichen Botschaft an die Menschen. Wenn man sich an diese Namenserklärung des Begriffs Hermeneutik erinnert, wird unzweideutig klar, daß es sich hier um ein Sprachgeschehen handelt, um Übersetzung^einer Sprache in eine andere, also um das Verhältnis von zwei Sprachen. Sofern man aber aus einer Sprache in die andere nur übertragen kann, wenn man den Sinn des Gesagten verstanden hat und ihn im Medium der anderen Sprache neu aufbaut, setzt solches Sprachgeschehen Verstehen voraus. Diese Selbstverständlichkeiten werden nun entscheidend für die Frage, die uns hier beschäftigt, die Frage nach der Sprache der Kunst und der Legitimität des hermeneutischen Gesichtspunktes gegenüber der Erfahrung der Kunst. Alle Auslegung von Verständlichem, die anderen zum Verständnis verhilft, hat ja Sprachcharakter. Insofern wird die gesamte Welterfahrung sprachlich vermittelt, und es bestimmt sich von da ein weitester Begriff von Überlieferung, die zwar als solche nicht sprachlich ist, aber doch der sprachlichen Auslegung fähig ist. Sie reicht von dem >Gebrauch< von Werkzeugen, Techniken usw. über die Handwerkstradition im Herstellen von Gerätetypen, Schmuckformen usw., über die Pflege von Bräuchen und Sitten bis zu der Stiftung von Vorbildern usw. - Gehört dazu auch das Kunstwerk oder nimmt es eine Sonderstellung ein? Sofern es sich nicht gerade um sprachliche Kunstwerke handelt, scheint das Kunstwerk in der Tat zu solcher nichtsprachlichen Überlieferung zu gehören. Und doch bedeutet die Erfahrung und das Verständnis eines Kunstwerks etwas anderes als etwa das Verständnis von Werkzeugen oder von Bräuchen, die uns aus der Vergangenheit überliefert sind. Wenn wir einer alten Bestimmung der Droysenschen Hermeneutik folgen, so können wir zwischen Quellen und Überresten unterscheiden. Überreste sind Teilstück« vergangener Welten, die sich erhalten haben und die uns dazu verhelfen, die Welt geistig zu rekonstruieren, deren Rest sie sind. Quellen dagegen bilden die sprachliche Überlieferung und dienen daher dazu, eine sprachlich gedeutete Welt zu verstehen. Wohin gehört nun etwa ein archaisches Götterbild? Ist es ein Überrest wie jedes Gerät? Oder ein Stück Weltdeutung wie alles sprachlich Überlieferte? Quellen, sagt Droysen, sind zum Zwecke der Erinnerung überlieferte Aufzeichnungen. Eine Mischform von Quellen und Oberresten nennt er Denkmäler, und dazu rechnet er neben Urkunden, Münzen usw. »Kunst-
Ästhetik und Hermeneutik
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werke aller Art«. Das mag für den Historiker so aussehen, aber das Kunstwerk ist als solches nicht ein historisches Dokument, weder seiner Absicht noch jener Bedeutung nach, die es in der Erfahrung der Kunst gewinnt. Zwar redet man von Kunstdenkmälern, als ob die Herstellung eines Kunstwerkes eine dokumentarische Absicht enthielte. Das hat darin eine gewisse Wahrheit, daß jedem Kunstwerk Dauer wesentlich ist - den transitorischen Künsten freilich nur in der Form der Wiederholbarkeit. Das gelungene Werk >steht< (wie das sogar der Varietekünstler von seiner Nummer sagen kann). Aber eine Absicht auf Erinnerung durch Vorzeigen, wie sie dem eigentlichen Dokument zukommt, ist damit nicht gegeben. Man will sich nicht durch Vorzeigen - auf etwas berufen, was war. Ebensowenig eine Verbürgung seiner Dauer, da es auf den zustimmenden Geschmack oder Qualitätssinn späterer Generationen fur seine Erhaltung angewiesen ist. Aber gerade diese Angewiesenheit auf einen bewahrenden Willen besagt, daß das Kunstwerk in demselben Sinne überliefert wird, in dem sich die Überlieferung unserer literarischen Quellen vollzieht. Jedenfalls >spricht es< nicht nur, wie die Überreste der Vergangenheit zu dem historischen Forscher sprechen, und auch nicht nur, wie das historische Urkunden tun, die etwas fixieren. Denn was wir die Sprache des Kunstwerks nennen, um derentwillen es erhalten und überliefert wird, ist die Sprache, die das Kunstwerk selber führt, ob es nun sprachlicher Natur ist oder nicht. Das Kunstwerk sagt einem etwas, und das nicht nur so, wie ein historisches Dokument dem Historiker etwas sagt - es sagt einem jeden etwas, als wäre es eigens ihm gesagt, als etwas Gegenwärtiges und Gleichzeitiges. So stellt sich die Aufgabe, den Sinn dessen, was es sagt, zu verstehen und - sich und anderen verständlich zu machen. Auch das nichtsprachliche Kunstwerk fällt somit in den eigentlichen Aufgabenbereich der Hermeneutik. Es ist in das Selbstverständnis eines jeden zu integrieren1. In diesem umfassenden Sinne schließt Hermeneutik die Ästhetik ein. Hermeneutik überbrückt den Abstand von Geist und Geist und schließt die Fremdheit des fremden Geistes auf. Aufschließung des Fremden meint aber hier nicht nur historische Rekonstruktion der >Welt<, in der ein Kunstwerk seine ursprüngliche Bedeutung und Funktion hatte, sie meint auch das Vernehmen dessen, was uns gesagt wird. Auch dies ist immer noch mehr als sein angebbarer und erfaßter Sinn. Was uns etwas sagt, ist wie der, der einem etwas sagt, in dem Sinne ein Fremdes, daß es über uns hinausreicht. Insofern ist in der Aufgabe des Verstehens eine doppelte Fremdheit gegeben, die in Wahrheit eine und dieselbe ist. Es ist wie mit aller Rede. Sie sagt nicht nur etwas, sondern jemand sagt einem etwas. Das Verstehen der Rede ist nicht 1 In diesem Sinne habe ich in >Wahrheit und Methode* (Ges. Werke Bd. 1, S. 101) an KIERKEGAARDS Begriff des Ästhetischen {mit ihm selbst) Kritik geübt.
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Ästhetik und Hermeneutik
Ästhetik und Wahrheit
das Verstehen des Wortlauts des Gesagten im schrittweisen Vollzug der Wortbedeutungen, sondern es vollzieht den einheitlichen Sinn des Gesagten - und der liegt immer über das hinaus, was Gesagtes aussagt. Das, was es sagt, mag schwer zu verstehen sein, wenn es sich etwa um eine fremde oder altertümliche Sprache handelt - schwerer noch ist es, auch wenn man ohne weiteres das Gesagte versteht, sich etwas sagen zu lassen. Beides gehört in die Aufgabe der Hermeneutik. Man kann nicht verstehen, ohne verstehen zu wollen, d. h. ohne sich etwas sagen lassen zu wollen. Es wäre eine unzulässige Abstraktion zu meinen, daß man zunächst die Gleichzeitigkeit mit dem Autor bzw. dem ursprünglichen Leser durch Rekonstruktion seines ganzen geschichtlichen Horizontes erzeugt haben müsse und dann erst den Sinn des Gesagten zu vernehmen beginne. Eine Art Sinnerwartung regelt vielmehr von Anfang an die Bemühung um Verständnis. Was so von aller Rede gilt, gilt aber in eminenter Weise von der Erfahrung der Kunst. Hier ist mehr als Sinnerwartung, hier ist, was ich Betroffenheit von dem Sinn des Gesagten nennen möchte. Jede Erfahrung von Kunst versteht nicht nur einen erkennbaren Sinn, wie das im Geschäft der historischen Hermeneutik und in ihrem Umgang mit Texten geschieht. Das Kunstwerk, das etwas sagt, konfrontiert uns mit uns selbst. Das will sagen, es sagt etwas aus, das so, wie es da gesagt wird, wie eine Entdeckung ist, d. h. die Aufdeckung von etwas Verdecktem. Darauf beruht jene Betroffenheit. »So wahr, so seiend« ist nichts, was man sonst kennt. Alles Bekannte ist übertroffen. Verstehen, was einem das Kunstwerk sagt, ist also gewiß Selbstbegegnung. Aber als eine Begegnung mit dem Eigentlichen, als eine Vertrautheit, die Übertroffenheit einschließt, ist die Erfahrung der Kunst in einem echten Sinne Erfahrung und hat je neu die Aufgabe zu bewältigen, die Erfahrung stellt: sie in das Ganze der eigenen Weltorientierung und des eigenen Selbstverständnisses zu integrieren. Das eben macht die Sprache der Kunst aus, daß sie in das eigene Selbstverständnis eines jeden hineinspricht und das tut sie als je gegenwärtige und durch ihre eigene Gegenwärtigkeit. Ja, gerade seine Gegenwärtigkeit läßt das Werk zur Sprache werden. Alles kommt darauf an, wie etwas gesagt wird. Aber das heißt nicht, daß auf die Mittel des Sagens reflektiert würde. Im Gegenteil - je überzeugender etwas gesagt wird, desto mehr scheint die Einmaligkeit und Einzigartigkeit dieser Aussage selbstverständlich und natürlich, d.h., sie konzentriert den Angeredeten ganz auf das hin, was ihm da gesagt wird, und verbietet ihm im Grunde, zu einer distanzierten ästhetischen Unterscheidung überzugehen. Die Reflexion auf die Mittel des Sagens ist ja auch sonst gegenüber der eigentlichen Intention auf das Gesagte sekundär und bleibt im allgemeinen aus, wo Menschen als Gegenwärtige einander etwas sagen. Denn das Gesagte ist gar nicht das, was sich wie eine Art Urteilsinhalt in der logischen Form des Urteils darbietet. Es meint vielmehr das, was einer sagen will und was man
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sich sagen lassen soll. Verstehen ist nicht, wo einer das, was ihm einer sagen will, schon vorher abzufangen trachtet, indem er behauptet, er wisse es schon. Das alles gilt in eminentem Maße von der Sprache der Kunst. Natürlich ist es nicht der Künstler, der hier spricht. Das mag gewiß auch ein mögliches Interesse erwecken, was der Künstler über das in dem einen Werk Gesagte hinaus zu sagen hat und in anderen Werken sagt. Aber die Sprache der Kunst meint den Sinnüberschuß, der in dem Werke selbst liegt. Auf ihm beruht seine Unausschöpfbarkeit, die es aller Übertragung in den Begriff gegenüber auszeichnet. Es folgt daraus, daß man sich beim Verständnis eines Kunstwerkes nicht mit der bewährten hermeneutischen Regel begnügen kann, daß die >mens auctoris< die Verständnisaufgabe, die ein Text stellt, begrenzt. Vielmehr wird gerade an der Ausdehnung des hermeneutischen Gesichtspunktes auf die Sprache der Kunst deutlich, wie wenig die Subjektivität des Meinens ausreicht, um den Gegenstand des Verstehens zu bezeichnen. Das hat eine prinzipielle Bedeutung, und insofern ist die Ästhetik ein wichtiges Element der allgemeinen Hermeneutik. Das sei abschließend angedeutet. Alles, was im weitesten Sinne als Überlieferung zu uns spricht, stellt die Aufgabe des Verstehens, ohne daß Verstehen im allgemeinen hieße, die Gedanken eines anderen in sich neu zu aktualisieren. Das lehrt uns nicht nur, wie oben dargelegt, mit überzeugender Deutlichkeit die Erfahrung der Kunst, sondern ebenso auch das Verständnis der Geschichte. Denn es sind gar nicht die subjektiven Meinungen, Planungen und Erfahrungen der die Geschichte erleidenden Menschen, deren Verständnis die eigentliche historische Aufgabe stellt. Der große Sinnzusammenhang der Geschichte, dem das deutende Bemühen des Historikers gilt, ist es, der verstanden werden will. Die subjektiven Meinungen der im Prozeß der Geschichte stehenden Menschen sind selten oder nie von der Art, daß eine spätere historische Würdigung der Ereignisse ihre Einschätzung durch die Zeitgenossen bestätigt. Die Bedeutung der Ereignisse, ihre Verflechtung und ihre Folgen, wie sie sich im geschichtlichen Rückblick darstellen, lassen die >mens actoris< ebenso hinter sich, wie die Erfahrung des Kunstwerks die >mens auctoris< hinter sich läßt. Die Universalität des hermeneutischen Gesichtspunktes ist eine umfassende. Wenn ich einmal formuliert habe2: Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache, so ist das gewiß keine metaphysische These, sondern beschreibt von der Mitte des Verstehens aus die unbeschränkte Weite seines Umblicks. Daß alle geschichtliche Erfahrung diesem Satz ebenso genügt wie etwa die Erfahrung der Natur, ließe sich leicht zeigen. Am Ende enthält Goethes universale Wendung »Alles ist Symbol« -und das will doch heißen: ein jegliches deutet auf ein anderes - die umfassendste Formulierung des hermeneutischen 2
>Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 478.
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Ästhetik und Wahrheit
Gedankens. Goethes »Alles« ist nicht eine Aussage über ein jegliches Seiende, was es ist, sondern darüber, wie es dem Verstehen des Menschen begegnet. Nichts kann sein, was ihm nicht etwas zu bedeuten vermag. Aber es liegt noch etwas anderes darin: Nichts geht auf in der einen Bedeutung, die es einem gerade bietet. In Goethes Begriff des Symbolischen liegt ebensosehr die Unüberschaubarkeit aller Bezüge wie die stellvertretende Funktion des einzelnen für die Repräsentation des Ganzen. Denn nur weil die AUbezogenheit des Seins dem menschlichen Auge verborgen ist, bedarf es ihrer Entdeckung. So universell der hermeneutische Gedanke ist, der dem Goetheschen Wort entspricht, in einem eminenten Sinne wird es allein durch die Erfahrung der Kunst erfüllt. Denn die Sprache des Kunstwerks hat die Auszeichnung, daß das einzelne Kunstwerk den Symbolcharakter, der allem Seienden, hermeneutisch gesehen, zukommt, in sich versammelt und zur Erscheinung bringt. Im Vergleich zu aller anderen sprachlichen und sprachlosen Überlieferung gilt von ihm, daß es für die jeweilige Gegenwart absolute Gegenwart ist und zugleich für alle Zukunft sein Wort bereithält. Die Vertrautheit, mit der das Kunstwerk uns anrührt, ist zugleich auf rätselhafte Weise Erschütterung und Einsturz des Gewohnten. Es ist nicht nur das »Das bist du!«, das es in einem freudigen und furchtbaren Schreck aufdeckt - es sagt uns auch: »Du mußt dein Leben ändern. «
2. Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins (1958)
Das ästhetische Urteil ist eine Funktion des ästhetischen Bewußtseins. Die Frage nach seinen Maßstäben und seiner Gültigkeit ist daher ein Grundproblem der Ästhetik. Offenbar können die empirischen Verschiedenheiten des menschlichen Geschmacks, die unser ästhetisches Urteil bedingen, nicht einfach hingenommen werden. Sie lassen sich aber auch nicht von einem Geschmacksideal aus, dessen Gültigkeit unbezweifelt feststeht, in den Unterschied des schlechten, barbarischen und des guten, verfeinerten Geschmacks auflösen. Die philosophische Ästhetik ist vielmehr als eine selbständige philosophische Disziplin aus der Frage entstanden, ob das ästhetische Urteil einer apriorischen Legitimation fähig ist, die es über die empirische Zufälligkeit der Geschmacksunterschiede erhebt. So hat Kant in der dritten seiner >Kritiken< eine Kritik der Kritik unternommen, die das in aller ästhetischen Kritik Gültige zu bestimmen versprach. Gegenüber allen Versuchen, der >cognitio sensitiva< als einer Vorstufe der >cognitio rationalis< einen relativen Erkenntniswert zu wahren, verzichtet die Kantische Grundlegung des apriorischen Geschmacksurteils bekanntlich ganz darauf, daß in der Aussage, etwas sei schön, etwas vom Gegenstande erkannt werde. Vielmehr betreffe die Aussage lediglich das Verhältnis des Gegenstandes zu unserem Erkenntnisvermögen überhaupt und besage, daß er das Spiel von Einbildungskraft und Verstand in uns auf freie Weise ermögliche. Diese transzendentale Rechtfertigung des Geschmacksurteils gilt in gleicher Weise fur das Naturschöne wie für das Kunstschöne - j a , sie hat ihre eigentliche metaphysische Pointe im Hinblick auf das Naturschöne1, sofern dieses von sich aus eine solche Anmessung an das freie Wohlgefallen, d. h. das Spiel unserer Erkenntnisvermögen, zeigt, daß darin ein Hinweis auf die übersinnliche Bestimmung der Menschheit im Ganzen der Natur liegt. Auch die Lehre vom Genie, durch die Kant das Kunstschöne definiert, bleibt
1
Siehe dazu die Ausfuhrungen in >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 48ff.
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Ästhetik und Wahrheit
Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins
im metaphysischen Verständnishorizont der Natur, die ihren Günstling mit dem naturhaften Vermögen, Schönes darzustellen, ausgestattet hat. Kants Begründung des ästhetischen Geschmacksurteils beruht also ganz auf einem subjektiven Prinzip, aber sie rechtfertigt nicht nur a priori den Geltungsanspruch ästhetischer Urteile, indem es eben doch eine Eigenschaft gewisser Gegenstände ist, für die Subjektivität der menschlichen Erkenntnisvermögen dergestalt belebend zu sein - die transzendentale Abstraktion, die ebensowohl vom sinnlichen Reiz des Angenehmen wie von allen rationalen Zweckgedanken abzusehen gebietet, ist auch für die Ausbildung des empirischen Geschmacks und die Schlichtung des Streits der >Kunstrichter< nach Kants Meinung von produktiver Bedeutung. Wenn alle >Trübungen< des rein Ästhetischen als solche erkannt werden - ohne deswegen in ihrer höheren, etwa moralischen Begründung angefochten zu werden -, läßt sich nicht nur der Streit der Kunstrichter schlichten, es wird auch der Entwicklung und Verfeinerung des Geschmacks damit vorgearbeitet. Die Idee eines vollendeten Geschmacks, auf die sich alle Geschmackserziehung hinbewegt, umschließt das Ganze. Selbst Schillers Idee einer ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts, die den Weg über die schöne Kunst ab Vorbereitung der wahren politischen Freiheit fordert, ist von keinem Zweifel beunruhigt, daß das, was ein gebildeter Geschmack und ein Mann von Genie schön findet, eindeutig bestimmt ist. Man muß sich das bewußt machen, um die völlige Veränderung der Problemlage zu erfassen, die seither das ästhetische Bewußtsein mit dem historischen Bewußtsein in einer spannungsvollen Auseinandersetzung zeigt. Die Idee eines vollendeten Geschmacks, der alles Schöne im richtigen Grade schön fände, hat von nun an etwas Unsinniges. Mindestens dem Naturschönen gegenüber scheint ein toleranter Relativismus unvermeidlich, der die wilde Erhabenheit des Hochgebirges neben der heiteren Anmut einer Kulturlandschaft gelten läßt, ohne die eine als barbarisch oder die andere als weichlich zu verurteilen. Eher scheint es sinnvoll, für alle Kunstkritik einen übergeschichtlichen Maßstab gelten zu lassen, innerhalb dessen sich die wechselnden Bevorzugungen des einen oder anderen Künstlers oder einer bestimmten Kunstrichtung die Besonderheit ihres Geschmackes vorbehalten. Hier wird man wechselnde Wertschätzungen anerkennen können, auch wenn man über den künstlerischen Rang der betreffenden Werke Einigkeit fordert. Man wird damit nicht nur den persönlichen Geschmack als ein individuelles Wertsystem freizugeben meinen, sondern vor allem die geschichtliche Variation anerkennen, in der die Epochen ihren wechselnden Geschmack ausleben. Gleichwohl werden sich, wenn schon nicht die Kunsthistoriker, so doch die Kenner und die Händler im Prinzip darüber einig sein, was >Qualität< ist. Nicht ganz so einfach ist es aber, diesen ästhetischen Qualitätsbegriff, der
eigentlich gemeint ist, wenn man im ästhetischen Urteil etwas beurteilt, theoretisch zu rechtfertigen, wenn man damit nicht zugleich die Idee eines einheitlichen und für alle verbindlichen Geschmacks verteidigen will. Genau das aber ist die Sachlage, in der das ästhetische Urteil sich findet. Es weiß sich über alle Vorlieben der Zeitalter oder der Individuen erhaben. Ja, es unterscheidet die von ihm beurteilte Qualität sogar noch von der eigenen entschiedenen Vorliebe oder Abneigung. Hier hat also eine Dissoziation von Geschmack und Urteil statt, die eine doppelte Begründung verlangt. Denn beliebig soll doch weder das Urteil noch die Wertschätzung des Geschmacks sein. In beiden soll Verbindlichkeit hegen. Die Sonderung des Urteils vom Geschmack kann daher keine absolute sein. Vielmehr wird sich am Ende die Anerkennung des Ranges eines Werkes mit der Einsicht in die geschichtlichen Konstellationen verbinden müssen, die unsere Empfänglichkeit wechselnd bestimmen. Denn es muß beides seine Begründung finden, das Urteil und die Wertschätzung, die Anerkennung der Qualität und die der Bedeutung eines Werkes. Es ist ja ein Bewußtsein, das sich so abstrahierend bewegt, um sich sich selber zuzumuten. Die Frage läßt sich auch so stellen: Wie sieht die Hermeneutik des ästhetischen Bewußtseins aus? Wie bestimmt sich die >Richtigkeit< der Auffassung von Kunstwerken derart, daß sie beiden Bedingungen gerecht wird? ,Das gelingt offenbar nicht, wenn man die Abstraktion des ästhetischen Urteils isoliert2. Denn schon die Voraussetzung, die im Begriff der ästhetischen Qualität liegt, es mit einem Kunstwerk zu tun zu haben, hat nur ein bedingtes Recht. Sie wird durch die >Bedeutung< eingeschränkt, die sehr oft nicht die eines zum Kunstgenuß bestimmten Kunstwerks ist, sondern die eines kultischen oder profanen Monuments, das nur sekundär den Charakter eines Kunstwerks besitzt. 'Das ist keine leere Spitzfindigkeit historischer Reflexion, sondern eine Einschränkung, die selbst ästhetisch einlösbar wird. Die ästhetische Abstraktion hat ihrerseits den Charakter einer historischen Realität, sofern sie die Kunstwerke aus ihrem geschichtlichen Ort in Raum und Zeit löst und in die Zeitlosigkeit des Museums überführt. Die geistige Rückführung derselben ist eine der wichtigsten Aufgaben kunsthistorischer Forschung. Denn es gilt, den falschen Bildcharakter aufzuheben, den die Kunstwerke durch ihre ästhetische Isolierung in der >Sammlung< empfangen haben, und ihnen ihre wahre Welt ästhetisch zurückzugeben. Die Kunstforschung der letzten Jahrzehnte hat uns auf diese Weise viele Einsichten geschenkt. Zugleich aber hat sie damit die eigene Voraussetzung, von der sie ausgeht, in Frage zu stellen begonnen. Denn die >Kunst< ist keine selbstverständliche und eindeutige Gegebenheit, durch die sich etwas als ein Kunstwerk be2
Vgl. hierzu auch >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 94ff.
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stimmt, sondern eine Auffassungsform, die selber ihre geschichtliche Stunde hat. Wie rechtfertigt sich die Abstraktion auf Kunst, die offenbar allem ästhetischen Urteil zugrundeliegt? Die Antwort, die die ästhetische Theorie auf diese Frage hat, stammt von Kant. Schöne Kunst ist Kunst des Genies. Etwas als ein Kunstwerk ansehen heißt, in ihm das Produkt eines schöpferischen Tuns zu sehen, das keine schulgerechte Anwendung von Regem ist. Man kann das durchaus in so weitem Sinne verstehen, daß damit von allem Kunstwerk das, was an ihm Kunst ist, beschrieben wird. Der transzendentale Sinn der Genietheorie besteht darin, daß durch sie das, was künstlerisch, das heißt ästhetisch wertvoll ist, überhaupt charakterisiert wird - mithin auch an Gebrauchsdingen, soweit mit ihnen etwas ohne Regeln und nachkontrollierbare Berechnung Gefallendes hergestellt wird. Psychologisch gesehen ist es das Moment der Inspiration, zu der ja immer noch die Ausarbeitung nach Können und Regeln treten muß und die doch lenkend und bestimmend die rational beherrschten Prozesse des Herstellens umgreift. Die hermeneutische Kehrseite dazu ist, daß etwas als Kunstwerk anzusehen selbst wieder eine geniale, eben die kongeniale Fähigkeit des nachschaffenden Genießens verlangt. Indessen ist die Grenze dieser Theorie, die ihren Ursprung in der Kritik am französischen Klassizismus hat und in Goethes dichterischer Produktionsweise ihre exemplarische Darstellung fand, deutlich genug geworden, daß ihre begrifflichen Voraussetzungen einer erneuten Prüfung bedürfen. Offenbar geht sie von der handwerklichen Produktion aus, die das fertige Stück als das Produkt einer Planung und eines Könnens versteht. Was dem Handwerker als Eidos vorschwebt, regelt den Produktionsgang. Das Eidos selber aber ist vom Zwecke des Gebrauches bestimmt, der von dem Werkstück gemacht werden soll. Alles Herstellen stellt für den Gebrauch her. Die Typik der Brauchbarkeit verleiht dem Herstellen selbst den Wesenszug der Wiederholbarkeit. Das einzelne Stück ist >ein solches<, das seine Gebrauchsbestimmung erfüllt. Es ist fertig, sofern es in Gebrauch genommen werden kann. Diesem Modell gegenüber stellt die Genietheorie insofern eine Abwandlung dar, als das Kunstwerk nicht Gebrauchszwecken untergeordnet ist oder, wo es sich um Gebrauchskunst handelt, das Künstlerische an ihr nicht von da aus bestimmt ist. Hier gibt es mithin kein Fertigsein, das von dem Andern des Zweckes her entschieden würde. Ein Kunstwerk ist niemals >ein solches<. Es ist der Vorgang seiner schöpferischen Hervorbringung allein, der es in seinem Sein bestimmt. Somit wird in den Schöpfer - im Sinne der genialen Inspiration - verlegt, was den Herstellungsvorgang leitet und begrenzt. Die Vollkommenheit des Gebildes, daß zu ihm nichts hinzugetan und nichts weggelassen werden darf - ein Begriff der Schönheit, der am Kunstwerk eine viel strengere Erfüllung findet als an jedem Gebrauchsding
-, gründet hier nicht in einem über es hinausgehenden Sinn. Gleichwohl aber folgt aus der Analogie zu dem Handwerker, daß der Hersteller es so >gemeint< habe. Für die hermeneutische Seite der Sache bedeutet das, daß dem Verstehenden und Genießenden der Sinn des Werkes durch die Sinnintention des Schöpfers vorgeschrieben ist und daher im Nachschaffen als dem kongenialen Verstehen seine Erfüllung findet. Es ist nun aber die Frage, ob die Analogie zwischen Kunst und Handwerk in dieser Theorie nach der richtigen Seite entfaltet wird. Der Begriff der unbewußten Planung und genialen Produktion soll zunächst nur die Verbindlichkeit formulieren, die das Sinnverständnis findet, wenn kein Gebrauchszweck diesen >Sinn< bestimmt. Das ist der transzendentale Sinn der idealistischen Ästhetik mit ihrer Lehre von der produktiven Einbildungskraft des Genies. Aber wird diese Theorie der Sachlage gerecht? Sie lehrt eine letzte, absolute Konformität von Schaffen und Genießen und ergänzt so die Apotheose des Künstlers, der als ein prometheischer Schöpfer wie ein >alter deus< ist, durch die Apotheose des ästhetischen Bewußtseins, das allerwärts der künstlerischen Genialität mit der kongenialen Souveränität des ästhetischen Genießens und des ästhetischen Urteils begegnet. Ist diese Konformität phänomenologisch ausweisbar? Man höre die modernen Künstler an. Wenn man ihnen folgt, erscheint die Vorstellung von der nachtwandlerischen Unbewußtheit, mit der das Genie schafft, - eine durch Goethes Selbstbeschreibung seiner poetischen Produktionsweise immerhin legitimierte Vorstellung - als eine romantische Übertreibung. Der Dichter Paul Valéry erneuert demgegenüber die Maßstäbe eines Künstlers und Ingenieurs wie Leonardo da Vinci, in dessen universalem Ingenium Handwerk, mechanische Erfindung und künstlerische Geniah'tat eine ununterscheidbare Einheit bilden. Offenbar leben wir im allgemeinen noch immer unter den Wirkungen des Geniekultes des achtzehnten Jahrhunderts und der Sakralisierung des Künstlertums, die für die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts so charakteristisch ist. Von solchen Vorstellungen können uns die Zeugnisse moderner Künstler zurückbringen, auch wenn sie ihrerseits eine einseitige Übertreibung in der Richtung auf einen modernen »cerebralen« Manierismus darstellen mögen. Sie machen uns bewußt, daß der Begriff des Genies, wie er in der Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts gedacht wurde, vom Betrachter aus konzipiert war. Nicht dem schaffenden, sondern dem beurteilenden Vermögen bietet sich dieser antike Begriff als überzeugend dar. Was dem Betrachter als ein Wunder erscheint, wird in das Wundersame einer Schöpfung durch geniale Inspiration hinausgespiegelt. Soweit die Schaffenden sich selber zuschauen, mögen sie sich dieser Auffassungsform auch selber bedienen können. Daher ist der Geniekult des 18. Jahrhunderts gewiß auch von den Schaffenden genährt worden. Aber im
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allgemeinen gehen sie in der Selbstapotheose nie so weit, wie die bürgerliche Gesellschaft ihnen zugesteht. Das Selbstverständnis des Schaffenden ist weit nüchterner. Er sieht auch dort Möglichkeiten des Machens und Könnens und Fragen der Technik, wo der deutende Betrachter Geheimnis und tiefere Bedeutung sucht. Damit ist ein zweiter kritischer Punkt dieser Theorie berührt. Das Phänomen der ästhetischen Kritik fügt sich schlecht in die Theorie der Konformität von Schaffen und Genießen. Nicht nur, daß es eine unauflösliche Spannung zwischen Kritik und schaffendem Künstlertum gibt, die vielleicht nicht nur auf die verletzliche Sensibilität der Künstler zurückgeht, — die ästhetische Kritik widerlegt geradezu durch ihr eigenes Tun jede Theorie, die im Verstehen ein Nachschaffen sieht. Denn wo immer sie sich nachschaffende Kompetenz anmaßt, indem sie konkrete kritische Beanstandungen macht oder gar mit eigenen positiven Gegenvorschlägen kommt, verfällt sie unweigerlich der Beckmesserei. Ihr Nachschaffen ist eine offenbare Illusion. Gewiß erfordern Verstehen und Genießen eine eigene Aktivität, aber diese ist von der des Schaffens gänzlich verschieden. So sehr, daß ästhetische Kritik, wo sie berechtigt erscheint, einen künstlerischen Mangel eher anzeigt, als daß sie ihn wirklich erkennt oder gar zu korrigieren wüßte. Es wird uns noch zu beschäftigen haben, daß die ästhetische Kritik und das ästhetische Urteil überhaupt einem sekundären Verhältnis zum Kunstwerk zugehören. Trägt man diesen Einwendungen Rechnung, so bricht das Problem, das der transzendentale Gebrauch des Geniebegriffs zu lösen wußte, neu auf. Wie soll ohne den Geniebegriff die Differenz zwischen dem handwerklich Gemachten und dem künstlerisch Geschaffenen gedacht werden? Wie soll auch nur die Vollendung eines Werkes der Kunst gedacht werden, wenn der Vorgang der Gestaltung nicht von einer vorgreifenden Planung umschlossen ist? Stellt sich dann das Fertigsein des Werkes nicht wie der Abbruch eines über es hinausweisenden Gestaltungsvorganges dar? In der Tat hat Paul Valéry die Dinge so angesehen, und man muß zugeben, daß manches für eine solche Auffassung spricht, etwa die Existenz verschiedener Fassungen ein und desselben Werkes, die mitunter einen je eigenen, fertigen Sinn zu haben scheinen. (Ich denke etwa an Hölderlinsche Kurzfassungen und ihre Ausweitung.) Oder die Existenz derart vollendeten Fragmente, wie mancher in Goethes Werken zu findender, wo der Abbruch eines Gestaltungsvorganges eine wirkliche Vollendung zustandezubringen scheint. Die Theorie der modernen Lyrik vollends sieht die dichterische Gestaltung viel mehr als ein solches Zustandekommen, bei dem es die Fügung der Sprache selber ist, die sich im Gedicht zu ihrem Sinn findet. Auch das mag eine nur teilhafte Gültigkeit haben und mehr eine dichterische >Schule< als das allgemeine Wesen der künstlerischen Gestaltung
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treffen - als Korrektiv der ästhetischen Genietheorie oder des Erlebnisbegriffes bleibt etwas daran. Wenn es aber so ist, daß künstlerische Gestaltung mehr ein Zustandekommen und Geraten als ein Schaffen ist, dann gewinnt die hermeneutische Kehrseite der ästhetischen Theorie den methodischen Vorrang. Mag es mit der Produktionsweise des Künstlerischen stehen, wie es will - in jedem Falle kommt es darauf an, die Sinnerfahrung, die das Kunstwerk vermittelt, angemessen zu bestimmen. Hier kann nun der hermeneutische Nihilismus Paul Valérys nicht befriedigen. Es klingt zwar konsequent: Wenn ein Kunstwerk der zufällige Abbruch eines virtuell fortgehenden Gestaltungsvorganges ist, dann enthält es nichts Verbindliches. Es muß dann dem Aufnehmenden überlassen bleiben, was er seinerseits daraus macht. Die eine Art, eine solche Gestaltung zu verstehen, ist dann nicht weniger legitim als die andere. Es gibt keinen Maßstab der Angemessenheit. Auch der Schöpfer des Werkes besitzt ihn nicht. Jede Begegnung mit dem Werk ist eine neue, originäre Produktion. Wenn Valéry in der Tat solche Konsequenzen zieht, um dem Mythos der unbewußten Produktion des Genies zu entgehen, muß man aber feststellen, daß er sich damit erst recht in ihm verfängt. Denn nun überträgt er in Wahrheit dem Leser und Ausleger die Vollmacht des absoluten Schaffens, die er nicht selber in Anspruch nehmen will. Vielmehr gilt es, die hermeneutische Verbindlichkeit genauer zu bestimmen, die dem Kunstwerk zukommt. Ob vom Schaffenden oder Genießenden her gesehen, jedenfalls ist es eine Erfahrung von Sinn, in der auch dann nichts beliebig ist, wenn niemand über einen bleibenden Maßstab verfügt. Ja, die Verbindlichkeit der Sinnfindung ist vielleicht gerade dann eine besondere und gesteigerte, wenn sie auf einen solchen Maßstab verzichten muß. So werden wir gewiß der in den reproduktiven Künsten geübten Interpretation, etwa eines Musikwerks oder eines Dramas, nicht die Freiheit einräumen, daß sie den fixierten >Text< zum Anlaß der Erzeugung beliebiger Effekte nimmt, und werden doch auch umgekehrt die Kanonisierung einer bestimmten Interpretation, ζ. Β. durch die Schallplattenaufnahme, die der Komponist dirigiert hat, oder die detaillierten Aufführungsvorschriften, die sich von der kanonisierten Uraufführung herleiten, für eine Verkennung der eigentlichen Interpretationsaufgabe halten. Eine dermaßen angestrebte >Richtigkeit< würde der wahren Verbindlichkeit des Werkes selbst nicht gerecht, die einen jeden Interpreten auf eigene und unmittelbare Weise bindet und ihm die Entlastung bloßer Nachahmung eines Vorbildes vorenthält. Es ist auch offenkundig falsch, die >Freiheit< des reproduktiven Beliebens auf Äußerlichkeiten oder Randerscheinungen zu beschränken und nicht vielmehr das Ganze einer Reproduktion verbindlich und frei zugleich zu denken. Interpretation ist hier gewiß Nachschaffen, aber dies Nachschaffen folgt nicht einem vorgängigen Schaffensakt, sondern der Figur des geschaf-
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fenen Werks, die es so, wie es Sinn darin findet, zur Darstellung zu bringen hat. Historisierende Darstellungen, ζ. Β. Musik auf alten Instrumenten, sind daher nicht so getreu, wie sie meinen, weil sie als Nachahmung der Nachahmung »dreifach von der Wahrheit abstehen« (Plato). Nun hat reproduktive Interpretation gewiß ihren eigenen, selbständigen Stoff und damit eine originäre Formungsaufgabe, die beim verstehendem Interpretieren, also z. B. auch beim ästhetischen Urteil, fehlen. Gleichwohl schließt jede reproduktive Interpretation Verstehen ein, und das oft derart, daß sie durch sich selbst jede weitere Auslegungsdiskussion überflüssig macht. Umgekehrt ist aber auch alles Verstehen und Auslegen von Kunstwerken auf eine reproduktive Formung aufgebaut, die freilich >in mente< bleibt. Das, was man in neuerer Zeit »die zweite Kunstwissenschaft« genannt hat (Sedlmayr), hat darin seine Berechtigung. Die entscheidende Frage ist also für die reproduktive wie fur die verstehende Interpretation die gleiche: Worin besteht ihre Verbindlichkeit und worin ihre Freiheit? Ist ihre Verbindlichkeit die der Anerkennung einer ästhetischen Qualität, die objektiv vorfindlich ist, und dessen, worauf diese beruht, - und bleibt ihr Freiheit allem Okkasionellen von wechselnder Bedeutung gegenüber, das sich daran heftet? So daß dem eigentlich Künstlerischen ein beständiger Sinn für Qualität und Rang zugeordnet wäre, dem am Ende doch die Kunstwissenschaft sich approximativ entgegenarbeitete, das Wechselnde dem Wechsel überlassend? Oder liegt die eigentliche Verbindlichkeit der Erfahrung eines Kunstwerks nicht zuletzt in diesem Wechselnden der Bedeutung, die es uns zuspricht? In Wahrheit würde es sich dann gar nicht um einen Wechsel handeln, etwa so, daß das, was gestern an einem Kunstwerk als vorwaltend erfahren wurde, heute »nicht mehr< ebenso erfahren wird. Sondern dieses »Nicht mehr< enthält eine positive Bestimmung: Es wird gerade deshalb nicht mehr ebenso erfahren, weil es gestern so erfahren wurde und damit eine neue Erfahrungsmöglichkeit heraufrief. Ist unsere Erfahrung von Kunst in diesem Sinn verbindlich, daß sie die Geschichtlichkeit unserer Existenz engagiert? Dann wäre der Akt der Sinnfindung zwar gewiß gebunden durch die Verbindlichkeit des Werks - aber nicht nur durch sie. Er wäre ihr gegenüber zugleich >frei<, sofern er in die Begegnung mit dem Werk von sich aus ein Sinnmoment hinzubrächte, durch das sich die potentielle Unabgeschlossenheit seines Sinnes fortbestimmte.
Determination der Sinnfigur eines Werkes, würde dann mit dem hermeneutischen Geschehen in der Erfahrung des Kunstwerkes zu der Anonymität eines Sinngeschehens zusammengeschlossen, das von keinem genialen oder kongenialen Geiste umfaßt würde und das uns doch alle bestimmte. Damit würde freilich die eigentlich ästhetische Frage von Qualität und Rang eines Werkes zu einem bloßen Moment an dieser geschichtlichen Erfahrung herabgesetzt, einem Moment, dem das Kunstwerk seine Kraft der Aussage, die jeweilige Präsenz seiner Bedeutung, durchaus verdankt - und das doch nur, indem das Werk seine Sagkraft ausübt und es nicht für sich thematisch wird. Ja, im Gegenteil: Sofern es thematisch wird, wird der Seinsverlust sichtbar, den das Kunstwerk dadurch erlitten hat, daß es nur noch als ein Werk von ästhetischer Qualität gewürdigt wird. Wird es in seinem wahren Sinn und seiner Bedeutung erfahren, dann wird seine Qualität und sein Rang überhaupt nicht als solcher beurteilt, sondern vorgreifend in Anspruch genommen, das heißt, es wird vorausgesetzt, daß alles an ihm in vollkommener Weise diesen Sinn erscheinen läßt. Nur wenn dieser Vorgriff der Vollkommenheit3 uneinlösbar wird, das heißt aber, wenn die Sinnfindung scheitert, fallt das ästhetische Bewußtsein in der Ausübung seiner kritischen Souveränität gleichsam auf sich selbst zurück. In diesem genauen Sinne ist alle ästhetische Kritik sekundär, eine privative Erfahrung, die zu dem Reflexionsgenuß des ästhetischen Urteils führt. Den ersten Rang aber hat diejenige Erfahrung der Kunst inne, die sie am Ganzen unserer geistigen Überlieferung mitformen läßt und die geschichtliche Tiefe der eigenen Gegenwart aufschließt.
Wenn das so sein sollte - und damit würde nicht nur die Interpretationsleistung der Reproduktion, wie sofort einleuchtet, angemessen bestimmt, sondern es ließe sich an der ganzen Breite der Hermeneutik der Geisteswissenschaften zeigen, daß das so ist - , dann würde sich die hermeneutische Erfahrung, die mit dem Verstehen eines Kunstwerkes gegeben ist, mit der ästhetischen Einsicht in die Sinngenese, durch die es als Kunstwerk zustandekommt, auf neue Weise verknüpfen. Die künstlerische Gestaltung, als die
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3 Zu diesem Begriff siehe »Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 299f. sowie die Ausfuhrungen in Ges. Werke Bd. 2, S. 61ff.und in diesem Band »Philosophie und Literatur, S. 251 f.
Dichten und Deuten
3. Dichten und Deuten (1961)
Es gibt eine alte Spannung zwischen dem Tun des Künstlers und dem Tun des Deuters. In den Augen des Künstlers gewinnt das Deuten den Schein willkürlichen Beliebens, wenn nicht sogar den der Überflüssigkeit. Vollends wenn das Deuten im Namen und im Geiste der Wissenschaft versucht wird, verschärfen sich die Spannungen. Daß es möglich sein soll, durch die Methoden der Wissenschaft die Fragwürdigkeiten des Deutens zu überwinden, findet bei dem schaffenden Künstler noch weniger Glauben. Das Thema >Dichten und Deuten< stellt nun einen Sonderfall dieses allgemeinen Verhältnisses zwischen dem Schaffenden und dem Deutenden dar. Denn wenn es sich um Dichtung und Dichten handelt, vereinigt sich nicht selten in einer Person das Geschäft des Deutens und das eigene künstlerische Schaffen. Das weist daraufhin, daß das Dichten in einer engeren Beziehung zum Deuten steht als das Tun der übrigen Künste. Auch wo das Deuten unter dem Anspruch der Wissenschaft geschieht, hat es der Dichtung gegenüber vielleicht nicht ganz die Fragwürdigkeit, die man ihm im allgemeinen zuschreibt. Das Verfahren der Wissenschaft scheint dann kaum über das hinauszugelangen, was in jeder denkenden Erfahrung mit Dichtung am Werke ist. Diese Vermutung legt sich besonders nahe, wenn man daran denkt, wieviel philosophische Reflexion in die moderne Dichtung unseres Jahrhunderts eingegangen ist. Das Verhältnis von Dichten und Deuten stellt sich nicht nur von selten der Wissenschaft oder der Philosophie, es ist auch ein internes Problem des Dichtens selbst, für den Dichter wie für seinen Leser. Wenn ich das Thema in diesem Sinne zur Diskussion stelle, so will ich nicht zu dem Wettbewerb Stellung nehmen, der zwischen dem von der Wissenschaft her Sprechenden und dem Künstler des Wortes im Anspruch des Deutens bestehen mag1. Ich will auch nicht versuchen, in der Brillanz des Sagens mit denen zu rivalisieren, die das Handwerk des Wortes beherrschen. Ich möchte allein mein eigenes Handwerk tun, d.h. durch Denken 1 Zu den in der Diskussion erörterten Fragen ist zu verweisen auf die Neuauflagen von ROMAN INGARDENS grundlegendem Buch >Das literarische Kunstwerk< (Tübingen 41972).
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zeigen, was ist. Zeigen, was ist, heißt im Denken: etwas sehen lehren, was wir alle einsehen können. Die Frage ist also: Was begründet die Nachbarschaft von Dichten und Deuten? Es liegt auf der Hand, daß beidem etwas gemeinsam ist. Beides vollzieht sich im Medium der Sprache. Und doch ist da eine Differenz, und es fragt sich, wie tief dieselbe geht. Am eindrucksvollsten hat Paul Valéry auf den hier waltenden Unterschied hingewiesen: Das Wort der alltäglichen und ebenso das der wissenschaftlichen und philosophischen Rede zeigt auf etwas hin und verschwindet selbst als ein vorübergehendes hinter dem, was es zeigt. Das dichterische Wort dagegen kommt in seinem Zeigen selber zur Erscheinung und bleibt gleichsam stehen. Das eine ist wie eine Scheidemünze, die man nur statt etwas anderem hin und her reicht, das andere, das dichterische Wort, ist wie das Gold selbst. Nun muß unser Nachdenken damit beginnen, daß dem Einleuchtenden dieser Feststellung zum Trotz es dennoch Übergänge gibt, die zwischen dem dichterisch gestaltenden und dem bloß meinenden Wort in der Mitte stehen. Gerade unser Jahrhundert ist ja mit der inneren Durchdringung beider Weisen des Sprechens besonders vertraut geworden. Gehen wir von den Extremen aus. Da steht auf der einen Seite das lyrische Gedicht (an das auch Paul Valéry vor allem gedacht haben wird). Hier sehen wir in unserer Zeit ein erstaunliches Phänomen: Das Wort der Wissenschaft dringt als ein Element von >science< in die Poesie ein, ζ. Β. bei Rilke oder Gottfried Benn, in einer Weise, die noch vor wenigen Jahrzehnten in hoher Dichtung unmöglich gewesen wäre. Was geschieht da, wenn ein offenkundig meinendes Wort, eine Bestimmung oder gar ein Begriff der Wissenschaft, in das Melos des dichterischen Wortes eingeschmolzen erscheint? Und nun das andere Extrem, die scheinbar loseste aller Kunstformen, der Roman. Hier hat die Reflexion, das über die Dinge und Ereignisse reflektierende Wort, von jeher Heimatrecht, nicht nur im Munde gestalteter Figuren, sondern auch aus dem Munde des Erzählenden selbst, wer auch immer es sei. Aber hat sich nicht auch hier ein neues Moment gezeigt, selbst noch gegenüber den Kühnheiten der romantischen Romanform, eine Auflösung nicht nur der Form des Erzählens, sondern des Begriffes der Handlung selber, so daß der Unterschied zwischen dem Wort des Erzählers und dem reflektierenden Wort überhaupt hinfällig wird? So scheint es, daß auch der dem Deuten gegenüber widerwilligste Dichter sich die Gemeinsamkeit von Dichten und Deuten nicht ganz verbergen kann, mag er noch so sehr über die Fragwürdigkeit aller Deutung und insbesondere der Selbstdeutung seiner dichterischen Aussagen Bescheid wissen und Ernst Jünger recht geben, der sagt: »Wer sich selbst interpretiert, geht unter sein Niveau. « Fragen wir zunächst: Was ist Deuten? Sicher ist es nicht Erklären oder Begreifen, eher schon Verstehen und Auslegen. Und
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doch ist im Deuten noch etwas anderes. Deuten heißt ursprünglich: in eine Richtung zeigen. Das ist wichtig, daß alles Deuten nicht auf ein Ziel, sondern nur in eine Richtung zeigt, d.h. aber in ein Offenes, das sich verschieden ausfüllen kann. Nun unterscheiden wir Deuten in einem doppelten Sinne: auf etwas deuten und etwas deuten. Beides hängt offenkundig miteinander zusammen. Auf etwas deuten heißt zeigen und kommt dem Sinne des Zeichens zu. >Etwas deuten< ist immer schon zurückbezogen auf solches Zeichen, das von sich aus deutet. Etwas deuten heißt also immer: ein Deuten deuten. So werden wir zur Bestimmung der Aufgabe und der Grenze unseres deutenden Tuns auf die Frage zurückgewiesen, was alles seinem Sein nach Deuten ist. Was alles ist Zeichen? Ist vielleicht alles Zeichen? Ist es so, wie Goethe gemeint hat, durch den der Begriff des Symbolischen zu einem Grundbegriff unserer gesamten Ästhetik erhoben wurde: »Alles deutet auf alles.« »Alles ist Symbol.« Oder bedarf es hier einer Einschränkung? Gibt es im Seienden solches, das deutet, das also ein Zeichen ist, und das deshalb dazu herausfordert, als Zeichen genommen und gedeutet zu werden? Gewiß muß solche Zeichennahme dem Seienden oft gleichsam erst abgewonnen werden. So wollen wir etwa auch deuten, was sich verbirgt, ζ. Β. den Ausdruck von Gebärden2. Aber auch dann noch will es doch ein Heraussehen des Zeichens aus einer in sich gebundenen Ganzheit sein, also ein Deuten, das den Richtungssinn eines Zeichens gleichsam verdeutlicht, indem es aus dem Verworrenen, dem Undeutlichen, dem Richtungslosen das heraussieht, worauf es im Grunde deutet. Solches Deuten will also nicht hineindeuten, sondern klar herausheben, worauf das Seiende selber schon deutet.
ehe Erkenntnis adäquat übersetzbar. Das gilt auch für das dichterische Werk. Und doch ist die Frage, wie sich inmitten der Spannung von Bild und Begriff das besondere Verhältnis von Dichten und Deuten darstellt. - Die Vieldeutigkeit der Dichtung ist mit der Eindeutigkeit des meinenden Wortes unauflöslich verwoben. Was diese spannungsvolle Interferenz trägt, ist die besondere Stellung der Sprache gegenüber allen anderen Stoffen, aus denen der Künstler gestaltet, dem Stein, der Farbe, dem Ton, selbst der Körperbewegung im Tanz. Ihre Elemente, aus denen sie sich aufbaut und die in der Dichtung gestaltet werden, sind reine Zeichen, die nur von ihrer Bedeutung her Elemente der dichterischen Gestaltung zu werden vermögen. Das aber heißt, daß sie im Meinen ihre eigentliche Seinsweise besitzen. Daran ist im besonderen in einer Zeit zu erinnern, in der die Ablösung von der gegenständlich gedeuteten Welterfahrung wie ein Bildungsgesetz der zeitgenössischen Kunst erscheint. Der Dichter kann hier nicht mit. Das Wort, in dem er sich ausspricht und aus dem er gestaltet, will sich von seiner Bedeutung nie ganz ablösen lassen. Gegenstandslose Dichtung wäre ein Lallen. Natürlich heißt das nicht, daß das sprachliche Kunstwerk im bloßen Meinen verbliebe. Es schließt vielmehr immer eine Art Identität von Bedeutung und Sein ein, so wie das Sakrament Sein und Bedeutung in einem ist. »Gesang ist Dasein. « Was aber ist da eigentlich da? Alle meinende Rede weist doch von sich weg. Worte sind nicht Lautkomplexe, sondern Sinngebärden, von sich wegweisend wie Winke. Wir wissen alle, wie die Lautgestalt der Dichtung erst vom Verstandenwerden der Bedeutung her ihren Kontur gewinnt. Wir wissen es schmerzlich und mit der ganzen Spannung einer Aufgabe, daß Dichtung sprachgebunden ist und daß die Übersetzung von Poesie eine ebenso großartige wie qualvolle Unmöglichkeit darstellt. Das aber heißt, die Einheit von Lautgestalt und Bedeutung, die jedem Worte zukommt, findet in der dichterischen Rede ihre eigentliche Erfüllung. Das dichterische Kunstwerk hat als sprachliches allen anderen Kunstarten gegenüber eine spezifische, offene Unbestimmtheit an sich. Die Gestalteinheit, die das dichterische Kunstwerk so gut wie jedes andere Kunstwerk besitzt, ist zwar sinnenfällige Präsenz und insofern nicht etwa ein bloßes Meinen von Bedeutungshaftem. Aber diese Präsenz enthält dennoch ein Element des Meinens, des Weisens in eine unbestimmte Erfüllungsmöglichkeit. Gerade darin liegt der Vorrang der Dichtung vor den anderen Kunstarten, durch den sie es ist, die der bildenden Kunst von jeher ihre Aufgabe stellt. Denn was sie mit ihren sprachlichen Mitteln evoziert, ist zwar Anschauung, Präsenz, Dasein. Aber in jedem einzelnen, der das dichterische Wort aufnimmt, findet es eine eigene anschauliche und nicht mitteilungsfahige Erfüllung. So ruft sie den bildenden Künstler zu seiner Aufgabe. Stellvertretend für alle erfindet er das Bild, das feste Gültigkeit erlangt. Wir nennen das den Bildtypus, der herrschend wird, bis er etwa in einem neuen
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Wir sehen am Gegensatz, worauf es hier ankommt. Woran nichts zu deuten und woran nicht zu deuteln ist, ist etwa das Eindeutige des Befehls, der Gehorsam verlangt, oder einer Aussage, deren Sinn festliegt. Zu deuten ist lediglich das, dessen Sinn nicht festliegt, das also vieldeutig ist. Nehmen wir die klassischen Beispiele aller Deutung: den Vogelflug, das Orakel, den Traum, das im Bild Dargestellte, die rätselhafte Schrift. In all diesen Fällen haben wir ein Doppeltes - ein Deuten, das heißt in eine Richtung Weisen, das Deutung verlangt, und doch auch ein Sichverbergen des in dieser Richtung Gezeigten. Zu deuten ist also das Vieldeutige. Man wird sich nun fragen, ob man das Vieldeutige im Grunde überhaupt anders deuten kann, als indem man es in seiner Vieldeutigkeit offenbar macht. Damit kommen wir in die Nähe unseres Themas, das innerhalb des Verhältnisses von Deuten und Schaffen auf den besonderen Zusammenhang zwischen Deuten und Dichten gerichtet ist. Kunst fordert Deutung, weil sie von einer unausschöpfbaren Vieldeutigkeit ist. Sie ist nicht in eine begriffli2
Ober den Begriff der Gebärde vgl. unten S. 327 ff.
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Dichten und Deuten
schöpferischen Akt durch einen neuen Typus verdrängt wird. - Des Dichters eigene Aufgabe ist die gemeinsame Sage. Die Sage aber hat in ihrem Gesagtsein ihre absolute Realität. Der griechische Ausdruck dafür ist >Mythos<. Die Geschichte von Göttern und Menschen, um die es sich dabei handelt, ist dadurch charakterisiert, daß sie nur im Gesagtsein ihr Dasein hat, keine andere Beglaubigungsmöglichkeit besitzt und verträgt als nur die des Gesagtseins und des Weitergesagtwerdens3. In diesem sehr genauen Sinne ist nun aber im Grunde alle Dichtung mythisch, denn sie teilt es mit dem Mythos, ihre eigene Beglaubigung nur im Gesagtsein zu haben. Eben damit aber ist sie in einem Element, dem Dichten so gut wie Deuten angehören. Ja mehr noch, das in alles Dichten immer schon Deuten einschließt. Das läßt sich durch den Hinweis auf ein dichterisches Kunstmittel bestätigen, das in früheren Jahrhunderten seine unbestrittene Legitimation hatte und erst in der neueren Zeit der Erlebnispoesie seinen Kredit verloren hat. Ich meine die Allegorie4, die etwas durch etwas anderes sagt. Ein solches Kunstmittel ist nur dort möglich und nur dort dichterisch, wo die Gemeinsamkeit des Deutungshorizontes, in den die Allegorie gehört, gesichert ist. Wo diese Bedingung erfüllt ist, braucht die Allegorie gar nicht >frostig< zu sein. Auch wo eine strenge Zuordnung zwischen der Allegorie und ihrer Bedeutung besteht, kann dennoch das Ganze der dichterischen Rede, in der sie vorkommt, die offene Unbestimmtheit behalten, die sie dichterisch und das heißt: durch den Begriff unausschöpflich - sein läßt. Um es an einem Beispiel klar zu machen: Die Diskussion um die Romane von Kafka beruht zuletzt darauf, daß Kafka in seinen Dichtungen auf eine unbeschreiblich gelassene, kristallen klare und ruhige Art eine alltägliche Welt aufzubauen weiß, deren scheinbare Vertrautheit, mit einer rätselhaften Fremdheit gepaart, den Eindruck erweckt, als wäre da alles nicht es selbst, sondern meinte etwas anderes. Gleichwohl gibt es hier keine deutbaren Allegorien, weil sich der Zerfall des gemeinsamen Deutungshorizontes geradezu als das Geschehen dieser großen Erzählkunst vor uns abspielt. Der Anschein, als ziele hier alles auf Bedeutung und Begriff und auf eine Entschlüsselung, wird selbst nochmals gebrochen. Es wird der bloße Schein der Allegorie dichterisch evoziert, d. h. aber in eine offene Vieldeutigkeit gewendet.
ten scheint nicht ein Tun und nicht ein Meinen, sondern eine wirkliche Bestimmung im Sein selber. Es ist wie mit der Zweideutigkeit des Orakels. Auch sie gehört nicht in die Sphäre unseres Deutens, sondern in die Sphäre des uns Bedeuteten. Es ist nicht der durch eine infame oder verruchte Macht herbeigeführte Irrtum eines Tölpels, der den Ödipus in sein Verhängnis treibt. Es ist aber auch nichts Frevelhaftes an seinem Willen, einen göttlichen Spruch zu widerlegen, auch wenn ihn dieser Versuch schließlich ins Unheil stürzt. Vielmehr ist es der Sinn einer solchen Orakeltragödie, daß jene Gestalt ihres Helden die Zweideutigkeit exemplarisch darstellt, die das über den Menschen als solchen verhängte Verhängnis ist. Das ist menschliches Sein, sich so im Deuten des Vieldeutigen zu verstrikken. An solcher Vieldeutigkeit hat auch das Dichterwort teil. Auch für das Dichterwort gilt, daß es mythisch, d. h. keiner Beglaubigung durch irgend etwas außerhalb seiner Gelegenes fähig ist. Die Vieldeutigkeit des dichterischen Wortes hat ihre eigentliche Würde darin, daß sie der Vieldeutigkeit des menschlichen Seins im ganzen entspricht. Alles Deuten des dichterischen Wortes deutet nur, was die Dichtung selber schon deutet. Das, was die Dichtung und worauf die Dichtung deutet, ist natürlich nicht das, was der Dichter meint. Was Dichter meinen, ist um nichts dem überlegen, was andere Leute meinen. Dichtung besteht nicht im Meinen von etwas, sondern darin, daß das Gemeinte und Gesagte in ihr selber da ist. Das ihr folgende deutende Wort bleibt in dieses Dasein einbehalten wie die vieldeutigen Deute, die das Gedicht selber sind. Es hebt sich wie sie im Dasein der Dichtung auf. Wie das Gedicht deutet, d. h. in eine Richtung weist, so deutet auch der, der ein Gedicht deutet, in eine Richtung. Wer dem deutenden Wort folgt, sieht in solche Richtung, meint aber nicht die bestimmte Deutung als solche. Das deutende Wort darf sich offenbar nicht an die Stelle dessen schieben, auf das es hindeutet. Die Deutung, die das für sich beanspruchte, wäre wie der Hund, dem man etwas zu zeigen sucht und der unfehlbar nach der zeigenden Hand schnappt, statt in die Richtung zu sehen, in die ihm gedeutet wird.
Das ist ein Deuten, das im Dichten mit da ist und das seinerseits das Deuten selber fordert. So stellt sich als die eigentliche Frage: Wer deutet hier, der Dichter oder der Deuter? Oder ist es so, daß beide, indem sie das Ihre tun, deuten? Ist es so, daß in ihrem Meinen und in ihrem Sagen etwas geschieht, etwas gleichsam bedeutet wird, das sie gar nicht >meinen Deu-
Genauso scheint es mir aber auch mit dem Deuten zu stehen, das im Dichten selber geschieht. Es liegt im Wesen der dichterischen Aussage, daß auch an ihr etwas gleichsam von sich weg verweist. Die Kunst und Könnerschaft des Sagens, die einer Aussage ästhetisches Qualitätsniveau verleiht, mag in einer ästhetischen Reflexion beachtet werden, aber ihr wahres Dasein hat diese Kunst darin, daß sie von sich weg weist und das sehen läßt, wovon der Dichter redet. Nicht der Deutende und nicht der Dichtende besitzen eine eigene Legitimation - sie beide werden durch das, was eigentlich ist, wo ein Gedicht ist, immer schon übertroffen. Sie beide folgen einem Deut, der ins
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Zum Begriff des Mythos siehe im folgenden >Mythos und Vernunft< (Nr. 13) und die sich daran anschließenden Beiträge. 4 Vgl. dazu >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 76 ff.
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Offene deutet. Auch der Dichter muß daher wie der Deuter in dem Sinne an sich halten, daß er dem, was er bloß meint, überhaupt keine Legitimation zubilligt. Was seine eigene Selbstauffassung oder seine bewußte Intention lenkt, ist vielmehr nur eine der vielen Möglichkeiten, sich zu sich selber reflektierend zu verhalten, und ist ganz unterschieden von dem, was er ^""eigentlich tut, indem sein Gedicht gelingt. Ein Wort des Hesiod, des Dichters, der als erster in seiner berühmten Musenweihe ein Bewußtsein von der Mission des Dichters formuliert hat, kann das Gesagte illustrieren. Dort, in der Einleitung der >Theogonie<, erscheinen die Musen dem Dichter und sagen ihm: »Wir wissen viel Falsches zu sagen, das dem Echten gleicht, wir wissen aber auch, wenn wir wollen, Wahres erklingen zu lassen. « Man versteht dies Wort meist als eine kritische Wendung des Dichters gegen die Homerische Gestaltung der Götterwelt, als ob der Dichter sich auf eine neue Legitimation berufe, indem die Musen ihm gesagt hätten: »Wir meinen es mit dir gut. Wir werden dir nicht, wenn wir es auch wohl könnten, Falsches zu sagen geben - wie dem Homer - , sondern nur Wahres. « Ich glaube aus mehreren Gründen, vor allem auch wegen der außerordentlichen Symmetrie der beiden Verse, daß der Dichter sagen will: die Musen haben immer, wo sie etwas geben, Wahres und Falsches zugleich zu geben. Wahres und Falsches zugleich sagen und insoweit ins Offene deuten, macht das dichterische Wort aus. Seine Wahrheit ist nicht von der Unterscheidung von wahr und falsch auf solche Weise beherrscht, wie es die bösen Philosophen meinen, wenn sie von den Dichtern sagen: »Die Dichter aber lügen viel. « Damit scheint sich eine Antwort auf die von mir gestellte Frage zu ergeben. Ein Element des Meinens und des Deutens ist von jeher in der Vieldeutigkeit der Dichtung. Wo aber der gemeinsame Deutungshorizont in sich zerfallen ist, wo keine gemeinsame Sage mehr ist, wo auch die seltsame Einheit, die die mythologische Tradition der Griechen und Römer mit der christlichen Religion eingegangen war und die noch vor zwei Jahrhunderten bestand, ihre Selbstverständlichkeit verloren hat, muß sich in der Dichtung die Gebrochenheit der mythischen Gemeinsamkeit reflektieren. Und so sehen wir gerade in den modernen Romanen - um nur Verstorbene zu nennen: bei Kafka, bei Thomas Mann, bei Musil und bei Broch - das Element der deutenden Reflexion immer größeren Platz einnehmen. Die Gemeinsamkeit zwischen dem Dichter und dem Deuter ist so in unseren Tagen im Wachsen. Am Ende ist sie durch die Gemeinsamkeit unseres Menschseins in einer Zeit gegeben, die angesichts aller unermüdlichen Versuche, das deutende Wort zu finden, von der abweisenden Gewißheit geprägt ist, die Hölderlins >Mnemosyne< ausspricht: »Ein Zeichen sind wir, deutungslos.«
4. Kunst und Nachahmung (1967)
Was bedeutet die moderne gegenstandslose Kunst? Haben die alten ästhetischen Begriffe, unter denen wir das Wesen der Kunst zu begreifen gewohnt waren, überhaupt noch Gültigkeit? Die moderne Kunst weist in vielen ihrer ausgezeichneten Vertreter mit besonderer Ausdrücklichkeit die Bilderwartung zurück, mit der wir zu ihr herantreten. Es ist eine ausgesprochene Schockwirkung, die von solcher Kunst auszugehen pflegt. Was ist geschehen? Welche neue, welche alle bisherigen Erwartungen und Traditionen brechende Haltung des Malers, welche Zumutung an uns alle wird da gestellt? Es gibt viele Skeptiker, die die >abstrakte< Malerei für eine Mode halten, und die am Ende gar den Kunsthandel fur den Erfolg dieser Malerei verantwortlich machen wollen. Aber schon ein Blick auf die Nachbarkünste zeigt, daß die Sache tiefer liegen muß. Es handelt sich um eine wahrhafte Revolution der modernen Kunst, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg einsetzte. In derselben Zeit entsteht die sogenannte atonale Musik, die schon in ihrem Worte etwas von derselben Paradoxie enthält wie der Begriff der gegenstandslosen Malerei. Ebenso beginnt damals - denken wir an Proust, denken wir an Joyce - die Auflösung der naiven Erzähler-Ichs, welches wie ein Auge Gottes den im Verborgenen sich abspielenden Vorgängen zusieht und ihnen epischen Ausdruck gibt. Ein neuer Ton kommt in das lyrische Gedicht, das den selbstverständlichen Fluß der Melodie staut und bricht und schließlich ganz neue Formprinzipien erprobt. Am Ende wird ähnliches im Theater vielleicht dort noch am wenigsten, aber unzweifelhaft auch dort - fühlbar, erst nur in der Abkehr von der illusionistischen Bühne des Naturalismus und der Psychologie, schließlich in der bewußten Brechung des Bühnenzaubers schlechthin durch das sogenannte epische Theater. Wir werden freilich nicht meinen, daß dieser Blick auf die Nachbarkünste genüge, den revolutionären Vorgang in der modernen Malerei verständlich zu machen. Er behält einen Anschein von Willkür und Experimentiersucht. Aber nein, die Übung des Experimentes, wie wir sie aus der Naturwissenschaft kennen, in der es seinen eigentlichen methodischen Ursprung hat, ist etwas ganz anderes. Da ist ein Experiment eine Frage, die auf kunstvolle
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Kunst und Nachahmung
Weise an die Natur gestellt wird, damit sie ihr Geheimnis ausspricht. In der Malerei handelt es sich nicht um Experimente, bei denen etwas herauskommen soll, das man wissen will, sondern hier ist das Experiment mit seinem Gelingen sozusagen sich selbst genug. Es ist selbst das, was herauskommt. Wie sollen wir uns vor dieser Kunst, die alle Verständnismöglichkeiten hergebrachter Art abweist, denkend zurechtfinden? Als erstes gilt es, die Selbstinterpretation des Künstlers nicht zu ernst zu nehmen. Das ist eine Forderung, die nicht gegen die Künstler spricht, sondern für sie. Denn sie schließt ein, daß die Künstler künstlerisch bilden müssen. Wenn sie in Worten sagen könnten, was sie sagen wollen, dann würden sie nicht bilden wollen und gestalten müssen. Gleichwohl ist es unvermeidlich, daß das allgemeine Element der Kommunikation, das uns trägt und als menschliche Gesellschaft zusammenschließt, die Sprache, immer wieder auch das kommunikative Bedürfnis der Künstler motiviert, sich in Worten auszusagen, sich selbst zu deuten und im deutenden Wort verständlich zu machen. In Wahrheit begeben sich die Künstler dabei - und das ist kein Wunder - in die Abhängigkeit von solchen, deren Handwerk das Deuten ist, von Ästhetikern, Kunstschriftstellern aller Art und von der Philosophie. Wenn man etwa das bedeutende und überlegene Buch von Kahnweiler1 über Juan Gris als Zeugen für den Zusammenhang von Philosophie und neuer Kunst anfuhrt2 - und Kahnweiler ist ein echter zeitgenössischer Zeuge -, so verkennt man, daß auch in diesem Falle die Eule der Minerva ihren Flug erst am Abend beginnt: Es ist die Inspiration der Deutung, nicht die des Schaffens, die von Kahnweilers feinsinnigen Darlegungen bezeugt wird. Ähnlich scheint es mir mit der Kunstliteratur im allgemeinen und insbesondere mit den ständigen Selbstinterpretationen der großen Maler unserer Epoche zu stehen. Statt von den Versuchen der Selbstinterpretation und den zeitgenössischen Deutungen auszugehen, die sich ihrer Voreingenommenheit durch herrschende Doktrinen nicht bewußt sind, möchte ich mich mit methodischer Bewußtheit an die große Tradition der ästhetischen Begriffsbildung wenden, die in den Denkleistungen der Philosophie auf uns gekommen ist, und sie daraufhin abhören, wie sie gegenüber der neuen Form des Bildes besteht und was sie darüber zu sagen hat.
sehe Theorien der Aufgabe am ehesten gewachsen scheinen, das Geheimnis der modernen Malerei auszusprechen. Der erste der drei Begriffe, von denen aus ich diesem Problem der modernen Malerei näher zu kommen suche, ist der Begriff der Nachahmung, ein Begriff, der so weit gefaßt werden kann, daß er, wie wir sehen werden, am Ende immer noch seine Wahrheit behält. Dieser Begriff antiken Ursprungs hatte seine eigentliche ästhetische und kunstpolitische Blüte im französischen Klassizismus des 17. und frühen 18. Jahrhunderts und wirkte von da aus in den deutschen Klassizismus hinein. Er knüpfte an die Lehre von der Kunst als der Nachahmung der Natur an. Dieser Lehrsatz der antiken Tradition ist nun offenbar mit normativen Vorstellungen verknüpft wie beispielsweise der, daß zu aller Kunstübung eine legitime Erwartung des Wahrscheinlichen gehört. Die Forderung, daß die Kunst nicht gegen die Gesetze des Wahrscheinlichen verstößt, die Überzeugung, daß in dem vollendeten Kunstwerk die Naturgestalten selber in ihrer reinsten Erscheinung vor unser geistiges Auge treten, der Glaube an die idealisierende Kraft der Kunst, die der Natur ihre wahre Vollendung darreicht - das sind die bekannten Vorstellungen, mit denen der Terminus >Nachahmung der Natun besetzt ist. Wir schließen dabei die triviale Theorie eines extremen Naturalismus aus, der da meint, daß die bloße Naturähnlichkeit den Sinn der Kunst ausmache. Das liegt keineswegs in der großen Tradition des Nachahmungsbegriffes. Dennoch scheint der Begriff der Mimesis für die Moderne nicht auszureichen. Ein Blick in die Geschichte der ästhetischen Theorienbildung lehrt, daß sich gegen den Begriff der Nachahmung im 18. Jahrhundert ein anderer Begriff siegreich und neu durchgesetzt hat: der Begriff des Ausdrucks. Man kann es vor allem an der Musikästhetik ablesen - und das ist kein Zufall. Denn die Musik ist die Kunstgattung, in der ein solcher Begriff der Nachahmung offenkundig am wenigsten einleuchtet und in seiner Reichweite am meisten begrenzt ist. In der Musikästhetik des 18. Jahrhunderts wächst so der Begriff des Ausdrucks heran, der dann im 19. und 20. Jahrhundert unbestritten die ästhetische Wertung beherrscht3. Ausdruckskraft und Ausdrucksechtheit eines Bildes sind die Legitimation seiner künstlerischen Aussage. So meint das allgemeine Bewußtsein, auch wenn es der bangen Frage nicht standhalten kann, was Kitsch ist - der ja eine penetrante Art von Ausdruckskraft besitzt und dessen künstlerische Unechtheit sicherlich nichts gegen die subjektive Empfindungsechtheit des Kitsch-Produzenten oder -Konsumenten sagt. Angesichts der Formzertrümmerung,, die uns die Moderne beschert hat und der zufolge keine idealisierte Naturgestalt und
Ich möchte diese Besinnung in einem doppelten Dreischritt vollziehen, indem ich einmal die ästhetischen Begriffe erörtere, die das allgemeine Bewußtsein als etwas Selbstverständliches und allen Gemeinsames beherrschen, ohne daß man sich von ihrer Herkunft und über ihre Legitimation Rechenschaft gibt, und sodann einige Philosophen befrage, deren ästheti1
D.-H. KAHNWEILEH, Juan Gris. Sa vie, son œuvre, ses écrits. Paris 1946, dt. Stuttgart
1968. 2
Wie das A. GEHLEN tut, vgl. Gegriffene Malerei?<, in diesem Band (Nr. 27).
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3 Vgl. das lehrreiche Büchlein von E. FUBINI, L'estetica musicale dal Settecento a oggi. Torino 1968.
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keine expressiv sich entladende Innerlichkeit mehr den Bildinhalt darstellen, scheinen jedoch Nachahmung und Ausdruck zu versagen. Ein dritter Begriff bietet sich an: der Begriff des Zeichens und der Zeichensprache. Auch dieser Begriff hat eine denkwürdige Geschichte. Man denke nur daran, daß die Kunst in den frühen Anfangen des christlichen Weltalters sich für die Schrift- und Leseunkundigen als die Biblia pauperum, Darstellung und Feier der heiligen Geschichte und der Heilsverkündigung, legitimierte. Dort war es die Ablesung einer Folge von bekannten Geschichten. Ein ähnliches Ablesen scheinen die modernen Bilder zu verlangen, freilich nicht von Bildern, sondern von Zeichen, wie beim Lesen einer Schrift. Die Zeichen dieser Schrift sind jedoch bei aller Abstraktion, die in ihnen liegt, nicht von der Art der Buchstaben. Dennoch besteht eine Entsprechung. Die Erfindung der Buchstabenschrift machte das Ungeheure möglich, in abstrakten Einzelzeichen, die sich einer rationalisierbaren Kombinatorik anbieten, die wir Orthographie nennen, alles zu fixieren, was durch den Geist des Menschen zieht - sicher eines der größten revolutionären Ereignisse in der menschlichen Kultur. Etwas davon ist auf unsere Art, Bilder zu sehen, schon von jeher übergegangen. So >lesen< wir jedes Gemälde von links oben nach rechts unten, und bekanntlich führt die spiegelbildliche Umkehrung von rechts und links, die mit modernen technischen Reproduktionsmitteln leicht möglich ist, wie Heinrich Wölfflin gezeigt hat, zu den sonderbarsten kompositorischen Ungereimtheiten und Zerstörungen. Noch viel mehr von diesen unseren Schreib- und Lesegewohnheiten scheint auf die Art Bilderschrift übergegangen, als die wir moderne Bilder zu lesen suchen. Wir sehen sie nicht mehr als Abbilder, die einen einheitlichen Anblick gewähren, den man in seinem Sinne zu erkennen vermag. Vielmehr wird in diesen Bildern durch bildhafte Zeichen und Schriftzüge bloß verzeichnet, das heißt nebeneinandergesetzt, was nacheinander aufgenommen und schließlich ineinander verschmolzen werden soll. Ich erinnere mich etwa des Bildes von Malewitsch >Dame in der Großstadt London«, in dem man noch ganz deutlich das Prinzip der Formzertrümmerung in einer psychologistischen Variante erkennen kann. Die einzelnen Inhalte, die die dargestellte Dame - von dem bescheidenen Verkehrssturm des Jahres 1907 offenbar ganz bestürzt - aufnimmt, eine ganze Flut für sich stehender Eindrücke, werden dort gleichsam aufgezählt und zu einem Bildganzen komponiert. Dem Sehenden, dem Zuschauenden, dem Betrachter wird zugemutet, die Synthesis all dieser Aspekte und Facetten zu leisten, wie wir das als allgemeines Formprinzip aus dem facettierenden Stile etwa Picassos und Juan Gris' kennen. Darin ist zwar noch Erkennen, aber alles Erkennen wird zugleich immer wieder zurückgenommen in eine Einheit des Bildes, die sich nicht mehr zu einem anschaulichen und in seinem Bildsinn aussagbaren Ganzen verschmilzt. Diese Bilderschrift, die wie eine Kurzschrift das
Kompositionselement der Bildkomposition bildet, ist mit einer Abweisung des Sinnes verknüpft. Der Begriff des Zeichens verliert seine eigentliche Bestimmung; und in der Tat kommt seither die Forderung der Lesbarkeit solcher modernen Bilderschrift mehr und mehr zum Verstummen4. Es mag sich in den drei ästhetischen Kategorien, die ich charakterisierte, ein Element des Wahren und Gültigen finden lassen - sie reichen jedenfalls nicht aus, spezifisch auf das Neue zu antworten, das wir an der Kunst unseres Jahrhunderts erfahren. So heißt es, den Blick zurückzuwenden. Denn jeder Blick zurück in die Geschichtstiefe unserer Gegenwart vertieft das Bewußtsein unserer in uns heute bereitliegenden begrifflichen Horizonte. Es sind wiederum drei Zeugen des philosophischen Gedankens, die ich zur Deutung der modernen Kunst aufrufen möchte: Kant, Aristoteles und schließlich Pythagoras. Wenn ich mich zunächst Kant zuwende, so ist der Hauptgrund der, daß nicht nur Kahnweiler und all jene Ästhetiker und Kunstschriftsteller, die die neue Revolution der Malerei begleitet haben, auf dem Wege über die neukantianische Zeitphilosophie irgendwie auf Kant zurückweisen, sondern daß auch seitens der Philosophie bis zum heutigen Tage die Versuche fortgehen, die Kantische Ästhetik für die Theorie der gegenstandslosen Malerei nutzbar zu machen5. Der Ausgangspunkt, den Kants Ästhetik bietet, ist, daß der Geschmack, der etwas als schön beurteilt, nicht nur ein Wohlgefallen ohne Interesse ist, sondern auch ein Wohlgefallen ohne Begriff. Das heißt, daß nicht ein Ideal des Gegenstandes beurteilt wird, wenn man eine bestimmte Vorstellung des Gegenstandes schön findet. Kant fragt daher, was es eigentlich ist, das uns die Vorstellung eines Gegenstandes schön nennen läßt. Seine Antwort ist: Wenn die Vorstellung eine Belebung unserer Gemütskräfte in einem freien Spiele zwischen Einbildungskraft und Verstand hervorruft. Dies freie Spiel unserer Erkenntnisvermögen, diese Belebung des Lebensgefuhls durch den Anblick des Schönen, ist, so lehrt Kant, kein Begreifen seines gegenständlichen Inhalts und meint keinerlei Ideal eines Gegenstandes. Kant hat folgerichtig diesen Gedanken zunächst am Ornament exemplifiziert. Denn wo ist es klarer als beim Ornament, daß man nicht den begrifflichen Inhalt des Dargestellten meint (auch wenn man ihn erkennen kann)? Man denke nur an die unglücklichen Kinder, in deren Schlafzimmer Tapeten bestimmte Gegenstände in endloser Wiederholung (zur Begleitung ihrer Fieberträume) erkennen lassen. Kein Zweifel, daß ein gutes Ornament derartiges eigent-
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4 Vgl. schon Picassos kritische Bemerkung zum späten Juan Gris bei KAHNWEILER (a.a.O.). 5 Vgl. etwa W. BRÖCKER in Kant-Studien 48 (1956), S. 485-501.
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Kunst und Nachahmung
lieh verbietet. Was in der Weise einer dekorativen Stimmungsbegleitung den Lebensraum schmücken soll, darf nicht selber auf sich ziehen. Nun ist es aber falsch, aus Kants >Kritik der Urteilskraft< eine OrnamentÄsthetik herauszulesen. Das ist nicht der eigentliche Sinn der Kantischen Kunsttheorie. Zunächst einmal hat Kant immer in erster Linie das Naturschöne im Auge, wenn er fragt, was es eigentlich ist, wenn wir etwas schön finden. Der Fall des Kunstschönen ist fur ihn kein reiner Fall des ästhetischen Problems. Denn Kunst ist ja gemacht, um zu gefallen. Auch ist ein Kunstwerk immer in einer intellektuierten Weise da, das heißt: es ist stets potentialiter ein begreifendes Moment mit darin. Freilich soll schöne Kunst nicht die regelrechte Darstellung von Begriffen oder von Idealen sein, die wir mit unserem sittlichen Verstande als solche hochhalten. Es ist vielmehr so, daß sich die Kunst für Kant dadurch legitimiert, daß sie Kunst des Genies ist, das heißt einer unbewußten, wie von der Natur inspirierten Fähigkeit entspringt, mustergültig Schönes zu schaffen, ohne daß bewußte Regeln angewendet würden und ohne daß der Künstler dabei auch nur sagen könnte, wie er es macht. So bildet der Geniebegriff- und nicht die >freie Schönheit des Ornaments - die eigentliche Grundlage der Kantischen Kunsttheorie6. Aber gerade der Geniebegriff ist heute suspekt geworden. Niemand - und am allerwenigsten diejenigen, die die neue Kunst mit innerer Anteilnahme begleiten - ist mehr bereit, die Rede von der traumgleichen, nachtwandlerischen Sicherheit des genialen Produzierens für bare Münze zu nehmen. Wir wissen heute - und ich meine, daß es wohl immer wahr gewesen ist -, mit welcher Nüchternheit und inneren Helligkeit der Maler seine Versuche und seine Erfahrungen an der Leinwand mit Farbe und Pinsel, aber doch letzten Endes durch die Anstrengung seines Geistes macht. Wir werden also vorsichtig sein müssen, wenn wir die Kantische Philosophie auf die moderne Malerei unmittelbar anwenden wollen. Nun möchte ich, allen klassizistischen und anti-klassizistischen Vorurteilen zum Trotz, den Kronzeugen der klassizistischen Theorie der Nachahmung, Aristoteles, neu zum Sprechen bringen, damit er uns denken helfe, was in der neuen Kunst geschieht. Denn sein Grundbegriff der Mimesis ist, richtig verstanden, von einer elementaren Evidenz. Um das zu sehen, müssen wir zunächst festhalten, daß Aristoteles keine wirkliche Kunsttheorie im weiteren Sinne des Wortes und am allerwenigsten eine Theorie der bildenden Künste entwickelt hat, obwohl es das vierte Jahrhundert, das Jahrhundert der griechischen Malerei war, in dem Aristoteles seine Gedanken gebildet hat. Seine Kunsttheorie kennen wir in Wahrheit nur aus seiner Theorie der Tragödie, der bekannten Lehre von der Katharsis, wonach durch Mitleid
und Furcht die Reinigung von diesen Affekten erfolge. Das sei das Geheimnis der tragischen Mimesis. Es geschieht also im Hinblick auf die Tragödie, daß Aristoteles den Begriff der Nachahmung, der Mimesis, gebraucht, den wir als das Stichwort von Piatos Dichterkritik kennen. Er gewinnt bei Aristoteles eine positive, grundlegende Bedeutung. Offenbar soll er fur das Wesen der Dichtkunst überhaupt gelten, und Aristoteles wirft dabei auch auf die bildende Kunst, insbesondere die Malerei, analogisierend einen Seitenblick. Was meint er, wenn er sagt, die Kunst ist Mimesis, ist Nachahmung? Er beruft sich für diese These zunächst darauf, daß es ein natürlicher Drang des Menschen ist, nachzuahmen, und daß es eine natürliche Freude des Menschen an der Nachahmung gibt. In diesem Zusammenhang begegnet nun die Aussage, die in der Moderne Kritik und Widerstand erweckt hat, die aber bei Aristoteles rein deskriptiv gemeint ist, daß die Freude an der Nachahmung die Freude am Wiedererkennen ist. Der Zusammenhang, in dem das gesagt wird, ist offenkundig ein ganz volkstümlicher. Aristoteles beruft sich auch darauf, daß die Kinder so etwas gerne tun. Was Freude am Wiedererkennen ist, läßt sich an der Verkleidungsfreude - und insbesondere bei Kindern - beobachten. Es gibt ja für Kinder nichts so Kränkendes, als daß sie nicht für die gehalten werden, in die sie sich verkleidet haben. Was an der Nachahmung wiedererkannt werden soll, ist also ganz und gar nicht das Kind, das sich verkleidet hat, als vielmehr der, der dargestellt ist. Das ist der große Antrieb in allem mimischen Verhalten und Darstellen. Wiedererkennung bezeugt und bestätigt, daß etwas durch das mimische Verhalten präsent gemacht wird, da ist. Keineswegs ist es der Sinn der mimischen Darstellung, daß wir im Wiedererkennen des Dargestellten auf den Grad der Angleichung und Ähnlichkeit mit dem Original sehen sollen.
6 Siehe dazu >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 48ff.und in diesem Band den Beitrag >Anschauung und Anschaulichkeit (Nr. 17).
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So steht es freilich in der Platonischen Kritik an den Künsten zu lesen. Die Kunst sei deswegen so verwerflich, weil sie von der Wahrheit um mehr als eine Dimension abstehe. Die Kunst ahme ja nur nach, was die Dinge sind. Die Dinge selber seien aber auch nur zufällige, kontingente Nachahmungen ihrer ewigen Gestalten, ihres Wesens, ihrer Idee. Die Kunst also, dreifach abstehend von der Wahrheit, sei eine Nachahmung der Nachahmung, immer durch einen riesigen Abstand von dem geschieden, was wahrhaft ist. Ich glaube, daß das eine sehr ironische, dialektisch gemeinte Lehre Piatos ist, auf die sich Aristoteles mit bewußter Zurechtrückung bezieht. Er will diesen dialektischen Gedanken Piatos auf seine Füße stellen. Denn es ist gar kein Zweifel: Das Wesen der Nachahmung besteht gerade darin, daß man in dem Darstellenden das Dargestellte selbst sieht. Darstellung will so wahr, so überzeugend sein, daß man überhaupt nicht darauf reflektiert, daß das Dargestellte nicht >wirklich< ist. Nicht Unterscheidung der Darstellung von dem Dargestellten, sondern Nichtunterscheidung, Identifikation ist die
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Kunst und Nachahmung
Weise, in der sich das Wiedererkennen als das Erkennen des Wahren vollzieht. Denn was ist eigentlich Wiedererkennen? Wiedererkennen heißt nicht, eine Sache, die man schon einmal gesehen hat, noch einmal sehen. Es ist sicher nicht Wiedererkennen, wenn ich etwas, was ich schon gesehen habe, noch einmal sehe, ohne zu merken, daß ich es schon einmal gesehen habe. Wiedererkennen heißt vielmehr, etwas als das schon einmal Gesehene erkennen. In diesem >als< aber liegt das ganze Rätsel. Ich meine nicht das Wunder des Gedächtnisses, sondern das Wunder der Erkenntnis, das sich darin verbirgt. Denn wenn ich jemanden wiedererkenne oder etwas wiedererkenne, dann sehe ich das Wiedererkannte von der jetzigen wie von der damaligen Zufälligkeit befreit. Es liegt im Wiedererkennen, daß man das Gesehene auf das Bleibende, Wesentliche hin sieht, das von den kontingenten Umständen des Einmal-gesehen-Habens und des Wieder-gesehen-Habens nicht mehr getrübt ist. Das macht Wiedererkennung aus, und so ist sie in der Freude an der Nachahmung wirksam. Was in der Nachahmung sichtbar wird, ist also gerade das eigentliche Wesen der Sache. Das ist sehr fern von jeder naturalistischen Theorie, aber auch von jedem Klassizismus. Nachahmung der Natur schließt also nicht ein, daß Nachahmung hinter der Natur zurückbleiben müßte, weil sie nur Nachahmung sei. Zweifellos verstehen wir am besten, was Aristoteles meint, wenn wir an das denken, was auch wir das Mimische nennen. Wo begegnet das Mimische in der Kunst, wo ist das Mimische Kunst? Nun, vor allem im Theater. Aber nicht nur dort. Solche Dinge wie das Wiedererkennen von Puppen erleben wir in jedem volkstümlichen Feste, etwa im Karneval. Da jubelt jeder im Erkennen dessen, der dargestellt wird, und selbstverständlich hat der religiöse Umzug, das Umhertragen der Götterbilder oder Symbole, die gleiche mimische Komponente. Das Mimische ist also, sei es im feierlichen, sei es im profanen Zusammenhang, im unmittelbaren Darstellungsvollzug eigentlich da.
verstehen und in der sie sich selbst begegnen. Das ist für das griechische Denken der Mythos. Er ist der gemeinsame Inhalt der künstlerischen Darstellung, dessen Wiedererkennung unsere Vertrautheit mit der Welt und mit dem eigenen Dasein vertieft, sei es auch in Mitleid und Furcht. Dieses Erkennen »Das bist du!«, das in den schauerlichen Vorgängen auf dem griechischen Theater sich vor unseren Augen abspielt, dies Sich-Erkennen im Wiedererkennen, war getragen durch die ganze Welt der religiösen Überlieferung der Griechen, durch ihren Götterhimmel und durch die Heldensage und durch die Herleitung ihres gegenwärtigen Tages aus ihrer mythisch-heroischen Vergangenheit. Was soll das uns? Auch die christliche Kunst hat, wie wir uns nicht verbergen können, ihre mythische Sagkraft seit 150 Jahren verloren. Nicht erst die Revolution der modernen Malerei, sondern bereits das Ende des letzten großen europäischen Stiles, des Barock, hat ein wirkliches Ende gebracht - das Ende der natürlichen Bildhaftigkeit der abendländischen Überlieferung, ihres humanistischen Erbes wie der christlichen Verkündigung. Gewiß, auch der moderne Beschauer erkennt noch den Gegenstand solcher Bilder - solange er von diesem Erbe noch weiß. Selbst in den meisten modernen Bildern bleibt etwas zu erkennen wenn auch das, was da wiedererkannt wird und verstanden wird, nur fragmentarische Gebärden, keine vieles bedeutende Geschichten mehr sind. Insofern scheint an dem alten Begriff der Mimesis etwas Wahres zu bleiben. Sogar in dem Aufbau des modernen Bildes aus ins Unkenntliche verschwebenden bedeutungshaften Elementen ahnen wir immer noch etwas, einen letzten Rest von Vertrautheit, und vollziehen ein Stück Wiedererkenntnis.
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Im Wiedererkennen liegt aber noch etwas mehr. Nicht nur wird das Allgemeine sichtbar, sozusagen die bleibende Gestalt, gereinigt von den Zufälligkeiten ihrer Begegnung. Es liegt darin auch, daß man sich in gewissem Sinne selber miterkennt. Alle Wiedererkennung ist Erfahrung steigender Vertrautheit, und alle unsere Welterfahrungen sind letzten Endes Formen, in denen wir die Vertrautheit mit dieser Welt aufbauen. Kunst, wie auch immer sie sei, das scheint die Aristotelische Lehre durchaus zutreffend zu sagen, ist eine Weise der Wiedererkennung, in der mit der Wiedererkennung die Selbsterkenntnis und damit die Vertrautheit mit der Welt tiefer wird. Aber wieder fragt man sich mit Bestürzung, was die moderne Malerei zu dieser Aufgabe des Sich-Wiedererkennens in der vertrauten Welt beizutragen vermag. Die Wiedererkennung, wie sie Aristoteles meint, hat zur Voraussetzung, daß eine verbindende Tradition besteht, in der sich alle
Aber trägt das noch? Nehmen wir uns nicht sofort zurück und sehen ein, daß das eigentliche Gebilde, das hier vor uns steht, nicht verstanden wird, wenn man es auf seine rein gegenständliche Abbildhaftigkeit hin abliest? Was ist das für eine Sprache, die moderne Bilder sprechen? Nun, eine Sprache, in der Gebärden auf Augenblicke in ihrer Sinntransparenz aufleuchten, um sich sofort wieder zu verdunkeln, ist eine unverständliche Sprache. In der Sprache solcher Bilder scheint weniger Aussage als Abweisung von Sinn zu liegen7. Nachahmung und Wiedererkenntnis kommen zum Scheitern, und wir bleiben ratlos. Aber vielleicht läßt sich Mimesis und die mit ihr gegebene Erkenntnis in einem noch allgemeineren Sinn fassen. Und so wende ich mich bei dem Versuch, in einem tiefer gefaßten Begriff der Mimesis auch für die moderne Kunst den Schlüssel zu finden, von Aristoteles noch einen Schritt weiter zurück, zu Pythagoras - natürlich nicht zu Pythagoras als einer historischen Gestalt, deren Lehren wir etwa besäßen oder rekonstruieren könnten. Die Pythagoras-Forschung gehört zu dem Umstrittensten, was es gibt. Aber um 7
Vgl. dazu in diesem Band >Vom Verstummen des Bildes< (Nr. 28).
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Ästhetik und Wahrheit
Kunst und Nachahmung
uns auf den rechten Weg zu bringen, genügen ein paar Tatsachen, an denen niemand zweifelt. Dazu gehört, daß Aristoteles einmal sagt8, Plato habe mit seiner Lehre, daß die Dinge an den Ideen teilhätten, nur das Wort verändert fur etwas, was schon die Pythagoreer gelehrt hätten, nämlich daß die Dinge Nachahniungen, >Mimeseis<, seien. Was da mit Nachahmung gemeint ist, lehrt der Zusammenhang. Denn offenbar ist von der Nachahmung die Rede, die darin liegt, daß das Universum, unser Himmelsgewölbe, und ebenso die Tonharmonien, die wir hören, sich auf die wunderbarste Weise in Zahlenverhältnissen, das heißt in Verhältnissen ganzer Zahlen, darstellen. Die Saitenlängen stehen in bestimmten Verhältnissen, und sogar der Unmusikalische weiß, daß darin eine Genauigkeit ist, die etwas von einer magischen Kraft zu haben scheint. Es ist wirklich so, als ob sich diese reinen Intervallverhältnisse von sich aus ordneten, als ob die Töne beim Stimmen des Instrumentes sich geradezu danach sehnten, in ihre eigentliche Wirklichkeit zu gelangen, und erst ganz da sind, wenn das reine Intervall ertönt. Nun haben wir mit Aristoteles - gegen Plato — gelernt: Nicht dies Sehnen, sondern seine Erfüllung heißt Mimesis. In ihr ist das Wunder der Ordnung da, das wir >Kosmos< nennen. Ein solcher Sinn von Mimesis, von Nachahmung und von Wiedererkenntnis in der Nachahmung, scheint mir nun weit genug, um auch das Phänomen der modernen Kunst einen Schritt weit denkend zu verstehen. Was ist es, was nach pythagoreischer Lehre nachgeahmt wird? Die Zahlen, sagten die Pythagoreer, und die Verhältnisse von Zahlen. Aber was ist eine Zahl, und was ist ein Verhältnis von Zahlen? Zweifellos ist es nichts Sichtbares, sondern eine nur geistig zu erfassende Relationalität, was im Wesen der Zahl gelegen ist. Und was durch die Einhaltung der reinen Zahlen, die >Mimesis< genannt wird, im Sichtbaren zustande kommt, ist nicht nur die Ordnung der Töne, die Musik. Vielmehr ist es nach pythagoreischer Lehre auch die uns wohlbekannte erstaunliche Ordnung am Himmelsgewölbe. An ihr sehen wir, abgesehen von der Unordnung, die die Planeten dabei darstellen, weil sie keine regelmäßigen Kreise um die Erde zu vollziehen scheinen, daß alles ständig in der gleichen Ordnung wiederkehrt. Neben diese beiden Erfahrungen von Ordnung, die der Musik der Töne und die der Musik der Sphären, tritt nun als drittes die Ordnung der Seele vielleicht auch das schon ein echter altpythagoreischer Gedanke: Die Musik gehört zum Kultus und hilft so zur >Reinigung< der Seele. Reinheitsregeln und die Lehre von der Seelenwanderung gehören offenbar zusammen. Es sind also drei Ordnungsmanifestationen, die in diesem ältesten Begriff der Nachahmung impliziert sind: Weltordnung, musikalische Ordnung und
Seelenordnung. Was bedeutet es nun, daß diese Ordnungen auf Mimesis der Zahlen, Nachahmung der Zahlen beruhen? Doch offenbar dies, daß es Zahlen und reine Zahlenverhältnisse sind, was die Wirklichkeit dieser Erscheinungen ausmacht. Nicht, daß alles nach zahlenmäßiger Genauigkeit strebt, sondern daß in allem diese Zahlenordnung Dasein hat. Auf ihr beruht alle Ordnung. Plato war es, der auch die Ordnung der menschlichen Welt in der Polis auf die Einhaltung und Reinhaltung der musikalischen Ordnung der Tonarten gründete. Hier möchte ich anknüpfen und fragen, ob nicht auch in aller Kunst selbst noch in ihren äußersten Extravaganzen - Ordnung erfahren wird? Die Ordnung, die durch die moderne Kunst erfahrbar wird, hat nun freilich keine Ähnlichkeit mehr mit dem großen Vorbild der Naturordnung und des Weltenbaus. Sie spiegelt auch nicht mehr eine in mythischen Inhalten ausgelegte menschliche Erfahrung oder eine in vertrauten und liebgewordenen Dingerscheinungen verkörperte Welt. Das alles ist im Schwinden. Wir leben in der modernen Industriewelt. Diese Welt hat nicht nur die sichtbaren Formen von Ritus und Kultus an den Rand unseres Daseins gedrängt, sie hat auch darüber hinaus das, was ein Ding ist, zerstört. In dieser Feststellung soll nichts von der anklägerischen Attitüde eines Laudator temporis acti liegen sie ist eine Aussage über die Wirklichkeit, die wir um uns sehen und die wir, wenn wir nicht Toren sind, akzeptieren müssen. Aber für diese Wirklichkeit gilt: Es gibt keine Dinge mehr, mit denen wir umgehen. Ein, jedes ist ein Stück, das man beliebig oft kaufen kann, weil es beliebig oft - bis die Produktion dieses Modells ausgelaufen ist - hergestellt wird. So ist moderne Produktion und moderner Konsum. Es ist ganz sachgemäß, daß man diese >Dinge< nur noch in der Serienfabrikation herstellt, daß man sie nur noch durch groß angelegte Werbung absetzt und daß man sie, wenn sie kaputt sind, wegwirft. Aber die Erfahrung des Dings wird uns an ihnen nicht. Es ist nichts mehr in ihnen zur Präsenz geworden, das sich der Ersetzbarkeit entzieht, kein Stück Leben, kein geschichtlich Teil. So sieht die moderne Welt aus. Welcher Denkende kann erwarten, daß gleichwohl in unserer bildenden Kunst die Dinge, die nicht mehr wirklich sind, die uns nicht mehr beständig umgeben und uns nichts bedeuten, zur Wiedererkennung angeboten werden, als ob wir dadurch mit unserer Welt wieder vertraut würden? Das bedeutet aber ganz und gar nicht, daß nicht auch von dieser modernen Malerei und Skulptur, gerade indem sie nicht eine vergehende Vertraulichkeit mimt (über die Architektur wäre in diesem Zusammenhang auch viel zu sagen), Gebilde geschaffen werden, die in sich Bestand haben und die selber nicht ersetzbar sind. Jedes Kunstwerk ist noch so etwas, wie früher ein Ding war, in dessen Dasein Ordnung im ganzen aufleuchtet und bezeugt ist, vielleicht keine Ordnung, die sich inhaltlich mit unseren Ordnungsvorstellungen zusammenschließen läßt, die ehedem die vertrauten Dinge zur ver-
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Met. A6, 987b, 2 .
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trauten Welt einten, aber ein ständig neuer und kraftvoller Einsatz ordnender geistiger Energie ist in ihnen. Daher ist es am Ende ganz uninteressant, ob ein Maler oder ein Bildhauer gegenständlich oder ungegenständlich arbeitet. Interessant ist nur, ob wir einer geistigen Ordnungsenergie darin begegnen - oder ob wir nur an diesen oder jenen Inhalt unserer Bildung erinnert werden oder gar an diesen oder jenen Künstler. Denn das sind in der Tat Einwendungen gegen den Kunstwert eines Werkes. Aber sofern ein Werk das, was es darstellt oder als das es sich darstellt, zu einer neuen Formung, zu einem neuen winzigen Kosmos, zu einer neuen Einheit des in sich Verspannten, in sich Geeinten und in sich Geordneten erhebt, ist es Kunst, mögen darin Inhalte unserer Bildung, vertraute Gestalten unserer Umwelt sprechend werden oder nichts als das gänzlich Stumme und dennoch Urvertraute der reinen pythagoreischen Form- und Farbharmonien zur Darstellung kommen. Und so möchte ich, wenn ich eine universale ästhetische Kategorie vorschlagen sollte, die die eingangs entwickelten Kategorien Ausdruck, Nachahmung und Zeichen in sich schließt, an den ältesten Begriff von Mimesis anknüpfen, mit dem Darstellung von nichts anderem gemeint war als von Ordnung. Bezeugung von Ordnung - das scheint von eh und je gültig, sofern jedes Werk der Kunst, auch noch in unserer sich immer mehr ins Uniforme und ins Serielle verändernden Welt, die geistige Ordnungskraft bezeugt, die die Wirklichkeit unseres Lebens ausmacht. Im Werk der Kunst geschieht beispielhaft, was wir alle tun, indem wir da sind: beständiger Aufbau von Welt. Es steht mitten in einer zerfallenden Welt des Gewohnten und Vertrauten als ein Unterpfand von Ordnung, und vielleicht beruhen alle Kräfte des Bewahrens und des Erhaltens, die die menschliche Kultur tragen, auf dem, was uns im Tun des Künstlers und in der Erfahrung der Kunst exemplarisch entgegentritt: daß wir immer wieder ordnen, was uns zerfallt.
5. Von der Wahrheit des Wortes (1971) Täuschung durch Sprache, Ideologieverdacht oder gar Metaphysikverdacht, das sind heute so gewohnte Wendungen, daß von der Wahrheit des Wortes sprechen einer Provokation gleichkommt. Vollends, wenn man von >dem< Wort spricht. Denn wenn etwas außer aller Diskussion gesichert scheint, so ist es, daß die Rede von der Wahrheit nur beim Zusammengesetzten (έν συνδέσει αεί), dem Satz, ihre Anwendung hat, und wenn man schon mit den Griechen - die Wahrnehmung, die die spezifischen Sinnesqualitäten erfaßt, und den Wasgehalt des Gemeinten auch >alethes< nennen mag, so ist <*s doch jedenfalls sinnlos, von der Wahrheit des Wortes zu sprechen, wo es doch ganz in dem aufgeht, was die Rede meint. Es wäre kein Wort mehr, wenn es als Wort falsch sein könnte. Die aus Worten gebildete Rede kann nur in dem Sinne falsch oder wahr sein, in dem die in ihr ausgedrückte Meinung über einen Sachverhalt in Frage steht. Indessen, >das< Wort ist nicht nur das einzelne Wort, der Singular zu >den< Worten oder den Wörtern, die zusammen die Rede bilden. Vielmehr knüpft der Ausdruck an einen Sprachgebrauch an, wonach >das Wort< eine kollektive Bedeutung hat und eine gesellschaftliche Beziehung impliziert. Das Wort, das einem gesagt wird, auch das Wort, das einem gegeben wird, oder wennjemand von einer Zusage sagt: »Das ist ein Wort«, meint nicht das eine Wort, und selbst wenn es nur das einzige eine Ja-Wort ist, sagt es mehr und unendliches mehr als einer >meinen< kann. Wenn Luther für den Logos des Johannes-Prologes >Wort< sagt, so steht dahinter eine ganze Theologie des Wortes, die mindestens bis zu denTrinitätsausdeutungen Augustins zurückreicht. Aber es ist auch für den schlichten Leser einlösbar, daß Jesus Christus für den Glaubenden die lebendige, fleischgewordene Zusage ist. Wenn im folgenden nach der Wahrheit des Wortes gefragt wird, so ist kein bestimmtes Wort, auch nicht das der Heilsverheißung, seinem Inhalte nach gemeint, aber man muß dennoch im Blicke behalten, daß das Wort »unter den Menschen lebt« und in allen seinen Erscheinungsformen, in denen es ganz das ist, was es ist, ein eigenes verläßlich-beständiges Dasein hat. Am Ende ist es immer das Wort, das >steht<, sei es, daß einer zu dem Wort steht oder dafür einsteht, als der, der es gesagt hat, oder als der, der einen anderen beim Wort
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genommen hat. Das Wort selber steht. Es ist, der Einmaligkeit seines Gesprochenseins zum Trotz, dauernd da, als Heilsbotschaft, als Segen oder Fluch, als Gebet - oder auch als Gebot und Gesetz und verkündetes Urteil, oder als die Sage der Dichter und der Grundsatz der Philosophen. Es scheint mehr als eine äußerliche Tatsache, daß man von solchem Wort sagen kann, daß es »geschrieben steht« und sich selber dokumentiert. Es soll nun an diese Weisen des Wortseins, die ihrem eigenen Geltungssinn nach >Dinge tun< und nicht bloß etwas Wahres mitteilen wollen, die Frage gestellt werden, was es heißen kann, daß sie wahr sind und als Wort wahr sind. Ich knüpfe damit an die bekannte Fragestellung von Austin an, um das dichterische Wort in seinem Seinsrang sichtbar zu machen. Um diese Frage sinnvoll zu machen, müssen wir uns über das verständigen, was hier >Wahrheit< heißen kann. Daß der traditionelle Wahrheitsbegriff, die >adaequatio rei et intellectus<, dort keine Funktion hat, wo das Wort überhaupt nicht als Aussage über etwas gemeint ist, sondern als ein eigenes Dasein in sich selbst einen Seinsanspruch erhebt und erfüllt, ist klar. Enthielt doch die ausgezeichnete Einzahl, der Singular, die >dem< Wort zukommt, in sich selbst eine essentielle logische Inadäquatheit, sofern das Wort auf eine innere Unendlichkeit möglicher Ant-worten hinausweist, die alle - und daher keine - >angemessen< sind. Wohl aber wird man an das griechische >Aletheia< denken, dessen grundlegende Bedeutung uns Heidegger sehen gelehrt hat. Ich meine nicht nur den privativen Sinn von >A-letheia< als Unverborgenheit bzw. als Entbergung. Das war als solches keine so neue Behauptung, und schon längst hatte man gesehen, daß im Zusammenhang mit Verben des Sagens > Aletheia< den Sinn von Unverhohlenheit hat (Humboldt): »Hintergeh' mich nicht« (μή με λάδης), sagt Zeus zu Hera, und die blühende Phantasie sowie die enorme Zungenfertigkeit der Griechen hat >Aletheia< als Nichtverbergung schon bei Homer zur Auszeichnung kommen lassen. Was Heideggers Erneuerung der Einsicht in den privativen Sinn des Wortes bedeutsam macht, ist, daß dieses griechische Wort nicht auf die Rede beschränkt ist, sondern auch dort gebraucht wird, wo es an die Bedeutungssphäre von >echt< im Sinne von »unverfälscht heranreicht. So sagt man auch im Griechischen: ein wahrer Freund, wahres, d. i. echtes Gold, das nicht den falschen Schein erweckt, Gold zu sein. In solchem Zusammenhange gewinnt >Entbergung< eine ontologische Bedeutung, d. h. charakterisiert nicht ein Verhalten oder Sich-Äußern von jemandem oder von etwas, sondern sein Sein (wie auch >Aletheia< die Charaktereigenschaft der Aufrichtigkeit bedeuten kann). Erstaunlich genug, daß nicht nur das Wesen, das reden und sich verstellen und sogar lügen kann, sich durch >Aletheia< auszeichnen mag, sondern daß auch Seiendes als solches >wahr< sein kann, wie Gold. Was kann es sein, das da verbirgt oder verhehlt oder verstellt, so daß Nicht-Verborgenheit - und nicht durch unser Tun - vom
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Seienden gesagt werden kann? Wie muß Sein >sein<, wenn das Seiende so >ist<, daß es falsch sein kann? Die Antwort wird von der naheliegenden Erfahrung ausgehen müssen: Es kommt heraus, was an ihm ist. Nicht zufällig hat Heidegger dem aristotelischen Begriff der >Physis< besondere Aufmerksamkeit gewidmet, der den ontologischen Status dessen charakterisiert, was von selber emporwächst. Aber was bedeutet es, daß das Sein selbst so ist, daß das Seiende als das, was es ist, erst herauskommen muß? Und gar, daß es >falsch< sein kann, wie falsches Gold? Was für eine Verbergung ist es, die dem Seienden ebenso zugehört wie die Entbergung, mit der es in die Anwesenheit tritt? Die Unverborgenheit, die dem Seienden zukommt und in die es hervorkommt, scheint doch in sich selbst wie ein absolutes Da, wie das Licht in des Aristoteles Beschreibung des >Nous poietikos< und wie die »Lichtung«, die sich im Sein und als Sein auftut. Solange Heidegger noch von einer existenzialen Analytik des Daseins aus die Stellung der Seinsfrage versuchte, war der Konsequenz schlecht auszuweichen, daß das eigentliche Dasein es ist, das sein Da ist und für das anderes >da< ist. Zwar hatte Heidegger alles darauf angelegt, die geschichtliche Bewegtheit des Daseins, seine Struktur eines geworfenen Entwurfs, dem Idealismus der transzendentalen Subjektivität und seinen verschwebenden Vorstellungen entgegenzustellen, und gewiß wollte sich die Sorgestruktur des Daseins von den idealistischen Leitbegriffen eines »Bewußtseins überhaupt oder eines »absoluten Wissens< grundsätzlich unterscheiden. Man mochte auch nicht verkennen, daß Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit »gleichursprünglich« zur Strukturganzheit von Dasein gehören, und daß daher das Gerede ebenso zum Dasein gehört wie das Wort und das Schweigen. Ein Sinn von Eigentlichkeit oder Echtheit mochte von dem her, was der frühe Heidegger »angstbereite Entschlossenheit« genannt hatte, nicht nur dem Schweigen, sondern auch dem Brechen des Schweigens, dem Wort, zufließen. Und gewiß war schon in »Sein und Zeit< die Herausforderung voll angenommen, die der griechische Logos-Begriff von Anbeginn an für den »christlichen Theologen« Heidegger darstellte. (So nannte sich Heidegger noch, als er schon als Privatdozent der Philosophie an der Arbeit seines Lebens war.) Schon dort ist Sprache als ein Existenzial gedacht, nämlich als eine Bestimmung des durch Seinsverständnis ausgezeichneten Daseins. Aber wie sich das Wesen der Wahrheit von dem Ansichhalten und der Insistenz des Daseins her auf das »Geheimnis« und seine absolute Verborgenheit immer noch wie auf sein Anderes bezog, so konnte auch das Wort und die Sprache zwar den existenziellen Bezug zum Hören und zum Schweigen haben, aber was daran >wahr< war und was da >herauskam<, war eben die Existenz, das seines Seins vor dem Nichts gewärtige Dasein. Gewiß war auch so das Wort nicht das Ausgesagte der aristotelischen »Apophansis«,
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das als Gesagtes in dem, was es sagt und zeigt, aufgeht (iv τψ δηλοϋν), sondern hatte den Zeitcharakter der Einmaligkeit und eines Ereignisses. Aber was war hier Ereignis? Und was ereignete sich da? Heidegger hat damals sehr wohl gesehen, wie das >Wort< mit innerer Notwendigkeit »ins Gerede kam« und daran verfiel, und daß auch das Schicksal des Denkens in diese Zweideutigkeit von Eigentlichkeit und Verfallen, von Sein und Scheinen verfugt ist. Daß jedoch das Wort als Wort nicht nur Entbergung ist, sondern ebensosehr auch und gerade deshalb bergend und verbergend sein muß, war von der transzendentalen Analytik des Daseins aus nicht zu fassen. Noch in der berühmten Davoser Konfrontation mit dem Verfasser der >Philosophie der symbolischen Formen< bestand Heidegger auf dem Selbstverständnis des Daseins gegenüber der Zwischenwelt der Formen. Indessen, wenn Entbergung und Verbergung wirklich als Strukturmomente von >Sein< gedacht werden, wenn die Zeitlichkeit dem Sein zukommt und nicht nur dem Seienden, das dem Sein den Platz hält, dann bleibt es zwar die Auszeichnung des Menschen, >da zu sein<, und ebenso, nicht nur selber in der Sprache zu Hause zu sein, sondern daß in der Sprache, die wir miteinander sprechen, >Sein< da ist. Und das alles nicht aus einem Existenzentschluß, den man auch unterlassen könnte, sondern weil Da-sein Entschlossenheit, Offenständigkeit fur das >Da< ist. Dann aber wird nicht von ihm aus zu denken sein, in dem Sinne, daß das eigentliche Wort das Wort der Eigentlichkeit wäre - und nicht das des Geredes. Vielmehr wird, was das eigentliche Wort - das Wort als wahres Wort - ist, vom Sein her bestimmt sein, als das Wort, in dem Wahrheit geschieht. So läßt sich an Heideggers spätere Einsicht anknüpfen und die Frage nach der Wahrheit des Wortes stellen. Vielleicht läßt sich im Stellen dieser Frage der Einsicht Heideggers und so rätselhaften Redeweisen wie der von der »Lichtung des Seins« auf konkrete Weise näherkommen. Was ist das >eigentliche< Wort - das heißt, nicht etwa das Wort, worin etwas Wahres oder selbst die höchste Wahrheit gesagt wird, sondern das im eigentlichsten Sinne >Wort< ist? Wort sein heißt sagend sein. Um innerhalb der unendlichen Vielfalt, in der Worte fallen, diejenigen ausfinden zu können, die am meisten sagend sind, besinnen wir uns auf den Charakter dessen zurück, was wahrhaft >ein Wort< ist: daß es steht und daß man zu ihm steht. Dies enthält offenkundig schon, daß das Wort, mit dem, was es sagt oder sagend tut, einen dauerhaften Geltungsanspruch erhebt, und ich berief mich schon darauf, daß das Mysterium der Schriftlichkeit diesen Anspruch bestätigt. Es ist daher nicht so willkürlich und absurd, wie es aufs erste klingt, wenn ich das Wort, das eigentlich sagend ist, als >Text< bestimme. Das hat selbstverständlich nur einen methodischen Sinn. Dadurch soll nicht Echtheit, Ursprünglichkeit, Bedeutungskraft, Entscheidungsgewalt, die in lebendiger Rede liegen oder im Gebet, in der Predigt, im Segen und Fluch, in
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der politischen Rede, bestritten werden. Vielmehr wird so die Frage nach dem, was das Wort als Wort wahr sein lassen kann, methodisch isoliert. Daß auch Texte erst im lebendigen Vollzug ihres Verstehens, Vorlesens, Verkündens ihren Wortcharakter wiedergewinnen, ändert nichts daran, daß es der Textgehalt ist und sonst nichts, was hier wieder auflebt, also das potentielle Wort, das etwas sagt. Wie das Wort da ist, wenn es >Text< ist, macht also sichtbar, was es als sagendes ist, d. h., was sein Sagendsein ausmacht. Ich nenne das so isolierte Sagendsein des Wortes > Aussagen Denn in der Tat ist die Aussage, bei aller Problematik ihres Gebrauchs und Mißbrauchs, z.B. im Gerichtsverfahren, ihrem Wesen nach fixierbar und wenn auch nicht unwiderrufbar, so eben doch ohne solchen Widerruf, d.h. bis auf weiteres, gültig. Ihre Geltung schließt ein, daß das in ihr selbst Gesagte und nur dies allein gilt, wobei wiederum der Streit um den eindeutigen Gehalt einer Aussage und ob die Berufung auf sie berechtigt ist, den Anspruch auf Eindeutigkeit indirekt bestätigt. Daß die Zeugenaussage vor Gericht in Wahrheit vom Zusammenhang der Untersuchung aus erst Wahrheitswert gewinnt, ist ohnehin klar. So hat sich gerade auch im hermeneutischen Zusammenhang, z. B. in der theologischen Exegese oder in der Literarästhetik, das Wort >Aussage< durchgesetzt, weil es zu markieren vermag, daß es sich rein um das Gesagte als solches handelt, ohne den Rückgang auf die Okkasionalität des Autors, und daß nichts als die Auslegung des Textes als eines Ganzen seine Bedeutung sichtbar macht. Weit gefehlt also, daß durch solche Konzentration auf den Text, der als Ganzes die Aussage ist, der Ereignischarakter des Wortes abgeschwächt würde - er kommt dadurch erst in seiner vollen Bedeutung heraus. Nun gibt es gewiß schriftliche Fixierung von Gesprochenem, auch ohne daß es sich um einen Text im Sinne des Wortes, das steht, handelte. So sollen etwa alle privaten Aufzeichnungen, Notizen, Nachschriften von Gesprochenem lediglich dem Gedächtnis als Stütze dienen. Hier ist klar, daß die schriftliche Aufzeichnung erst im Rückgang auf das frische Gedächtnis Leben erhält. Ein solcher Text sagt sich nicht selbst aus und wäre daher, wenn er für sich publiziert würde, nichts, was etwas >sagt<. Solcher Text ist eben nur die schriftliche Spur einer aus sich lebenden Erinnerung. In der Abhebung dagegen wird deutlich, in welchem Sinne es Texte gibt, die wirklich den Charakter der Aussage haben, d. h., die ein Wort im oben gekennzeichneten Sinne sind, ein Wort, das gesagt ist (und nicht nur etwas übermittelt). Wir bestimmen also das Wort als das sagende dadurch näher, daß es als sagendes gesagt ist, und wieder fragen wir, welches Wort, das so gesagtes Wort ist, am meisten sagend ist und insofern >wahr< heißen kann. Wir unterscheiden drei Weisen von Texten, die in diesem Sinne >Aussage< sind: den religiösen, den juristischen und den literarischen Text, wobei der letztere vielleicht noch zu differenzieren ist, um so verschiedene Aussagefor-
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men zu umfassen wie das dichterische Wort, den spekulativen Satz der Philosophen und die logische Grundeinheit des prädikativen Urteils. Denn auch das letztere gehört hier so weit hinein, als es der allgemeine Charakter des Wortes ist, sagend zu sein, und somit ist kein Wort abtrennbar von dem bloßen zeigenden Gegenwärtigseinlassen, das wir das Urteil nennen, wenn es im Zusammenhang einer Argumentation steht. Die Differenzierung dieser Weisen des Wortes soll nun aber ausschließlich in dem Wortcharakter liegen und ihm nicht erst von außen, von den Umständen seines Gesagtseins her, zufließen. Ein solches zählt in all seinen Erscheinungsformen zur >Literatur<. Denn eben das charakterisiert Literatur, daß ihr Geschriebensein nicht eine Minderung ihres ursprünglichen, mündlich-lebendigen Seins darstellt, sondern ihre originäre Seinsform ist, die ihrerseits sekundären Vollzug des Lesens oder Sprechens zuläßt und erfordert. Man kann diesen drei Grundweisen von Texten drei Grundformen des Sagens zuordnen: die Zusage, die Ansage und die Aussage im engeren Sinne, die in einem eminenten Sinne Aus-sage sein mag, d. h. das Sagen bis zu seinem wahren Ende führt, und so ist es das am meisten sagende Wort. Damit soll nicht eingeschränkt sein, daß etwa der religiöse Text, aber auch der Rechtstext im vollen Umfange unseres Begriffes > Aussage< sind, d. h. in ihrer sprachlich-schriftlichen Gegebenheitsweise den spezifischen Charakter ihres Sagens enthalten. Es ist also nicht so, daß eine Aussage, die noch nicht Zusage wäre, erst dadurch zur Zusage wird, daß jemand sie einem zuspricht, etwa als Trost und Verheißung. Sie ist vielmehr eine solche Aussage, die in sich selbst Zusagecharakter hat und als Zusage verstanden werden muß. Das heißt aber, daß bei der Zusage die Sprache sich selbst überschreitet. Ob auf den Alten oder auf den Neuen Bund hin, sie erfüllt sich nicht in sich selbst, wie etwa ein Gedicht sich selbst erfüllt. Daher findet die Zusage einer Verheißung gleichsam ihre Erfüllung in der Annahme des Glaubens — wie ja auch jedes Versprechen erst, wenn es angenommen ist, bindend wird. Ähnlich ist auch ein juristischer Text, der ein Gesetz oder ein Urteil formuliert, sobald es erlassen ist, verbindlich, aber es erfüllt sich als erlassenes nicht in sich selbst, sondern erst in seiner Ausführung bzw. Vollstreckung. Auch ein bloßer>historischer< Bericht unterscheidet sich dadurch von einem dichterischen, daß dieser sich selbst erfüllt. Man nehme etwa das Beispiel des Evangeliums. Da erzählt der Evangelist eine Geschichte. Auch ein Chronist oder ein Historiker könnte eine solche Geschichte erzählen, oder ein Dichter. Aber der Anspruch des Sagens, der mit der >Lesung< dieser Geschichte erhoben wird - und jedes Lesen derselben ist im Grunde eine Lesung - ist offenbar von vorneherein ein eigenes Sagen, das ich Zusage nannte. Denn es ist die Frohe Botschaft. Man kann diesen Text gewiß auch anders lesen, etwa mit dem Interesse des Historikers, der seinen Quellenwert kritisch prüfen
will. Aber wenn der Historiker die Aussage des Textes nicht in ihrem Zusagecharakter verstehen würde, könnte er von dem Text auch keine quellenkritisch adäquate Verwendung machen. Wie die Hermeneutik sagt: Der Text hat seinen Scopus, auf den hin man ihn verstehen muß. Wiederum kann man den gleichen Text auch literarisch lesen, etwa auf die Kunstmittel hin, die seiner Darstellung Leben und Farbe geben, auf seine Komposition, seine syntaktischen und seine semantischen Stilmittel hin, und ohne Frage gibt es, insbesondere im Alten Testament, hohe Dichtung, deren Kunstmittel ins Auge fallen. Und doch, selbst ein solcher Text, etwa das Hohelied, steht in dem Kontext der Heiligen Schrift, d.h., er fordert, als Zusage verstanden zu werden. Gewiß, hier ist es der Kontext, aber das ist doch wiederum eine rein sprachliche Textgegebenheit, die einem Liebeslied den Charakter der Zusage verleiht. Auf den gleichen Scopus sind nun auch literarisch so bescheidene, kunstlose Texte wie die synoptischen Evangelien zu beziehen. Man wird also den Zusagecharakter solcher Texte aus dem Scopus abzuleiten haben, den der Kontext anzeigt. Man kann sich hier kritisch fragen, ob der religiöse Charakter solcher Texte, der aus ihnen selbst spricht, als solcher schon ihren Zusagecharakter ausmacht, oder ob es der besondere Charakter von Erlösungs- und Offenbarungsreligionen ist, die im eigentlichen Sinne Buchreligionen sind, wie die jüdische, christliche und islamische, der ihren Schriften diesen Zusagecharakter verleiht. In der Tat, es dürfte die Welt des Mythos, d. h. aller religiösen Überlieferung, die so etwas wie kanonische Texte nicht kennt, eine ganz andere hermeneutische Problematik eröffnen. Da sind ζ. Β. die >Aussagen<, die man hinter dem poetischen Text der Griechen in ihren Mythen und Sagen entdecken mag. Sie sind gewiß nicht selbst schon von der Struktur des Textes, d.h. des Wortes, das steht. Aber sie sind dennoch >Sage<, d.h. sprechend durch nichts als ihr Gesagtsein. Ob uns solche Welten religiöser Überlieferung überhaupt kenntlich wären oder kenntlich würden, wenn sie nicht in die literarischen Formen von Überlieferung sozusagen hereinstünden? Die Methoden der strukturalistischen Mythenforschung in Ehren, aber das hermeneutische Interesse beginnt mit der Frage, was einem die Mythen nicht so sehr verraten, als was sie einem sagen, wenn sie in Dichtung begegnen. Was sie einem sagen, liegt in der Aussage, die sie sind und die wohl notwendig in die Fixierung drängt, und vielleicht sogar in die kumulative Fixierung durch die mythendeutende Dichtung. So wird das hermeneutische Problem der Mythendeutung unter den Formen des literarischen Wortes seinen legitimen Platz haben1. 1
Welche Bedeutung religiöse Überlieferung fur die dichterische Stilgebung besitzt, ist
ja seit NORTHROP FRYES > Anatomy of Criticism« ins altgemeine Bewußtsein getreten. Zu vergleichen ist auch PAUL RICCEURS kritische Einschränkung der strukturalistischen >Geo-
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Eine ähnliche Betrachtung ließe sich fur den Charakter der Ansage durchfuhren. Er scheint spezifisch den Rechtsaussagen zuzukommen. Er umfaßt die breite Skala von Anordnungen, die öffentlich verkündet werden, den Erlaß von Gesetzen und schließlich sogar Gesetzbücher und geschriebene Verfassungen, Urteilssprüche usw. Die Textstufen, die hier durchlaufen werden, und der Literaturcharakter, in den die Rechtsüberlieferung hineinwächst, halten aufklare Weise ihren eigenen Charakter des Sagens fest. Sie sagen Gültiges im Rechtssinn des Wortes und können nur unter dem Scopus dieses Gültigkeitsanspruchs verstanden werden. Hier ist es offenkundig, daß solcher Anspruch auf Gültigkeit des Wortes ihm nicht erst durch die Schriftlichkeit zuwächst, aber daß auch umgekehrt die Kodifizierbarkeit solcher Gültigkeiten nicht beiläufig und zufällig ist. In ihnen vollendet sich erst in gewisser Weise der Sagesinn solcher Aussagen. Denn daß eine Anordnung oder ein allgemeines Gesetz in seinem vollen Wortsinn schriftlich fixierbar ist, beruht offenbar darauf, daß es als unveränderlich und für alle gelten soll. Was da steht und was da steht, solange es nicht zu Falle gebracht ist, macht offenbar den wesenhaften Geltungscharakter des Ansagens aus, der solchem Texte zukommt. Man spricht daher von der Verkündung eines Gesetzes oder der Veröffentlichung als dem Termin seiner Rechtsgeltung. Daß die Auslegung solchen Wortes oder Textes eine eigene rechtsschöpferische Aufgabe ist, ändert weder etwas daran, daß die Aussage in sich eindeutig sein will, noch etwas an ihrer Rechtsverbindlichkeit. Die hermeneutische Aufgabe, die hier gestellt ist, ist eine juristische und mag in sekundärer Weise eine rechtshistorische und vielleicht sogar eine literaturhistorische Seite haben. Jedenfalls aber bleibt auch in dieser Form der Ansage das Wort Aussage, d. h., es will als Wort wahr sein.
der traditionellen Ästhetik kein rechtes Heimatrecht gewonnen hat. Gewiß war die Wortkunst, die Poesie, seit alters ein besonderer Gegenstand der Reflexion, jedenfalls lange vor der Thematisierung anderer Kunstarten. Wenn man jemanden wie Vitruv hier überhaupt zählen will, oder auf anderem Felde die Theoretiker der Musik, so sind das beides praktische Kunstlehren und so im Grunde alle Ars poetica. - Von den Philosophen ist vor allem die Poesie zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht worden, und nicht zufällig. Sie war die alte Rivalin des eigenen Anspruches der Philosophie. Das bezeugt nicht nur Piatos Dichterkritik, sondern auch das besondere Interesse, das Aristoteles an der Poetik nimmt. Dazu kam die Nachbarschaft der Poesie zur Rhetorik, der sehr früh schon kunstverständige Reflexion zugewandt worden ist2. Sie war in vieler Hinsicht produktiv und fur zahlreiche Begriffsbildungen im Bereiche der Kunstbetrachtung grundlegend. Allein schon der Begriff des Stiles, des >stilus scribendi<, legt dafür ein beredtes Zeugnis ab. Trotzdem muß man sich fragen, ob die Rolle der Poesie innerhalb der Ästhetik je zu ihrem vollen Recht gekommen ist. Da haben wir den fur zwei Jahrtausende beherrschenden ästhetischen Grundbegriff der Mimesis, Imitatio, Nachahmung3. Ursprünglich war er den transitorischen Künsten, Tanz, Musik, Poesie eng verbunden und hat vor allem auf die Kunst des Theaters Anwendung gefunden. Aber schon bei Plato werden visuelle Künste wie Skulptur und Malerei zur Illustration herangezogen und ähnlich von Aristoteles. Vor allem aber hat Plato durch den okularen Begriff des Eidos die seiende Welt als Nachahmung interpretiert und die Poesie als deren Nachahmung, also als eine Nachahmung der Nachahmung. So wurde der Begriff der Mimesis von seinem Ursprung ganz abgedrängt. Noch in >Hegels< Definition des Schönen als des sinnlichen Scheinens der Idee klingt Plato weiter, und alle romantische Verkündung der Universalpoesiehat die Verlegenheit nicht behoben, die die Wortkunst zwischen Rhetorik und Ästhetik gleichsam eingeklemmt hält. So ist die Frage nach der Wahrheit des Wortes auf keine reichen Vorbereitungen zu stützen. In der Romantik, und vor allem in Hegels Systematik der Künste, finden sich nur unausgeführte Ansätze. Heideggers Durchbruch durch die traditionelle Begrifflichkeit der Metaphysik und der Ästhetik hat hier einen neuen Zugang eröffnet, indem er das Kunstwerk als Ins-WerkSetzen der Wahrheit interpretierte und die sinnlich-sittliche Einheit des Kunstwerks gegen alle ontologischen Dualismen verteidigte4. So hat er für
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Wenn wir uns nun den Aussagen im eminenten Sinne des Wortes zuwenden, die vor allem dem engeren Sinne von Literatur zugehören, so ist die Fülle der Aussageweisen, die sich hier finden, verwirrend. Es scheint mir methodisch gerechtfertigt, unsere Frage auf das Wort der sogenannten >schönen Literatun einzuschränken. Es ist offenbar kein Zufall, daß >Literatur< im engeren Sinne >schöne Literatun meint, nämlich Texte, die in keinen anderen Bedeutungszusammenhang eingeordnet sind bzw. bei denen man von allen möglichen Einordnungen absehen kann, z.B. vom kultischen, rechtlichen, wissenschaftlichen, ja auch - obwohl das ein Sonderfall sein dürfte- vom philosophischen Gebrauch. Das war von alters her der Sinn des Schönen, des >Kalon<, daß es ein an sich selbst Wünschenswertes ist, d. h. um nichts anderen willen einleuchtet als auf Grund seiner eigenen Erscheinung, die auf selbstverständliche Art Beifall fordert. Damit soll das hermeneutische Problem keineswegs in den Kompetenzbereich der Ästhetik überfuhrt werden. Im Gegenteil wird hier die Frage nach der Wahrheit des Wortes an das literarische Wort gerade in dem Bewußtsein gestellt, daß diese Frage in
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Man denke an die omarfurpi τεχναν des Aristoteles. Zum Mimesis-Begriff siehe neben dem vorangehenden auch die folgenden Beiträge dieses Bandes: >Dichtung und Mimesis< (Nr. 8) und >Das Spiel der Kunst« (Nr. 9). 4 Siehe dazu >Die Wahrheit des Kunstwerks< in Ges. Werke Bd. 3, S. 249-261. Zum folgenden vgl. im vorliegenden Band auch >Philosophie undPocsie< (Nr, 20). 3
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Ästhetik und Wahrheit
Von der Wahrheit des Wortes
alle Kunst die romantische Einsicht von der Schlüsselstellung des Dichtens neu zu Ehren gebracht. Aber auch von ihm aus scheint es weit leichter, zu sagen, wie im Bildwerk das wahre Sein der Farbe oder im Bauwerk das des Steines herauskommt, als, wie im Dichtwerk das wahre Wort herauskommt. Hier liegt unsere Frage. Was bedeutet das Hervorkommen des Wortes in der Dichtung? Wie die Farben im Bildwerk leuchtender sind, der Stein im Bauwerk tragender ist, so ist im Dichtwerk das Wort sagender als je sonst. Das ist die These. Wenn sie überzeugend gemacht werden kann, dann läßt sich die allgemeine Frage nach der Wahrheit des Wortes von dieser seiner Vollendung her beantworten. Aber was heißt das, daß das Wort »sagenden ist? Hierfür ist unsere methodische Verkettung von Wort und Text eine gute Vorbereitung. Selbstverständlich kann nicht der tote Buchstabe der Schrift, sondern nur das wiederauferstandene Wort (gesprochen oder gelesen) dem Sein des Kunstwerks zugezählt werden. Aber der Durchgang durch seinen Untergang in Schrift gibt erst dem Wort die Verklärung, die seine Wahrheit heißen kann. Dabei kann die Frage der geschichtlichen und genetischen Bedeutung der Schriftlichkeit ganz außer Betracht bleiben. Was der Durchgang durch die Schrift methodisch leistet, ist hier lediglich die Aufdeckung der eigentümlich sprachlichen Seinsart des Wortes, und insbesondere der dichterischen Aussage. Wir werden prüfen müssen, ob nicht der Durchgang durch die Schrift im Falle der >schönen Literatun noch anderes aufdeckt, als für die anderen Fälle von wirklichem Text gelten kann.
ser. Denn ohne Zweifel befinden sich solche Sprecher (selbst wenn es der Autor selber ist, der sich in die Rolle des Vortragenden oder des Schauspielers begibt) dem Text gegenüber insofern in einer sekundären Funktion, als sie denselben in die Zufälligkeit eines einmaligen Vortrages nötigen. Es ist eine hilflose Verkennung dessen, was Literatur ist, wenn man auch das literarische Gebilde auf den Akt des Meinens zurückführen möchte, dem der Autor Ausdruck gab. Hier ist der Unterschied zu den Notizen, die einer sich macht, oder den Mitteilungen, die er anderen macht, ganz überzeugend. Der literarische Text ist nicht, wie diese, gegenüber einem ersten, ursprünglich meinenden Sprechen sekundär. Es ist umgekehrt so, daß sichjede- auch des Autors eigene - nachträgliche Interpretation auf den Text hinordnet, und nicht etwa so, daß der Autor eine dunkle Erinnerung an etwas, was er hatte sagen wollen, durch Rückgriff auf seine Vorarbeiten auffrischen will. Rückgang auf die Varianten sind für die Textherstellung oft unentbehrlich. Jeder Herstellung eines Textes geht aber Verstehen desselben voraus. Wer angesichts dieser Sachlage für die Objektivität der Interpretation fürchtet, sollte lieber besorgt sein, ob die Zurückführung eines literarischen Textes auf die Meinungsäußerung ihres Urhebers nicht den Kunstsinn von Literatur überhaupt zerstört.
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Zunächst wird freilich Gemeinsames sichtbar, ζ. Β. das Verschwinden des Autors bzw. seine Transformation in die Idealfigur eines Sprechers. Im Falle religiöser Urkunden ist das oft bis zu der Fiktion gesteigert, als wäre der Gott der Sprecher, und im Falle des Rechtsspruches heißt es ausdrücklich: »Im Namen des Gesetzes«. Solche Texte verstehen kann also gewiß nicht heißen, wie seit Schleiermacher gesagt wird: den produktiven Akt reproduzieren. Man sollte daraus für den literarischen Text die gleiche Folgerung ziehen, daß auch hier die psychologische Interpretation nicht die hermeneutische Angemessenheit hat, die ihr zugesprochen wird. In allen diesen Fällen ist die Aussage des Textes nicht als ein Ausdrucksphänomen seelischer Innerlichkeit zu verstehen (und oft ja nicht einmal auf einen einzigen Urheber zurück£uhrbar).Gleichwohl sind es offenkundig recht verschiedenartige ideale Sprecher, die einem eine religiöse Heilsverkündigung zusagen oder die im Namen des Gesetzes Recht sprechen oder... - Doch bei diesem >oder< stockt man. Soll man wirklich sagen: die als Dichter zu einem sprechen? Wäre es nicht angemessener, wenn man hier nur sagte, daß die Dichtimg spricht? Und ich würde hinzufügen: besser und eigentlicher durch den Hörenden, den Zuschauer - oder gar nur den Leser - als durch den, der da wirklich etwas spricht, den Rezitator, den Schauspieler oder den Vorle-
Freilich ist das zunächst nur eine negative Abgrenzung, durch die die Autonomie des Wortes bzw. des Textes überzeugend gemacht wird. Aber worauf gründet sie sich? Wie kann das Wort so sehr sagend sein und so vielsagend, daß selbst der Autor nicht weiß, sondern auf das Wort hören muß? Ein erster Sinn des eminenten Sagendseins eines literarischen Textes ist mit der negativen Feststellung der Autonomie des Wortes gewiß gefunden. Es ist wirklich einzigartig, daß ein literarischer Text seine Stimme sozusagen von sich aus erhebt und in niemandes Namen spricht, auch nicht im Namen eines Gottes oder eines Gesetzes. Nun behaupte ich: Der ideale Sprecher solchen Wortes ist der ideale Leser. Es wäre hier näher auszuführen, daß auch dieser Satz keine historische Einschränkung enthält. Selbst für vor-literarische Kulturen, etwa für die mündliche Tradition von Epen, bleibt es wahr, daß es einen solchen idealen >Leser< gibt, d. h. einen Hörer, der durch alle (oder eine einzige) Rezitation auf das hindurchhört, das nur das innere Ohr vernimmt. Er weiß von diesem Maßstab aus sogar den Rhapsoden zu beurteilen - wie wir ja aus dem alten Motiv des Sängerwettkampfes sehen. Ein solcher idealer Hörer ist also wie der ideale Leser5. Es wäre weiterhin näher auszuführen, daß und warum Lesen im Unterschied zum Vorlesen oder Rezitieren keine Reproduktion des Originals ist, sondern die Idealität des Originals unmittelbar teilt, da sich Lesen überhaupt nicht in 5
Ausführlicher dazu im folgenden »Stimme und Sprache< (Nr. 22) und »Hören - Sehen
-Lesern (Nr. 23).
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die Kontingenz einer Reproduktion nötigen läßt. Hierfür haben die Untersuchungen des pohlischen Phänomenologen Roman Ingarden über den Schemacharakter des literarischen Wortes die Richtung gewiesen. Von großer Aufschlußkraft wäre es auch, das Problem der absoluten Musik und der ihr Fixierung gebenden Notenschrift zum Vergleich heranzuziehen. Es würde sich mit dem Musikwissenschaftler Georgiades zeigen lassen, welch ein Unterschied zwischen Schrift hier und Schrift dort besteht, und zwischen Wort hier und Ton dort, und damit auch zwischen dem literarischen Werk und dem Notensatz. Das Beispiel der Musik hat ohne Frage die Besonderheit, daß man Musik machen muß und daß selbst der Zuhörer von Musik mitmachen muß, fast wie jemand, der bei Liedern mitsingt. Das Lesen eines Notentextes ist nicht wie das Lesen eines sprachlichen Textes. Das wäre es nur, wenn es ein >inneres< Machen wäre, durch das man sich nicht festlegte und die Freiheit des Imaginationsflusses behielte wie ein Leser. Im Falle der Musik wird aber die Interpretation durch den Musiker dem Hörer vorgegeben, so groß auch die Freiheit sein mag, die er dabei ausübt. Der Musiker, als Spieler und gegebenenfalls als Dirigent, hat eine Zwischenstellung: Er hat im wahrsten Sinne ein Interpret zu sein, eben zwischen dem Komponisten und dem Hörer. Das ist das gleiche, das wir beim Theater kennen: Da ist die Aufführung eine Interpretation, die zwischen dem dichterischen Text und dem Zuschauer steht. Das ist für den Zuschauer nicht eine Leistung wie die des Lesens, wenn man sich selbst etwas vorliest. Man ist es ja selber, der hier >reproduziert<, etwas aus sich ins Sein setzt. Wenn einer sich selbst mit der eigenen Stimme vorliest, wie das im Altertum und bis ins späte Mittelalter beim Lesen immer geschah, vollzieht man in Wahrheit nur das eigene Lesen und bleibt bei sich selbst, den Text verstehend und nicht einen anderen, der einem vorliest und dabei den Text auf seine Weise verstanden hat. Ja selbst dann noch ist ein solches Vorlesen kein wirkliches Reproduzieren, sondern ein Dienst am Herrn, der verstehen will, als ob er selber läse. Daher klingt es auch ganz anders, wenn einer nur vorliest oder rezitiert oder wenn er wie ein Schauspieler den Text wahrhaft neu hervorzubringen bemüht ist. Hier gibt es wohl fließende Übergänge. Ein genialer Vorleser wie Ludwig Tieck, vor allem als Shakespeare-Vorleser, scheint die Variationen der Sprache so vollkommen beherrscht zu haben, daß es wie ein Ein-Mann-Theater war. Aber wie ist es beim wirklichen Theater, dem literarischen Theater, das einen dichterischen Text aufführt? Da haben die Mimen ihre Rollen zu spielen und dabei mehr oder weniger der Auffassung des Regisseurs zu folgen. Nur im Idealfalle wird ein solcher seine Schauspieler mit dem Ganzen seiner eigenen Interpretation der Dichtung so bekanntmachen, daß sie die Verkörperung der einzelnen Rollen mitgestaltet. Ob mit oder ob ohne Regisseur, ob mit oder ohne Dirigent, immer wird das Spiel in seiner
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Aufführung Interpretation sein, die wie eine eigene Leistung dem Zuschauer vorgegeben ist. Aber all das muß über der drängenden Frage zurücktreten, die an das >sagende< Wort zu richten ist, was es denn sagend macht, wenn es im eminenten Sinne sagend ist. Hier überfällt uns die ganze Fülle literarischer Gattungs- und Stilunterschiede: Epos und Drama und Lyrik und künstlerische Prosa, naive Erzählung, liedhafte Einfachheit, mythische, märchenhafte, lehrhafte, meditative, reflexive, reportagehafte, hermetische Aussageformen, bis hin zur poésie pure. Wenn das alles Literatur sein kann, d. h. daß in ihnen allen das Wort als Wort spricht, mit der oben beschriebenen Autonomie, dann löst sich der ideale Sprecher oder Leser, den wir zu konstruieren suchten, vollends auf, und er hilft uns nichts für die Frage, wie das Wort sagend ist, dessen Vollzug ihm von uns aufgetragen wurde. Nun ist es gewiß nicht nur die Vielfalt dessen, was das Wort der Literatur sagt, und die unterschiedliche Weise, wie es sein Wort sagt, was uns hier stocken ließ. Es scheint vielmehr von vornherein überzeugend, daß das Wort, das aus sich zu sprechen vermag, nicht allein von dem her charakterisiert werden kann, worauf es inhaltlich verweist. Es ist in der bildenden Kunst dasselbe und aus den gleichen Gründen. Wer nur auf den gegenständlichen Darstellungsinhalt eines Gemäldes sieht, sieht offenbar an dem vorbei, was es zum Kunstwerk macht, und die »Gegenstandslosen« von heute können das jedermann klarmachen. Der Informationswert, den etwa eine Abbildung in einem Verkaufskatalog von Blumenpflanzen enthält, ist bestimmt größer als der der Farbenorgie eines Blumenbildes von Nolde. Umgekehrt kann man von hier aus verstehen, warum Farbkompositionen, die alles Gegenständliche verlassen haben, dennoch so überzeugend sein können wie etwa ein flämisches Blumenstilleben. Es scheint zwar so, als ob immer Sinnwinke, Anklänge, Anknüpfungsmöglichkeiten an unser gewohntes gegenständliches Sehen im Spiele sind, aber sie lenken nicht auf sich, sondern wenden unseren Blick zu den neuen Ordnungsgefügen hin, die solche Farbkompositionen zu einem Bilde machen, ohne ein Abbild zu sein. So etwas bietet die praktische Lebenswelt unter der Herrschaft ihrer Zwecke nicht. Es scheint bei dem dichterischen Wort ebenso. Es kann freilich niemals aufhören, aus Worten oder Wortrudimenten, die Bedeutungen haben, zu bestehen und die Einheit eines Redeganzen und Sinnganzen zu bilden, auch nicht aus poésie pure. Das Ordnungsgefuge, in das sie eingeformt sind, ist aber nicht mehr aus der gewohnten Sinngerichtetheit grammatischsyntaktischer Rede aufschließbar, die unsere Kommunikationsformen beherrscht. Die extreme Situation der modernen bildenden Kunst scheint mir gleichwohl methodisch hilfreich, um bei der Frage nach der Wahrheit des Kunstwerkes — und in unserem Falle des dichterischen Wortes - die Fehlorientie-
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rang an ihrem kommunikativen Inhalt auszuschließen. Sie bewahrt aber auch vor der umgekehrten Verirrung, als käme es auf das Dargestellte und Gesagte, das man wiedererkennt, überhaupt nicht an. Das am meisten sagende Wort ist doch gewiß nicht ein Wort, das sich als bloßes Klanggebilde aufdrängt und auffällt. Sagen ist nicht bei sich selbst, sondern sagt etwas, und wenn das durch das Sagen Gesagte ganz da ist, dann ist das Wort sagend, ohne das etwas nicht wäre, und doch ist das Wort verklungen und war nicht als es selbst beachtet. Würde die Aufmerksamkeit primär auf die Weise des Sagens gelenkt, auf das Schöngesagtsein, dann ist, wie in aller Schönrednerei, die Seinsmacht des Wortes und die Sachgewalt der Rede verloren. Und doch muß es am Wie des Gesagtseins als solchen liegen, daß ein Text von sich aus spricht, wenn auch nicht so, daß das Formgefüge als solches, in Absehung von der Sinnintention der Rede oder (beim Bild) des Dargestellten, die Aussage wäre. Es ist ja gerade auch der gegenständliche Inhalt, der durch die Sprachkunst oder bildende Kunst zu so absoluter Präsenz erhoben wird, daß aller Bezug auf ein reales Sein oder Gewesensein darüber verblaßt -ja, sogar auch alle Ablenkung auf das Wie des Gesagtseins mitverblaßt. Es scheint so, als ob das Wie des Gesagtseins, das doch ohne Zweifel Kunst vor Unkunst auszeichnet, sich nur zeigt, um sich selbst ganz aufzuheben - und sei es auch nur für ein scheinbar >nichtssagendes<, aber in sich komponiertes Ordnungsgefuge von Bildhaftem oder von Sinn- und Klangelementen, wie in moderner hermetischer Lyrik. Nicht durch das Vordergründige von Form und Inhalt ist das Bildwerk oder das Wort der Dichtung >sagender<: Ars latet arte sua. Die Wissenschaft kann durch ihre Methoden vieles von dem Kunstwerk zum Thema machen, aber nicht das Eine und Ganze seiner > Aussagen —
das Idealisierte, von der Blässe des auf das Allgemeine gerichteten Gedankens angekränkelt. Und wieso hat noch dazu alles, was im dichterischen Wort aufglänzt, an dieser Verklärung ins Wesenhafte teil (das man nur schlecht das >Idealisierte< nennen kann)? Für diese Frage braucht uns die vielfältige Differenzierung dichterischer Rede nicht zu beirren. Sie macht vielmehr die Aufgabe eindeutiger. Nur nach dem, was alle diese Redeweisen zu Texten macht, d. h. ihnen jene >ideale< sprachliche Identität verleiht, die ganz und gar >Text< zu werden vermag, ist gefragt. Die breite Skala von Darstellungsweisen, die sich zu Literaturgattungen mit eigenen Stilforderungen entwickelt haben, kann dabei ganz übergangen werden. Allem ist gemeinsam, daß es >Literatur< ist. Ganz ohne sprachliche Kohärenz ist aber Geschriebenes kaum je. Es gibt wohl nur einen Typ schriftlich fixierter sprachlicher Äußerung, der diese fundamentale sprachliche Identitätsforderung, die dem Text zukommt, kaum noch erfüllt, und das ist ein solcher >Text<, dessen sprachliche Form beliebig austauschbar ist, wie das zuweilen von kunstloser wissenschaftlicher Prosa gelten mag. Man kann statt dessen auch sagen: wo ohne Einbuße Übersetzung - auch durch den Computer möglich ist, weil es die informative Funktion des Textes allein ist, auf die es ankommt. Ein solcher Fall mag ein idealer Grenzfall sein. Er steht auf der Schwelle zur Nicht-Sprache künstlicher Symbolismen, deren Zeichengebrauch ebenso willkürlich ist, wie er den Vorzug (und Nachteil) der Eindeutigkeit hat, insofern er in einer festen Zuordnung zu dem Bezeichneten steht. So ist etwa in den Naturwissenschaften die Publikation von Ergebnissen auf Englisch erfolgt. Aber auch als Grenzfall ist der Fall aufschlußreich, nämlich als der Nullpunkt jenes Kohärenzgrades des einzelnen Wortes, der literarischen Texten offenbar in ausgezeichneter Weise eigen ist. In ihnen hat das Wort die höchste Kohärenz mit dem Ganzen des Textes. Wir wollen das schwierige Problem der differenten Kohärenzgrade innerhalb der Literatur hier nicht weiterverfolgen. Ihre Spannungsbreite wird an der Unübersetzbarkeit deutlich, die im lyrischen Gedicht und insbesondere in der poésie pure kulminiert. Die folgenden Bemerkungen wollen nur die Bindemittel sichtbar machen, welche Texte zu ihrer sprachlichen Identität zusammenbinden, und wollen versuchen, den Schluß auf das >Sein< solcher Texte, d.h. auf die >Wahrheit des Wortes< zu ziehen.
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Bleiben wir beim Wort der Dichtung: Was ist es, was da in allem, was es sagt, zustande kommt, indem die Aussage sich vollzieht? Ich meine: SelbstPräsenz, Sein des >Da<, und nicht das, was es als seinen gegenständlichen Befund ausspricht. Es gibt keine poetischen Gegenstände, es gibt nur eine poetische Darstellung von Gegenständen (so ließe sich ein bekanntes Nietzsche-Wort variieren). Aber das wäre nur ein erster Schritt zur Entfaltung unseres Problems. Denn nun erhebt sich die Frage, wie der poetisch dargestellte Gegenstand durch die Sprache poetisch werden soll. Wenn Aristoteles den überzeugenden Satz ausspricht, die Poesie sei philosophischer als die Historie, und das will sagen, sie enthalte mehr wirkliche Erkenntnis, mehr Wahrheit, da sie die Dinge nicht darstelle, wie sie geschehen seien, sondern wie sie geschehen könnten, so stellt sich die Frage: Wie macht das die Poesie? Indem sie Idealisiertes statt Konkret-Wirkliches darstellt? Aber dann ist doch gerade das Rätsel, warum das Idealisierte im dichterischen Wort wie KonkretWirkliches herauskommt, ja, wirklicher als Wirkliches und nicht, wie sonst
Es handelt sich durchweg um sprachliche Mittel, welche die Sprache an ihr eigenes oder inneres Erklingen zurückbinden, sosehr sie auch im Weggegebensein an das Gesagte aufgeht, und die gerade bewirken, daß diese Weggegebenheit der einzigartig evokativen Wucht verdankt wird, die literarische Texte auszeichnet. Zu diesen Mitteln gehört der Rhythmus, eine reine Gestaltwerdung der Zeit. Er ist auch in der Musik zu Hause, unterliegt aber im Sprachbereich einem eigenen Spannungsverhältnis zum Sinnbezug und ist daher meist nicht auf genaue Wiederholungsformen einzuschränken.
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Es ist schwer zu sagen, was diesen dichterischen Rhythmus so artikuliert, daß man beim Vorlesen ganz genau spürt, wo er verfehlt wird. Grundsätzlich wird zu sagen sein, daß es sich um eine empfindliche Balance handelt, die da zwischen Sinnbewegung und Klangbewegung zu halten ist. Beide Bewegungstendenzen, die sich immer - und manchmal nicht zwanglos - zu einer einzigen Bewegung verschmelzen, haben ihre spezifischen syntaktischen Mittel. Diese Mittel reichen im Klangbereich von den Extremgestalten von Zeitmaß (Metrum) und Reim bis zu Klangfigurationen, die unter jeder Grenze bewußter Bemerkbarkeit bleiben und überdies mehr oder minder dicht von mehr oder minder unausdrücklichen sinnlogischen Bindemitteln durchzogen sind. Was so zustande kommt und worin sich die gestiftete Kohärenz der dichterischen Sprache deutlich darstellt, ist, was ich mit Hölderlin den Ton nennen möchte. Es ist das, was sich im Ganzen des sprachlichen Gebildes durchhält, und vor allem das im Störungsfalle durch den entstehenden Mißton seine durchgehende Determinationskraft beweist. Ein Mißton ist eben nicht nur ein falscher Ton, sondern ein Ton, der die ganze Stimmung beeinträchtigt. Das ist in der Literatur nicht anders als im Leben der menschlichen Gesellschaft. Umgekehrt ist der sich durchhaltende Ton so, daß er die Einheit des Gebildes zusammenhält - mit all den Differenzen und Gradunterschieden von Störungsempfindlichkeit und Kohärenzdichte, die möglich sind. Dieser Ton, der sich durchhält, bindet die Elemente der Rede aneinander. Er schließt das Gebilde als Gebilde derart zusammen, daß es sich gegen andere Rede abhebt (so daß wir z. B. ein Zitat am Ton erkennen können). Vor allem aber hebt es sich gegen jede Art Rede ab, die nicht >Literatur< ist und die ihre Stimmigkeit nicht in sich selbst hat, sondern außerhalb ihrer selbst sucht oder findet.
beweist umgekehrt, wie sehr der geschichtliche Wirklichkeitsstoff auch dort, wo er getreu festgehalten ist, in der dichterischen Formung aufgehoben ist. Das unterscheidet den Fall deutlich von dem künstlerischen Einschlag, den die Darstellungskunst eines Historikers aufweist. In der gleichen Linie liegt der wichtige Fall, wie weit die Begrififlichkeit der Rhetorik für die Bindemittel, die wir charakterisieren, überhaupt anwendbar ist. Die Kunstmittel der Rhetorik sind Kunstmittel der Rede, die als solche ursprünglich nicht >Literatur< ist. Ein Beispiel für die Problematik der Sache ist der Begriff der Metapher. Man hat die poetische Legitimation des Begriffs der Metapher mit Recht bestritten - doch wohl nicht in dem Sinne, daß es nicht in der Dichtung den Gebrauch von Metaphern geben könne (wie jede andere Redefigur der Rhetorik). Gemeint ist vielmehr, daß nicht in der Metapher und dem Metapherngebrauch das Wesen der dichterischen Rede liege. Dichterische Rede wird in der Tat nicht dadurch erreicht, daß man unpoetische R«de durch Metapherngebrauch poetisch macht. Wenn Gottfried Beim gegen den poetisierenden Gebrauch von »wie« im Gedicht wettert, so hat er gewiß nicht die großartigen, höchst ausdrücklich durchgeführten Vergleiche bei Homer damit verkannt. In Wahrheit sind bei Homer Vergleich und Metapher so vom epischen Tone des Erzählers getragen, daß er ganz von einer Welt mit ihnen ist. Die dichterische Ironie, die in der Kontrastspannung Homerischer Gleichnisse liegt, bezeichnet genau die Vollkommenheit ihrer Einformung. So kann man nicht nur im Falle von Kafka, wo der fiktive Realismus der Erzählung es besonders motiviert, sondern vom dichterischen Wort im ganzen sagen, daß es den Charakter einer >absoluten< Metapher hat (Allemann), d. h. gegenüber aller Alltagsrede überhaupt. So hat dichterische Rede den Charakter der Schwebe und der. Getragenheit, der durch die Neutralisation aller Seinssetzung zustande kommt und die Verwandlung ins Gebilde bewirkt. Wenn Husserl dafür den Ausdruck »Neutralitätsmodifikation« gebrauchte und sagt, daß im Falle der Dichtung die eidetische Reduktion »spontan erfüllt sei«, beschreibt das freilich die Sachlage noch immer von der Intentionalität des Bewußtseins aus. Diese ist primär eine positionale. Husserl sieht die Sprache der Dichtung als eine Modifikation der schlichten Seinssetzung. An die Stelle der Objektbeziehung soll die SelbstbezügHchkeit des Wortes treten, die man wohl auch Selbstreferenz nennt. Aber genau hier gilt es umzudenken, und Heideggers Kritik der transzendentalen Phänomenologie und ihres Begriffs von Bewußtsein erweist sich auch hier als produktiv. Was Sprache als Sprache ist und was wir als die Wahrheit des Wortes suchen, ist nicht in der Weise faßbar, daß man von den sogenannten >natürlichen< Formen sprachlicher Kommunikation ausgeht, sondern umgekehrt werden solche Formen der Kommunikation von jener dichterischen Weise des Sprechens aus in ihren eigenen Möglichkeiten faßbar. Die dichterische Sprachbildung setzt die
Grenzfälle sind in kritischen Fragen immer am aufschlußreichsten. So enthält etwa die Weise, wie Pindar in den Kontext seiner Lieder jeweils die Siegerehrung einfügt, ein okkasionelles Moment. Aber die" Macht und Kohärenz der sprachlichen Formung beweist sich gerade darin, daß das dichterische Gebilde diese Widmung voll zu tragen weiß, und ebenso bei Hölderlin, der Pindar in seinen Hymnen folgt. Noch aufschlußreicher als bei solchen okkasionellen Partien in einem Text stellt sich die Frage dort, wo der Text selbst und als ganzer auf außersprachliche Wirklichkeit Bezug nimmt, etwa im historischen Roman oder im historischen Drama. Man kann nicht etwa meinen, daß das echte literarische Kunstwerk solchen Bezug überhaupt zum Verschwinden bringt. Der historische Wirklichkeitsanspruch klingt in 1 dem geformten Text unzweifelhaft mit. Die Sache ist nicht einfach >erfunden(, und noch die Berufung auf die dichterische Freiheit, die man dem Dichter zugesteht, die realen Verhältnisse, wie sie die Quellen zeigen, zu verändern, bestätigt das. Eben daß er sie verändern darf, ja, bis über jede Grenze der echten historischen Verhältnisse hinaus allerhand erdichten darf,
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Auflösung alles »Positivem, konventionell Geltenden, voraus (Hölderlin). Das heißt eben, daß sie Sprachwerdung ist und nicht regelgerechte Anwendung von Wörtern und Mitaufbau von Konvention. Das dichterische Wort stiftet Sinn. Wie das Wort im Gedicht >herauskommt<, ist von einer neuen Sagkraft, die oft im Landläufigsten verborgen liegt. Um ein Beispiel zu geben: Im Deutschen ist >Geräusch< ein ebenso farbloses und kraftloses Wort wie Englisch >noise<, dem man freilich überhaupt nicht anhört, daß es von >nausea<, der Seekrankheit, kommt - und wie lebt es neu in Georges Vers: »Und das Geräusch der ungeheuren See«. Es ist alles andere als eine poetisierende Verwendung, die ein Alltagswort hier erfährt. Es bleibt das alltägliche Wort. Aber es ist hier so in Bezüge von Rhythmus, Metrum, Vokalisation verspannt, daß es plötzlich sagender wird, seine ursprüngliche Sagkraft zurückgewinnt. So wird durch das »ungeheuren« das »Geräusch« so verstärkt, daß es wieder rauscht, und durch die Konsonanz des >R< in »Rausch« und »-heuren« wird beides weiter miteinander verspannt. Diese Verspannungen stellen das Wort gleichsam auf sich selbst und geben es damit für sich selbst frei. Sie lassen es sich mit anderem neu ausspielen - und gewiß nicht, ohne daß nicht auch die Sinnbezüge, ζ. Β. der Blick auf die nordische Meeresküste und ihre südliche Gegenwelt, mitspielten6. Dadurch wird das Wort sagender, und das Gesagte ist wesenhafter denn je >da<. Wie ich in anderem Zusammenhang von der Seinsvalenz des Bildes sprach7, sofern der durch das Bild Dargestellte durch das Bild an Sein gewinnt, so möchte ich auch von einer Seinsvalenz des Wortes sprechen. Freilich ist da ein Unterschied: Es ist nicht so sehr das Gesagte im Sinne des gegenständlichen Inhalts, das an Sein zunimmt, als das Sein im ganzen. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen der Weise, wie die bunte Welt sich ins Bildwerk der Kunst verwandelt, und der Weise, wie das Wort sich wiegt und sich ausspielt. Das Wort ist nicht ein Weltelement, wie Farben oder Formen es sind, die zu neuer Ordnung gefugt werden. Jedes Wort ist vielmehr selber schon Element einer neuen Ordnung und daher potentiell diese Ordnung selbst und ganz. Wo ein Wort erklingt, ist eine ganze Sprache aufgerufen und alles, was sie zu sagen vermag - und sie weiß alles zu sagen. So kommt im >sagenderen< Wort nicht so sehr ein einzelnes Sinnelement der Welt hervor, als vielmehr die durch Sprache erstellte Gegenwärtigkeit des Ganzen. Aristoteles hat das Sehen ausgezeichnet, weil dieser Sinn die meisten Unterschiede aufnehme, aber erst recht und mit noch mehr Recht das Hören, weil das Hören auf dem Weg über die Rede schlechterdings alles Unterscheidbare aufzunehmen vermag. Das universale >Da< des Seins im Wort ist das Wunder
der Sprache, und die höchste Möglichkeit des Sagens besteht darin, sein Vergehen und Entgehen zu binden und die Nähe zum Sein festzumachen. Es ist Nähe, Präsenz, nicht von diesem oder jenem, sondern von der Möglichkeit zu allem. Das ist es, was das dichterische Wort auszeichnet. Es erfüllt sich in sich selbst, weil es das »Halten der Nähe« ist, und es entleert sich zum leeren Wort, wenn es das auf seine Zeichenfunktion reduzierte Wort ist, das eben deshalb der kommunikativ vermittelten Erfüllung bedarf. Von der Selbsterfüllung im dichterischen Wort wird so deutlich, warum Sprache Informationsmittel sein kann, und nicht umgekehrt. Nur ganz im Vorbeigehen sei die schon oben gestreifte Frage noch einmal aufgenommen, ob nicht das mythische Wort, die Sage, und vielleicht auch das philosophische Wort, der spekulative Satz, die Auszeichnung des dichterischen Wortes, das Sagende schlechthin zu sein, in Wahrheit teilen. Diese Überlegung wird uns zu einem letzten Schritt unserer Darlegung fuhren. Das Problem ist deutlich: Sage ist nicht Schrift und nicht Text, wenn sie auch in Dichtung hineinspricht und in ihr Textgestalt annimmt. Aber als Sage scheint sie überhaupt noch nicht in den Festbestand dichterisch-sprachlicher Kohärenz eingegangen, sondern treibt auf einem Weisheitsstrom urtümlicher Herkunft hin und her, der sich aus dem kultischen Gedächtnis speist. Gleichwohl scheint es vernünftig, >Sage< in ausgezeichnetem Sinne »Aussage< zu nennen. Sie ist es freilich nicht in der sprachlichen Organisation ihrer Erzählweise, aber wohl in ihrem Kern, den rufenden Namen, deren geheime Nennkraft das Erzählen der Sage umspült. Denn in den Namen, scheint es, liegt die Sage verborgen, die durch das Erzählen herauskommt. Es paßt dazu die Tatsache, daß der Name jeweils gleichsam der Nullpunkt der Übersetzbarkeit ist, d. h. der Ablösbarkeit des Sagens von dem Gesagten. Aber was ist der Name anderes als die letzte Verdichtung, in der Dasein auf sich hört. Denn das ist der Name, daß einer oder eine auf ihn hört - und der Eigenname als das, was einer ist und den er ausfüllt8. So ist auch das Wort der Dichtung sich selbst erfüllend - und steht so wie vor seiner Selbstentfaltung in der Rede des denkenden Wortes. Das ist die >Syntax< der Poesie, »im Wort< zu sein. Die Kohärenzgrade der Worte bestimmen auch die Stufengrade der Übersetzbarkeit (vgl. I. A. Richards).
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6 Zur Interpretation des George-Gedichts im ganzen siehe >Ich und du die selbe seele< in Ges. Werke Bd. 9, S.245ff. 7 Vgl. »Wahrheit und Methode. (Ges. Werke Bd. 1), S. 139ff.
Wie weit auch die philosophische Aussage solche >Sage< ist, soll hier nicht allgemein erörtert, sondern nur im Hinweis auf den »spekulativen Satz< angedeutet werden. Seine Struktur ist ein Analogon zur Selbstbezüglichkeit, die dem dichterischen Worte eigen ist. Hegel hat das Wesen des spekulativen Satzes tatsächlich ganz analog beschrieben und damit nicht etwa nur seine eigene dialektische Methode im Auge gehabt, sondern die Sprache der 8 Vgl. MAX WARBURG, Zwei Fragen zum Kratylos. Berlin 1929 (Neue Philol. Untersuchungen, H. 5).
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Philosophie überhaupt, sofern sie in ihrer eigentlichen Möglichkeit ist. Er zeigt, daß im spekulativen Satz das natürliche Ausgreifen der Rede auf das Prädikat, das als ein anderes dem Subjekt zugesprochen wird, gleichsam gebrochen wird und einen »Gegenstoß« erleidet9. Das Denken findet im Prädikat nichts anderes, sondern das eigentliche Subjekt selbst. So geht die »Aussage« in sich selbst zurück, und das ist für Hegel philosophische Rede, daß die Anstrengung des Begriffs an ihrer > Aussage< festhält, indem sie die in ihr gelegenen Momente dialektisch herausarbeitet - das heißt aber, sie kommt nur immer tiefer in die > Aussage< hinein. Das gilt nicht nur für Hegel und seine dialektische Methode, daß Philosophie nicht fortschreitet, sondern auf allen ihren Wegen und Umwegen zurückstrebt. Die Grenze der Übersetzbarkeit, die die Verwachsung des Sagens mit dem Gesagten bezeichnet, ist auch hier schnell erreicht. Wir nennen das Sagendsein des Wortes »Halten der Nähe« und sahen, daß nicht dieser oder jener angebbare Inhalt der Rede nahe ist, sondern die Nähe selbst. Das ist nun gewiß nicht auf das Kunstwerk des Wortes beschränkt, sondern gilt von aller Kunst. »The silence of the Chinese vase«, die Stille und die rätselhafte Ruhe, die einem aus jedem überzeugenden künstlerischen Gebilde entgegenweht, besagt, mit Heidegger zu sprechen, daß Wahrheit hier »ins Werk gesetzt ist«, und Heidegger hat uns gezeigt, daß die Wahrheit des Kunstwerkes nicht die Herausgesagtheit des Logos ist, sondern ein Daß und ein Da zugleich, das im Widerstreit des Entbergens und des Bergens steht. Die Frage, die uns hier leitete, war, wie das im Falle des Wortkunstwerks im besonderen aussieht, wo doch die Bergung im »Gebilde« der Kunst das In-der-Sprache-Sein und das Insein des Seins in der Sprache schon voraussetzt. Die Grenze der Übersetzbarkeit bezeichnet genau, wie weit die Bergung im Wort reicht. In seiner letzten Verborgenheit ist es das Bergende. Nur wer in einer Sprache zu Hause ist, vermag die an sich haltende und in sich stehende Aussage des dichterischen Wortes zu erfahren, die noch ein anderes Zuhause-Sein im Urvertrauten gewährt. Aber wer ist in einer Sprache zu Hause? Es scheint, daß das, was die moderne Forschung die »Sprachkompetenz« nennt, mehr das Außerhause-Sein des Sprechens trifft, die Unbeschränktheit des Gebrauchs der Rede - und das ist ihr allbereites Verhallen. Deshalb scheint mir das dichterische Wort gegenüber jedem anderen Kunstwerk noch eine zusätzliche Bestimmung zu haben. Nicht nur die atemberaubende Nähe aller Kunst kommt ihm zu, sondern es muß und es vermag diese Nähe auch zu halten, das heißt, dem Entgänglichen Halt zu geben. Denn Reden ist Sich-Äußern und entgeht sich selbst. Auch das
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Vgl. dazu auch im folgenden den Beitrag >Philosophie und Poesie<, S. 237ff.
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dichterische Wort kann nie aufhören, Rede (oder Stammeln) zu werden, um immer aufs neue seine Sinnmöglichkeiten auszuspielen. Wie anders steht der Ton im System der Töne! Wie stellt sich das Bildwerk oder das Bauwerk an seinen Platz! Im An-sich-Halten und Sich-Verhalten des dichterischen Wortes scheint mir das Wort seinen Bestand zu haben, und das heißt, hier hat es seine höchste Möglichkeit. Das Wort erfüllt sich im dichterischen Wort und geht in das Denken des Denkenden ein.
Zu Poetik und Hermeneutik
6. Zu Poetik und Hermeneutik (1968/1971)
Lyrik als Paradigma der Moderne Die Forschungsgruppe zur Poetik und Hermeneutik hat in einem ersten Bande das Aufkommen des realistischen Romans, ein Ereignis von epochaler Bedeutung, vor allem im Spiegel der Romantheorie und des in ihr sich reflektierenden veränderten Wirklichkeitsbegriffs auf lehrreiche Weise diskutiert. In einem stattlichen zweiten Band wird die Lyrik als Paradigma der Moderne behandelt. Wieder ist es ein deutlich sich abzeichnendes Ereignis, das der hermeneutischen Theorie und Praxis die Aufgabe stellt, an Schärfe der Abhebung kaum hinter dem Wandel zurückbleibend, den der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert im Spiegel des Romans darstellte. - Diesmal ist es die Veränderung des lyrischen Gedichtes, das aus der abendländischen Kunsttradition in den letzten hundert Jahren mit solcher Schroffheit herausdrängt, daß der Interpret an die Grenze des hermeneutischen Nihilismus hinausgetrieben wird. Ist das >moderne< lyrische Gedicht überhaupt noch zu verstehen - oder besser: ist es noch eindeutig zu verstehen? Oder steht es verschiedenen gleichberechtigten Ausdeutungen offen, und das so, daß dieselben nebeneinander stehen, ja, ineinander verschränkt sind und eben dies hermeneutische Schillern >meinen Denn nicht das, was am Ende jedem Kunstwerk gegenüber gilt, daß seine Auslegung unendlich, der Maßstab angemessener Deutung ungewiß und alle Interpretation einseitig und überholbar ist, ist hier der Punkt. Es geht vielmehr um die Frage, ob man so überhaupt vorgehen darf, daß man einen Maßstab der Angemessenheit sucht oder voraussetzt, oder ob die hermetische Lyrik der Moderne eine Inkonsistenz ihres >Sinnes< anstrebt, die die Auslegung zu einem völlig neuartigen Geschäft macht. Es gehört zu dem besonderen Reiz dieses Bandes, daß er - wie das eben bei lyrischer Poesie am ehesten möglich ist - die theoretische Diskussion an einem praktischen Exempel zu erproben trachtet. Die gemeinsame Interpretation des Gedichts >Arbre< von Apollinaire bringt die theoretischen Antizipationen, die die Interpreten bei ihrer hermeneutischen Praxis leiten, glänzend zum Vorschein. Zwei Fronten zeichnen sich ab: die einen glauben an
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die unverwandelte Aufgabe von Verstehen und Auslegen und sehen nur ihre Erfüllbarkeit skeptisch an, die anderen gehen so weit, die >Vieldeutigkeit< zum methodischen Grundsatz zu erheben. Der theoretische Beitrag von Hans Blumenberg über die »Poetisierung der Sprache< würde dem nicht widersprechen, wenn man das ohnehin Erforderliche sich zugeben läßt, daß diese Beschreibung von >Poetisierung< durch >Vervieldeutlichung< den Extremfall der Moderne und die Sprachnivellierung, die sie vorfindet, allein im Auge hat. Indessen läßt sich auch da noch zweifeln, ob der Ausgangspunkt von der abgeschliffenen Verkehrssprache des täglichen Lebens und die >poetisierende< Erhebung darüber je an das >Wort< der lyrischen Poesie heranführen können. Blumenbergs Beschreibung scheint mir zu verkennen, daß die Tendenz auf Eindeutigkeit, die er der >Wissenschaftssprache< zuschreibt, überhaupt nicht eine >Sprache< betrifft, sondern den winzigen Teil eines Vokabulars, den man Terminologie nennt. Das >Grenzereignis< der Unverständlichkeit, das er als Gegenpol beschreibt, ist von dem Fiktionsbegriff einer eindeutigen Sprache her konzipiert. Aber ist das wirklich das >Grenzereignis Hat es nicht seine wahre Stelle am Ende doch bei dem, was Valéry mit seiner Beschreibung der Sprache als der Scheidemünze des Alltags meint? In dieser Funktion nähert sie sich dem Limes eines >sprachlosen< Zeichen- und Gebärdenaustauschs und ist kaum noch >Sprache Es scheint mir nun phänomenologisch einleuchtend: Wenn man von der >Tausch-sprache< ausgeht, deren Funktion mitgetragen ist von einem ganzen Bündel von Verständigungsfaktoren, bleibt das eigentliche Wesen der Sprache unterbestimmt. Gewiß heißt das nicht, daß man nun mit Vico die Poesie als die ursprüngliche Sprache einfach voraussetzen darf, ohne in einen umgekehrten unphänomenologischen Dogmatismus zu verfallen. Aber es ist methodisch geboten, solche Funktionsweisen der Sprache aufzusuchen, die nicht in bloßen Verhaltensbezügen und nicht im bloßen Übermitteln von Informationen aufzugehen vermögen, z. B. Fluch und Segen, vielleicht auch die Anrufung (nicht nur die des Gebets, aber doch als eine, die einem Unsichtbaren gilt - das Sichtbare ist auch durch den Wink erreichbar). Wo Sprache so ist, ist sie von der Verweisungsfunktion auf etwas, das auch auf andere Weise präsentierbar ist, gelöst und zeigt sich damit in ihrer Eigenfunktion — und mir scheint, hier liegt der Zugang zur poetischen Sprache. Es mag alles richtig sein, was man im Vergleich zur Alltagssprache an ihr hervorhebt, insbesondere ihre Vieldeutigkeit. Aber nicht dadurch wird sie poetisch, daß sie bestimmte >Unreinheiten< des Alltags abstreift und ihre pragmatische Eindeutigkeit aufgibt. Es ist umgekehrt. Weil sie poetisch ist, tut sie das, d. h. weil sie Selbstpräsentation übt, macht sie die Polyvalenz geltend, die an sich zur Sprache gehört. Gerade das moderne Gedicht ist nur von hier aus angemessen zu beschreiben. Denn >prosaisch< bis zum Reportagefetzen kann das Wortmaterial eines modernen
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lyrischen Gedichtes wahrhaftig sein und manchmal von einer geradezu rüden Eindeutigkeit - und doch >steht< am Ende ein sprachliches Gebilde in sich selbst, unnachahmbar, mit sich übereinstimmend, dem Verstehen eine unausschöpfbare, aber bei aller Polyvalenz eindeutige Aufgabe stellend. Wenn man an das Gedicht von Apollinaire denkt, so ist es freilich zum Verzweifeln, daß z. B. nicht einmal klar scheint, ob der Freund, der Baum oder vielleicht ein >alter ego< mit >tuc angeredet wird. Daß man die Kompositionselemente - die Lyon und Leipzig, Transsibirien und den >schönen Neger< einschließen - nicht von außen her >verstehen< soll, bedeutet nicht, daß das Gedicht so vieldeutig ist, wie es in den vorgelegten Deutungsbeiträgen erscheint. Mir fehlt in dieser Diskussion der Gegenversuch zu all diesen differenten Beiträgen, nämlich: das, worüber man nicht uneinig war, eigens herauszustellen. Das hat m.E. am ehesten Henrichs Bemerkung geleistet ohne daß deswegen dem »Prima vista<-Eindruck ein hermeneutischer Primat einzuräumen ist. Jauß' kritische Wendung: als ob es sich um eine >klassische< Kunstform handelte - und wenn es sich darum handelte? Oder besser: auch wenn die Flucht aus dem Vorgeformten mit dem Grenzereignis der Unverständlichkeit ihr Spiel zu treiben beginnt und wenn das Zwielicht der Deutungsmöglichkeiten barocke Effekte anstrebt, ist das wirklich >der< Fall der modernen Lyrik und ließe deren Wesen erkennen? Das wäre genauso, wie wenn man Vasarely für >die< moderne Malerei erklärte. Und selbst dann: der Reiz solcher verunsichernder Überschneidungsphänomene, wie sie bei Vasarely das Alphabet bilden, macht als solcher noch kein Bild. Sonst böte ein Lehrbuch der Gestaltpsychologie einen Kunstgenuß. Die hermeneutische Aufgabe gegenüber Bild und Gedicht, die mit solchen Reizeffekten arbeiten, besteht eben gar nicht in der deskriptiven Erfassung dieser Reize, sondern in der deskriptiven Auslegung dessen, was ein mit solchen Reizwirkungen arbeitendes Bild zum Bild und das Gedicht zum Gedicht'macht. Das scheint mir keine >klassische< Voraussetzung, die nicht mehr gilt, sondern die Implikation der Sinnerwartung, die mit jedem Sprachgebilde, ja mit jedem Anspruch auf >Kunst< wie eh und je gegeben ist. W. Preisendanz' Trakl-Interpretation mischt ein anderes Problem ein, das ähnlich liegt: die Variation und Neuverdichtung von dichterisch Vorgeformtem, die bis zum Zitat als Element neuer Gestaltung gehen kann (E. Pound). Hier wird man zustimmen, daß >Bedeutung< nicht auf ein Gemeintes hinausdeutet, und festhalten, daß die Eindeutung des neuen >Gebildes< durch solche Vorformungen nicht beeinträchtigt wird. Und gerade Preisendanz' Nachweis des Einflusses Heines auf den frühen Trakl - und die nicht mit Namen genannte, aber geradezu überdeutliche Vorprägung eines Gedichtes wie >Verfall< (1913) durch den >Ton< Stefan Georges - lassen den späteren eigenen Ton Trakls zur Abhebung gelangen, in dem alles Vorgeprägte, auch die
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Motivik des Hainbundes, seine genaue Stelle empfängt. Die Fülle des »Rekurrenten< unterstreicht jedenfalls, wie wenig es hier um >Poetisierung< der >unpoetisch< - auf Eindeutigkeit gerichteten Sprache geht, sondern daß es sich um eine neue Eindeutigkeit handelt, die das dichterische Wort gewinnt. Ich kann die lehrreichen Beiträge zum »dunklen Stil< der Moderne, die der Band bringt, allen doktrinfrommen Versicherungen zum Trotz, die das Unvergleichliche der Moderne gegen das Andere, Ältere, Traditionelle abheben wollen, in diesem Punkte nur mit Zweifel lesen. Das Problem der Moderne scheint mir weit eher ein Problem der Ästhetik als ein Problem der Kunst selber. Die eigentliche Problematik einer Ästhetik der Moderne, wie sie sich dieser Gruppe von vorwiegend an der Poesie orientierten Forschern darstellt, sehe ich in der von weither kommenden Führungsstellung begründet, die die bildende Kunst im ästhetischen Denken der Neuzeit einnimmt und die der Poetik schwer einzulösende Auflagen macht. Es ist die griechische Okularität und der Gebrauch, den Plato von den Begriffen >Eidos< und >Mimesis< macht, der das gesamte ästhetische Denken beherrscht. Nun ist aber Sprache nicht in der gleichen Weise »Material· wie Marmor und Bronze oder Zeichnung und Farbe, aus denen die optische Welt wie die Bildwelt der Kunst sich aufbaut. Gewiß ist auch dies nicht ein »totes« Material. Denn es gibt eine Geschichte des Sehens und der ihm zugeordneten optischen Reizwerte und Bildwirkungen, und mit dieser Geschichtlichkeit auch den Rhythmus von Abnutzung und Kontrastempfindlichkeit, der das künstlerische Schaffen wie die Geschichte des Geschmacks durchzieht. Aber das optische »Material· läßt sich gleichwohl ganz und gar zum Material bildnerischer Komposition machen. In Malerei und Plastik ließ sich die Vorgeformtheit durch die Inhaltsgebundenheit der Bildtradition völlig auflösen oder wenigstens ganz zum Verschweben bringen, bis zur beliebig gewordenen Bild-Unterschrift der Moderne. Eine entsprechend weite Ablösung der Sprache von ihren gegenstandsbedeutenden Bezügen scheint dagegen nicht möglich. Die Komposition aus Bedeutungsfetzen, die das dunkle Gedicht der Moderne charakterisiert, ist zwar auch so etwas wie ein Verschweben aller gegenständlichen Bedeutungen, und gewiß reicht die Gemeinsamkeit aller Kunstarten weit - weiter, als wir je heute erkennen. Aber es geht um ästhetische Theorie und die Unangemessenheit, die der Begriff des Materials und seiner Formung dort erhält, wo diese Formung immer schon im Gange ist, im Redegebrauch und in der Allintegration alles Gesagten und aller Sagweisen in den >Geist< der Sprache. Hier spielt die Bedeutung des Vorgeformten eine fundamentale Rolle. Mag Kunst sonst auch ohne den Begriff der Mimesis deutbar und denkbar sein - Sprache ist es gewiß nicht. Wir lernen sprechen durch Nachsprechen und werden aus dieser Lehre unser Leben lang nicht entlassen. Daher scheint es mir nicht nur ein Rhythmus von Abnutzung
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und Kontrastempfänglichkeit, der das Dichten durchwaltet, diese ständig sich mehrende Exempel-Sammlung von Sprache, die im Diktat der Dichter angelegt wird, sondern ineins damit eine beständige Bewegung wachsender Vertraulichkeit und des Zuhauseseins. Obscuritas ist selbst nichts anderes als die Einladung zu solcher Einhausung. Offenbar hat Sprache einen anderen, innerlicheren Bezug zu Memoria als alles Optische. Zwar zeigt auch ein lang betrachtetes Bild, wenn man es nach Jahren oder Jahrzehnten unerwartet wiedersieht, eine mächtige Vertrautheit, genau wie das Wiedersehen mit einem Menschen, mit einer Stadt, mit einer Landschaft. Aber das alles ist Wiedersehen. Dagegen ist das Gedicht und das sprachliche Kunstwerk überhaupt, als der gehörte oder gelesene Text, immer schon beim ersten Hören oder Lesen so etwas wie Wiedererinnerung für jedes einzelne Wort. Das will sagen, das Wort ist immer schon in den Schatzhäusern der Memoria zu Hause und hat dort eine Stelle, die es nie verläßt: die Stelle des Denkens. Poesie ist als Kunst des Wortes auf eine andere Weise Kunst als die anderen Künste, und Poetik ist in einem anderen Sinne Kunstlehre. Poesie, auch die unverständlichste, ist im Begreifen und für ein Begreifen da. Darauf beruht der enge Bezug von Poesie und Philosophie1. Er scheint mir für die Ästhetik noch längst nicht genügend ausgewertet. Er wird mindestens im Gebrauch der Begriffe nicht fruchtbar. Das gilt auch und gerade für Hegels Ästhetik. Ihr hat Henrich einen höchst anregenden und originellen Beitrag gewidmet, in dem Bestreben, Hegels Ästhetik auf die Moderne anwendbar zu machen oder besser: von der Moderne aus umzudenken. Henrich geht von dem Doppelmotiv der Hegeischen Ästhetik aus, einerseits den Vergangenheitscharakter der Kunst nur in dem Sinne zu lehren, daß die Kunst nicht mehr die höchste Darstellung der Wahrheit sei, da diese im christlichen Glauben und Denken ihre eigentliche Heimat gefunden habe. Das bedeute aber andererseits, daß Kunst etwas anderes werde, nachdem die Versöhnung von Sein und Selbst im spekulativen Begriffe geschehen" sei. Im Besitze der vollendeten Selbstgewißheit des Geistes sei die Kunst notwendig etwas Neues: die Selbstbewegung und der Selbstgenuß des Geistes ergehe sich in der spielenden Darstellung im Medium der Anschauung. Das sei die Gegenwart und Zukunft der Kunst. Dieses prognostische Motiv liege auch in Hegels Ästhetik und sei eines Ausbaus fähig, der nicht Rücken oder Overbeck, sondern die heutige >Moderne< zu begreifen gestatte. Die Moderne sei in einem bedingten Sinne wirklich etwas Neues gegenüber der klassischen Tradition der Kunst - wie ja auch die Philosophie nicht mehr dieselbe sein könne nach Hegels Vollendung des spekulativen Idealismus. Die Moderne sei aber bei aller Neuheit die klare Erfüllung dessen, was seit Hegels und Goethes Tod angehoben habe.
Um das aus Hegels Ansatz zu gewinnen, prägt Henrich den Begriff der »unvordenklichen Vermittlung von Sein und Selbst«. Aus ihm folgert er den partialen Charakter der modernen Kunst. In ihr vereinige sich der Darstellungsanspruch der platonischen Tradition - allerdings so, daß nicht mehr das Wesen zur Erscheinung komme - mit dem reinen Vollzugscharakter des Schaffens, an dem sich die positivistische Ästhetik orientiert habe. Als unvordenkliche Einheit von Selbst und Sein nimmt sie weder die Selbstbewegung des Selbst noch eine vorfindliche Wirklichkeit beruhigt in Anspruch, sondern deckt die Problematik auf, die das Selbstsein sich selber ist. Das wird an modernen Gestaltungsformen illustrierbar, etwa der Erzählung, die rein als innere Bewegung der Subjektivität vor sich geht, ohne den »Weg über die zweite Wirklichkeit der Dinge«, oder umgekehrt an der Tendenz, alle Wirklichkeit ins Selbst zurückzuführen, wie ζ. Β. in den Collagen. Die Reflektiertheit wird eine Reflektiertheit des Kunstwerkes selber, indem es sich selbst zum Thema hat. Nun geht Henrich nicht so weit, die neue Potentialität, die in das Kunstwerk der Moderne eingedrungen ist, von allen Formbedingungen loszusprechen, die von jeher und überall die künstlerische Qualität ausmachen. Er nennt als solche beständigen Konnotationen des Kunstcharakters des Werkes: Ruhe, Ordnung, Gefugtsein der Dinge zur Einheit von Leben und Sinn, Harmonie, Versöhnung. Aber die Kunst der Moderne gelte der Anstrengung der Form gegen sich selbst. »Formbrüche werden so zum Kompositionsprinzip« (30). Das leuchtet deskriptiv ein. Trotzdem muß ich gestehen, daß die theoretische Bedeutung dieser modernen Formen von Kunst mir nicht ganz so groß erscheint. Am Ende sind die Elemente einer jeden künstlerischen Schöpfung immer so geplant gewesen, daß sie eine Reizwirkung ausüben sollten, und alle Reizwirkung untersteht gewissen Gesetzen der Abstumpfung, des Kontrastes, des Anklangs, der Gesuchtheit und Erlesenheit. -Kurz, die Wandelbarkeit der Reizvalenz gehört zum Wesen des Reizes. So ist die Moderne von der Besonderheit der Mittel her, durch die sie ihre Reizwirkung erzielt, recht gut beschreibbar. Aber mögen dieselben noch so wenig herkömmlich sein - wie daraus Kunst wird und was Kunst ist, scheint mir nicht anders als ehedem. Preisendanz' besorgte Frage, was aus der älteren Kunst werde, scheint mir nur allzu berechtigt, wenn man die hier vertretene Theorie der Moderne hört - und ist doch in Wahrheit gegenstandslos. Auch Henrich hat den Begriff der Moderne angesichts dieser Frage ins Unbestimmt-Unendliche erweitern müssen.
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Siehe dazu im vorangehenden >Dichten und Deuten< (Nr. 3).
So bin ich im Zweifel, ob Henrich nicht besser getan hätte, an Schelling anzuknüpfen, dem er jedenfalls die Rede von der Unvordenklichkeit verdankt und der in der Kunst das Organon der Philosophie sah. Hegels höchst beiläufige Prognose der zeitgenössischen Kunst scheint mir jedenfalls ein zu
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schmaler Ausgangspunkt für eine Aktualisierung Hegels . Das Schwergewicht von Hegels Ästhetik liegt im Begreifen der Kunst als einer Gestalt der Wahrheit - oder besser: als einer Gestaltenfolge, d. h. als Differenzierung und Integration der »Weltanschauungsweisen« in einer philosophischen Geschichte der Kunst. Die Lehre von der Vergangenheit der Kunst ist keine historische These, sondern eine philosophische Wahrheit, deren begriffliche Implikationen man entfalten sollte. Dabei scheint sich mir ein Gesichtspunkt zu ergeben, der besser geeignet ist, Hegels Ästhetik über sich selbst hinaus zu steigern und für die Moderne zu aktualisieren. Ich meine die bei Hegel anklingende, aber nicht wirklich durchgeführte Beziehung von Poesie und Philosophie. Offenbar gilt für die Poesie der Vergangenheitscharakter der Kunst nicht ganz im selben Sinn wie für die griechische Skulptur. Die Argumente des Klassizismus treffen auf sie nicht recht zu. Hegel hat immer die Kunstreligion der Griechen in erster Linie im Auge, indem er an Winckelmann denkt, obwohl doch nach seiner eigenen Theorie Malerei, Musik und Poesie - in dieser Folge - den Vorrang erhalten. Man kann sich fragen, ob das den Vergangenheitscharakter dieser Künste und vor allem den der Poesie nicht modifizieren muß. Wenn man anerkennt, daß der Begriff und damit das philosophische Wissen der Maßstab aller Wahrheit ist, so liegt darin, daß das Wort der Dichtung kraft seiner impliziten Begriölichkeit dem philosophischen Begriff besonders nahe ist. Die Hierarchie der Künste ist keine beliebige. Sie begründet auf ihre Weise den Maßstab für Wahrheit mit, der hier gilt. Das wird.bei Hegel greifbar genug. Wenn es auch meist Shakespeare ist, an dem sich für ihn die Wahrheit der Dichtkunst dokumentiert - auch als »objektiver Humor«, dessen Bedeutung Henrich so stark anhebt - , so bleibt doch die Nähe von Wort und Begriff eine allgemeine Auszeichnung der Poesie. Wie hier mit einem geistigen Zeichenmaterial von verschwebender Sinnlichkeit gearbeitet wird, ohne daß deswegen auch die Bedeutungen verschweben, wäre wert, einmal als Gegenmodell gegen die Bildbegrifflichkeit, die die Ästhetik beherrscht, ausgewertet zu werden. Besonders interessant bildet sich in der Diskussion die Frage ab, die den theoretischen Avantgardismus der romantischen Poetik und die praktische Rückständigkeit der romantischen Poesie angeht. Aber auch hier kann ich den Zweifel nicht unterdrücken, ob nicht die offene Virtualität begrifflicher Aussagen einen Effekt erzielt, der zu Unrecht als ein Vorsprung der Theorie wirkt. Gemeintes ist immer unbestimmt und daher mannigfacher Ausfüllung fähig - das Ausgeführte dagegen ist fixiert und damit dem Veralten stärker preisgegeben. 2 Vgl. dazu die beiden Hegel-Beiträge dieses Bandes (Nr. 18 und 19), die die These vom Vergangenheitscharakter der Kunst in ihrem Kontext thematisieren.
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Die nicht mehr schönen Künste Der Titel >Die nicht mehr schönen Künste< ist ein Programm, ja eine Provokation. Es spricht sich in ihm die Tendenz aus, den Begriff des Ästhetischen und den herkömmlichen Begriff der Kunst aufzugeben, um den Phänomenen der Gegenwart eine neue Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. Die nicht mehr schönen Künste: der Auftakt des Bandes ist von der an seinem Ende sichtbaren Tendenz denkbar weit entfernt. Zwei gelehrte Referate von Gerhard Müller und Manfred Fuhrmann gehen dem Häßlichen, insbesondere dem Ekelhaften und dem Grausigen, in der antiken Literatur nach. In der Diskussion wird die Tendenz deutlich, die ästhetische Integration, die diese Grenzphänomene des Ästhetischen auf die Mitte des Kunstwerks bezieht, nach Kräften abzubauen und eine Art Vorstufe zu den nicht mehr schönen Künsten zu gewinnen. In Wahrheit ist es für die Klassiker, für Homer, Aischylos, Sophokles, höchst bemerkenswert, wie groß der Spielraum ist, innerhalb dessen der Kanon des Schönen, Vornehmen, Heldischen oder Göttlichen durch das Häßliche, das Grausame, das Grausige grundiert und variiert werden kann. Noch viel mehr gilt das bekanntlich von der Alten Komödie, die aus dem Häßlichsten eine göttliche Heiterkeit hervorzauberte. Offenkundig ist es für das Verständnis dieser Phänomene notwendig, die platonisch-aristotelische Moralisierung (und was ihr durch die christliche Überlieferung hindurch entspricht) abzustreifen. Das war insbesondere die Forderung von Gerhard Müller, und die Diskussion ging entsprechend um den >theologischen< Sinn der griechischen Dichtung und die Frage, wie es zur Freisetzung des Häßlich-Realistischen kommt. Die genauere theologische Deutung des Problems blieb reichlich kontrovers, vor allem zwischen Blumenberg und Taubes. - Der zweite Beitrag, gediegene Einzelstudien zur silbernen Latinität, die Manfred Fuhrmann vorlegte, gab wohlabgewogene Feststellungen über das Ekelhafte und Grauenhafte, wie es vor allem in der römischen Literatur begegnet. Für das Problem der nicht mehr schönen Künste scheint mir das gar nichts herzugeben. Es kann nur ein eingefleischter Klassizismus und eine entsprechende Deformation des Christlichen sein, die hier Schwierigkeiten entdecken. Formuliert man die Alternative: entweder ist das alles >theologisch< bzw. sozialkritisch gemeint - ζ. Β. Lucans >Pharsalia< oder die christlichen Märtyrergreuel - , oder es ist ästhetisch integriert, so gibt man jede vernünftige Einsicht aus der Hand. Offenbar ist es selbst für einen historisch geschulten Verstand nicht so leicht, die eigenen wohlanständigen Begriffe zu suspendieren und das Bäuerlich-Selbstverständliche mit all seinen Metamorphosen so selbstverständlich zu finden, wie es ist. Mit dem aktuellen Thema >Die nicht mehr schönen Künste< hat das alles wenig zu tun.
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Das zweite Thema war die Illegitimität des Lehrgedichts. Fabian stellt höchst überzeugend dar, wie die aristotelische Verweisung des Empedokles aus der Gattung des Epischen und wie der aristotelische Mimesis-Begriff die poetische Anerkennung des Lehrgedichts erschweren und wie die Theorie hier erst mit der Renaissance-Poetik ins Freie gelangt. Man darf wohl folgenden Schluß ziehen: Mag das Lehrgedicht auch ein Grenzphänomen des Ästhetischen sein, so ist es doch von großer Beliebtheit und verweist dadurch indirekt darauf, daß >Kunst< gar nicht so >rein< ästhetisch ist, auch wenn sie noch >schöne Kunst< ist. Ein bevorzugtes philosophisches Interesse darf das dritte Thema beanspruchen: das Ästhetische als Grenzerscheinung der Historie. Die Vorlage Kracauers diskutiert die Problematik der allgemeinen Geschichte gegenüber der Tatsache, daß >spezielle< Geschichtsdarstellungen den Ansprüchen gelehrter Forschung besser entsprechen. Im Gegensatz zu der bekannten Croceschen Kritik an dem Geschichtsanspruch aller Geschichte, die speziell und nicht Universalgeschichte ist, verfolgt Kracauer die genau umgekehrte Perspektive. Weil im engeren Fragebereich einer >speziellen< Geschichte die Determinanten eher überschaubar und nachprüfbar sind, erscheint diese als wissenschaftlich legitim, während die allgemeine Geschichte sich als eine bloße ästhetisch aufgehöhte Erzählung darstellt. Aber hat Croce am Ende nicht doch recht? Ist nicht, was uns bei einer speziellen Geschichte, die ein partikulares Thema verfolgt, überhaupt von »Geschichtet reden läßt, doch am Ende weniger die >logische< Datenfolge einer Entwicklung, z.B. der eines Stils, als eben das zeitliche Moment darin, um dessentwillen sie, ob >general< oder >particular<, ohne das erzählende »Und nun ...« nicht auskommt? Es scheint mir eine seltsame Folge der positivistischen Wissenschaftstheorie, daß hier das essentiell Geschichtliche ganz ins Ästhetische abgedrängt wird. Doch sei ausdrücklich gerühmt, daß Kracauer bei aller Problematisierung der >general history< nicht blind dagegen ist, daß sie eine legitime Bedeutung für >non historical ends< besitzt. Nur freilich: Was wären >historical ends >Means
Historismus die völlige Verbannung des Zufalls zuschreibt. Hier scheint mir eine ehedem gewonnene, vor allem von Erich Rothacker zur Geltung gebrachte Erkenntnis über die geheime Verwandtschaft zwischen den feindlichen Brüdern Hegel und die historische Schule zu einer falschen Selbstverständlichkeit zugespitzt. Es hegt wohl weniger an den >Vorlagen< als an der Fragestellung selber, daß man aus der Diskussion über die Rolle des Zufalls in der Geschichte nicht recht klug wird. Was >Zufall< ist, wird hier wie eine klare Entität behandelt. Der >reine Zufall« wird auf so absurde Weise allem Verursachten entgegengesetzt, daß er dann natürlich aus dieser künstlichen Reinigkeit befreit werden muß. So wird er bei Herodot als bloße poetische Ausschmückung anerkannt oder weil er nur in bestimmter Perspektive Zufall sei und >eigentlich< die Dinge doch recht wohlverständliche Ursachen hätten oder gar: daß die Dinge auch ohne den Zufall so gekommen wären, wie es zu erwarten war. Hier hätte die Erinnerung an die Analyse des Zufalls in der Aristotelischen >Physik< vor einem solchen abstrakten Zufallsbegriff warnen sollen, der weder eine ästhetische noch eine geschichtliche Realität hat, sondern allein die gespenstische einer schlechten und unwirklichen Abstraktion. Zufall wird immer nur in ursächlich verständlichen Zusammenhängen, als eine Art akzidenteller Ursache, gedacht werden können. In welchem Sinne zeigt sich nun hier das Ästhetische als Grenzerscheinung der Historie? Es ist doch wohl die alte Kritik, die schon Graf Yorck an Ranke geübt hat, daß ihm »nichts zu Wirklichkeiten zu werden vermochte«. Das tritt im Gegensatz zu der moralischen Paradigmatik, die im Zeitalter der Aufklärung den >Geschichten< zukam, als das Eigene des Historismus heraus, daß »die Geschichte« zwar von allen ideologischen Endgedanken, die der kritischen Auflösung verfallen sind, befreit wird - so daß jede Erscheinung und Epoche unmittelbar zu Gott ist - und daß eben damit die Einheit der Geschichte nur mehr eine ästhetische Konsistenz behält. Das bedeutet aber, daß die essentielle Inkonsistenz, die dem Lauf der Geschichte zukommt, ästhetisch verdeckt wird. Jauß sagt in der Diskussion: »Hier erweist es sich, daß - entgegen der ursprünglichen Fragestellung des Kolloquiums nicht der Zufall (fortuna) im historiographischen Kontext, sondern gerade das »Ausräumenjeder Zufälligkeit« als ästhetische Grenzerfahrung im Historischen angesehen werden muß.« Dieser Satz legt die falsche Abstraktheit des rahmenbildenden Begriffs des Zufalls bloß: Ohne die teleologischen Vorbegriffe des Verstehens - den »Lauf der Dinge«, das »Heil«, den »Endzustand«, die Entfaltung der kreatürlichen Möglichkeiten, die Kontinuität des Bewahrens, oder auch die »klassenlose Gesellschaft« oder den Staat ohne Herrschaft - hat die ganze Rede vom Zufall überhaupt keinen bestimmten Sinn mehr, und »Zufall« hat jedenfalls nicht den, das Ursachlose schlechthin zu sein.
Die Vorlage Kracauers wird eingerahmt von zwei Beiträgen von Historikern. Christian Meier schildert Herodots >religiöse< Gelassenheit, mit der er im großen Geschehen der Perserkriege sowohl der Notwendigkeit als dem Zufall ihr Recht läßt, und nennt das »Deckungslücken im historischen Haushalt«. Aber was heißt hier eigentlich >religiös Taubes hat fur Herodot mit Recht Zweifel an der Angemessenheit dieses Begriffs geäußert. - Reinhard Koselleck prüft (an dem nicht ganz so großen Gegenstand des Historikers Archenholtz) den Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung - mit feinem Sinn für den Wandel vom 18. zum 19. Jahrhundert. Etwas verblüffend ist, daß er für den Historismus des 19. Jahrhunderts nur an die Geschichtstheologie (Hegels und Droysens) denkt und demzufolge diesem
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Was man den weiteren Verhandlungen entnimmt, vor allem, wenn man die Beiträge von Jauß und Taubes zur christlichen Ästhetik oder die Beiträge von Hempel, Tschizewskij, Rotermund, Dieckmann, Maurer liest, scheint mir in der Tat der eigentlichen Frage des Kolloquiums nicht recht zu entsprechen. Die nicht mehr schönen Künste von heute werden aus der Geschichte der abendländischen Kunst, wie sie uns hier vor Augen gerückt wird, nicht verständlicher. Was überall siegreich bewiesen wird, ist lediglich, daß es allerhand Kunst und Kunsttheorie gab, die außerhalb eines klassizistischen Schönheitskanons beheimatet ist. Aber wer hat das eigentlich bezweifelt? Auerbachs Mimesis-Forschung ist offenbar auf fruchtbaren Boden gefallen. Indessen scheint mir die Problematik der nicht mehr schönen Künste von heute dadurch nicht recht geklärt. Überdies ist die begriffliche Basis oft recht schwankend und läßt einen im unklaren, was eigentlich hier der Begriff des Ästhetischen meint. So etwa bei der Erörterung der mittelalterlichen Obszönität. Das »reine Wesen des Obszönen« kommt mir abermals wie ein Begriffspopanz vor, den es nicht gibt. Die Frage »Läßt sich das Obszöne ästhetisieren?« scheint mir merkwürdig. Ist nicht das Obszöne als Inhalt der Aussage - und erst recht der obszöne Witz - schon immer ästhetisch? Andere Beiträge, die folgen, kommen der angestrebten Aktualität wohl näher, insbesondere die Beiträge von Preisendanz, Marquard, Iser und Imdahl. So sind Heines >Reisebriefe< in der Tat ein neues »Genre«, in dem sich »keine integrale Einheit einer Kunstwelt ausbreitet«, so sehr sucht Heine sein politisches Wollen in seine Schriftstellerei einzuweben. Preisendanz' Analyse dieser Einwebungen macht indirekt deutlich, welche Höhe der Kunst Heine dabei erreicht. Preisendanz tut m. E. recht, sich hier gegen die Rede von Grenzphänomenen des Ästhetischen zu wehren. Wo soll eigentlich das Kernland des Ästhetischen liegen? Im französischen Klassizismus? Mir scheint, am ehesten in dem, was Hegel die >Kunstreligion< nannte, d.h. bei den Griechen, die die volle Äußerlichkeit und Sichtbarkeit des Göttlichen erreicht hatten. Man mag es auch Darstellung der >heilen Welt< nennen. Aber für die Hegeische Theorie der romantischen Kunst, die »die Äußerlichkeit sich frei ergehen« läßt (und das heißt: die kein Ideal kennt), ist damit eben der Vergangenheitscharakter der Kunst gegeben. Es scheint mir nicht berechtigt, den Begriff der >nicht mehr schönen Künste< von dem einen Gesichtspunkt der Auflösung der Genieästhetik aus festzulegen. Entweder ist mit Hegels Parole vom Vergangenheitscharakter der Kunst das Ende der klassischen Kunstreligion gemeint - und das entspricht dem stofflichen Umkreis der hier vorgelegten Studien -, oder es ist die >Moderne< der nachhegelschen Epoche gemeint. Dann aber ist Hegels Theorie der romantischen Kunstform nicht mehr der rechte Rahmen. Marquard (wie die mei-
sten, die sich hier auf Hegel berufen) nimmt die grundsätzliche Bedeutung von Hegels Satz, der die gesamte nachklassische Kunst mitmeint, nicht ernst genug.
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7. Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit (1971)
Der klassische Titel für die Überlegungen, die wir dieser Frage widmen, stammt von Goethe, und gewiß ist schon bei Goethe das Verhältnis der beiden Begriffe >Wahrheit< und >Dichtung< kein bloßes Gegensatzverhältnis, sondern es ist eine Interferenz beider im Spiel. Er betitelt so seine Selbstbiographie und meint damit nicht nur die dichterischen Freiheiten, die er sich im Erzählen seines Lebens nimmt, sondern gewiß auch den positiven Anteil, den die dichterische Erinnerung für die Wahrheit hat. Vollends gilt das für die frühen Zeiten der Kultur, insbesondere die Epoche der epischen Poesie der Völker, daß der Wahrheitsanspruch der Dichtung ganz unumstritten ist. Herodot sagt: Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre Götter gegeben - so selbstverständlich war es noch fur einen Schriftsteller an der Schwelle der Aufklärung, daß diese frühe griechische Poesie den Wahrheitsgehalt religiöser Erkenntnis besitze. Oder bezeugt sich in dem Satz des Herodot schon ein erster Zweifel? Nun, jedenfalls hat sich in der klassischen Ästhetik das Belehren neben dem Erfreuen in voller Geltung erhalten, und das bleibt, bis in unser neuzeitliches Wissenschaftsdenken hinein, gültig - wenn heute nicht mehr in der naiven Lernbereitschaft früher Epochen, so doch in einer reflektierten und indirekten Weise. Was mir unbestreitbar scheint, ist, daß die dichterische Sprache ein besonderes, ihr ganz eigenes Verhältnis zur Wahrheit hat. Das zeigt sich einmal darin, daß sie nicht zu jeder Zeit jedem beliebigen Inhalt angemessen ist. Aber auch darin, daß dort, wo ein solcher Inhalt dichterische Wortgestalt annimmt, er damit eine Art Legitimation erfahrt. Es ist die Kunst der Sprache, die nicht nur über das Gelingen oder Mißlingen der Dichtung entscheidet, sondern auch über ihren Anspruch auf Wahrheit. Gewiß, »die Dichter lügen viel« dieser alte platonische und naive Einwand gegen Dichtung und Dichter und ihre Glaubwürdigkeit stellt sich dem Glauben an die Wahrhaftigkeit der Kunst entgegen und scheint gegen den Glauben an die Wahrheit der Kunst zu sprechen. Doch will dieser Wahrheitsanspruch nicht verstummen. In Wahr-
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heit bestätigt der Einwand die Selbstverständlichkeit ihres Anspruchs. Wer lügt, will, daß man ihm glaube. Der Dichter erhebt seinen Anspruch aufgrund seiner Kunst, und seine Kunst ist die der Sprache. Was Sprache überhaupt ist und was den sprachlichen Kommunikationsvorgang ausmacht, wird nun gewiß auch für den besonderen Fall von Sprache gelten, den man Dichtung nennt. Ich möchte aber auch das Umgekehrte behaupten, nämlich daß Dichtung in einem eminenten Sinne Sprache ist. Wenn man das überzeugend machen will, muß man freilich an der Sprache, die wir täglich sprechen, eine andere Seite ins Licht rücken als die des bloßen Informationsaustausches. Die Art, wie wir die Möglichkeit des Miteinandersprechens wirklich wahrnehmen, ist, daß wir einander etwas sagen. Das ist ein Sprachvorgang, der gegenüber allen Formen bloßer Informationsübermittlung - die auch durch >Zeichen< geschehen kann - ausgezeichnet ist. Daß jemand einem anderen etwas sagt, ist nicht schon dann der Fall, wenn der sogenannte Rezipient da ist, welcher die Information aufnimmt. Was darüber hinaus verlangt ist, ist vielmehr die Bereitschaft, sich etwas sagen zu lassen. Nur dadurch wird das Wort sozusagen verbindlich, d.h., es verbindet den einen mit dem anderen. Das geschieht überall dort, wo wir miteinander sprechen, uns auf ein wirkliches Gespräch miteinander einlassen. Was ist eigentlich vorausgesetzt, wenn einer sich etwas sagen lassen kann? Offenbar ist die oberste Bedingung dafür, daß er nicht alles besser weiß und daß ihm etwas, was er zu wissen meint, fraglich zu werden vermag. In der Tat beruht die Möglichkeit des Gesprächs auf dem wechselseitigen Zuspiel von Frage und Antwort. Nun gibt es überhaupt keine Aussage, die nicht ihren letzten Sinn, d. h. das, was sie einem sagt, von der Frage her empfängt, auf die sie eine Antwort gibt. Das nenne ich den hermeneutischen Charakter des Sprechens: Wir übermitteln einander im Sprechen nicht wohlbestimmte Sachverhalte, sondern versetzen unser eigenes Trachten und Wissen durch das Gespräch mit dem anderen in einen weiteren und reicheren Horizont. Jede verständliche und verstandene Aussage wird in die eigene Bewegtheit des Fragens hineingeholt, d.h. als eine motivierte Antwort verstanden. Sprechen istMiteinandersprechen. Getroffenwerden von einem Wort oder harthöriges Vorbeihören an dem gesagten Wort - das sind die eigentlichen Spracherfahrungen. Aber es gibt noch eine andere Erfahrung von Sprache, die einen ausgezeichneten Charakter besitzt, und das ist die Erfahrung von Dichtung. Hier haben wir eine ganz andere hermeneutische Situation. Wer ein Gedicht verstehen will, meint nur das Gedicht selbst. Solange es gegenüber einem Gedicht ein Zurückfragen auf einen Sprechenden gibt, der damit etwas meint, sind wir überhaupt noch nicht bei dem Gedicht. Wir wissen alle aus eigener Erfahrung, was für ein fundamentaler Unterschied zwischen einem wirklichen Gedicht oder etwa jenen mehr oder minder gut gemeinten Formen dichterischer
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Mitteilung besteht, die junge Leute aus vollem Herzen zu Papier zu bringen pflegen. Daist gewiß Echtheit und drängende Macht des Empfindens, wenn einer ein Liebesgedicht schreibt, und ein solches Versgebilde ist aus seiner Motivation bestens verständlich. Dagegen sind der Dichter und das Gedicht, die solchen Namen verdienen, von allen Formen motivierten Redens wesenhaft unterschieden. Es kommt niemandem in den Sinn, wenn er ein Gedicht liest, verstehen zu wollen, wer da etwas sagen möchte und warum. Hier ist man ganz auf das Wort, wie es da steht, gerichtet und empfängt nicht eine Mitteilung, die von diesem oderjenem in dieser oder in einer anderen Form zu einem gelangen kann. Das Gedicht steht vor uns nicht als etwas da, womit jemand etwas sagen möchte. Es steht in sich da. Dem Dichtenden wie dem Aufnehmenden steht es in gleicher Weise gegenüber. Abgelöst von allem Meinen ist es ganz, ganz Wort! Fragen wir, in welchem Sinne an einem solchen Wort Wahrheit sein kann. Das dichterische Wort ist offenbar von der Art, daß es einzig und unaustauschbar ist. Nur dann nennen wir etwas ein Gedicht. Wo uns das nicht so vorkommt, sondern die Worte beliebig scheinen, finden wir ein Gedicht mißlungen. Das eigentlich Merkwürdige aber ist, daß ein Gedicht, das uns als dichterische Leistung überzeugt, uns auch mit dem überzeugt, was es sagt. Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß nicht alles zu allen Zeiten in dichterischer Weise gesagt werden kann. Das Versepos etwa, das von Homer über Vergil, Dante, Milton eine große Tradition der Dichtung war und schließlich in >Hermann und Dorothea< eine Art letzter, »bürgerlicher« Erfüllung fand, ist keine wahre Möglichkeit des dichterischen Sprechens mehr. Ebenso ließe sich fragen, ob es das Drama zu jeder Zeit geben kann oder ob es nicht für bestimmte Epochen charakteristisch ist, daß in ihnen bestimmte Weisen des dichterischen Sagens vorwalten und andere gar ausgeschlossen und unmöglich sind. So haben wir über 1500 Jahre christlicher Geschichte hindurch eigentlich kein Drama. Hier drängt sich die Frage auf: Was drückt sich darin aus, daß gewisse Formen des Sagens möglich sind und gewisse nicht? Was für eine >Wahrheit< liegt darin? Aber was heißt hier >Wahrheit Es ist eine alte Regel, daß, wenn man eine Frage nicht genau profilieren kann, man gut tut, die negative Form der Frage zu suchen. So würde ich hier fragen: Was bedeutet es, daß gewisse Formen dichterischer Aussage nicht mehr >wahr< sind? Was ist das für ein Sinn von Wahrheit? >Wahrheit< hat schon in der ältesten griechischen Philosophie einen doppelten Sinn. Der griechische Ausdruck >Aletheia< wird so, wie er im lebendigen Sprachgebrauch der Griechen lebte, am besten übersetzt mit >Unverhohlenheit<. Denn immer mit Worten des Sagens ist dieses Wort verknüpft. Unverhohlenheit heißt aber: sagen, was man meint. Sprache ist eben nicht in erster Linie, wie das berühmte Wort eines Diplomaten lautet, die
Möglichkeit, die uns geschenkt ist, unsere Gedanken zu verbergen. - Dieser erste Sinn von Wahrsein meint also, daß man das Wahre sagt, das heißt, das sagt, was man meint. Er ergänzt sich aber, und insbesondere im Sprachgebrauch der Philosophie, durch den anderen Sinn, daß eine Sache das >sagt<, was sie >meint<. Wahr ist, was sich als das, was es ist, zeigt. Wenn wir etwa sagen >echtes Gold<, dann meinen wir: Das blitzt nicht nur so wie Gold, das ist Gold. Wir können dafür auch sagen, es sei >wahres< Gold, und der Grieche sagt in diesem Falle >alethes<. Noch besser entspricht dem in unserem eigenen Sprachgebrauch, wenn wir von jemandem sagen, er sei ein >wahrer Freund<. Wir meinen damit, er sei einer, der sich als Freund bewährt hat, der einem nicht nur den Anschein freundschaftlicher Verbundenheit und Gesinnung entgegenbrachte. Es hat sich vielmehr herausgestellt, daß er ein wirklicher Freund ist, »unverborgen«, wie Heidegger sagt. In diesem Sinne frage ich nach der Wahrheit der Dichtung. Was ist mit der Sprache geschehen, wenn sie Sprache der Dichtung ist? Was kommt an ihr heraus, wie an einem Menschen herauskommt, daß er sich als Freund bewährt? Ich kann es auch so formulieren. Wenn ich sage >ein wahrer Freund<, dann meine ich: Hier entspricht das Wort seinem Begriff. Dieser Mensch ist wirklich in Übereinstimmung mit dem Begriffeines Freundes. Genauso frage ichjetzt, was ist das dichterische Wort in seiner Wahrheit? Wie entspricht es dem Begriffeines Wortes? Mit dieser Frage sind wir sehr weit von der Fragestellung der Kommunikations- und Informationstheorie entfernt. Zwar gilt auch für das dichterische Wort, daß es in der Möglichkeit ist, ein Text zu sein, geschrieben zu sein. Als geschriebenes ist es in einem besonderen und ausgezeichneten Sinne ein Wort, nämlich ein Wort, das geschrieben steht<. Ich benutze diesen lutherischen Ausdruck, weil er etwas deutlich macht. Was heißt denn das: Es steht geschrieben? Das meint doch offenbar nicht nur, daß esfixiertist, so daß man seinen Inhalt wieder erneuern kann. Das trifft aufalle möglichen schriftlichen Fixierungen zu. So steht etwa in meinen Notizen, die ich bei einem Vortrag vor mir habe, etwas geschrieben. Aber das ist kein Wort, das geschrieben stehfc. Warum nicht? Offenbar ist es lediglich so da, und nur dazu da, daß es aufeinen Gedanken weist, den ich vor meinen Hörern etwa ausfuhren wollte. Der Wert dieser Notiz ist also ausschließlich der der dienstbaren Unterordnung unter den Gedanken und gehört nicht zur >Literatur<. Ein Gedicht dagegen ist nicht eine Erinnerung an den ursprünglichen Vollzug eines Gedankens, nur für seinen Neuvollzug dienlich. Es ist umgekehrt, und so sehr umgekehrt, daß der Text viel mehr Wirklichkeit hat als jede seinermöglichen Darbietungen je für sich beanspruchen kann. Ob ein Dichter seine Werke selber vorliest, ob ein anderer sie spricht, jeder weiß, daß das Gesprochene hinter dem zurückbleibt, was man eigentlich meint und woran man all«
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Darbietungen mißt. Was ist das für eine Möglichkeit des Wortes, daß es so für sich selbst stehen kann?1 Nun ist es nicht nur das dichterische Wort, das in diesem Sinne >autonom< ist, so daß wir uns ihm unterordnen und auf es in seiner Gestalt als >Text< unser Bemühen konzentrieren müssen. Es gibt, wie ich meine, noch zwei andere Weisen solcher Texte. Das eineist der religiöse Text. Das ist klar genug. Ich zitierte die Luthersche Übersetzung: »Es steht geschrieben«. Was ist der Sinn dieses »Es steht geschrieben« ? Im Lutherschen Sprachgebrauch liegt in dieser Wendung oft ein besonderer Sinn von Sagen, den ich Zusage nennen möchte. Man kann sich auf etwas Zugesagtes berufen, z. B. im Fall des Versprechens, das einer dem anderen gibt. Wer ein Versprechen gibt, sagt etwas zu. Ich kann mich darauf verlassen und mich daraufberufen. Das ist nicht bloß Mitteilung, sondern ein verbindliches Wort, das gegenseitige Verbindlichkeit voraussetzt. Es steht nicht bei mir allein, ob ich etwas versprechen kann. Das hängt auch davon ab, daß der andere das Versprechen annimmt. Erst dann ist es ein Versprechen. Man stelle sich etwa folgende Situation vor: Ein Mann verspricht seiner Frau, daß er nie wieder über seinen Durst trinken will. Aber vielleicht hat die Frau es längst begriffen, daß er dies Versprechen nie halten kann. Daher nimmt sie das Versprechen nicht an, sondern sagt: Ich kann dir nicht glauben. - Zum Wesen der Zusage gehört eben, daß sie ein gegenseitiges Verhältnis des Sagens und Antwortens ist. In diesem Sinn sind die Texte der Offenbarungsreligion >Zusage<, d.h., sie gewinnen ihren Sagecharakter allein durch das Angenommenwerden seitens des Gläubigen.
daß man als Zeuge sogar belehrt wird, man müsse vollständig alles sagen, was man weiß, ohne etwas zu verschweigen, ohne etwas hinzuzufügen. Das nennt man im Gerichtsleben >Aussage<. Ich sehe hier davon ab, wie fragwürdig die Funktion des vor Gericht Aussagenden aus anderen hermeneutischen Gründen ist. Hier möchte ich zunächst nur dies Perfektionistische, diesen Vollendungscharakter im Worte >Aussage< bewußt machen. Darin liegt die Entsprechung zur dichterischen >Sage<. Sie ist eine Sage, die sich voll aussagt, die also so ist, daß nichts, was nicht in ihr selber gesagt ist, zur Aufnahme und zu ihrer Sprachwirklichkeit hinzugenommen werden muß. Sie ist >autonom< im Sinne der Selbsterfullung. Ebenso ist das Wort des Dichters. Das dichterische Wort ist also in dem Sinne Aussage, daß diese Sage sich selbst bezeugt und nichts anderes, das sie verifiziert, zuläßt. Sonst mögen wir eine Aussage kontrollieren, etwa die vor Gericht, ob das stimmt, was der Zeuge sagt oder was der Angeklagte sagt oder wer immer. Diesen Sinn hat offenkundig das dichterische Wort nicht mehr, und die Frage, die uns beschäftigen muß, ist: Wie kann das sein, daß ein Sagen so ist, daß es sinnlos und in einer überzeugenden Weise verkehrt ist, über das Gesagtsein hinaus nach einer anderen Instanz der Verifikation auch nur zu fragen - und daß der Dichter es ein unumstößliches Zeugnis nennen kann und alle schlechten Gedichte >Meineide< heißen können? (P. Celan).
Eine andere Form eines solchen >eminenten< Textes scheint mir im modernen Staat der Rechtstext. Das Gesetz, das in einer bestimmten Weise durch sein Geschriebenstehen bindet, hat auch einen spezifischen Charakter, den ich Ansage nennen möchte. Der Rechtstext ist bekanntlich durch seine Verkündung erst gültig. Ein Gesetz muß verkündet werden. Der Charakter der Ansage, in dem das Wort durch sein Gesagtsein sein Rechtsdasein gewinnt und ohne solches Gesagtsein nicht, macht seine Rechtsgeltung erst aus. So war es ζ. Β. eine der schrecklichsten Rechtskatastrophen, als in dem bösen Fall des Gesetzes Lubbe im Jahr 1933 ein Gesetz mit rückwirkender Kraft erlassen wurde. Jeder empfindet sofort, ein Gesetz mit rückwirkender Kraft widerspricht dem eigentlichen Sinn von »Gesetz«, geschrieben zu stehen. Verkündung von Gesetzen gehört zum Wesen des Rechtsstaates. Die beiden Formen der >Zusage< und der > Ansage< sollen nun zum Hintergrund für den dichterischen Text dienen, den ich in einer entsprechenden Formel > Aussage< nennen möchte. Die Vorsilbe >aus< drückt einen Anspruch aufVollständigkeit aus. Eine Aussage sagt vollständig, was der Sachverhalt ist. Die Aussage ζ. Β., die wir vor Gericht machen, hat solchen Charakter, so 1
Siehe dazu in diesem Band auch den Beitrag >Von der Wahrheit des Wortes« (Nr. 5).
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Ich möchte über den religiösen Gebrauch des Wortes, etwa die Analogien, die hier zur Erfahrung des Gebetes vorliegen, nichts sagen. Das entzieht sich meiner Kompetenz. Aber es liegt auf der Hand, daß hier etwas Analoges vorliegt, wenn es auch auf ganz anderer Basis beruht. Wahrheit in der Dichtung, das meint: Wie macht es das Wort des Dichters, daß es sich selbst einlöst und geradezu abweist, daß man Verifikationen von außen sucht? Nehmen wir ein ganz beliebiges literarisches Beispiel, etwa einen Roman von Dostojewski). Da spielt eine bestimmte Treppe eine große Rolle, die Smerdjakow vorgeblich heruntergefallen ist. Jeder, der die >Karamasows< gelesen hat, hat diese Szene nicht vergessen und »weiß« ganz genau, wie die Treppe aussieht. Keiner von uns hat dabei dieselbe Vorstellung; jeder von uns glaubt sie dennoch in ganz konkreter Weise zu haben. Es wäre sinnlos zu fragen: Und wie sah die Treppe wirklich aus, die Dostojewski) >meinte Der Dichter hat es hier vermocht, durch die Art seines Erzählens, durch seine erzählerische Gestaltung, eine Imagination zu wecken, die nun in jedem Leser etwas aufbaut, und zwar so aufbaut, daß er genau zu sehen glaubt, wie die Treppe da rechts herum und dann ein paar Stufen heruntergeht, und dann verliert sich die Treppe im Dunkeln. Wenn ein anderer sagt, sie geht links herum und dann kommen sechs Stufen und dann wird es dunkler, so ist er offenbar genauso im Recht. Dostojewski), sofern er es nicht genauer sagt, weckt nur dies, daß wir die Treppe in uns
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aufbauen. An dem Beispiel sieht man, daß der Dichter es fertigbekommt, die Selbsterfüllung von Sprache herzuzaubern. Aber wie macht das der Dichter, mit welchen Mitteln? Ich möchte eine kleine Zwischenüberlegung einschalten. Offenbar ist das Wort der Dichtung aufeine unlösbare Weise mit der Seite des Klanges und der Seite der Bedeutung verwebt. Der Grad dieser Verwobenheit kann mehr oder minder groß sein, bis zu dem Extrem, daß es gewisse sprachliche Kunstarten gibt, in denen diese Verwobenheit absolut unlösbar wird. Ich meine das lyrische Gedicht. Hier haben wir den Fall der Unübersetzbarkeit in seiner vollen Unbedingtheit vor unser aller Augen. Es gibt keine Übersetzung lyrischer Gedichte, die das usprüngliche Werk zur Wirkung bringt. Es gibt im besten Fall einen Dichter, der über einen Dichter kommt und sozusagen ein neues dichterisches Werk an diese Stelle stellt, eine Entsprechung in neuem Sprachstoff schafft. Nun gibt es gewiß Abstufungen der Unübersetzbarkeit. Ein Roman ist übersetzbar - und wir fragen uns: Woran liegt das, daß der Roman übersetzbar ist und daß wir etwa Dostojewskijs Treppe, ohne Russisch zu können, so vor Augen sehen, daßich mich mitjedem streiten möchte, wo herum sie geht? Wie macht das die Sprache? Offenbar ist das Verhältnis von Klang und Bedeutung hier ein wenig mehr nach der Seite der Bedeutung hin verschoben - und doch bleibt auch dies dichterisches Wort. Es erfüllt sich nicht von anderem her, ζ. Β. durch bestätigende Nachprüfung einer Information oder durch neue Erfahrung, sondern aus sich selbst. Selbsterfullung meint, daß man nicht mehr hinausgewiesen wird auf andere Instanzen. Dann aber ist es die höchste Erfüllung des Offenbarmachens (δηλοϋν), das die generelle Leistung des Sprechens ist, was die dichterische Sprache auszeichnet. Es scheint mir daher eine abwegige ästhetische Theorie, das dichterische Wort dadurch zu interpretieren, daß man es als eine Zusammenballung von emotionalen und Bedeutungsmomenten auffaßt, die zum Alltagswort hinzutreten. Das mag zwar stets so sein. Aber nicht dadurch wird ein Wort dichterisch, sondern weil es die Kraft der >Realisierung< gewinnt. So trifft selbst Husserls feine Bemerkung, daß im Falle des Ästhetischen die eidetische Reduktion spontan erfüllt sei, sofern die »Position«, das heißt das Setzen, immer schon aufgehoben sei, nur zur Hälfte die Sache. Husserl spricht da von »Neutralitätsmodifikation«. Wenn ich jetzt, zum Fenster hinausweisend, sage: Seht mal das Haus da - dann sieht jeder, der meinem Zeigen folgt, das Haus daals die Erfüllung meines Sagens, indem er hinsieht. Wenn ein Dichter in seinen Worten ein Haus schildert oder die Vorstellung >Haus< heraufruft, sehen wir dagegen nicht auf irgendein Haus hin, sondern ein jeder baut >sein< Haus auf, und zwar so, daß >das Haus< für ihn da ist. Es ist also eine eidetische Reduktion darin wirksam. Es ist das Allgemeine des Hauses, das in den Worten wie eine spontane »Intentionserfullung« zur Gegebenheit kommt. In diesem Sinne ist das Wort hier > wahre, das heißt >aufdeckend<. Es leistet solche
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Selbsterfullung. Das Positive, das Gesetzte, das, was man auch woanders antreffen kann, so daß man zu prüfen vermag, ob unsere Aussage damit übereinstimmt - all das wird im dichterischen Wort suspendiert. Und doch ist es irreführend, dies als ein geschwächtes Realitätsbewußtsein zu fassen, etwa als eine verringerte Setzungskraft des Bewußtseins. Es ist umgekehrt. Die durch das Wort geschehende Realisierung schlägt allen Vergleich mit anderem, das mit da "wäre, aus und hebt das Gesagte über die Partikularität hinaus, die wir sonst Wirklichkeit nennen. Daß es das tut, daß wir nicht hinaussehen in eine bestätigende Welt, sondern daß wir umgekehrt im Gedicht die Welt des Gedichtes aufbauen, istja unbestritten. Ich frage, wie macht es das Wort, daß es das kann, daß wir plötzlich eine Verifikation des Gesagten zu suchen ablehnen? Das ist etwa bei Hölderlin, der die Rückkehr der Götter verkündet, ganz deutlich. Wer ernstlich glaubt, auf die Rückkehr der griechischen Götter wie auf etwas für die Zukunft Versprochenes warten zu sollen, der hat nicht begriffen, was die Dichtung Hölderlins ist. »Im Liede wehet ihr Geist. « Wie macht es der Dichter? Was macht die Dichtung mit dem Dichter, daß sein Wort als ein Wortgebilde plötzlich >so< ist, und ich meine damit:so, daß es nicht etwas meini, sondern daß es das Dasein dessen ist, wases meint - und das so sehr, daß selbst der Dichter, wenn er es hört, nicht etwa meinen kann, daß er es ist, der es sagt? Was bedeutet es, daß ein Gedicht gelingt? Was bedeutet es, daß ein bestimmter Inhalt, etwas bestimmt Gemeintes, dadurch, daß es ein Gedicht gibt, auf dem Weg dieses hervorkommenden wahren Wortes sozusagen zum Stehen kommt? Denken wir nochmals an unsere Anfangsüberlegung. Dort sagten wir uns: Jedes Sprechen sagt etwas. Sich etwas sagen lassen können oder jemandem etwas sagen können setzt voraus, daß es offen Fragliches für einen gibt, das das Wort als Antwort anzunehmen nötigt. Wie sieht es beim dichterischen Werk aus? Hier handelt es sich nicht darum, was der Dichter meint oder was ihn motiviert, das oder jenes zu sagen. Es geht um die Frage, die durch das im Gedicht Gekonnte oder Vermochte beantwortet ist, und um nichts >dahinter<. Was ist das für eine Frage ? Wie kommt es, daß etwa in unserer Zeit das Gedicht bestimmte Inhalte abweistund andere Inhalte bevorzugt? Und wie kommt es, wenn es ein Gedicht ist, daß diese neue Welt von Inhalten sich genauso zum Stehen bringt, daß wir mit dem selben wachen und empfänglichen dichterischen Sinn dies Heutige hören wie etwa das dichterische Wort Schillers oder Shakespeares oder Goethes? Welche Überwindung gelegenheitlicher Motivation oder zeitgeschichtlicher Gebundenheit gelingt hier und auf welche Weise? Ich kann es auch anders formulieren: Auf welche Frage bleibt ein dichterisches Gebilde immer eine Antwort ? Ich glaube nicht, daß es ausreicht, wenn man sagt: In allen dichterischen Gebilden kommen letzte Fragen unseres menschlichen Erlebens zur Beantwortung, und dadurch sprechen sie
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uns an. Das gilt zwar in gewissen Bereichen. Es ist vernünftig zu sagen, daß Grenzsituationen wie Tod oder Geburt, Leiden oder Schuld und was immerall das, was etwa die große Tragödie zu ihrer besonderen Kunstform erhoben hat - beständig offene Fragen sind, auf die wir Menschen Antwort suchen. Aber müssen wir die Frage nicht umfassender stellen? Müssen wir nicht fragen: Auf welche Frage ist ein jedes dichterische Gebilde immer eine Antwort ? Vielleicht zeichnet sich eine Antwort ab, wenn ich an das anknüpfe, was einleitend als das Gemeinsame alles Sprechens beschrieben wurde: daß das da ist, was durch das Wort evoziert wird. Ob es in dieser oderjener Zeit, in unserer Zeit für spezifische Inhalte, die in unserer Zeit zur Sprache kommen, gilt, ist dabei nicht entscheidend, sondern daß das Wort so Da-sein beschwört, daß es zum Greifen nahe ist. Das ist die Wahrheit der Dichtung, daß sie solches »Halten der Nähe« zustande bringt. Was Halten der Nähe meint, wird am Gegenbeispiel deutlich. Wenn wir in einem Gedicht etwas vermissen, dann ist es kein sich in sich haltender Bau. So verhallt es, weil etwas Konventionelles oder Abgenütztes darin ist. Ein wirkliches Gedicht dagegen bringt Nähe zur Erfahrung, und zwar so, daß diese Nähe durch das Gedicht und seine sprachliche Gestalt gehalten wird. Welche Nähe und wovon? Was wird da gehalten? Wenn man etwas halten muß, dann ist das, was man halten muß, entgänglich, d.h., es möchte entgehen. In der Tat ist das unsere Grunderfahrung als zeitliche Wesen, daß alle Dinge uns entgehen, daß alle Inhalte unseres Lebens uns mehr und mehr verblassen, so daß sie aus fernster Erinnerung höchstens noch in einem fast unwirklichen Schimmer leuchten. Aber das Gedicht verblaßt nicht. Das dichterische Wort bringt gleichsam die Zeitentgänglichkeit zum Stehen. Auch es >steht geschrieben^ nicht als Verheißung oder Versprechen, nicht als >Zusage<, sondern als >Sage<, indem es seine eigene Gegenwart ausspielt. Es mag gerade mit dieser Macht des dichterischen Wortes zusammenhängen, daß der Dichter sich herausgefordert fühlt, auch das in Wort zu verwandeln, was überhaupt der Sphäre des Wortes verschlossen scheint. Im lyrischen Gedicht erscheint diese Selbsterfüllung am rätselhaftesten, wo sich nicht einmal die Sinneinheit der dichterischen Rede verifizieren läßt, und das ist der Fall der poésie pure seit Mallarmé. Fragen wir erneut, wie das lyrische Gedicht sich selbst erfüllt und mit welchen Mitteln. Solches >Stehen des Wortes« scheint mir aufjene Grundsituation des Menschen hinzudeuten, die Hegel als das Heimischwerden beschrieben hat. Es ist die Grundaufgabe, die wir alle aus unserer Lebenserfahrung kennen, daß man sich in dem flutenden Strom der Eindrücke >einhaust<. Das geschieht vor allem im Erlernen der Muttersprache, durch das eine steigende Ordnung eines sprachlich ausgelegten Erfahrungsganzen sich aufbaut. Und damit gewinnt die Muttersprache, indem sie diese erste Weltartikulation vollbringt, in der wir ständig uns weiterbewegen, zugleich selber
eine steigende Vertrautheit2. Jeder weiß, was das heißt, Sprachgefühl haben. Etwas klingt fremd, etwas ist nicht >richtig<. Das erleben wir ja etwa bei Übersetzungen ständig. Welche Vertrautheit wird da enttäuscht? Welche Nähe wird da verfremdet? Das heißt aber: Welche Vertrautheit trägt uns, wenn wir Sprechende sind, welche Nähe umgibt uns? Es ist offenbar so, daß nicht nur Wörter und Wendungen unserer Sprache uns immer vertrauter werden, sondern auch das in Worten Gesagte. Das Hereinwachsen in eine Sprache bedeutet insofern immer schon, daß uns die Welt nahegebracht wird und in einer geistigen Ordnung zum Stehen kommt. Worte sind immer wieder die gleichen Grundartikulationen, die unser Weltverständnis leiten. Es gehört zur Vertrautheit der >Welt<, daß sie sich im Miteinanderreden tauscht. Das Wort des Dichters nun setzt diesen Prozeß der >Einhausung< nicht einfach fort. Es tritt ihm eher gegenüber, wie ein hingehaltener Spiegel. Aber was in ihm erscheint, ist nicht die Welt, erst recht nicht dieses oder jenes, das in der Welt ist, sondern die Nähe selbst, die Vertrautheit selbst, in der wir eine Weile stehen. Im literarischen Wort, und in höchster Vollendung im Gedicht, gewinnt dies Stehen und diese Nähe Bleiben. Es ist nicht eine romantische Theorie, sondern einfache Beschreibung wirklicher Zusammenhänge, daß die Sprachlichkeit den universalen Weltzugang öffnet und daß sich in diesem sprachlichen Weltzugang ausgezeichnete Formen menschlicher Erfahrung herausheben: die religiöse Botschaft verkündigt das Heil; das Urteil spricht, was Recht und Unrecht in unserer Gesellschaft ist; das dichterische Wort bezeugt uns unser Dasein, indem es selbst Dasein ist.
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2 Zum Thema Vertrautheit der Welt durch Sprache siehe in diesem Band >Heimat und Sprache< (Nr. 34).
Dichtung und Mimesis
8. Dichtung und Mimesis (1972)
Daß Kunst Nachahmung der Natur sei, ist eine Lehre, die sich zwar auf antiken Ursprung und selbstverständliche Geltung berufen kann, aber ihre eigentliche kunstpolitische Rolle erst in der klassizistischen Ästhetik der Neuzeit zu spielen begann. Der französische Klassizismus so gut wie Winckelmann und Goethe sahen in dem treuen Studium der Natur die eigentliche Schule des Künstlers. Damit rückte auch die Lehre von der Nachahmung in einen Reflexionszusammenhang, der der bildenden Kunst einen entschiedenen Vorrang für die Ästhetik verlieh. Als >klassische Kunst< galt nun im 18. Jahrhundert seit Winckelmann nicht so sehr die dichterische Klassik als vielmehr das, was Hegel >Kunstreligion< genannt hat: das Zeitalter der griechischen Plastik, in der die griechische Götterwelt, das Göttliche in Menschengestalt, Gegenwart war. Das war in Hegels Augen Kunst ab Religion, und wenn er seit dem Untergang der antiken Religion diesen Einklang von Göttlichem und Menschlichem vermißt und damit der Kunst überhaupt nachsagt, sie gehöre der Vergangenheit an, so ist es die bildende Kunst, die er, als sinnliche Erscheinung des Absoluten, zum Maßstab nimmt. Die antike Nachahmungstheorie beherrscht freilich auch die Poetik. Doch besaß sie ihre überzeugendste Ausweisung anscheinend in der bildenden Kunst. Dort drängt sich die Rede von Abbild und Urbild geradezu auf, die Plato dann zum Instrument seiner Dichterkritik gemacht hat. Es hat etwas unmittelbar Oberzeugendes, daß in der bildenden Kunst das Abbild von seinem Urbild fundamental geschieden bleibt, sofern es das lebendig Bewegte in das bewegungslose Bild bannt. So wendet Plato den Begriff der >Mimesis< an, um den ontologischen Abstand von Urbild und Bild zu betonen. Wenn er das gegen das dichterische und insbesondere das dramatische Wort ausspielt, so hat das einen gewaltsamen, polemischen Sinn. Aristoteles brachte den Begriff der Mimesis in einem anderen, positiven Sinne zur Geltung, und das >Gesamtkunstwerk< der antiken Tragödie stand im Blick seiner >Poetik<, die die Ästhetik der Folgezeit beherrschte. Wie sehr die Poetik (und die Rhetorik) die ästhetische Reflexion leitete, ist bekannt. So ist der fur die moderne Kunstwissenschaft beherrschende Be-
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griff des Stiles, wie das Wort anzeigt, aus der Kunst des Schreibens geschöpft, die den Stilus, den Griffel, fuhrt. Aber bis ins 18. Jahrhundert hinein konnte man die Lehre von der Nachahmung im Sinne der Darstellung der religiösen und der profanen Vorbildlichkeiten festhalten. Erst im 18. Jahrhundert trat eine Wendung ein, die die Beengung durch einen solchen Nachahmungsbegriff durchbrach: Der Begriff des Ausdrucks stieg zu beherrschender Bedeutung auf. Er hat seine ursprüngliche Anwendung in der Musikästhetik. Die unmittelbare Sprache des Herzens, die die Töne sprechen, wird nun das Vorbild, nach dem die allem Begriffsrationalismus sich verweigernde Sprache der Kunst überhaupt gedacht wurde. Damit zerriß der alte Zusammenhang von Poetik und Rhetorik, die beide als Künste des schönen Redens verstanden wurden. Insbesondere nachdem im Anblick der großen Phantasiedichtung Shakespeares die Genieästhetik den Begriff der Regeln und am Ende gar den Begriff der poetischen Mittel diskreditiert hatte, konnte der alte Verbund zwischen Rhetorik und Poetik im Denken der Ästhetik keinen rechten Platz mehr einnehmen. An seine Stelle trat eine neue Nähe zwischen der Musik, die sich damals zu ihrer klassischen Entfaltung erhob, und der Poesie. In der deutschen Romantik gilt die Dichtkunst als die Universalsprache des Menschengeschlechts. Die alte Nachahmungsästhetik verliert ihre Oberzeugungskraft, wenn der poetische Sprachgeist sich nicht so sehr in der Vergegenwärtigung anschaulich erfüllter Bilder als in der Stimmungskraft auslebt, die von der unendlichen Bewegung des dichterischen Wortes erzeugt wird - ganz zu schweigen von der radikalen Wortkunst der poésie pure. Der Begriff der Mimesis scheint unanwendbar geworden. Indessen, der Begriff der Mimesis läßt sich ursprünglicher fassen, als es von den Ideen des Klassizismus her naheliegt. Ich möchte zeigen, daß der ursprüngliche Begriff der Mimesis in Wahrheit den essentieUen Vorrang der Poesie gegenüber den anderen Künsten gerade zu legitimieren vermag. Wenn man von dem antiken Begriff der >Poesie< als solchem ausgeht, kann das nicht überraschen. Denn schon das Wort >Poiesis< und >Poietës< hat im Griechischen eine besondere Auszeichnung. Das Wort meint nicht nur das herstellende Machen beziehungsweise den Hersteller selbst, sondern gerade auch im spezifischen Sinne das poetische Schaffen und den Poeten. Ein bezeichnender Doppelsinn, der eine ausgezeichnete Art des Machens und Herstellens mit dem sonstigen Machen und Herstellen semantisch zusammenschließt. Dem entspricht auf der anderen Seite unter gesellschaftlichem Gesichtspunkt, daß der Dichter neben dem Redner und dem König seinen Platz hatte und der einzige Künstler war, der nicht als >Banause< galt. Das gemeinsame Verständnis beider Formen von >Techne<, der handwerklichen und der poetischen, ist offenbar durch die Weise ihres Wissens gegeben. Es ist ein Können und Wissen, das dem Handwerker wie dem Dichter
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Dichtung und Mimesis
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sein herstellendes Tun leitet. Nun liegt es im Wesen aller herstellenden Künste, wie insbesondere Plato eindringlich betont, daß sie Maß und Ziel ihres Wissens und Könnens im allgemeinen nicht in sich selbst tragen. Es ist das Werk, das >Ergon<, auf das ihr Tun gerichtet ist, und dieses Werk seinerseits ist für den Gebrauch bestimmt. Von den Zwecken des Gebrauches hängt es also ab, wie die Arbeit des Herstellens und das Aussehen des Werkes zu sein haben. Nun gilt gewiß von allem, was wir >Kunstwerk< nennen, daß es nicht eigentlich zum Gebrauch da ist, das poetische Werk, das gesungen oder gespielt wird, so wenig wie das Bildwerk des Gottes, dem man Opfer bringt, oder das Schmuckwerk am Gerät. Die Absicht des Herstellens vollendet sich hier nicht darin, einem Gebrauche zu dienen, sondern offenbar nur darin, daß das so Hergestellte da ist. Gewiß war auch das von Gebrauchszwecken freie Werk gleichwohl in den Gebrauchszusammenhang des Lebens eingefügt und hatte in ihm seinen Platz, das Bildwerk im religiösen oder öffentlichen Lebensvollzug oder das Dichtwerk in Vortrag oder Aufführung. Aber auf diese Erscheinungen wird niemand den Begriff >Gebrauchskunst< anwenden wollen. In diesem modernen Begriff liegt ja, daß ihm eine von allem Gebrauche freie Kunst vorausläge und übergeordnet wäre. Das aber ist ein militaristischer Modernismus. Wenn ein Kunstwerk anderen Zwecken, religiösen oder politischen oder dergleichen, dient, so ordnet sich das Werk damit nicht einem anderen, fremden Zwecke unter, sondern kommt in seinem eigenen Wesen zur Erscheinung. Solcher >Gebrauch< dient seinem Dasein als Werk und nicht umgekehrt. Wir reden daher mit Recht auch angesichts religiös gebundener Kunst von den >freien< oder >schönen< Künsten, für die die Freiheit vom Nutzen und der selbständige Sinn ihres Daseins und Erscheinens, das heißt ihr Schönsein, das Auszeichnende ist. Nun ist es die besondere Auszeichnung der Dichtung, daß ihr Wort überhaupt nicht im selben Sinne da ist wie die >Werke< der bildenden Kunst. Da steht nichts in sich. Da ist kein Stoff, der als die dumpfe Widerständigkeit der Materie durch die Form gebändigt wäre. Das dichterische Werk hat ein Sein idealer Art. Es ist auf Reproduktion angewiesen, sei es im eigentlichen Sinne des szenischen Spiels, sei es im Sinne der Rezitation oder des Lesens. Daß nun gerade hier der allgemeine Sinn von >Poet<, der >Macher< zu sein, die Wendung ins Eminente nimmt, versteht sich gut. Durch nichts als durch Worte etwas dasein zu lassen, erfüllt offenbar das Ideal des Herstellens. Denn das Wort ist von unbeschränkter Macht und idealer Perfektion. Das ist Dichtung, daß sie so >gemacht< wird, daß sie keinen anderen Sinn hat, als dasein zu lassen. Was als Sprachwerk ein Kunstwerk ist, hat in gar keinem Betracht zu etwas da zu sein. So ist es im eigentlichen Sinne da. Es erfüllt aber damit auch in besonderer Weise, was >Mimesis< meint.
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Dazu bedarf es nicht einmal besonderer wortgeschichtlicher Untersuchungen, um zu erkennen, daß der Sinn von Mimesis lediglich darin besteht, etwas dasein zu lassen, ohne daß irgend etwas damit angefangen wird. Die Freude am mimischen Verhalten und an der mimischen Wirkung ist eine ursprüngliche Freude des Menschen, die schon Aristoteles am Verhalten der Kinder zur Ausweisung bringt. Die Freude an der Verkleidung, die Freude daran, einen anderen darzustellen, als man ist, und die Freude dessen, der im Dargestellten das Dargestellte erkennt, zeigen, was der eigentliche Sinn der nachahmenden Darstellung ist: keineswegs die Vergleichung und die Beurteilung der mehr oder minder großen Annäherung der Darstellung an das in der Darstellung Gemeinte. Zwar gibt es dieses kritische Beurteilen und Würdigen bei jeder Darstellung, aber doch als ein sekundäres Phänomen. Ihre eigentliche Vollendung findet eine jede Darstellung in nichts anderem, ab daß das Dargestellte in ihr recht eigentlich da ist. Wenn Aristoteles beschreibt1, wie der Zuschauer erkennt: »Das ist der«, so meint er nicht, daß man hinter der Verkleidung den erkennt, der die Verkleidung trägt, sondern umgekehrt, daß man durch die Verkleidung das, was sie darstellen soll, erkennt. Erkennen heißt hier wiedererkennen. Man erkennt wieder, was man kennt, den Gott oder den Helden - oder auch den lächerlichen Zeitgenossen -, von denen man weiß. Mimesis ist Darstellung, bei der der WasGehalt des Dargestellten allein im Blick ist, das, was man vor sich hat und das man >erkennt<. Es klingt bei Aristoteles noch durchaus an, daß die mimetische Darstellung ein Teil eines kultischen Vorgangs ist, etwa der Prozession, wie wir sie im Karnevalsumzug kennen. Es ist ein Akt der Identifizierung und nicht der Unterscheidung, in dem hier etwas erkannt wird. Der Abstand von Abbild und. Urbild, so unaufhebbar er sein mag und so sehr daher seine Betonung möglich ist, hat für den eigentlichen Seinssinn der Mimesis etwas Schiefes. Das Paradigma, auf das nach Plato jede Darstellung abbildend bezogen ist und hinter dem sie notwendig zurückbleibt, ist als solches gerade nicht das, wo ein Kunstwerk überzeugt. Niemand wird auf es zeigen ab auf das, was sichneben der Darstellung zeigt (>Paradeigma< heißt: das daneben Gezeigte). So wenig der Spieler sich selbst von der Rolle unterscheidet, die er spielt, sondern vielmehr ganz in ihr aufgeht, so wenig sieht auch der Zuschauer in der Darstellung etwas anderes als das Dargestellte selbst. Etwas als etwas erkennen heißt wohl: wiedererkennen. Aber Wiedererkennen ist nicht ein bloßes zweites Erkennen nach einem ersten Kennenlernen. Es ist etwas qualitativ anderes. Wo etwas wiedererkannt wird, da hat es sich schon aus der Einmaligkeit und Zufälligkeit der Umstände, in denen es begegnete, befreit. Es ist nicht das von damals und nicht das von jetzt, Poet. 4,1448 b,
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sondern dasselbe und gleiche. Es beginnt damit, sich zu seinem bleibenden Wesen zu erheben und von der Zufälligkeit seines Begegnens gelöst zu werden. Nicht umsonst hat Plato die Erkenntnis des bleibenden Wesens der Idee Wiedererinnerung genannt und im Mythos Erkenntnis als Wiedererinnerung an ein früher gelebtes Leben expliziert. Aristoteles hat recht, wenn er das Wesen der mimischen Darstellung und damit das der Kunst in solcher Erkenntnis erblickt. Er gelangt von da aus zu der berühmten Unterscheidung von Dichtung und Historie, wonach die Dichtung »philosophischer« sei als die Historie, weil diese nur die Dinge erkenne, wie sie wirklich gewesen seien, die Dichtung dagegen sie so schildere, wie sie geschehen sein könnten, das heißt, wie es ihrem allgemeinen und bleibenden Wesen entspricht2. Die Poesie hat teil an der Wahrheit des Allgemeinen. Wenn Plato in seiner Dichterkritik umgekehrt den nachahmenden Künsten den untersten Rang anweist, weil sie nicht einmal wie die wirklichen Dinge einfache Nachahmungen der Wesensgestalten seien, sondern Nachahmungen von Nachahmungen, so stellt er das eigentliche Wesen der künstlerischen Nachahmung offenbar auf den Kopf. Man wird daraus nicht schließen wollen, er habe das Wesen der künstlerischen Darstellung nicht besser verstanden3. In Wahrheit begeht er eine ironische Verzerrung, durch die er den Anspruch der Philosophie, das heißt der Dialektik, auf die Erkenntnis der wahren Wesenheiten hervorkehrt. Daß dort, wo wir von Kunst reden, gerade nicht der Seinsunterschied von Darstellung und Dargestelltem, sondern die volle Identifikation mit dem Dargestellten das Wesen der Darstellung ausmacht, hat er in anderem Zusammenhang sehr wohl anerkannt. So spricht er etwa im >Philebos< (48a) von dem Vergnügen der Zuschauer an der Verblendung, in der sich der komische Held über sich selbst und seine Umwelt bewegt, und interpretiert tiefsinnig die Quelle des komischen Entzückens, das sich im stürmischen Gelächter der Zuschauer bei solchem Schauspiel entlädt. Dabei gilt ihm das komische Geschehen auf der Szene gleich viel wie die ganze »Komödie und Tragödie des Lebens«4.
des Komischen überfällt und alle Unterscheidung zwischen Spiel und Wirklichkeit, Schein und Sein zunichte werden läßt. Der Abstand von Zuschauer und Spieler hebt sich darin ebenso auf wie der von Darstellung und Dargestelltem. Der Begriff der Mimesis, der solcher >ästhetischen< Erfahrung Ausdruck gibt, braucht also nicht erst künstlich auf eine Ursprungssituation zurückbezogen zu werden, in der alle Künste noch gleichsam beisammen waren - ich meine: auf die rituelle Darstellung im religiösen Kult durch Wort, Ton, Bild und Gebärde. Das Mimische ist und bleibt ein Urverhältnis, in dem nicht so sehr Nachahmung als vielmehr Verwandlung geschieht. Es ist, wie ich es in anderem Zusammenhang 5 mit bewußter Künstlichkeit genannt habe, die ästhetische Nichtunterscheidung, die die Erfahrung der Kunst ausmacht. Wenn wir diesen ursprünglichen Sinn von Mimesis erneuern, werden wir von der ästhetischen Beengung befreit, die die klassizistische Nachahmungstheorie für das Denken bedeutet. Mimesis ist dann nicht so sehr, daß etwas auf ein anderes verweist, das sein Urbild ist, sondern daß etwas in sich selbst als Sinnhaftes da ist. Kein vorgegebener Maßstab des Natürlichen entscheidet dabei über Wert und Unwert einer Darstellung. Wohl aber stellt jede Darstellung, die sprechend ist, bereits eine Antwort auf die Frage dar, warum sie ist — mag sie etwas darstellen oder >nichts<. Die mimische Urerfahrung bleibt in diesem Sinne das Wesen allen bildenden Tuns in Kunst und Poesie. So darf man wohl das Fazit ziehen: Wer meint, Kunst sei nicht mehr mit den Begriffen der Griechen angemessen zu denken, denkt nicht griechisch genug - und nicht gut genug.
Auch Aristoteles beobachtet den gleichen Zusammenhang. Es ist nicht erst in der Sphäre der künstlerischen Darbietung so, sondern im Leben der Gesellschaft selber: Wo das Lächerliche einsetzt, stehen wir bereits im freien Genuß eines Schauspiels und erfreuen uns daran als an etwas Harmlosem und Unschädlichem. Aber im Hintergrund solcher >ästhetischen Freiheit liegt eine tiefe, allen Abstand aufhebende Gemeinsamkeit. Es ist die Identifikation, die abgründige und schreckhafte Selbstbegegnung, die uns, wie in der tragischen Erschütterung, in dem befreienden Gelächter beim Anblick 2 3 4
Poet. 9, 1451 b 4. Siehe dazu >Plato und die Dichten in Ges. Werke Bd. 5, S. 187-211. Phüeb. 50 b 3 .
>Wahrheit und Methode (Ges. Werke Bd. 1), S. 122ff.
Das Spiel der Kunst
9. Das Spiel der Kunst (1977)
Das elementare Phänomen des Spiels und des Spielens durchherrscht die gesamte Tierwelt. Daß auch das Naturwesen, das der Mensch ist, davon bestimmt wird, ist selbstverständlich. Teilt doch das Menschenkind mit all den Arten von Tierkindern, deren Spielfreude wir bewundern, auch sonst sehr vieles - so vieles, daß den menschlichen Beobachter beim Studium des Verhaltens von Tieren, insbesondere von höheren Tieren, ein Entzücken zu befallen pflegt, das mit Erschrecken gemischt ist. Wenn Tier und Mensch in so vielem einander so ähnlich sind, kommt dann nicht die Grenze zwischen Tier und Mensch überhaupt ins Schwimmen? Die moderne Verhaltensforschung hat in der Tat die Fragwürdigkeit solcher Grenzziehung gegenüber dem Tier mehr und mehr zum Bewußtsein gebracht. Wir haben es nicht mehr so einfach, wie das 17. Jahrhundert es sich machte. Damals, berauscht von der menschlichen Auszeichnung des Selbstbewußtseins, die Descartes' bestimmende Einsicht war, sah man im Tier den bloßen Automaten und nur im Menschen das durch Selbstbewußtsein und freien Willen ausgezeichnete Geschöpf Gottes. Dieser Rausch ist gründlich verflogen. Seit einem Jahrhundert ist der Verdacht im Wachsen, daß menschliches Verhalten — das des Einzelnen und mehr noch das der Gruppe—in weit stärkerem Maße von Naturdeterminanten bestimmt ist, als es dem Bewußtsein des frei Wählenden und frei Handelnden entspricht. Längst nicht alles, was wir mit dem Bewußtsein unserer Freiheit begleiten, ist wirklich Folge einer freien Entscheidung. Unbewußte Faktoren, Triebzwänge und Interessen, steuern nicht nur unser Verhalten, sondern determinieren auch unser Bewußtsein. Man fragt sich, ob nicht vieles von dem, was wir für unsere menschlich bewußte Willenswahl in Anspruch nehmen, weit besser von den Instinktzwängen des Tierverhaltens aus >verstanden< werden kann. Nimmt nicht am Ende auch das menschliche Spielen an solcher Naturbestimmtheit teil, und ist vielleicht selbst das künstlerische Schaffen Auslebung eines Spieltriebes? Zwar meinen wir stets, >etwas< zu spielen, und glauben uns damit von dem Spielverhalten der Tiere und Kleinkinder wohl unterschieden. Diese spielen wohl auch >mit etwas<, aber sie >meinen< nicht eigentlich dieses oder
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jenes Spiel, sondern nichts als ihr Spielen, ihren Oberschuß an Leben und Bewegung, den sie ausleben. Dagegen trägt das Spiel, das einer anfängt, erfindet oder erlernt, eine Bestimmtheit in sich, die man >meint<. Man ist sich der Regem und Bedingungen des, Spielverhaltens bewußt, sei es, daß es sich um Spiele handelt, die man miteinander spielt, sei es in der Weise des sportlichen Wettbewerbs, der in einem indirekten Sinne den Charakter des Spieles trägt. Durch solche Bestimmtheiten grenzt sich das Spielverhalten aus allem sonstigen Weltverhalten in scharfer Weise aus1 - weit schärfer als bei Tieren, deren Spiele mit ihren sonstigen Verhaltensweisen leicht verfließen. Es macht den Spielcharakter menschlicher Spiele aus, daß Regeln und Forderungen aufgestellt werden, die nur in der Geschlossenheit der Spielwelt gelten. Jeder Spieler vermag sich ihnen zu entziehen, indem er aus dem Spiele ausscheidet. Innerhalb des Spieles freilich haben diese Regeln und Forderungen ihre eigene Verbindlichkeit, die man so wenig verletzen kann wie irgendwelche uns bestimmenden und verbindlichen Regeln des Zusammenlebens sonst. Was ist das für eine Geltung, die auf solche Weise verbindlich und eingeschränkt zugleich ist? Ohne Zweifel prägt sich in dieser Besonderheit der menschlichen Spiele, Geltungsforderungen zu enthalten, eine Art von Sachlichkeit und Sachbezug aus, die dem Menschen eigentümlich ist. Die Philosophen nennen das die Intentionalität des Bewußtseins. Das ist freilich ein so ^ dverselles Strukturmoment menschlichen Daseins, daß man gerade die Sachhaltigkeit des menschlichen Spielens und Spielenkönnens als eine spezifisch menschliche Auszeichnung ansehen möchte. Bekanntlich redet man von dem Spielelement, das aller menschlichen Kultur eigen ist. Man entdeckt Spielformen im ernstesten menschlichen Betreiben, im Kult, in der Rechtspflege, im Sozialverhalten, wo man geradezu vom Rollenspiel spricht usw. Eine gewisse Selbstbeschränkung freier Beliebigkeit scheint zum Aufbau von Kultur als solcher zu gehören. Aber heißt das, daß nur, wo menschliche Kultur ist, das Spielen sich in der Bestimmtheit eines >gemeinten< Verhaltens objektiviert? In einem noch tieferen Sinne scheinen^piel und Ernst miteinander verwoben. Es leuchtet unmittelbar ein, daß mit jeglicher Form von Ernst wie dessen eigener Schattenwurf ein mögliches Spielverhalten verbunden ist. >So tun als ob< scheint bei allem Tun, das kein bloßes Triebverhalten ist, sondern etwas >meint<, speziell möglich. Das Als-ob ist eine so universale Modifikation, daß selbst das Spielverhalten von Tieren manchmal wie von einem Anhauch von Freiheit belebt scheint, insbesondere wenn sie sich auf spielerische Weise den Anschein geben, anzugreifen, zu schrecken, zu beißen oder dergleichen. 1
Zum Begriff des Spiels und des Spielens siehe auch das in >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 107ff. Ausgeführte und im folgenden >Die Aktualität des Schönen<, S. 113ff.
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Das Spiel der Kunst
Und was bedeutet jene Unterwerfungsgebärde, die man als die Entscheidung und Beendung von Kämpfen zwischen Tieren beobachten kann? Auch da handelt es sich allem Anschein nach um Befolgung von Spielregeln. Kein siegreiches Tier, dem die Unterwerfungsgebärde geboten wird, beißt wirklich zu. Das ist ein merkwürdiger Tatbestand. Hier treten symbolische Handlungen an die Stelle von Ausführung derselben. Wie stimmt das dazu, daß dort alles Instinktzwängen gehorcht und beim Menschen alles der freien Entscheidung folgt? Es scheint mir methodisch geboten, gerade solche Obergangsphänomene zwischen Mensch und Tier aufzusuchen, wenn man das Deutungsschema eines dogmatischen Cartesianismus des Selbstbewußtseins vermeiden will. Derartige Übergangsphänomene von Spiel und Spielen erlauben, die Linien in einen Bereich zu verlängern, der nicht mehr unmittelbar, sondern nur in dem, was dadurch bewirkt und bewerkstelligt wird, zugänglich ist. Ich meine den Bereich der Kunst. Dabei scheint es mir kein überzeugendes Übergangsphänomen, wenn man den allgemeinen Kunsttrieb in den Bildungen der Natur ins Auge faßt, an dem man vielleicht auch einen Überschußcharakter bemerken kann, der über das Notwendige und Zweckmäßige hinaus das bildnerische Spiel der Natur charakterisiert. Gerade nicht der Triebcharakter des Kunsttriebes, sondern der Freiheitshauch, der seinen Bildungen anhaftet, ist das Erstaunliche. Daher sind symbolische Handlungen wie die beschriebenen von besonderem Interesse. Im menschlichen Bilden besteht ja das entscheidende Moment von Kunstfertigkeit auch nicht darin, daß da etwas von trefflicher Brauchbarkeit oder von überflüssiger Schönheit zustande gekommen ist, sondern darin, daß menschliches Herstellen sich derart verschiedene Aufgaben stellen kann und nach Plänen vorgeht, die ein Moment freier Beliebigkeit auszeichnet. Menschliches Machen kennt eine gewaltige Variabilität von Probieren und Verwerfen, Gelingen und Mißlingen. Erst da beginnt eben die >Kunst<, wo man auch anders kann. Vollends dort, wo wir von Kunst und künstlerischem Schaffen im eminenten Sinne reden, ist nicht das Zustandekommen von etwas Gemachtem das Entscheidende, sondern daß das Gemachte von ganz besonderer Eigenart ist. Es >meint< etwas und ist doch nicht das, was es meint. Es ist nicht ein Werkstück, das wie alle Werkstücke menschlicher Arbeit durch seine Dienlichkeit zu etwas bestimmt ist. Zwar ist es ein Produkt, das heißt etwas, was durch menschliches Machen hergestellt worden ist und nun da ist, zur Verfugung und zum Gebrauch. Aber gerade jeglichen Gebrauch verweigert das Kunstwerk. Es ist so nicht >gemeint<. Es hat etwas von dem Charakter des Als-ob, den wir als einen Grundzug im Wesen des Spielens erkannten. Es ist ein >Werk<, weil es wie ein Gespieltes ist. Es ist nicht das, als was sonst solches begegnet, sondern steht fur etwas. So wie eine symbolische Gebärde nicht nur sie selbst ist, sondern etwas anderes dadurch zum
Ausdruck bringt, ist auch das Werk der Kunst nicht nur es selbst als dieses Gemachte. Man kann es geradezu dadurch definieren, daß es kein Machwerk ist, das heißt nichts, was man bloß gemacht hat und wieder machen kann, sondern etwas, das auf unwiederholbare Weise zustande kam und zu seiner einmaligen Erscheinung herausgekommen ist. Es scheint mir daher fast richtiger, es nicht ein Werk, sondern ein Gebilde zu nennen. Denn in diesem Wort >Gebilde< liegt, daß die Erscheinung auf eine seltsame Weise den Prozeß ihrer Entstehung hinter sich gelassen oder ins Unbestimmte verbannt hat und sich, ganz auf sich selbst gestellt, in ihrem eigenen Aussehen und Erscheinen darstellt. Das Gebilde weist nicht so sehr zurück auf den Prozeß seiner Bildung, als daß es fordert, als reine Erscheinung in sich selbst wahrgenommen zu werden. Das ist besonders greifbar bei den transitorischen Künsten. Dichtkunst, Musik und Tanz haben ja überhaupt nichts von der Greifbarkeit eines Dinges an sich, und dennoch baut sich der flüchtige und flüssige Stoff, aus dem sie gemacht sind, zur festen Einheit eines Gebildes - immer des gleichen — auf. Wir sagen daher, daß diese Gebilde, Texte, Kompositionen, Tanzschöpfungen als solche sehr wohl Kunstwerke sind, aber in der Selbigkeit ihres Wesens auf Reproduktion angewiesen bleiben. Das Gebilde, das das Kunstwerk ist, muß in den reproduktiven Künsten immer wieder'neu aufgebaut werden. Wasso in den transitorischen Künsten ganz handgreiflich ist, belehrt in Wahrheit darüber, daß nicht nur diese reproduktiven Künste Darstellung verlangen, sondern in gewisser Weise jedes Gèoilde, das wir ein Kunstwerk nennen. Es verlangt von dem Betrachter, vor dem es sich darbietet, aufgebaut zu werden. Es ist ja nicht, was es ist. Es ist etwas, was es nicht ist, kein bloßes Zweckbestimmtes, das man in Gebrauch nimmt, oder gar materielles Ding, aus dem man etwas anderes machen kann, sondern etwas, das sich im Betrachtenden erst zu dem erbaut, als das es erscheint und sich ausspielt.
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Ein eigentümliches Übergangsphänomen kann das veranschaulichen, das Lesen. Im strengen Sinne ist es, sofern es kein lautes Lesen oder gar Vorlesen ist, keine Produktion in der Art der reproduktiven Künste. Es erzeugt keine selbständige neue Wirklichkeit - und doch ist es wie unterwegs dazu - und auf alle Weise. So hat es immer nahegelegen, die Erfahrung der Kunst mit dem Begriff des Spieles zusammenzubringen. Kant hat die Interesselosigkeit, Zweckfreiheit und Begrififlosigkeit des Wohlgefallens am Schönen als einen Gemütszustand beschrieben, in dem unsere geistigen Vermögen,· Verstand und Einbildungskraft, in einem freien Spiele miteinander spielen. Schiller hat diese Beschreibung auf die Basis der Fichteschen Trieblehre übertragen und das ästhetische Verhalten einem Spieltrieb zugewiesen, der in der Mitte zwischen dem Stofftrieb und dem Formtrieb seine eigene freie Möglichkeit
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entfaltet. Insofern ist durch das ästhetische Denken der Neuzeit >der Anteil des Subjekts< beim Aufbau der ästhetischen Erfahrung zu seiner vollen Beachtung gekommen. Aber die Erfahrung der Kunst bietet auch jene andere Seite, in der der Spielcharakter des Gebildes als solcher, sein bloßes Gespieltsein, in den Vordergrund rückt. Dafür ist immer noch der alte griechische Begriff der >Mimesis< die eigentliche Basis2. Die Griechen unterscheiden zwischen zwei Formen des Herstellens, dem handwerklichen Herstellen, das Brauchbares fabriziert, und dem mimetischen Herstellen, das nichts >Wirkliches< schafft, sondern nur etwas zur Darstellung bringt. Auch in unserem eigenen Sprachgebrauch haben wir etwas von dieser letzteren Erscheinungsform des Herstellens uns bewahrt, nämlich dort, wo wir vom >Mimischen< sprechen. Wir gebrauchen dieses Wort ja nicht nur dort, wo wir das Mienenspiel, die Gestik von jemandem charakterisieren wollen, sondern insbesondere, wo es sich um die bewußte Nachahmung des ganzen Verhaltens einer Person handelt, sei es im kunstlosen Nachmachen eines anderen, sei es in der kunstvollen Verkörperung einer >Rolle< durch den Schauspieler. Im Sinne des Mimischen ist gelegen, daß der eigene Körper Träger des mimischen Ausdrucks ist und als Kunst etwas zur Darstellung bringt, was er nicht ist. Die Rolle ist >gespielt<. Das schließt einen eigenartigen Seinsanspruch ein. Es ist etwas anderes als ein gespieltes Erstaunen oder eine gespielte, geheuchelte Teilnahme, die im menschlichen Umgang begegnen. Die mimische Darstellung ist kein Spiel, das vortäuscht, sondern ein Spiel, das sich als Spiel mitteilt, so daß es für nichts anderes genommen wird, als es sein möchte: bloße Darstellung. Das ist der deutliche Unterschied. Die heuchlerisch gespielte Teilnahme zum Beispiel will geglaubt sein - selbst dann besteht dieser Anspruch fort, wenn sie in ihrer Unechtheit oder Gekünsteltheit spürbar wird. Die mimische Nachahmung dagegen will nicht >geglaubt<, sondern als Nachahmung verstanden werden. Sie ist nicht geheuchelt, ist nicht falscher, sondern aufklare Weise >wahrer< Schein, ist als Schein >wahr<. Sie wird als Schein wahrgenommen, wie sie gemeint ist.
Ganzen so mit mir teilt, daß wir beide sie ganz haben. Das unterscheidet offenbar echte Mitteilung von der heuchelnd gespielten Teilnahme. Deren >Schein< ist gerade nicht der mir und dir gemeinsame Schein, sondern der falsche Anschein, der nur für den andern geweckt werden soll. Wahrer Schein - das ist das Gebilde der Kunst. Es ist so sehr allen gemeinsam, daß selbst der Schöpfer solcher Gebilde kein Privileg vor dem Aufnehmenden behält. Eben weil er sich geäußert hat, behält er nichts für sich, sondern hat sich vollständig mitgeteilt. Das >Werk< spricht für ihn. Man muß diesen Seinssinn von Mimik und Mimesis im Auge behalten, wenn man einsehen soll, in welchem essentiellen Sinne Kunst den Charakter des Spieles hat. Mimik ist Nach-Ahmung. Das hat nichts zu tun mit einem Verhältnis von Abbild und Urbild oder gar mit einer Kunsttheorie, derzufolge die Kunst eine Nachahmung der >Natun, das heißt des von sich aus Seienden sei - ein krasses naturalistisches Mißverständnis. Gerade die Rückbesinnung auf das Wesen des Mimischen kann davor bewahren. Das mimische Urverhältnis ist nicht ein abbildendes Nachmachen, bei dem man sich anstrengt, einem Urbild möglichst nahe zu kommen - es ist vielmehr Zeigen. Zeigen heißt nicht, etwas vorzeigen, wie ein Beweisstück, an dem etwas bewiesen wird, was auf andere Weise nicht mehr zugänglich ist. Zeigen heißt überhaupt nicht, ein Verhältnis zwischen dem Zeigenden und dem Gezeigten als solches meinen. Es weist von sich selber gerade weg. Wer auf das Zeigende sieht, wie der Hund auf die ausgestreckte Hand, dem kann man nichts zeigen. Vielmehr meint Zeigen, daß der, dem man etwas zeigt, selber und richtig sehen soll. In diesem Sinne ist Nachahmen Zeigen. Denn im Nachahmen wird immer etwas mehr sichtbar, als was die sogenannte Wirklichkeit bietet. Das Gezeigte ist sozusagen heraus-gelesen aus dem Andrang des Vielen. All das andere ist nicht gemeint - nur das Gezeigte ist gemeint. Es wird als das Gemeinte ins Auge gefaßt und damit in eine Art Idealität erhoben. Es ist nicht länger dieses oder jenes Sichtbare, sondern als etwas gezeigt und bezeichnet. Wenn man sieht, was einer einem zeigt, ist das stets ein Akt der Identifikation und damit der Wiedererkenntnis.
Auch wenn wir das schwierige Problem beiseite lassen, was das Sein von Schein eigentlich ist, so ist doch jedenfalls klar, daß dort, wo der Sinn von Gespieltsein impliziert ist, der so erscheinende Schein in die Dimension dessen gehört, was man Mitteilung nennt. Das Spiel des Kunst-Scheins spielt zwischen mir und dir. Ich nehme das Gebilde genauso als ein bloßes Gebilde wie du, und gerade das nennen wir >Mitteilung<, daß der andere an dem, was ich ihm mitteile, teilbekommt, und zwar nicht etwa nur einen Teil von dem empfängt, was da mitgeteilt wird, sondern die Kenntnis des
Wo es sich um Kunst handelt, ist das merkwürdigerweise oft noch bei reproduktiven Wiederholungen unverkennbar. Es ist erstaunlich, mit welcher Unfehlbarkeit wir bei den oft hervorragenden fotografischen Reproduktionen in illustrierten Tageszeitungen die wirkliche fotografische Reportage und die Reproduktion eines gemalten Porträts oder sogar einer - noch so realistischen - Filmszene zu unterscheiden wissen. Das meint nicht, daß die Filmszene doch irgendwo unnatürlich geblieben ist oder das realistische Porträt nicht realistisch genug gemalt war. Es schlägt vielmehr etwas anderes dabei durch, selbst in diesem Medium der Zeitungsreproduktion. Aristoteles hat recht: Die Poesie macht mehr das Allgemeine sichtbar, als je die Historie, das heißt die getreue Schilderung von Tatsachen und wirklichen
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Siehe dazu auch im vorhergehenden >Kunst und Nachahmung* (Nr. 4) sowie »Dichtung und Mimesis« (Nr. 8).
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Ereignissen, es vermag. Im Als-ob der poetischen Erfindung, der plastischen oder malerischen Bildgestaltung wird offenbar eine Teilhabe möglich, die den Zufallswirklichkeiten mit ihren einschränkenden Bedingungen nicht in der gleichen Weise erreichbar ist. Die fotografische Dokumentation solcher zufälliger Wirklichkeit, etwa die fotografische Aufnahme eines amtierenden Staatsmannes, gewinnt ihre Bedeutung erst aus einem zuvor bekannten Zusammenhang. Die Reproduktion eines künstlerischen Porträts spricht ihre eigene Bedeutung aus - auch dann noch, wenn man nicht weiß, wer der Dargestellte ist. Sie läßt nicht nur das Allgemeine erkennen, sondern vereinigt uns eben dadurch auf das allen Gemeinsame hin. Gerade weil das Reproduzierte >nur< ein Gemälde ist und nicht eine >wirkliche< Fotografie, weil es also nur >Gespieltes< ist, umfaßt es uns als Mitspieler. Wir wissen, wie es gemeint ist, und nehmen es so. Man mag von hier aus ermessen, wie unangemessen das Kunstverständnis und der Kunstbetrieb im Zeitalter der Kulturindustrie geworden ist, die den Mitspieler zum bloßen auszubeutenden Konsumenten degradiert. Es ist ein falsches Selbstverständnis, das einem da zugemutet wird. Den bloßen Zuschauer gibt es gar nicht, der sich im Theater oder Konzertsaal, im Museum oder in der Abgeschiedenheit des Lesens einem ästhetischen oder Bildungsgenuß in unberührbarer Distanz hingibt. Er mißversteht sich selbst. Es ist eine Fluchtbewegung des ästhetischen Selbstverständnisses, in der Begegnung mit dem Kunstwerk bloße Entrückung oder Verzauberung - das heißt eine bloße Befreiung vom Druck der Wirklichkeit - zu erblicken und den Genuß solcher Scheinfreiheit zu genießen. Was wir am Vergleich zwischen den Spielen, welche die Menschen sich erfunden und geschaffen haben, und der unbezogenen Spielbewegung des reinen Lebensüberschusses zu lernen haben, ist eben dies, daß das im Spiel der Kunst Gespielte keine Ersatz- oder Traumwelt ist, in der wir uns vergessen. Das Spiel der Kunst ist vielmehr ein durch die Jahrtausende hindurch immer aufs neue vor uns auftauchender Spiegel, in dem wir uns selber erblicken - oft unerwartet genug, oft fremdartig genug -, wie wir sind, wie wir sein könnten, was es mit uns ist. Ist es nicht am Ende immer ein falscher Schein, wenn man Spiel und Ernst so voneinander trennt, daß das Spiel nur in ausgegrenzten Bereichen, in Randgebieten unseres Ernstes, zugelassen wird - in der >Freizeit<, die wie ein Renkt von verlorener Freiheit zeugt? Spiel und Ernst, die Lebensbewegung aus Überschuß und Oberschwang und die gespannte Kraft unserer Lebensenergie, sind in Wahrheit zutiefst ineinander verwoben. Das eine wirkt auf das andere zurück. Daß Spielenkönnen die Ausübung eines höchsten Ernstes ist, haben tieferblikkende Kenner der menschlichen Natur nicht verkannt. So lesen wir bei Nietzsche: »Reife des Mannes, das heißt, den Ernst wiedergefunden haben, den man als Kind hatte - beim Spiel. « Nietzsche hat aber auch das Umge-
kehrte gewußt und in der göttlichen Leichtigkeit des Spieles die schöpferische Macht des Lebens - und der Kunst - gefeiert. Es ist die Erfahrung einer entfremdeten Welt, wenn auf dem Gegensatz zwischen Leben und Kunst bestanden wird3, und es ist eine Abstraktion, die gegen die Verwobenheit von Kunst und Leben blind macht, wenn man die universale Reichweite und die ontologische Dignität des. Spieles verkennt. Es ist nicht so sehr die andere Seite des Ernstes, als vielmehr der wahre Lebensgrund der Natürlichkeit des Geistes, Bindung und Freiheit zugleich. Gerade weil es nicht bloße Freiheit der Beliebigkeit und des blinden Naturüberschusses ist, was in den schöpferischen Gestaltungen der Kunst vor uns steht, vermag es alle Ordnungen unseres sozialen Lebens zu durchdringen, durch alle Klassen, Rassen, Bildungsstufen hindurch. - Denn diese Gestaltungen unseres Spielens sind Formungen unserer Freiheit.
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Vgl. >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 88ff.
Die Aktualität des Schönen
10. Die Aktualität des Schönen Kunst als Spiel, Symbol und Fest (1974)
Es scheint mir sehr bedeutungsvoll, daß es sich bei der Frage der Rechtfertigung der Kunst nicht nur um ein aktuelles, sondern um ein sehr altes Thema handelt. Ich habe meine eigenen Anfänge als Gelehrter dieser Frage gewidmet, indem ich eine Schrift >Plato und die Dichten (1934) veröffentlichte1. In der Tat war es die neue philosophische Gesinnung und der neue Anspruch auf Wissen, den die Sokratik erhob, unter dem zum erstenmal in der Geschichte des Abendlandes, soweit wir wissen, Kunst vor ihre Legitimationsforderung gestellt wurde. Zum erstenmal wurde hier sichtbar, daß es sich nicht von selbst versteht, daß die Weitergabe traditioneller Inhalte in bildnerischer oder erzählerischer Form, die auf eine vage Weise Aufnahme und Ausdeutung erfahren, das Recht auf Wahrheit besitzt, das sie beansprucht. So ist es in der Tat ein ernstes altes Thema, das immer dann aufgeworfen wird, wenn ein neuer Anspruch auf Wahrheit sich der Traditionsform entgegenstellt, die sich in der Gestalt dichterischer Erfindung oder künstlerischer Formensprache fortspricht. Man denke an die spätantike Kultur mit ihrer oft beklagten Bilderfeindlichkeit. Damals, als die Wände durch Inkrustation und Mosaik und Dekoration bedeckt wurden, klagten die bildenden Künstler der Zeit, daß ihre Zeit vorüber sei. Ähnliches gilt für die Beschränkung und Beendung der Rede- und dichterischen Gestaltungsfreiheit, die mit dem römischen Imperium über die spätantike Welt gekommen ist und die Tacitus in seinem berühmten Dialog über den Verfall der Redekunst, dem >Dialogus de oratoribus<, beklagte. Man denke aber vor allem - und damit nähern wir uns bereits unserem Heute mehr, als uns im ersten Augenblick vielleicht bewußt ist - an die Stellung, die das Christentum zur Tradition der Kunst einnahm, die es vorfand. Es ist eine Entscheidung säkularer Art gewesen, als der Bildersturm abgewehrt wurde, der in der späteren Entwicklung der christlichen Kirche des ersten Jahrtausends, im 6. und 7. Jahrhundert vor allem, einsetzte. Damals fand die Kirche eine neue Sinn1
Jetzt in Ges. Werke Bd. 5, S. 187-211.
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gebung für die Formensprache der bildenden Künstler und später auch für die Redeformen der Poesie und der Erzählkunst, die der Kunst eine neue Legitimation brachte. Das war insoweit eine begründete Entscheidung, als es ja nur der neue Inhalt der christlichen Verkündigung war, in dem sich die tradierte Formensprache neu legitimieren konnte. Die >Biblia pauperum<, die Bibel für die Armen, die nicht lesen oder kein Latein können und deswegen die Sprache der Verkündigung nicht mit vollem Verständnis aufnehmen, war — als Bild-Erzählung — eines der maßgebenden Leitmotive für die Rechtfertigung der Kunst im Abendland. Wir leben in unserem Bildungsbewußtsein weitgehend von den Früchten dieser Entscheidung, d. h. von der großen Geschichte der abendländischen Kunst, die über die christliche Kunst des Mittelalters und die humanistische Erneuerung der griechischen und römischen Kunst und Literatur eine gemeinsame Formensprache für die gemeinsamen Inhalte unseres Selbstverständnisses entwickelt hat - bis in die Tage des ausgehenden 18. Jahrhunderts, bis zu der großen gesellschaftlichen Umschichtung und politischen und religiösen Veränderung, mit der das 19. Jahrhundert einsetzte. Im österreichischen und im Süddeutschen braucht man die Synthese antik-christlicher Inhalte, die in den gewaltigen Brandungswellen barocken Kunstschaffens so lebendig vor uns aufschäumt, nicht mit Worten vor Augen zu stellen. Freilich hatte auch dieses Weltalter der christlichen Kunst und der christlich-antiken, christlich-humanistischen Tradition seine Anfechtungen und erfuhr Umwandlungen, zu denen nicht zuletzt der Einfluß der Reformation gehörte. Sie stellte ihrerseits eine neue Kunstart in besonderer Weise in den Mittelpunkt: die durch den Gemeindegesang getragene Form einer Musik, die vom Wort her die Formensprache der Musik neu beseelte — man denke an Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach — und damit die ganze große Tradition christlicher Musik in ein Neues hinein fortsetzte, eine Tradition ohne Bruch, die mit dem Choral, d. h. letzten Endes mit der Einheit der lateinischen Hymnensprache und der gregorianischen Melodie, anhob, die dem großen Papst als Gabe gegeben war. Das Problem, d. h. die Frage nach der Rechtfertigung der Kunst, gewinnt auf diesem Hintergrund eine bestimmte erste Orientierung. Wir können uns für diese Fragestellung der Hilfe derer bedienen, die über die gleiche Frage ehedem nachgedacht haben. Dabei sei nicht geleugnet, daß die neue Situation der Kunst, die wir in unserem Jahrhundert erleben, nun wirklich als Bruch einer einheitlichen Tradition zu gelten hat, deren letzte große Nachwelle das 19. Jahrhundert dargestellt hat. Als Hegel, der große Lehrer des spekulativen Idealismus, in Heidelberg zum erstenmal und dann in Berlin seine Ästhetikvorlesungen hielt, war eines seiner einleitenden Motive die
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Lehre von dem »Vergangenheitscharakter der Kunst«2. Wenn man die Hegeische Fragestellung rekonstruiert und neu durchdenkt, entdeckt man mit Erstaunen, wie sehr sie unsere eigenen Fragen an die Kunst vorformuliert. Ich möchte das in einer einleitenden Betrachtung in aller Kürze vorfuhren, damit wir die Motivation einsehen, warum wir im Fortgang unserer Überlegungen hinter die Selbstverständlichkeit des herrschenden Kunstbegriffs zurückfragen müssen und die anthropologischen Fundamente aufzudecken haben, auf denen das Phänomen der Kunst aufruht und von denen her wir seine neue Legitimation erarbeiten müssen. »Der Vergangenheitscharakter der Kunst« — das ist eine Formulierung Hegels, mit der er in radikaler Zuspitzung den Anspruch der Philosophie formulierte, der dahin geht, unser Erkennen der Wahrheit selber noch zum Gegenstand unseres Erkennens zu machen, unser Wissen des Wahren selber zu wissen. Diese Aufgabe und dieser Anspruch, den Philosophie von jeher erhob, ist in Hegels Augen nur dann vollendet, wenn sie die Wahrheit, wie sie in der Zeit in geschichtlicher Entfaltung zutage getreten ist, in einer großen Summe und Ernte in sich begreift. Daher war es der Anspruch der Hegeischen Philosophie, gerade auch und vor allem die Wahrheit der christlichen Verkündigung in den Begriff zu erheben. Das gilt selbst für das tiefste Geheimnis der christlichen Lehre, das Geheimnis der Trinität, von dem ich persönlich glaube, daß es als Herausforderung für das Denken wie als Verheißung, die die Grenzen menschlichen Begreifens ständig überschreitet, den Gang des menschlichen Nachdenkens im Abendland beständig belebt hat. Es war in der Tat der verwegene Anspruch Hegels, daß seine Philosophie selbst dieses äußerste Geheimnis christlicher Lehre, an dem sich das Denken der Theologen wie der Philosophen seit vielen Jahrhunderten abarbeitete, zuschärfte, verfeinerte und vertiefte, umfaßt und die volle Wahrheit dieser christlichen Lehre in der Form des Begriffes versammelt "habe. Ohne diese dialektische Synthese einer sozusagen philosophischen Trinität, einer ständigen Auferstehung des Geistes, in der Weise, wie Hegel das versucht hat, hier vorzufuhren, mußte ich dieselbe doch erwähnen, damit Hegels Stellung zur Kunst und seine Aussage über den Vergangenheitscharakter der Kunst überhaupt verständlich wird. Was Hegel meint, ist nämlich in erster Linie nicht das Ende der abendländisch-christlichen Bildtradition, das damals in der Tat erreicht war — wie wir heute meinen. Was er als Zeitgenosse empfand, war erst recht nicht ein Sturz in Verfremdung und Herausforde2
Vgl. dazu meine beiden Hegel-Studien in diesem Band (Nr. 18 u. 19) sowie den Aufsatz >Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart. Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel< von DIETER HENKICH in: Immanente Ästhetik - Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, hrsg. von WOLFGANG ISER (München 1966) und meine Rezension in: Philosophische Rundschau 15 (1968)^ jetzt in diesem Band S. 62ff.
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rung, wie wir sie heute als Zeitgenossen am Schaffen der abstrakten und gegenstandslosen bildenden Kunst erleben. Es war auch sicherlich nicht Hegels eigene Reaktion, die jedem Besucher des Louvre heute widerfährt, wenn er in diese großartige Sammlung der hohen und reifen Malkunst des Abendlandes eintritt und als erstes mit den Révolutions- und Krönungsbildern der Revolutionskunst des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts überfallen wird. Hegel meinte sicher nicht - wie sollte er auch? - , daß mit dem Barock und seinen späten Rokokoformen der letzte abendländische Stil über die Bühne der Menschheitsgeschichte geschritten war. Er wußte nicht, was wir in der Rückschau wissen, daß nun das historisierende Jahrhundert einsetzte, und ahnte nicht, daß im 20. Jahrhundert die kühne Selbstbefreiung aus den historischen Banden des 19. Jahrhunderts es in einem anderen, gewagten Sinne wahr machen würde, daß alle bisherige Kunst als etwas Vergangenes erscheint. Er meinte vielmehr, wenn er vom Vergangenheitscharakter der Kunst sprach, daß sich die Kunst nicht mehr in der Weise von selber verstehe, wie sie sich in der griechischen Welt und ihrer Darstellung des Göttlichen mit Selbstverständlichkeit verstanden hatte. In der griechischen Welt war es die Erscheinung des Göttlichen in der Skulptur und im Tempel, der im südlichen Licht offen in die Landschaft hineinstand, sich gegen die ewigen Mächte der Natur niemals verschließend. Es war die große Skulptur, in der das Göttliche sich in der Gestaltung durch Menschen und in der Gestalt von Menschen anschaulich darstellte. Die eigentliche These Hegels ist, daß der Gott und das Göttliche für die griechische Kultur in der Form ihres eigenen bildnerischen und gestalterischen Sagens eigens und eigentlich offenbar wurde und daß bereits mit dem Christentum und seiner neuen und vertieften Einsicht in die Jenseitigkeit Gottes ein adäquater Ausdruck ihrer eigenen Wahrheit in der Formensprache der Kunst und in der Bildersprache dichterischer Rede nicht mehr möglich war. Das Werk der Kunst ist nicht mehr das Göttliche selbst, das wir verehren. Der Vergangenheitscharakter der Kunst stellt eine These dar, welche einschließt, daß mit dem Ende der Antike Kunst rechtfertigungsbedürftig erscheinen muß. Ich deutete bereits an, daß die Leistung dieser Rechtfertigung durch die christliche Kirche und die humanistische Verschmelzung mit antiker Tradition im Laufe der Jahrhunderte auf die großartige Weise erbracht worden ist, die wir die christliche Kunst des Abendlandes nennen. Es ist überzeugend, daß Kunst damals, als sie in einem großen Rechtfertigungszusammenhang mit der Welt um sich stand, eine selbstverständliche Integration zwischen Gemeinschaft, Gesellschaft, Kirche und dem Selbstverständnis des schaffenden Künstlers vollbrachte. Unser Problem ist aber gerade, daß diese Selbstverständlichkeit und damit die Gemeinsamkeit eines umfassenden Selbstverständnisses nicht weiterbesteht - und zwar schon im
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19. Jahrhundert nicht mehr. Das drückt sich in Hegels These aus. Schon damals begann es, daß sich die großen Künstler mehr oder minder ortlos in einer sich industrialisierenden und kommerzialisierenden Gesellschaft wußten, so daß der Künstler den alten Ruch und Ruf der fahrenden Leute sozusagen am eigenen Bohemeschicksal bestätigt fand. Es war bereits im 19. Jahrhundert so, daß jeder Künstler in dem Bewußtsein lebte, daß die Selbstverständlichkeit der Kommunikation zwischen ihm und den Menschen, unter denen er lebt und für die er schafft, nicht mehr fortbestand. Der Künstler des 19. Jahrhunderts steht nicht in einer Gemeinde, sondern er schafft sich eine Gemeinde, mit all der Pluralität, die dieser Situation angemessen ist, und mit all der übersteigerten Erwartung, die damit notwendig verknüpft ist, wenn eingestandene Pluralität sich mit dem Anspruch verknüpfen muß, daß allein die eigene Schaffensform und Schaffensbotschaft die wahre sei. Das ist in der Tat das messianische Bewußtsein des Künstlers im 19. Jahrhundert. Wie eine Art »neuer Heiland« (Immermann) fühlt er sich in seinem Anspruch an die Menschen. Er bringt eine neue Botschaft der Versöhnung, und wie ein Außenseiter der Gesellschaft bezahlt er diesen Anspruch, indem er mit seinem Künstlertum nur noch Künstler für die Kunst ist.
Zentralperspektive nicht eine selbstverständliche Gegebenheit bildnerischen Sehens und bildnerischen Schaffens. Es gab sie im christlichen Mittelalter überhaupt nicht. Es war in der Renaissance, in diesem Zeitalter des starken neuen Auflebens naturwissenschaftlicher und mathematischer Konstruktionsfreude, daß die Zentralperspektive als eines der großen Wunder des menschlichen Fortschritts in Kunst und Wissenschaft für das Malen verbindlich wurde. Das langsame Ende der Selbstverständlichkeit dieser Erwartung der Zentralperspektive hat uns überhaupt erst so ganz die Augen für die große Kunst des hohen Mittelalters geöffnet, für die Zeit, in der das Bild noch nicht wie ein Auslug durch ein Fenster vom nahen Vordergrund bis in den fernen Horizont hinein verdämmert, sondern klar lesbar wie eine Zeichenschrift, eine Schrift aus Bildzeichen, unsere geistige Belehrung in eins mit unserer geistlichen Erhebung leistete. So war die Zentralperspektive nur eine historisch gewordene und vorübergehende Gestaltungsform unseres bildnerischen Schaffens. Aber ihre Durchbrechung war der Vorläufer viel weitergehender und unsere Formtradition weitgehend verfremdender Entwicklungen modernen Schaffens. Ich erinnere an die kubistische Formzertrümmerung, an der sich um 1910 herum fast alle großen Maler der Zeit mindestens eine Zeitlang versuchten, und an die Umwandlung dieses kubistischen Traditionsbruches in die vollständige Aufhebung des Gegenstandsbezuges bildnerischer Formung überhaupt. Ob diese Aufhebung unserer gegenständlichen Erwartungen wirklich total ist, mag dahingestellt sein. Doch eines ist sicher: Die naive Selbstverständlichkeit, daß das Bild ein Anblick ist — so wie der Anblick, den uns unsere tägliche Lebenserfahrung von der Natur oder der von Menschen gestalteten Natur verschafft—, ist offenkundig gründlich zerstört. Man kann ein kubistisches Bild oder ein Bild der Gegenstandslosen nicht mehr >uno intuitiK, mit einem lediglich aufnehmenden Blick, sehen. Man hat dazu eine besondere Leistung des Tätigseins zu vollbringen: Man hat die verschiedenen Facetten, deren Risse auf der Leinwand erscheinen, in eigener Arbeit zu synthetisieren, und dann mag man am Ende von der tiefen Stimmigkeit und Richtigkeit einer Schöpfung genauso ergriffen und erhoben werden, wie das in früheren Zeiten auf der Basis einer gemeinsamen Bildinhaltlichkeit fraglos geschah. Was das für unser Nachdenken bedeutet, wird zu fragen sein4. Oder ich erinnere an die moderne Musik, an das völlig neue Vokabular von Harmonie und Dissonanz, das da benutzt wird, an die eigentümliche Verdichtung, die durch den Bruch mit den alten Kompositionsregeln und der Satzarchitektur der großen musikalischen Klassik erreicht wird. Man kann sich dem so wenig entziehen, wie man sich der Tatsache entziehen kann, daß
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Aber was ist das alles gegen die Befremdung und den Stoß, den das neuere Kunstschaffen unseres Jahrhunderts unserem öffentlichen Selbstverständnis zumutet? Ich möchte taktvoll davon schweigen, wie prekär es etwa für den reproduzierenden Künstler ist, moderne Musik im Konzertsaal zu Gehör zu bringen. Er kann das ja meist nur als Mittelstück eines Programms tun sonst kommen die Zuhörer entweder nicht rechtzeitig oder gehen zu frühzeitig: Ausdruck einer Situation, die es früher nicht geben konnte und über deren Bedeutung wir nachdenken müssen. Was darin zum Ausdruck kommt, ist der Zwiespalt zwischen Kunst als Bildungsreligion auf der einen Seite und Kunst als Provokation durch den modernen Künstler auf der anderen Seite. Ansätze dessen und die allmähliche Zuspitzung dieses Konfliktes lassen sich etwa an der Geschichte der Malerei des 19. Jahrhunderts leicht verfolgen. Es war schon eine Vorbereitung der neuen Provokation, als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine der Grundvoraussetzungen des Selbstverständnisses der bildenden Kunst in den letzten Jahrhunderten brüchig wurde: die Geltung der Zentralperspektive3. Das ist zuerst in Bildern von Hans von Marées zu beobachten, und später knüpfte sich daran die große revolutionäre Bewegung, die vor allem in der Meisterschaft von Paul Cézanne Weltgeltung erworben hat. Gewiß ist die 3
Vgl. GOTTFRIED BOEHM, Studien zur Perspektivität. Philosophie und Kunst in der Frühen Neuzeit. Heidelberg 1969.
4 Vgl. dazu in diesem Band die Beiträge >Kunst und Nachahmung< (Nr. 4) und >Vom Verstummen des Bildes< (Nr. 28).
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man, wenn man durch ein Museum geht und in die Säle der neuesten künstlerischen Entwicklung eintritt, etwas wahrhaft hinter sich läßt. Wenn man sich auf das Neue einläßt, dann bemerkt man bei der Rückkehr zu dem Älteren ein eigentümliches Verblassen unserer Aufhahmebereitschaft. Das ist gewiß nur eine Kontrastreaktion und durchaus nicht die bleibende Erfahrung eines bleibenden Verlustes, aber gerade die Schärfe des Kontrastes zwischen diesen neuen Formen von Kunst und den alten wird daran deutlich. Ich erinnere an die hermetische Poesie, der seit jeher das besondere Interesse der Philosophen gilt. Denn wo kein anderer versteht, scheint der Philosoph berufen. Die Poesie unserer Zeit ist in der Tat an die Grenze des bedeutungshaft Verständlichen vorgedrungen, und vielleicht sind gerade die größten Leistungen der Größten unter diesen Künstlern des Wortes von dem tragischen Verstummen im Unsagbaren gezeichnet5. Ich erinnere an das neue Drama, für das die klassische Lehre von der Einheit von Zeit und 'Handlung längst wie ein vergessenes Märchen klingt und in dem selbst die Einheit des Charakters bewußt und betont verletzt wird, ja wo die Verletzung dessen zum Formprinzip neuer dramatischer Gestaltung wird, wie etwa bei Bertolt Brecht. Und ich erinnere an die moderne Architektur: Was für eine Befreiung - oder Versuchung? - ist es geworden, den hergebrachten Gesetzen der Statik mit Hilfe der neuen Materialien etwas entgegensetzen zu können, was mit Bauen, mit dem Schichten von Stein auf Stein, keine Ähnlichkeit mehr hat, vielmehr eine völlig neue Schöpfung darstellt - diese Gebäude, die sozusagen auf der Spitze stehen oder auf dünnen, schwachen Säulen, und wo die Mauer, die Wände, das schützende Gehäuse durch Öffnung zu zeltgleichen Bedachungen und Bedeckungen ersetzt sind. Dieser kurze Überblick sollte nur bewußtmachen, was eigentlich geschehen ist und warum Kunst heute eine neue Frage stellt — ich meine: warum verstehen, was Kunst heute ist, eine Aufgabe für das Denken stellt.
wenn er in Museen geht und von einem Saal in den andern tritt oder wenn er - vielleicht gegen seine Neigung — in einem Konzertprogramm oder in einem Theaterstück mit moderner Kunst oder auch nur mit modernistischer Reproduktion von klassischer Kunst konfrontiert wird. Er ist es immer. Unser tägliches Leben ist ein beständiges Schreiten durch die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft. So gehen zu können, mit diesem Horizont offener Zukunft und unwiederholbarer Vergangenheit, ist das Wesen dessen, was wir >Geist< nennen. Mnemosyne, die Muse des Gedächtnisses, die Muse der erinnernden Aneignung, die darin waltet, ist zugleich die Muse der geistigen Freiheit. Das Gedächtnis und die Erinnerung, welche die vergangene Kunst und die Tradition unserer Kunst in sich aufnimmt, so wie die Kühnheit des neuen Experimentierens mit unerhörten formwidrigen Formen sind die gleiche Betätigung des Geistes. Wir werden uns fragen müssen, was aus dieser Einheit von Gewesenem und Heutigem folgt. Diese Einheit ist aber nicht nur eine Frage unserer ästhetischen Selbstverständigung. Es ist nicht nur die Aufgabe, uns bewußtzumachen, wie eine tiefere Kontinuität vergangene Formsprachen mit dem Formbruch der Gegenwart verbindet. Es ist ein neues gesellschaftliches Agens in dem Anspruch des modernen Künstlers. Es ist eine Art Frontstellung gegen die bürgerliche Bildungsreligion und ihr Zeremoniell des Genusses, die den Künstler von heute in mannigfaltiger Weise auf den Weg gelockt hat, unsere Aktivität in seine eigenen Ansprüche einzubeziehen, so wie es bei jedem Aufbau eines kubistischen oder ungegenständlichen Bildes geschieht, in dem die Facetten der wechselnden Anblicke vom Beschauer schrittweise synthetisiert werden sollen. Es liegt im Anspruch des Künstlers, die neue Kunstgesinnung, aus der er schafft, zugleich als eine neue Solidarisierung, als eine neue Form der Kommunikation aller mit allen, ins Werk zu setzen. Ich meine damit nicht nur, daß die großen schöpferischen Leistungen der Kunst auf tausend Wegen in die Gebrauchswelt und die dekorative Gestaltung unserer Umwelt absinken — oder sagen wir: nicht absinken, sondern diffundieren, sich ausbreiten und so eine gewisse Stileinheit unserer menschlich erarbeiteten Welt bereiten. Das ist immer so gewesen, und es ist kein Zweifel, daß auch die konstruktive Gesinnung, die wir in der bildnerischen Kunst von heute und in der Architektur finden, bis tief in die Gerätschaften hinein wirkt, mit denen wir täglich in Küche, Haus, Verkehr und öffentlichem Leben Umgang haben. Es ist durchaus nicht von ungefähr, daß der Künstler in dem, was er schafft, eine Spannung zwischen den vom Herkommen gehegten Erwartungen und den neuen Gewohnheiten überwindet, die er mitbestimmend einführt. Die Situation unserer zugespitzten Moderne, wie ja auch die Art des Konfliktes und der Spannung zeigt, ist hervorstechend. Sie stellt das Nachdenken vor sein Problem.
Ich möchte diese Aufgabe auf verschiedenen Ebenen entfalten. Zunächst ist ein oberster Grundsatz, von dem ich ausgehe, daß man im Denken über diese Frage die Maße so zu nehmen hat, daß sie beides umfassen: die große Kunst der Vergangenheit und der Tradition und die Kunst der Moderne, die sich ihr ja nicht nur entgegenstellt, sondern auch ihre eigenen Kräfte und Impulse aus ihr gezogen hat. Eine erste Voraussetzung ist, daß beides als Kunst verstanden werden muß und daß beides zusammengehört. Nicht nur, daß kein Künstler von heute ohne die Vertrautheit mit der Sprache der Tradition seine eigenen Kühnheiten überhaupt hätte entwickeln können, und nicht nur, daß auch der Aufnehmende von der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart ständig umgeben ist. Er ist es ja nicht nur, 5
Vgl. meinen Aufsatz >Verstummen die Dichter?«, jetzt in Ges. Werke Bd. 9, S. 362ff.
Zwei Dinge scheinen hier einander entgegenzukommen: unser histori-
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sches Bewußtsein und die Reflektiertheit des modernen Menschen und Künstlers. Die historische Bewußtheit, das historische Bewußtsein ist nichts, womit man allzu gelehrte oder weltanschauliche Vorstellungen verbinden sollte. Man hat einfach an das zu denken, was allen selbstverständlich ist, wenn sie mit irgendeiner künstlerischen Schöpfung der Vergangenheit konfrontiert werden. Es ist so selbstverständlich, daß sie sich dessen nicht einmal bewußt sind, daß sie mit historischem Bewußtsein daran herantreten. Sie erkennen das Kostüm einer Vergangenheit als historisches Kostüm, akzeptieren Bildinhalte der Tradition in wechselnden Kostümen, und kein Mensch wundert sich, wenn Altdorfer in der >Alexanderschlacht< selbstverständlich mittelalterliche Recken und >moderne< Truppenformationen aufmarschieren läßt, als ob Alexander der Große die Perser in diesem Gewand besiegt hätte6. Dies ist eine solche Selbstverständlichkeit für unsere historische Gestimmtheit, daß ich zu sagen wage: Ohne solche historische Gestimmtheit würde die Richtigkeit, d. h. die Meisterschaft in der Gestaltung früherer Kunst, vielleicht gar nicht wahrnehmbar sein. Wer sich noch von dem anderen als anderem befremden ließe, wie das der historisch Unerzogene (den es kaum noch gibt) tun würde oder getan hätte, der würde eben jene Einheit von Inhalt und Formgestaltung, die offenbar zum Wesen alles wahren künstlerischen Gestaltens gehört, nicht in ihrer Selbstverständlichkeit erfahren können.
bestimme ich als einen ersten Schritt unserer Besinnung die Aufgabe, sich die Begriffe für die Fragestellung zu erarbeiten. Ich werde zunächst an der Situation der philosophischen Ästhetik die begrifflichen Mittel darstellen, durch die wir das exponierte Thema bewältigen wollen, und werde dann zeigen, daß dabei die im Thema angekündigten drei Begriffe eine führende Rolle spielen werden: der Rückgang auf das Spiel, die Ausarbeitung des Begriffes des Symbols, d.h. der Möglichkeit der Wiedererkennung unser selbst, und schließlich das Fest als der Inbegriff wiedergewonnener Kommunikation aller mit allen. Es ist die Aufgabe der Philosophie, das Gemeinsame auch unter dem Differenten zu finden. »Auf eines hin zusammensehen lernen«7, das ist nach Plato die Aufgabe des philosophischen Dialektikers. Welche Mittel stellt uns nun die Tradition der Philosophie bereit, um die Aufgabe zu lösen oder auch nur einem klareren Selbstverständnis entgegenzuführen, die wir uns hier gestellt haben, nämlich die Aufgabe, den ungeheuren Bruch zwischen der formalen und inhaltlichen Tradition abendländischer bildender Kunst und den Idealen der heute Schaffenden zu überbrücken? Die erste Orientierung wird uns vom Wort >Kunst< gegeben. Wir dürfen nie unterschätzen, was ein Wort uns sagen kann. Das Wort ist ja die Vorleistung des Denkens, die vor uns vollbracht worden ist. So ist hier das Wort >Kunst< der Punkt, an dem wir mit unserer Orientierung zu beginnen haben. Von diesem Wort >Kunst< weiß jeder ein wenig historisch Erzogene sofort, daß es erst seit noch nicht 200 Jahren den ausschließenden und auszeichnenden Sinn trägt, den wir heute damit verbinden. Noch im 18. Jahrhundert war es selbstverständlich, daß man, wenn man die Kunst meinte, »die schöne Kunst« sagen mußte. Denn ihr zur Seite standen, als der selbstverständlich weitaus größere Bereich menschlicher Kunstfertigkeit, die mechanischen Künste, die Künste im Sinne der Technik, der handwerklichen und industriellen Arbeitsproduktion. Einen Begriff von Kunst in unserem Sinn werden wir daher in der Tradition der Philosophie nicht antreffen. Was wir bei den Vätern des abendländischen Denkens, bei den Griechen, zu lernen haben, ist gerade dies, daß Kunst in den Gesamtbegriff dessen gehört, was Aristoteles >Poietikë Episteme< nannte, d. h. das Wissen und Können des Herstellens8. Was zwischen dem Herstellen des Handwerkers und dem Schaffen des Künstlers gemeinsam ist und was solches Wissen von dem der Theorie oder des praktisch-politischen Wissens und Entscheidens unterscheidet, ist die Ablösung des Werkes vom eigenen Tun. Das gehört zum Wesen des Hersteilens, und man wird es wohl im Sinne behalten müssen, wenn man die Kritik am Werkbegriff, die von den heutigen Modernen gegen die Kunst der
Das historische Bewußtsein ist also nicht eine besondere gelehrte oder weltanschaulich bedingte methodische Haltung, sondern eine Art Instrumentation der Geistigkeit unserer Sinne, die unser Sehen und unser Erfahren von Kunst schon im vorhinein bestimmt. Damit geht offenbar zusammen — auch dies eine Form der Reflektiertheit - , daß wir keine naive Wiedererkennung verlangen, die uns unsere eigene Welt in einer zur Dauer verfestigten Gültigkeit noch einmal vor Augen stellt, sondern daß wir die ganze große Tradition unserer eigenen Geschichte, ja die Traditionen und Formungen ganz anderer Welten und Kulturen, die nicht die abendländische Geschichte bestimmt haben, in der gleichen Weise in ihrer Andersheit reflektieren und eben dadurch uns zu eigen machen können. Es ist eine hohe Reflektiertheit, die wir alle mitbringen und die den Künstler von heute zu seiner eigenen produktiven Gestaltung ermächtigt. Wie das auf so revolutionäre Weise gelingen kann und warum sich das historische Bewußtsein und seine neue Reflektiertheit mit dem niemals aufgebbaren Anspruch verknüpfen, daß all das, was wir sehen, da ist und uns unmittelbar anspricht, als wären wir es selbst, das zu erörtern ist offenbar die Aufgabe des Philosophen. Und so 6
Vgl. REINHART KOSELLECK, >Historia magistra vitae<. In: Natur und Geschfchte. Karl
Löwith zum 70. Geburtstag, hrsg. von HERMANN BRAUN und MANFRED RIEDEL. Stuttgart
7
1967, S. 196-219.
8
Phaidr. 265 d 3: εις μίαν ίδέαν owopâv. Met. E l , 1025 b ,8ff.
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Tradition und gegen den bürgerlichen Bildungsgenuß, der mit ihr verknüpft ist, gerichtet wird, verstehen und in seinen Grenzen ermessen will. Jedenfalls kommt ein Werk dabei heraus. Das ist offenkundig ein gemeinsamer Zug. Das Werk, als der intentionale Zielpunkt einer geregelten Arbeitsanstrengung, wird als das, was es ist, freigesetzt, aus dem Verband des herstellenden Tuns entlassen. Denn das Werk ist per definitionem für den Gebrauch bestimmt. Plato pflegte zu betonen, daß das Wissen und Können des Herstellers dem Gebrauch untergeordnet ist und vom Wissen dessen abhängt, der den Gebrauch übernimmt 9 . Der Schiffer gibt an, was der Schiffsbauer zu bauen hat. Das ist das alte Platonische Beispiel. Der Begriff des Werkes weist also auf eine Sphäre des gemeinsamen Gebrauches und damit auf gemeinsames Verstehen, auf Kommunikation in Verständlichkeit. Nun ist es aber die eigentliche Frage, wie sich denn innerhalb dieses Gesamtbegriffes herstellenden Wissens die >Kunst< von den mechanischen Künsten unterscheidet. Die antike Antwort darauf, die uns noch zu denken geben wird, ist, daß es sich hier um imitatives Tun handelt, um Nachahmung. Nachahmung ist dabei auf den Gesamthorizont der >Physis<, der Natur, bezogen. Weil die Natur in ihrem bildnerischen Tun noch etwas zu gestalten übrigläßt, einen Leerraum von Gestaltung dem menschlichen Geist auszufüllen überläßt, ist Kunst »möglich«. Da nun aber die Kunst, die wir >Kunst< nennen, dieser allgemeinen bildenden Tätigkeit des Hersteilens gegenüber mit allerhand Rätselhaftem belastet ist, sofern das >Werk< ja nicht >wirklich« das ist, was es darstellt, sondern nur imitativ fungiert, verknüpft sich damit eine ganze Menge höchst subtiler philosophischer Probleme und vor allen Dingen das Problem des seienden Scheins. Was bedeutet es, daß hier nichts Wirkliches hergestellt wird, sondern etwas, dessen »Gebrauch« kein wirkliches Gebrauchen ist, sondern sich im betrachtenden Verweilen beim Schein eigentümlich erfüllt? Wir werden darüber noch etwas zu sagen haben. Aber zunächst ist es klar, daß keine unmittelbare Hilfe von den Griechen erwartet werden kann, wenn sie im besten Falle das, was wir >Kunst< nennen, als eine Art Nachahmung der Natur verstehen. Solche Nachahmung hat freilich nichts von der naturalistischen oder realistischen Kurzschlüssigkeit moderner Kunsttheorie. Das möge ein berühmtes Zitat aus der >Poetik< des Aristoteles bestätigen, wo Aristoteles sagt: »Die Poesie ist philosophischer als die Geschichtskunde.«10 Während nämlich die Geschichtskunde nur erzählt, wie es zugegangen ist, erzählt uns die Poesie, wie es immer zugehen kann. Sie lehrt uns, das Allgemeine im menschlichen Tun und Leiden zu sehen. Nun ist aber das Allgemeine offenbar die Aufgabe der Philosophie, und so
ist Kunst, weil sie das Allgemeine meint, philosophischer als die Historie. Das ist immerhin ein erster Wink, den uns das antike Erbe gibt. Einen Wink von noch weit größerer Tragweite, der auch über die Grenzen unserer zeitgenössischen Ästhetik hinausweist, gibt uns der zweite Teil unserer Verständigung über das Wort >Kunst<. Kunst meint >schöne Kunst«. Was aber ist das Schöne? Der Begriff des Schönen begegnet uns auch heute noch in mannigfaltigen Verwendungen, in denen etwas von dem alten und letzten Endes griechischen Sinn des Wortes >Kalon< weiterlebt. Auch wir verbinden mit dem Begriff des Schönen noch unter Umständen, daß etwas in der Öffentlichkeit anerkannt ist, durch Brauch und Sitte oder was immer sonst; daß es - wie wir sagen — sich sehen lassen kann und auf das Ansehen hin determiniert ist. Es lebt noch in unserem Sprachgedächtnis die Wendung von der »schönen Sittlichkeit« fort, durch die der deutsche Idealismus die griechische Staatenund Sittenwelt gegenüber dem seelenlosen Mechanismus der modernen Staatsmaschine charakterisiert hat (Schiller, Hegel). Da meint »schöne Sittlichkeit« nicht, daß es eine Sittlichkeit voll Schönheit ist, d. h. voll von Pomp und dekorativer Pracht, sondern daß sie sich in allen Formen des gemeinsamen Lebens darstellt und darlebt, das Ganze durchordnet und auf diese Weise den Menschen sich in seiner eigenen Welt beständig selbst begegnen läßt. Es ist auch für uns noch eine überzeugende Bestimmung des »Schönen«, daß es so von der Anerkennung und Zustimmung aller getragen wird. Daher gehört auch für unser natürlichstes Empfinden zum Begriff des »Schönen«, daß man nicht fragen kann, warum es gefallt. Ohne jede Zweckbeziehung, ohne jeden zu erwartenden Nutzen erfüllt sich das Schöne in einer Art von Selbstbestimmung und atmet die Freude an der Selbstdarstellung. Soviel über das Wort.
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' Politeia 601 d, e. 10 Poet. 9,1451b 4 ff.
Wo begegnet nun das Schöne so, daß sich dieses sein Wesen überzeugend erfüllt? Um von vornherein den ganzen wirklichen Horizont des Problems des Schönen und vielleicht auch dessen, was »Kunst« ist, zu gewinnen, ist es nötig, daran zu erinnern, daß für die Griechen der Kosmos, die Ordnung des Himmels, die eigentliche Anschaulichkeit des Schönen darstellt. Es ist ein pythagoreisches Element im griechischen Gedanken des Schönen. In der regelmäßigen Ordnung des Himmels haben wir eine der größten Anschaulichkeiten von Ordnung, die es überhaupt gibt. Die Perioden des Jahreslaufes, des Monatslaufes und des Tag- und Nachtwechsels bilden die zuverlässigen Konstanten von Ordnungserfahrung in unserem Leben - gerade im Kontrast zu der Zweideutigkeit und Wechselhaftigkeit unseres eigenen menschlichen Tuns und Treibens. In dieser Orientierung gewinnt der Begriff des Schönen, insbesondere im Denken Piatos, eine weit in unsere Problematik hineinleuchtende Funktion. Im Dialog »Phaidros« beschreibt Plato in Gestalt eines großen Mythos die
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Bestimmung des Menschen, seine Begrenztheit gegenüber dem Göttlichen und seine Verfallenheit an die Erdenschwere unseres leiblichen, triebhaften Daseins. Er beschreibt den großartigen Aufzug aller Seelen, in dem sich der nächtliche Aufzug der Gestirne spiegelt. Das ist eine Art Wagenfahrt auf die Spitze des Firmaments, angeführt von den olympischen Göttern. Die menschlichen Seelen fuhren ebenfalls Wagen mit einem Gespann und folgen den Göttern, die diesen Aufzug täglich fahren. Oben an der Spitze des Firmaments tut sich dann der Blick auf die wahre Welt auf. Was man dort sehen kann, ist nicht mehr dieses wechselvoll ordnungslose Treiben unserer irdischen sogenannten Welterfahrung, sondern die wahren Konstanten und bleibenden Konfigurationen des Seins. Während nun die Götter bei dieser Begegnung mit der wahren Welt sich ihrem Anblick voll hingeben, sind die menschlichen Seelen, da sie ein unordentliches Seelengespann sind, gestört, weil das Triebhafte in der menschlichen Seele den Blick verwirrt, können sie nur einen augenblickshaften, flüchtigen Blick auf jene ewigen Ordnungen werfen. Dann aber stürzen sie auf die Erde hinab und sind von der Wahrheit getrennt, an diesienureine ganzvage Erinnerung behalten. Undnunkommt, was ich zu erzählen habe. Es gibt für die in die Schwere des Irdischen gebannte Seele, die sozusagen ihr Gefieder verloren hat, so daß sie nicht mehr zu der Höhe des Wahren sich aufschwingen kann, eine Erfahrung, bei der das Gefieder wieder zu wachsen beginnt und die Erhebung wieder eintritt. Das ist die Erfahrung der Liebe und des Schönen, der Liebe zum Schönen. In wunderbaren hochbarocken Schilderungen denkt Plato dieses Erlebnis der erwachenden Liebe mit der geistigen Gewahrung des Schönen und der wahren Ordnungen der Welt zusammen. Dank dem Schönen gelingt es auf die Dauer, sich an die wahre Welt wiederzuerinnern. Das ist der Weg der Philosophie. Er nennt das Schöne das am meisten Hervorscheinende und Anziehende, sozusagen die Sichtbarkeit des Idealen. Das, was derart vor allem anderen hervorleuchtet, was ein solches Licht der überzeugenden Wahrheit und Richtigkeit an sich hat, ist es, was wir alle als das Schöne in Natur und Kunst gewahren und das uns die Zustimmung »Das ist das Wahre!« abnötigt.
ι Ein dritter Schritt führt uns unmittelbar an das heran, was wir in der Geschichte der Philosophie >Ästhetik< nennen. Die Ästhetik ist eine ganz späte Erfindung und fallt - bedeutungsvoll genug - etwa mit der Entlassung des eminenten Sinnes von Kunst aus dem Zusammenhang der Kunstfertigkeiten zusammen und mit ihrer Freisetzung zu der fast religiösen Funktion, die Begriff und Sache der Kunst für uns haben. Die Ästhetik ist als philosophische Disziplin erst im 18. Jahrhundert, d. h. im Zeitalter des Rationalismus, entstanden, offenbar herausgefordert durch den neuzeitlichen Rationalismus selbst, der sich auf der Basis der konstruktiven Naturwissenschaften erhebt, wie sie im 17. Jahrhundert entwickelt wurden und bis heute das Gesicht unserer Welt bestimmen, indem sie sich in einem immer atemberaubenderen Tempo in Technik umsetzen. Was veranlaßte die Philosophie, sich auf das Schöne zu besinnen? Angesichts der rationalistischen Gesamtorientierung an der mathematischen Gesetzmäßigkeit der Natur und ihrer Bedeutung fur die Meisterung der Naturkräfte scheint die Erfahrung des Schönen und der Kunst ein Bereich der äußersten subjektiven Beliebigkeit. Das war der große Aufbruch des 17. Jahrhunderts. Was kann das Phänomen des Schönen hier überhaupt beanspruchen? Die antike Erinnerung vermag uns immerhin klarzumachen, daß im Schönen und in der Kunst eine über alles Begreifliche hinausgehende Bedeutsamkeit begegnet. Wie wird ihre Wahrheit erfaßt? Alexander Baumgarten, der Begründer der philosophischen Ästhetik, sprach von einer >cognitio sensitiva<, einer sinnlichen Erkenntnis. >Sinnliche Erkenntnis« ist für die große Tradition von Erkenntnis, die wir seit den Griechen pflegen, zunächst ein Paradox. Erkenntnis ist etwas immer erst, wenn es die subjektive sinnliche Bedingtheit hinter sich gelassen hat und die Vernunft, das Allgemeine und das Gesetzhafte in den Dingen begreift. Das Sinnliche in seiner Einzelheit tritt dann nur als ein bloßer Fall einer allgemeinen Gesetzlichkeit auf. Es ist nun sicherlich nicht die Erfahrung des Schönen, weder in Natur noch in Kunst, daß wir das uns Begegnende nur als das Erwartete verrechnen und als einen Fall von etwas Allgemeinem verbuchen. Ein Sonnenuntergang, der uns bezaubert, ist nicht ein Fall von Sonnenuntergängen, sondern ist dieser einmalige Sonnenuntergang, der uns »der Himmel Trauerspiel« vorfuhrt. Im Bereich der Kunst ist es erst recht selbstverständlich, daß das Kunstwerk nicht als solches erfahren ist, wenn es nur in andere Zusammenhänge eingeordnet wird. Seine >Wahrheit<, die es für uns hat, besteht nicht in einer an ihm zur Darstellung kommenden allgemeinen Gesetzlichkeit. Vielmehr meint >cognitio sensitiva<, daß auch in dem, was scheinbar nur das Partikulare der sinnlichen Erfahrung ist und das wir immer auf ein Allgemeines hin zu beziehen pflegen, plötzlich angesichts des Schönen uns etwas festhält und-nötigt, bei dem individuell Erscheinenden zu verweilen.
Was wir aus dieser Geschichte als wichtigen Hinweis entnehmen, ist, daß das Wesen des Schönen gerade nicht darin besteht, der Wirklichkeit nur gegenüber und entgegengesetzt zu sein, sondern daß Schönheit, wie unverhofft sie auch begegnen mag, wie eine Bürgschaft ist, daß in aller Unordnung des Wirklichen, in all ihren Unvollkommenheiten, Bosheiten, Schiefheiten, Einseitigkeiten, verhängnisvollen Verwirrungen dennoch das Wahre nicht unerreichbar in der Ferne liegt, sondern uns begegnet. Es ist die ontologische Funktion des Schönen, den Abgrund zwischen dem Idealen und dem Wirklichen zu schließen. So gibt uns das Beiwort zur Kunst, >schöne Kunst< zu sein, einen zweiten wesentlichen Wink fur unsere Besinnung.
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Was geht uns darin an? Was ist es, das darin erkannt wird? Was ist wichtig und bedeutsam an diesem Vereinzelten, daß es den Gegenanspruch erheben kann, auch Wahrheit zu sein, und daß nicht nur das >Allgemeine<, wie die mathematisch formulierbaren Naturgesetze, wahr ist? Auf diese Frage eine Antwort zu finden ist die Aufgabe der philosophischen Ästhetik11. Für die Besinnung auf diese ihre eigene Problemstellung scheint es mir nützlich, sich die Frage zu stellen: Welche der Künste verspricht uns auf diese Frage die angemessenste Antwort zu geben? Wir wissen, wie verschiedenartig das Spektrum der menschlichen Kunstschöpfungen ist, wie verschieden etwa die redenden Künste oder die Musik als transitorische von den statuarischen Künsten, d. h. den bildenden Künsten und der Architektur, sind. Die Medien, in denen hier menschliche Gestaltung tätig wird, lassen dieselbe in sehr verschiedenem Lichte erscheinen. Eine Antwort deutet sich vom Historischen her an. Baumgarten definierte die Ästhetik auch einmal als die >ars pulchre cogitandi<, die Kunst, schön zu denken. Wer ein Ohr hat, spürt in diesem Fall sofort, daß diese Formulierung eine Analogiebildung ist, und zwar zur Definition der Rhetorik als der >ars bene dicendi<, der Kunst, gut zu reden. Das ist nicht zufällig. Rhetorik und Poetik gehören seit alters zusammen, und in gewisser Weise hat die Rhetorik dabei den Vorrang. Sie ist die Universalform menschlicher Kommunikation, die selbst heute noch unser gesellschaftliches Leben unvergleichlich viel tiefer bestimmt als die Wissenschaft. Für die Rhetorik ist ihre klassische Definition als >ars bene dicendi<, als die Kunst, gut zu reden, sofort überzeugend. An diese Definition der Rhetorik hat Baumgarten offenbar die Definition der Ästhetik angelehnt und sie als die Kunst, schön zu >denken<, definiert. Darin liegt ein wichtiger Hinweis darauf, daß die sprachlichen Künste vielleicht für die Lösung unserer Aufgaben, die wir uns gestellt haben, eine besondere Funktion besitzen. Das ist um so wichtiger, als die leitenden Begriffe, unter denen wir ästhetische Betrachtungen anstellen, in der Regel umgekehrt orientiert sind. Es ist fast immer die bildende Kunst, an der sich unser Nachdenken orientiert und auf die wir unsere ästhetische Begrifflichkeit am leichtesten anwenden. Das hat seine guten Gründe, nicht nur wegen der einfachen Hinzeigbarkeit auf das statuarische Werk, im Unterschied zu dem transitorischen Vorgang eines Theaterstücks, einer Musik oder eines dichterischen Werkes, das nur im Vorüberrauschen da ist, sondern vor allem doch wohl, weil für unser Denken über das Schöne das platonische Erbe immer allgegenwärtig ist. Von Plato wird das wahre Sein als das Urbild und alle Erscheinungswirklichkeit als Abbild solcher Urbildlichkeit gedacht. Das hat für die Kunst etwas Überzeugendes, wenn man jeden Trivialsinn fernhält. So ist man
versucht, um die Erfahrung der Kunst zu fassen, in die Tiefen des mystischen Sprachschatzes zurückzutauchen und neue Worte zu wagen, wie etwa das > Anbild<, ein Ausdruck, in den sich der Anblick des Bildes zusammenziehen ließe. Denn es ist ja so - und es ist ein und derselbe Vorgang -, daß wir aus den Dingen das Bild gleichsam heraussehen und daß wir in die Dinge das Bild einbilden. So ist es die Einbildungskraft, die Kraft des Menschen, sich ein Bild einzubilden, an der sich das ästhetische Nachdenken vor allen Dingen orientiert. Hier liegt nun die große Leistung Kants, durch die er den Begründer der Ästhetik, den rationalistischen Vor-Kantianer Alexander Baumgarten, weit hinter sich ließ. Er hat als erster in der Erfahrung des Schönen und der Kunst eine eigene Fragestellung der Philosophie erkannt. Er suchte eine Antwort auf die Frage, was eigentlich an der Erfahrung des Schönen, wenn wir >etwas schön finden<, verbindlich sein soll und nicht eine bloß subjektive Geschmacksreaktion zum Ausdruck bringt. Da gibt es doch keine Allgemeinheit wie die der Naturgesetzlichkeit, die die Einzelheit des sinnlich Begegnenden als Fall erklärbar macht. Welche Wahrheit, die kommunikabel wird, begegnet uns im Schönen? Nun, sicher keine Wahrheit und keine Allgemeinheit, für die wir die Allgemeinheit des Begriffes oder des Verstandes einzusetzen vermöchten. Trotzdem erhebt die Art Wahrheit, die uns in der Erfahrung des Schönen begegnet, auf eindeutige Weise den Anspruch, nicht bloß subjektiv gültig zu sein. Das hieße ja, ohne alle Verbindlichkeit und Richtigkeit zu sein. Wer etwas schön findet, meint aber nicht nur, daß es ihm gefallt, so wie ihm etwa eine Speise nach seinem Geschmack ist. Wenn ich etwas schön finde, dann meine ich, daß es schön ist. Um mich mit Kant auszudrücken: ich »sinne jedermann Zustimmung an«. Dies Ansinnen, daß jedermann zustimmen soll, heißt nicht etwa, daß ich ihn überzeugen kann, indem ich ihm Reden halte. Das ist nicht die Form, in der selbst ein guter Geschmack allgemein zu werden vermag. Vielmehr muß der Sinn eines jeden einzelnen fur das Schöne kultiviert werden, so daß fur ihn das Schöne und das weniger Schöne unterscheidbar wird. Das geschieht nicht so, daß man gute Gründe für den eigenen Geschmack zu erbringen vermöchte oder gar zwingende Beweise. Das Feld der Kunstkritik, die solches unternimmt, schillert zwischen >wissenschaftlicher< Feststellung und einem durch keine Verwissenschaftlichung ersetzbaren Qualitätssinn, der das Urteil bestimmt. >Kritik<, d. h. Unterscheiden des Schönen vom weniger Schönen, ist nicht eigentlich ein nachkommendes Urteil, weder eines der wissenschaftlichen Unterordnung des >Schönen< unter Begriffe noch eines der vergleichenden Qualitätseinschätzung - es ist die Erfahrung des Schönen selbst. Es ist bedeutungsvoll, daß das »Geschmacksurteil«, d. h. das aus der Erscheinung herausgesehene und einem jeden angesonnene Schönfinden, von Kant in erster Linie am Naturschönen illustriert wird und nicht am Kunstwerk. Es
11 Vgl. ALFRED BAEUMLER, Kants Kritik der Urteilskraft. Ihre Geschichte und Systematik, Bd. 1. Halle 1923, Einleitung.
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ist diese >bedeutungslose< Schönheit, die uns warnt, das Schöne der Kunst auf Begriffe zu bringen12. Die philosophische Tradition der Ästhetik ziehen wir hier nur als Hilfe für die Fragestellung heran, die wir uns ausgearbeitet haben: In welchem Sinn kann man das, was Kunst gewesen ist und was sie heute ist, auf einen gemeinsamen, beides umfassenden Begriff bringen? Das Problem liegt darin, daß man weder von einer großen Kunst sprechen kann, die ganz der Vergangenheit angehört, noch von einer modernen Kunst, die erstmals nach Abstoßung alles Bedeutungsmäßigen >reine< Kunst sei. Das ist ein merkwürdiger Sachverhalt. Wenn wir uns einen Augenblick in die Reflexionshaltung versetzen, darüber nachzudenken, was wir mit >Kunst< meinen und wovon wir als von >Kunst< reden, dann ergibt sich ein Paradox. Sofern wir die sogenannte klassische Kunst im Auge haben, so war das eine Produktion von Werken, die selber nicht in erster Linie als Kunst verstanden wurden, sondern als in jeweils religiösen oder auch weltlichen Lebensbereichen begegnende Gestaltungen, als eine Ausschmückung der eigenen Lebenswelt und ihrer herausgehobenen Akte: des Kultes, der Repräsentation der Herrscher und dergleichen. In dem Augenblick aber, in dem der Begriff >Kunst< die uns eigene Klangfarbe annahm und das Kunstwerk begann, ganz auf sich selbst zu stehen, herausgelöst aus allen Lebensbezügen, und Kunst zur Kunst, d. h. zur musée imaginaire im Sinne Malraux' wurde, als Kunst nichts als Kunst sein wollte, setzte die große Revolution in der Kunst ein, die sich in der Moderne bis zur Ablösung von allen Bildinhaltstraditionen und verständlichen Aussagen gesteigert hat und nach beiden Seiten fragwürdig wurde: Ist das noch Kunst? Und: Will das überhaupt noch Kunst sein? - Was steckt hinter dieser paradoxen Sachlage? Ist Kunst je Kunst, nichts als Kunst?
Moment darstellt. Als nivellierendes Moment ist er jedoch auch ausgezeichnet als der »Gemeinsinn«, wie Kant mit Recht sagt13. Der Geschmack ist kommunikativ - er stellt das dar, was uns alle mehr oder minder prägt. Ein nur individuell-subjektiver Geschmack ist auf dem Gebiet des Ästhetischen offenkundig etwas Sinnloses. Insofern verdanken wir Kant ein erstes Verständnis des ästhetischen Anspruchs, zu gelten und doch nicht unter Zweckbegriffe subsumiert zu werden. Aber freilich, welche Erfahrungen sind es, an denen sich dieses Ideal eines >freien< und interesselosen Wohlgefallens am meisten erfüllt? Kant denkt an das >Naturschöne<, etwa die schöne Zeichnung einer Blume, oder auch an etwas von der Art einer dekorativen Tapete, deren Linienspiel uns eine gewisse Erhöhung des Lebensgefühls verleiht. Darin besteht die Aufgabe dekorativer Kunst, so beiher zu spielen. Schön und nichts als schön heißen entweder Dinge der Natur, in die überhaupt kein Sinn von Menschen gelegt wird, oder Dinge der eigenen menschlichen Gestaltung, die sich bewußt jeder Sinneintragung entziehen und lediglich ein Spiel von Formen und Farben sind. Hier soll nichts erkannt oder wiedererkannt werden. Es gibt ja nichts Schrecklicheres als eine aufdringliche Tapete, deren einzelne Bildinhalte als bildliche Darstellung wirklich die Beachtung auf sich ziehen. Die Fieberträume unserer Kindheit wissen davon etwas zu erzählen. Worauf es in dieser Beschreibung ankommt, ist, daß hier nur die ästhetische Bewegung des Gefallens ohne ein Begreifen ins Spiel kommt, d. h. ohne daß etwas als etwas gesehen oder verstanden wird. Das ist aber doch nur die korrekte Beschreibung eines extremen Falles. An ihm wird deutlich, daß etwas mit ästhetischer Befriedigung aufgenommen wird, ohne daß es auf irgend etwas Bedeutsames, letzten Endes begrifflich Kommunizierbares bezogen würde.
Um auf diesem Wege weiterzukommen, hatten wir eine gewisse Orientierung erreicht, sofern Kant als erster die Selbständigkeit des Ästhetischen gegenüber dem praktischen Zweck und dem theoretischen Begriff verteidigt hat. Er tat dies in der berühmten Wendung von dem »interesselosen Wohlgefallen«, das die Freude am Schönen sei. »Interesseloses Wohlgefallen« meint hier selbstverständlich: an dem Dargestellten oder Erscheinenden nicht praktisch interessiert zu sein. »Interesselos« meint also nur die Auszeichnung des ästhetischen Verhaltens, daß niemand mit Sinn die Frage nach dem Wozu der Dienlichkeit stellen kann: »Wozu dient es, daß man Freude an dem hat, woran man Freude hat?« Das bleibt freilich die Beschreibung eines relativ äußerlichen Zugangs zur Kunst, nämlich der Erfahrung des ästhetischen Geschmacks. Jedermann weiß, daß der Geschmack in der ästhetischen Erfahrung das nivellierende
Das ist jedoch nicht die Frage, die uns bewegt. Denn unsere Frage lautet, was Kunst ist - und gewiß denken wir dabei nicht in erster Linie an die Trivialform des dekorativen Handwerks. Designer können selbstverständlich bedeutende Künstler sein, aber sie haben ihrer eigenen Funktion nach eine dienende Aufgabe. Nun hat Kant genau dies als die eigentliche Schönheit oder, wie er sie genannt hat, als die »freie Schönheit« ausgezeichnet. »Freie Schönheit« meint also begriffsfreie und bedeutungsfreie Schönheit. Auch Kant hat selbstverständlich nicht sagen wollen, es wäre das Ideal der Kunst, solche bedeutungsfreie Schönheit zu schaffen. Im Falle der Kunst befinden wir uns in Wahrheit immer schon in einer Spannung zwischen der reinen Aspekthaftigkeit des Anblicks und Anbilds - wie ich es nannte - und der Bedeutung, die wir im Kunstwerk ahnend verstehen und die wir an dem Gewicht erkennen, das jede solche Begegnung mit der Kunst für uns hat. Worauf beruht diese Bedeutung? Was ist das Mehr, das hinzukommt, wo-
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Vgl. dazu in diesem Band > Anschauung und Anschaulichkeit (Nr. 17) sowie >Wahrheit und Methode. (Ges. Werke Bd. 1), S. 48ff.
Kritik der Urteilskraft, §§ 22,40.
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durch offenkundig Kunst erst zu dem wird, was sie ist? Kant hat dieses Mehr nicht inhaltlich bestimmen wollen; das ist aus Gründen, die wir noch einsehen werden, wirklich unmöglich. Sein großes Verdienst war aber, daß er nicht bei dem bloßen Formalismus des »reinen Geschmacksurteils« stehengeblieben ist, sondern den »Standpunkt des Geschmacks« zugunsten des »Standpunkts des Genies« überwand14. Mit >Genie< bezeichnete das 18. Jahrhundert aus eigener lebendiger Anschauung den geschmackswidrigen Einbruch Shakespeares in den durch den französischen Klassizismus geprägten Geschmack der Zeit. Da war Lessing, der gegen die klassizistische Regelästhetik der französischen Tragödie - übrigens auf sehr einseitige Weise Shakespeare als die Stimme der Natur feierte, deren Schaffensgeist als Genie und im Genie inkorporiert sei15. In der Tat wird auch von Kant das Genie als Naturkraft verstanden — er nennt das Genie den »Günstling der Natur«, d. h. den von der Natur so Begünstigten, daß er wie die Natur, nicht in der bewußten Anpassung an Regeln, etwas schafft, das so ist, als ob es nach Regeln gemacht wäre - ja mehr noch, als ob es als ein noch nie Gesehenes nach noch nie erfaßten Regeln geschaffen wäre. Das ist Kunst: daß sie Musterhaftes schafft, ohne bloß Regelgerechtes herzustellen. Dabei ist offenbar die Bestimmung der Kunst als das Schaffen des Genies von der Kongenialität des Aufnehmenden niemals wirklich zu trennen. Beides ist ein freies Spiel.
deutsche Idealismus im ganzen hat die Bedeutung oder die Idee - oder wie man es sonst nennen will - in der Erscheinung erkannt, ohne deswegen den Begriff zum eigentlichen Bezugspunkt der ästhetischen Erfahrung zu machen. Aber kann man damit unser Problem lösen, das Problem der Einheit zwischen der klassischen Kunsttradition und der modernen Kunst? Wie will man die Formbrüche des modernen Kunstschaffens verstehen, das Spiel mit allen Inhalten, das so weit getrieben wird, daß unsere Erwartungen ständig gebrochen werden? Wie wül man das verstehen, was die heutigen Künstler oder gewisse Richtungen der heutigen Kunst geradezu als Anti-Kunst bezeichnen - das Happening? Wie will man von da verstehen, daß Marcel Duchamp einen Gebrauchsgegenstand plötzlich isolierend darbietet und damit eine Art ästhetischen Schockreiz ausübt? Man kann nicht einfach sagen: »Was für ein grober Unfug!« Duchamp hat damit etwas von den Bedingungen ästhetischer Erfahrung aufgedeckt. Aber wie will man angesichts dieses experimentierenden Kunstgebrauchs unserer Tage sich mit den Mitteln der klassischen Ästhetik helfen wollen? Dafür bedarf es offenbar eines Rückgangs auf mehr grundlegende menschliche Erfahrungen. Was ist die anthropologische Basis unserer Erfahrung von Kunst? An den Begriffen >Spiel<, >Symbol< und >Fest< soll diese Frage entwickelt werden.
Ein derartiges freies Spiel von Einbildungskraft und Verstand war auch der Geschmack. Es ist das gleiche freie Spiel, das im Schaffen des Kunstwerks nur anders gewichtet ist, sofern hinter den Schöpfungen der Einbildungskraft bedeutsame Inhalte sich artikulieren, die dem Verstehen aufgehen, oder wie Kant es ausdrückt: die »unnennbar Vieles hinzuzudenken« gestatten. Selbstverständlich soll das nicht heißen, daß es vorgefaßte Begriffe sind, die wir einfach nur an die Darstellung der Kunst anlegen. Das würde ja heißen, daß wir das anschaulich Gegebene als einen Fall des Allgemeinen unter das Allgemeine subsumieren. Das aber ist nicht die ästhetische Erfahrung. Es ist vielmehr so, daß die Begriffe überhaupt erst im Anblick des Besonderen, des individuellen Werkes, wie Kant sich ausdrückt, »in Anschlag gebracht« werden — ein schönes Wort, das aus der Musiksprache des 18. Jahrhunderts stammt und insbesondere auf die eigentümliche, nachhallende Schwebewirkung des Lieblingsinstrumentes des 18. Jahrhunderts, des Klavichords, anspielt, dessen besonderer Effekt darin besteht, daß der Ton weit länger nachhallt, als die Saite überhaupt berührt ist. Kant meint offenbar, daß es die Funktion des Begriffes sei, eine Art von Resonanzboden zu bilden, der das Spiel der Einbildungskraft zu artikulieren vermag. So weit, so gut. Auch der
I
14
Vgl. meine Analyse in »Wahrheit und Methode« (Ges. Werke Bd. 1), S. 58ff. Vgl. MAX KOMMERELL, Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie. Frankfurt 41970. 15
Insbesondere geht es um den Begriff >Spiel<. Die erste Evidenz, die wir uns da verschaffen müssen, ist, daß Spiel eine elementare Funktion des menschlichen Lebens ist, so daß menschliche Kultur ohne ein Spielelement überhaupt nicht denkbar ist. Daß menschliche Religionsübung im Kult ein Spielelement einschließt, ist seit langem von Denkern wie Huizinga, Guardini und anderen betont worden. Es ist lohnend, sich die elementare Gegebenheit des menschlichen Spielens in ihren Strukturen zu vergegenwärtigen, damit das Spielelement der Kunst nicht nur negativ, als Freiheit von Zweckbindungen, sondern als freier Impuls sichtbar wird. Wann reden wir von Spiel, und was ist darin impliziert? Sicherlich als erstes das Hin und Her einer Bewegung, die sich ständig wiederholt - man denke einfach an gewisse Redeweisen, wie etwa »das Spiel der Lichter« oder »das Spiel der Wellen«, wo ein solches ständiges Kommen und Gehen, ein Hin und Her vorliegt, d. h. eine Bewegung, die nicht an ein Bewegungsziel gebunden ist. Das ist es offenbar, was das Hin und Her so auszeichnet, daß weder das eine noch das andere Ende das Ziel der Bewegung ist, in der sie zur Ruhe kommt. Es ist ferner klar, daß zu einer solchen Bewegung Spielraum gehört. Das wird uns für die Frage der Kunst besonders zu denken geben. Die Freiheit der Bewegung, die hier gemeint ist, schließt ferner ein, daß diese Bewegung die Form der
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Selbstbewegung haben muß. Selbstbewegung ist der Grundcharakter des Lebendigen überhaupt. Das hat schon Aristoteles, das Denken aller Griechen formulierend, beschrieben. Was lebendig ist, hat den Antrieb der Bewegung in sich selber, ist Selbstbewegung. Das Spiel erscheint nun als eine Selbstbewegung, die durch ihre Bewegung nicht Zwecke und Ziele anstrebt, sondern die Bewegung als Bewegung, die sozusagen ein Phänomen des Überschusses, der Selbstdarstellung des Lebendigseins, meint. Das ist es in der Tat, was wir in der Natur sehen - das Spiel der Mücken etwa oder all die bewegenden Schauspiele des Spiels, die wir in der Tierwelt, insbesondere bei Jungtieren, beobachten können. All das entstammt offenkundig dem elementaren Überschußcharakter, der in der Lebendigkeit als solcher nach Darstellung drängt. Nun ist es das Besondere des menschlichen Spieles, daß das Spiel auch die Vernunft, diese eigenste Auszeichnung des Menschen, sich Zwecke setzen und sie bewußt anstreben zu können, in sich einzubeziehen und die Auszeichnung der zwecksetzenden Vernunft zu überspielen vermag. Das nämlich ist die Menschlichkeit des menschlichen Spiels, daß es in dem Bewegungsspiel sich seine Spielbewegungen sozusagen selbst diszipliniert und ordnet, als ob da Zwecke wären, ζ. Β. wenn ein Kind zählt, wie oft der Ball auf den Boden schlagen kann, bevor er ihm entgleitet.
die >participatio<, die innere Teilnahme an dieser sich wiederholenden Bewegung. Bei höheren Formen des Spieles wird das oft sehr anschaulich: Man braucht sich nur einmal, im Fernsehen z. B., das Publikum bei einem Tennisturnier anzusehen! Es ist eine reine Halsverrenkung. Keiner kann es unterlassen, mitzuspielen. — Es scheint mir also ein weiteres wichtiges Moment, daß Spiel auch in dem Sinne ein kommunikatives Tun ist, daß es nicht eigentlich den Abstand kennt zwischen dem, der da spielt, und dem, der sich dem Spiel gegenübersieht. Der Zuschauer ist offenkundig mehr als nur ein bloßer Beobachter, der sieht, was vor sich geht, sondern ist als einer, der am Spiel >teilnimmt<, ein Teil von ihm. Natürlich sind wir bei solchen einfachen Spielformen noch nicht bei dem Spiel der Kunst. Aber ich hoffe gezeigt zu haben, daß das kaum noch ein Schritt ist, was da vom kultischen Tanz zu der als Darstellung gemeinten Begehung des Kultes führt. Und daß es kaum ein Schritt ist, der von da zu der Freisetzung der Darstellung führt, etwa zum Theater, das aus diesem Kultzusammenhang als seine Darstellung herauswuchs. Oder zur bildenden Kunst, deren Schmuck- und Ausdrucksfunktion im Ganzen eines religiösen Lebenszusammenhanges erwächst. Das geht ineinander über. Aber daß es ineinander übergeht, bestätigt ein Gemeinsames in dem, was wir als Spiel erörterten, nämlich daß da etwas als etwas gemeint ist, auch wenn es nichts Begriffliches, Sinnvolles, Zweckhaftes ist, sondern etwa die reine selbstgesetzte Bewegungsvorschrift.
Was sich hier in Form des zweckfreien Tuns selber Regem setzt, das ist Vernunft. Das Kind ist unglücklich, wenn der Ball schon beim zehnten Male wegrutscht, und stolz wie ein König, wenn es dreißigmal geht. Diese zweckfreie Vemünftigkeit im menschlichen Spielen bedeutet einen Zug im Phänomen, der uns weiterhelfen wird. Es zeigt sich nämlich hier, insbesondere am Phänomen der Wiederholung als solcher, daß Identität, Selbigkeit gemeint ist. Das Ziel, auf das es hier herauskommt, ist zwar ein zweckloses Verhalten, aber dieses Verhalten ist als solches selber gemeint. Es ist das, was das Spiel meint. Mit Anstrengung und Ehrgeiz und ernstester Hingabe wird in dieser Weise etwas gemeint. Dies ist ein erster Schritt auf dem Weg zur menschlichen Kommunikation: Wenn hier etwas dargestellt wird — und sei es nur die Spielbewegung selber —, so gilt auch fur den Zuschauer, daß er es >meint<—so wie ich mir selbst im Spielen wie ein Zuschauer gegenübertrete. Es ist die Funktion der Spieldarstellung, daß nicht irgend etwas Beliebiges, sondern die so und so bestimmte Spielbewegung am Ende steht16. Spiel ist also letzten Endes Selbstdarstellung der Spielbewegung. Ich darf sofort hinzufügen: Solche Bestimmung der Spielbewegung bedeutet zugleich, daß Spielen immer Mitspielen verlangt. Selbst der Zuschauer, der etwa einem Kind zuschaut, das da mit dem Ball hin und her spielt, kann gar nicht anders. Wenn er wirklich >mitgeht<, ist das nichts anderes als 16 Vgl. dazu im vorhergehenden >Das Spiel der Kunst« (Nr. 9) und die entsprechenden Seiten in >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1, S. 107ff.).
Das scheint mir für die heutige Diskussion der modernen Kunst außerordentlich bedeutsam. Es geht am Ende um die Frage des Werkes. Es ist einer der Grundantriebe der modernen Kunst, daß sie den Abstand durchbrechen möchte, in dem sich eine Zuschauerschaft, eine Konsumentenschaft, ein Publikum gegenüber dem Werk der Kunst hält. Es ist kein Zweifel, daß die bedeutenden unter den schaffenden Künstlern der letzten 50 Jahre ihre Anstrengung gerade darauf richteten, diesen Abstand zu durchbrechen. Man denke etwa an die Theorie des epischen Theaters bei Bert Brecht, der ausdrücklich das Versinken in den Bühnentraum als einen schwächlichen Ersatz für das menschliche und gesellschaftliche Solidaritätsbewußtsein bekämpfte, indem er den Szenenrealismus, die Charaktererwartung, kurz die Identität dessen, was man in einem Schauspiel erwartete, bewußt zerstörte. Aber man könnte in jeder Form modernen Experimentierens mit Kunst das Motiv erkennen, den Abstand des Beschauers in das Betroffensein als Mitspieler zu verwandeln. Heißt das nun, daß es das Werk nicht mehr gibt? So verstehen sich in der Tat viele Künstler von heute — und auch die Ästhetiker, die ihnen folgen —, als ob es darum ginge, die Einheit des Werkes aufzugeben. Aber wenn wir an unsere Feststellungen über das menschliche Spiel zurückdenken, so fanden wir selbst da eine erste Erfahrung von Vernünftigkeit, etwa im Befolgen selbstgesetzter Regeln, in der Identität dessen, was man zu wiederholen
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sucht. So war schon hier so etwas wie die hermeneutische Identität im Spiele - und diese bleibt erst recht für die Spiele der Kunst unantastbar. Es ist ein Irrtum zu meinen, daß die Werkeinheit Abgeschlossenheit gegenüber dem, der sich dem Werk zuwendet und von ihm erreicht wird, bedeutet. Die hermeneutische Identität des Werkes liegt weit tiefer begründet. Selbst das Flüchtigste und Einmaligste ist, wenn es als ästhetische Erfahrung erscheint oder gewertet wird, in Selbigkeit gemeint. Nehmen wir den Fall einer Improvisation auf der Orgel. Nie wieder wird man diese einmalige Improvisation hören. Der Organist selbst weiß nachher kaum noch, wie er spielte, und niemand hat es aufgezeichnet. Trotzdem sagen alle: »Das war eine geniale Interpretation oder Improvisation«, oder in einem anderen Falle: »Das war heute etwas leer«. Was meinen wir damit? Offenbar beziehen wir uns auf diese Improvisation zurück. Es >steht< etwas für uns, es ist wie ein Werk, es ist keine bloße Fingerübung des Organisten. Andernfalls würde man nicht über die Qualität oder den Qualitätsmangel urteilen. So ist es die hermeneutische Identität, die die Werkeinheit stiftet. Als der Verstehende muß ich identifizieren. Denn da war etwas, was ich beurteilte, das ich >verstand<. Ich identifiziere etwas als das, was es war oder was es ist, und diese Identität allein macht den Werksinn aus. Wenn das richtig ist—und ich meine, es hat die Evidenz des Wahren an sich -, dann kann es gar keine mögliche Kunstproduktion geben, die nicht in der gleichen Weise immer das >meint<, was sie produziert, als das, was es ist. Selbst dieses Extrembeispiel irgendeines Gerätes - es war wohl ein Flaschenständer - , das da plötzlich mit einem so großen Effekt als ein Werk angeboten wurde, bestätigt das. In seiner Wirkung und als diese Wirkung, die es einmal war, hat es seine Bestimmtheit. Wahrscheinlich wird es nicht ein bleibendes Werk im Sinne klassischer Dauerhaftigkeit sein, aber im Sinne der hermeneutischen Identität ist es sehr wohl ein >Werk<. Der Werkbegriff ist eben ganz und gar nicht an klassizistische'HarmonieIdeale gebunden. Wenn es auch gänzlich andere Formen gibt, in denen sich Identifizieren in Zustimmung ereignet, werden wir uns weiter zu fragen haben, wodurch dieses Angesprochenwerden eigentlich zustande kommt. Aber noch ein weiteres Moment liegt darin. Wenn das die Identität des Werkes ist, so hat es immer nur für den ein wirkliches Aufnehmen, eine wirkliche Erfahrung eines Kunstwerks gegeben, der >mitspielt<, d.h. der eine eigene Leistung aufbringt, indem er tätig ist. Wodurch kommt das eigentlich zustande? Doch nicht durch bloßes Festhalten von etwas im Gedächtnis. Auch dann ist Identifikation gegeben, aber nicht die besondere Zustimmung, durch die das >Werk< etwas für uns bedeutet. Was ist es, wodurch ein >Werk< als Werk seine Identität hat? Was macht seine Identität, wie wir auch sagen können, zu einer hermeneutischen? Diese andere Formulierung meint offenkundig, daß seine Identität eben darin besteht, daß etwas
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daran >zu verstehen< ist, daß es als das, was es >meint< oder >sagt<, verstanden werden will. Das ist eine von dem >Werk< ergehende Forderung, die auf ihre Einlösung wartet. Sie verlangt eine Antwort, die nur von dem gegeben werden kann, der die Forderung annahm. Und diese Antwort muß seine eigene Antwort sein, die er selber tätig erbringt. Der Mitspieler gehört zum Spiel. Wir wissen alle aus eigenster Erfahrung, daß etwa der Besuch eines Museums oder das Zuhören bei einem Konzert eine Aufgabe höchster geistiger Aktivität ist. Was tut man denn da? Gewiß liegen hier Unterschiede vor: Das eine ist eine reproduktive Kunst, im anderen Falle handelt es sich nicht einmal um Reproduktion, sondern man tritt unmittelbar vor die Originale, die da an den Wänden hängen. Und wenn man durch ein Museum gegangen ist, tritt man nicht mit demselben Lebensgefuhl, mit dem man in es eingetreten ist, aus ihm wieder heraus. Wenn man wirklich eine Erfahrung von Kunst erfuhr, ist die Welt lichter und ist die Welt leichter geworden. Die Bestimmung des Werkes als des Identitätspunktes der Wiedererkenntnis, des Verstehens, schließt ferner mit ein, daß solche Identität mit Variation und mit Differenz verknüpft ist Jedes Werk läßt gleichsam für jeden, der es aufnimmt, einen Spielraum, den er ausfüllen muß. Ich kann es selbst an klassizistischen theoretischen Ideen zeigen. Kant z.B. hat eine höchst merkwürdige Lehre. Er vertritt die These, an der Malerei sei der eigentliche Träger des Schönen die Form. Die Farbe dagegen sei bloßer Reiz, d. h. eine sinnliche Angerührtheit, die subjektiv bleibe und insofern nicht die eigentliche künstlerische oder ästhetische Gestaltung betreffe17. Wer etwas von klassizistischer Kunst weiß — man denke etwa an Thorvaldsen -, wird für diese marmorbleiche klassizistische Kunst zugestehen, daß dort in der Tat die Linie, die Zeichnung, die Form im Vordergrund steht. Kants These ist zweifellos ein historisch bedingtes Urteil. Wir würden niemals unterschreiben, daß Farben bloße Reizwirkungen sind. Denn wir wissen, daß man auch mit Farben bauen kann und daß Komposition nicht notwendig auf die Linie und die Umrißform der Zeichnung beschränkt ist. Aber das Einseitige dieses historisch bedingten Geschmacks interessiert hier nicht. Was interessiert, ist nur, was Kant dabei offenkundig im Auge hat. Warum ist denn die Form so ausgezeichnet? Die Antwort ist: weil man sie zeichnen muß, wenn man sie sieht, weil man sie aktiv aufbauen muß, wie jede Komposition das verlangt, die zeichnerische Komposition so gut wie die musikalische, so gut wie das Schauspiel, so gut wie die Lektüre. Es ist ein ständiges Mit-Tätigsein. Und offenkundig ist es gerade die Identität des Werkes, das zu dieser Tätigkeit einlädt, die keine beliebige ist, sondern 17
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angeleitet ist und für alle möglichen Erfüllungen in ein gewisses Schema gedrängt wird. Man denke etwa an Literatur. Es ist ein Verdienst des großen polnischen Phänomenologen Roman Ingarden gewesen, das zuerst herausgearbeitet zu haben18. Wie sieht etwa die evokative Funktion einer Erzählung aus? Ich nehme ein berühmtes Beispiel: »Die Brüder Karamasow<. Da ist die Treppe, die Smerdjakow angeblich hinunterstürzt. Das wird bei Dostojewskij auf irgendeine Weise beschrieben. Ich weiß dadurch ganz genau, wie diese Treppe aussieht. Ich weiß, wie sie anfangt, es wird dann dunkel, und dann geht es nach links. Das ist für mich handgreiflich klar, und doch weiß ich, daß niemand anderer die Treppe so >sieht< wie ich. Und doch wird jeder, der diese meisterhafte Erzählungskunst auf sich wirken läßt, seinerseits die Treppe ganz genau >sehen< und überzeugt sein, daß er sie sieht, wie sie ist. Das ist der Freiraum, den das dichterische Wort in diesem Fall läßt und den wir ausfüllen, indem wir der sprachlichen Evokation des Erzählers folgen. Ähnlich ist es in der bildenden Kunst. Es ist ein synthetischer Akt. Wir müssen vereinigen, vieles zusammenbringen. Ein Bild >liest< man, wie man zu sagen pflegt, so wie man Schrift liest19. Man beginnt ein Bild zu >entziffern< wie einen Text. Es ist nicht erst das kubistische Bild, das diese Aufgabe - nun allerdings mit drastischer Radikalität - stellt, indem es verlangt, verschiedene Facetten des Gleichen, verschiedene Anblicke sozusagen nacheinander aufzublättern, so daß am Ende das Dargestellte in seiner Multiplizität von Facetten und damit in einer neuen Buntheit und Plastik auf der Leinwand erscheint. Es ist aber nicht nur bei Picasso oder Braque und all den anderen Kubisten von damals so, daß wir das Bild >lesen<. Es ist immer so. Wer z. B. einen berühmten Tizian oder Velazquez, irgendeinen Habsburger zu Pferde, bewundert und dabei nur denkt : » Ah, das ist Karl V. «, der hat gar nichts von dem Bild gesehen. Es gilt, es aufzubauen, so daß es sozusagen Wort für Wort als Bild gelesen wird und am Ende dieses zwingenden Aufbaus zu dem Bild zusammengeht, in dem die mit ihm anklingende Bedeutung gegenwärtig ist, die Bedeutung eines Weltherrschers, in dessen Reich die Sonne niemals unterging.
Aus diesem Grunde scheint es mir ein falscher Gegensatz, zu meinen, es gebe eine Kunst der Vergangenheit, die man genießen kann, und es gebe eine Kunst der Gegenwart, bei der man durch raffinierte Mittel der künstlerischen Gestaltung zum Mitmachen gezwungen werden soll. Die Einführung des Begriffes des Spieles hatte gerade die Pointe, zu zeigen, daß jeder bei einem Spiel Mitspieler ist. Das soll auch für das Spiel der Kunst gelten, daß es hier prinzipiell keine Trennung zwischen dem eigentlichen Werkgebilde der Kunst und dem, von dem dieses Werkgebilde erfahren wird, gibt. Was das bedeutet, habe ich in der ausdrücklichen Forderung zusammengefaßt, daß man auch die uns vertrauteren und durch inhaltliche Traditionen bedeutungsgeladenen Werke der klassischen Kunst lesen lernen muß. Lesen ist aber nicht nur buchstabieren und ein Wort nach dem anderen ablesen, sondern heißt vor allem, die beständige hermeneutische Bewegung vollziehen, die von der Sinnerwartung des Ganzen gesteuert wird und sich vom Einzelnen her im Sinnvollzug des Ganzen schließlich erfüllt. Man denke daran, wie es ist, wenn jemand einen Text vorliest, den er nicht verstanden hat. Dann kann kein anderer wirklich verstehen, was er da vorliest. Die Identität des Werkes ist nicht durch irgendwelche klassizistischen oder formalistischen Bestimmungen garantiert, sondern wird durch die Weise, in der wir den Aufbau des Werkes selbst als eine Aufgabe auf uns nehmen, eingelöst. Wenn dies die Pointe der künstlerischen Erfahrung ist, dann dürfen wir uns der Leistung Kants erinnern, der bewies, daß es sich hier nicht um ein Beziehen oder Unterstellen eines in seiner Besonderheit erscheinenden sinnfälligen Gebildes unter einen Begriff handelt. Der Kunsthistoriker und Ästhetiker Richard Hamann hat das einmal so formuliert: es geht um die »Eigenbedeutsamkeit der Wahrnehmung«20. Das soll heißen, daß die Wahrnehmung nicht mehr in pragmatische Lebensbezüge eingestellt und in ihnen zur Funktion gebracht wird, sondern sich in ihrer eigenen Bedeutung hergibt und darstellt. Um die Formulierung mit vollgültigem Sinn zu erfüllen, muß man sich freilich darüber klar sein, was Wahrnehmung bedeutet. Wahrnehmung darf nicht, wie das etwa für Hamann in der Zeit des ausgehenden Impressionismus noch nahelag, so verstanden werden, als sei sozusagen die »sinnliche Haut der Dinge« das, worauf es ästhetisch allein ankomme. Wahrnehmen ist nicht, daß man lauter verschiedene Sinneseindrücke sammelt, sondern wahrnehmen heißt, wie das schöne Wort ja selber sagt, etwas >für -wahr nehmen<. Das heißt aber: Was sich den Sinnen bietet, wird als etwas gesehen und genommen. So habe ich von der Überlegung her, daß es ein verkürzter, dogmatischer Begriff von Sinneswahrnehmung ist, den wir im allgemeinen als den ästhetischen Maßstab anlegen, in meinen eigenen Untersuchungen die etwas barocke Formuüe-
Ich möchte also grundsätzlich sagen: Es ist immer eine Reflexionsleistung, eine geistige Leistung, ob ich mich mit tradierten Gestalten herkömmlichen Kunstschaffens beschäftige oder vom modernen Schaffen gefordert •werde. Die Aufbauleistung des Reflexionsspieles liegt als Forderung im Werk als solchem. 18
ROMAN INCARDEN, Das literarische Kunstwerk. Tübingen 41972. Vgl. auch im vorhergehenden >Ober den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit, S. 75 f. 19 Siehe dazu auch im folgenden den Beitrag >Über das Lesen von Bauten und Bildern< (Nr. 30).
20
RICHARD HAMANN, Ästhetik. Leipzig 1911.
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rang gewählt, die die Tiefendimension der Wahrnehmung zum Ausdruck bringen sollte: die »ästhetische Nichtunterscheidung«21. Ich meine damit, daß es eine sekundäre Verhaltensweise ist, wenn man von dem abstrahieren sollte, was einen durch ein künstlerisches Gebilde bedeutsam anspricht, und man sich gänzlich darauf beschränken wollte, es >rein ästhetisch< zu würdigen. Das wäre so, wie wenn der Kritiker einer Theateraufführung sich ausschließlich mit dem Wie der Regieleistung, mit der Qualität der einzelnen Rollenbesetzungen und dergleichen auseinandersetzte. Es ist ganz gut und richtig, daß er das tut ·- aber das ist nicht die Weise, wie das Werk selber und die Bedeutung, die es für einen in der Aufführung gewann, sichtbar werden. Gerade die Nichtunterscheidung zwischen der besonderen Art, wie ein Werk zur Reproduktion gebracht wird, und der Identität des Werkes dahinter macht die künstlerische Erfahrung aus. Und das gilt nicht nur für die reproduktiven Künste und die Vermittlung, die sie enthalten. Daß das Werk in dem, was es ist, auf eine je besondere Weise dennoch als dasselbe spricht, gilt immer, selbst bei wiederholter und variierter Begegnung mit dem gleichen Werk. Im Falle der reproduktiven Künste muß sich freilich die Identität in der Variation auf eine doppelte Weise erfüllen, sofern die Reproduktion wie das Original je für sich der Identität und Variation ausgesetzt sind. Was ich so als die ästhetische Nichtunterscheidung beschrieb, macht offenbar den eigentlichen Sinn des Zusammenspiels von Einbildungskraft und Verstand aus, das Kant im »Geschmacksurteil« entdeckte. Daß man sich bei dem, was man sieht, um auch nur etwas zu sehen, etwas denken muß, ist immer wahr. Aber hier ist es ein >freies<, nicht auf Begriff zielendes Spiel. Dieses Zusammenspiel zwingt uns vor die Frage, was das eigentlich ist, was sich auf diesem Wege des freien Spieles zwischen dem bilderschaffenden und dem begreifend-verstehenden Vermögen aufbaut. Was ist die Bedeutsamkeit, in der uns da etwas als bedeutsam erfahrbar und erfahren wird? Jede pure Imitationstheorie oder Abbildtheorie, jede naturalistische Kopiertheorie geht offenbar an der Sache ganz vorbei. Es ist sicherlich niemals das Wesen eines großen Kunstwerkes gewesen, daß es der >Natur< voll und getreu zum Abbild, zum Konterfei verhalf. Es war ganz gewiß immer so — wie ich das etwa in der Erinnerung an Velâzquez' Karl V. zeigte - , daß sich im Aufbau eines Bildes eine eigentümliche Stilisierungsleistung vollbringt. Da sind die Velâzquezschen Pferde, die so etwas Besonderes an sich haben, daß man immer erst an das Schaukelpferd der eigenen Kindheit denkt. Aber dann dieser leuchtende Horizont und der spähende Feldherrn- und Imperatorenblick des Kaisers dieses großen Reiches - wie das zusammenspielt, wie hier die Eigenbedeutsamkeit der Wahrnehmung gerade aus diesem Zusam21
>Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 122ff.
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menspiel ersteht, sofern zweifellos jeder an dem eigentlichen Kunstwerk vorbeisähe, der etwa fragen würde: Ist das Pferd gut getroffen? Oder gar: Ist Karl V., dieser Herrscher, in seiner individuellen Physiognomie getroffen? Dieses Beispiel mag bewußtmachen, daß das Problem außerordentlich kompliziert ist. Was verstehen wir eigentlich? Wieso spricht es, und was sagt uns das Werk? Um hier eine erste Schutzwehr gegen alle Nachahmungstheorie aufzurichten, tun wir gut, uns zu erinnern, daß wir ja nicht nur angesichts von Kunst diese ästhetische Erfahrung haben, sondern auch vor der Natur. Es ist das Problem des >Naturschönen<. Kant, der deutlich die Autonomie des Ästhetischen herausgearbeitet hat, war sogar in erster Linie am Naturschönen orientiert. Es ist gewiß nicht ohne Bedeutsamkeit, daß wir Natur schön finden. Es ist eine ans Wunderbare grenzende sittliche Erfahrung des Menschen, daß in der generativen Potenz der Natur uns Schönheit entgegenblüht, so, als ob die Natur für uns ihre Schönheiten zeigte. Bei Kant hat diese Auszeichnung des Menschen, daß ihm die Schönheit der Natur entgegenkommt, einen schöpfungstheologischen Hintergrund, und das ist auch die selbstverständliche Basis, von der aus Kant das Schaffen des Genies, das Schaffen des Künstlers, wie eine höchste Steigerung der Potenz darstellt, die die Natur, die göttliche Schöpfung, besitzt. Aber offenkundig ist das Naturschöne von einer eigentümlichen Unbestimmtheit seiner Aussage. Im Unterschied zu jedem Kunstwerk, in dem wir doch immer etwas als etwas zu erkennen oder zu deuten suchen - wenn auch vielleicht, um zur Aufgabe dessen genötigt zu werden - , ist es eine Art unbestimmter Seelenmacht der Einsamkeit, die uns aus der Natur bedeutsam anspricht. Erst eine tiefere Analyse dieser ästhetischen Erfahrung des Schönfindens der Natur belehrt uns, daß dies in gewissem Sinn ein falscher Schein ist und daß wir in Wahrheit die Natur heute nicht mit anderen Augen ansehen können, da wir künstlerisch erfahrene und erzogene Menschen sind. Man erinnere sich daran, wie etwa noch im 1&. Jahrhundert Reiseberichte die Alpen schildern: grausige Berge, deren gräßliche und erschreckende Wildheit wie eine Ausstoßung aus der Schönheit, Humanität, Heimlichkeit des Daseins empfunden wurde. Heute dagegen ist die ganze Welt der Überzeugung, daß sich in den Großformationen unserer Hochgebirge nicht nur die Erhabenheit der Natur, sondern ihre eigentliche Schönheit darstellt. Es ist klar, was sich hier ereignet hat. Wir sahen im 18. Jahrhundert mit den Augen einer durch rationale Ordnung geschulten Einbildungskraft. Die Gärten des 18. Jahrhunderts, bevor der englische Gartenstil eine Art neuer Naturähnlichkeit oder Naturhaftigkeit vorspiegelte, waren immer geometrisch konstruiert wie eine Fortsetzung der Konstruktion des wohnlichen Hauses in die Natur hinaus. So sehen wir also in Wahrheit Natur, wie das Beispiel lehrt, mit durch die Kunst erzogenen Augen. Hegel hat richtig
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begriffen, daß das Naturschöne ein Reflex des Kunstschönen ist22, so daß wir das Schöne in der Natur, geleitet durch das Auge und das Schaffen des Künstlers, gewahren lernen. — Die Frage bleibt freilich, was uns das heute in der kritischen Situation der modernen Kunst hilft. Von ihr geleitet, würden wir schwerlich angesichts einer Landschaft zu erfolgreicher Wiedererkennung des Schönen in der Landschaft gelangen. Es ist in der Tat so, daß wir heute die Erfahrung des Naturschönen fast als ein Korrektiv gegenüber den Ansprüchen eines durch Kunst erzogenen Sehens empfinden müßten. Wir werden durch das Naturschöne erneut daran erinnert, daß das, was wir in einem Kunstwerk erkennen, das gar nicht ist, worin die Sprache der Kunst spricht. Es ist gerade die Unbestimmtheit des Verweisens, durch die wir von moderner Kunst angesprochen werden und die uns mit dem Bewußtsein der Bedeutsamkeit, der ausgezeichneten Bedeutung dessen, was wir vor Augen haben, erfüllt23. Was ist es mit diesem Verwiesenwerden ins Unbestimmte? Wir nennen mit einem insbesondere durch die deutschen Klassiker - durch Schiller und Goethe - geprägten Wortsinn diese Funktion das Symbolische.
II Was heißt >Symbol Es ist zunächst ein technisches Wort der griechischen Sprache und meint die Erinnerungsscherbe. Ein Gastfreund gibt seinem Gast die sogenannte >tessera hospitalis<, d. h., er bricht eine Scherbe durch, behält die eine Hälfte selber und gibt die andere Hälfte dem Gastfreund, damit, wenn in dreißig oder fünfzig Jahren ein Nachkomme dieses Gastfreundes einmal wieder ins Haus kommt, man einander im Zusammenfugen der Scherben zu einem Ganzen erkennt. Antikes Paßwesen - das ist der ursprüngliche technische Sinn von Symbol. Es ist etwas, woran man jemanden als Altbekannten erkennt. Es gibt da eine sehr schöne Geschichte in Piatos Dialog >Symposion<, die, wie ich meine, noch tiefer auf die Art von Bedeutsamkeit weist, die die Kunst fur uns darstellt. Da erzählt Aristophanes eine bis heute faszinierende Geschichte über das Wesen der Liebe. Er sagt, daß die Menschen ursprünglich Kugelwesen waren; dann haben sie sich schlecht benommen, und die Götter haben sie entzweigeschnitten. Nun sucht jede dieser Hälften einer vollen Lebens- und Seinskugel ihre Ergänzung. Das ist das σύμβσλον τον όνθρώηον, daß jeder Mensch gleichsam ein Bruchstück ist; und das ist die Liebe, daß sich die Erwartung, etwas sei das zum Heilen ergänzende Bruch22
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stück, in der Begegnung erfüllt. Dieses tiefsinnige Gleichnis fur Seelenfindung und Wahlverwandtschaft läßt sich auf die Erfahrung des Schönen im Sinne der Kunst umdenken. Es ist offenkundig auch hier so, daß die Bedeutsamkeit, die dem Schönen der Kunst, dem Kunstwerk, anhaftet, auf etwas verweist, was nicht unmittelbar in dem sichtbaren und verständlichen Anblick als solchem liegt. - Aber was ist das für ein Verweisen? Die eigentliche Funktion von Verweisen geht auf etwas anderes, auf etwas, das man auch auf unmittelbare Weise haben oder erfahren kann. Wäre es so, dann wäre Symbol das, was wir mindestens seit dem klassischen Sprachgebrauch Allegorie nennen: daß etwas anderes gesagt wird, als gemeint ist, daß man aber das, was gemeint ist, auch unmittelbar sagen kann. Die Folge des klassizistischen Symbolbegriffs, der nicht in dieser Weise auf etwas anderes verweist, ist, daß wir bei Allegorie die an sich ganz ungerechte Konnotation des Frostigen, des Unkünstlerischen haben24. Es spricht ein Bedeutungsbezug, der vorgewußt sein muß- Das Symbol dagegen, das Erfahren des Symbolischen meint, daß sich dies Einzelne, Besondere wie ein Seinsbruchstück darstellt, das ein ihm Entsprechendes zum Heilen und Ganzen zu ergänzen verheißt, oder auch, daß es das zum Ganzen ergänzende, immer gesuchte andere Bruchstück zu unserem Lebensfragment ist. Diese >Bedeutung< der Kunst scheint mir nicht, wie die der spätbürgerlichen Bildungsreligion, an gesellschaftliche Sonderbedingungen gebunden, sondern die Erfahrung des Schönen, und insbesondere des Schönen im Sinne der Kunst, ist die Beschwörung einer möglichen heilen Ordnung, wo immer es sei. Wenn wir das einen Augenblick weiterdenken, so wird gerade die Multiplizität dieser Erfahrung bedeutsam, die wir ebensosehr als eine geschichtliche Wirklichkeit wie als eine gegenwärtige Simultaneität kennen. In ihr spricht uns immer und immer wieder und in den verschiedensten Besondernngen, die wir Werke der Kunst nennen, die gleiche Botschaft des Heilen an. Das scheint mir in der Tat die präzisere Auskunft auf die Frage: Was macht die Bedeutsamkeit des Schönen und der Kunst aus ? Sie besagt, daß im Besonderen der Begegnung nicht das Besondere, sondern die Totalität der erfahrbaren Welt und der Seinsstellung des Menschen in der Welt, gerade auch seine Endlichkeit gegenüber der Transzendenz, zur Erfahrung wird. In diesem Sinn können wir nun einen wichtigen Schritt weitergehen und sagen: Das heißt nicht, daß die unbestimmte Sinnerwartung, die uns ein Werk bedeutsam macht, je eine volle Erfüllung finden kann, so daß wir das volle Sinnganze uns verstehend und erkennend zu eigen machten. Das war es, was Hegel lehrte, wenn er von dem »sinnlichen Scheinen der Idee« als der Definition des Kunstschönen sprach. Ein tiefsinniges Wort, demzufolge in
Vorlesungen über die Ästhetik, hrsg. von HEINRICH GUSTAV H O T H O . Berlin 1835,
Einl. 1,1. 23 Das hat THEODOR W. ADORNO in seiner >Ästhetischen Theorie< (zuerst erschienen in: Gesammelte Schriften, Bd. 7. Frankfurt 1970) ausfuhrlich beschrieben.
24
Zur Rehabilitierung der Allegorie vgl. »Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 76ff.
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der sinnlichen Erscheinung des Schönen in Wahrheit die Idee, zu der man nur hinausblicken kann, gegenwärtig wird. Trotzdem scheint mir das eine idealistische Verführung. Sie wird nicht dem eigentlichen Tatbestand gerecht, daß das Werk als Werk und nicht als der Übermittler einer Botschaft zu uns spricht. Die Erwartung, daß man den Sinngehalt, der uns aus Kunst anspricht, im Begriff einholen kann, hat Kunst immer schon auf gefährliche Weise überholt. Eben das war aber Hegels leitende Überzeugung, die ihn zu der These von dem Vergangenheitscharakter der Kunst führte. Wir haben sie als eine prinzipielle Aussage Hegels interpretiert, sofern in der Gestalt des Begriffes und der Philosophie alles eingeholt werden könne und einzuholen sei, was uns in der partikularen sinnlichen Sprache der Kunst dunkel und unbegrifflich anspricht. Das ist jedoch eine idealistische Verführung, die von jeder künstlerischen Erfahrung widerlegt wird, insbesondere aber von der Kunst der Gegenwart, die es ausdrücklich ablehnt, Sinnorientierung solcher Art, die man in der Form des Begriffes fassen könnte, vom Kunstschaffen unserer Zeit zu erwarten. Ich setze dem entgegen, daß das Symbolhafte, und insbesondere das Symbolische der Kunst, auf einem unauflöslichen Widerspiel von Verweisung und Verbergung beruht. Das Werk der Kunst, in seiner •Unersetzlichkeit, ist nicht ein bloßer Sinnträger - so daß der Sinn auch anderen Trägern aufgeladen werden könnte. Der Sinn eines Kunstwerks beruht vielmehr darauf, daß es da ist. Um jede falsche Konnotation zu vermeiden, sollten wir daher das Wort >Werk< durch ein anderes Wort ersetzen, nämlich durch das Wort >Gebilde<. Das bedeutet etwa, daß der transitorische Vorgang des davoneilenden Redestromes im Gedicht auf eine rätselhafte Weise zum Stehen kommt, ein Gebilde wird, so wie wir von der Formation eines Gebirges sprechen. Das >Gebilde< ist vor allen Dingen nichts, von dem man meinen kann, daß es jemand mit Absicht gemacht hat (wie das mit dem Begriff des Werkes noch immer verknüpft ist). Wer ein Kunstwerk geschaffen hat, steht in Wahrheit vor dem Gebilde seiner Hände nicht anders als jeder andere. Es ist ein Sprung zwischen Planen und Machen einerseits und dem Gelingen. Nun >steht< es, und damit ist es ein für allemal >da<, antreffbar für den, der ihm begegnet, und einsehbar in seiner >Qualität<. Es ist ein Sprung, durch den sich das Kunstwerk in seiner Einzigkeit und Unersetzbarkeit auszeichnet. Es ist das, was Walter Benjamin die Aura des Kunstwerkes genannt hat 25 und was wir alle kennen, etwa in der Empörung über das, was man Kunstfrevel nennt. Die Zerstörung eines Kunstwerkes hat für uns noch immer etwas von religiösem Frevel.
klarzuwerden, daß es nicht bloße Offenlegung von Sinn ist, die durch die Kunst vollbracht wird. Eher schon wäre zu sagen, daß es die Bergung von Sinn ins Feste ist, so daß er nicht verfließt oder versickert, sondern in der Gefügtheit des Gebildes festgemacht und geborgen ist. Wir verdanken am Ende die Möglichkeit, uns dem idealistischen Sinnbegriff zu entziehen und sozusagen die Seinsfülle oder Wahrheit, die uns aus der Kunst anspricht, in der Doppelwendung von Aufdecken, Entbergen, Offenlegen und von Verborgenheit und Geborgensein zu vernehmen, dem Denkschritt, den Heidegger in unserem Jahrhundert getan hat. Er zeigte, daß der griechische Begriff von Entborgenheit, >Aletheia<, nur die eine Seite der Grunderfahrung des Menschen in der Welt ist. Neben der Entbergung und untrennbar von ihr steht gerade die Verhüllung und die Verbergung, die Teil der Endlichkeit des Menschen ist. Diese philosophische Einsicht, die dem Idealismus einer reinen Sinnintegration ihre Schranken setzt, schließt ein, daß im Werk der Kunst noch mehr ist als nur eine auf unbestimmte Weise als Sinn erfahrbare Bedeutung. Es ist das Faktum dieses einen Besonderen, das dies >Mehr< ausmacht: daß es so etwas gibt—um mit Rilke zu sprechen: »So etwas stand unter den Menschen.« Dieses, daß es das gibt, die Faktizität, ist zugleich ein unüberwindlicher Widerstand gegen alle sich überlegen glaubende Sinnerwartung. Das anzuerkennen, zwingt uns das Kunstwerk. »Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern. « Es ist ein Stoß, ein Umgestoßen-Werden, was durch die Besonderheit geschieht, in der uns jede künstlerische Erfahrung entgegentritt26.
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Das erst führt zu einer angemessenen begrifflichen Selbstverständigung über die Frage, was eigentlich die Bedeutsamkeit der Kunst ist. Ich möchte den Begriff des Symbolischen, wie er durch Goethe und Schiller gewählt worden ist, in der Richtung vertiefen bzw. in der ihm eigenen Tiefe entfalten, daß ich sage: Das Symbolische verweist nicht nur auf Bedeutung, sondern läßt sie gegenwärtig sein. Es repräsentiert Bedeutung. Bei dem Begriff >Repräsentieren< hat man an den kirchenrechtlichen und staatsrechtlichen Begriff der Repräsentation zu denken. Repräsentation meint dort nicht, daß etwas stellvertretend oder uneigentlich und indirekt da ist, als ob es ein Substitut, ein Ersatz, wäre. Das Repräsentierte ist vielmehr selber da, und so, wie es überhaupt da sein kann. In der Anwendung auf Kunst wird etwas von diesem Dasein in Repräsentation festgehalten. So, wenn etwa eine bekannte Persönlichkeit, die eine bestimmte Publizität bereits besitzt, im Porträt repräsentativ dargestellt ist. Das Bild, das in der Halle des Rathauses oder im kirchlichen Palast oder wo immer aufgehängt ist, soll ein Stück ihrer
Diese Überlegung soll uns vorbereiten, uns über die Tragweite dessen 25
WALTER BENJAMIN, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt 1969 (édition suhrkamp 28).
26 Vgl. MARTIN HEIDEGGER, Der Ursprung des Kunstwerks. Stuttgart 1960 (jetzt auch in der Gesatntausgabe Bd. 5: Holzwege. Frankfurt 1977). Siehe dazu auch meinen Beitrag >Die Wahrheit des Kunstwerks< in Ges. Werke Bd. 3, S. 249-261.
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Gegenwart sein. Sie ist selbst in der repräsentativen Rolle, die sie hat, in dem repräsentativen Porträt da. Wir meinen, daß das Bild selbst repräsentativ ist. Natürlich bedeutet das nicht eine Bilder- und Götzenverehrung, wohl aber, daß es nicht ein bloßes Erinnerungszeichen, Verweis auf und Ersatz für ein Dasein ist, wenn es sich um ein Werk der Kunst handelt. Mir ist - als Protestant - der in der protestantischen Kirche ausgefochtene Abendmahlsstreit immer sehr bedeutsam gewesen, insbesondere zwischen Zwingli und Luther. Mit Luther bin ich der Überzeugung, daß die Worte Jesu: »Dies ist mein Fleisch, und dies ist mein Blut« nicht meinen, daß Brot und Wein dies bedeuten. Luther hat, glaube ich, das ganz recht gesehen und hat in diesem Punkt, soviel ich weiß, durchaus an der alten römisch-katholischen Tradition festgehalten, daß Brot und Wein des Sakramentes das Fleisch und das Blut Christi sind. — Ich nehme dieses dogmatische Problem nur zum Anlaß, um zu sagen, so etwas können wir denken und müssen wir sogar denken, wenn wir die Erfahrung der Kunst denken wollen - daß im Kunstwerk nicht nur auf etwas verwiesen ist, sondern daß in ihm eigentlicher da ist, worauf verwiesen ist. Mit anderen Worten: Das Kunstwerk bedeutet einen Zuwachs an Sein. Das unterscheidet es von all den produktiven Leistungen der Menschheit in Handwerk und Technik, in denen die Geräte und Einrichtungen unseres praktisch-wirtschaftlichen Lebens entwickelt wurden. Zu ihnen gehört es offenkundig, daß jedes Stück, das wir machen, lediglich als Mittel und Werkzeug dient. Wir sagen nicht, daß es ein >Werk< ist, ,wenn wir einen praktischen Haushaltsgegenstand erwerben. Es ist ein >Stück<. Es gehört zu ihm die Wiederholbarkeit der Herstellung desselben und damit die grundsätzliche Ersetzbarkeit eines jeden solchen Gerätes oder Gerätestückes fur den bestimmten Funktionszusammenhang, für den es gedacht ist. Umgekehrt ist das Werk der Kunst unersetzlich. Selbst im Zeitalter der Reproduzierbarkeit, in dem wir stehen, in dem Kunstwerke höchster Art in außerordentlich guter Qualität der Abbildung uns begegnen, bleibt das wahr. Die Fotografie oder die Schallplatte sind Reproduktion, aber nicht Repräsentation. In der Reproduktion als solcher ist nichts mehr von dem einmaligen Ereignis, das ein Kunstwerk auszeichnet (selbst noch, wenn es sich bei der Schallplatte um das einmalige Ereignis einer >Interpretation<, d. h. selber einer Reproduktion, handelt). Wenn ich eine bessere Reproduktion finde, werde ich die ältere durch sie ersetzen; wenn sie mir abhanden kommt, erwerbe ich eine neue. Was ist dies andere, das im Kunstwerk noch gegenwärtig ist - anders als in einem beliebig oft herstellbaren Werkstück? Es gibt eine antike Antwort auf die Frage, die man nur wieder richtig verstehen muß: In jedem Kunstwerk ist so etwas wie >Mimesis<, wie Imitatio. Mimesis heißt hier freilich nicht, etwas schon Vorbekanntes nachahmen, sondern etwas zur Darstellung bringen, so daß es auf diese Weise in
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sinnlicher Fülle gegenwärtig ist. Der antike Gebrauch dieses Wortes ist von dem Sternentanz her gewählt27. Die Sterne sind die Darstellung der reinen mathematischen Gesetzlichkeiten und Proportionen, die die Ordnung des Himmels ausmachen. In diesem Sinne hat die Tradition, glaube ich, recht, wenn sie sagt: Kunst ist immer Mimesis, d. h., sie bringt etwas zur Darstellung. Wobei wir uns nur vor dem Mißverständnis hüten müssen, zu meinen, dieses Etwas, das da zur Darstellung kommt, wäre noch auf andere Weise erfaßbar und >da< als dadurch, daß es sich in so sprechender Weise darstellt. Auf dieser Basis halte ich die Frage, ob gegenstandslose Malerei oder gegenständliche Malerei, für eine kurzschlüssige kultur- und kunstpolitische Mache. Vielmehr gibt es sehr viele Formen des Gestaltens, in denen >es< sich darstellt, jeweils in der Verdichtung eines nur so und einmalig Gestalt gewordenen Gebildes und bedeutsam als ein Unterpfand von Ordnung, so verschieden von unserer täglichen Erfahrung das auch sein mag, was sich so darbietet. Die symbolische Repräsentation, die Kunst leistet, bedarf keiner bestimmten Abhängigkeit von vorgegebenen Dingen. Gerade darin liegt vielmehr die Auszeichnung der Kunst, daß das, was in ihr zur Darstellung kommt, ob reich oder arm an Konnotationen oder ein reines Nichts derselben, uns zum Verweilen und zur Zustimmung bewegt wie ein Wiedererkennen. Es wird zu zeigen sein, wie sich gerade von dieser Charakteristik her die Aufgabe ausnimmt, die die Kunst aller Zeiten und die Kunst von heute für jeden von uns stellt. Es ist die Aufgabe, das, was da sprechen will, hören zu lernen, und wir werden uns eingestehen müssen, daß Hörenlernen vor allem meint, sich aus dem alles einebnenden Überhören und Übersehen zu erheben, das eine immer reizmächtigere Zivilisation zu verbreiten am Werk ist. Wir haben uns die Frage gestellt, was eigentlich durch die Erfahrung des Schönen und insbesondere die Erfahrung der Kunst übermittelt wird. Die entscheidende Einsicht, die man dabei gewinnen muß, war, daß man nicht von einer einfachen Übertragung oder Vermittlung von Sinn sprechen kann. Mit dieser Erwartung würde man das, was da erfahren wird, von vornherein in die allgemeine Sinnerwartung der theoretischen Vernunft einbeziehen. Solange man mit den Idealisten, etwa mit Hegel, das Kunstschöne als das sinnliche Scheinen der Idee definiert - an sich eine geniale Wiederaufnahme platonischer Winke über die Einheit des Guten und des Schönen —, setzt man notwendigerweise voraus, daß man über diese Art des Erscheinens des Wahren hinausgehen kann und daß eben der philosophische Gedanke, welcher die Idee denkt, die höchste und angemessenste Form der Erfassung dieser Wahrheiten sei. Es schien uns der Irrtum oder die Schwäche einer idealistischen .Ästhetik zu sein, daß sie nicht sieht, daß es gerade die 27
Vgl. HERMANN KOLLER, Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung,
Ausdruck. Bern 1954 (Dissertationes Bemenses 1,5).
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Begegnung mit dem Besonderen und der Erscheinung des Wahren nur in der Besonderung ist, worin sich die Auszeichnung der Kunst für uns als eine nie zu überbietende ergibt. Das war der Sinn von »Symbol· und >symbolisch<, daß hier eine paradoxe Art von Verweisung erfolgt, die die Bedeutung, auf die es verweist, zugleich in sich selber verkörpert und sogar verbürgt. Nur in dieser gegen das pure Begreifen widerständigen Form begegnet Kunst - es ist ein Stoß, den das Große in der Kunst uns erteilt -, weil wir immer unvorbereitet, immer wehrlos gegen das Übermächtige eines überzeugenden Werkes ihm ausgesetzt werden. Daher besteht das Wesen des Symbolischen oder des Symbolhaften gerade darin, daß es nicht auf ein intellektuell einzuholendes Bedeutungsziel bezogen ist, sondern seine Bedeutung in sich einbehält. So schließt sich die Darlegung über den Symbolcharakter von Kunst mit unseren Eingangsüberlegungen über das Spiel zusammen. Auch dort entwickelte sich die Perspektive unserer Fragestellung von da aus, daß das Spiel immer schon eine Art Selbstdarstellung ist. Das fand bei der Kunst seinen Ausdruck in dem spezifischen Charakter des Seinszuwachses, der >repraesentatkx, des Gewinnes an Sein, den ein Seiendes dadurch erfährt, daß es sich darstellt. In diesem Punkte scheint mir die idealistische Ästhetik revisionsbedürftig, da es darum geht, diesen Charakter der Erfahrung der Kunst angemessener zu fassen. Die allgemeine Folgerung, die daraus zu ziehen sein wird, ist längst vorbereitet, nämlich daß Kunst, in welcher Form immer, ob in der Form gegenständlicher und vertrauter Traditionen oder der Traditionslosigkeit des >Unvertrauten< von heute, in jedem Falle eine eigene Aufbauarbeit von uns verlangt. Ich möchte daraus eine Folgerung ziehen, die uns einen wirklich zusammenfassenden und Gemeinsamkeit bildenden Strukturcharakter der Kunst vermitteln soll. Daß es sich bei der Darstellung, die ein Kunstwerk ist, nicht darum handelt, daß das Kunstwerk etwas darstellt, das es nicht ist, daß es also in keinem Sinn Allegorie ist, d. h. etwas sagt, damit man etwas anderes dabei denkt, sondern daß man gerade in ihm selbst das, was es zu sagen hat, allein finden kann, sollte als eine allgemeine Forderung und nicht nur als eine notwendige Bedingung für die sogenannte Moderne verstanden werden. Es ist eine erstaunlich naive Form gegenständlicher Verbegrifflichung, wenn man vor einem Bild in erster Linie nach dem fragt, was da dargestellt ist. Natürlich verstehen wir das mit. Es ist immer in unserem Wahrnehmen einbehalten, sofern wir es erkennen können; aber es ist sicherlich nicht so, daß wir das als den eigentlichen Zielpunkt unserer Aufnahme des Werkes im Auge haben. Um dessen gewiß zu sein, braucht man nur an die sogenannte absolute Musik zu denken. Das ist gegenstandslose Kunst. Da ist es sinnlos, feste, bestimmte Verstehens- und Einheitshinsichten vorauszusetzen - auch wenn das gelegentlich versucht wird. Auch kennen wir die Sekundär- und
Zwitterformen der Programmusik oder auch der Oper und des Musikdramas, die eben als Sekundärformen auf die Tatsache der absoluten Musik zurückweisen, diese große Abstraktionsleistung der Musik des Abendlandes, und ihren Höhepunkt, die auf dem Kulturboden Alt-Österreichs erwachsene Wiener Klassik. Gerade an der absoluten Musik läßt sich der Sinn unserer Frage illustrieren, die uns ständig in Atem hält: Warum ist ein Musikstück so, daß wir von ihm sagen können: »Es ist etwas flach«, oder: »Das ist wirklich große, tiefe Musik«, etwa ein spätes Beethovensches Streichquartett. Worauf beruht das? Was trägt hier diese Qualität? Sicherlich nicht irgendein bestimmter Bezug auf etwas, das wir als Sinn namhaft machen können. Aber auch nicht eine quantitativ bestimmbare Masse an Informationen, wie die Informationsästhetik uns weismachen will. Als ob es nicht gerade auf die Varietät im Qualitativen ankäme. Warum kann ein Tanzlied zum Passionschoral umgestaltet werden? Ist da immer eine geheime Zuordnung zum Wort im Spiel? Mag sein, daß so etwas im Spiel ist, und die Interpreten der Musik sind immer wieder versucht, solche Anhaltspunkte zu finden, sozusagen letzte Restmomente von Begrifflichkeit. Auch beim Sehen der ungegenständlichen Kunst werden wir ja niemals ganz ausschalten können, daß wir in unserer täglichen Weltorientierung auf Gegenstände hin sehen. So hören wir auch in der Konzentration, in der Musik fur uns Erscheinung wird, mit demselben Ohr, mit dem wir sonst das Wort zu verstehen suchen. Es bleibt ein unaufhebbarer Zusammenhang zwischen der wortlosen Sprache der Musik, wie man zu sagen hebt, und der Wortsprache unserer eigenen Rede- und Kommunikationserfahrungen. Genauso bleibt vielleicht ein Zusammenhang zwischen dem gegenständlichen Sehen und Sich-Orientieren in der Welt und der künstlerischen Forderung, plötzlich aus den Elementen einer solchen gegenständlich sichtbaren Welt neue Kompositionen aufzubauen und an deren Spannungstiefe teilzugewinnen. An diese Grenzfragen noch einmal erinnert zu haben ist eine gute Vorbereitung, den kommunikativen Zug sichtbar zu machen, den Kunst von uns verlangt und in dem wir uns vereinigen. Ich sprach am Anfang davon, wie sich die sogenannte Moderne mindestens seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in einem Herausfallen aus der selbstverständlichen Gemeinsamkeit der humanistisch-christlichen Tradition befindet; wie nicht mehr die ganz selbstverständlich verbindenden Inhalte vorliegen, die in der Form der künstlerischen Gestaltung einzubehalten sind, so daß ein jeder sie als selbstverständliches Vokabular der neuen Aussage kennt. Das ist in der Tat das andere, wie ich es formulierte, daß nämlich der Künstler seitdem nicht die Gemeinde ausspricht, sondern durch sein eigenstes Sich-Aussprechen sich seine Gemeinde bildet. Trotzdem bildet er eben seine Gemeinde, und der Intention nach ist diese Gemeinde die >Oikumene<, das Ganze der bewohnten Welt, ist wahrhaft universal. Eigentlich sollte sich jeder — das ist die
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Poetik und Aktualität des Schönen
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Forderung aller künstlerisch Schaffenden - der Sprache öffnen, die in einem Kunstwerk gesprochen wird, und sie sich als seine eigene aneignen. Ob eine vorbereitende selbstverständliche Gemeinsamkeit unserer Wettsicht die Formung und Gestaltung des Kunstwerkes trägt oder ob wir uns erst an dem Gebilde, mit dem wir konfrontiert werden, sozusagen >einbuchstabieren< müssen, das Alphabet und die Sprache dessen lernen müssen, der uns hier etwas sagt - es bleibt dabei, daß es in jedem Falle eine gemeinsame Leistung, die Leistung einer potentiellen Gemeinsamkeit ist.
feiern. Darin waren uns ältere Zeiten und primitivere Kulturen weit überlegen. Man fragt sich: Worin besteht diese Kunst eigentlich? Offenbar in einer nicht recht bestimmbaren Gemeinsamkeit, einem Sich-Versammeln auf etwas, wovon niemand sagen kann, worauf man sich eigentlich dabei sammelt und versammelt. Das sind Aussagen, die wohl nicht zufällig der Erfahrung des Kunstwerkes ähnlich sind. Das Feiern hat bestimmte Darstellungsweisen. Es gibt dafür feste Formen, die wir Bräuche nennen, alte Bräuche, und keiner davon ist ein Brauch, der nicht alt, d. h. zu einer festen Ordnungsgewohnheit geworden ist. Es gibt da auch eine Form des Redens, die der Feier und dem Fest entspricht und zugeordnet ist. Man spricht von Festreden. Aber viel mehr noch als die Form der festlichen Rede gehört das Schweigen zur Feierlichkeit des Festes. Wir reden von einem feierlichen Schweigern. Wir können vom Schweigen sagen, daß es sich sozusagen ausbreitet, und so geht es jedem, der unversehens vor ein Monument künstlerischer oder religiöser Gestaltung gestellt wird, das ihn >erschlägt<. Ich erinnere mich an das Nationalmuseum in Athen, wo so alle zehn Jahre einmal ein neues Wunder aus Bronze aus den Tiefen der Ägäis gerettet und neu aufgestellt wird. Wenn man zum erstenmal in einen solchen Raum eintritt, befallt einen ein absolutes feierliches Schweigen. Man spürt, wie alle gemeinsam auf das hin versammelt sind, das einem da begegnet. Daß das Fest gefeiert wird, besagt also, daß dieses Feiern abermals eine Tätigkeit ist. Mit einem Kunstausdruck kann man es eine >intentionale Tätigkeit« nennen. Wir feiern — und das wird dort besonders deutlich, wo es sich um die Erfahrung der Kunst handelt - , indem wir uns auf etwas versammeln. Es ist nicht einfach das Beisammensein als solches, sondern die Intention, die alle eint und die sie hindert, in Einzelgespräche zu zerfallen oder sich in Einzelerlebnisse zu isolieren.
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III Das ist der Punkt, an dem ich als dritten den Titel >Fest< einfuhren möchte. Wenn etwas mit aller Erfahrung des Festes verknüpft ist, dann ist es dies, daß es jede Isolierung des einen gegenüber dem anderen verweigert. Das Fest ist Gemeinsamkeit und ist die Darstellung der Gemeinsamkeit selbst in ihrer vollendeten Form. Fest ist immer für alle. So sagen wir, jemand schließt sich aus<, wenn er am Fest nicht teilnimmt. Es ist nicht leicht, sich über diesen Charakter des Festes und die mit ihm verknüpfte Struktur von Zeiterfahrung klare Gedanken zu machen. Man fühlt sich da nicht getragen und gestützt durch die bisherigen Wege der Forschung. Doch gibt es einige bedeutende Forscher, die ihr Auge in diese Richtung gelenkt haben. Ich erinnere an Walter F. Otto 28 , den klassischen Philologen, oder an Karl Kerényi29, den deutsch-ungarischen klassischen Philologen, und selbstverständlich ist es von jeher ein theologisches Thema, was eigentlich das Fest und die Zeit des Festes ist. Vielleicht dürfte ich von folgender erster Beobachtung ausgehen. Man sagt: Feste werden gefeiert; Festtag ist Feiertag. — Aber was heißt das? Was heißt >Feiern eines Festes Heißt >Feiern< nur etwas Negatives: nicht arbeiten? Und wenn - warum? Die Antwort muß doch wohl sein: weil offenbar die Arbeit uns trennt und teilt. In der Richtung auf unsere tätigen Zwecke vereinzeln wir uns, bei aller Zusammenfassung, die die gemeinsame Jagd oder die arbeitsteilige Produktion seit jeher nötig machte. Dagegen ist das Fest und das Feiern offenbar dadurch bestimmt, daß hier nicht erst vereinzelt wird, sondern alle versammelt sind. Diese Sonderauszeichnung des Feierns ist freilich eine Leistung, die wir nicht mehr gut können. Es ist eine Kunst, zu 28
WALTE« F. O T T O , Dionysos. Mythos und Kultus. Frankfurt 1933. K A M . KERÉNYI, Vom Wesen des Festes. In: Gesammelte Werke Bd. 7: Antike Religion. München 1971. Z u m Begriff des Festes und des Feierns siehe auch die Ausführungen in >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1, S. 128fF.) und meinen Essay >Die Kunst des Fcierns< in: J. SCHULTZ (Hrsg.), Was der Mensch braucht. Stuttgart 1977, S. 61-70. 29
Fragen wir nach der Zeitstruktur des Festes und ob wir von ihr aus an die Festlichkeit der Kunst und die Zeitstruktur des Kunstwerks herankommen. Ich darf wieder den Weg über eine sprachliche Beobachtung gehen. Es scheint mir die einzig gewissenhafte Art, philosophische Gedanken kommunikabel zu machen, daß man sich dem unterordnet, was die Sprache schon weiß, die uns alle verbindet. So erinnere ich daran, daß wir von einem Fest sagen, man >begeht< es. Die Begehung des Festes ist offenbar eine ganz spezifische Vollzugsweise in unserem Verhalten. >Begehung< - man muß sein Ohr für Worte schärfen, wenn man denken will. Begehung ist offenbar ein Wort, das die Vorstellung eines Zieles, auf das hingegangen wird, ausdrücklich aufhebt. Die Begehung ist so, daß man nicht erst gehen muß, um dann dort anzukommen. Indem man ein Fest begeht, ist das Fest immer und die ganze Zeit da. Das ist der Zeitcharakter des Festes, daß es >begangen< wird und nicht in die Dauer einander ablösender Momente zerfallt. Gewiß macht man ein Festprogramm, oder man ordnet einen festlichen Gottes-
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dienst in artikulierter Weise und stellt sogar einen Zeitplan auf. Das geschieht aber alles nur, weil das Fest begangen wird. Man kann dann auch die Formen seines Begehens noch disponibel gestalten. Aber die Zeitstruktur von Begehung ist gewiß nicht die des Disponierens von Zeit. Zum Fest gehört - ich will nicht sagen: unbedingt (oder vielleicht doch in einem tieferen Sinne?) - eine Art Wiederkehr. Wir reden zwar von wiederkehrenden Festen im Unterschied zu einmaligen Festen. Die Frage ist, ob das einmalige Fest nicht eigentlich selbst immer nach seiner Wiederholung verlangt. Wiederkehrende Feste werden nicht so benannt, weil sie in eine Zeitanordnung eingetragen werden, sondern umgekehrt, die Zeitanordnung entsteht durch die Wiederkehr der Feste. Das Kirchenjahr, das Geistliche Jahr, aber auch die Formen, in denen wir selbst in unserer abstrakten Zeitrechnung nicht einfach von der Zahl der Monate und dergleichen reden, sondern eben von Weihnachten und Ostern und was es sein mag — das alles repräsentiert in Wahrheit den Primat dessen, was zu seiner Zeit kommt, was seine Zeit hat, und unterliegt nicht einer abstrakten Berechnung oder Ausfüllung von Zeit. Es scheint zwei Grunderfahrungen von Zeit zu geben, um die es sich hier handelt30. Die normale pragmatische Erfahrung von Zeit ist >Zeit für etwas<, d. h. die Zeit, über die man disponiert, die man sich einteilt, die man hat oder nicht hat oder nicht zu haben meint. Es ist ihrer Struktur nach >leere< Zeit, etwas, was man haben muß, um etwas hineinzufüllen. Extremes Beispiel der Erfahrung dieser Leere der Zeit ist die Langeweile. Da wird Zeit gewissermaßen in ihrem gesichtslosen Wiederholungsrhythmus als eine quälende Präsenz erfahren. Gegenüber der Leere der Langeweile steht die andere Leere der Geschäftigkeit, d. h., nie Zeit zu haben und immerfort etwas vorzuhaben. Etwas vorhaben erscheint hier als die Weise, in welcher Zeit erfahren wird als die, die dazu notwendig ist oder für die man den rechten Augenblick erwarten muß. Die Extreme der Langeweile und der Betriebsamkeit visieren Zeit in der gleichen Weise an: als etwas, das mit nichts oder mit etwas »ausgefüllt ist. Zeit ist hier als das erfahren, was >vertrieben< werden muß oder vertrieben ist. Zeit ist hier nicht als Zeit erfahren. -Daneben gibt es eine ganz andere Erfahrung von Zeit, und sie scheint mir sowohl mit der des Festes wie mit der der Kunst aufs tiefste verwandt. Ich möchte sie, im Unterschied zu der auszufüllenden leeren Zeit, die erfüllte Zeit oder auch die Eigenzeit nennen. Jeder weiß, daß, wenn das Fest da ist, dieser Augenblick oder diese Weile vom Fest erfüllt ist. Das ist nicht durch jemanden geschehen, der eine leere Zeit auszufüllen hatte, sondern umgekehrt, die Zeit ist festlich geworden, wenn die Zeit des Festes gekommen ist, und damit hängt unmittelbar der Charakter der Begehung des Festes zusammen. Das ist das, 30
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Vgl. >Über leere und erfüllte Zeit<, jetzt in Ges. Werke Bd. 4, S. 137-153.
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was man Eigenzeit nennen kann und was uns allen aus eigener Lebenserfahrung bekannt ist. Grundformen der Eigenzeit sind Kindheit, Jugend, Reife, Alter und Tod. Hier wird nicht gerechnet, und es wird nicht eine langsame Folge von leeren Momenten zur ganzen Zeit zusammengestückt. Die Kontinuität des gleichmäßigen Flusses der Zeit, den wir mit der Uhr beobachten und berechnen, sagt uns nichts über Jugend und Alter. Die Zeit, die jemanden jung oder alt sein läßt, ist nicht die der Uhrzeit. Es ist offenkundig eine Diskontinuität darin. Plötzlich ist jemand alt geworden, oder plötzlich sieht man an jemandem: das ist kein Kind mehr. Wessen man da gewahr wird, ist seine Zeit, die Eigenzeit. Das scheint mir nun auch für das Fest charakteristisch, daß es durch seine eigene Festlichkeit Zeit vorgibt und damit Zeit anhält und zum Verweilen bringt. Das ist das Feiern. Der berechnende, disponierende Charakter, in dem man sonst über seine Zeit verfügt, wird im Feiern sozusagen zum Stillstand gebracht. Der Übergang von solchen Zeiterfahrungen des gelebten Lebens zum Kunstwerk ist einfach. Die Erscheinung der Kunst hat in unserem Denken immer eine große Nähe zur Grundbestimmung des Lebens, welches die Struktur des organischem Wesens hat. So ist es für jeden verständlich, daß wir sagen: Ein Kunstwerk ist irgendwie eine organische Einheit. Was damit gemeint ist, läßt sich schnell erklären. Man meint damit, daß man spürt, wie hier jede Einzelheit, jedes Moment an dem Anblick oder an dem Text oder was es sonst ist, mit dem Ganzen geeint ist, so daß es nicht wie etwas Angestücktes wirkt oder herausfallt wie ein Stück Totes, in dem Strom des Geschehens Mitgeschlepptes. Es ist vielmehr zentriert auf eine Art Mitte hin. Wir verstehen ja auch unter einem lebendigen Organismus, daß er solche Zentrierung in sich hat, so daß alle seine Teile nicht einem bestimmten dritten Zweck untergeordnet sind, sondern der eigenen Selbsterhaltung und Lebendigkeit dienen. Kant hat das sehr schön bezeichnet als die »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«, die dem Organismus ebenso eigen ist wie offenkundig dem Kunstwerk 31 . Es entspricht dem eine der ältesten Bestimmungen, die es über das Kunstschöne gibt: Etwas ist schön, »wenn nichts zu ihm hinzugefügt und nichts von ihm weggenommen werden kann« (Aristoteles)32. Selbstverständlich ist das nicht buchstäblich, sondern cum grano salis zu verstehen. Man kann diese Definition sogar umdrehen und sagen: Daran gerade erweist sich die Spannungsdichte dessen, was wir >schön< nennen, daß es einen Variabilitätsbereich möglicher Veränderungen, Ersetzungen, Hinzufügungen, Hinweglassungen zuläßt, aber von einer Kernstruktur aus, die nicht angetastet werden dar£ wenn das Gebilde seine lebendige Einheit nicht verlieren soll. Insofern ist ein Kunstwerk in der Tat 31
Kritik der Urteilskraft, Einleitung.
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Eth. Nie. Β 5, 1106 b 1 0 .
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ähnlich wie ein lebendiger Organismus: eine in sich strukturierte Einheit. Das aber heißt, es hat auch seine Eigenzeit. Natürlich meint das nicht, daß es seine Jugend und seine Reife und sein Alter hat wie der wirkliche lebendige Organismus. Wohl aber heißt es, daß das Kunstwerk ebenfalls nicht durch kalkulierbare Dauer seiner zeitlichen Erstreckung, sondern durch seine eigene Zeitstruktur bestimmt ist. Man denke an die Musik. Jeder kennt die vagen Tempoangaben, die der Komponist zur Bezeichnung der einzelnen Sätze eines Musikstückes verwendet. Damit ist etwas sehr Unbestimmtes angegeben, und doch ist es nicht etwa eine technische Anweisung des Komponisten, von dessen Belieben es abhinge, daß etwas schneller oder langsamer >genommen< wird. Man muß die Zeit richtig nehmen, d. h. so, wie es von dem Werk verlangt wird. Die Tempoangaben sind nur Winke, um das >richtige< Tempo einzuhalten oder sich auf das Ganze des Stückes richtig einzustellen. Das richtige Tempo ist niemals meßbar, kalkulierbar. Es ist eine der großen Verirrungen, die durch die Maschinenkunst unseres Zeitalters möglich geworden ist und die in gewissen Ländern besonders zentralistischer Bürokratie auch auf den Kunstbetrieb übergegriffen hat, daß man hier normt, z.B. die >authentische< Aufnahme durch den Komponisten oder eine vom Komponisten autorisierte >authentische< Aufnahme mit all ihren Tempi und Rhythmisierungen kanonisch macht. Die Durchfuhrung dessen wäre der Tod der reproduktiven Kunst und ihre volle Ersetzung durch eine mechanische Apparatur. Wenn in der Reproduktion nur noch nachgeahmt wird, wie ein anderer die authentische Wiedergabe ehedem gemacht hat, dann ist das in ein unschöpferisches Tun herabgemindert, und der andere, der Zuhörer, merkt es — wenn er überhaupt noch etwas merkt. Hier geht es wiederum um die uns schon lange bekannte Differenzierung des Spielraums zwischen Identität und Differenz. Es ist die Eigenzeit des Musikstückes, es ist der Eigenton eines dichterischen Textes, "was man finden muß, und das kann nur im inneren Ohr geschehen. Jede Reproduktion, jedes laute Aufsagen oder Hersagen eines Gedichtes, jede Theaterauffuhrung, in der noch so große Meister der mimischen und Sprechkunst oder Gesangskunst auftreten, vermittelt eine wirkliche künstlerische Erfahrung des Werkes selber nur dann, wenn wir mit unserem inneren Ohr noch etwas ganz anderes hören als das, was wirklich vor unseren Sinnen geschieht. Erst das in die Idealität dieses inneren Ohres Erhobene — nicht die Reproduktionen, Darstellungen oder mimischen Leistungen als solche — liefert die Bausteine fur den Aufbau des Werkes. Das ist eine Erfahrung, die jeder von uns macht, ζ. Β. wenn man ein Gedicht besonders im Ohr hat. Keiner kann einem das Gedicht auf eine befriedigende Weise laut sagen, auch man selber nicht. Warum ist das so? Nun, offenbar treffen wir wiederum auf die Reflexionsarbeit, die eigentlich geistige Arbeit, die in dem sogenannten
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Genuß steckt. Nur weil wir in dem Transzendieren der kontingenten Momente tätig sind, ersteht das ideale Gebilde. Um ein Gedicht in reiner Aufnahmehaltung angemessen zu hören, dürfte der Vortrag keine individuelle Stimmfarbe haben. Eine solche steht nicht im Text. Aber jeder hat eine individuelle Stimmfarbe. Keine Stimme der Welt kann die Idealität eines dichterischen Textes erreichen33. Eine jede muß in gewissem Sinn durch ihre Kontingenz beleidigen. Sich von dieser Kontingenz zu befreien, macht die Kooperation aus, die wir als Mitspieler in diesem Spiel zu leisten haben. Das Thema der Eigenzeit des Kunstwerkes läßt sich besonders schön an der Erfahrung des Rhythmus beschreiben. Was ist das für eine merkwürdige Sache, der Rhythmus. Es gibt psychologische Forschungen, die uns zeigen, daß die Rhythmisierung eine Form unseres Hörens und Begreifens selber ist34. Wenn wir eine Folge von gleichmäßig sich wiederholenden Geräuschen oder Tönen ablaufen lassen, so kann kein Hörer unterlassen, diese Folge zu rhythmisieren. Wo ist nun eigentlich der Rhythmus? Ist er in den objektiven physikalischen Zeitverhältnissen und den objektiven physikalischen Wellenvorgängen oder Tonwellen und dergleichen - oder ist er im Kopf des Hörenden? Nun, sicherlich ist das eine Alternative, die man als solche in ihrer unzureichenden Roheit sofort erfassen kann. Es ist ja so, daß man den Rhythmus heraushört und daß man ihn hineinhört. Dieses Beispiel des Rhythmus einer monotonen Folge ist natürlich kein Beispiel von Kunst — aber es zeigt an, daß wir auch einen in der Gestaltung selbst gelegenen Rhythmus nur hören, wenn wir von uns aus rhythmisieren, d. h. wirklich selber tätig sind, um ihn herauszuhören. Jedes Kunstwerk hat also so etwas wie eine Eigenzeit, die es uns sozusagen auferlegt. Das gilt nicht nur von den transitorischen Künsten, von Musik und Tanz und Sprache. Wenn wir auf die statuarischen Künste hinüberblikken, erinnern wir uns, daß wir ja auch Bilder aufbauen und lesen oder daß wir eine Architektur >ergehen<, >erwandern<. Das sind auch Zeit-Gänge. Ein Bild wird nicht genauso (schnell oder langsam) zugänglich wie das andere. Und gar erst Architektur. Es ist eine der großen Fälschungen, die durch die Reproduktionskunst unserer Zeit aufgekommen ist, daß wir die großen Bauwerke der menschlichen Kultur dann, wenn wir sie erstmals im Original sehen, oft mit einer gewissen Enttäuschung aufnehmen. So malerisch, wie sie aus den fotografischen Reproduktionen uns vertraut sind, sind sie dann gar nicht. In Wahrheit bedeutet diese Enttäuschung, daß man überhaupt noch nicht über die bloße malerische Anblicksqualität des Bauwerks hinaus zu ihm als Architektur, als Kunst, hingelangt ist. Da muß man hingehen und 33
Ausfuhrlicher dazu im folgenden »Stimme und Sprache< (Nr. 22) und >Hören - Sehen
-Lesen<(Nr.23). 34 Vgl. RICHARD HÖNIGSWALD, Vom Wesen des Rhythmus. In: Die Grundlagen der 2 Denkpsychologie. Studien und Analysen. Leipzig/Berlin 1925.
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hineingehen, da muß man heraustreten, da muß man herumgehen, muß sich allmählich erwandern und erwerben, was das Gebilde einem für das eigene Lebensgefühl und seine Erhöhung verheißt. So möchte ich in der Tat die Konsequenz dieser kurzen Überlegung zusammenfassen: Es geht in der Erfahrung der Kunst darum, daß wir am Kunstwerk eine spezifische Art des Verweilens lernen. Es ist ein Verweilen, das sich offenbar dadurch auszeichnet, daß es nicht langweilig wird. Je mehr wir verweilend uns darauf einlassen, desto sprechender, desto vielfältiger, desto reicher erscheint es. Das Wesen der Zeiterfahrung der Kunst ist, daß wir zu weilen lernen. Das ist vielleicht die uns zugemessene endliche Entsprechung zu dem, was man Ewigkeit nennt. Fassen wir nun den Gang unserer Überlegungen zusammen. Wie bei jedem Rückblick gilt es, sich bewußtzumachen, welchen Schritt wir im Ganzen unserer Überlegungen vorwärts getan haben. Die Frage, vor die uns Kunst heute stellt, enthält von vornherein die Aufgabe, Auseinanderfallendes und in Spannung Gegeneinanderstehendes zusammenzubringen: auf der einen Seite den historischen Schein und auf der anderen Seite den progressiven Schein. Der historische Schein läßt sich als die Verblendung der Bildung bezeichnen, derzufolge nur das aus der Tradition der Bildung Vertraute bedeutungsvoll ist. Der progressive Schein lebt umgekehrt in einer Art ideologiekritischer Verblendung, indem der Kritiker glaubt, die Zeit sollte mit Heute und Morgen neu anfangen, und damit den Anspruch erhebt, die Tradition, in der man steht, durch und durch zu kennen und hinter sich zu lassen. Das eigentliche Rätsel, das das Thema der Kunst uns aufgibt, ist gerade die Gleichzeitigkeit von Vergangenem und Gegenwärtigem. Nichts ist bloße Vorstufe und nichts bloße Entartung, vielmehr müssen wir uns fragen, was derartige Kunst als Kunst mit sich selbst vereinigt und auf welche Weise Kunst eine Überwindung der Zeit ist. Wir haben das in drei Schritten versucht. Der erste Schritt suchte eine anthropologische"Grundlegung im Phänomen des Spielüberschusses. Es ist eine menschliches Dasein zutiefst bestimmende Auszeichnung, daß der Mensch in seiner eigenen Instinktarmut, in seinem eigenen Mangel an Festgelegtheit durch triebhafte Funktionen, sich in Freiheit versteht und zugleich von der Gefahrdung der Freiheit weiß, die eben das Menschliche ausmacht. Ich folge darin Einsichten der von Nietzsche inspirierten philosophischen Anthropologie, die von Scheler, Plessner und Gehlen entwickelt worden ist. Ich habe zu zeigen versucht, daß hier die eigentlich menschliche Qualität des Daseins erwächst, die Vereinigung von Vergangenheit und Gegenwart, die Gleichzeitigkeit der Zeiten, der Stile, der Rassen, der Klassen. Das alles ist menschlich. Es ist - wie ich es eingangs nannte - der strahlende Blick der Mnemosyne, der Muse des Behaltens und Festhaltens, der uns auszeichnet. Es war eines der Grundmotive meiner Darlegungen, bewußtzumachen, daß es eine Leistung
des Haltens des Entgänglichen ist, was wir in unserem Verhalten zur Welt und in unserer gestalterischen Anstrengung - formend oder im Formenspiel mitspielend - meinen. Insofern ist es nicht zufällig, sondern das geistige Siegel auf die Innentranszendenz des Spiels, diesen Überschuß in das Beliebige, in das Gewählte, in das Freigewählte, daß sich in dieser Tätigkeit in besonderer Weise die Erfahrung der Endlichkeit des menschlichen Daseins niederschlägt. Was für den Menschen der Tod ist, ist ja Hinausdenken über die eigene Weile. Die Bestattung der Toten, der Kult der Toten und der ganze ungeheure Aufwand an Totenkunst, an Weihegaben, ist ein Festhalten des Vergänglichen und Entgänglichen in einer eigenen neuen Dauer. Das scheint mir nun der Schritt vorwärts, den wir vom Ganzen unserer Überlegungen aus tun, wenn wir nicht nur den Überschußcharakter des Spielens als die eigentliche Basis für unsere schöpferisch gestaltende Erhebung zur Kunst bezeichnen, sondern als das tiefere anthropologische Motiv dahinter das erkennen, was das Spiel des Menschen, und insbesondere das Kunstspiel, von allen Spielformen der Natur abhebt und ihnen gegenüber auszeichnet. Es verleiht Dauer. Das war der erste Schritt, den wir getan hatten. Und an ihn schloß sich dann die Frage, was es eigentlich ist, was uns in diesem Formenspiel und seiner Gestaltwerdung und >Feststellung< zu einem Gebilde bedeutsam anspricht. Da war es der alte Begriff des Symbolischen, an den wir anknüpften. Auch hier wieder möchte ich jetzt einen Schritt weiter tun. Wir sagten: Symbol ist dasjenige, -woran man etwas wiedererkennt — so, wie der Gastfreund den Gastfreund an der >tessera hospitalis< wiedererkennt. Aber was ist Wiedererkennen? Wiedererkennen ist nicht: etwas noch einmal sehen. Wiedererkennungen sind nicht eine Serie von Begegnungen, sondern Wiedererkennen heißt, etwas als das, als was man es schon kennt, erkennen. Es macht den eigentlichen Prozeß menschlicher »Einhausung« aus - ein Wort Hegels, das ich in diesem Falle gebrauche -, daß jede Wiedererkenntnis von der Kontingenz der ersten Kenntnisnahme bereits gelöst und in das Ideelle erhoben worden ist. Wir kennen das alle. In Wiedererkenntnis liegt immer, daß man jetzt eigentlicher erkennt, als man in der Augenblicksbefangenheit der Erstbegegnung vermochte. Wiedererkennen sieht das Bleibende aus dem Flüchtigen heraus. Das ist nun die eigentliche Funktion des Symbols und des Symbolgehalts aller künstlerischen Sprachen, diesen Prozeß zu vollenden. Nun war es freilich gerade die Frage, um die wir uns mühen. Was erkennen wir denn eigentlich noch wieder, wenn es sich um Kunst handelt, deren Sprache, deren Vokabular und Syntax und Stil so eigentümlich leer sind und die uns so fremd oder von den großen klassischen Traditionen unserer Bildung fern erscheinen? Ist es nicht gerade das Kennzeichen der Moderne, daß sie in so tiefer Symbolnot steckt, daß uns in all dem atemlosenProgressis-
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mus technischer, ökonomischer und sozialer Fortschrittsgläubigkeit die Möglichkeiten der Wiedererkennung geradezu verweigert werden? Ich habe versucht zu zeigen, daß es nicht so ist, als könnten wir hier einfach von reichen Zeiten der allgemeinen Symbolvertrautheit und von armen Zeiten der Symbolentleerung sprechen, als ob Gunst der Zeiten und Ungunst der Gegenwart einfache Gegebenheiten wären. In Wahrheit ist das Symbol eine Aufgabe des Aufbaus. Es gilt, die Wiedererkennungsmöglichkeiten zu leisten, und das in einem sicherlich sehr weiten Umkreis von Aufgaben und gegenüber sehr verschiedenen Angeboten der Begegnung. So ist es gewiß ein Unterschied, ob wir aufgrund unserer historischen Bildung und in der Gewöhnung an den bürgerlichen Kulturbetrieb ein Vokabular, das früheren Zeiten das selbstverständliche Vokabular ihres Sprechens war, nun in historischer Aneignung uns vertraut machen, so daß das gelernte Vokabular historischer Bildung bei der Begegnung mit Kunst mitspricht, oder ob auf der anderen Seite das neue Buchstabieren unbekannter Vokabulare steht, das es bis zum Lesenkönnen zu steigern gilt. Wir wissen doch, was Lesenkönnen heißt. Lesenkönnen heißt, daß die Buchstaben ins Unmerkliche verschwinden und es der Sinn der Rede allein ist, der sich aufbaut. In jedem Falle ist es erst die Sinnkonstitution in Stimmigkeit, die uns sagen läßt: »Ich habe verstanden, was hier gesagt wird.« Das allererst bringt eine Begegnung mit der Sprache der Formen, mit der Sprache der Kunst zu ihrer Vollendung. Ich hoffe, es ist nun klar, daß es sich um ein Wechselverhältnis handelt. Der ist verblendet, der glaubt, daß er das eine haben und das andere abstoßen kann. Man kann es sich nicht entschieden genug klarmachen: Wer glaubt, moderne Kunst sei entartet, wird große Kunst früherer Zeiten nicht wirklich erfassen. Es gilt zu lernen, daß manjedes Kunstwerk erst buchstabieren, dann lesen lernen muß, und dann erst beginnt es zu sprechen. Die moderne Kunst ist eine gute Warnung zu glauben, man könnte, ohne zu buchstabieren, ohne lesen zu lernen, die Sprache auch der alten Kunst hören. Freilich ist es eine Aufgabe des Leistens, die eine kommunikativ gemeinsame Welt nicht einfach voraussetzt oder dankbar wie ein Geschenk annimmt. Wir haben eben diese kommunikative Gemeinsamkeit aufzubauen. Das »imaginäre Museum «, diese berühmte Formulierung von André Malraux fur die Gleichzeitigkeit aller Epochen der Kunst und ihrer Leistungen in unserem Bewußtsein, ist - wenngleich in einer vertrackten Form - eine sozusagen unfreiwillige Anerkennung dieser Aufgabe. Es ist eben unsere Leistung, diese >Sammlung< in unserer Imagination zusammenzubringen, und die Pointe ist, daß wir sie nie besitzen und nicht vorfinden, wie man etwa in ein Museum geht, um zu besichtigen, was andere gesammelt haben. Oder anders gesprochen: Wir stehen als endliche Wesen in Traditionen, ob wir diese Traditionen kennen oder nicht, ob wir uns ihrer bewußt sind oder verblendet genug sind
zu nieinen, wir fingen neu an. Das ändert an der Macht der Traditionen über uns gar nichts. Wohl aber ändert es etwas fur unsere Einsicht, ob wir den Traditionen, in denen wir stehen, und den Möglichkeiten, die sie uns für die Zukunft gewähren, ins Gesicht sehen oder ob man sich einbildet, man könne sich von der Zukunft, in die wir hineinleben, abwenden und uns neu programmieren und konstruieren. Tradition heißt freilich nicht bloße Konservierung, sondern Übertragung. Übertragung aber schließt ein, daß man nichts unverändert und bloß konservierend beläßt, sondern daß man ein Älteres neu sagen und erfassen lernt. So gebrauchen wir auch das Wort »Übertragung« für Übersetzung. Das Phänomen Übersetzung ist in der Tat ein Modell für das, was Tradition wirklich ist. Es muß zur eigenen Sprache werden, was die erstarrte Sprache von Literatur war. Dann erst ist Literatur Kunst. Das gilt genauso von der bildenden Kunst und genauso von der Architektur. Man denke daran, was es fur eine Aufgabe ist, große Bauwerke der Vergangenheit mit dem modernen Leben und seinen Verkehrsformen, Sehgewohnheiten, Beleuchtungsmöglichkeiten und dergleichen fruchtbar und sachangemessen zu vereinigen. Ich darfals Beispiel erzählen, wie es mich berührt hat, als ich aufeiner Reise auf der Iberischen Halbinsel endlich einmal in einen Dom kam, in dem noch kein elektrisches Licht die eigentliche Sprache der alten Dome Spaniens und Portugals durch Erhellung verdunkelte. Die Fensterluken, in die man wie in die Helle hinausblickt, und das geöffnete Portal, durch das hinein das Licht in das Gotteshaus flutet, das war offenkundig die eigentlich angemessene Form der Zugänglichkeit dieser gewaltigen Gottesburgen. Das soll nun nicht heißen, wir könnten unsere Sehgewohnheiten einfach ausschalten. Wir können das so wenig, wie wir unsere Lebensgewohnheiten, Verkehrsgewohnheiten und all das ausschalten können. Aber die Aufgabe, das Heute undjenes steinerne Verbliebene von Vergangenheit zusammenzubringen, ist eine gute Veranschaulichung fur das, was Tradition immer ist. Sie ist nicht Denkmalpflege im Sinne der Bewahrung. Sie ist eine ständige Wechselwirkung zwischen unserer Gegenwart und ihren Zielen und den Vergangenheiten, die wir auch sind. Daraufkommt es also an, das, was ist, sein zu lassen. Aber Seinlassen heißt nicht, das, was man schon weiß, nur wiederholen. Nicht in der Form eines Wiederholungserlebnisses, sondern durch die Begegnung selber bestimmt läßt man das, was war, sein für den, der man ist. Endlich der drittePunkt, das Fest. Ich möchte nicht mehr wiederholen, wie sich die Zeit und die Eigenzeit der Kunst zu der Eigenzeit des Festes verhält, sondern mich aufden einen Einzelpunkt konzentrieren, daß das Fest das alle Vereinigende ist. Es scheint mir die Kennzeichnung des Feierns, daß es für keinen etwas ist als nur fur den, der daran teilnimmt. Das scheint mir eine besondere und mit aller Bewußtheit zu vollziehende Anwesenheit. Daran
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erinnern schließt ein, daß damit unser Kulturleben mit seinen Stätten des Kunstgenusses und seinen Episoden der Entlastung vom täglichen Daseinsdruck als Form der Bildungserfahrung kritisch befragt wird. Zum Begriff des Schönen gehörtja, wie ich erinnerte, daß es Öffentlichkeit meint, Stehen im Ansehen. Das aber schließt ein, daß da eine Lebensordnung ist, die u. a. auch die Formen künstlerischer Gestaltung, die Dekoration, die architektonische Formung unseres Lebensraumes, die Ausschmückung dieses Lebensraumes mit allen möglichen Formen von Kunst umfaßt. Wenn Kunst in Wahrheit etwas mit Fest zu tun hat, dann heißt das, daß sie die Grenze einer solchen Bestimmung, wie ich sie beschreibe, und damit auch die Grenzen des Bildungsprivilegs übersteigen muß, ebenso wie sie gegen die kommerziellen Strukturen unseres gesellschaftlichen Lebens immun bleiben muß. Damit sei nicht bestritten, daß man mit Kunst Geschäfte machen kann und daß Künstler vielleicht auch der Kommerzialisierung ihres Schaffens erliegen können. Aber das ist eben nicht die eigentliche Funktion der Kunst, heute und von jeher. Ich darf an einige Tatsachen erinnern. Da ist etwa die große griechische Tragödie - noch heute für die bestgeschulten und scharfsinnigsten Leser eine Aufgabe. Gewisse Chorlieder des Sophokles oder des Aischylos wirken in der Gedrungenheit und Pointiertheit ihrer hymnischen Aussagen fast hermetisch verschlüsselt. Und dennoch war das attische Theater die Vereinigung aller. Und der Erfolg, die ungeheure Popularität, die die kultische Integration der Spiele im attischen Theater gewann, bezeugt, daß das nicht die Repräsentation einer Oberschicht war oder zur Befriedigung eines Festkomitees diente, welches dann die Preise für die besten Stücke verlieh.
• . Nun behaupte ich in allem Ernst: Die >Dreigroschenoper< oder Schallplatten, von denen moderne Songs erschallen, die von der Jugend heute so sehr geliebt werden, sind genauso legitim. Sie haben ebenfalls eine alle Klassen und alle Bildungsvoraussetzungen überspielende Möglichkeit der Aussage und der Kommunikationsstiftung. Ich meine damit nicht den Rausch der massenpsychologischen Ansteckung, die es auch gibt und die gewiß immer ein Begleiter echter Gemeinschaftserfahrung war. In unserer Welt der starken Reize und oft unverantwortlich kommerziell gesteuerten Experimentiersucht ist ohne Frage vieles von der Art, daß wir nicht sagen können, daß es wirklich Kommunikation stiftet. Rausch als solcher ist keine bleibende Kommunikation. Aber es hat etwas zu sagen, daß unsere Kinder sich auf selbstverständlichste Weise in einem gewissen Bespieltwerden durch Musik, wie man es nennen muß, oder in oft sehr kahl wirkenden Formen abstrakter Kunst leicht und unmittelbar ausgedrückt fühlen. ' Wir sollten uns klar sein, daß das, was wir hier als harmlosen Kampf um das zu hörende Programm oder die aufzulegende Platte im Generationenzwiespalt, oder sagen wir besser, in der Kontinuität zwischen den Generationen, 1 erfahren—denn wir Älteren lernen ja —, auch im Großen unserer Gesellschaft vor sich geht. Wer meint, unsere Kunst sei eine bloße Kunst der Oberschicht, irrt sich gewaltig. Wer so denkt, vergißt, daß es Sportstadien, Maschinenhallen, Autobahnen, Volksbibliotheken, Berufsschulen gibt, die mit gutem Recht oft viel luxuriöser ausgestattet sind als unsere trefflichen alten humanistischen Gymnasien, in denen der Schulstaub fast ein Bildungselement war und denen ich persönlich aufrichtig nachtrauere. Schließlich vergißt er auch noch die Massenmedien mit ihrer Diffusionswirkung über das Ganze unserer Gesellschaft. Wirsolltennichtverkennen, daß es immer auch einen vernünftigen Gebrauch solcher Dinge gibt. Gewiß liegt eine ungeheure Gefahr für die menschliche Zivilisation in der Passivität, die durch Benutzung allzu bequemer Multiplikatoren der Bildung eintritt. Das gilt vor allem für die Massenmedien. Aber gerade da stellt sich an jeden die humane Forderung, an den Älteren, der anzieht und erzieht, wie an die Jüngeren, die angezogen und erzogen •werden, zu lehren und zu lernen durch das eigene Tun. Was von uns verlangt wird, ist ebendies, die Aktivität unseres eigenen Wissenwollens und Wählenkönnens angesichts von Kunst wie von allem, was auf dem Wegeder Massenmedien verbreitet wird, einzusetzen. Dann erst erfahren wir Kunst. Die Untrennbarkeit von Form und Inhalt wird als die Nichtunterscheidung wirklich, durch die uns Kunst als das, was uns etwas sagt und uns aussagt, begegnet.
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Eine ähnliche Kunst war und ist sicherlich die aus der gregorianischen Kirchenmusik sich herleitende große Geschichte der abendländischen Polyphonie. Eine dritte Erfahrung ist eine, die wir alle heute noch machen können, genau wie die Griechen - und am selben Gegenstand. Das ist antike Tragödie. Der erste Leiter des Moskauer Künstlertheaters (1918 oder 191^ nach der Revolution) wurde gefragt, mit welchem revolutionären Stück er das revolutionäre Theater eröffnen wolle - und er hat mit ungeheurem Erfolg >König ödipus< gespielt. Die antike Tragödie in jeder Zeit und für jede Gesellschaft! Der gregorianische Choral und seine kunstvolle Entfaltung, aber auch die Passionsmusiken Bachs sind das christliche Gegenstück dazu. Niemand kann sich da täuschen. Hier geht es nicht mehr um einen bloßen Konzertbesuch, hier geht etwas anderes vor. Als Besucher eines Konzertes wird einem deutlich, daß es sich da um eine andere Form von Gemeinde handelt, als sie sich anläßlich der Aufführung einer Passionsmusik in großen Kirchenräumen versammelt. Da ist es wie bei einer antiken Tragödie. Solches reicht von dem höchsten Anspruch künstlerischer, musikalischer, historischer Bildung bis zu der einfachsten Bedürftigkeit und Empfänglichkeit des menschlichen Herzens.
Wir brauchen uns nur die Gegenbegriffe klarzumachen, an denen sich diese Erfahrung sozusagen niederschlägt. Ich möchte zwei Extreme beschreiben. Das eine ist die Form des Genusses einer Bekanntheitsqualität. Hier liegt, wie ich glaube, die Geburt von Kitsch, von Unkunst. Man hört heraus, was man
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schon weiß. Man will gar nichts anderes hören, und man genießt diese Begegnung als eine, die einen nicht umstößt, sondern auf eine welke Weise bestätigt. Das ist gleichbedeutend damit, daß der für die Sprache der Kunst Bereite gerade die Gewolltheit dieser Wirkung spürt. Man merkt, hier wird etwas mit einem gewollt. Aller Kitsch hat etwas von dieser oft sehr gut gemeinten, sehr gutwilligen und gutgesinnten Angestrengtheit an sich - und doch zerstört das gerade die Kunst. Denn Kunst ist etwas nur, wenn es des eigenen' Aufbauens des Gebildes im Lernen des Vokabulars, der Formen und der Inhalte bedarf, damit sich Kommunikation wirklich vollbringt. Die zweite Form ist das andere Extrem zum Kitsch: das ästhetische Geschmäcklertum. Man kennt es im besonderen im Verhalten zu den reproduktiven Künstlern. Man geht in die Oper, weil die Callas singt, nicht weil diese bestimmte Oper aufgeführt wird. Ich verstehe, daß das so ist. Aber ich behaupte, daß das nicht eine Erfahrung von Kunst zu vermitteln verspricht. Offenkundig ist es eine Sekundärreflexion, sich den Schauspieler oder den Sänger und überhaupt den Künstler in seiner Mittlerfunktion bewußtzumachen. Die vollendete Erfahrung eines Kunstwerkes ist so, daß man gerade vor der Diskretion der Akteure mit Bewunderung steht, wenn sie sich nicht selbst zeigen, sondern das Werk, seine Komposition und seine innere Kohärenz bis zur ungewollten Selbstverständlichkeit evozieren. Hier handelt es sich um zwei Extreme, das >Kunstwollen< zu bestimmten manipulierbaren Zwecken, das sich im Kitsch darstellt, und die völlige Ignorierung der eigentlichen Anrede, die ein Werk der Kunst an uns richtet, zugunsten einer ästhetischen Sekundärschicht von Geschmacksfreuden. Zwischen diesen Extremen scheint mir die eigentliche Aufgabe zu liegen. Sie besteht darin, anzunehmen und einzubehalten, was sich uns dank der Formkraft und Gestaltungshöhe echter Kunst übermittelt. Am Ende ist es eine Art Schwundproblem oder eine sekundäre Frage, wieviel durch historische Bildung vermitteltes Wissen dabei überhaupt in Anschlag gebracht wird. Die Kunst der älteren Zeiten erreicht uns nur im Durchgang durch den Filter der Zeit und der lebendig erhaltenden, lebendig verwandelnden Überlieferung. Die gegenstandslose Kunst der Moderne kann — sicherlich nur in ihren besten, von uns heute kaum von den Imitationen unterscheidbaren Produkten — genau die gleiche Dichtigkeit ihrer Fügung und die gleiche Möglichkeit unmittelbaren Ansprechens haben. Im Werk der Kunst wird das, was nochnichtin der geschlossenen Kohärenz eines Gebildes, sondernim Vorüberfluten da ist, in ein bleibendes, dauerndes Gebilde verwandelt, so daß in es hineinzuwachsen zugleich auch heißt, über uns hinauszuwachsen. Daß »in der zaudernden Weile einiges Haltbare sei« — das ist Kunst heute, Kunst gestern und von jeher.
11. Ästhetische und religiöse Erfahrung (1964/1978)
Wie alle Erfahrung drängt auch die ästhetische und die religiöse Erfahrung nach dem Wort. Dem entspricht der griechische Ursinn der betreffenden Ausdrücke: Poesie ist >Machen< durch das Wort, und Theo-logia ist >Reden< vom Göttlichen. Daß es sich hier um zweierlei handelt, um dichterische oder religiöse Rede, darf aber nicht einfach vorausgesetzt werden. Jedem, der die griechische >Theologie< und Poesie kennt, ist klar, daß man dort zwischen der Sprache der Dichtung und der mythologischen Überlieferung nicht leicht unterscheiden kann. Es waren nur die Dichter, die uns die mythologische Überlieferung überhaupt vermittelten. Noch weniger könnten wir eine solche Frage wie die, ob dichterische oder religiöse Sprache, etwa an die indische oder an die chinesische Überlieferung richten, wo wir sogar nicht einmal fragen könnten: Ist es Dichtung, ist es Religion oder ist es Philosophie? Es ist offenbar das Auszeichnende der abendländischen Entwicklung des Geistes, daß dort erst, und offenbar im Zusammenhange mit dem Erwachen von Wissenschaft und Philosophie, eine spannungsvolle Auseinandersetzung mit der religiösen und dichterischen Überlieferung einsetzte, die am Ende zur Unterscheidung von dichterischer und religiöser Rede führte. So werden wir dichterische und religiöse Erfahrung nicht in abstrakter Zeitlosigkeit thematisieren können, sondern aus unserer eigenen abendländisch-christlichen Tradition heraus die Frage nach den verschiedenen Weisen der Rede und der ihnen zugrunde liegenden Erfahrung stellen müssen. Es scheint mir ferner, daß sich diese Frage erst dadurch stellt, daß erstmals in der jüdisch-christlichen Tradition eine Religion des heiligen Buches begegnet, so daß >die Schrift< kanonische Geltung erlangt, wie man auf englisch geradezu >Scripture< ohne jeden Zusatz sofort auf die Bibel hin versteht. Es ist also so, daß es mit dem Auftreten dieser Form von Religion zusammenhängt, in deren Tradition wir stehen — wie unter der des humanistischen« Erbes der Griechen und Römer —, daß nicht nur Philosophie und Poesie, sondern auch Poesie und Religion für uns auseinandertreten und damit die gesamte literarische Überlieferung des klassischen Altertums als >heidnisch< um ihren eigenen Wahrheitsanspruch gebracht ist. Von da aus
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erhält unser Thema die Spannung einer möglichen Frage. Es wäre sinnlos zu fragen, ob Lao-Tse mehr Dichter oder mehr religiöser Künder oder mehr Philosoph war. So handelt es sich bei unserem Thema um eine Frage, die sich nicht von selbst versteht, sondern ein bestimmtes Vorverständnis enthält, um dessen Klärung es geht. Sofern es sich um Rede und Schrift handelt, ist es ein hermeneutisches Thema. >Hermeneutik< ist ein Wort, das im achtzehnten Jahrhundert recht üblich geworden war, um dann ein Jahrhundert lang fast zu verschwinden. Damals war es geradezu ein Wort der Umgangssprache. Man konnte von der >Hermeneutik< eines Mannes reden, der verständnisvoll ist, der auf einen anderen einzugehen und das Verborgene, Unausgesprochene im anderen mitwahrzunehmen versteht. Noch Schleiermacher, der Begründer der allgemeinen Hermeneutik, beruft sich immer wieder darauf, daß die Kunst der Hermeneutik auch für das gesellige Leben im Grunde unentbehrlich ist. »Wer könnte«, so sagt er, »mit ausgezeichnet geistreichen Männern umgehen, ohne daß er ebenso bemüht wäre, zwischen den Worten zu hören, wie wir in geistvollen und gedrängten Schriften zwischen den Zeilen lesen; wer wollte nicht ein bedeutsames Gespräch, das leicht nach vielerlei Seiten hin auch bedeutende Tat werden kann, ebenso genauer Betrachtung wert halten, die lebendigen Punkte darin herausheben...?«
hier mit Recht von der Kunst des Schreibens, wenn das bei Dichtung und Literatur gelingt, daß sie >sprechen<. Wir fragen uns: Wie macht es der Künstler des Schreibens, daß sein Text von sich aus spricht, so daß man gar nicht mehr daran denkt, auf den ursprüngÜchen Sprachakt des lebendigen Wortes zurückzugehen? Bei den religiösen Texten unserer jüdisch-christlichen Überlieferung ist die Sachlage freilich anders. Was in der Heiligen Schrift zu uns spricht, beruht nicht primär auf der Kunst des Schreibens, sondern auf der Autorität der Synagoge oder der Kirche, die dort spricht. So haben wir es mit zwei Arten ausgezeichneter Texte zu tun, wenn wir den Unterschied von dichterischer und religiöser Rede analysieren wollen. Wir müssen die besonderen Implikationen dessen, was diese beiden Arten von Texten sind, ins Auge fassen. Da ist zunächst der Text, den wir im engeren Sinne >Literatur< nennen. Ich nenne ihn den »eminentem Text1. Das sind nicht irgendwelche Notizen, die man sich macht, etwa wenn man einen Vortrag schriftlich festhält oder auch anstelle einer mündlichen Mitteilung einen Brief schreibt. In all diesen Fällen will das Schriftliche gar nichts anderes, als auf ein ursprünglich Gesprochenes zurückzuweisen. Ein eminenter Text ist dagegen ein Text, den wir als Text lesen, so daß wir geradezu umgekehrt darauf verwiesen werden, daß es »geschrieben steht«. Es ist zwar zuzugeben, daß der Sprachgebrauch nicht nur in solchen eminenten Fällen wie dem Text der Bibel, dem Gesetzestext oder dem »literarischem Text die Anwendung des Wortes >Text< kennt. Aber man meint damit sonst nur die »technische« Fixierung von Rede durch Schrift überhaupt, die der Anschrift, der Vorschrift, dem Gesetzestext normative Gültigkeit verleiht und jedenfalls nicht Autonomie im Sinne von »Literatur«. Ein literarischer Text ist dagegen, wie das Wort schon sagt, etwas, das aus Fäden so gewebt ist, daß es in sich selbst zusammenhält. Solche Rede muß, wenn sie wirklicher Text ist, so in sich selbst zusammenhalten, daß sie in sich >dasteht< und nicht mehr auf ein eigentlicheres Sagen zurückweist. Dort, wo das ohne den tragenden Zusammenhang juristischer oder kirchlicher Praxis der Fall ist, ist ein Text »autonome Wir gingen davon aus, daß es innerhalb der griechischen Überlieferung unmöglich ist, eigens dichterische und religiöse Sprache unterscheiden zu wollen. Es gab gewiß Kultus und sprachliche Ausdrucksformen im Kultus. Aber die religiöse Überlieferung der Griechen, die wir kennen, geschah durch die Dichtung. Wir nennen das eine mythische Überlieferung, weil sie keine andere Beglaubigung kennt als die des Erzähltwerdens. Am Anfang stehen Götter- und Heldengeschichten. Die Form, in der die Götter- und Heldengeschichten erzählt, wiedererzählt und wieder wiedererzählt wer-
So ist die hermeneutische Gabe in der Tat nichts als dies, was uns schwer verständlich und fremdartig erscheint, dennoch verstehen zu können. Im Ganzen unserer Lebenserfahrung begegnet diese Aufgabe in ihrer höchsten Anforderung immer dort, wo es darum geht, sich etwas sagen zu lassen. Das ist eine nie beendete Aufgabe im Leben jedes einzelnen Menschen, das genügend zu lernen. Aber auch wenn wir von solcher moralischen Blockade durch die Selbstliebe absehen, kann man gewiß sagen, daß sich die Aufgabe des Verstehens unter auftretenden Schwierigkeiten stellt. So stellt sie sich in besonderer Weise, wo gefrorene Sprache,- in Schrift erstarrte Sprache, wieder sprechen soll. Insofern ist es klar, daß Texten gegenüber und überall dort, wo Schriftlichkeit begegnet, das Verstehen eine schwierige Aufgabe ist. Es gilt, einen Text wieder zum Reden zu bringen. Nun ist gewiß dabei das Entscheidende nicht die äußere Tatsache der Schriftlichkeit. Das ist zwar wahr, daß jede Art von Schriftlichkeit Verwandlung in ein Sprechen verlangt. Der normale Gebrauch von Schrift ist ohnehin ein Zurückverweisen auf ein ursprüngliches Sagen. Der Text erhebt in diesem Sinne gar nicht den Anspruch, aus eigener Kraft zum Reden gebracht zu werden. Nicht der Text, scheint es, der Sprecher will und soll wieder reden, wenn ich seine Aufzeichnung lese. Im Falle »literarischen Texte (im weitesten Sinne) ist es nun aber sicher nicht der Sprecher, der wieder sprechen soll, sondern der Text, die Kunde, die Botschaft soll sprechen. Das ist ein Problem für sich, wie das geschehen kann. Wir reden
1 Siehe dazu auch den Beitrag »Der »eminente« Text und seine Wahrheit«, in diesem BandS. 286 ff.
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den, ist immer eine neue Interpretation. Darin vollzieht sich die Freiheit des Erzählens. Sie kann sogar noch die Götterkritik einschließen, die wir bei den großen Dichtern der Griechen, die auf das epische Zeitalter folgen, finden, etwa die Kritik am Gebaren der Homerischen Götter. Die unlösbare Einheit religiöser und dichterischer Rede zeigt sich nicht zuletzt darin, daß selbst die Kritik an den Dichtern seitens der griechischen Philosophie in letztem Sinne noch Theologie bleibt. Wenn Plato seine Mythen mit besonderer Meisterschaft aus einer barocken Mischung traditioneller religiöser Motive und philosophischer Begriffe zu gestalten weiß, so entspricht das dem, was fur diese gesamte Überlieferung charakteristisch ist: Wahres und Falsches zu mischen, Kunde von Höherem und zugleich Freiheit des Spieles zu sein. Am Anfang des Selbstverständnisses der griechischen Dichtung steht das Hesiodsche Proömium, in dem die Musen dem Dichter erscheinen und ihm Versprechungen machen, sie seien imstande, viel Falsches zu lehren und viel Wahres. Es spricht eine eigentümliche Unverbindlichkeit aus diesen Versen. Wer für Verse ein Ohr hat, kann nicht zweifeln, daß es heißen soll: Sie sagen immer beides, Wahres und Falsches (die Muse behält sich Freiheit vor). Das Problem ist offenbar schon hier: Was ist das fur eine Art Anspruch auf Wahrheit, wenn er so mit der Freiheit des Erfindens gepaart ist? Das ist eine uns wohlvertraute Frage. Wir sollten uns nicht von einem modernistischen Begriff des Ästhetischen oder des Nur-Dichterischen täuschen lassen, als ob es je anders gewesen wäre. Dichtung bestand nie nur in der formalen Meisterschaft wohlklingender sprachlicher Gestaltung allein, sondern darin, daß sie etwas zur Aussage bringt, das wahr sein will. Ich habe das in meinen Untersuchungen in einer nicht gerade schönen Formgebung die ästhetische Nichtunterscheidung< genannt2. Es ist zum Wesen des dichterischen Verstehens gehörig, daß man die >Exergasia<, die Art der Ausarbeitung - das ist ein Terminus der griechischen Malerei - , nicht eigens beachtet. Durch die zwingende Gestaltung des Sprachlich-Formalen werderr vielmehr Inhalte übermittelt und zu greifbarer, anschaulicher Präsenz erhoben, die uns ganz erfüllen. Nun fragen wir uns •wieder: Wie sieht das in den griechischen Anfangen aus? Wie steht der Mythos zwischen Dichtung und Wahrheit? Das erste am Mythos ist: 'Erzählen3. Und wir sollten immer wissen, was Erzählen ist. Erzählen ist ein in sich offen-unendlicher Vorgang und ein sich in sich niemals erschöpfender Vorgang. Ein Erzähler, der nicht den Eindruck erweckt, als könnte er immer weiter erzählen, ist kein Erzähler. Das bedeutet aber: wenn in der Form des Erzählens vom Göttlichen gesprochen wird, so liegt in dieser Form der Übermittlung selber eine Überschreitung des wirk2 »Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 122ff. 3 Vgl. dazu in diesem Band Mythologie und OfFenbarungsreligion«, S. 175 ff.
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Geh Gesagten auf etwas jenseits seiner Gelegenes hin. Die Sphäre des Göttlichen, von der man Geschichten erzählt - das Verhalten der Götter, das Zusammenhängen von Menschen und Helden mit Göttern - , all das ergibt eine unendliche Reihung von Geschichten. Die epische Form der Literatur ist der Ausdruck dieser Erzählungen. Ein anderer, damit eng zusammenhängender Gebrauch von Rede scheint die Anrufung zu sein, oder vielleicht sollte man geradezu sagen: das Nennen. Denn dies Nennen — zum mindesten in dem Sinne, in dem ich es hier in der Verbindung mit Anrufen gebrauche - ist offenbar nicht zu verwechseln mit jener adamitischen Besitzergreifung der Schöpfung, als Adam allen Dingen den Namen gab. Die Erfahrung, um die es hier geht, ist vielmehr die der Anrufung, die der Mensch an den Gott richtet. Homer bezeugt das ständig, daß die Sterblichen zwar die Götter mit Namen rufen, aber in dem Bewußtsein, nicht zu wissen, ob sie sie mit dem rechten Namen rufen. »Zeus oder wie immer du gerufen sein willst. . . « ist etwa eine der üblichen Floskeln epischer Anrufung. Auch solche Anrufung weist offenbar über das, was wir wissen, hinaus und läßt etwas sichtbar werden, was unserem eigenen Zugriff und Begriff entzogen bleibt und was jedenfalls nicht in dem aufgeht, was wir wissen. Gleichwohl ist die Freude des Nennens, das > Aufzählen« von Namen, ein wesentliches Moment in der »epischen« Haltung des >Erzählers<, wie beide, Homer und Hesiod, deutlich bekunden. Nun ist der Schritt zur »Literatur«, den solche mythische, dichterische Überlieferung tut, wenn ich es in einer Formel komprimieren solL der Schritt von der Sagenerzählung zum Werk. Der Begriff des Werks und des Kunstwerks ist freilich nicht ohne Probleme. Bekanntlich versucht man in heutiger progressiver Ästhetik den Werkbegriff zu eliminieren. Man meint, es ' komme gerade nicht auf das Werk an, das dem »Konsumenten« den Abstand der Betrachtung und des Genusses läßt, sondern auf den Akt der einmaligen Begegnung, den Stoß, den man empfangt. Gleichwohl glaube ich, daß es hermeneutische Gründe gibt zu sagen, das Werk bleibt das Werk. Das heißt, jede Gestaltung, die überhaupt identifizierbar ist, so daß wir für sie Ausdrücke gebrauchen wie »schön«, »dicht«, »vielsagend«, ist schon, indem sie so charakterisiert wird, »Ergon« — ein Werk. Im religiösen Kult als solchem gibt es nicht diesen Übergang zum Werk. Der Ritus, die Zeremonie, die Formen und Formeln des religiösen Verhaltens können fest und fixiert sein und beständig wiederholt werden, weil es so Brauch ist. Da hat man nicht den Abstand des Urteils, sondern man geht im Vollzug auf. Wohl aber hat selbst ein Mobile oder eine Spielanweisung seine Identität — so gut wie ein einmaliger Tanz, den wir als meisterhaft bewundern, und selbst eine Improvisation auf der Orgel kann ein »Werk« sein. Es heißt uns »schön« oder auch »leer« und »nichtssagend«. Es ist etwas, über das geurteilt wird, auch wenn es nur einmal gesehen oder gehört worden ist. Es ist für uns eine
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Werkgestaltung. Nun möchte ich sagen: ein solcher Obergang vom wiederholten Vollzug zum >Werk< scheint sich in der griechischen Literatur Schritt für Schritt zu vollziehen und vollendet sich schließlich in der Wendung zum Text, dem gelesenen Werk. Man kann es verfolgen, wie alle Formen dichterisch-religiöser Rede, in denen wir das Dichterische vom Religiösen nicht scheiden können, sich zur Werkgestalt erheben, sei es im rhapsodischen Vortrag, der sicher nicht mehr Kult war, sei es in der Aufführung der Chorlyrik und ihres Tanzes - ohne Zweifel herausgehoben aus den >Nomoi< der täglichen Kultverrichtung. So stellt die Tragödie, von der wir alle wissen, daß sie bei aller Einfügung in den Gesamtrahmen religiöser Ordnungen ein Schauspiel war, eine in sich geschlossene Veranstaltung dar, über die ein Preisgericht urteilte. Man ist überall bereits auf dem Wege zur Autonomie des Textes, so daß der Übergang in das wirklich Geschriebene und der Übergang in das nur noch Gelesene nicht überraschend ist. Was aber ist darin eigentlich impliziert, daß etwas >Literatur< wird, d. h. so sehr Werk oder Text geworden ist, daß es als dieses, als >Literatur<, zum Sprechen gebracht werden kann? Daß es wirklich das autonom gewordene Werk selbst ist, das da zum Sprechen gebracht werden muß - und nicht der Autor als dieser Sprechende-, zeigt sich etwa daran, daß jede Reproduktion, auch die durch das eigene Sprechen des Lesers oder Autors, ein mißliches Moment des Kontingenten erhält. Ein wirklicher Text, der in diesem eminenten Sinne Text ist, wird nicht an der ursprünglichen Art gemessen, in der er erstmals oder ursprünglich gesagt war. Immer hat es etwas Peinliches, wenn man einen Dichter seine eigenen Werke vortragen hört. Warum hat er denn gerade diese Stimme, warum hat er denn gerade diese Betonung beim Vortrag der Sache? Meinem inneren Ohr kann keine mögliche Sprachverwirklichung, auch nicht die durch meine eigene Stimme, voll genügen4. Das weiß jeder Sprecher eines >Textes<. Der Text hat eine Idealität erworben, die durch keine Realisierung voll gedeckt werden kann. " ~ ~ Das Theaterproblem, die >Reproduktion< im Sinne der szenischen Realisation, ist wiederum etwas anderes und bestätigt gleichwohl die Idealität von >Literatur<. Da kommt wie eine zweite Schöpfung eine neue Wirklichkeitsschicht ins Spiel. Auch ein dramatischer Text bleibt vermöge der Idealität seiner literarischen Gestaltung der Maßstab für solche >zweite< Schöpfung. Man denke etwa an die Auffassung einer Rolle, an die Grenze des Spielraums, der ihr durch den dichterischen Text gewährt ist. Das ist ein kompliziertes Problem der Überlagerung einer Idealität über die andere, auf das noch weiter einzugehen wäre. Ich würde aber eine allgemeine Konsequenz aus der Idealität dieses >Sprechendseins< von Texten ziehen, denen kein * Ausfuhrlicher dazu in diesem Band >Stimme und Sprache< (Nr. 22) und >Hören Sehen-Lesen<(Nr.23).
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Sprecher entspricht: Das Ideal solchen Sprechendwerdens von Texten als Texten schließt in letzter Konsequenz die Unübersetzbarkeit ein. Daß >Literatur< sich vor allem, was sonst geschrieben wird oder schriftlich überliefert ist, dadurch auszeichnet, daß es auf ihre sprachliche Erscheinung — und nicht nur auf den >Sinn< — ankommt, liegt auf der Hand. Übersetzung literarischer Texte ist eben selber wieder eine literarisch-dichterische Aufgabe, die nur in Annäherung gelingen kann. Das Extrem einer >Literatur<, das sich der vollen Unübersetzbarkeit nähert, ist offenbar das Ideal der symbolistischen Lyrik, der poésie pure. Sie stellt so die äußerste Konsequenz einer sprachlichen Gestaltung dar, die überhaupt alle Mitteilung von Inhalten zugunsten des Vollzuges hinter sich läßt. Wenn Bedeutung und Klang wie eigene Gravitationszentren einander die Waage halten, und das so, daß die Einheit einer Rede ohne jedes andere syntaktische Mittel gelingt—und das ist in gewissem Sinn Mailarmes Ideal gewesen - , heißt das also nicht, daß der Einheitssinn der Rede gefährdet oder aufgehoben wäre. Das scheint mir ein Mißverständnis. Wohl aber erweist dieses Ideal der >reinen< Poesie, daß Sprache in ihrer vollen sinnlichen Idealität spricht, in der Sinn und Klang eins geworden ist. Hier scheint das Herauswachsen des dichterischen Werks aus der vorliterarischen Sprache der Sagenerzählung und des Liedes zu einer Höhe gelangt, in der >alks Symbol· ist. ι Nun möchte ich dieser Form des eminenten Textes >die Schrift< und das heilige Buch zur Seite stellen, in dem die erzählte Urgeschichte zur Urkunde wird. >Urkunde< soll hier den vollen Sinn des deutschen Wortes, den Sinn des gültigen Dokumentes haben. Das ist, offenbar ein Neues. Welcher Bezeugung durch eine Urkunde bedarf es da? Keine antike Religion, die wir aus unserer westlichen Tradition kennen, hat eigentlich den Begriff der falschen Götter gekannt. Die Götter - das war dieses Dasein >jenseits< des Alltäglichen, die Sphäre des Göttlichen, zu der immer neue Interpretationen und Illustrationen dichterischer und >philosophischer< Art den Weg suchten. Die Voraussetzung war dabei die eindeutige Realität der religiösen Erfahrung: Fremde Völker konnten auch nichts anderes meinen als diese übermächtige Wirklichkeit des Göttlichen, so daß etwa die bekannte Hinzunahme der Götter unterworfener Völker oder eroberter Städte zu den eigenen römischen Göttern gar nichts Besonderes war. Nicht so sehr Staatsweisheit spricht daraus, als daß sich darin ein ganz allgemeines Verhältnis zur Universalität des Göttlichen ausdrückt. Das wird mit den Offenbarungsreligionen anders. Auch dieses Wort läßt sich nur auf die jüdische und die christliche Religion anwenden—wobei ich vom Islam absehe, dessen religiöse Urkunde ein ganz besonderes Problem darstellt, das ich nicht erörtern kann, da ich leider des Arabischen nicht mächtig bin. Beide haben Urkunden, die eine Geschichte nicht nur erzählen, sondern geradezu bezeugen. Die Urgeschichte des auserwählten Volkes erzählt nicht nur Geschichten von einer ,νοη
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Gottesnähe erfüllten Urzeit, wie das in den mythischen Überlieferungen anderer Religionen geschieht. Das Alte Testament nimmt in Anspruch, das Wort Gottes zu sein: ein Gesetz, das verpflichtet und eine auf das Einhalten des Gesetzes begründete Zusage bedeutet - der Zorn Gottes und Gottes Treue gehören zusammen. Es ist Vertragstreue, ein Verhältnis von Gesetz und Gesetzesgehorsam, was die Schrift bezeugt, und bereits im zweiten vorchristlichen Jahrhundert war es die Schrift, die die religiöse Gemeinschaft der Juden wie eine Stiftungsurkunde zusammenhielt. Stellen wir dieser Urgeschichte des Volkes Israel nun die christliche Urgeschichte zur Seite. Der >Neue Bund< ist nicht mehr ein solcher Vertrag. Statt >Gesetz< und >Gehorsam< muß man hier >Kerygma< — >Botschaft< - und >Glaube< sagen. Wenn ich nun das Verhältnis zwischen Botschaft und Glaube auf eine profane Weise abbilden soll, um es gegen das alttestamentliche Verhältnis von Gesetz und Gehorsam abzuheben, so würde ich auf das Wesen des Versprechens hinweisen. Ein Versprechen hat zwar auch seine Verbindlichkeit. Aber das Versprechen ist nicht wie ein Gesetz, das den anderen verpflichtet, daß man dem Gesetz gehorchen soll. Es ist auch nicht wie die Vertragstreue zwischen den Partnern eines Vertrages, was den Neuen Bund bildet. Wer verspricht, geht freiwillig eine Bindung ein. Jedes Versprechen ist seinem eigenen Wesen nach auf Freiheit gestellt. Nicht nur, daß seine Erfüllung nicht, wie beim Vertrag, durch Rechtsmittel selbstverständlich erzwungen werden kann. In Wahrheit ist es überhaupt erst dann ein Versprechen, wenn es angenommen wird. So kennen wir es, wenn jemand zuviel verspricht und man es mit ihm gut meint, sagt man: »Versprich das lieber nicht!« In der Annahme entsteht die verbindliche Gültigkeit, aber eben nicht durch eine Gegenleistung, sondern durch nichts als durch die Annahme. Das scheint mir eine gute profane Analogie zu dem Begriff des Glaubens. Die Botschaft des Evangeliums ist ein freies und offengehaltenes Angebot, und nur wer sie annimmt, fur*den ist es die Frohe Botschaft.
sagen will. Darum muß sie weitergesagt werden, aber so, daß sie den anderen richtig erreicht. Zum Ausrichten einer Botschaft gehört also deren Verständnis und verständnisvolle Weitergabe. Das heißt in letzter Konsequenz: Sie verlangt >Übersetzung<. Insofern gehört zum Wesen der christlichen Botschaft universale Übersetzbarkeit. Das Missionsgebot der christlichen Kirche folgt aus dem Charakter des Evangeliums, und wenn eine Botschaft wirklich ausrichten heißt, dem anderen die Botschaft so zu sagen, daß er sie versteht, dann ist es in der Tat eine vernünftige und wesentliche Konsequenz, daß die Bibel in die Volkssprache übersetzt wurde und daß das Evangelium am Ende in allen Sprachen ausgerichtet werde. Die griechische Abfassung der Geschichten von Jesus, die Veranstaltung der lateinischen Übersetzungen, die Übersetzung ins Gotische usw. sind in dieser Linie, und am Ende hat die reformatorische Bewegung die Bibelübersetzung in den Volkssprachen verbreitet. Das scheint mir das Fundament, von dem aus sich alle Formen religiöser Rede und religiösen Sprachgebrauchs in der christlichen Tradition bestimmen lassen. Alle Formen christlichen Gottesdienstes, im katholischen wie im protestantischen Bereich, dienen letzten Endes der einen Aufgabe, die paradoxe Botschaft des Glaubens »auszurichtend Hier erreicht die für jedermann schwierige Aufgabe, sich etwas sagen zu lassen, ihre äußerste Zuspitzung. Denn es ist eine unglaubliche Botschaft, die hier ergeht. Sie knüpft nicht an das natürliche Selbstverständnis von Tod und Unsterblichkeit, Heil und Erlösung an. Die christliche Botschaft stellt vielmehr eine Zumutung dar, die alle natürliche Erwartung bricht, indem sie nicht dem Verständnis von Verdienst und Lohn, Schuld und Strafe folgt. Flacius, der Begründer der protestantischen Hermeneutik im Wittenbergischen Schulzusammenhang, hat, wir mir scheint, sehr richtig gezeigt, daß in dieser Eigenart der christlichen Verkündigung die letzte Aufgabe der Hermeneutik hegt. Alle die vielen sonstigen Fremdheiten, die in der Heiligen Schrift begegnen, die Vergangenheitsferne der Sprache, der Grammatik, der Realien und alles dergleichen, verlangen gewiß Kenntnisse, um ein besseres Verständnis des fremdartigen Textes zu ermöglichen. Aber die eigentliche Aufgabe der Hermeneutik, die das Christentum stellt, ist die fundamentale Fremdheit und Befremdung, die in der christlichen Botschaft als solcher liegt. Sie gipfelt darin, daß die Erlösung und der Glaube selbst ganz und gar als göttliche Gnade verstanden wird, so daß Verdienst und Würdigkeit ihre Geltung verlieren. Das ist gegen jede Erwartung der menschlichen Natur gerichtet, und weil es immer nur um dies Eine, um die Zumutung des Glaubens geht, wollen alle Formen religiöser Rede, die im Christentum begegnen, Glaubenshilfe sein.
Wenn es erlaubt ist, auch ohne theologische Kompeteiy- in dieser Form die Dinge zu beschreiben, so ließe sich eine hermeneutische Folgerung daraus ziehen. Ich meine: wenn die christliche Botschaft eine solche Art freien Angebots ist — ein freies Versprechen —, auf das kein Mensch irgendeinen Anspruch hat, dann ist es an jedermann gerichtet, dann liegt darin für den, der selbst diese Botschaft angenommen hat, zugleich der Auftrag, diese Botschaft anderen auszurichten. Das Wort >ausrichten< ist ein sehr interessantes Wort. Eine Botschaft ausrichten heißt nicht, sie wiederholen. Wer sozusagen eine Botschaft so >sinnlos<, d.h. bezuglos-wörtlich ausrichtet, daß sie in der konkreten Situation einen falschen Sinn bekommt, richtet sie eben nicht wirklich aus. Das ist ein wohlbekanntes Eulenspiegelmotiv. Eine Botschaft ausrichten verlangt, daß man verstanden hat, was die Botschaft
Im protestantischen Gottesdienst drückt sich das in der zentralen Stellung der Predigt aus. Doch sind auch alle anderen Formen des christlichen Gottes-
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dienstes und das gesamte kirchliche Leben in letztem Betracht Glaubenshilfe: Das Leben der Gemeinde meint das Zusammenstehen im Glauben, wie das seinen Ausdruck in der Lehre vom Heiligen Geist gefunden hat. Demgegenüber hat das Wort der Predigt die Auszeichnung, das Wort des Einzelnen zu sein, der sich zu den Glaubensinhalten der Kirche bekennt und als Zeuge und als Glaubenshelfer zu Worte kommt. Daher ist die Predigt der eigentliche Höhepunkt der kirchlichen Rhetorik, in der einer zu vielen spricht und ihnen die Heilsbotschaft zu vermitteln sucht. Wir ziehen die Konsequenz: Dichterische Rede und religiöse Rede sind in der christlichen Tradition zwei verschiedene Arten von Text. Das schließt nicht aus, daß durch Dichtung religiöse Gehalte vermittelt werden können, und umgekehrt, daß religiöse Texte auch einen dichterisch-literarischen Aspekt haben können, der sie vor anderen religiösen Texten auszeichnet. Daraus leitet sich die abschließende Aufgabe ab, die Interferenz beider Aspekte verständlich zu machen. Zu diesem Zwecke möchte ich den sowohl in der Kunsttheorie wie in der Phänomenologie der Religion zentralen Begriff des Symbolischen durch den Gegenbegriff des Zeichens ergänzen, dem ich eine neue Dignität zusprechen möchte. Das Symbol ist dadurch definiert, daß etwas an ihm erkannt und wiedererkannt wird5. Das entspricht dem ursprünglichen Wortsinn, der im antiken Paßwesen seine allgemein bekannte Funktion hatte. In einem ähnlichen Sinne reden wir offenbar auch von religiösen Symbolen. Die Gemeinde erkennt und bestätigt sich in der Anerkennung ihrer Symbole. Wenn die klassische deutsche Ästhetik dem ursprünglich dem christlichen Platonismus entstammenden und später im neuzeitlichen Streit der Konfessionen üblich gewordenen Begriff des Symbols eine neue universale Ausweitung gegeben hat, so folgt sie der ursprünglichen Bedeutung des Wortes >Symbol<, etwas zu sein, woran etwas erkannt und wiedererkannt wird. War das im Räume der Kirche die Gemeinsamkeit der Glaubensinhalte," so wird jetzt die Symbolkraft des Kunstwerkes dadurch definiert, nicht auf etwas Gemeinsames stellvertretend zurückzuverweisen, sondern durch seine eigene Aussagekraft etwas als Gemeinsames bewußt zu machen. Die Erfahrung des »Das bist du!« mag von der höchsten schreckhaften Ausdrücklichkeit der tragischen Erschütterung bis zu einem verschwebenden Hauch von Bedeutsamkeit variieren, von der Begegnung mit König ödipus bis etwa angesichts eines dieser in Stummheit brütenden Bilder von Mondrian - es ist gleichwohl etwas Gemeinsames: Wiedererkennung6. Ohne Zweifel bereitet das Werk der Kunst etwas wie Wiedererkennung, die uns aufs neue hilft, 5
Zum Begriffdes Symbols siehe >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 76 ff. und in diesem Band >Die Aktualität des Schönem, S. 122ff. 6 Vgl. >Wahrheit und Methode (Ges. Werke Bd. 1), S. 119ff.
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heimisch zu werden, die dem Menschen als die nie bis zu Ende lösbare Aufgabe seiner Existenz gestellt ist. Wie anders ist demgegenüber die Verkündigung und messianische Verheißung! Was bedeutet im Inkarnationsgeschehen und in der Osterbotschaft die Wiedererkennung im Sinne des »Das bist du!«? Doch gewiß nicht einen weiteren Schritt des Heimischwerdens des Menschen in der Welt, wie sie selbst noch die Reinigung von Furcht und Mitleid in der tragischen Wehmut gewährt. Nicht der unendliche Reichtum von Lebens- und Weltmöglichkeiten begegnet in solchem »Das bist du!«, sondern gerade die äußerste Armut des Ecce homo. Man muß dem Wort eine ganze andere Betonung geben: »Das bist du!« - dieser dem Leiden und dem Tode hilflos Ausgesetzte. Angesichts dieser unendlichen Verweigerung der Todesqual soll offenkundig die Osterbotschaft zur Botschaft werden. Die Symbolstruktur erscheint in beiden Erfahrungen als Wiedererkennung die gleiche. Und doch ist der Stil der Bekanntheit, auf dem die Wiedererkennung hier und dort beruht, ein grundverschiedener. Das war ja der Anspruch der christlichen Botschaft, und das verleiht ihr ihre Ausschließlichkeit, daß nur die christliche Botschaft den Tod wirklich überwunden hat, indem sie das stellvertretende Leiden und Sterben Jesu als Erlösungstat verkündet. Von diesem ausschließenden Anspruch her wirkt die erhabene Feierlichkeit und festliche Verklärung des Totenglaubens, den die älteren religiösen Kulturen gepflegt haben, wie eine einzige große Verweigerung des Todes. Man denke daran, wie das Novalis in seinen >Hymnen an die Nacht< zum Ausgangspunkt seiner geschichtsphilosophischen Vision gemacht hat. Dieser Doppelsinn und Unterschied im »Das bist du!« läßt sich mit Hilfe des Begriffs des Zeichens artikulieren. Selbstverständlich muß man in diesem Zusammenhang völlig von dem sogenannten Zeichengebrauch abstrahieren und von der ganzen Kunst und Wissenschaft solchen Zeichengebrauchs, die wir Semantik oder Semiotik oder wie immer nennen. Zeichen ist hier im religiösen Sinne gemeint. Es scheint mir nicht nur eine pietistische Tradition des Bibellesens, in der die religiöse Rede der Heiligen Schrift in der Erwartung gelesen wird, daß einem daraus ein Zeichen zuteil werde. Es scheint mir vielmehr eine allgemeine Forderung des Annehmens der christlichen Botschaft, was Luther in die Formel des >pro me< gefaßt hat. Hier handelt es sich um mehr als um eine bloße Gemeinsamkeit in der Versammlung um Symbole. Eine solche mag daraus folgen und ist gewiß ein Bestandteil allen Kultes, und das in jeder Religion. Aber das Zeichen ist etwas, das nur dem gegeben wird, der es als ein solches zu nehmen imstande ist. Ein Freund hat mir einmal eine Geschichte erzählt, die zwar nicht unbedingt für Pastoren schmeichelhaft ist, aber doch irgendwie trostreich: Ein auf seine Weise ebenso einfacher wie frommer Mann, der als Schriftbildner
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einen internationalen Namen besaß, war eines Tages mit meinem Freunde in einem protestantischen Gottesdienst. Als sie aus der Kirche herausgingen, sagte der andere zu ihm: »Hat der Pastor nicht wieder furchtbar gelabert?« (>Labern< ist ein unedler Ausdruck für Quatschen.) Da erhielt er die erstaunte Antwort: »Ach so, kann sein, das habe ich gar nicht bemerkt.« Der Mann hatte offenbar auf die Predigt gehört, auf das, was ihm durch die Botschaft gesagt werden sollte. So war sie nur für ihn da, und nur so war sie, was sie ist. Das ist eine Illustration für das, was ich mit >Zeichen< meine: nichts, worauf man sich berufen kann, nichts, was doch alle gesehen haben, und doch von der Art, daß es, wenn es als Zeichen genommen wird, seine eigene unstreitige Gewißheit hat. Es gibt ein Heraklitwort, das diesen Zusammenhang gut beleuchtet: »Der delphische Gott spricht weder aus, noch verbirgt er, aber er zeigt. «7 Man muß nur verstehen, was >Zeigen< heißt. Es ist kein Ersatz fur >Sehen< und von aller Aussage oder ihrer Verweigerung (dem Verschweigen) eben dadurch unterschieden, daß das Gezeigte nur dem zugänglich wird, der selber hinsieht und sieht. Mir scheint, daß ohne eine solche Einführung des Zeichenbegriffs der wahre Unterschied von dichterischer und religiöser Rede nicht wirklich beschrieben werden kann — jedenfalls nicht so, wie er in der christlichen Geschichte zur Ausformung gekommen ist und in der Ausweitung des Symbolbegriffs auf außerreligiösen Gebrauch seinen Ausdruck gefunden hat. Innerhalb eines christlich geordneten Ganzen bedeutete die Anerkennung von Kunst, die in der antiken Übung ein selbstverständliches Weitertragen religiöser Kunde und Wahrheit war, bekanntlich ein sehr ernstes Problem. Insbesondere die bildende Kunst war schon durch das jüdische Erbe, das in der christlichen Kirchengeschichte steckt, eine problematische Sache. Die christliche Entscheidung ist schließlich fur das Bild, das heißt für die bildende Kunst gefallen, aber mit einer Begründung, die den Vorrang der Schriftverkündigung und damit das Prinzip der Glaubenshilfe ausdrücklich in den Vordergrund stellt. Die bildende Kunst fungiert als die >Biblia pauperum<, das heißt: als die Schrift für diejenigen, die des Lesens und Verstehens des Bibeltextes nicht fähig sind. Ähnlich spielte die Musik im christlichen Kult eine bedeutende Rolle - als ein Teil des Kultes selber, als eine Bekundung und Bekennung der Gemeinde, sei es im Choral der Messe und seiner immer kunstvolleren Ausformungen, sei es in der treuherzigen Form des immer etwas schleppenden Gemeindegesangs des protestantischen Gottesdienstes. Auch Dichtung und dichterische Qualität kann im religiösen Sprachzusammenhang begegnen. So bewundern wir den hohen Rang der hebräischen Poesie, die mit der Sprache der religiösen Überlieferung eine so starke innere Verflößung einging, daß keine Spannung empfun7
Fr. 9 3 : . . . οϋτε λέγει οΰτε κρύπτει άλλα σημαίνει.
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den wurde. Am Ende sollte man aber auch der Erzählweise, die den ursprünglichen Quellen des Neuen Testamentes eigen ist, zubilligen, daß in ihnen Kunst des Erzählens steckt. Sie mag mit dem hohen Rang mancher alttestamentlichen Texte nicht wetteifern können, aber es gibt auch dort Partien von eindringlicher Dichtigkeit des Erzählens, wie etwa manche Gleichnisse bei Markus. Das ändert nichts daran, daß im biblischen Zusammenhang das nicht Literatur und kein autonomer Text ist. Die so erzählte Botschaft will als Botschaft genommen werden. Das aber heißt: nicht so sehr als eine symbolische Form der Wiedererkennung, sondern als ein Zeichen, das mir wird. Gleichwohl scheint es mir sinnlos, einen Gegensatz von Kunst und Religion, ja auch nur von dichterischer und religiöser Rede zu konstruieren und überhaupt, was die Kunst einem sagt, von allem Wahrheitsanspruch abzudrängen. In jeder Aussage der Kunst wird etwas kundgetan, etwas erkannt und wiedererkannt. Es ist auch immer so etwas wie Bestürzung, was mit solcher Wiedererkennung verknüpft ist, ein Staunen und fast ein Erschrekken, daß solches geschah oder daß Menschen solches gelang. Gleichwohl geht der Anspruch der christlichen Botschaft darüber hinaus. Er weist in die umgekehrte Richtung. Sie zeigt, was Menschen nicht gelingen kann, und gewinnt gerade daraus ihren Anspruch und die Radikalität ihres Angebots. Wenn man es als die Auszeichnung des Evangeliums versteht, daß man diese Botschaft gegen alles Erwarten und Erhoffen annehmen soll, wird die Radikalität der aus dem Christentum erwachsenen Aufklärung verständlich. Zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit wird Religion überhaupt als überflüssig erklärt und als Betrug oder Selbstbetrug denunziert.
Reflexionen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft
12. Reflexionen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft (1984)
Es ist eine einmalige Situation, in der sich in unserer Gegenwart die Religion befindet. Zum ersten Male geht es nicht mehr um das Für und Wider, das von jeher mit dem Anspruch verknüpft ist, den die Religionen erheben. Es ist nicht mehr der Kampf für Gott gegen die Götzen oder die Verteidigung der eigenen Religion gegen den Ansturm der Ungläubigen, die einem anderen Glauben folgen, und sei es dem des wissenschaftlichen Atheismus. Heute geht es vielmehr um die Frage, ob die Menschheit überhaupt der Religion bedarf. Zwar hatte die Religionskritik im Sinne von Epikur, Feuerbach und Marx oder im Sinne von Freud diese Frage seit langem gestellt und die Antwort vorweggenommen. Aber das Einmalige der heutigen Situation scheint mir zu sein, daß sogar die Frage nach dem Sinn von Religion gegenstandslos wird, wenn mehr und mehr Menschen tatsächlich ohne Religion leben. Der Atheismus der Indifferenz kennt die religiöse Frage überhaupt nicht mehr. Ist das Ende einer Illusion gekommen? Oder ist gerade das die Illusion, zu meinen, daß es menschliches Leben ohne Religion geben kann? Die Frage hat sich mit der Ausbreitung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation über die ganze Erde selber gewandelt. Wonach fragt man eigentlich, wenn man >Religion< meint? Die Apologie des Christentums, wie sie von Pascal oder von Dostojewskij geführt worden ist, meinte den christlichen Glauben und antwortete auf die besondere Anfechtung, die die AntiTheologie der neuzeitlichen Aufklärung darstellte. Das war im Grunde ein Glaubensstreit. Die durch die Wissenschaft eingeleitete Aufklärungsbewegung hatte offensichtlich selber einen ideologischen Zug. Nun könnte man meinen, daß der Wissenschaftsglaube der Moderne die spezifische Frontstellung gegen die christliche Kirche, in der er sich formiert hat, in Wahrheit von sich aus weit überschreitet und deswegen den Begriff der Religion als GegenbegrifF von Aufklärung zu bestimmter Einheit zusammenschließt. Vom Standpunkt der modernen Wissenschaft aus ist das konsequent, und so hat Max Weber in seiner berühmten These von der Entzauberung der Welt diese Konsequenz gezogen. Offenbar ist die Sachla-
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ge aber weit komplizierter. Beobachter der heutigen Weltlage können vieles aufrühren, das das Fortleben religiöser Energien und neuerstarkende religiöse Motivationen auch in unserem Zeitalter der Wissenschaft bezeugt. An sich sollte das nicht überraschen, wenn man an die überzeugende Art denkt, in der Kant den Ausgleich zwischen der Idee der modernen Wissenschaft und der älteren Tradition der Metaphysik gesucht hat. Seine >Kritik der reinen Vernunft< bedeutete ja die kritische Begrenzung des Wahrheitsanspruches der Wissenschaft. Hier möchte ich anschließen und die Frage stellen: Wieweit bestimmt der Ausgang vom modernen Wissenschaftsbegriff all unser Nachdenken über das Wesen und die Zukunft der Religion? Daß der Begriff der Entzauberung, der ja sein Gegenteil einschließt, von der rationalen Weltbewältigung her gedacht ist, liegt auf der Hand. Aber gerade Max Webers Begriff der wissenschaftlichen Aufklärung und des unumkehrbaren Prozesses der Rationalisierung des gesellschaftlichen Lebens weiß um die Grenzen. So redet Max Weber von der Rolle des Charismatikers und erkennt selbst, daß es Wahlsituationen gibt, die alle rationalen Entscheidungsmöglichkeiten übersteigen und in denen ein jeder seinem Gotte folgen müsse. Nun ist das offenkundig ganz vom Begriffe der wissenschaftlichen Rationalität her gedacht. Was heute zur Diskussion steht, sind nicht so sehr die Grenzen der Wissenschaft, die Max Weber nicht verkannte, sondern die Frage, ob ein angemessener denkender Zugang zu dem, was Religion ist, vom Wissensbegriff der modernen Aufklärung her überhaupt noch gefunden werden kann. Der Schattenwurf des wissenschaftlichen Weltzugangs reicht in Wahrheit über alle Grenzziehungen hinaus. Sofern die Wissenschaft alles Erfahrbare als ihren möglichen Gegenstand ansieht, muß sie all das, was von da aus gesehen >jenseits< ist, der subjektiven Seite zurechnen - und eben damit diese subjektiven Verhaltensweisen selber wiederum zum Gegenstand machen. Nun haben wir als Repräsentanten des Nur-Subjektiven den Sammelbegriff des Gefühls, und ein solcher Begriff ist von so unbestimmten Konturen, daß er in der tatsächlichen Welterfahrung völlig verschwimmt. Man denke an den ganzen Bereich des emotionalen Denkens oder an Carnaps berühmte Polemik gegen Heideggers Rede vom Nichts, aber auch an die Kritik an Schleiermachers Gefühlstheologie. Nun befindet sich aber auch der Begriff des Glaubens in einer eigentümlichen Schwebe zwischen einem Für-wahr-Halten, das hinter dem Wissen zurückbleibt, und einer Gewißheit, hinter der das Wissen zurückbleibt (»Nicht zweifeln an dem, was man nicht siehet«). Das ist ein höchst fragwürdiger Platz für den Begriff des Glaubens. Gewiß ist der religiöse Sinn dieses Begriffes nicht erst durch die moderne cartesianische Wissenschaftsidee artikuliert worden. Das Verhältnis von Credo und Intelligo, Pistis und Gnosis ist der jüdisch-christlichen Tradition inhärent. Das gerade ist es ja,
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Reflexionen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft
was die Geschlossenheit, aber auch die Problematik der Wissenschaftskultur der Gegenwart ausmacht, daß sie den ganzen Erdball erfaßt hat und doch vom Christentum geprägt ist, in dem sich jüdische Personalität und griechische Rationalität vereinigt haben. Die auf die Wissenschaft gegründete moderne Zivilisation hat eine solche technische Überlegenheit in der Beherrschung der Naturkräfte erreicht, daß sich keine andere Kultur dem entziehen kann, auch wenn sie in einer ganz anderen religiösen Tradition wurzelt. Was bedeutet das für uns heute? Der Begriff des Glaubens kann schwerlich die gleiche planetarische Geltung in Anspruch nehmen, die der Begriff der Wissenschaft besitzt. Selbst in unserer eigensten europäischen Tradition stecken da Probleme. Die griechischen religiösen Lebensformen entziehen sich der Frage nach dem Glauben weitgehend. Die Befolgung von Kultgesetzen, die Verehrung der Götter können sogar mit atheistischen Lehren zusammengehen, wie das erstaunliche Phänomen des Lukrezischen Lehrgedichts zeigt, und selbst in der römisch-katholischen Kirche ist nicht nur der rechte Glaube ganz durch die Lehrautorität der Kirche definiert, das Entscheidende ist überhaupt die Teilnahme an den Gnadenmitteln der Kirche. Die kultische Praxis ist aller subjektiven Gewißheit vorgeordnet, die man Glaubensgewißheit nennen könnte. Erst das reformatorische Christentum hat die ursprüngliche christliche Botschaft derart ins Extrem des Glaubens oder des Zweifeins getrieben, daß das Wagnis des Glaubens (wie der Unglaube) von dem Einzelnen getragen werden muß - wie das >Wahr< oder >Falsch< der Erkenntnis. Aber während es für die theoretische Erkenntnis die Wissenschaft gibt, durch die sich der Einzelne potentiell getragen und insofern entlastet weiß, ist der protestantische Mensch für das Wagnis des Glaubens ganz auf sich selbst gestellt - das heißt: auf den Erweis der göttlichen Gnade, die ihn erleuchtet. Der Begriff der Offenbarung ist zwar mit dem der Kirche, der Gemeinde der Heiligen, auch im protestantischen Christentum verbunden. Aber noch der Gottesdienst ist als Verkündigung der Heilsbotschaft von der Menschwerdung Gottes und der Erlösungstat Jesu auf das Glaubenszeugnis des Predigers gegründet.
der Religion und die Kritik des Christentums im besonderen das Prinzip des Selbstbewußtseins wirklich verlassen hätten. Immer steht ja das richtige Bewußtsein einer emanzipierten Menschheit oder einer wiedergewonnenen Unschuld des Werdens oder einer sich selbst ganz durchsichtig gewordenen Menschennatur dahinter. Aber gerade hier setzt unsere Frage ein, ob nicht die methodische Prämisse, die der modernen Wissenschaft zugrunde liegt, das Ideal der Methode und der Objektivierung, die Phänomene mit Notwendigkeit verstellt, um die es hier geht. Die Wissenschaft von der Religion wird ja auf diesem Wege zur Wissenschaft der Illusionsfähigkeit des Bewußtseins, und das heißt, sie kann und will nur Wissenschaft von dem sein, was Menschen in verschiedenen Religionen, Kulturen, Zeiten >geglaubt< haben. Da gerät man nun freilich oft in Verlegenheit. So finden wir etwa in der Oberlieferung des griechischen religiösen Denkens ein merkwürdiges Nebeneinander, etwa vom Handeln der Götter am Menschen und bewußtem menschlichem Handeln. Das hat Lesky im Anschluß an B. Snell an Homer schön gezeigt. Oder wir finden im Bereich der christlichen Theologie ein mythologisches oder auch ein existentiales Verständnis der Verheißung des Neuen Testamentes und in letzter grundsätzlicher Zuspitzung ein welthaftes und transzendentes menschliches Selbstverständnis. Das Aufklärungsschema der Entzauberung der Welt, des unumkehrbaren Weges vom Mythos zum Logos, scheint zu einfach. Versuchen wir es einmal mit der Gegenthese, daß die moderne wissenschaftliche Aufklärung nur einen partialen Weltaspekt darstellt, der zu einem universalen Wissenschaftsglauben nur aufgesteigert ist und somit unter Ideologieverdacht· steht. Dafür spricht, daß allenthalben gegen eine solche Einseitigkeit formlich ihr Gegenteil herausgetrieben wird, wie durch eine Irreleitung religiöser Energien. Jedenfalls tritt der Begriff der Religion und des religiösen Verhaltens unter eine neue Zweideutigkeit. Vom Standpunkt des Aufklärers aus spiegelt die Religion lediglich die Kindheit der Menschheit wider. Aber überall zeigen sich Kräfte, die einen gegen die Wissenschaft anderen Sinn auf die verschiedenste Weise legitimieren. Da ist etwa die Berufung auf das Fortleben der religiösen Bekenntnisse in der gesellschaftlichen Bewegung unserer Tage. Das meint nicht nur die ungebrochene Tradition großer religiöser Gemeinschaften wie die der römisch-katholischen oder der griechisch-orthodoxen Kirche. Es meint auch die fast unbegreifliche Unberührtheit des Islam, die die Einheit von politischer, rechtlicher und religiöser Buchstabentreue festhält und damit alle Rezeption der modernen Wissenschaftskultur begrenzt. Es gibt darüber hinaus die ganz undurchsichtigen Traditionsbestände Asiens, auf die sich das wissenschaftlich-technische Denken des Westens einfach auflagert, und wir sehen im eigenen christlichen Kirchenleben Erneuerungsbewegungen der vielfaltigsten Art.
Das ist eine sehr schmale Basis für das Verständnis von Religion. Eine solche Reduktion des Religiösen auf die Glaubensgewißheit ist zwar mit dem Subjektivitätsdenken der Moderne in gutem Einklang. Auch leuchtet es ein, daß man im Prinzip des Selbstbewußtseins, einen Gesichtspunkt einnimmt, der wirklich universale Reichweite in Anspruch nehmen kann und der daher alle anderen möglichen Verhaltensweisen des Menschen umfaßt, zu denen auch das Verhalten zum Heiligen gehört. Aber es ist ebenso evident, daß der Primat des Selbstbewußtseins nicht mehr unangefochten gilt, sondern durch die Ideologiekritik, durch Nietzsche, durch Freud in seiner Basis erschüttert ist. Das besagt freilich nicht, daß die Kritik
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Oft muß man sich fragen, wieweit es wirklich religiöse Motive sind, die solche Erneuerungen aus sich hervortreiben, oder ob es sich mehr um die Ausnutzung solchen solidarischen Empfindens für andersartige Solidaritäten handelt, fur nationalistische, rassische, politische oder wirtschaftliche Ziele. Aber selbst wenn es so wäre, würde solche Ausnutzbarkeit etwas bedeuten. Man wird immer offenlassen müssen, ob es sich etwa um einen einfachen gesellschaftlichen Funktionswandel handelt, der seinen religiösen Hintergrund durchaus nicht diskreditiert. Daß religiöse Bewegungen sich mit gesellschaftlichen Antrieben verbinden, ist immer wieder der Fall gewesen. Aber man muß auch der anderen Überlegung Raum geben, wieweit man Ersatzreligionen mit ins Auge fassen muß, etwa den Solidaritätssturm der modernen Sportbewegung oder den Fanatismus politischer Demonstrationen, ja, selbst die künstliche Einübung politischer Weltanschauungen etwa in der Form des Führerkults oder unter der Parole des Klassenkampfs, deren außerreligiöse Zwecksetzung auf der Hand liegt. Muß man nicht zugeben, daß solche Bewegungen zu Solidarisierungseffekten fuhren können, die im Erscheinungsbild - und vielleicht nicht nur in ihm — mit überlieferten religiösen Traditionen ganz übereinstimmen? Wenn man sagt, sie seien gemacht und nicht echt - von wo aus wird da geurteilt? Die ungeheuerlichen Erfahrungen, die wir in unserem Jahrhundert mit der sogenannten Gehirnwäsche gemacht haben, die nicht notwendig mit Drogen oder mit Foltern arbeitet, mahnen zur Vorsicht. Endlich muß man echte Formen religiöser Solidarisierung anerkennen, die sich aus der Einsicht in den Aufbrauch religiöser Traditionen bilden, etwa moralische oder politische Solidarisierungen oder solche aus mystischpantheistischer Frömmigkeit oder werktätiger Caritas. Es mag sein, daß solche intellektuellen Bewegungen institutionsunfähig sind oder so kurzlebig wie das Sektenwesen in Subkulturen — man darf die Bedeutung solcher Bewegungen der Intellektuellen im gesellschaftlichen Leben unserer Zeit nicht unterschätzen. Dank der Massenmedien wächst ihnen ein enormer Multiplikationskoeffizient zu. Die Formbarkeit des öffentlichen Bewußtseins von außen her ist maßlos gestiegen. Man muß sich grundsätzlich fragen, wieweit rein empirische Forschung religiöse Erscheinungen überhaupt als solche erfassen kann und wieweit sie nicht immer nur deren gesellschaftliche Auswirkungen zu beobachten vermag. So fragt es sich, was dann noch >echt< heißt. Man mag sich im besonderen fragen, ob sich nicht gemeinsame Überzeugungen auf vielfachen Wegen neu zu bilden vermögen und durchaus nicht in die weltgeschichtliche Alternative einmünden müssen, die durch den totalitären Zentralismus und den ökonomischen Liberalismus gebildet werden. Gibt es nicht übergreifende Erfahrungen? Da haben wir heute die Probleme
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der Ökologie, der Energiewirtschaft, der Welternährung, die gewiß nicht an politischen Grenzen halt machen und die den Interessengegensätzen gegenüber mehr und mehr an Gewicht gewinnen. Auch wenn dieselben nicht zu dramatischen Druck- und Notlagen fuhren sollten, läßt sich aus den Erfahrungen des Industriezeitalters doch eine Einsicht ableiten, die die Begrenztheit aller Möglichkeiten und damit die Notwendigkeit der Begrenzung und Einschränkung lehrt. In letzter Wurzel steht der Menschheit eine Desillusionierung bevor, die die Macht des Menschen über die Natur betrifft, und vielleicht noch mehr eine, die die Beherrschbarkeit der menschlichen Leidenschaften betrifft. Daß damit das Denken auf die Urfragen zurückgeführt wird, auf die die Religionen von jeher ihre Antworten anbieten, zeichnet sich ab. So ist die Frage zu stellen, ob wir am Ende überhaupt unangemessene Begriffe gebrauchen, wenn wir im Blick auf die Religionen von dem Wissen der Wissenschaft ausgehen und die Religionen unter die Frage stellen, wieweit ihre Gewißheiten einem >echten< Glauben entspringen, der doch immer wissenschaftlich unausweisbar bleiben muß. Es ist dieser Zweifel, der hinter dem Begriffsgegensatz von Glauben und Wissen auf den alten Gegensatz von Mythos und Logos zurückzugehen einlädt. Mythos und Logos scheinen besser miteinander verträglich, ja scheinen einander geradezu zu ergänzen. Der aus der Antike stammende Begriff des Mythos ist mit dem antiken Begriff des Göttlichen unlösbar verknüpft. Der Mythos erzählt vom Göttlichen. Aber er erzählt nur von ihm. Es sind Geschichten von Göttern oder Geschichten von Göttern und Menschen, die auf die Dimension des Göttlichen hinausweisen. Es ist dabei selbstverständlich und wohl nicht auf das griechische Altertum beschränkt, daß das in solchen Geschichten Erzählte nicht Gegenstand eigener Erkenntnis ist, eines Für-wahr-Haltens oder eines Glaubens, der ein NichtZweifeln wäre. Es ist vielmehr wie ein lebendiges Gedächtnis, das in das geschichtliche Gedächtnis der Dynastien, der Stämme und der Städte, der Orte und der Landschaften unmittelbar hineinragt. Der Übergang vom Geschichtlichen zum Mythischen ist fließend, und fließend sind auch die Geschichten selbst, die eine fast schrankenlose dichterische Erfindungskraft immer neu ausschmückt, ähnlich wie bei dem genialen Märchenerzähler, den wir kennen. Aber daß es die als Welt bekannten Götter sind, von denen da erzählt wird, steht fest. Gewiß ist das Verhältnis von Mythos und Logos nicht ganz ohne Spannung 1 . Ein Mythos ist immer nur glaublich und nicht >wahr<. Aber die Glaublichkeit eines Mythos ist nicht bloße Wahrscheinlichkeit, die der gesicherten Gewißheit ermangelt, sondern hat ihren eigenen Reichtum in sich, 1 Vgl. die folgenden Beiträge >Mythos und Vernunft< (Nr. 13) und >Mythos und Logos. (Nr. 14).
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den Schein des Wahren, das Gleichen des Gleichnissinnes, in dem das Wahre erscheint. Dies Wahre ist dann freilich nicht die erzählte Geschichte selber, die auf verschiedene Weise erzählt werden kann, sondern das in ihr Erscheinende - nicht etwa bloß das Gemeinte, das immer auf Verifikation angewiesen wäre, sondern das darin Gegenwärtige. Hier gewinnen Aspekte auch der christlichen Kultur eine neue Bedeutung. Ich denke dabei vor allem an die Denkform des Narrativen und an die Sprachform des Rituellen, die mich als philosophische Probleme seit langem beschäftigen2. Jedenfalls ist es eine eigene philosophische Aufgabe - wenigstens für die europäische Tradition der Philosophie, die im Blick auf die Wissenschaft lebt - , dieser Dimension des Mythischen gerecht zu werden. Wir erinnern uns dabei des von Schelling gebrauchten Wortes »das Unvordenkliche«. Wir sehen darin das eigentliche Problem, wie die objektivierende Tendenz des Bewußtseins (und nicht nur die der modernen Wissenschaft) mit der mythischen Erfahrung in Ausgleich gebracht werden soll. Schellings Wort läßt das, was wir suchen, wenn wir von der mythischen Erfahrung sprechen, gewiß anklingen. Aber das Wort >unvordenklich< ist doch von der Sehnsucht des Denkens aus als ein für es Unerreichbares artikuliert und nicht in seinem eigensten Sein und Erscheinen beschrieben. Am ehesten scheint mir noch Heideggers Begriff des »Andenkens«, der in Hegels Religionsphilosophie seinen Vorfahr hat, in die rechte Richtung zu weisen, und vor allem der Zusammenhang des Heilen mit dem Heiligen. Da wird auf Erfahrung hingedeutet, auf die es offenbar ankommt. Wie das Heile nicht in der Weise gewußt ist, wie das Wunde oder das Kranke, ist vielleicht auch das Heilige mehr ein Dasein als ein Geglaubtsein.
2
Siehe dazu jetzt vor allem den letzten Beitrag dieses Bandes, >Zur Phänomenologie von Ritual und Sprachen
13. Mythos und Vernunft (1954)
Das moderne Denken hat einen doppelten Ursprung. Es ist seinem wesentlichen Grundzug nach Aufklärung — denn mit dem Mut des Selberdenkens beginnt, wer heute Wissenschaft treibt, und die grenzenlose Ausbreitung der Erfahrungswissenschaften wie das Ganze der von ihnen ausgehenden Umgestaltung des menschlichen Lebens im Zeitalter der Technik bezeugen und bestätigen diesen Mut. Gleichwohl ist es noch ein anderer Ursprung, aus dem wir heute leben. Es ist die Philosophie des deutschen Idealismus, die romantische Poesie und die in der Romantik erfolgte Entdeckung der geschichtlichen Welt, die sich innerhalb des Aufklärungszuges der Moderne als eine bis heute wirksame Gegenbewegung erwiesen haben. Blickt man auf das Ganze der zivilisierten Welt, so wird man allerdings Ernst Troeltsch vorerst recht geben müssen, der einmal gesagt hat, der deutsche Idealismus sernur eine Episode. Die gesamte angelsächsische Welt, aber ebenso der von der kommunistischen Doktrin beherrschte Osten, sind von dem Ideal der Aufklärung, dem Glauben an den Fortschritt der Kultur unter der Herrschaft der menschlichen Vernunft, geprägt. Daneben gibt es einen Weltkreis, der von der Unveränderlichkeit der natürlichen Maße und Ordnungen so tief durchdrungen ist, daß das moderne Denken diese Überzeugung nicht zu erschüttern vermag. Es ist die lateinische Welt, die, durch den Katholizismus geformt, ein beständiger Anwalt des naturrechtlichen Denkens bleibt. In Deutschland aber und von ihm aus hat sich die moderne Aufklärung mit romantischen Zügen zu einer dauerhaften Wirkungseinheit verbunden, deren äußerste Pole radikale Aufklärung und romantische Kritik der Aufklärung sind. Eines der Themen, an dem sich diese Doppelpoligkeit des modernen Denkens besonders ausprägt, ist das Verhältnis von Mythos und Vernunft. Denn es ist selbst ein Aufklärungsthema, eine Formulierung der klassischen Kritik, die der moderne Rationalismus an der religiösen Überlieferung des Christentums geübt hat. Mythos ist dabei als Gegenbegriff gegen die rationale Welterklärung gemeint. Das wissenschaftliche Weltbild versteht sich als die Auflösung des mythischen Weltbildes. Als mythologisch aber gilt dem wissenschaftlichen Denken alles, was sich nicht durch methodische
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Erfahrung verifizieren läßt. So verfällt mit fortschreitender Rationalisierung auch alle Religion der Kritik. Max Weber sah geradezu in der Entzauberung der Welt das Entwicklungsgesetz der Geschichte, die vom Mythos zum Logos, zum rationalen Weltbild, mit Notwendigkeit hintreibt. Die Geltung dieses Schemas ist aber fragwürdig1. Zwar läßt sich in jeder Kulturentwicklung ein solcher Zug zur Intellektuierung, also eine Aufklärungstendenz erkennen. Aber noch nie vor dieser letzten, der modernen europäischen christlichen Aufklärung, verfiel die gesamte religiöse und sittliche Oberlieferung der Kritik der Vernunft, und so ist das Schema von der Entzauberung der Welt kein allgemeines Entwicklungsgesetz, sondern selbst ein historisches Faktum. Es ist das Resultat dessen, was es aussagt: die Säkularisation des Christentums erst hat diese Rationalisierung der Welt gezeitigt - und wir verstehen heute, warum. Denn das Christentum ist es gewesen, das in der Verkündigung des Neuen Testaments als erstes eine radikale Kritik am Mythos geübt hat. Die gesamte heidnische Götterwelt, nicht nur die dieses oder jenes Volkes, wird angesichts des jenseitigen Gottes der jüdisch-christlichen Religion als eine Welt der Dämonen entlarvt, das heißt der falschen Götter und teuflischen Wesen, und zwar deshalb, weil das alles Weltgötter sind, Gestalten der übermächtig erfahrenen Welt selber. Die Welt aber wird im Lichte der christlichen Botschaft gerade als das unwahre, der Erlösung bedürftige Sein des Menschen verstanden. Nun droht gewiß durch die vernünftige Welterklärung vom Standpunkt des Christentums der Wissenschaft ein Abfall von Gott, sofern sich der Mensch in ihr vermißt, der Wahrheit von selber mächtig zu sein. Aber darin hat das Christentum der modernen Aufklärung vorgearbeitet und ihre unerhörte Radikalität, die auch vor dem Christentum selber nicht haltmachen sollte, erst ermöglicht, daß es die radikale Zerstörung der mythischen, das heißt der von Weltgöttern beherrschten Weltansicht geleistet hat. Das Verhältnis von Mythos und-Vernunft ist aber ebensosehr ein romantisches Problem. Verstehen wir unter Romantik alles Denken, bei dem mit der Möglichkeit gerechnet wird, daß die wahre Ordnung der Dinge nicht heute ist oder einst sein wird, sondern ehedem gewesen ist und daß ebenso die Erkenntnis von heute oder morgen die Wahrheiten nicht erreicht, die ehedem einmal gewußt waren, so fallen die Akzente ganz anders. Der Mythos wird zum Träger einer eigenen, der rationalen Welterklärung unerreichbaren Wahrheit. Statt als Priesterbetrug oder Ammenmärchen verhöhnt zu werden, gilt er ihr als die Stimme einer weiseren Urzeit. In der Tat ist es die Romantik gewesen, die mit dieser Umwertung des Mythos ein 1 Siehe dazu im vorhergehenden >Reflexionen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft (Nr. 12).
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ganzes weites Feld neuer Forschung geöffnet hat. Man treibt Mythenforschung und Märchenforschung um der Bedeutung, das heißt der Weisheit der Mythen und Märchen willen. Aber auch sonst erkennt die Vernunft die Grenze der von ihr beherrschten Wirklichkeit, ζ. Β. des Mechanismus der Gesellschaft, indem sie organische Bilder für das gesellschaftliche Leben gebraucht oder indem sie das >finstere< Mittelalter im Glänze seiner Christlichkeit gewahrt oder indem sie nach einer neuen Mythologie sucht, die echte Volksreligion wäre, wie ehedem der Zustand der Völker der heidnischen Antike war. Es ist nur ein kleiner Schritt weiter, den Nietzsche tat, als er in der >Zweiten unzeitgemäßen Betrachtung< im Mythos die Lebensbedingungen jeder Kultur sah. Nur in einem von Mythen umstellten Horizont könne eine Kultur gedeihen. Die Krankheit der Gegenwart, die historische Krankheit, bestehe eben darin, diesen geschlossenen Horizont durch ein Übermaß an Historie, das heißt durch die Gewöhnung an das Denken unter immer wieder anderen Werttafeln, zu zerstören. Und wieder nur ist es ein kleiner Schritt, der von dieser Schätzung des Mythos zur Prägung eines politischen Begriffes des Mythos führt, wie er im mouveau christianisme< Saint-Simons anklingt und ausdrücklich von Sorel und seinen Nachfolgern entwickelt wird. Die Würde einer alten Wahrheit wird dem politischen Ziel einer Zukunftsordnung zugesprochen, die so gemeinsam geglaubt sein soll wie ehedem die mythisch verstandene Welt. Es gilt, den Zusammenhang dieser beiden Aspekte des Problems aufzuhellen, um eine geschichtliche Erkenntnis daraus zu gewinnen. Eine Analyse der Begriffe >Mythos< und >Vernunft<, die wie jede echte begriffliche Analyseselbst eine Geschichte von Begriffen und ein Begreifen von Geschichteist, soll das vorbereiten. I. >Mythos< bezeichnet zunächst nichts als eine Beglaubigungsart. Mythos ist das Gesagte, die Sage, aber so, daß das in dieser Sage Gesagte keine andere Erfahrungsmöglichkeit zuläßt als eben die des Gesagtbekommens. Das griechische Wort, das die Lateiner als >fabula< wiedergeben, tritt daher in begrifflichen Gegensatz zum Logos, der das Wesen der Dinge denkt und daraus ein jederzeit ableitbares Wissen um die Dinge besitzt. Aus diesem formalen Begriff des Mythos folgt aber auch ein inhaltlicher. Denn was grundsätzlich keiner Beglaubigung durch die eigene denkende Vernunft unterworfen und durch Wissenschaft nicht verfügbar gemacht werden kann, ist ja alles einmalige Geschehen, das nicht anders gewußt werden kann als von Augenzeugen und der auf diese gegründeten Überlieferung. Was so in der Sage lebt, ist aber vor allem die Urzeit, in der die Götter noch sichtbarer mit den Menschen Umgang gehabt haben sollen. Mythen sind vornehmlich Geschichten von Göttern und ihrem Handeln an Menschen. >Mythos< heißt aber auch die Geschichte der Götter selbst, wie sie etwa Hesiod in seiner >Theogonie< erzählt. Sofern nun die griechische Reli-
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gion im öffentlichen Kultus ihr Wesen hat und die mythische Oberlieferung nichts anderes will als die Ausdeutung dieser beständigen und bleibenden Kulttradition, ist der Mythos der Kritik und Umbildung beständig ausgesetzt. Die griechische Religion ist keine Religion der richtigen Lehre. Sie kennt kein heiliges Buch, dessen adäquate Auslegung Priesterwissen wäre, und gerade deshalb ist das, was die griechische Aufklärung übt, nämlich Kritik am Mythos, kein wirklicher Gegensatz zur religiösen Oberlieferung. Nur so versteht sich, wie es der großen attischen Philosophie und vor allem Plato möglich war, Philosophie und religiöse Überlieferung ineinanderzubinden. Piatos philosophische Mythen bezeugen, wie die alte Wahrheit und die neue Einsicht eines sind. Die durch das Christentum geübte Kritik am Mythos fuhrt dagegen im neuzeitlichen Denken dazu, das mythische Weltbild als Gegenbegriff zum wissenschaftlichen Weltbild zu denken. Sofern das wissenschaftliche Weltbild dadurch charakterisiert ist, daß die Welt durch Wissen berechenbar und beherrschbar wird, gilt nun alle Anerkennung unverfügbarer und unbeherrschbarer Mächte, die unser Bewußtsein begrenzen oder überwältigen, als Mythologie. Denn was so anerkannt wird, kann ja nicht wirklich Seiendes sein. Das bedeutet aber, daß alle Erfahrung, die nicht von der Wissenschaft verifiziert wird, in die Unverbindlichkeit der Phantasie abgestellt wird, so daß die mythenbildende Phantasie so gut wie die ästhetische Einbildungskraft nicht mehr den Anspruch auf Wahrheit erheben können. II. Der Begriff >Vernunft< ist dem Worte nach ein neuzeitlicher Begriff. Er meint ebensosehr ein Vermögen des Menschen wie eine Verfassung der Dinge. Aber gerade diese innere Entsprechung des denkenden Bewußtseins und der vernünftigen Ordnung des Seienden ist es, die in dem griechischen Urgedanken des Logos gedacht war, der dem Ganzen der abendländischen Philosophie zugrunde liegt. Die höchste Weise, in der das Wahre offenbar ist, in der sich also die Logoshaftigkeit des Seins im menschlichen Denken offenbart, heißt bei den Griechen >Nous<. Diesem Begriff des >Nous< entspricht im neuzeitlichen Denken die Vernunft. Sie ist das Vermögen der Ideen (Kant). Ihr Grundbedürfhis ist das Bedürfnis nach Einheit, in der sich das Disparate der Erfahrung zusammenschließt. Die bloße Vielheit des »Das und das« befriedigt die Vernunft nicht. Sie will, wo Vielheit ist, einsehen, was sie erzeugt und wie sie sich bildet. Daher ist die Zahlenreihe das Vorbild des vernünftigen Seins, des >ens rationis<. In der traditionellen Logik bedeutet Vernunft das Vermögen zu schließen, das heißt die Fähigkeit, aus reinen Begriffen ohne Zuhilfenahme neuer Erfahrung Erkenntnisse zu gewinnen. Der gemeinsame Grundzug, der sich in allen solchen Begriffsbestimmungen von >Vernunft< abzeichnet, ist, daß Vernunft dort ist, wo das Denken bei sich selber ist, im mathematischen und logischen Gebrauch und auch sonst im Zusammenschluß eines Mannigfaltigen in der Einheit eines Prinzips. Im
Wesen der Vernunft liegt also, absoluter Selbstbesitz zu sein, auf keine Schranke des Fremden und Zufälligen bloßer Fakten zu stoßen. So ist die mathematische Naturwissenschaft, soweit sie das Naturgeschehen in Rechnungen einsichtig darstellt, Vernunft, und die höchste Vollendung der sich selbst seienden Vernunft wäre, daß auch der Lauf der menschlichen Geschichte nirgends das >factum brutum< von Zufall und Willkür als seine Schranke erführe, sondern (mit Hegel) die Vernunft in der Geschichte einsichtig werden ließe. Die Uneinlösbarkeit dieser Forderung, alles Wirkliche als vernünftig zu erkennen, bedeutet das Ende der abendländischen Metaphysik und führt zu einer Abwertung des Begriffs von Vernunft selber. Sie ist nicht mehr das Vermögen der absoluten Einheit, nicht mehr das Vernehmen der letzten unbedingten Zwecke, sondern vernünftig heißt nunmehr die Findung der rechten Mittel zu gegebenem Zwecke, ohne daß die Vernünftigkeit dieser Zwecke selbst ausgewiesen wäre. Die Rationalität des modernen Zivilisationsapparates ist daher in ihrem letzten Kerne eine rationale Unvernunft, eine Art Aufstand der Mittel gegen die beherrschenden Zwecke - kurz, die Freisetzung dessen, was wir auf allen Lebensgebieten >Technik< nennen. Mythos und Vernunft haben, wie diese Skizze lehrt, eine gemeinsame, aus gleichen Gesetzen verlaufende Geschichte. Es ist nicht so, als ob die Vernunft den Mythos entzaubert hätte und nun seine Stelle einnähme. Die Vernunft, die den Mythos ins Unverbindliche der spielenden Einbildungskraft verwies, sieht sich selbst nur zu bald aus ihrem Führungsanspruch gedrängt. Die radikale Aufklärung des achtzehntenJahrhunderts erweist sich als eine Episode. Sofern sich nun die Bewegung der Aufklärung in dem Schema >Vom Mythos zum Logos< selbst aussagt, bedarf auch dieses Schema einer Revision. Vom Mythos zum Logos, Entzauberung der Wirklichkeit wäre nur dann der eindeutige Richtungssinn der Geschichte, wenn die entzauberte Vernunft ihrer selbst mächtig wäre und sich in absoluter Selbstsetzung realisierte. Was wir aber sehen, ist die tatsächliche Abhängigkeit der Vernunft von überlegener wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, staatlicher Macht. Die Idee einer absoluten Vernunft ist eine Illusion. Vernunft ist nur als reale geschichtliche. Das anzuerkennen kommt unser Denken hart an. So groß ist die Herrschaft, die von der antiken Metaphysik über das Selbstverständnis des sich endlich und geschichtlich wissenden Daseins des Menschen geübt wird. Wie die Griechen, indem sie das wahre Sein in der Gegenwärtigkeit und Gemeinsamkeit des Logos dachten, die Seinserfahrung des Abendlandes begründet und entschieden haben, haben wir aus der philosophischen Arbeit Martin Heideggers gelernt. Sein heißt Immersein. Was die Vernunft als wahr erkennt, soll immer wahr sein. So muß immer Vernunft sein können, die das Wahre erkennt. In Wahrheit ist die Vernunft aber, sooft sie sich als sie selbst-und das heißt der Vernünftigkeit von etwas—bewußt wird, sich nicht selbst gegenwär-
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Die Transzendenz des Schönen
Mythos und Vernunft
tig und verfügbar. Sie erfährt sich an etwas, ohne ihrer selbst darin vorgängig Herr zu sein. Ihre Selbstermöglichung ist stets bezogen auf etwas, das ihr selbst nicht zugehört, sondern widerfahrt, und insofern ist sie selber ebensosehr nur Antwort, wie jene anderen mythischen Antworten waren. Auch sie ist stets Auslegung eines Glaubens, nicht notwendig einer religiösen Überlieferung oder eines Mythenschatzes aus dichterischer Tradition. Aber alles Wissen des geschichtlichen Lebens von sich selber ist getragen von dem sich selber glaubenden Leben, dessen Vollzug es ist. Damit erhält das romantische Bewußtsein, das die Illusionen der aufgeklärten Vernunft kritisiert, auch im Positiven ein neues Recht. Es gibt zu jenem Aufklärungszug auch eine Gegenbewegung des sich selber glaubenden Lebens, eine Bewegung zum Schutz und zur Schonung des mythischen Zaubers im Bewußtsein selbst, ja die Anerkennung seiner Wahrheit. Daß im Mythos eine eigene Wahrheit vernehmlich wird, verlangt freilich die Anerkennung der Wahrheit von Erkenntnisweisen, die außerhalb der Wissenschaft liegen. Sie dürfen nicht in die Unverbindlichkeit bloßer Phantasiegestaltungen abgedrängt bleiben. Daß der Welterfahrung der Kunst eine eigene Verbindlichkeit zukommt und daß diese Verbindlichkeit der künstlerischen Wahrheit der mythischen Erfahrung gleicht, zeigt sich in ihrer strukturellen Gemeinsamkeit. Ernst Cassirer hat in seiner >Philosophie der symbolischen Formen< innerhalb der kritizistischen Philosophie einen Weg zur Anerkennung dieser außerwissenschaftlichen Formen der Wahrheit gebahnt. Die mythische Götterwelt stellt als welthafte Erscheinungen die großen geistigen und sittlichen Mächte des Lebens dar. Man braucht nur Homer zu lesen, um die überwältigende Vernünftigkeit zu erkennen, mit der die griechische Mythologie das menschliche Dasein deutet. Das überwältigte Herz sagt seine Erfahrung aus - als die Übermacht eines handelnden Gottes. Was aber ist die Poesieje anderes als eben eine solche Darstellung einer Welt, in der sich ein selber unweltliches Wahres bekundet? Auch dort, wo keine festen religiösen Traditionen mehr binden, sieht die dichterische Welterfahrung mythisch. Das heißt, das wahrhaft übermächtig Wirkliche stellt sich als lebend und handelnd dar. Man denke an die Ding-Gedichte Rilkes. Die Seligkeit der Dinge ist nichts als die Entfaltung ihres überlegenen Seinssinnes, mit dem sie ein Bewußtsein übermächtigen und erschüttern, das sich selbst im absoluten Besitz seiner selbst zu sein einbildet. Und was ist etwa die Engelgestalt bei Rilke anderes als die Sichtbarkeitjenes Unsichtbaren2, das im eigenen Herzen, im »hochaufschlagenden«, seinen Ort hat, als die Unbedingtheit des reinen Fühlens, in das es sich hingibt? Die wahre Welt der religiösen Überlieferung ist mit diesen dichterischen Gestalten der Vernunft von einer Art. Ihre
Verbindlichkeit ist die gleiche. Denn beide sind nicht beliebige Bildungen unserer Einbildungskraft, wie Phantasien oder Träume, die aufsteigen und vergehen. Sie sind zustande gebrachte Antworten, in denen sich das menschliche Dasein dauernd versteht. Das gerade ist das Vernünftige an solcher Erfahrung, daß sich in ihr ein Selbstverständnis gewinnt-und es fragt sich, ob die Vernunft je vernünftiger ist als in solchem Gewinn eines Selbstverständnisses an etwas, das sie selbst übersteigt.
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Ausfuhrlicher dazu mein Beitrag >Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien<, jetzt in Ges. Werke Bd. 9, S. 289-305.
Mythos und Logos
14. Mythos und Logos (1981)
1. Das Problem des Mythos in der Situation des Aufklärungsdenkens Worte erzählen unsere Geschichte. Daß das Wort >Mythos< über die Sprache der Gelehrten hinausgedrungen ist und seit nahezu zweihundert Jahren seinen eigenen Klang hat, vorwiegend einen positiven, ist eine überaus nachdenkenswerte Tatsache. Im Zeitalter der Wissenschaft, in dem wir leben, hat der Mythos und hat das Mythische kein wahres Heimatrecht, und doch ist es eben dieses Zeitalter der Wissenschaft, in dem das griechische Wort als gewählter Ausdruck für ein Jenseits des Wissens und der Wissenschaft in das Leben der Sprache und der Sprachen eindrang. So ist das Verhältnis von Mythos und Wissenschaft dem Wort >Mythos< geradezu eingeboren - und doch, man kann sich kaum ein spannungsvolleres Verhältnis denken und kaum eines, das eine so bedeutende Geschichte zu erzählen hat. Daß »Wissenschaft das Zeichen ist, unter dem sich das griechisch-christliche Abendland zur beherrschenden Weltzivilisation von heute entwickelt hat, schließt ja ein, daß >Wissenschaft< selber eine Geschichte durchlaufen hat und erst im Laufe dieser Geschichte »die Wissenschaft wurde. Hinter deren Autorität und Anonymität rettet sich aller Anspruch auf Wahrheit. So hat auch das Verhältnis von Mythos und Wissenschaft, von den griechischen Anfängen unserer Wissenschaftskultur an, eine vielsagende und vieles in sich bergende Geschichte. Blickt man auf die Entstehung der westlichen Zivilisation, so scheint der Trieb zur Aufklärung wie in drei Wellen über diese Geschichte hinweggegangen zu sein: die Aufklärungswelle, die in der radikalen Sophistik des späten 5. Jahrhunderts vor Christus in Athen gipfelte, die Aufklärungswelle des 18. Jahrhunderts, die in dem Rationalismus der französischen Revolutionsepoche ihren Höhepunkt fand, und, so wird man wohl sagen dürfen, die Aufklärungsbewegung unseres Jahrhunderts, die mit der »Religion des Atheismus< und ihrer institutionellen Fundierung in modernen atheistischen Staatsordnungen ihre vorläufige Spitze erreicht hat. Das Problem des Mythos ist mit diesen drei Etappen des Aufklärungsdenkens aufs engste ver-
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knüpft. Wir werden es als eine besondere Herausforderung ansehen müssen, daß gerade die letzte, radikalste Welle der Aufklärung zu Formen und Strategien menschlicher Überzeugungsbildung geführt hat, die künstlich, d. h. zu Staatszwecken und zu Zwecken der Herrschaft, eingeführt werden Und denen sozusagen zu Unrecht die Würde mythischer, und d. h. keiner weiteren Ausweisung bedürftiger Geltung übertragen wird. Um so wichtiger ist die Frage, worauf mythische Überlieferung ihren Wahrheitsanspruch zu gründen vermag. Gibt es etwas wie einen unechten Mythos - und was ist ein echter Mythos? Was heißt >Mythos
2. Begriffliche Profilierung des >Mythos< im griechischen Denken Das Wort >Mythos< ist ein griechisches Wort. Im frühen homerischen Sprachgebrauch meint es nichts als >Rede<, >Verkündung<, »Kundgaben •Bringung von Kunde<. Nichts deutet im Sprachgebrauch darauf, daß etwa solche Rede, die >Mythos< genannt wird, besonders unzuverlässig wäre und bloße Lüge oder Erfindung sei, ebensowenig aber, daß sie überhaupt mit dem Göttlichen zu tun habe. Dort, wo Mythologie — in der späteren Bedeutung des Wortes — zum ausdrücklichen Thema wird, in der >Theogonie< des Hesiod, wird der Dichter von den Musen zu seinem Werk berufen, und diese sind sich der Zweideutigkeit ihrer Gaben -wohl bewußt: »Wir wissen viel Falsches, das dem Wahren gleichsieht, zu erzählen . . . , aber auch Wahres« (Theog. 26). Das Wort >Mythos< kommt jedoch in diesem Zusammenhang überhaupt nicht vor. Es ist erst Jahrhunderte später, im Zuge der griechischen Aufklärung, daß das epische Vokabular von >Mythos< und >mythein< außer Gebrauch kommt und durch das Wortfeld von >Logos< und >legein< verdrängt wird. Eben damit aber setzt die Profilierung ein, die den Begriff des Mythos prägt und >Mythos< als eine besondere Redeweise gegen >Logos<, die erklärende, beweisende Rede, abhebt. Das Wort bezeichnet nun vor allem das, wovon man nur erzählen kann, Geschichten von Göttern und Göttersöhnen. Auch das Wort >Logos< erzählt unsere Geschichte, von Parmenides und Heraklit an. Die ursprüngliche Wortbedeutung, »aufsammeln^ »aufzählen^ weist auf den rationalen Bereich der Zahlen und Zahlverhältnisse, in dem sich der Begriff des Logos zuerst konstituiert. Das begegnet uns in der Mathematik und Musiktheorie der pythagoreischen Wissenschaft. Von diesem Sachfelde her führt sich das Wort >Logos< als Gegenbegriff zu >Mythos< ein. Im Gegensatz zu dem, was durch bloße Erzählung vermittelte Kunde meint, ist »Wissenschaft das Wissen, das auf Begründung und Beweis beruht. Mit der steigenden Sprachbewußtheit, die im späten 5. Jahrhundert das
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Mythos und Logos
neue rhetorisch-dialektische Erziehungsideal begleitet, wird damit >Mythos< fast zu einem rhetorischen Begriff für erzählende Darstellungsweise überhaupt. Erzählen ist ja nicht >beweisen<, sondern will nur überzeugen und glaubhaft sein. Meister der Rhetorik machen sich nun anheischig, je nach Wunsch ihre Sache in Gestalt eines Mythos oder in der Form des Logos darzulegen (Piatos >Protagoras<). Es zeichnet sich hinter solcher virtuosenhafter Beliebigkeit der neue Gegensatz zwischen gut gefundener oder erfundener Geschichte und der aufzählbaren, aufzeigbaren, beweisbaren Wahrheit ab. Der Mythos wird zur >Fabel< - soweit er nicht durch einen Logos seine Wahrheit erlangt. So etwa sah es für Aristoteles aus. Für ihn ist >Mythos< ein natürlicher Gegensatz zum Logos und zu dem, was wahr ist. Doch kennt auch er den rhetorisch-poetischen Gebrauch des Wortes. Herodot erscheint in seinen Augen als der Geschichtenerzähler (>Mythologikos<), und in seiner Theorie der Tragödie bezeichnet er mit dem Wort >Mythos< den erzählbaren Inhalt der Handlung. Von der Schärfe des Gegensatzes zwischen Mythos und Wissenschaft, der uns vertraut ist, kann in solchem Zusammenhang auch bei Aristoteles keine Rede sein. Die erfundenen Geschichten haben gleichfalls Wahrheit. Ja, Aristoteles hat es gültig formuliert: Sie haben mehr Wahrheit als die von wirklichem Geschehen berichtende Kunde, die die Historiker überliefern. Unter dem Wissensbegriff der Antike, demzufolge >Wissenschaft< (>Episteme<) die reine Rationalität meint und überhaupt nicht Empirie, ist das von völliger Evidenz. Was die Dichter erzählen oder erfinden, hat im Vergleich zu historischem Bericht etwas von der Wahrheit des Allgemeinen. Der Vorrang des rationalen Denkens gegenüber der poetisch-mythischen Wahrheit wird dadurch keineswegs eingeschränkt. Wir sollten uns nur hüten, Mythen in unserem Sinne >erfundene Geschichten* zu nennen. Sie sind >gefunden< - oder besser: innerhalb des schon längst und von alters her Bekannten findet der Dichter Neues, das das Alte erneuert. Der Mythos ist in jedem Fall das Bekannte, die Kunde, die verbreitet ist, ohne irgendeiner Herkunftsbestimmung und Beglaubigung zu bedürfen.
eigenen Ausweisungsmöglichkeiten hinaus in den Bereich, in den nur Erzählen hineinreicht. So tritt in Piatos Dialogen an die Seite des Logos und oft als seine Krönung der Mythos. Piatos Mythen sind Erzählungen, die zwar nicht volle Wahrheit in Anspruch nehmen, aber eine Art Umspielung der Wahrheit darstellen und den wahrheitssuchenden Gedanken ins Jenseitige hinein erweitern. Es mag für den heutigen Leser erstaunlich sein, wie sich hier frühzeitliche Überlieferung mit der zugespitzten Schärfe begrifflicher Reflexion durchmischt und wie sich ein Gebilde aus Scherz und Ernst vor uris aufbaut, das sich nicht nur ohne Bruch, sondern sogar mit einer Art von religiösem Anspruch über das Ganze des wahrheitssuchenden Denkens breitet. Für den griechischen Leser war es gewiß nicht so einzigartig und verblüffend, wie es für das moderne, durch das Christentum hindurchgegangene Denken erscheinen mag. Vollzog sich doch die gesamte religiöse Überlieferung der Griechen in einer nie abreißenden Kette solcher Versuche, das eigene Erfahrungspotential und die eigene denkende Einsicht mit der in Kult und Sage fortlebenden Kunde in Übereinkunft zu setzen. Aufgabe des epischen Sängers war es offenbar, wie die des tragischen Dichters, ja selbst des Komödiendichters, dies Ineinander von religiöser Überlieferung und eigenem Denken immer neu zu gestalten. Selbst Aristoteles sieht in der >mythischen< Überlieferung über die Götter eine Art Kunde verschollener Erkenntnisse, in denen er seine Metaphysik des ersten Bewegers wiedererkennt (Met. Λ8, 1074b i).So ist es geboten, sich zu fragen, was eigentlich mythische Überlieferung zu solcher Rationalisierung fähig macht, und umgekehrt, warum im Zeichen der Offenbarungsreligionen das Verhältnis von Glauben und Wissen antagonistische Züge annimmt. Die Frage ist allgemein zu stellen und nach beiden Seiten zu entwickeln. Denn wenn auch der Weg zur Rationalisierung des mythischen Weltbildes allein von den Griechen bis zur Wissenschaft durchschritten worden ist—die sich >Philosophie< nannte - , mythische Überlieferung enthält in sich selbst überall ein Moment denkender Aneignung und vollzieht sich in deutender Weitersage der Sage.
Das Verhältnis von Mythos und Logos begegnet uns im griechischen Denken eben nicht nur in der Schärfe des Aufklärungsgegensatzes, sondern gerade auch in der Anerkennung eines Zueinander und einer Entsprechung, die zwischen dem rechenschaftsgebenden Denken und dem fraglos überlieferten Sagengut fortbesteht. Das zeigt sich insbesondere an der eigentümlichen Wendung, mit der Plato das rationale Erbe seines Meisters Sokrates mit der mythischen Überlieferung der Volksreligion zu verbinden wußte. Indem er gleichzeitig den Wahrheitsanspruch der Dichter zurückwies, nahm er dennoch auf dem Boden seiner eigenen rationalen und begrifflichen Einsicht die Erzählform des Geschehens auf, die dem Mythos eigen ist. Die rationale Argumentation verlängerte sich gleichsam über die Grenzen ihrer
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15. Mythologie und Offenbarungsreligion (1981)
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alte Problem der biblischen Theologie. Auf der einen Seite drängt sich alles in die eine große Botschaft von der Auferstehung vom Tode zusammen, und selbst das Alte Testament mit seinem eigenständigen Messianismus ordnet sich für den Christen dieser Botschaft ein. Auf der anderen Seite aber ist es doch ein buntes Erzählgut, in dem sich das Heilsgeschehen des Alten wie des Neuen Testaments in reicher Variation vor uns ausbreitet. Es ist nicht leicht, die Beziehungen zwischen Heilslehre, Heilsgeschichte und all den erzählten Geschichten richtig zu bestimmen. Das Thema der Mythologie und seine Anwendbarkeit auf das Neue Testament sollte das zentrale Problem der neuzeitlichen Theologie werden.
1. Mythische Kunde und schriftlichfixierteHeilsgeschichte Man hört es dem Wort >Mythos< förmlich an - und die Wiederaufnahme des Wortes im 18. Jahrhundert ging davon aus - , daß das eigentliche Leben des Mythos sich als Sage und Weitersage vollzieht und mit kanonischer Schriftlichkeit im Wesen unverträglich ist. Daß in Griechenland die Dichter, die des Epos wie die der Tragödie, ihre >Texte< schriftlich fixiert hatten, bedeutete überhaupt nicht, daß die mythische Kunde, die sie, ein jeder mit neuen Erfindungen bereichernd, zu Gehör brachten, dadurch kanonische Geltung beanspruchte oder gewann. So stellt schon die Auszeichung der heiligen Schriften im Judentum wie im Christentum eine Absage an alle Mythologie dar. Es ist gewiß kein Zufall, daß diese Offenbarungsreligionen Religionen des Buches sind. Es ist etwas von der Geltung eines Gesetzes in dem Absolutheitsanspruch solcher religiösen Offenbarungen - ein Moment, das im Islam wohl zu seinem Extrem entwickelt worden ist und die Kulturform des Islam auf eigene Weise geprägt hat. Für die jüdische Gemeinde wie für die christliche Kirche gilt das erste Gebot: »Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. « AU das, was ringsum in mythischen Erzählungen lebt und in kultischen Bräuchen verehrt wird, gilt als Götzendienst und als wider Gott. Wie der Alte Bund eine Auszeichnung des auserwählten Volkes darstellt, die alle anderen Völker ausschließt, so erhebt der Neue Bund den missionarischen Anspruch, die einmalige Heilsgeschichte des Gekreuzigten und Auferstandenen allen Völkern zu verkünden und damit alle diejenigen auszuschließen, die >Heiden< bleiben. Es ist die Botschaft des Evangeliums, die frohe Botschaft von der Überwindung des Todes durch das stellvertretende Leiden und Sterben Jesu, die den Glauben fordert, daß er der Auferstandene und Gott selbst ist, und dieser Glaube ist selbst die wahre Gnadentat Gottes. Und doch enthalten die heiligen Bücher der beiden Testamente Geschichtserzählungen. Man muß sich fragen, was diese Erzählungen sein wollen, wie sie Erzählungen sind und zugleich als Offenbarungen - des Schöpfergottes und der Erlösung durch Christus - gelten können. Es ist das
2. Logik und Wahrheit mythischer Erzählformen Um die Sachgründe dafür klar zu erkennen, wird es gut sein, auf die elementaren Erfahrungen zu blicken, die mit dem Erzählen als solchem verbunden sind. Die Form der Erzählung, die dem Mythos eigen ist, hat ihre eigene Logik. Gewiß spielt auch der Name und das Nennen dabei eine eigentümliche Rolle. Etwas von Anrufung und rätselhafter Präsenz ist in das Geheimnis mythischer Namen eingesenkt, und so war es kein bloßer Irrtum, wenn moderne kritische Historiker wie Usener den Zugang zum Geheimnis der Mythologie von den Götternamen her suchten. Nun hat der Name seine eigentliche Funktion dort, wo er als Ruf und Anrede erscheint. So sind die Namen des Göttlichen nur dann ganz das, was sie sind, wenn einer das Göttliche anruft. Aber wo die Namen von Göttern und Heroen in Hymnen und Liedern oder im epischen Gesang begegnen, ist es wie ein Anruf. Es wird von ihnen erzählt, und das, wovon so erzählt wird, gewinnt eine besondere Art von Gegenwart. Nennen ist wie ein Hindeuten auf Erzählbares. Der wörtlichen Bedeutung nach ist Erzählen Aufzählen, so als ob man durch Aufzählen das Ganze erfassen könnte. So sagen wir etwa zu jemandem, der etwas erlebt hat, er möge es einmal genau erzählen, und das heißt, daß er alles erzählt, was er erlebt hat. Aber mit diesem Anspruch ist zugleich auch der Abstand gesetzt. Zwischen dem, was geschah, und dem, was in der Erzählung vermittelt wird, bleibt ein unüberbrückbarer Abstand. Das ist nicht nur etwas Negatives. Erzählung ist immer Erzählung von etwas. Das ist nicht nur ein objektiver, sondern auch ein partitiver Genitiv. In allem Erzählen liegt, daß auch noch anderes davon erzählt werden könnte. Wir bezeichnen den als einen guten Erzähler, der immer noch etwas zu erzählen weiß und sein Garn sozusagen endlos fortspinnen könnte. Es ist eine ganze Welt, in die der Erzähler den mitgerissenen Zuhörer hineinführt. An dieser Welt nimmt der teilnehmende Zuhörer offenkundig teil wie an einer Art von
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Gegenwart des Geschehens selbst. Er sieht alles förmlich vor sich. - Bekanntlich ist ja auch das Erzählen selber ein eigentümlicher Wechselvorgang. Niemand kann erzählen, wenn er nicht den dankbaren Zuhörer hat, der ganz mitgeht. Erzählen ist niemals ein sacherschöpfender Bericht, der wie ein Protokoll aktenkundig« wird. Freiheit der Auswahl liegt darin und Freiheit in der Wahl der bezeichnenden und bedeutenden Gesichtspunkte. Das gerade macht die Erzählung zu einer Art anonymer Zeugenschaft. Noch im modernen Roman tritt der namenlose Erzähler gleichsam an die Stelle des Geschehens selbst, von dem er Kunde gibt. So gehört es zum Wesen der Erzählung, daß es von ihr Varianten gibt. Wenn wir von der wuchernden Fabulierlust früher epischer Sangesweisen und Sangeskulturen sprechen, so meinen wir dabei weniger die Unverbindlichkeit der dichterischen Erfindung als die dichte Gegenwart dessen, wovon erzählt wird und wovon alle hören wollen.Das öffnet gleichsam einen Freiheitsraum, der im Erzählen selber geschaffen wird und zu Erfindung und Ausschmückung einlädt. Es ist keine Schwächung der Präsenz des Erzählten, daß es solche Möglichkeiten verschiedenartigen Erzählens von demselben gibt. Denn immer steht dahinter die Voraussetzung, daß die Fülle dessen, wovon erzählt werden soll und was geschehen ist, unausschöpfbar ist. Insofern ist es mit dem Wesen des Erzählens verknüpft, daß eine Erzählung kein dokumentarischer Report sein will. Die Musen wissen um ihre eigene Zweideutigkeit, wie uns das Hesiodproömium lehrt. Die Freiheit, die das Erzählen erlaubt (und die später dichterische Freiheit« heißt), ist keine bloße Beliebigkeit. Der Erzähler setzt voraus, daß der andere davon hören will. Derselbe hat sozusagen von vornherein seine Bereitschaft und Offenheit für die Kunde erklärt. Er wird gefesselt sein, wenn man zu erzählen weiß. Damit scheinen sich die Dinge gerade umzukehren. Man ist bereit, dem zuzuhören, der etwas zu erzählen weiß. Warum fesselt er einen?
In beiden Formen des Erzählens steht der andere, dem man erzählt, beständig im Blick, und das Interesse, das die Erzählung weckt, inspiriert den Erzähler selbst. Nicht nur Dickens suchte, wenn er seine Fortsetzungsromane schrieb, etwas über die Erwartungen zu erfahren, die er in seinen Lesern geweckt hatte, wenn er die Erzählung weiterzuführen hatte. Solche moderne literarische Produktionsweise macht vielmehr nur deutlich, wie wichtig das ursprüngliche Wechselspiel zwischen Erzähler und Zuhörer in allem Erzählen ist. Das Interesse des mitgehenden Zuhörers bindet den Erzähler und läßt ihn sich mitteilen und den anderen teilnehmen. Er antwortet auf den Wissensdurst oder die Neugier des anderen, dessen Weltlust, Daseinslust, Erfahrungslust er befriedigt. Sofern es sich nun um mythische Erzählungen handelt, um Sage und um Vorzeit, ist offenbar noch ein anderes Interesse am Erzählten im Spiele, nicht nur die Erweiterung der eigenen Weltkenntnis, sondern ein über alles Erfahrbare hinausgehendes »transzendentales« Interesse. Zwar ist das Erzählte immer als ein Geschehenes behandelt und ist insofern ein Vergangenes. Aber zugleich ist der Bezug auf die Gegenwart und den Hörer der mythischen Kunde konstitutiv. In allen Götter- und Heldengeschichten ist das so. Selbst in Hesiods >Theogonie<, in der die grausige Vorgeschichte der olympischen Zeusherrschaft in wuchernder epischer Fabulierlust erzählt wird, reicht ein >Erzählgedanke< bestimmend in die eigene Gegenwart hinein: Es ist mit der Herrschaft des Zeus die des Rechtes und der Ordnung, in die diese Vorgeschichte von Blut und Grauen mündet. Ebenso sind die sogenannten kosmologischen Mythen von solchem Bezug bestimmt. Wenn die Erzählungen in die Urfernen des Beginns und des Anfangs der Welt zurückreichen, meinen sie doch auf unverkennbare Weise den Bestand dieser unserer Welt und meinen uns selbst in dieser Welt. Die Kosmogonie ist mit der Kosmologie, das heißt mit der Einsicht in das geordnete und bestandhafte Gleichgewicht des Ganzen, unlösbar verknüpft. Es handelt sich keineswegs um eine Alternative zwischen kosmogonischer oder kosmologischer Weltdeutung. Geschichte mündet in Gegenwart. Auch die mythische Urgeschichte einer Stadt, eines Geschlechtes oder eines Heros mündet, ob Fluch, ob Segen, in die gemeinsame Ordnung kultischer Verehrung, in der sich alle vereint wissen. Der Übergang von mythischer Urgeschichte in die ihren geschichtlichen Horizont mit sich führende Gegenwart ist bruchlos. Es macht die Dichte des Bewußtseins von Herkunft und Abstammung aus, daß Götter und Göttersöhne das dynastische und politische Bewußtsein geschichtlicher Zeiten bestimmen.
Gewiß ist dabei ein Moment im Spiele, das. wir das Erzeugen von Spannung nennen. Der Erzähler ist gleichsam im Besitz der ganzen Geschichte, die er erzählen will, und läßt das fühlen. Er weckt Erwartungen und erfüllt sie, indem er neue Erwartungen weckt. Die Folge der Erzählung ist durch die Geschichte, die der Erzähler sozusagen weiß, vorgezeichnet und bleibt doch frei - sogar für immer neu Zuströmendes. Vorgriffe erregen Spannung, Rückgriffe suggerieren Vertrautheit und Einverständnis mit dem Erzählten, und alle Obergänge sind sanft, ohne den Zwang logischer Folgerung. All das gilt von allem einfachen Erzählen. Wer dasselbe gut, gekonnt, meisterhaft vermag, ist sozusagen schon auf dem Wege zur schriftlichen Fixierung seiner Erzählungen. Die literarische Kunst des Erzählens baut die Mittel des einfachen Erzählens nur aus und paßt sie dem literarischen Zuhörer bzw. dem Leser an.
Es gilt allgemein, vor der Bedeutsamkeit des Erzählten verstummt die Frage nach Authentizität und Verläßlichkeit des Berichtes. Das, wovon erzählt wird, gewinnt im Erzählen eine Art Anerkennung, die über alles hinausgeht, was im einzelnen davon berichtet werden mag. Darin liegt der
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Grund, daß auch die Verschiedenheit der Erzähler und die Variationen des von ihnen Erzählten dieselbe nicht schwächen. Ja, sie bedeuten weit eher eine Bekundung und Beurkundung von eigenem Wirklichkeitswert, als daß sie, wie ein Bericht, sich an dem auszuweisen hätten, was wirklich geschehen oder gewesen ist. So stehen verschiedene Fassungen einer Sage nebeneinander und mögen gerade dadurch zu neuer dichterischer Gestaltung einladen - ihre Glaubwürdigkeit steht als solche nicht in Frage. Was sich von dem Geltungsrang mythologischer Erzählung im allgemeinen sagen läßt, gilt ebenso für die Ausgestaltung solcher Sagen der Völker zu kunstvoller Epik, wie etwa der Homerischen. Es geht da nicht um Glaube, sondern um die Wiedererkennung und gedenkende Vergegenwärtigung einer überwältigenden Gewißheit.
scher Kritik untersteht. Das gilt auch für die Überlieferung des Alten Testaments, da sie für den Christen im Lichte der Erfüllung der Verheißung ihren Wahrheitswert erst gewinnt. Umgekehrt darf aber auch die Einzigartigkeit der Offenbarungsverkündigung nicht aus dem besonderen Verständniszusammenhang herausgerissen werden, der in der allgemeinen Möglichkeit des Menschen liegt, sich über sich selbst und das Unheimliche seiner Todverfallenheit klar zu werden. Darauf beruht das Paradox des Glaubens. Es ist in Wahrheit erst mit der Herausforderung in die Welt getreten, die mit dem Gedanken der Inkarnation und der Auferstehung von den Toten verbunden ist. Es hat keinen Sinn, vom Glauben an einen Mythos oder an mythische Geschichten zu reden, weil vom Glauben her gesehen mythische Erzählungen jenseits der Frage liegen, ob etwas wirklich geschehen ist oder nicht. Eher schon hat es Sinn, den Begriff des Glaubens mit dem jüdischen Alten Testament zu verbinden. Abrahams >Gehorsam< gegenüber Gott erscheint in der Septuaginta als >Pistis< und rückt damit in die Nähe des neutestamentlichen Glaubensbegriffs. Aber erst die christliche Botschaft hat das unentwirrbare Gemisch von Freiheit und Bindung, von Wahrheit und Erfindung, das alles Erzählen auszeichnet, zu der Verbindlichkeit einer Verkündigung gesteigert, deren Annahme Sache des Glaubens und der Gnade ist. Diese Einzigartigkeit, die mit dem Glaubensanspruch der christlichen Offenbarung verknüpft ist, setzt den Mythos der Wahrheitsfrage aus und nimmt ihm die Erfüllung seines Wahrheitsanspruchs. Alles, was nicht im geschichtlichen Zusammenhang der Heilsgeschichte seinen Platz hat, verliert vom Glauben her gesehen die Verbindlichkeit, und die mythologische Vermittlung wird zur heidnischen Verirrung. Das hat für ein Jahrtausend christlicher Kirche gegolten.
3. Verbindlicher Glaubensanspruch der biblischen Offenbarung Nun begegnet aber die Heilige Schrift nicht als eine beliebige Sammlung von Sagen, die eine mythische Überlieferung weiterreichen, oder als ein kunstvolles Epos, sondern als die Schrift, die »geschrieben steht«. Als solche gehört sie zum Gottesdienst, d. h., sie ist selber ein Teil der Kultwirklichkeit, die die gesamte Tradition unserer Kultur geprägt hat. Es ist sozusagen ein unvollziehbar abstrakter Gedanke, sich als ein in einer religiösen Tradition Erzogener, sei es als Jude oder als Christ, zu der Schrift so verhalten zu sollen, wie etwa ein in griechischer oder römischer Kultwirklichkeit Stehender sich zu der in Dichtung oder Theater überlieferten eigenen Mythologie verhalten mochte. Die Heilige Schrift ist ihrem Anspruch nach mehr als die bloße Überlieferung einer mythischen Kunde. Das, wovon sie erzählt, will Gottes Wort sein, und die Erzähler und die Hörer sind nicht Erfinder oder Zuhörer von Gesängen, sondern sind selber die Kirche-Christi. -Es entspricht dem, daß die Gründungsakten der christlichen Kirche, die Paulinischen Briefe, die wahrhaft historische Dokumente sind, selber einen Bestandteil der Heiligen Schrift bilden. Insofern liegt es in der Natur der Sache, daß die moderne historischkritische Forschung in der Anwendung auf die biblischen Texte eine eigentümliche Zweideutigkeit behält. Als Erforschung einer literarischen Überlieferung und ihrer historischen Wahrheit ist sie aller anderen Forschung gleichgestellt, aber der eigentliche Inhalt der christlichen Botschaft bleibt von kritischer Forschung unerreichbar. Das Paradox des Glaubens gewinnt geradezu an Schärfe, je klarer das >Mythische< der Heilsgeschichte ins Licht der historischen Kritik tritt. Die Wahrheit der mythischen Überlieferungen kann also nicht mit der bloßen Beliebigkeit geschichtlicher Kunde gleichgesetzt werden, die histori-
Damit bereitete sich aber zugleich die einzigartige Radikalität der modernen Aufklärung vor, die sich scharf von der griechischen Aufklärungsbewegung unterscheidet. Als das Christentum selber in das Feuer der Vernunftkritik geriet, mußte der Anspruch der Religion überhaupt zum Gegenstand der Kritik werden. So kennt erst die Neuzeit den radikalen Atheismus, der sich auf >die Wissenschaft gründet und eine vollendete Diesseitigkeit vertritt. Dazu kam, daß das Zeitalter des Rationalismus dem narrativen Element nicht gerecht werden konnte, das zur christlichen Verkündigung, der Kunde von einem einmaligen Geschehen, unaufhebbar gehört. Nun hat die Radikalität der neuen Vernunftreligion, die in der Französischen Revolution formell auf den Thron erhoben wurde, eine Gegenwirkung ausgelöst, die die Grenzen der modernen Aufklärung ins Bewußtsein rief. Es fiel nicht nur auf die Heilswahrheit des Christentums, sondern in einem universalen Sinne auf die mythische Überlieferung aller Völker ein neues Licht. Das Verhältnis von Mythos und Wissenschaft trat in ein neues Stadium.
Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft
16. Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft (1981)
1. Wiederentdeckung der Mythologie durch die historische Denkweise Die Geschichte der Wiedererweckung des religiösen Geltungsanspruchs des Mythos ist wohlbekannt. Nach der Vorläuferschaft eines Vico und eines Herder hat vor allem die romantische Bewegung ihre Kritik am Rationalismus der Aufklärung und ihrer »tristen atheistischen Halbnacht« (Goethe) in die Anerkennung der religiösen Bedeutung der Mythen umgewendet. Zugleich gewann die mythische Leuchtkraft, die in der heiligen Geschichte des Christentums steckte, neuen Glanz. Man spürt einen neuen Sinn für das Mythische in den dichterischen Schöpfungen des Zeitalters, sei es bei Novalis und vielen seiner Freunde und Folger im Lobpreis des christlichen Weltalters, sei es in der Entdeckung Dantes, sei es bei Hölderlin in der dichterischen Erweckung der griechischen Götterwelt, zu der >der Einzige< versöhnend hinzutritt1. Gewiß hatte im Bereich der Dichtung wie in dem der bildenden Kunst die heidnische Mythologie schon längst neben den biblischen Stoffen ihr Daseinsrecht gewonnen. So war die selbstverständliche Wirkungseinheit des christlichen Humanismus zustandegekommen. Das allegorische Konzept gestattete ja, die heidnische Götterlehre und Heldensage der christlichen Kultur einzuverleiben, ohne die fraglose Überlegenheit der christlichen Weltsicht anzutasten. Aber jetzt, im neuen Selbstbewußtsein des Vernunftzeitalters, war in der berühmten >querelle des anciens et des modernes< über diese Selbstverständlichkeit und Fraglosigkeit eine neue Problematik gekommen. Die >querelle< hatte es mit dem humanistischen Vorbildgedanken aufzunehmen, der jetzt nicht mehr allein mit dem Christentum einen Ausgleich finden mußte, sondern mit dem Fortschrittsstolz der Aufklärung in Konflikt geriet - eine literarische Fehde, gewiß. Aber was sich in der Lösung des literarischen Konfliktes herausbildete, war etwas fundamental Neues: das Aufkeimen einer historischen Denkweise. Das konnte nicht ohne Folgen für die religiöse Aufwertung der heidnischen Mythologie sein. 1
Siehe dazu die ersten beiden meiner Hölderlin-Studien in Ges. Werke Bd. 9, Hölderlin und die Antike* und >Hölderlin und das Zukünftige«.
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In die gleiche Richtung wirkte auch Humes skeptische Kritik an der Metaphysik und die geschichtliche Erfahrungsperspektive, die er seiner )Natural History of Religion< (1755) zugrunde legte. Die neuzeitliche Metaphysik hatte in ihren Systemkonstruktionen zwischen der traditionellen Metaphysik der Kirchenlehre und dem modernen Wissenschaftsgedanken zu vermitteln gesucht. Jetzt, auf der Spitze der Aufklärung, verschmolz der Erfahrungsstandpunkt der Wissenschaft mit dem langsam erwachenden Geschichtsdenken. Nach dem einsamen Vorgang von Vico war es vor allem die klassische Altertumswissenschaft, die das mythische Weltbild der Antike in seinem eigenen Sinn entdeckte. Das geschah gewiß nicht, ohne alles immer in bezug auf die christliche Offenbarung zu sehen. So kam es, daß der englische Präromantiker Lowth das Alte Testament >heilige Poesie< nannte und es als die'Krone und höchste Vollendung dichterischer Mythologie pries. «Das hat auf Deutschland, und vor allem auf Göttingen, großen Einfluß geübt. Wir verdanken einer theologisch motivierten Arbeit2 die Erkenntnis, daß die Wiedergeburt des Mythos in Deutschland vor allem dem Göttinger Philologen Heyne verdankt wird. Er tat den entscheidenden Schritt, nicht länger vol* mythischer Poesie zu sprechen, sondern im Mythos echte religiöse Erfahrung zu erkennen. Zu den Füßen von Heyne saßen damals in Göttingen die beiden Schlegel, Friedrich Creuzer, Friedrich August Wolf, Johann Heinrich Voß, Wilhelm von Humboldt. Herder nannte er seinen »teuren Freund« (wenn Herder auch mehr ein enthusiastischer Verkünder als ein originärer Entdecker der mythischen Erfahrungswelt gewesen sein mag). Tatsächlich müssen wir in Heyne nicht nur den Vermittler der englischen Vorromantik an die deutsche Wissenschaft sehen, sondern in ihm· den großen Lehrer mythengeschichtlichen Denkens anerkennen, der das Wort >Mythos< zu neuen Ehren brachte. Er gründete eine ganze >mythische Schule<, und die Wirkung dieser Göttinger Altertumswissenschaft reicht weit über die Bibelwissenschaft hinaus. Der Sermo mythicus, den die >mythische Schule< zu erforschen suchte, ist nicht mehr ästhetisch-literarisch gemeint. Darin geht die >mythische Schule< weit über die englische Frühromantik eines Lowth hinaus. Sie sieht in der mythischen Rede die Sprache der Kindheit des Menschengeschlechts, die aller dichterischen und vor allem aller schriftlichen Redeweise noch vorausliegt. Hier zuerst finden die großartigen Visionen eines Vico in der Wissenschaft ihre Aufnahme. Heyne hat damit für lange Zeit die Leitlinie für den wissenschaftlichen Zugang zu den Mythen festgelegt. Der Mythos liegt aller direkten Überlieferung voraus. Mit der anthropologischen Fundierung in der Kindheit des Menschenge2
CHMSTIAN HARTLICH / WATTER SACHS, Der Ursprung des Mythosbegriffes in der
modernen Bibelwissenschaft. Tübingen 1952.
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Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft
schlechtes wird die mythische Rede in ihr geschichtliches Recht eingesetzt und behauptet fortan gegenüber der philosophischen und der dichterischen Rede ihren eigenen Rang.
der spekulativen Versöhnung von Vorstellung und Begriff, von Religion und Philosophie, wie im System Hegels. Hegels Lösung war die des christlichen Spiritualismus. Er deutete das Heilsgeschehen der Menschwerdung Gottes, des Kreuzestodes und der Auferstehung von der Struktur des >Geistes< her, der ständig aus der Entäußerung und dem Anderssein zu sich selbst zurückkehrt. Damit hebt sich nicht nur alles mythische Geschehen, sondern auch die Einmaligkeit der Gnadentat Gottes in der begriffenen Notwendigkeit des Gedankens und des Geistes auf. - Schellings eigener Anspruch ging nicht ganz so weit. Doch sah auch er in einer Art Religion der Zukunft, die eine philosophische Religion wäre, die Vollendung der Gotteserfahrung. Im Unterschied zu Hegel war seine >Philosophie der Mythologie und der Offenbarung< jedoch eine »positive« Philosophie. Das heißt, er sah in beidem nicht die Notwendigkeit des Begriffs, sondern die geschichtliche Freiheit am Werk. Die Entwicklung des Polytheismus so gut wie seine Überwindung in der christlichen Offenbarung sind für ihn Stadien eines Prozesses. »Die Vorstellungen, durch deren Aufeinanderfolge unmittelbar der [. . .] Polytheismus entsteht, erzeugen sich dem Bewußtseyn ohne sein Zuthun, ja gegen seinen Willen. «3 Die Pointe dieser Philosophie der Mythologie liegt darin, daß im Mythos keinerlei Erfindung mehr wirksam ist. Die philosophische Einsicht, die Schelling vertritt, befreit den Mythos von der »poetischen Ansicht« und gibt ihm seine volle religiöse Geltung zurück. Jede Unterscheidung von Inhalt und Form, Stoff und Einkleidung, Lehre und Geschichte verkennt die Wirklichkeit des theogonischen Prozesses, »der sich herschreibt von einem wesentlichen Verhältniß des menschlichen Bewußtseyns zu Gott« 4 .
2. Schwierigkeiten einer historischen Rekonstruktion des Mythos Freilich stellt solches mythisches Urwissen der historischen Forschung besondere Schwierigkeiten entgegen. Es gilt hier eine Überlieferung zu rekonstruieren, die überhaupt nicht direkt zugänglich ist und die immer schon, soweit wir überhaupt von ihr wissen, durch philosophische und dichterische Einflüsse hindurchgegangen ist. Der Mythos ist seinem eigensten Wesen nach niemals in ursprünglicher Reinheit greifbar. Damit waren dem Denken neue Aufgaben gestellt. Sie mußten sich auf den verschiedensten Wegen moderner Wissenschaftlichkeit verschieden darstellen: fur den Philosophen anders als für den Theologen und ebenso für die moderne Altertumsforschung. Die Philosophie hatte ihren Anspruch auf die Macht der Vernunft und das Vorrecht des Begriffs zu verteidigen und konnte im mythischen Bewußtsein nur eine unentwickelte Form von Wahrheit anerkennen. Damit geriet sie zugleich in Wettbewerb mit der christlichen Theologie, die ihrerseits auf dem Absolutheitsanspruch der christlichen Offenbarung bestehen und die religiöse Wahrheit des Mythischen, wenn sie die schon anerkennen sollte, in sich aufheben mußte. Und schließlich hatte die historisch-kritische Forschung, im Wettbewerb mit der vergleichenden Religionswissenschaft, Wege zu suchen, wie man historische Methoden auf ein Material anwenden konnte, das als originaler Inhalt der mythischen Erfahrung zwar den Gegenstand bildete und doch nur in literarischer Form, und das heißt in dichterischer Gestaltung und Deutung, überliefert war. So wenigstens mußte sich die Sache fur ein wissenschaftliches Bewußtsein darstellen, das keine anderen >Tatsachen< kannte als auf der einen Seite die Glaubenstatsachen der Heilsgeschichte, auf der anderen Seite den Tatsachenbegriff der modernen Wissenschaft.
3. Mythos und Philosophie Daß das teleologische Schema der älteren Heilsgeschichte auch im Zeichen der angestrebten Synthese von Religion und Philosophie, die die letzte Figur der neuzeitlichen Metaphysik bilden sollte, gültig blieb, war selbstverständlich. Die spekulativen Philosophen mußten den Mythos dem Begriff unterordnen, sei es, daß sie in ihm eine sinnliche Vorstufe der christlichen Offenbarung anerkannten, wie Schelling, oder gar eine sinnliche Vorstufe
Das ist das Erbe der Romantik, daß seither Wort und Begriff des Mythos mit neuer Bedeutung aufgeladen sind. Das Mythische stellt einen neuen Wertbegriff dar. Josef Görres' >Mythengeschichte der alten Welt< und Creuzers >Symbolik< waren die ersten gelehrten Früchte des romantischen Denkens, die freilich bald der Kritik weiterer historischer Forschung verfallen sollten. Doch hat sich die romantische Aufwertung des Mythischen auch im semantischen Bereich ausgewirkt. Neben >der Mythos< wurde vor allem von Dichtern—bis hin zu Uhland—der Ausdruck >die Mythe< gebraucht, der wohl auf das lateinisch-französische >fabula< zurückgeht (vgl. >Fabelwesen<). Der Ruf nach einer neuen Mythologie, einer Volksreligion, war allgemein. Die Generation der Schelling, Hegel und Hölderlin teilte ihn von Grund auf, und es war offenkundig, daß für diesen Ruf und für dieses Verlangen die antike Welt ein Vorbild war. Aber nicht nur die klassische Antike, auch 3
Einleitung in die Philosophie der Mythologie (Sämmdiche Werke, hrsg. von K. F. A.
SCHELUNG. Bd. XI). Stuttgart und Augsburg 1856, S. 193.
* A.a.O., S. 198.
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andere - orientalische, islamische, indische - Überlieferung wies in die gleiche Richtung. Freilich mußte eine neue ästhetische Mythologie, die zugleich eine Mythologie der Vernunft sein würde und die geistige und die sinnliche Seite der Religion harmonisch zu vereinigen vermöchte, ein bloßes Programm bleiben. Das sogenannte >Systemprogramm<, das dieses Ideal formulierte und das gewiß eine flüchtige Privatarbeit war — wer immer der Verfasser sein mag -, hatte jedoch ein richtiges Bedürfnis der Zeit ausgedrückt. Der Mythos des Sozialismus (Saint-Simon), der Mythos der Gewalt (Sorel) und andere politische Ideologien, die sich in religiösen Nimbus hüllten, sind eine Bestätigung dafür. Aber etwa auch alle jene Erweckungen und Umprägungen der germanischen Mythologie durch die Kunst und ihre Anwälte, Richard Wagner wie Nietzsche, stellen weithin wirkende Repräsentanten solcher alt-neuen Mythologie dar. Mit dem Namen Nietzsche ist das Stichwort gefallen, unter dem das Thema >Mythos und Wissenschaft eine völlig neue Dimension gewann. Der Gebrauch des Wortes und der Begriffsklang, den es trägt, ist seither wie von zwei entgegengesetzten Polen bestimmt. Sie prägen sich in zwei verschiedenen Ableitungen vom Wort >Mythos< aus. Das Wort >mythologisch< hat vorwiegend eine negative Bedeutung. Was >mythologisch< heißt, kann nach ihm fur den Theologen gegenüber dem Wahrheitsanspruch des Evangeliums keine Geltung beanspruchen und für den Historiker erst recht nicht gegenüber dem Tatsachen- und Wirklichkeitsbegriff, den die moderne Wissenschaft zugrunde legt. >Mythisch< dagegen hat einen ganz anderen Klang. Es erweckt nicht nur die Anschauung vorweltlicher Größe, wie sie in keiner Erfahrung der Gegenwart begegnet, eines Jenseits der Erfahrung, das innerhalb der wirklichen Welt geschehen ist und doch alle Erfahrung hinter sich läßt, zum Beispiel große Taten, Siege, Untergänge, die in aller Munde sind und auf diese Weise fortleben. >Mythisch< heißt in einem noch weit umfassenderen Sinne all das, was dem Leben einer Kultur seine eigentliche Sub^ stanz bewahrt. Nietzsche weiß mehr von dem Nachteil als von dem Nutzen der Historie für das Leben zu sagen.
den, solche >Umdrehungen< auf chemische Einwirkungen reduzieren zu können. Die >Dialektik der Aufklärung< trifft die wahre Sachlage.
Solches Bekenntnis zum Mythos ist auf eine fatale Weise zweideutig, wenn es sich, wie bei Nietzsche, mit der Preisung des neuen Mythos verbindet, den Richard Wagner für ihn darstellt und der in Nietzsches Vision die tragische Kunst der Griechen in unserem Jahrhundert erneuern sollte. Das Fatale der Zweideutigkeit, die damit in den Begriff des Mythischen kommt, liegt darin, daß - wie eben im Falle des Theatergenies Richard Wagner - bewußt auf die Geburt eines neuen Mythos abgezielt wird. Damit büßt der Mythos die Unvordenklichkeit seiner Frühe und seiner Geltung ein. Das wird deutlich, wenn wir an die Führerkulte totalitärer Staaten denken und - unheimlicher noch - an die Rätsel der Gehirnwasche. Nur ein wissenschafts-abergläubisches Bewußtsein konnte sich eine Weile einbil-
4. Wissenschaftliche Erforschung des Mythos Am Ende ist das Thema >Mythos und Wissenschaft in die Frage umgeschlagen, in welchem Sinne es eine Wissenschaft vom Mythos geben kann. Der gemeinsame Hintergrund aller Spielarten historischen Zugangs zum Wesen des Mythos ist dabei die Psychologie. Es ist eine Tatsache des Bewußtseins, eben die der mythenschaffenden Einbildungskraft, die als ein Resultat der modernen Aufklärung aller Erforschung des Mythischen zugrunde liegt. Insofern kann als ein gemeinsamer Zug in der Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts festgehalten werden, daß es eine Frage der Wahrheit des Mythos nicht mehr gibt und daß daher auch eine Erklärung des mythischen Bewußtseins im Sinne einer rationalen Mythenerklärung keine Geltung beansprucht. Aufs Große gesehen darf man die Erforschung des Mythos im 19. Jahrhundert in zwei wesentliche Strömungen einteilen. Auf der einen Seite steht die vergleichende Religionswissenschaft. Sie schien zeitweise die einzige und universale Methode auf diesem Gebiet zu sein und zog auch die historischen Geisteswissenschaften klassischen Typs in ihren Bann. Für sie stellt die klassische Antike nur einen Einzelfall innerhalb eines größeren Ganzen dar. Auf der anderen Seite steht die klassische Altertumswissenschaft, deren wohlerforschte Überlieferung gegen jede konstruktive Deutung der mythischen Überlieferung mit der nötigen historischen Skepsis ausgerüstet war. Gleichwohl hat sich beiden Grundtendenzen gegenüber in unserem Jahrhundert ein neues Interesse der Mythenforschung zugewandt. Es entsprach der christlichen Herkunft der modernen Wissenschaft und gerade auch der modernen Altertumswissenschaft, daß sie in der literarischen Überlieferung, dem Epos und dem Nachhall des Mythischen in anderen Dichtungsarten, keinen legitimen Zugang zum ursprünglichen mythischen Bewußtsein erblickte. »Die Dichter lügen zu viel. « So wenigstens dachte - mit Plato - die in den christlichen Begriffen von Glauben und Wissen erzogene historische Forschung des 19. Jahrhunderts. Unter diesen Umständen gewannen zwei Aspekte der Überlieferung eine methodische Vorrangstellung. Auf der einen Seite war es die Sprache, diese Prähistorie des menschlichen Geistes, die hinter die literarischen Überformungen, die der Phantasie der Dichter entstammen, zurückzukommen verhieß, und auf der anderen Seite die in mancherlei Formen auf uns gekommenen Reste des tatsächlich geübten Kultus: Kultstätten, Kultbräuche, Feste. Sie reichen dank der Beharrungskraft allen Brauchtums weit hinter alle literarische Überlieferung zurück.
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So wurde die vergleichende Religionswissenschaft weitgehend nach dem Muster der vergleichenden Sprachwissenschaft aufgebaut. Die sprachliche Gemeinsamkeit in dem religiösen Vokabular der indo-europäischen Völker erschien einem Max Müller als das greifbare Fundament für die Rekonstruktion einer gemeinsamen religiösen Urerfahrung dieser Völkergruppe, und bald sollte die ethnologische Forschung auch über Sitten und Bräuche und religiöse Vorstellungswelten anderer Kulturen neue Aufschlüsse bringen. Eine besondere Faszination übten in der Sprachforschung der Religionswissenschaften die Götternamen aus. Bei Hermann Usener traten sie ganz in den Vordergrund. Sie stellten fur ihn gleichsam das reife Ergebnis einer Gestaltwerdung der Götter dar. Die hinter ihnen stehende religiöse Urerfahrung erklärte sich dem durch die Religionswissenschaft erzogenen Forscher als ein Akt primärer Namengebung in der Plötzlichkeit des inspirierten Augenblicks. Von solchen >Sondergöttern< aus habe sich die religiöse Begriffsbildung entwickelt. Es konnte nicht ausbleiben, daß gegen eine solche Theorie der Einwand erhoben wurde: »Zu Begriffen betet kein Mensch.« Das war der Einwand, den vor allem Wilamowitz gegen Useners Theorie von den Sondergöttern erhoben hat. Wilamowitz selber hat die riesige Reichweite seiner mythengeschichtlichen Forschung in einem großartigen Alterswerk zusammengefaßt, das den vielsagenden Titel trug >Der Glaube der Hellenem. Hier wird in voller Selbstverständlichkeit ein am Christentum gewonnener Begriff des Glaubens in die Frühe der mythischen Erfahrungen zurückprojiziert. Man mochte sich fragen, ob die Griechen diesen Titelbegriff des >Glaubens< in ihrer eigenen Sprache überhaupt wiedergegeben hätten. Man könnte an >Nomos< und an νομίζειν denken, wenn nur nicht in diesem Worte Konvention, Brauch und Gesetz den Vorrang eingenommen hätten. Man könnte umgekehrt an >Eusebeia< denken s , an jene Grundhaltung frommer Verehrung, die sich in der Erfüllung der öffentlichen religiösen Bräuche betätigte. Nach beiden Richtungen wird aber die eigentliche konkrete Gegenständlichkeit der mythischen Überlieferung der Griechen verfehlt. Darüber konnte die immense Anschauungskraft, mit der der große Forscher Wilamowitz die konkreten Gegebenheiten von Landschaft und Stammestum, von geschichtlichen Ereignissen und von Kultwirklichkeiten aufzuspüren wußte, nicht täuschen. Hier kommt eben eine unaufhebbare Grenze der historischen Forschung zutage. Was Wilamowitz für sich in Anspruch nahm, nämlich das »herzliche Verhältnis« der Griechen zu ihren Göttern verständlich zu machen, konnte von hier aus nicht gelingen. Was über die Göttergestalten 5
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selbst und ihren Wandel gesagt wird, erhebt sich nicht über die allgemeine Vorstellung von Kräften und Mächten, zu denen auch kein Mensch beten kann. Hier hat die Arbeit von Walter F. Otto eingesetzt. Er suchte die dichterische Gestaltung, die wir in der literarischen Oberlieferung der Griechen finden, in ihrem religiösen Anspruch ernst zu nehmen 6 . Nicht von den Kräften, sondern von den Gestalten, die in der großen Dichtung erscheinen, geht sein Deutungsversuch aus, und er knüpft dabei an Schellingsche Einsichten an. Der griechische Polytheismus sei die notwendige Form des religiösen Prozesses, in dem sich die Erfahrung des Göttlichen artikuliert. Es sind Aspekte der Wirklichkeit selbst, deren Realität zu bezweifeln unsinnig wäre, die sich in den Gestalten der Götter des Olymp zur sinnenfalligen Anschauung ausgestaltet haben. Daß die Liebe als eine überwältigende Leidenschaft, daß die Kampfeswut als eine selbstvergessene Ekstase, daß glückliche Findigkeit oder List, daß strahlende Geistigkeit und Heiterkeit über den Menschen kommen wie Erfahrungen übermächtiger Wirklichkeit, das sind nicht rationalistische Erklärungen der Göttergestalten der Überlieferung, sondern die Beschreibung ihrer erfahrenen Wirklichkeit selber. Auch Dionysos, der Gott des Weines und des Rausches, ist eine solche machtvolle Wirklichkeit, die verzaubernd und mitreißend über den Menschen kommt und gewiß keiner Rechtfertigung ihrer mächtigen Realität bedarf. Ein methodisches Argument für die religiöse Realität dieser Göttergestalten bietet dabei die Tatsache, die wir oben erwähnten, daß die dichterische Überlieferung, in deren Lichte diese mythische Welt von Walter F. Otto und seinem Schüler Karl Kerényi gedeutet wird, in bruchloser Kontinuität zu dem rationalen Weltdenken hinüberfuhrt, in dem sich der griechische Weltgedanke vollendet. - Es mag auffallen, daß in dem farbigen Spektrum griechischer Göttergestalten, das hier entfaltet wird, die Gestalt des obersten Gottes, Zeus, der Vater der Götter und Menschen, fehlt. Gewiß kein Versäumnis eines Forschers, der sehr wohl wußte, wie gerade die Zeusreligion und ihr Sieg erst das Ganze der olympischen Götterfamilie zur Einheit zusammengefügt hat. Es liegt darin vielmehr die fast unwillkürliche Wirkung der Tatsache, daß sich in der großen Einheitsfigur des Göttervaters die Vielheit des Universums wie in einer einzigen machtvollen Wirklichkeit zusammenfaßt. So war es die philosophische Religion der Transzendenz, die hier anknüpfen konnte und die dann im hellenistischen Zeitalter die Linien der göttlichen Wirklichkeit in die Jenseitigkeit des Einen hinein auszieht. Schellings Konzept des theogonischen Prozesses findet eine neue Deutung.
Zur Problematik dieser Begriffe in ihrer Anwendung auf die griechische Religion
siehe auch meinen Beitrag >Sokrates' Frömmigkeit des Nichtwissens< in Ges. Werke Bd. 7, S. 83 ff.
6 WALTER F. OTTO, Die Götter Griechenlands (Bonn 1929); Dionysos. Mythos und Kultus (Frankfurt 1933).
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Der griechische Polytheismus stellt sich gleichsam als eine Etappe auf dem Wege zum >Geist< und zu der Wahrheit des Einen Gottes dar. In den letzten Jahrzehnten hat dann der französische Strukturalismus eine aufsehenerregende Anwendung auf die Wissenschaft vom Mythos gefunden. Noch einmal hat sich der Vorrang der Sprache für das Verständnis des Mythischen als fruchtbar erwiesen. Aber nicht mehr in der Form, daß einzelne Namengebungen oder mit Namen verknüpfte Ausgestaltungen mythischer Erfahrung zum Leitfaden einer Rekonstruktion mythologischer Zusammenhänge genutzt werden. Es ist jetzt das Bildungsprinzip der Sprache selber, das eine neue analogisierende Methode anbietet. Die bahnbrechenden Untersuchungen de Saussures hatten gezeigt, daß die generative Kraft der Sprache sich polarisierender Setzungen bedient. Worte rufen ihre Gegenworte hervor, und so entfaltet sich das sprachliche Vokabular in einem Bildungsprozeß, dessen strukturelle Gesetzmäßigkeit aller Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus gegenüber eine Konstante darstellt. Es gelang nun Lévi-Strauss und seinen Freunden, gleichsam eine generative Grammatik des mythischen Bewußtseins zu konstruieren. Sie erlaubt, in der mythischen Überlieferung Konstanten und Gesetzmäßigkeiten zu gewahren, die sich jenseits aller Beliebigkeit sowohl im geschichtlichen Wandel als auch gegenüber der Erfindungskraft der Phantasie wie unverbrüchliche Gesetze durchhalten. Das war eine ebenso unerwartete Rationalisierungsmöglichkeit der mythischen Wolkengebilde wie diejenige, die in unserem Jahrhundert durch die Psychologie des Unbewußten aufgeschlossen worden ist. In der Analyse des mythischen Bewußtseins durch Freud werden ebenso verblüffende Gesetzmäßigkeiten in der Vorgeschichte der Seele sichtbar, und ähnliches gilt von den Archetypen, die C. G. Jung hinter dem Traumleben unseres Unbewußten als Konstanten ausgemacht hat. So kann man auch über das romantische Erbe der historischen Geisteswissenschaften hinaus von einer Wissenschaft vom Mythos sprechen, soweitres gelingt, das Geheimnis der mythischen Erfahrung zu rationalisieren. Aber nochmals scheint sich der unaufhebbare Antagonismus zwischen Mythos und Wissenschaft zu bestätigen. Das Jenseits des Bewußtseins hebt sich weder in der einen noch in der anderen Richtung je ganz in das Bewußtsein seiner selbst auf. Man mag die Wege der mythenschaffenden Phantasie ein Stück weit aufhellen - ihre Schöpfungen und die aus ihnen sich aufbauenden Gestaltungen der Kunst und der religiösen Kunde verlieren dadurch nicht ihre Aussa-r gekraft. Man mag in das Dunkel der Frühgeschichte der menschlichen Seele noch so viel Licht bringen, ihre Traumfahigkeit bleibt ihre stärkste Kraft.
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Daß Kunst und Literatur mit dem Begriff der Anschauung und—mindestens die1 letztere - mit dem Wertbegriff der Anschaulichkeit verbunden sind, lehrt jeder Blick in die Geschichte der Ästhetik. Zwar ist diese eines der jüngsten unter den Problemgebieten der Philosophie, aber daß ihre Begründung mit der Begrenzung des Begriffs und mit der Kritik der >reinen< Vernunft, die nur durch Begriffe zu Erkenntnis zu gelangen glaubt, zusammengeht, ist unverkennbar. Denn damit erfahrt der Begriff der Anschauung eine Aufwertung. Schon Baumgartens Formulierung einer >cognitio sensitiva«, die das >pulchre cogitare< auszeichnet, weist in diese Richtung, und Kants K r i tik ider Urteilskraft* vollends charakterisiert das ästhetische Wohlgefallen als »ohne Begriff« und hebt das Vermögen der Einbildungskraft im Spiel der Erkenntniskräfte, die das ästhetische Wohlgefallen ausmachen, hervor. Anschauung heißt hier nichts als Vorstellung der Einbildungskraft. Von wirklich terminologischer Prägung ist der Kantische Begriff der Anschauung allerdings nicht im Zusammenhang der Ästhetik, sondern steht im Zentrum der >Kritik der reinen Vernunft. Er ist dort das kritische Gegenstück zu dem Begriff des Begriffs und das Korrektiv der rationalistischen Metaphysik. Kants Lehre von Raum und Zeit als den Formen der Anschauung, in denen allein dem endlichen Menschen etwas »gegeben« sein kann, läßt daher auch die »intellektuelle Anschauung«, von der die idealistischen Nachfolger Kants so viel Wesens machten, lediglich als die Auszeichnung des dem Menschen nicht gegebenen »unendlichen Intellekts« zu. Nur ein solcher vermag seine Gedanken »ins Sein zu schauen«, so wie Fichtes transzendentale Reflexion später das Anschauen als ein Hinschauen (in aktiver Bedeutung) versteht. All das gehört in Kants Kritik der metaphysischen Erkenntnis. Ihr wird durch die >Kritik der reinen Vernunft< nachgewiesen, daß Begriffe ohne Anschauung leer sind und keine Erkenntnis ermöglichen. Ober dieser kritischen Abgrenzung, die auf die sinnliche Gegegenheit in der Wahrnehmung zurückweist, darf man aber nicht vergessen, daß die Einbildungskraft nicht auf ihre Funktion fur die theoretische Erkenntnis beschränkt ist, sondern die allgemeine Fähigkeit darstellt, »Anschauung (Vorstellung) auch ohne Gegenwart des Gegenstandes« zu haben, und das
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allein ist der Gesichtspunkt, unter dem Anschauung im Bereich der Kunst und der Ästhetik zum Problem wird. Man verfehlt also von vornherein den Ort des Problems, wenn man von dem Wahrnehmungsbegriff oder gar von dem Begriff des Wahrnehmungsurteils seinen Ausgang nimmt, und man darfauch im Hinblick auf die theoretische Erkenntnis nicht übersehen, daß für Kant Anschauung ebenso wie Begriff analytische Momente des Erkenntnisurteils sind und nur in ihrer Kooperation Erkenntnis vollbringen. Diese Kooperation steht freilich im Rahmen der »Kritik der reinen Vernunft< im Dienste der theoretischen Erkenntnis - im Falle des ästhetischen Wohlgefallens dagegen handelt es sich um ein freies Spiel der Erkenntniskräfte. Kooperation mit dem Verstande und seinen Begriffen gehört gleichwohl zu den selbstverständlichen Bedingungen auch des ästhetischen Wohlgefallens und der Kunst des Genies. Anschauung geht hier jedoch nicht auf einen gegebenen Gegenstand. Es ist daher nicht ohne Bedacht, daß ich dem Begriff >Anschauung< im Titel meines Beitrages den der >Anschaulichkeit< beigeordnet habe. Es ist damit bereits angezeigt, daß das kunsttheoretische Problem der Anschauung nicht von der erkenntnistheoretischen Fragestellung aus anvisiert werden darf, sondern auf den weiteren Bereich der Einbildungskraft in ihrem »freien« Spiele und in ihrer Produktivität bezogen ist. Dafür scheint es mir von vornherein geboten, den Blick nicht auf die »visuellem Gegenstände oder Werke der Kunst zu beschränken, sondern die sprachlichen Künste, also vor allem Dichtung, im Blick zu behalten. Dort, im Gebrauch von Sprache, in Rede- und Dichtkunst, ist ja das Wort >anschaulich< zu Hause, und zwar als eine besondere Qualität des Beschreibens und Erzählens, so daß man das, was man nicht selbst sieht, sondern was einem nur erzählt wird, sozusagen >vor sich< sieht. Das ist offenbar eine >ästhetische< Qualität. Anschauen, schauen, to show, hat auch sprachlich etwas mit dem >Schönen< zu tun. So weist es zwar, wie so viele unserer Worte, in die visuelle Sphäre des Zeigens auf Sichtbares, aber mit einer eigentümlich offenlassenden Weisung auf das, was da zu sehen ist. So wurde das Wort zunächst von der Gottesschau des Mystikers gebraucht, und es begegnet in solchem Sinne in heutigen Wendungen wie >Schauplatz< und >Schaubühne<, in Phrasen wie >etwas anschauen<, »etwas beschauen< oder gar >zuschauen<. In all diesen Verwendungen des Wortes ist die zeitliche Komponente des Weilens und Verweilens unüberhörbar, wie sie das Versunkensein im Anschauen an sich hat. Ich erinnere an die dichterische. Bemühung Hegels in dem Gedicht >Eleusis<, wo es heißt: »Der Sinn verliert sich in dem Anschaun... Ich bin in ihm, bin alles, bin nur es. « Nun sind freilich im Reflexionszusammenhang und Oberlieferungsgeschehen der Philosophie die deutschen Worte mehr oder weniger künstliche Zuordnungen zu den griechisch-lateinischen Worten und Begriffen. So geht
die Gottesschau der Mystik auf das >videre deum per essentiam< zurück, das den >status beatitudinis« auszeichnet, und damit auf die lateinischen Äquivalente für den griechischen Nous: >intellectus< und >intelligentia<. Damit sind wir in die klassische Begriffswelt von Logos, Nous, Dianoia, Theoria und Phronesis sowie ihre lateinischen Entsprechungen versetzt, und es wird nützlich sein, auch diese semantischen Felder mitzusehen, um dem Begriff der Anschauung seine rechte Weite zu sichern. Zwar mag es zunächst nach einer Verengung aussehen, was uns aus solchem Rückgang auf das Griechische droht. Die Entgegensetzung von sinnlicher und intellektualer Anschauung, von >Aisthesis< und >Noesis<, die auf Plato zurückgeht, erinnert an die Erblast des Piatonismus, die — mehr oder minder unbewußt - auf dem neuzeitlichen Denken liegt. Die große Leistung der Unterscheidung von Sinnlichem und Intelligiblem, durch die Plato erstmals der Mathematik zu einem echten Verständnis ihrer selbst verhalf, bedeutete auf der anderen Seite die Einführung eines Begriffes von >Anschauung<, der nach dem Strukturmodell der Sinneswahrnehmung gebildet war und damit den ausschließenden Gegensatz zum begrifflichen Denken zu implizieren schien. Tatsächlich stellt die Kantische kritische Wendung gegen den Rationalismus des 18. Jahrhunderts, wie schon der Titel seiner Dissertation zeigt, die bewußte Aufnahme eines solchen Platomsmus dar. Die Anwendung dieser Begriffe des Sinnlichen und des Intelligiblen auf die Erfahrung der Kunst scheint aber nicht recht sinnvoll. Kant hat denn auch vermieden, das zu tun, indem er auf das Spiel der Erkenntniskräfte abhob und den Gegenstand des ästhetischen Wohlgefallens durchaus nicht von dem Gegensatz der Sinne und der Vernunft aus bestimmt. Das fallt an den ersten Paragraphen der »Kritik der Urteilskraft (§3 und §4) geradezu auf. Das platonische Erbe bleibt freilich überall dort fühlbar, wo der an der Sinneswahrnehmung orientierte Begriff der Anschauung auf die begriffliche Erkenntnis ausgedehnt und von intellektualer Anschauung oder intellektueller Anschauung kritisch gesprochen wird. Gerade aus dieser Übertragung scheinen mir nun die Mißverständnisse zu entspringen, die dem Begriff des Anschauens im Bereich der ästhetischen und der Kunsttheorie anhaften. In Wahrheit ist >Anschauung< als die Unmittelbarkeit des sinnlich oder geistig Gegebenseins (die Husserl leibhaftige Gegebenheit bzw. anschauliche Erfüllung der Intention nennen würde) ein reiner Grenzbegriff, eine Abstraktion von den Vermittlungen, in denen sich die menschliche Weltorientierung vollzieht. Das kann man schon an Aristoteles verifizieren. Er kann von der »Aisthesis«, so sehr er sie sonst als spezifische Sinneswahrnehmung vesteht, sagen, daß sie immer auf ein Allgemeines gehe - man sieht eben einen Menschen und nicht »etwas Weißes< —, und er kann umgekehrt auch nicht von dem >Nous< wie von einer eigenen ausgezeichneten Seins verfassung reden, wie er etwa vom Wissen, von der >Techne<, von der Vernünf-
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tigkeit der >Phronesis< oder von der Weisheit reden kann. Denn das letzte >Innesein< der Prinzipien begegnet nicht für sich, sondern nur im Vollzug des vermittelnden Denkens. Der Mensch lebt im Logos, und der Logos, die Sprachlichkeit seines In-der-Welt-Seins, hat seine Bestimmung im Anschaulichmachen von etwas, so daß der andere es sieht. Das aristotelische Wort dafür heißt δηλονν, in dem der Stamm δη- des deiktischen Verhaltens, des Zeigens, steckt. Damit ist der abstrakte Gegensatz von sinnlicher und geistiger Anschauung - bzw. von Anschauung und Begriff— in Wahrheit überschritten, und das kann uns helfen, von >Anschauung< und >anschaulich< ihre ausschließliche Bindung an theoretische Erkenntnis und wissenschaftliche Erfahrung abzustreifen und ihre Funktion im ästhetischen und kunsttheoretischen Bereich erkennbar zu machen. An diesem antiken wortgeschichtlichen Hintergrund ist greifbar, daß es nicht eigentlich der Bezug auf die Sinnlichkeit ist, was den Begriff der Anschauung definiert. Der Ausgangspunkt von der sinnlichen Gegebenheit fuhrt das moderne Denken in die Irre. Der Erkenntnistheoretiker, der die formende Kraft des Unterscheidens, die in aller Wahrnehmung am Werke ist, nicht wahrhaben will, erliegt einem dogmatischen Begriff des objektiv Gegebenen, und der Kunsttheoretiker vollends läßt sich leicht von dem rationalistischen Begriff und Gegenbegriff einer >cognitio sensitiva< beirren. Die Erfahrung der Kunst kann nicht von dem abstrakten Gegensatz zur begrifflichen Erkenntnis aus verstanden werden. Das lehrt nicht zuletzt die Tatsache, daß die Dichtkunst zur nicht mehr Lautgestalt annehmenden Literatur zu werden vermochte, ohne ihr eigentliches Wesen aufzugeben. Nicht die Unmittelbarkeit sinnlicher Gegebenheit, sondern der Prozeß des Bildens der Anschauung und die aus ihm hervorgehende gebildete Anschauung, diese »Vorstellung der Einbildungskraft«, ist das Fundament, auf dem alle Künste ruhen. Der angemessene Ausdruck für den Gegenstand der Ästhetik, die Theorie der Kurist sein will, wäre also >cognitio imaginativa<. Um eine Art von >cognitio< handelt es sich freilich auch hier. Doch ist es von der Kantischen Voraussetzung aus schwer, den Erkenntnischarakter der Kunst anzuerkennen. Man kann sich dafür kaum auf die klassischen Unterscheidungen berufen, mit denen Kants >Analytik des Schönem einsetzt. Was dort den Ausgangspunkt darstellt, ist lediglich der »Standpunkt des Geschmacks«, und das heißt das Ideal der »freien« Schönheit, zu der das Dekorative und das Naturschöne das Muster abgibt. Daraus würde folgen, Kunst nicht als Kunst, sondern als Dekoration zusehen. Hier scheint mir Adornos >ÄsthetischeTheorie< dessen nicht gewahr, daß und warum Kants Analytik des Schönen dem kunsttheoretischen Bedürfnis nicht genügen kann und warum uns Hegel trotz allem Systemzwang r dem er unterliegt, näher bleibt. Ähnlich scheint es mir mit der Preisgabe des Werkbegriffes zu stehen, die
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in der Kunsttheorie unserer Tage im Schwange ist. Beides scheint mir eine unzulässige Verkürzung der Fragestellung. Die Fragestellung der Theorie der Kunst muß auf das Ganze gehen, auf >Kunst<, bevor sie überhaupt sich als >Kunst< verstand, und ebenso, nachdem sie sich nicht länger so verstehen möchte. Was ist es, was solche Gebilde, Bildwerke oder selbst Bauwerke, Gesänge oder Texte oder Tänze, >schön< erscheinen läßt (oder >nicht mehr schön<, aber noch als >Kunst<)? >Schön< - das heißt nicht, ein bestimmtes Ideal von Schönheit, ein klassisches oder barockes, erfüllen, sondern definiert Kunst als Kunst, nämlich als Herausstehen aus allem, was man sonst zweckvoll einrichtet und nutzt, und was zu nichts als zum Anschauen einlädt. Das nennen wir ein >Werk<. Anschauen aber, und das ist der Punkt, auf den die ganze Überlegung zielt, ist in Wahrheit nicht jenes Ideal theoretischer Erkenntnis, der mnus intuitus<, in dem ein sonst nur schrittweise Zugängliches in Einem >präsent< ist. Anschauung entspricht auch nicht jener Prägung Epikurs, auf die der Begriff der Intuition zurückgeht, jene αθρόα έηιβολή. Anschauung ist vielmehr etwas, was man, wie man im Deutschen sagt, sich zu bilden hat, eben durch das Anschauen, das immer einen Fortgang vom einen zum anderen einschließt. Kant sagt es selbst ausdrücklich, daß die Zeitfolge von dem Begriff der Anschauung nicht zu trennen ist (Kr. d. U. Β 100). Anschauen baut etwas auf, so daß es eine Weile >steht<. Man darf daher nicht denken, daß die sogenannten bildenden Künste, weil sie sich in visuellen Objekten verwirklichen und nicht im flüchtigen Vorbeigang von Klang oder Wort, deshalb in bevorzugtem Sinne den Charakter von >Anschauung< haben und daß die andern, transitorischen Künste dem nur nahekommen können, sofern sie >anschaulich< sind. Es ist zwar wahr, daß man von sprachlichen Darlegungen vorzugsweise — und so im besonderen von Erzählungen — rühmt, sie seien anschaulich, und das nicht ebenso bei Bildwerken tut, offenbar, weil diese ipso facto >anschaulich< sind und es deshalb nur von jenen zu rühmen sein kann, wenn auch sie >anschaulich< sind. In Wahrheit kommt es hier überhaupt nicht auf den Unterschied von >statischen< und >transitorischen< Künsten an, sondern auf den Bezug von Wort und Begriff auf Anschauung, der nur im Bereich des Sprachlichen zum Problem wird. Schon die Tatsache sagt etwas, daß man von Musikwerken kaum sagen würde, sie seien >anschaulich<. Dagegen wird man allenfalls eine Zeichnung, ζ. Β. eine Planskizze, anschaulich nennen, wenn man sich das so Dargestellte »anschaulich vorstellen< kann. Offenbar ist es der beschreibende Charakter der Skizze oder des Planes, der dann wie bei einer in Worten gegebenen Beschreibung eine gewisse Bildhaftigkeit festhält, was uns so reden läßt. Diese >ästhetische< Qualität einer Beschreibung kann also durchaus in dem Dienst einer praktischen Orientierung stehen - wie ja auch die anschauliche Erzählung eines Historikers, so sehr sie ästhetische Würdigung
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Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel
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verdienen mag, im Dienste der geschichtlichen Erkenntnis und ihrer Mitteilung steht. Ebenso wird man von einem dramatischen Dialog, der für die Bühne geschrieben ist, nicht sagen, er sei anschaulich. Er wird ja wirklich >dargestellt<, und nur mit Einschränkung wird man an Lyrik ihre Anschaulichkeit rühmen. Denn ihre Klang- und Stimmungswerte sind weit wichtiger als die Beschreibung des Gegenständlichen. »Füllest wieder Busch und Tal still mit Nebelglanz« ist zwar >anschaulich<, aber es ist doch zugleich viel mehr, ein Ganzes von Stimmung, in das alles Anschauliche, die Landschaft wie das träumerische Ich, getaucht und eingehüllt ist. So etwas ist nicht mehr Beschreibung, die etwas anschaulich sehen läßt. Eine solche dichterische Aussage ist weit eher eine Beschwörung, ja ein Ritual der Seele, das alle Distanz aufhebt. So ist also »Anschaulichkeit zunächst ein Wertprädikat von Beschreibungen, die auch in abstrakter Form durch Bezeichnungen, durch Schema oder begrifflichen Ausdruck, zustande kommen können. Was man von solchen >Beschreibungen< im allgemeinen verlangt, ist nur, daß sie klar und verständlich sind, nicht daß sie anschaulich sind. Die zusätzliche Auszeichnung, daß Beschreibungen anschaulich zu sein vermögen, gehört offenbar zur >Kunst< der Rede - vor allem beim Erzählen und im besonderen im Falle der Literatur. Da ist Anschaulichkeit wie eine eigene Präsenz des Erzählten: »Man sieht es förmlich vor sich. « Und doch wissen wir auch hier, daß es erst die Einbildungskraft des Lesers und Hörers ist, die solche Präsenz zustande bringt, und welch sonderbare Form von Präsenz! Doch wahrlich nicht die einer eindeutig fixierbaren Bildhaftigkeit. Die Ästhetik der Buchillustration weiß von den Problemen der graphischen Begleitung eines erzählenden Textes allerhand zu vermelden (wie übrigens in anderem Falle auch die Bühnenmalerei). Was Illustration ist, muß den »fruchtbaren Augenblick< in ein Bild versammeln und soll dabei zwischen Bildautonomie und Abbildfunktion die Mitte halten. Auf beides kommt es an. Die Anschaulichkeit, die wir an einem erzählenden Texte rühmen, ist dagegen durchaus nicht die eines durch Worte erzeugten Bildes, das sich wiedergeben läßt. Sie ähnelt weit mehr einem ruhelosen Fluß von Bildern, die das Verstehen des Textes begleiten und in keiner festwerdenden Anschauung wie in einem Resultate enden. Und doch ist es eben die >Kunst< der Sprache, die Einbildungskraft zu Anschauungen anzuregen, welche das sprachliche Kunstwerk derart auf sich selbst stellt und zum >Werk< macht - wie durch eine Art selbstgebender Anschauung - , so daß solche Rede allen Wirklichkeitsbezug, den Rede sonst hat, aufzuheben oder vergessen zu lassen vermag. Da mögen mannigfache Übergänge vorkommen. Sprachliches kann sich auch dann auszeichnen und >anschaulich< heißen, wenn es nicht Kunst sein will, sondern einfacher Bericht von wahrem Geschehen ist. Indessen, so etwas wie die Kunst der Anekdote, von der wir zu sagen versucht sind, sie sei zu schön, um wahr zu
sein, vermag das Wesentliche dieser Übergänge gut zu illustrieren. Zur Anekdote gehört zwar ein Wesensbezug auf die Geschichte und ihre Akteure, aber kein Wahrheitsbezug im Sinne der historischen Verbürgtheit. Auch fur den historischen Roman trifft das übrigens zu - j a sogar für das Historienbild und in gewissem Umfange für das Porträt. Anschaulichkeit einer Erzählung mißt sich nicht an abbildlicher Treue. Nun wird man gewiß die Rolle, die Anschauung im Bereich der Kunst spielt, nicht auf den Wertbegriff der Anschaulichkeit einengen dürfen. Wir sahen ja, daß wir nur dort die Anschaulichkeit rühmen, die unsere Anschauungskraft in Bewegung setzt, wo ein >symbolisches< oder >begriffliches< Verständnis dadurch besondere Belebung erfahrt. Aber es geht um mehr. Es geht um die konstitutive Rolle, die Anschauung überall dort spielt, wo das Werk der Kunst zum Sprechen kommt. Man wird daher jede nur zusätzliche Funktion von Anschauung, erst recht also das, was den Charakter der bloßen Veranschaulichung hat, hier ausschalten müssen. Kants eigene Behandlung des Verhältnisses von Begriff, Idee und Anschauung in der >Kritik der Urteilskraft« läßt manchmal zu sehr an >Veranschaulichung« denken, sofern das freie Spiel der Einbildungskraft »zur Darstellung des gegebenen Begriffs« zweckmäßig sein soll (B 199). Durch den Übergang zum Begriff des Genies sucht Kant sich zwar von diesem Primat des »gegebenen« Begriffs zu befreien, aber das gelingt nur in Grenzen. Jedenfalls handelt es sich bei >Veranschaulichung< in Wahrheit um Erkenntnisprozesse. Dort kann es geschehen, daß die Grenzen der Anschauung überschritten werden und Veranschaulichung - z. B. durch anschauliche Vergleiche - eintritt, weil die Dinge nur symbolisch darstellbar sind, wie wir das etwa von großen Zahlen oder von vier- oder mehrdimensionalen Räumen sagen dürfen. Solche >Veranschaulichung< hat offenbar nichts mit der Rolle der Anschauung in der Kunst zu tun.
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Dort nämlich ist >Anschauung< nicht ein sekundäres Moment. Es ist vielmehr das wahrhaft Auszeichnende der Kunst, Anschauung, und zwar Welt->Anschauung<, zu sein1. Das meint nicht nur, daß die Kunst gegenüber der Erkenntnis der Wissenschaft einen eigenen Wahrheitsanspruch verteidigt, sofern das freie Spiel der Einbildungskraft auf »Erkenntnis überhaupt« geht, sondern auch, daß die hier spielende >innere< Anschauung die Welt 1 Das Wort >Weltanschauung< begegnet in diesem ursprünglichen Sinne bei Kant selbst, wenn er in der >Kritik der Urteilskräfte von dem Unendlichen als dem Noumenon spricht, »welches selbst keine Anschauung verstattet, aber doch der Weltanschauung, als bloßer Erscheinung, zum Substrat untergelegt wird« (B 92). Natürlich muß man hier, wie bei Schleiermacher und Hegel, unseren abgegriffenen Begriff von >Weltanschauung< fernhalten. Immerhin sei die Bemerkung gestattet, daß auch diese uns gewohnte Prägung des Begriffs >Weltanschauung< nicht so sehr einen Inbegriff von Ansichten als eine Perspektive meint. Siehe auch den Hinweis in >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 104.
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und nicht nur Gegenständliches in ihr - zur Anschauung bringt. Die >Weisen der Weltanschauung< hat Hegel in seiner Ästhetik-Vorlesung darzustellen gesucht. Damit ist gesagt, daß noch vor aller begrifflich-wissenschaftlichen Erkenntnis die Weise, wie man in die Welt schaut und auf das Ganze des Inder-Welt-Seins, in der Kunst ihre Gestaltung findet. Der Ausgangspunkt von der >Anschaulichkeit<, den wir nahmen, zeigt jetzt seine positive Bedeutung. Er bewahrt uns vor der Verführung, den Begriff der sinnlichen Anschauung und damit den abstrakten erkenntnistheoretischen Gegensatz von Anschauung und Verstand hier einzumengen, statt auf diese >Weisen des Anschauens< und damit auf die Bildungsvorgänge zu blicken, die solche Anschauung gestalten, mit anderen Worten, statt auf die Produktivität der Einbildungskraft und ihr Zusammenspiel mit dem Verstande zu blicken. Nun war es gewiß die eigentliche Absicht der Kantischen Begründung der Ästhetik, die Unterordnung der Kunst unter die begriffliche Erkenntnis aufzulösen und gleichzeitig den bedeutungsvollen Bezug auf das Begreifen nicht abzuschneiden. Doch liegt hier, scheint mir, eine Schwäche der Kantischen Unterscheidung des Kunstschönen und des Naturschönen. Im Falle der Kunst wird nach Kant das »freie« Spiel der Einbildungskräfte auf den »gegebenen« Begriff bezogen. Alle Kunstschönheit ist dann nicht »freie«, sondern »anhängende« Schönheit. Damit gerät Kant in die falsche Alternative gegenständlicher Kunst und gegenstandsloser Natur, statt die Freiheit vom Gegenständlichen (vom >Begriff<) als eine immanente Variation im Kunstschaffen selber und in seinem Eigenbezug auf Wahrheit zu verstehen. Allein die Existenz der klassischen Musik seiner Zeit hätte ihn vor dieser Einseitigkeit bewahren können 2 . Immerhin definiert Kant Genie und Geist »in ästhetischer Bedeutung« als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen. Wenn dieser Begriff der >ästhetischen Idee< auch allzusehr am Gegensatz der Vernunftidee orientiert ist und vor allem dem Begriff eines Objektes allzusehr zugeordnet bleibt, den die Idee »erweitert« (was sich etwa in der Lehre von den Attributen bei Kant niederschlägt), so darf man doch sagen, daß der Begriff der ästhetischen Idee auch unabhängig von solchem Gegensundsbezug etwas Richtiges formuliert. Eine Idee ist kein Begriff, aber doch etwas, auf das hinauszusehen ist, und das auch dann, wenn kein bestimmter Begriffeines Objektes durch die Idee zur Darstellung kommt, so daß die Rede von der >Erweiterung< eines gegebenen Begriffs gegenstandslos wird. Hier - und nicht in der Rückkehr zum Geschmacksurteil - scheint mir die eigentliche Aufgabe zu liegen, Kants philosophische Leistung weiterzuentwickeln und seine Einsichten von den Fesseln einer Entgegensetzung von 2
Vgl. die Rolle der Wiener Satztechnik, die die Autonomie des musikalischen Kunstwerks vollendet.
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Anschauung und Begriff zu befreien. Wenn er bei der Einführung des Geniebegriffs — und dort erst hat man es mit >Kunst< zu tun, nicht bereits auf dem Standpunkt des Geschmacks — das Genie auf der einen Seite darin sieht, » zu einem gegebenen Begriffe Ideen aufzufinden «, so wird man den falschen Druck des theoretischen Paradigmas und die Enge der künstlerischen Erfahrung Kants darin spüren. Aber auf der anderen Seite weist Kant ins Freie, wenn er das Vermögen des Genies darin erblickt, »das schnell vorübergehende Spiel der Einbildungskraft aufzufassen und in einen Begriff (der eben darum original ist und zugleich eine neue Regel eröffnet...) zu vereinigen, der sich ohne Zwang der Regeln mitteilen läßt« (B199). Da ist der Begriff wahrlich kein »gegebener«. Er ist »original«. Das heißt ein Doppeltes, er ist selbst keine Nachahmung - und: er mag zwar selber ein Muster aufstellen, aber eines, das doch keiner wirklich als eine »neue Regel« gebrauchen kann, wenn er nicht seinerseits in bloße Nachahmung verfallen will. Dieser >Begriff< ist am Ende die Einheit der Anschauung selbst, eine originale >Weise< der Anschauung, die das Werk der Kunst »eröffnet«. Ähnlich scheint die Sache zu liegen, wenn Kant der Dichtkunst den obersten Rang zuweist, weil sie »die Einbildungskraft in Freiheit setzt« (B215). Auch da erinnert er freilich sogleich: »innerhalb der Schranken eines gegebenen Begriffs«. Aber wenn man näher zusieht, kann das nicht meinen, daß der Begriff durch die Erhebung zu ästhetischen Ideen bloß »erweitert« wird. Denn die Dichtkunst »spielt mit dem Schein«. Sie läßt das Gemüt »sein freies, selbsttätiges [...] Vermögen fühlen [. . .], die Natur, als Erscheinung, nach Ansichten zu betrachten und zu beurteilen, die sie nicht von selbst, weder für den Sinn noch den Verstand in der Erfahrung darbietet«. Auch für den Verstand nicht! Wenn die Natur, als Erscheinung, hier »gleichsam zum Schema des Übersinnlichen« gebraucht wird, so erinnert das an das Gefühl des Erhabenen, Auch dort handelt es sich um den Bezug auf Vernunftideen und nicht auf den Verstand. Das heißt aber doch, daß die Dichtkunst nicht an die Schranken eines gegebenen Begriffes gebunden ist, sondern über den Bereich des Begriffs, und das heißt des Verstandes, hinausweist. Jedoch meint das nicht, daß das freie Spiel der Einbildungskraft ein assoziatives Dahinströmen ist. Die Freiheit der Einbildungskraft, die ihr per definitionem eigen ist, hat darin eine wirkliche Bindung, daß sie, ihrem freien Spiel zum Trotz, »zum Erkenntnis überhaupt zusammenstimmt«. »Zum Erkenntnis überhaupt«, das heißt »auf den Verstand, um mit dessen Begriffen überhaupt (ohne Bestimmung derselben) zusammenzustimmen« (B95). »Ohne Bestimmung« - es erscheint als eine wirklich angemessene Beschreibung des Spielens mit dem Schein, daß die Einbildungskraft innere Anschauung produziert, ohne die Bestimmtheit eines gegebenen Begriffs vorauszusetzen, und daß sie gleichwohl dabei nicht bloß vagen Assoziationen folgt, wie
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das angesichts des Naturschönen auftreten mag, sondern wirklich »zu denken gibt«. Was Kant hier von der Subjektseite aus als die Leistung der ästhetischen Urteilskraft bzw. als Genie und Geist beschreibt, läßt sich von der anderen Seite aus als das Anschauen von Welt, das in jedem Werk der Kunst zur Darstellung kommt, formulieren. Nicht ein in der Anschauung gegebenes bestimmtes Objekt schränkt dies Anschauen ein. Das im inneren Anschauen sich aufbauende >Bild< läßt über alles in Erfahrung Gegebene hinaussehen. Kants »die schöne Vorstellung eines Gegenstandes« ist dafür ein etwas zu enger Ausdruck. Jedenfalls muß man das geradezu als seine Erscheinung verstehen. Immer wieder muß einen in diesem Zusammenhange Kants merkwürdiger § 17 »Vom Ideale der Schönheit« beschäftigen. Dort scheint der Begriff des Naturschönen, der an sich im Zusammenhang der Analytik des Geschmacks bei Kant den Vorrang hat, unmerklich in den der Kunst überzugehen. Daß Kant es hier nicht mit dem Begriff der Idee als eines Musters des Geschmacks bewenden läßt, sondern ein »Ideal« des Schönen annimmt, als etwas, das wir »in uns hervorzubringen streben«, ließe sich allenfalls noch als >Darstellung< in der Einbildungskraft verstehen, die der >Beurteilung< von etwas, in Natur oder Kunst, dient. Aber nicht nur, daß die Normalidee des Schönen von der »schulgerechten« Darstellung redet, also nicht nur Beurteilung durch den Geschmack, sondern Darstellung als Kunst meinen muß. Auch das Ideal der Schönheit, das Kant »lediglich an der menschlichen Gestalt«, weil sie »Ausdruck des Sittlichen« zu sein vermag, anerkennt, gerät ihm am Ende wie eine Aufgabe für den Künstler: »Dazu gehören reine Ideen der Vernunft und große Macht der Einbildungskraft in demjenigen vereinigt, welcher sie nur beurteilen, viel mehr noch, wer sie darstellen will«, und er schließt, »daß die Beurteilung nach einem solchen Maßstabe niemals rein ästhetisch sein könne«.
zeichnet — mit Kant zu reden, sein »übersinnliches Substrat«, die »transzendentale Freiheit« - das allein Bedingende ist? Und definiert das nicht wirklich die >Kunst<, daß in ihr der Mensch sich selbst begegnet, was immer auch dargestellt sein mag? Wenn das so ist, dann erlaubt dies eine bei Kant nicht klar vollzogene Eingliederung der Ästhetik des Erhabenen in die Theorie der Kunst. Daß das Gefühl des Erhabenen zunächst auf dem Standpunkt des Geschmacks begegnet und lediglich als das Erhabene der Natur (dessen Darstellung dann auch in der Kunst vorkommen mag) behandelt wird, ist zwar richtig. Aber das Erhabene weist doch eindeutig über den Standpunkt des Geschmacks hinaus. Man muß sich fragen, ob nicht gerade durch das Erhabene, und insbesondere das dynamisch-Erhabene in der Natur, an dem uns die »übersinnliche« Bestimmung des Menschen zur Erfahrung kommt, der Übergang von dem Standpunkt des Geschmacks auf den des Genies vorbereitet wird3. Dazu stimmt, daß nach Kant »das Erhabene der Natur nur uneigentlich so genannt werde« und daß die Deduktion der Geschmacksurteile nur die »der Urteile über die Schönheit der Naturdinge« ist (B 133). Allerdings ist hier von Kunstdingen überhaupt noch nicht die Rede. Aber wie man bei dem Erhabenen der Natur die Natur nur als den Anlaß der Erhebung des Gemüts zu seiner übersinnlichen Bestimmung anzusehen hat und dabei ein über die Unlust der Erfahrung der eigenen Kleinheit und Machtlosigkeit sich erhebendes Wohlgefallen erfahrt, ist man doch schon von einem intellektuellen Interesse erfüllt. Das aber ist dem intellektuellen Interesse am Schönen verwandt, das das Werk der Kunst, das Erzeugnis des Genies, erregt. Gewiß ist es dort nicht die Formlosigkeit und die Unangemessenheit des Anblicks, wie ihn die Natur beim Erhabenen bietet, der eine paradoxe Lust in der Unlust erregt. Aber es ist doch auch nicht die bloße Gefälligkeit der >Form des Objektes<, die uns das Werk der Kunst >schön< finden läßt. Was nur in dieser Weise gefällig ist, wird im Kunsturteil vielmehr als >bloß dekorativ< herabgesetzt. Dagegen hat es immer etwas mit der »transzendentalen Freiheit« zu tun, mit Kant zu reden, wenn uns das Produkt des Genies »erhebt«. Daß das Kunstwerk nicht nur gefallt, sondern uns »erhebt«, schließt offenbar ein, daß es nicht nur Lust, sondern auch »Unlust« erregt. Das ist nicht nur zuweilen so, bei der ausdrücklichen Darstellung von Erhabenem in der Kunst, etwa in der großen Tragödie. Das wirkliche Kunstwerk, das sich nicht dekorativ dem Lebenszusammenhange einschmiegt, sondern von eigener Mitte her aus ihm heraussteht, hat immer etwas von einer Herausfor-
Hier scheint — ganz gleich, ob Natur oder Kunst — das Wohlgefallen am Schönen in gleicher Weise »ein großes Interesse« zu nehmen, und beides ganz ohne »Sinnenreiz«. Ist es ein moralisches Interesse — wie es das Naturschöne zu erwecken vermag (§42) - oder ein künstlerisches, das natürlich auch ein moralisches, nicht bloß ein ästhetisches sein muß? Soll die Annäherung an das Ideal der Schönheit an einem schönen Menschen, der uns begegnet, oder an einer künstlerischen Darstellung eines solchen erfahren werden? Der Gedankenzusammenhang und die Schlußfolgerung lassen im Grunde nur das letztere zu: »unter der Bedingung eines bestimmten Begriffs« (Überschrift von § 16!). Aber dieser Begriffeines ideal-schönen Menschen ist ein einzigartiger, sofern in ihm nicht irgendeine Vollkommenheit eines Gegenstandes, sondern das Sittliche zum Ausdruck kommt. Ist das nicht der Übergang in eine ganz neue Dimension, in der in Wahrheit kein bestimmter Begriff, sondern der Inbegriff dessen, was den Menschen aus-
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Die Dissertation von JOH. H. TREDE, Die Differenz von theoretischem und praktischem Vernunftgebrauch und dessen Einheit innerhalb der >Kritik der Urteilskraft< (Heidelberg 1965), hat darauf zuerst aufmerksam gemacht.
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derung an sich. Es gefallt nicht bloß, es übt geradezu eine Nötigung aus, bei ihm zu verweilen, es wie eine Zumutung >uns gefallen zu lassen«. Heidegger hat von dem Stoß gesprochen, den das Werk der Kunst einem versetzt. In der Tat sieht die Welt anders aus, wenn wir mit dem Werk und seinen Augen in die Welt schauen. Wir mögen die Kantischen Begriffe, insbesondere auch den des Genies und seine Verwurzelung in einem letztlich schöpfungstheologisch begründeten Naturbegriff, zu eng und beengend finden. Aber hier tritt Kants Analyse des Gefühls des Erhabenen als Erweiterung hilfreich ein. Dort wird der »Standpunkt des Geschmacks« mit Notwendigkeit überschritten. Das geschieht angesichts der scheiternden Aufgabe, das Übergroße in einer Anschauung zu erfassen oder das Übermächtige zu ermessen und ihm standzuhalten. Daran wird der Mensch sich seiner >übersinnlichen< Bestimmung bewußt. Ist nicht auch die >Anschauung<, zu der sich die Einbildungskraft im Anschauen des Kunstwerks zu erheben sucht, von einer ähnlichen Übergröße (und einer ähnlichen Übermächtigkeit), sofern sie für den Begriff >inexponibel< ist? Die Übereinstimmung der Erkenntnisvermögen zur »Erkenntnis überhaupt«, die nach Kant die ästhetische Erfahrung auszeichnet, gewinnt zwar im Falle der Kunst eine eigentümliche Bestimmtheit, aber nicht in einem >Begriff<, sondern in dem Strom innerer Anschauungen, in denen sich Schauen der Welt für uns aufbaut.
produktiven Einbildungskraft besitzt, gerade auch für die Theorie der Kunst fundamentale Bedeutung gewinnt. Von hier aus läßt sich die Rolle der Anschauung in diesem Bereich entdogmatisieren. Das aber schließt ein, gewisse überkommene Einseitigkeiten der Kunsttheorie zu überwinden. Es gilt, den Vorrang, den die bildenden Künste gegenüber der Dichtkunst in der ästhetischen Begriffsbildung besitzen, aufzuheben. Ich würde nicht mit Manfred Frank sagen4, daß in der Metapher die Anschauung aufgehoben wird - sie wird vielmehr durch die Metapher neu gebildet. Für die Theorie der Metapher scheint mir Kants Hinweis im §59 noch immer der tiefste, daß die Metapher im Grunde nichts Inhaltliches in Vergleich setzt, sondern die »Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann«, vornimmt. Tut das der Dichter nicht mit jedem Wort? Er hebt jede direkte Korrespondenz auf und weckt gerade dadurch Anschauung. Es klingt fast wie Verlegenheit, wenn Hegel von dem unmittelbaren und eben darum sinnlichen Wissen der Kunst ausgeht und von der Einheit des Begriffs in seiner Allgemeinheit mit der individuellen Erscheinung spricht und dann fortfährt (1132): »Nun vollbringt sich diese Einheit allerdings in der Kunst auch im Elemente der Vorstellung und nicht nur in dem sinnlicher Äußerlichkeit, besonders in der Poesie. « Hegel weiß natürlich sehr wohl, daß in der Poesie »jeder Inhalt in unmittelbarer Weise gefaßt und an die Vorstellung gebracht« wird. Aber »die besonderen Naturgegenstände als solche« sind es nicht. Sie wären zwar »sinnliche Existenzen, aber vereinzelte, welche für sich genommen die Anschauung des Geistigen nicht gewähren«. Der methodische Vorrang, der der Poesie eben deshalb vor allen anderen Künsten zukommt - es ist gewiß nichts, was deren Rang und humane Bedeutung mindert - , liegt eben in der Eindeutigkeit, mit der die Poesie auf die »Anschauung des Geistigen« gestellt ist. Wenn man Kants >Kritik der Urteilskraft« nach ihrer Bedeutung für die Philosophie der Kunst befragt, nimmt man sie in ein einseitiges Verhör. So war es auch, als ich seinerzeit den Entwurf meiner hermeneutischen Philosophie an Kant anknüpfte und die herkömmliche Gegenüberstellung von Kant und Hegel, im Sinne von formaler und Inhaltsästhetik, in Frage zu stellen suchte. Das hält in meinen Augen soweit stand, als Kants Analyse des Geschmacksurteils nicht mit Recht fur eine Ästhetik der gegenstandslosen Malerei unseres Jahrhunderts in Anspruch genommen wird. So mußte ich damals betonen, daß die ästhetische Urteilskraft und Kants Analyse des Geschmacksurteils am Naturschönen orientiert war und nur in abgewandel-
Blickt man zurück, so erscheint Kants Beitrag zur Klärung der Dinge, trotz allem Abstand, den Zeit und Zeitgeschmack, Problemlage und Begrifflichkeit zwischen uns und Kant legen, in einem Punkte wahrhaft aktuell, und das ist seine Entwicklung der Zeitstruktur, die dem Begriff der Anschauung zukommt. Gewiß hat er dieselbe seiner Theorie der Kunst nicht wirklich dienstbar gemacht. In der >Kritik der reinen Vernunft< (A120) steht die berühmte Anmerkung: »Daß die Einbildungskraft ein notwendiges Ingrediens der Wahrnehmung selbst sei, daran hat wohl noch kein Psychologe gedacht. Das kommt daher, weil man dieses Vermögen teils nur auf Reproduktionen einschränkte, teils, weil man glaubte, die Sinne lieferten uns nicht allein Eindrücke, sondern setzten solche auch so gar zusammen, und brächten Bilder der Gegenstände zuwege, wozu ohne Zweifel, außer der Empfänglichkeit der Eindrücke, noch etwas mehr, nämlich eine Funktion der Synthesis derselben erfordert wird. « Die Synthesis der Einbildungskraft, die Kant hier als die Einheit der >Apprehension< konstituierend erweist, bleibt freilich an die Vorgegebenheit des Objekts in der Mannigfaltigkeit der Empfindungen gebunden. Gleichwohl müßte das Spiel des Synthetisierens als ein in der Zeitfolge sich vollziehendes, als ein >Lesen< verstanden werden — genau wie die Temporalstruktur der Synthesis der >Apperzeption< durch Husserls phänomenologische Analyse aufgeklärt worden ist. Immerhin hat der Sonderfall des mathematisch-Erhabenen bereits in diese Richtung gewiesen, in der die Zeitgestalt, die erst recht das »freie Spiel« der
4 MANFRED FRANK, Die Aufhebung der Anschauung im Spiel der Metapher. In: Neue Hefte für Philosophie 18/19 (1980), S. 58-78.
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ter Form aufgrund des Geniebegriffs, den Kant aufgegriffen hatte, der idealistischen Philosophie der Kunst Pate gestanden hat. Jedenfalls ist die traditionelle Einordnung der »Kritik der Urteilskraft« in die Ästhetik und Kunstphilosophie einseitig und mißlich. Kants dritte »Kritik< wollte nicht eine Ästhetik neu begründen5. Sie hatte vielmehr eine Frage von weit mehr grundsätzlicher Bedeutung im Auge. Das hegt in der Komposition der >Kritik der Urteilskraft offen zutage, zumal in der Einleitung, wo nicht so sehr die ästhetische Urteilskraft als die ideologische Urteilskraft im Blick steht. Es entspricht dem auch, daß Kants dritte >Kritik< mehr als die beiden anderen für das idealistische Denken im ganzen wirksam geworden ist. Das gilt nicht so sehr fur Schiller, der in seinen >Briefen über die ästhetische Erziehung« sich weitgehend an Fichte orientiert, sondern vor allem für Schelling und Goethe. Ihm hat die teleologische Urteilskraft besonders viel bedeutet. Überhaupt aber hat die dritte >Kritik< als Ganzes den Systemgedanken legitimiert, den die »deutsche Bewegung« von Fichte bis Hegel zu wahrem Glanz entfaltet hat. So lag es nahe, daß die Idealisten nicht dem Naturschönen, sondern der Kunst angesichts ihrer Nachbarschaft zur Philosophie den methodischen Vorrang eingeräumt haben. Das wirkt fort in den Geisteswissenschaften und daher auch in der Hermeneutik und der in den Geisteswissenschaften implizierten Philosophie. In diesem Zusammenhang war auch nicht die scharfe Unterscheidung von Anschauung und Begriff zu befolgen, wie sie die >Kritik der reinen Vernunft« vornimmt. Daran hatte seit Fichte auch der Neukantianismus festgehalten, und Ernst Cassirer hat das in seiner Philosophie der symbolischen Formen fortentwikkelt. Unter Anschauung ist all das zu verstehen, was im Bereich der Einbildungskraft liegt und im Blick auf die Kunst von Hegel »die Anschauung des Geistigen« genannt wird. Das will keineswegs als Gegensatz zu Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft verstanden werden. Es bedurfte meinerseits einer genaueren Analyse, wie ich sie in »Wahrheit und Methode« vorgelegt habe, um zu erkennen, daß die Auszeichnung des Geschmacksurteils durch den berühmten Begriff des »interesselosen Wohlgefallens« keineswegs auf eine Dekorationsästhetik hinausläuft. Wenn Kant die Kunst als >Kunst des Genies« definiert, so schließt das ebenso selbstverständlich wie ausdrücklich ein intellektuelles Interesse ein, das mit Kunst verbunden ist,
des· Bürgertums. Mir lag nun daran zu zeigen, daß es nicht angeht, die Frage der Kunst von der Frage nach der Wahrheit abzulösen und die Kunst um all das zu verkürzen, was sie uns an Erkenntnis vermittelt. Auf den ersten Blick scheint das wie eine Stellungnahme zu den alten Streitpositionen zwischen Formästhetik und Inhaltsästhetik und als eine Option für Hegel gegen Kant. Nun habe ich aber gerade die Berufung auf Kant und seine Lehre vom Geschmacksurteil, wegen ihres Mißbrauchs dieser Lehre für die Kunsttheorie, kritisch im Auge und habe deswegen die »ästhetische Nichtunterscheidung« als Warntafel aufgestellt. Ich verkenne damit nicht die besondere Entwicklung, die die Kunst unseres Jahrhunderts genommen hat, also etwa iri der gegenstandslosen Malerei. Der Sache nach stellt sich das Problem aber seit langem der Philosophie der Kunst, nämlich mit der durch die Wiener Klassik erreichten Gestaltungshöhe der absoluten Musik. Dort ist die ursprüngliche Einheit von sprachlichem Wort und musikalischer Tonsprache ebenso aufgelöst wie in der modernen Malerei die Bindung an die Abbildlichkeit. Noch etwas zeigt sich in der modernen Musik ähnlich, nämlich eine neue Freigabe für die Reproduktion, das heißt für die musikalische Interpretation. Sie erscheint wie ein freies Nachbilden einer Vorlage, das etwa der Freiheit des Lesens entspricht, das seinen Text akzentuieren kann, wie man will—es sei denn, daß man verstehen will. Auch die absolute Musik verlangt so etwas wie »Verstehen«. Es ist doch ohne Zweifel ein anderes Hören, als wenn man auf einen Vogelgesang hört. Kant hat zur Schilderung des Reizes des Naturschönen die hübsche Geschichte erzählt, wie ein findiger Wirt eine künstliche Nachtigall aufstellte, aber damit nur allen Reiz und Zauber zerstörte. Kants Geschichte wiederholt sich jetzt in der umgekehrten Richtung, in dem jetzt nicht die Natur, sondern die Kunstausübung der Musik den Zauber des Schöpferischen ausübt. Eine noch so vollkommene Reproduktion von Musik, wie wir sie heute besitzen, ist eben doch nicht >hve<. So fragen wir uns: Was ist es, wenn wir dem Spiel der Tonfolgen zuhören? Was ist es, wenn wir Bildgestaltungen betrachten, die nichts-bedeutenden Farben-und Linienspielen nachspielen? Sind es nicht wie in Anschlag gebrachte Begriffe? Was ist das für ein Hören? Was ist es für ein Sehen? Wenn da nichts ist, das man wiedererkennt - oder besser: eigentlich erkennt - , ist das dann vielleicht wie ein nur in Anschlag gebrachter Begriff?
Kants Lehre vom interesselosen Wohlgefallen hat gleichwohl in die ästhetischen Untersuchungen über Kunst im 19. Jahrhundert überall Eingang gefunden, nicht zuletzt dank der Inanspruchnahme dieser Lehre durch Schopenhauers Willensmetaphysik und deren Eindringen in die Bildungskultur
Nun scheint mir freilich, daß angesichts dieser Erfahrungen die Subjektivitit des Gefühls, auf die sich Kant für das Apriori im Zusammenhang der »Kritik der Urteilskraft« beruft, nicht ausreicht, um das Wesen der Kunst zu begreifen. So fallen auch die späteren Kapitel in der »Kritik der Urteilskraft« (§50 und die folgenden) durch ihre Zeitgebundenheit auf, insbesondere seine Lehre von den ästhetischen Attributen, ganz zu schweigen von seiner geselligen Einschätzung von Musik. Gewiß hat Kant sonst nicht versäumt, die Freiheit des Genies der Disziplinierung durch den Geschmack unterzu-
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Das hat WOLFGANG WIELAND in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung von 1985
näher ausgeführt. Inzwischen veröffentlicht in der Deutschen Vierteljahrsschrift Bd. 64 (1990), S. 604-623.
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ordnen. Indessen hat die Genielehre und der Subjektivismus der ästhetischen Thematik zur Folge gehabt, daß die Benutzung des Spielbegriffs durch Schiller in diese Richtung ging. Der Mensch, der spielt, ist gar nicht das wirkliche Thema, auf das es ankommt. Kant meint vielmehr, daß unsere Einbildungskraft spielt und sich mit dem sonstigen geistigen Vermögen vereint ergeht, so daß es auf diese Weise zu Gebilden kommt, die nicht durch verständige Regelanwendung konstruiert werden. Das war es ja, was an Kants Beschreibung der Erfahrung des Schönen als Belebung des Lebensgefühls durchaus richtig scheint. Unsere oberen Erkenntnisvermögen, Einbildungskraft und Verstand, werden durch die Erfahrung des Schönen in freies Spiel versetzt. Darin liegt nun aber ein Bezug auf das Erkenntnisvermögen im ganzen, und das ist der Punkt, auf dem man für die Beziehung der Kunst auf Wahrheit bestehen muß. Die freie Einbildungskraft, um die es sich hier handelt, ist zwar nicht die transzendentale, die sich dem Begriff unterordnet. So gilt es, die bildenden Künste und die literarischen Künste aus ihrem gemeinsamen Grunde heraus als Kunst zu verstehen, und dazu genügt es nicht allein, das allen Künsten Gemeinsame von der Hebung des Lebensgefuhls her zu interpretieren, die auch das Schöne und Erhabene in der Natur bewirkt. Dazu bedarf es eines stärkeren Eindringens in das, was ich in der Kritik am ästhetischen Bewußtsein als ästhetische Nichtunterscheidung6 unterstrichen habe. Ich kann denen nicht folgen, die, wie manche Interpreten, nun die Erfahrung der Kunst auf ästhetischen Genuß einschränken wollen (H. R. Jauß), aber auch nicht denen, die mir Geschichtsgläubigkeit nachsagen, die den autonomen Anspruch der Kunst verkennt (O. Becker). Beides widerspricht ganz und gar dem Sinn der ästhetischen Nichtunterscheidung. Oskar Becker stellt mir geradezu die Frage, wie ich etwa die Erscheinungen der gegenstandslosen Kunst verstehen wolle. Becker wollte damit nicht eigentlich meine Untersuchungen zur hermeneutischen Grundlegung der Geisteswissenschaften anfechten. Um so entschiedener wollte er aber die Rolle zurückweisen, die ich der Kunst in meinem hermeneutischen Entwurf zugewiesen hätte. Er sah darin den Ausdruck einer dogmatischen Geschichtsgläubigkeit und fand mich geradezu in Geschichtsgläubigkeit ertrunken. Da mußte sich Becker dann selber verwundern, daß ich mich in meinen phänomenologischen Analysen zur Kunst in so vernünftiger Weise zum Spielbegriff geäußert hätte. In der Tat paßt meine Behandlung des Spielbegriffs überhaupt nicht zu dieser angeblichen Geschichtsgläubigkeit. Ich befinde mich in Wahrheit durchaus in der Nähe zu Kant selbst, wenn dieser von dem freien Spiel der Erkenntnisvermögen spricht.
Unterscheidung. Ich habe in der Analyse des Begriffes der Anschaulichkeit die Gelegenheit wahrgenommen, vom Wort her, das heißt von der sprachlichen Darstellung aus, ob rhetorisch oder dichterisch, das in >Wahrheit und Methode<7 als Ontologie des Bildes Dargelegte neu zu beleuchten. Dort kommt das Urbild zur Darstellung, und zwar gerade dadurch, daß es kein Abbild ist, sondern wirklich ein Bild ist. So ist es auch hier im Sprachlichen. Die noch so realistische Geschichte, die da erzählt wird, oder die Situation, die da durch ein Gedicht evoziert wird, bildet nichts Wirkliches ab. Vielmehr erhebt sich das Dargestellte zu gültiger Allgemeinheit und bleibendem Bestand. Es erreicht die Dimension des Gültigen und des Wahren, gerade weil es kein Abbild ist. Es ist wie ein Bild, das seine eigene Bildhoheit hat, und als Dichtung hat es seine eigene dichterische Freiheit, in der sie viel Unnennbares in Anschlag bringt. So hat das Werk der Kunst eine Art von Selbstbeglaubigung, wie sie sonst der Mythos hat, dem man ja auch nicht eigentlich >glaubt<, sondern in dessen Seinsmacht man steht8. So ist Kunst da - für den Zuhörer, Leser, Sänger, Spieler und Zuschauer. Der englische Ausdruck >fiction< suggeriert einen Wirklichkeitsbegriff, der einen solchen Seinsanspruch selber aufhebt. Es scheint mir das Gleichgewicht wieder herzustellen, wenn ich dafür den staatsrechtlichen Begriff der Repräsentation einführte, der dem Bild wie dem dichterischen Wort eigen ist.
Es gilt, die innere Verschränkung des Formalen und des Inhaltlichen in der Erfahrung der Kunst festzuhalten. Das ist der Sinn der ästhetischen Nicht-
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Ges. Werke Bd. 1, S. 139ff. (>Die Seinsvalenz des Bildes<). Ausführlicher zum Begriff des Mythos siehe im vorhergehenden > Mythos Und Vernunft« (Nr. 13) und die sich daran anschließenden Beiträge. 8
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Zu diesem Begriff siehe >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 122ff.
Ende der Kunst?
18. Ende der Kunst? Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst bis zur Anti-Kunst von heute (1985)
Das Thema >Ende der Kunst« bedeutet fur uns nicht einfach das gleiche, was es so oft im Leben und in der Entfaltung der Kunst des Abendlandes bedeutet hat, nämlich die Reaktion einer Generation auf den Wandel der Dinge und vor allem der Geschmacksdinge, welche eine jüngere Generation als das Richtige präsentiert. Es sind meist die älteren Jahrgänge, die die neue Kunst mit Kopfschütteln zurückweisen, als sei sie das Ende allen guten Geschmacks und wirklicher Kunst. Heute handelt es sich offenkundig um einen tieferen Bruch und Einbruch, um eine radikalere Fraglichkeit und Fragwürdigkeit, die uns alle fordert, der Situation denkend gerecht zu werden. Es ist im Grunde der Niedergang der Bildungsgesellschaft und ihrer ästhetischen Kultur, was uns im industriellen Zeitalter von heute vor unsere Frage nötigt. Wir suchen Denkhilfen für diesen Vorgang. Auch dieser Bruch ist gewiß nicht nur ein Abbruch, sondern wie jeder Bruch etwas, was auch Keimstätte für neues Wachsen zu werden vermag. Wenn wir uns fragen, wo wir denkende Hilfen finden, um mit dieser Aufgabe zurecht zu kommen, so legt sich Hegel im besonderen nahe. Von ihm ist das Thema des Endes, nicht nur für die Kunst, sondern in einem viel weiteren Sinne, zuerst formuliert worden. Hegel, dieser tapfere Schwabe, hat behauptet, in seinem eigenen Denken die Vollendung der gesamten Denk- und Seelengeschichte des Abendlandes, nein, der Menschheitsgeschichte überhaupt, begriffen zu haben. Er war der Überzeugung, daß die Geschichte in einem gewissen Sinn zu Ende sei, sofern über das Prinzip, unter dem der Gang der Weltgeschichte seinen Lauf genommen hat, keinerlei Zweifel und Diskussion mehr möglich sei - es sei der Weg zur Freiheit aller, der die Vernunft in der Geschichte ausmache. Das ist die bekannte Lehre Hegels, von der wir sagen dürfen, sie hat mit sicherem Urteil ein Prinzip wahrhaft bewußt gemacht, das mit der Französischen Revolution zu seinem letzten Siege gekommen, aber im Grunde mit dem Christentum in die Welt getreten war. Daß jeder Mensch
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frei sein sollte und daß es keine Sklaven und keine Versklavung geben sollte, darüber kann nicht mehr gestritten werden. Geschichte besteht in dem Versuch, dieses Ideal zu verwirklichen; so hat Hegel gelehrt, und deswegen geht die Weltgeschichte im Zeitalter der Revolutionen, die diese Verwirklichung anstreben, erst recht weiter, als der Kampf von Herrschaft gegen Herrschaft und um Befreiung von Herrschaft — ein Kampf, dessen Ende nicht abzusehen ist. Es ist aber nicht nur das Ende der Geschichte, das vor unserer wirklichen Erfahrung in zweifelhaftem Lichte erscheint. Ähnlich ist es mit dem Ende der Metaphysik, das im beginnenden 19. Jahrhundert unter dem Stichwort des >Positivismus<, der >philosophie positivem durch August Comte zuerst proklamiert worden ist: »Das Zeitalter der Metaphysik ist zu Ende. Wir sind in das Zeitalter der Wissenschaft eingetreten. « So hieß es und wurde immer wieder versichert. In unserem Jahrhundert hat zuletzt Martin Heidegger die gleiche These sozusagen bis ans Ende durchgezogen, indem er - wie Nietzsches Vision des letzten Menschen — auch das Ende der Philosophie überhaupt meint und darin sieht, daß eine allgemeine Unbedürftigkeit in bezug auf die Frage nach dem Sein im Zeitalter der technischen Weltvollendung herannahe und daß ein anderes Denken not tue. Es sind diese drei End-Ansagen - der Geschichte durch Hegel, der Metaphysik durch Comte, der Philosophie durch Nietzsche und Heidegger -, an die ich anknüpfen möchte. Besonders will ich mich der Denkhilfe zuwenden, die Hegels Behauptung von dem Vergangenheitscharakter der Kunst darstellt. Es ist eine sehr schwäbische Formulierung, wie man wohl zugeben muß, nicht gerade blitzend von Witz und blendend durch Eleganz, wohl aber von schockierender Schroffheit. Sie trifft etwas Wesentliches und wird uns vielleicht noch wesentlicher vorkommen, wenn wir sie einmal länger bedenken und unsere heutige Frage in ihr wiedererkennen. Wenn es nach Hegel Wissen und Wissenschaft ist, was >die Kunst< zu etwas Vergangenem mache, so ist freilich für ihn >Wissenschaft< nicht dieser atemberaubende Fortschritt der Erfahrungswissenschaften, den wir mit der Parole des Positivismus verbinden, sondern die begreifende Zusammenfassung alles unseres Wissens, die in einem letzten Sinne als die Wissenschaft des Begriffs, als >Philosophie<, selbst noch die Aufgabe der Kunst überholt habe und eine höhere Form der geistigen Bewußtheit darstelle. Die These von dem Vergangenheitscharakter der Kunst meint bei Hegel diese Tatsache, daß sich in der klassischen Epoche der griechischen Skulptur das Göttliche in der Erscheinung der Kunst unmittelbar als die Wahrheit selbst dargestellt habe. Noch das Zeitalter des überweltlichen Gottes, also des Christentums und seiner Botschaft, konnte in der Form der Erinnerung und der Pflege des Gedächtnisses an dieser Wahrheit des Göttlichen teilhaben. Es sind die sogenannten romantischen Künste, wie es im Sprachgebrauch der Hegel-
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sehen Zeit hieß, insbesondere also Malerei und Musik und gewiß auch die allgemeine Kunst, die Poesie, die in dem christlichen Zeitalter diesen Nachklang des Gedächtnisses der Götter bewahren. So verstanden, meint Hegels Lehre von dem Vergangenheitscharakter der Kunst nicht in erster Linie, daß die Kunst keine Zukunft mehr habe, sondern daß sie in ihrem Wesen immer schon vergangen ist, wenn sie auch fortblühen mag, bis in welche Zukunft immer. Sie ist von vornherein schon durch eine andere Möglichkeit der geistigen Erfassung des Wahren überholt, die Hegel der Sache nach in der Botschaft des Neuen Testamentes sah, wenn dieses von dem »Anbeten im Geist und in der Wahrheit« sprach. Die Wahrheit des Christentums in den Begriff erhoben zu haben, war daher der Anspruch seiner eigenen philosophischen Lehre. Die kühne These vom Vergangenheitscharakter der Kunst will weit weniger, als man im allgemeinen herumerzählt, eine Kritik der Kunst seiner eigenen Zeit sein. Indessen ist es doch kein Zufall, daß gerade in dieser Epoche, in die Hegel gehört und die für uns vor allem die Epoche Goethes ist und für die Philosophie den Zeitraum der philosophischen Bewegung von Kant bis Hegel meint, der Kunst im Ganzen des Haushalts menschlicher Wahrheitssuche ein bevorzugter Platz des Interesses eingeräumt worden ist. Hegels Vorlesungen zur Ästhetik gehören zu den Werken Hegels, die das Denken der kommenden Zeit am tiefsten bestimmt haben. In jedem Falle sind es diejenigen seiner Vorlesungen, die durch eine schriftstellerisch glänzende Bearbeitung von einem seiner Schüler so lesbar gestaltet sind, daß Hegel wie ein Lehrer zu sprechen vermag, der auf die lebendigen Fragen seiner Zuhörer eine Antwort hat. Wenn Hegel seine Bücher schrieb, seine >Phänomenologie des Geistes< und seine >Logik<, war es für einen sehr engen Kreis von der Hingabe an das Denken fähigen Männern. Es war ähnlich wie etwa bei Heidegger, als er in seiner späten Phase seine rätselvollen Essays in die Welt sandte, die weitgehend verschlüsselt blieben — im Vergleich* zu der Wucht seiner gegenwärtigen Stimme, mit der er lehrend und redend seine Zuhörer ansprach. Die Vorlesungen Hegels zur Ästhetik stellen als Ganzes eine Antwort dar, die auch der Wendung von dem Vergangenheitscharakter der Kunst ihre Bestimmtheit zu geben vermag. Hegel sieht in der Kunst die Gegenwart der Vergangenheit. Das ist die große neue Auszeichnung, die die Kunst in unser aller Bewußtsein in der Tat gewonnen hat. Es bestätigt uns das nicht zuletzt der Sprachgebrauch. Jetzt erst, im 19. Jahrhundert, beginnt der Ausdruck >die Kunst« seinen engeren und eindeutigen Sinn zu gewinnen, nämlich das zu bezeichnen, was man früher als die >schöne Kunst< von den anderen menschlichen Künsten, der Handwerkskunst und mechanischen Kunst, ausdrücklich unterscheiden mußte. >Die Künste als die Gegenwart der Vergangenheit ist nicht einfach ein Aspekt jenes Aufkommens eines geschichtli-
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chen Bewußtseins, das im Grunde in der christlichen Konzeption der Heilsgeschichte seine erste Prägung erfahren hat und in der säkularisierten Heilsgeschichte des Zeitalters der Aufklärung seine letzte Ausprägung fand, der auch Hegels Gesamtkonstruktion der Weltgeschichte noch zuzurechnen ist. Was sich in der romantischen Kritik an der Aufklärung meldet, ist etwas anderes. Es ist das neue Bewußtsein der Andersartigkeit aller Vergangenheiten, das sich am Ende einer langen Tradition der Metaphysik wie der heilsgeschichtlichen Gesamtperspektive Bahn bricht. In diesem Augenblick bedeutet >die Kunst/ etwas Neues. Durch die essentielle Gleichzeitigkeit aller Kunst wird etwas bewußt, das eine letzte Überlegenheit über die Geschichte darstellt. Das hat in der Hegeischen These in gewissem Sinne sein erstes, verstecktes Selbstbewußtsein gefunden. Es ist jedenfalls etwas entscheidend Neues, das damals im 19. Jahrhundert aufkam und den Fortgang der Kunst bestimmt hat. Es war das Ende der großen Selbstverständlichkeit der christlich-humanistischen Tradition. Was damit verloren ging, war der allen gemeinsame Mythos. Dabei verstehe ich unter >Mythos< nicht das Feierliche, was der Laie mit diesem Wort im allgemeinen zu verbinden pflegt, und auch nicht den religiösen Gegenbegriff gegen den wahren Gott des Christentums. Mythos soll hier nur heißen: das, was man erzählt, und zwar so erzählt, daß keiner daran auch nur zweifeln mag, so sehr sagt es uns etwas1. Mythos ist das, wovon man erzählen kann, ohne daß jemand auf die Frage gerät, ob das auch wahr sei. Es ist die alle verbindende Wahrheit, in der sich alle verstehen. Genau das ist es, was damals zu Ende ging - die Selbstverständlichkeit der christlich-humanistischen Tradition. Daß das so ist, dafür brauchen wir nur um uns zu blicken. Es ist das Ende des letzten gemeinsamen Baustiles unserer abendländischen Zivilisation, das Ende des Barock und seines Ausläufers im Rokoko. Seitdem gibt es kaum noch mehr etwas ebenso allgemein Verbindendes und für eine ganze Epoche Verbindliches, das in der Baugesinnung sich bekundet und als Baustil herrscht. Es ist eine Vielfalt von Bauformen und Stilformen, die nebeneinander stehen. Bezeichnend, daß die erste Bauform, die wie ein Stil die öffentlichen Bauten geprägt hat, damals der Klassizismus war. Schon der • Name zeigt die künstliche Anlehnung an ein älteres Vorbild. Man denkt an München und an Klenze. Dieser ersten Bauform folgen andere Wiederanknüpfungen, sei es an das Barock, sei es an die Renaissance, sei es an die neue Gotik und gar an die Romanik in unseren Bahnhöfen. Was uns hier die Baukunst verrät, gilt allgemein. Die Selbstverständlichkeit, in der ein öffentliches Bewußtsein sich in öffentlichen Bauten Ausdruck gibt, ist dahin. Ob es sich nun um Lebensordnungen des Kultus oder der 1
Siehe dazu im vorhergehenden Mythologie und Offenbarungsreligion<, S. 175 ff.
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Herrschaft handelt oder auch nur um das neue Lebensgefühl von Gewerbefleiß und bürgerlicher Tugend - es sind fur uns Werke der Kunst, aber ehedem waren es zugleich Werke, in denen sich alle wiedererkannten. Daher war es im Grunde keine ästhetische Unterscheidung, die den Kenner und Geschulten zur urteilsmäßigen Distanz befähigte, an den Schöpfungen von Baukunst, Malerei, Musik die Kunst, die hier am Werke war, von der Botschaft und Aussage zu unterscheiden, die hier Präsenz gewann. Der Mythos - nochmals in dem nüchternsten Sinne, den von mir vorgeschlagenen Begriff hier zu verwenden — galt für sie alle. Ich habe in meinen eigenen Untersuchungen dafür den künstlichen Ausdruck der ästhetischen Nichtunterscheidung eingeführt2 - und gerade darum handelt es sich, nicht um die Frage, ob einer so unterschied und ein anderer nicht. Beide hatten teil an dem gleichen. So fragen wir, was das Neue ist, wenn die Kunst sich als Kunst weiß. Wir müssen uns so fragen, wenn wir unsere Frage von heute klären wollen, ob Kunst aufhört, Kunst sein zu dürfen. Es stellt sich in einem neuen Sinne die Frage nach der Wahrheit der Kunst, sowie dieselbe nicht mehr anderen Bedürfnissen des Geistes eingeordnet ist, sondern sich ihrer selbst und wir ihrer als Kunst bewußt sind. Erst seit wir Kunst als Kunst denken, wird zur Frage, was ehedem sich selbst beantwortete. So ist es auch zu verstehen, wenn Heidegger im Zuge der Destruktion der metaphysischen Tradition des Abendlandes die Frage nach der Wahrheit der Kunst erneuert und von dem Ins-Werk-Setzen der Wahrheit spricht. Was dabei im Blick steht, ist das Ganze der Vergangenheit und Gegenwart der Kunst. Heute, wo sich alles in globale Dimensionen erweitert, wird in einer neuen Weite gefragt, weil alle Fernen - der Zeiten wie der Räume - in die Nähe einer neuen Gegenwärtigkeit gerückt sind und ihren Anspruch alle zugleich erheben. Von nun an haben wir mit einer Doppelgestalt zu tun, in der uns Kunst begegnet. Im Zeitalter des historischen Bewußtseins muß sie sozusagen nach beiden Seiten blicken, einmal auf die Gegenwart der Vergangenheit, die alle Kunst gleichzeitig sein läßt, und auf der anderen Seite auf die Kunst der eigenen Zeit, die allein mit uns zeitgenössisch ist. Das ist ein spannungsvolles Verhältnis geworden. Je mehr die ästhetisch-historische Bildung sich im 19. Jahrhundert und in unserem Jahrhundert ausgebreitet hat, desto mehr wird die Spannung empfunden. Das zeitgenössische Schaffen tritt mehr und mehr in den Schatten der großen Vergangenheit der Kunst, die uns als Gegenwart umgibt. Man denke etwa daran, wie die zeitgenössische Musik vorsichtshalber in die Mitte des Programms gerückt wird, damit niemand zu spät kommt und niemand zu früh geht. Das ist ein Symptom. Es drückt sich darin etwas aus, das niemandem zur Last zu legen ist. Es ist die Spannung, in die unser gesamtes Kunstbewußtsein geraten ist 2
>WahrheitundMethode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 122ff.
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und die sich in unserem Jahrhundert immer mehr verschärft. Man denke nur an die Explosion der Malerei im Anfang unseres Jahrhunderts, die Entstehung der gegenstandslosen Malerei, oder an die Parole der Anti-Kunst, die heute dem Widerstand sowohl gegen unsere Industriegesellschaft und die allgemeine Reproduzierbarkeit Ausdruck gibt wie gegen die Bildungsgesellschaft von gestern. Wieder wollen wir Hegel befragen. In seiner Ästhetik hat sich der Standpunkt der Kunst voll durchgesetzt. Das zeigt sich sogleich an der Behandlung, die der Begriff des Naturschönen erfährt. Vom Standpunkt der Kunst aus besitzt es gar keinen selbständigen Charakter mehr. Wir sehen immer nur mit den Augen der bildenden Künstler auf die Natur. Das ist ein tiefer Wandel. Der schöpfungstheologische oder kosmologische Hintergrund der Naturerfahrung hat sich so völlig aufgelöst, daß es nicht mehr die Schöpfung ist, deren Größe und Erhabenheit die Menschen anrührt, sondern die Seelenantwort, die die Natur uns zu geben vermag, und zwar in ihrer Unberührbarkeit vom menschlichen Wollen. Daß das Naturschöne und die Bestimmungen, die Kant von ihm abgelesen hat, auch der ästhetischen Theorie der Gegenwart ungefragt und ungewollt ihre Dienste anbieten, wie etwa das Beispiel Adornos zeigt, beruht nur auf der Verwechslung* von Geschmack und Kunst. Das sogenannte Schöne der Kunst aber hat Hegel als das »sinnliche Schemen der Idee« definiert. Das soll gewiß kein bestimmtes Stilideal formulieren, sondern eine philosophische Aussage über das sein, was Kunst als Kunst immer ist. Insofern wird zu fragen sein, wie diese Definition auch für die nachhegelsche Epoche und für unsere Zeit verstanden werden muß. Wie in dieser Definition der Begriff des Schönen durch Begriffe umgrenzt wird, enthält offenbar ein Äußerstes an Gegensatz, das Sinnliche und die Idee. Es ist die Unterscheidung des Piatonismus, die Trennung von »mundus sensibihs< und >mundus intelligibilis<, von sinnlicher und geistiger Welt, was offenkundig der Hegeischen Begriffssprache zugrundehegt. Mehr noch ist es die Versöhnung der beiden Welten, die im Schönen liegen soll, was eine unmittelbare Anknüpfung an Plato darstellt. Das Schöne ist eben die Erscheinung des Guten, ist das sinnliche Scheinen, der sinnliche Schein, der Splendor, der über das Erscheinende ausgegossen ist, so daß es als eine ideale Gestalt erscheint und scheint. Das sinnliche Scheinen der Idee verkündet also im Grunde die Deckungseinheit von an sich gänzlich Geschiedenem, von Idee und Erscheinung. Das ist es auch wirklich, was wir alle an den großen Stilepochen der Vergangenheit der Kunst bewundern und was wir ebenso angesichts des Gelungenen in der Gegenwart erleben, diese ununterscheidbarey nichtunterschiedene Einheit von Erscheinung und Gehalt. Gewiß klingt das zunächst wie das Stilideal der klassischen Kunst: daß der Gott in der Erscheinung der Skulptur gegenwärtig ist. Doch versteht sich die Ge-
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genwart des allen Gemeinsamen auch heute in der Erscheinung der Kunst über alle Bildungsstufen und intellektuellen Niveaus hinweg und erfährt in der Gestalt der göttlichen, der mythischen Gehalte die gleiche Gegenwart. Ob wir dabei an eine Bachsche Passion denken, die im Kirchenraum die Liebhaber der hohen Musik wie die wirklichen Mitglieder der christlichen Gemeinde zu gemeinsamer Erfahrung versammelt, oder ob wir an das griechische Theater denken, dessen Textbücher noch der Bildung von Generationen und dem Scharfsinn der Gelehrten unerschöpflichen Stoff bieten und das dennoch durch das Ganze des attischen Theaterpublikums hindurch, vom Handwerker bis zu den Spitzen der Gesellschaft, alle in seinen Bann schlug. Es ist die ästhetische Nichtunterscheidung, die Teilhabe an dem Gemeinsamen, was diese Solidarität im Empfangen allein möglich macht. Die Deckungseinheit zwischen Idee und Erscheinung bleibt in gewissem Sinne eine gültige Definition des Schönen der Kunst. Als eine selbstverständliche, vom allgemeinen Konsensus getragene, besteht sie freilich im 19. und 20. Jahrhundert nicht mehr. Auch nicht durch die Umwege einer künstlichen Politisierung, etwa im Zuge des aufstrebenden Nationalismus des 19. Jahrhunderts, kommt eine derart selbstverständliche Gemeinsamkeit in die Aussagen der Kunst. Das ist ohne Zweifel ein Verlust - und wie allem empfundenen Verlust entspricht ihm auch ein Bedürfnis und eine Anstrengung, das Verlorene wiederzugewinnen. Das prägt die Kunst der Moderne, nach dem Gemeinsamen und Selbstverständlichen auf der Suche zu sein. Mit >moderner Kunst< meine ich hier nicht nur die Post-moderne von heute, auch nicht nur die >Moderne< des frühen 20. Jahrhunderts. Ich meine all das mit. Gewiß gehört dies Moderne und Modernste dazu. Was sich aus dem Pseudohistorismus des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet hat - all das sind neue Wege des Wagens, neue Wege des Schaffens. Der Künstler ist getragen von dem Bewußtsein, daß eine >Aussage<, eine neue Versammlung auf das Gemeinsame, auf das Wahre hin, das alle eint, gelingen muß. Man versteht von da, was zu der Bildungsgesellschaft, dieser Erscheinungsform der bürgerlichen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, führen mußte, nachdem die Selbstverständlichkeit der Aussagen des zeitgenössischen Kunstschaffens verlorengegangen war.
Oder an das Heiligenbild, das in allem Wechsel der Auffassung niemals wie eine Verkleidung oder Maskierung wirkt, weil es als selbstverständlicher Ausdruck von frommer Verehrung das Selbstverständliche der sinnlichen Erscheinung einschließt. Erst seit solche Selbstverständlichkeit nicht mehr besteht, gibt es das Vorausgreifen auf den Effekt, das wir mir dem Phänomen des Kitsches verbinden. Es mag ein noch so edles Ziel sein^ das man auf diese Weise anzielt und das man verbreiten möchte. Der guten Zwecken dienstbar gemachte Kitsch ist nicht besser als der nur kommerziell gemeinte. Man darf >Kitsch< daher nicht einfach als einen negativen Quahtätsbegriff ansehen. Ein Werk minderer Qualität braucht nicht Kitsch zu sein. So glaube ich, daß es dort, wo es keinen Kunstbegriff gibt, der sich als eigener Standpunkt, in Loslösung von allen anderen Gemeinsamkeiten, etabliert hat, keinen Kitsch geben kann. Es hat das nichts zu tun mit dem Gestaltungsniveau als solchem. In der Bauerrikunst hegt bei aller Imitation, die da spürbar ist, kein Kitsch. Darin spiegelt sich vielmehr, etwa in der Hinterglasmalerei, die Selbstverständlichkeit gemeinsamer Inhalte, sei es religiöser, sei es profaner Natur. Der Reiz solcher naiven Kunstübung liegt geradezu darin, daß hier wie von selbst in Erscheinung tritt, was in dem Bemühen des Künstlers in unserer heutigen Welt nur in der Seltenheit des Gelingens eines Werkes seine Erfüllung findet. Ein Kunstwerk, das gelungen ist, ist immer ein gelungener Versuch der Einigung von Auseinanderfallendem.
Man versteht sogar - ein untrügliches Symptom für diesen Verlust —. warum gerade unter diesen Bedingungen das Phänomen des Kitsches aufgetreten ist. Wenn ich recht sehe, gibt es erst Kitsch, seit es das Verlangen nach einem Gemeinsamen gibt, das nicht mehr wie eine selbstverständliche Voraussetzung für alle da ist. Man denke etwa an die Selbstverständlichkeit, mit der in der großen Geschichte der Malerei das repräsentative Imperatorenbild mit all seinen uns so fernen Attributen des Pferdes und der Rüstung und des Marschallstabes dennoch hautnah an die kaiserliche Gestalt angepaßt ist.
Ich darf es an einem Beispiel illustrieren: an dem dichterischen Werk von Paul Celan, dessen gestalterische Kraft sich an seiner Aufgabe formlich verzehrt hat. Es war die Aufgabe, aus Sinnfragmenten, Klangfragmenten, die wie Trümmer beieinander liegen, dennoch so etwas wie Musik, ein neues Ineinanderspiel des Unvereinbaren, hervorgehen zu lassen. In den seltenen Augenblicken, in denen dann ein Leser das Gedicht in seiner inneren Einheit wirklich versteht, ist plötzlich ein Allgemeines da, etwas, das nun wie selbstverständlich gilt. Ich lese daran ab, was sich verändert hat und was geblieben ist. Da ist keine gemeinsame Stileinheit mehr, wie sie selbst der gebildete Laie etwa gegenüber großen Kunstperioden der Vergangenheit so stark empfindet, daß er den Personalstil des jeweiligen Künstlers überhaupt nicht auszumachen vermag. Jetzt scheint es vielmehr so, daß der Stil nicht da ist, sondern das Gesuchte wird, und es ist ein langer Suchvorgang, bis ein heutiger Künstler, seit eine selbstverständlich geltende Tradition nicht mehr bindet, seine eigene Handschrift zu finden weiß - eben eine, die die seine ist und doch lesbar sein soll. Es ist offenbar für beide Seiten eine Aufgabe, für den Künstler, der die lesbare Handschrift sucht, und für den Leser, der sich in diese Handschrift und das, was sie sagt, sozusagen einlesen muß. Das Beispiel lehrt, gerade das Auseinanderbrechen und Auseinanderfallen, vor dem wir heute stehen, stellt der Kunst ihre Aufgabe. Um es an einigen großen Künstlern des 19. Jahrhunderts zu illustrieren: Da können
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selbst klassische Themen eine neue Realisierung erfahren, wie wir das heute nicht so sehr bei den Nazarenern als etwa bei Feuerbach oder bei Marées bewundern mögen. Umgekehrt konnte etwa dem Bahnhof ein neuer Farbenzauber abgewonnen werden. So wird das entfremdete Klassische oder das befremdende Moderne in neue Einheit eingeholt — und das wird freilich eine Aufgabe nicht nur für den Schaffenden, sondern auch für den Aufnehmenden. Es ist die NichtSelbstverständlichkeit, die hier durch die künstlerische Werkgestalt neue Überzeugungskraft erlangen soll. Das kann zunächst von Hegels Aussagen her durchaus verstanden werden, und deshalb setzte ich mit Hegels Antworten ein. An der Malerei wird es am deutlichsten. Da ist eine neue Beliebigkeit experimenteller Art schon in der Wahl des Motivs gegeben, und selbst wenn alte Weltinhalte wieder auftreten oder alte Formen umformend übernommen werden, fordern sie zu neuen Wagnissen heraus. Immer wird nicht nur von dem Schaffenden, auch von dem Aufnehmenden die Überwindung von Fremdheit gefordert. Die Geschichte der modernen Malerei mutet dem Maler eine lange Reihe von Arbeitsversuchen zu und dem Beschauer das Sich-Einlesen in die Handschrift des Künstlers. Wenn auch Hegel meinte, daß alles erprobt und durchmessen sei und der Fortgang der Malerei sich in bloßen Variationen bewegen werde — in Wahrheit hat die Geschichte der Malerei geradezu Revolutionen durchlebt. Mit jeder neuen Wendung steigerte sich dabei die Zumutung an den Aufnehmenden so sehr, daß am Ende das Kunstwerk selber angesichts des Zugriffs der reproduzierenden Künste und angesichts der enorm gesteigerten Anforderungen an den Aufnehmenden seine Identität zu verlieren scheint. In Wahrheit ist, wie ich gezeigt habe, die innere Logik dieser Entwicklung bereits in Hegels Ausgangspunkt angelegt.
- man denke an Monets Kathedralen oder an Picassos 40 Varianten zu den Ninas des Velazquez. Vollends will die aufputschende Vitalität der neuen Rhythmen, die Steigerung des Plakativen, des Karikaturhaften, des Signalhaften die in sich ruhende Selbigkeit des Werkes hinter sich lassen. Gleichwohl ist es, wie mir scheint, voreilig, dem Begriff des Werkes deshalb seine Legitimität zu bestreiten. Es bleibt doch wahr: Während das Werkstück handwerklicher oder industrieller Fertigung sich im Gebrauch erfüllt und verzehrt, mag das Kunstwerk noch so sehr in Lebenszwänge und Lebenszwecke eingefügt werden — es hebt sich heraus. Es gewinnt Bestand. »Einmal stand es doch unter den Menschen« (Rilke). Da ist zunächst der Künstler selbst, der unter den unzähligen Arbeitsversuchen, die seinem Handwerk dienen, dieses oder jenes als zu seinem Werke gehörig bezeichnet Das nennt man dann sein Œuvre. Da ist aber auch der Aufnehmende. Ich erinnere mich mancher Orgelimprovisationen Günther Ramins nach der Motette der Thomaskirche in Leipzig. Nicht immer, aber zuweilen mochte man gar nicht hinausgehen, so hielt die Improvisation des Orgelnachspieles einen fest. Flüchtig, einmalig, unwiederholbar - im Urteil gewann es Bestand, als dies eine vom Hörer ausgezeichnet. Das heißt ja >urteilen<: auslesen (oder verwerfen), ins Licht des Gültigen herausstellen. Das ist wahrlich keine leblose Identität des Werkes, gegen die man Differenz aufbieten müßte. Stets ist da Eintritt in ein Neues von Gültigkeit, in eine bleibende und zugleich in sich verwandelnde Gültigkeit. Mag sein, daß die Tage des Tafelbildes sich ihrem Ende zuneigen, daß der große Wanddekor eines Tapies oder eines Miro, oder daß die ins Freie drängenden Skulpturen und Male eines Henry Moore oder Serra eine eigene Bildhoheit der großen Flächen und Räume gewinnen und dem Eilen und Hasten unserer Lebenswelt tiefer entsprechen, als es im Rahmen von Galerien möglich ist - alles, was als ein Kunstwerk Bestand hat, hält uns fest, läßt uns verweilen, mitten im Sturmgebraus.
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Damit haben wir uns dem Diskussionsstande genähert, der heute die Szene beherrscht. Das Experiment hat alle Grenzen gesprengt. Die Bilderwartung des Laien wird aufs äußerste strapaziert. Wir stehen am Ende einer langen Herausforderung, die durch kubistische Formzertrümmerung, durch expressionistische Gestaltverformung, durch surrealistische Verrätselung, durch wachsende Bildentleerung ins Gegenstandslose hinein schließlich zu einem resoluten Bildzweifel und Kunstzweifel überhaupt geführt hat3. Das Kunstwerk soll nicht länger einem Konsumenten zu unverbindlichem Genuß vorgelegt sein. Der Künstler möchte provozieren, irritieren, und mancher möchte sein Werk nur noch wie eine Art Vorschlag verstehen, der andere zu nachgestaltendem, fortführendem Tätigwerden einlädt. So wird etwa in der seriellen Musik dem Interpreten die Reihenfolge der Darbietung überlassen. So muß der Beschauer eines Bildes sich von oft wechselnden Lesarten des gleichen Bildes überzeugen und verwirren lassen 3
Siehe dazu in diesem Band >Vom Verstummen des Bildes< (Nr. 28).
Machen wir die Probe, indem wir altem phänomenologischem Brauch folgen und von den Extremen auf die gemeinsame Mitte hinzielen. Was läßt etwas Kunst sein, ehedem wie heute und morgen? Als solche Extreme sehe ich (mit Hegel) die Architektur und die Poesie an. Die eine steht unverrückbar in die Zeiten, Verwitterungen und den Verfall hinein — und auf der anderen Seite tradiert sich die alle Räume und Zeiten überlebende, überwindende Kunst des Wortes, die Dichtkunst. Fragen wir, wie in diesen extremen Formen von Kunst zwischen Schaffendem und Aufnehmendem das Werk seinen Stand hat und sein Leben gewinnt. Die Frage so stellen heißt von vornherein der falschen Alternative von Produktion und Rezeption, von Produktionsästhetik und Rezeptionsästhetik den Boden entziehen. Nicht nur, daß von beiden Seiten die jeweils andere Seite immer mit umfaßt wird: Da ist von Seiten des Künstlers der Vorblick auf die Wirkung als
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Erfüllung einer Erwartung, als Übertrumpfung einer Erwartung oder als Kontrastwirkung zu einer Erwartung. Auf der anderen Seite begegnet das Werk der Kunst stets so, daß ihm oder dem Künstler, der sein Schöpfer ist, so etwas wie eine Intention oder eine Idee seitens des Aufnehmenden zugeschrieben wird, und das so, daß unter Umständen das Werk selbst hinter seiner Idee zurückbleiben mag. Beide Übergriffe von der anderen Seite her bleiben aber ihrerseits Antizipationen, und die eigentliche Wirklichkeit sieht anders aus. Als das gelungene, geglückte ist das Werk weder die bloße Erzielung einer geplanten Wirkung, noch auch, von der anderen Seite her gesehen, darf die Idee, die der Aufnehmende darin erkennt, beanspruchen, die Sache ganz zu erfassen. Es ist wie ein echter Dialog, daß Unvoraussehbares eintritt und dem Fortgang des Gespräches seine Richtung weist. So sprechen wir in der Architektur vom Bauplan des Baumeisters und von der Bauidee, die der Bewunderer in dem Bau erkennt. Oder wir sprechen von dem, was der Dichter in seinem Gedicht gemeint hat, und von dem, was uns daraus anspricht. Auch das Gedicht sagt mehr, als der eine oder andere heraushört. Das Verstehen will nicht wiedererkennen, was einer gemeint hat. Es geht um mehr — um etwas, was weder der Dichter weiß, noch irgendein anderer sagen kann, und was doch nicht beliebig oder subjektiv ist. Wie es ist, wird zu fragen sein. Da ist der Bauherr und der Architekt. Nicht eine Inspiration, ein Traumbau, wie ihn gewiß jeder Baukünstler träumt oder in der Schublade hat, sondern da ist ein gegebener Platz und ein bestimmter Zweck und eine vorgegebene Umgebung, städtische oder ländliche, und ganz gewiß ist es erst das, worin sich die Kunst des Architekten erfüllt: sich in die Raumgegebenheiten fugen und neue Raumordnung stiften. Bauten sind niemals Utopien. Im Bauwesen hat sich stärker als in anderen Kunstbereichen gehalten, welche Führungsfunktion allem Schaffen durch Bedarf und Zweckbestimmung und den Auftrag zuteil wird. Wir sagen dann, der Künstler sei hier weniger frei, und das mag wahr sein. Vor allem mag die moderne Selbstauffassung des Architekten nicht unberührt gebheben sein von dem allgemeinen Wandel, den der Aufstieg der Kunst zur Autonomie gebracht hat. Es ist vor allem das Vorherrschen des freien Bildschaffens und die Verbreitung dessen durch die Reproduktionstechnik unseres Jahrhunderts, die auch noch auf den Baukünstler und die Erfahrung der Baukunst durch den Aufnehmenden zurückwirkt. Wer Gebäude wie Bilder sieht (oder gar nicht mehr hinsieht, sondern nur noch knipst), der vergißt, daß sie im Räume stehen und Räume schaffen; daß man um sie herum und in sie hineingeht und daß sie nicht primär zu touristischer Besichtigung dastehen, sondern im Lebensvollzug ihren Platz haben - als Kirche, Rathaus, Bank, Bad, Sporthalle und was immer — und daß einem plötzlich doch bewußt wird, wie fast unmerklich etwas anderes nebenherspielt, etwas, das einen zum Verweilen nötigt;
etwas, das man wie eine Antwort versteht und worin man sich selbst erkennt. Die Entwöhnung vom Blick auf das Vorgegebene, die der konstruktiven Abstraktionskraft der modernen Technik entspricht, hat in Wahrheit viel zerstört, Städte und Straßen, Räume und Plätze, und erst recht die Aufnehmenden blind werden lassen — als ob ein Bauwerk je ein isoliertes Kunstwerk sein darf und keine andere Bestimmung hat, als seiner Zeit Ausdruck zu geben, als ob es nicht vielmehr immer in eine von weither vorbestimmte Lebenswelt hineingebaut würde. Selbst das ist noch nicht %enug, den Blick auf das Vorgegebene zu richten, von dem aus ein Bauwerk als die rechte Lösung erscheinen mag. Es steht ja auch Weiterhin in die Lebensfluten hinein, die es umrauschen, und da sind immer Menschen, die es nicht nur bewundern, sondern in ihr Leben einbeziehen. Etwas, das am Rande lag, wird in die Stadt eingesogen, unvoraussehbar — und wieder wird, wo es der Stadt oder der Landschaft gelingt, das Gebaute in sich einzufügen, ein neuer Akzent gesetzt, durch den das Alte ein Neues wird. So sah ich einmal in Bordeaux, wie dort die mittelalterliche Stadt im 18. Jahrhundert durch Neubebauung und durch die neue Gewkhtung der engen, geraden Straßen, die sich vom Hafen in die Stadt hineinziehen, ein neues Gesicht erhalten hat, und allbekannt ist die Baugestaltung von Paris, dessen Wachstum noch die phantastischsten Pläne eines Napoleon übertroffen hat. Vor einigen Jahren war ich in meiner Heimatstadt Breslau. Als ich dort aus dem unzerstörten Hauptbahnhof heraustrat, fiel mein Blick sofort auf eine riesige Kirche, die ich mein Leben lang nie gesehen hatte. In Wahrheit war inzwischen allerhand Schreckliches des späten 19. Jahrhunderts in Trümmer gegangen, und die Kirche war neu zu sehen. So gewinnt ein Bauwerk neue Raumkräfte, die niemand voraussah. Auch der heutige Architekt, der über ungeahnte neue Mittel verfugt und vor Aufgaben gestellt ist, die ganz aus der eigenen Zeit erwachsen, steht mit seiner Kunst im Dienste dieser Kontinuität zwischen Gestern und Morgen, die seine Schöpfung aufnimmt und weitergibt.
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Dagegen scheint die Poesie, und insbesondere seit sie Literatur ist und einer Epoche der Lesekultur zugehört, deren Ende wir uns vielleicht nähern, von all solchen Raum- und Zeitbedingungen unabhängig. So sieht es zunächst aus. Aber vielleicht verbirgt sich hinter diesem Schein eine tiefere Abhängigkeit. Man braucht sich nur zu fragen: Sind die Freiräume und die Freizeiten, die das moderne Arbeitsleben gewährt, noch eine Einladung zum Lesen, und gar zum Lesen von Gedichten? Da mag man gewiß Zweifel hegen. Aber wer weiß, ob in dem gesamten Haushalt menschlicher Kräfte, die sich heute mit solcher Einseitigkeit auf die technische Zivilisationsform unseres Daseins richten, nicht auch wieder Bedürfnisse entstehen werden, die ein neues Gleichgewicht herstellen. Niemand wird voraussagen können, ob nicht vielleicht über das Interesse an erzählender Literatur hinaus, gerade-
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zu als eine Gegenwirkung, Offenheit für Dichtung, ja ein neues Bedürfnis danach erwachen wird. Sei es, wie dem sei - die innere Unabhängigkeit der Literatur von äußeren Vorgegebenheiten und Daseinsbedingungen hat auf alle Fälle eine bedeutende Kehrseite, und das ist der Grad von Aktivität, von echter Anstrengung und Selbsttätigkeit, den sie zumutet wie keine andere Kunstform sonst. Nirgends sonst wird doch wohl die Mitarbeit des Aufnehmenden so sichtbar gefordert wie von der sprachlichen Kunst. Das Lesen ist insofern die eigentliche und die repräsentative Form, in der der Anteil des Aufnehmenden an der Kunst zum Greifen kommt. In Wahrheit gilt es für alle Kunst, daß sie erst in der Wiedererkennung zur Erfüllung kommt, die sich der Dichtkunst gegenüber mit einer besonderen Differenziertheit expliziert. Ich möchte drei Arten solcher Wiedererkennung unterscheiden, die sich uns in ihrer Ineinanderfügung prototypisch für alle Künste darstellen. Da ist zunächst die Forderung des Lesenkönnens überhaupt. Das heißt nicht nur die Fähigkeit des Buchstabierens (und des ihm entsprechenden Schreibens), sondern gerade auch die Fähigkeit, den zu entziffernden Text als eine sinnvolle Redeeinheit zu vollziehen. Das ist eine erste Bedingung, wenn man überhaupt an das Kunstwerk in seiner eigentlichen Qualität herankommen will. Jeder weiß es etwa aus der Unmöglichkeit, lyrische Gedichte aus fremden Sprachen in die eigene Sprache zu übersetzen oder in Übersetzung voll zu erfassen. Hier ist ein so innig verwobenes Bedeutungs- und Klanggeschehen im originalen dichterischen Text verwirklicht, daß sein Vollzug eine erste Erfüllung von Wiedererkennung bedeutet. Wir hören alle unsere eigene Muttersprache und Texte unserer eigenen Sprache in einer solchen Fülle, in einem solchen Reichtum und mit einer solchen Strahlkraft, daß sie als dichterisches Wort, als dichterische Rede allem sonstigen Sprachgebrauch gegenüber wie eine Wiedererkennung unser selbst erscheinen. Und doch weiß jeder, der etwa längere Zeit in einer fremden Sprachwelt gelebt hat, wie ihn bei seiner Rückkehr die ersten einfachsten Laute der eigenen Muttersprache als eine echte Wiedererkennung rühren. Wieviel mehr das dichterische Wort. Ein dichterischer Text verlangt aber nicht nur den Vollzug des Bedeutungshaften der Rede. Immer wird noch etwas anderes erweckt, worin wir uns selber wiedererkennen. Es sind freie Anschauungsräume, die durch die dichterische Sprache geöffnet werden und die der vollziehende Leser ausfüllt. Solche Ausfüllung geschieht durch einen jeden auf seine Weise, und trotzdem ist die Identität der Dichtung dadurch nicht betroffen. Mir werden, wenn ich im Augenblick mich des berühmten Gedichtes Goethes >An den Mond< erinnere, die Nebelschwaden und die Lichtwogen, die der »Nebelglanz« evoziert, sicherlich ganz anders vor Augen schimmern als irgend jemand anderem oder mir selbst ein andermal. Das Wort des Gedichtes ist
Ende der Kunst?
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eines, so verschieden seine Ausfüllung auch ist. Dafür hat Roman Ingarden, der große polnische Phänomenologe, den wichtigen Begriff des >Schemas< vorgeschlagen, das gleichsam vorzeichnet und seine freie Ausfüllung fordert und gestattet, in der ein jeder sich selbst wiedererkennt4. Hieran schließt sich nun, wie ich meine, eine dritte Form von Wiedererkennung, die ich nicht >Erfüllen< — wie das von Bedeutungen — noch auch >Ausfüllen< — wie das des anschaulichen Schemas - nennen möchte, sondern >Auffüllen<. Das scheint mir eine der wesentlichsten Einsichten in bezug auf das Wesen aller Kunsterfahrung überhaupt zu sein. >Auffüllen< meint hier, daß der Leser (oder Hörer) noch über das hinausgreift, was in dem sprachlichen Gebilde selber wie greifbar ist und zur Erscheinung kommt und das gleichsam in der Richtung dessen, was es sagen will, über es hinausgeht. Dies Auffüllen vermögen wir alle, wenn uns ein sprachliches Gebilde dichterischer Art gepackt hat. Dann lassen wir unsere eigene, subjektiv-private Erfahrungswelt ganz in ihm aufgehen. Wir sehen und hören über schwächere oder dünnere Stellen eines Gebildes hinweg. Wir füllen es auf- und erst in dieser zwingenden Auffüllung gewinnt das Kunstwerk seine eigentliche Wirklichkeit. Dann erst verschwindet jeder Gegensatz von Meinen und Sein, jeder Gegensatz zwischen dem, was der Künstler sagen möchte, und dem, was der Aufnehmende daraus aufnimmt. Sie sind eins geworden. Das ist der Grund, warum sie jeden Rest von Privatheit verloren haben, so daß etwa auch der biographisch-okkasionelle Aspekt eines dichterischen Werks ins Allgemeine gewandelt ist. Das ist der Grund, warum Werke der Kunst allen, die in ihren Bannkreis treten, eine echte Selbstbegegnung gewähren. Wenn ein sprachliches Kunstwerk auf solche Weise für uns da ist, mag viel Vorgeformtes in die Fügung des Gebildes mit eingegangen sein. Darin hat das Studium der Intertextualität, wie es die französischen Poststrukturalisten heute betreiben, sicherlich Richtiges im Auge. Und doch ist etwas erst ein dichterisches Gebilde, wenn alles Vorgeformte in die neue, einmalige Form eingegangen ist, die uns das Gedicht so sein läßt, als wäre es noch nie gesagt worden und als wäre es eigens uns erstmals gesagt. Hier liegt die prototypische Bedeutung dieses Begriffs des Auffüllens. Auch allen anderen Kunstarten gegenüber bedeutet erst diese Erfahrung die volle Verwirklichung des Kunstwerks, so daß wir nicht mehr in ästhetischer Urteilsdistanz verharren, sondern ganz darin aufgehen. Das hatte Hegel im Auge, wenn er die Kunst als >Anschauung< neben die Andacht und den philosophischen Gedanken rückte. In Zeiten, in denen Informationstechnik und Reproduktionstechnik eine beständige Reizflut über die Menschen ausgießen, ist diese Verwirklichung des Kunstwerks freilich eine schwere Aufgabe geworden. Ein heutiger ROMAN INGARDEN, Das literarische Kunstwerk. Tübingen 41972.
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Künstler, welcher Kunst auch immer, hat gegen eine Flut zu kämpfen, die jede Empfänglichkeit abstumpft. Eben deshalb muß jeder heutige Künstler Verfremdungen aufbieten, damit die Überzeugungskraft seiner Gestaltung zur Ausstrahlung kommt und die Verfremdung in eine neue Heimatlichkeit zurückbildet. Der Pluralismus des Experimentierens ist daher in unserer Epoche unvermeidlich geworden. Verfremdung bis an die Grenze der Unverständlichkeit ist das Gesetz, unter dem sich die bildende Kraft der Kunst in einem Zeitalter wie dem unsrigen am ehesten erfüllen kann. Die ideale Deckungseinheit zwischen vertrauten Inhalten darstellender oder dichterischer Kunst und ihrer gestalteten Form kann in unserer Epoche nicht mehr wie in traditionsgebundenen Zeiten erwartet werden. Jetzt gilt es, in das schrecklich fragmentierte Dasein, in dem sich die heutige Welt ständig bewegt, Kunst hineinzubilden. Wenn sich die Formen des Lebens in solchem Tempo ändern, wie das in unserer Gegenwart der Fall ist, dann werden sich auch die künstlerischen Antworten auf diese Gegenwart in besonders befremdlicher Stärke absetzen müssen. Doch vielleicht ist der Unterschied zwischen heutiger Kunst und früherer Kunst nicht so groß, wie er meistens dann erscheint, wenn eine Gegenwart über ihre Gegenwart oder ihre jüngste Vergangenheit nachdenkt. Ein Ende der Kunst, ein Ende des nie rastenden Gestaltungswillens menschlicher Träume und Sehnsüchte, wird es so lange nicht geben, wie überhaupt Menschen ihr eigenes Leben gestalten. Jedes vermeintliche Ende der Kunst wird Anfang neuer Kunst sein.
19. Die Stellung der Poesie im System der Hegeischen Ästhetik und die Frage des Vergangenheitscharakters der Kunst (1986)
Wer die Hothosche Redaktion von Hegels Vorlesungen über die Ästhetik liest, wird sich dem zwingenden Eindruck eines überaus lesbar gestalteten Textes nicht entziehen können - insbesondere, wenn man diese Vorlesung mit den anderen Vorlesungen aus der großen Hegel-Ausgabe der Freunde des Verewigten vergleicht. Nun haben wir durch die neueren Untersuchungen einsehen gelernt, daß die Authentizität dieses Textes entsprechend geringer ist, als wir bisher unwillkürlich angenommen haben. Offenbar hat ein gewandter Kunstschriftsteller und Stilist wie Hotho in dem Bestreben, Hegels für ihn so bestimmende Lehren dem Zeitgeschmack seiner eigenen Generation mundgerecht zu machen, manches aus Eigenem hinzugefügt, das nicht mit Hegels Ansichten übereinstimmt1. Am wenigsten dürfte das noch für die eigentlich begrifflichen Konstruktionselemente der Hegeischen Vorlesung gelten, daß es ihnen an Authentizität fehlt. Einen schwerwiegenden Eingriff Hothos gibt es allerdings, den wir schon seit dem (an sich gescheiterten) Versuch von Lasson, die Ästhetikvorlesung neu zu edieren, realisiert haben. Ich meine die Verselbständigung des Abschnittes über das Naturschöne zu einem dem Abschnitt über das Kunstschöne parallelen und vorausgehenden eigenen zweiten Kapitel. Das ist irreführend. Hegel hat seine Ästhetik in Wahrheit ganz vom Standpunkt der Kunst aus konzipiert und die Naturschönheit bekanntlich als einen Reflex des Kunstschönen diesem eingeordnet. Dieser gewichtige Eingriff Hothos, der etwas Wesentliches verdeckt, wiegt um so schwerer, als die begriffliche Schematik, mit der Hegel in seiner Ästhetik arbeitet - neben dem Unbehagen, das sie bereitet-für den Philosophen ein erhöhtes Interesse behält. Dem 1
Für anregende Informationen über die Nachschriften von Hegels tatsächlich gehaltenen Vorlesungen zur Ästhetik bin ich der Bearbeiterin dieser Dinge am Hegel-Archiv, Frau Dr Α . GETHMANN-SIEFERT ZU Dank verpflichtet. Vgl. bes. die folgenden Veröffentlichungen der Autorin: Einleitung und Edition der Nachschrift Hothos von 1823: Die Philosophie der Kunst. Nach dem Vortrage des Herrn Professor Hegel. Im Sommer 1823. Berlin Nachgeschrieben von H. Hotho. Hamburg 1986; Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels Ästhetik. Bonn 1984 (Hegel-Studien. Beiheft 25).
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Die Stellung der Poesie im System der Hegeischen Ästhetik
entspricht, mit welchem Eifer und mit welcher Beharrlichkeit Hegel in allen einzelnen Kapiteln seiner Vorlesung immer wieder die Grundgedanken seiner Schematik rekapituliert. Hegel hat die konstruktive Schematik seiner Vorlesung so oft und so genau wiederholt, daß wir dieselbe als authentisch ansehen dürfen und deshalb ihren Implikationen besondere Aufmerksamkeit schuldig sind. Da fallt nun bei der leitenden Begriffsbildung, der Einteilung der Epochen der Kunst in die symbolische, klassische und romantische Kunst, auf, daß sie an der Poesie keine rechte Bestätigung findet, sondern offenbar an den sinnlich-anschaulichen Künsten, der Architektur, der Skulptur, der Malerei und der Musik. Das hat seinen guten Grund. Die sinnlich-anschaulichen Künste unterstehen weit mehr der Äußerlichkeit des Geschmacks. Dessen Wandel liegt offen zutage und bietet sich daher zur Artikulation der Geschichte der Kunst besonders an. Der Geschmack ist, wie Hegel gesehen hat, in Wahrheit nicht das Wesentliche an der Kunst, sondern bildet gleichsam die sinnliche Haut, die wir gegen die Herausforderung und den Andrang von allem, was uns begegnet, und die wir so auch gegen die Herausforderung unserer eigenen Konstrukte, unserer Werke und Kunstwerke, benötigen. Diese »Haut« des Geschmacks ist in einem weit höheren Grade durch Sinnlich-Anschauliches verletzbar, als es durch noch so krasse Kruditäten geschieht, die sprachlich-literarischer Gestalt sind. Das ist eine seit Lessings >Laokoon< wohlbekannte Tatsache. Es entspricht dem, daß Hegel bei »Kunst« nie im besonderen die Poesie im Auge hat, wenn er das allgemeine Thema der Kunst in systematischen Zusammenhängen erörtert, sondern sei es die Architektur, sei es die bildenden Künste. Die Poesie ist eben in besonderem Maße die »allgemeine Kunst«, wie Hegel wohl sieht. Gleichwohl nimmt die Poesie in der Schematik der Ästhetikvorlesung eine ausgezeichnete Stellung ein. In dieser Hierarchie der steigenden Entsinnlichung und wachsenden Vergeistigung stellt sie die letzte Stufe dar. Sie hat, wie Hegel sagt, ihr Dasein nur in dem Bewußtsein selbst. Es sind die Formen des inneren Vorstellens und Anschauens, die hier das Kunstwerk zum Kunstwerk machen oder als Kunstwerk erweisen. Die Poesie ist insofern das extreme Gegenstück zur Architektur, die kaum noch, nur symbolisch und andeutend, Geist ist und ihrer Natur nach nur zur Umgebung des Geistes gehört. In Hothos Ästhetik-Redaktion scheint Hegel die terminologische Prägung, die wir aus dem Schlußkapitel der >Phänomenologie des Geistes< kennen, wonach die Kunstreligion auf dem Standpunkt der Anschauung, die Offenbarungsreligion auf dem Standpunkt der Vorstellung und die Philosophie auf dem Standpunkt des Begriffes steht, in seinem Sprachgebrauch nicht festgehalten zu haben, obwohl er der Sache nach dieses Konzept offenkundig durch sein ganzes Werk aufrechterhält. In der Ästhetikvor-
lesung spricht er in sehr freier Weise von Anschauen, Vorstellen, Empfinden und dergleichen, ohne sich an seine eigene begriffliche Schematisierung zu binden. Die Sonderstellung, die Hegel der Poesie zuweist, wird nun besonders deutlich, wenn die Begriffe von Form, Inhalt und Materie, die Hegel fur seine schematische Konstruktion gebraucht, auch auf die Poesie angewendet werden, wo sie besonders unangemessen sind (vgl. III226f.). Formung von Material läßt sich im Falle der Poesie offenkundig nur in einem sehr uneigentlichen Sinne behaupten. Schon bei der Musik ist die Rede vom Tonmaterial unbefriedigend. Im Falle der Poesie verändert sich vollends, wie Hegel ausdrücklich sagt, das ganze Verhältnis zum Material, sofern das >Material< überhaupt nicht etwas sinnlich Erscheinendes ist, sondern das in der inneren Einbildungskraft zur Erscheinung Gebrachte (III 231). Hegel rechtfertigt hier den Anspruch der Poesie, die allgemeine Kunst zu sein, mit diesen Begriffen. Sie sei in ihren Verwirklichungsbedingungen durch kein sinnliches Material überhaupt eingeschränkt. In seinen Vorlesungen scheint Hegel den Zugang zur Einteilung der Künste und die Vorzugsstellung der Poesie nicht nur so, sondern in vielfachen Variationen seinen Hörern plausibel gemacht zu haben. Um nur ein Beispiel zu geben: Er geht einmal von Raum und Zeit als den allgemeinen Formen der Anschauung aus, denen Malerei und Musik noch verhaftet sind. Das sinnliche Element des Raumes gehört der Malerei an, das sinnliche Element der Zeit der Musik. Beide zeigen sich in der Poesie als »Punkt des Geistes, als das denkende Subjekt, das in sich den unendlichen Raum der Vorstellung mit der Zeit des Tones verbindet« (Hotho 1823, Ms. 421). Damit folgt Hegel in Wahrheit nicht nur Kant, sondern einer wohlbekannten Topik der aristotelischen Philosophie. Wenn Aristoteles indem berühmten Einleitungssatz zur >Metaphysik< dem Sehen den Vorzug vor allen anderen Sinnen gibt, weil es die meisten Unterschiede erfasse, so kommt doch in anderem Betracht, wie er sieht, gerade dem Hören ein noch höherer Vorrang zu. Denn weil das Hören Sprache, den Logos, zu hören vermag, werden ihm nicht nur die meisten, sondern auf diese Weise schlechterdings alle Unterschiede zugänglich. Hieran knüpft Hegel an, und er gebraucht in ähnlicher Weise für die Auszeichnung der Poesie ausdrücklich den Begriff der Totalität, durch den sie sich gegenüber allen anderen Kunstformen auszeichnet.
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Damit bekommt die Stellung der Poesie im Aufbau der Ästhetik ihre nach vorne weisende Bedeutung. In ihr bahnt sich bereits der Übergang zur religiösen Vorstellungsweise der offenbarten Religion und zur Prosa des wissenschaftlichen Denkens, das heißt der Philosophie, an, welche letzteren sinnlichkeitsloseres Erfassen des Absoluten sind (III 233). Der unschöne Komparativ zu >sinnlichkeitslos< unterstreicht indirekt, daß nicht nur die Poesie, sondern auch noch die Prosa des Gedankens in Laut- und Zeichenge-
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stalt eine reale, sinnliche Basis haben. Die ganze Betrachtungsweise folgt eben der aristotelischen metaphysischen Begriffstradition. Die Gesamtdefinition der Kunst, die Hotho in seiner Redaktion der Ästhetikvorlesung anführt, das »sinnliche Scheinen der Idee« (1144) zu sein, soll damit gewiß nicht abgeschwächt werden, wenn auch Hegel im Vergleich zu den anderen Künsten der Poesie steigende Geistigkeit und sich mindernde Sinnlichkeit zuschreibt. Es ist wichtig zu erfahren, daß diese im Grund platonische Formel (Phaidr. 250d) in Hegels Berliner Vorlesungen offenbar nicht nachweisbar ist. Hotho gebraucht die schöne Wendung in der Tat in einem traditionalistischen Zusammenhang, nämlich bei der Erörterung des Verhältnisses von Wahrheit und Schönheit. Dieses platonische Grundthema will nicht eigentlich auf das Kunstschöne und auf die Kunstarten angewendet werden, sondern umfaßt das Naturschöne mit — und ist obendrein für die Poesie nur in ungenauem Sinne zutreffend. Denn es ist klar, daß sich das »sinnliche Scheinen der Idee« hier nur in der Gestalt der Vorstellung, also in der Einbildungskraft, vollzieht. Doch ist gerade die Rand- und Übergangsstellung, die der Poesie als der geistigsten aller Künste zukommt, unser eigentliches Thema, und so lohnt es, bei den durch die Nachschriften besser beglaubigten Formulierungen des »Ideals des Schönen« zu verweilen. Wenn Hegel das Ideal als das Dasein der Idee oder als Existenz der Idee beschreibt, folgt er im Grunde dem Kantischen Sprachgebrauch. Das Ideal ist nach Kant » die Idee in individuo «. Diese Ideale sind freilich so, daß »man ihnen gleich nicht objektive Realität (Existenz) zugestehen möchte« (Kr. d. r. V. Β 597). Das gilt gewiß auch für das »Ideal der Schönheit«, das in der >Kritik der Urteilskraft (§ 17) als ein Ideal der Einbildungskraft bezeichnet wird. Man wird auch im Sprachgebrauch Hegels »Existenz« niemals im Sinne der Kantischen »objektiven Realität« verstehen dürfen, sondern eben wie das Dasein der Idee-»in individuo«, und wenn Kant nur an der menschlichen Gestalt das Ideal der Schönheit findet, nämlich in dem Ausdruck des Sittlichen, so ist das eine klassizistische Verengung, der Hegel in Wahrheit die ganze Weite des Geistes und die Geistigkeit der Schönheit abgewonnen hat. Schon bei Kant deutet sich in diesem Zusammenhang die Wendung vom Geschmack zur Geistigkeit der Kunst an, wenn es heißt, daß die Kunst die sittlichen Ideen »in körperlicher Äußerung (als Wirkung des Inneren) gleichsam sichtbar zu machen« vermag. Was so sichtbar wird, ob anschaulich oder »vorgestellt«, ist jedenfalls Idee, und es kann kein Zweifel sein, daß für Hegel im Falle der Poesie die Idee in der Vorstellung erscheint, das heißt, als sinnlich-anschaulich vorgestellt ist. Sie ist »in individuo« als einem Vorgestellten - wie das Ideal des Weisen, das Kant in der >Kritik der reinen Vernunft< als Beispiel anführt. Hegel entwickelt nun freilich auf dem Boden der Grundannahme, daß die
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Kunst eine Weise des absoluten Geistes ist, eine Hierarchie der Geistigkeit. Sie läßt ihn von der Poesie sagen, »sie geht in der negativen Behandlung der sinnlichen Elemente so weit, daß sie das Entgegengesetzte der schweren räumlichen Materie, den Ton, statt ihn, wie es die Baukunst mit ihrem Material tut, zu einem andeutenden Symbol zu gestalten, vielmehr zu einem bedeutungslosen Zeichen herabbringt. Dadurch löst sie aber die Verschmelzung der geistigen Innerlichkeit und des äußeren Daseins in einem Grade auf, welcher dem ursprünglichen Begriffe der Kunst nicht mehr zu entsprechen anfängt«. Hegel ist der darin hegenden Gefahr offenbar selber nicht ganz entgangen, wenn er sich zu der erstaunlichen Aussage versteigt, daß es für die Poesie »gleichgültig sei, ob ein Dichtwerk gelesen oder angehört wird« (III227). Das läßt sich allenfalls akzeptieren, wenn man bei »Lesen« so etwas wie inneres Hören mitdenkt. Aber Hegel geht noch weiter, bis zu der These, daß die Übersetzung eines Dichtwerks ein Kunstwerk ohne wesentlichen Verlust des eigentlich Poetischen in andere Sprache hinüber zu vermitteln vermag. Man muß wohl annehmen, daß das wirklich Hegel gedacht hat und nicht etwa Hotho. Das mag mit dem neuen Enthusiasmus des romantischen Zeitalters für die Weltliteratur zusammenhängen. Auch gilt es gewiß für narrative Dichtungsformen und für das Drama, daß sie übersetzbar sind, aber nicht für das lyrische Gedicht - und Hegel hat gewiß diese Unterschiede gesehen. Aber in jedem Falle bleibt es eine erstaunliche Aussage. Im Falle der Übersetzung von Lyrik wird die sinnliche Erscheinung in Sprache offenkundig so tief verändert, daß die Hegeische Aussage überhaupt nur verständlich — gewiß nicht gerechtfertigt — ist, wenn man die in der Einbildungskraft durch Sprache geweckte Anschaulichkeit, und gar nicht die Unmittelbarkeit des in Sprachlauten Tönenden, dabei im Auge hat. Aber auch dann bleibt es doch, daß es das in Sprachlauten Tönende ist, was vor allem die Anschaulichkeit des Gedichteten zu seiner unwiderstehlichen Evidenz und Präsenz erhebt. Offenbar muß man die fragwürdige Hegeische Übertreibung von seiner Absicht aus verstehen, die Abhebung gegenüber der vorausbehandelten Musik recht deutlich zu machen. Das ist gewiß richtig, daß der Ton der Musik von dem Bauelement dichterischer Texte, dem Wort, grundsätzlich unterschieden ist. Ein Ton gewinnt seine anschauliche Bestimmtheit überhaupt nur durch sein Verhältnis zu anderen Tönen. Das Wort dagegen ist schon immer das Wort einer Sprache und hat damit innerhalb dieser Sprache in sich selbst eine Bestimmtheit, die, wenn auch noch so vage, noch so vanationsfahig, doch auf gewisse Bedeutungen eingeschränkt und bezogen ist Daher gehört zur Musik aus guten Gründen die tatsächliche Ausführung. Sie gewinnt damit erst ihren ontologischen Status - und nicht schon im inneren Besitz der Einbildungskraft. Die >Notation< ist eben nicht vergleichbar mit der schriftlichen Fixierung von dichterischer Sprache. Wenn
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man es als einen rückständigen Status der Musikkennerschaft ansieht, daß die Menschen sich Musik überhaupt noch anhören, statt selber nur die Partituren zu lesen, und wenn man sich darauf beruft, daß man doch in der Poesie schon längst Gelesenes im inneren Ohr zu hören gelernt hat, so bleibt das eine Übertreibung, die in diesem Fall von Adorno gewagt worden ist. Offenkundig ist es die gleiche Übertreibung und aus der gleichen Absicht, die Hegels Behauptung zugrundeliegt, daß ein lyrisches Gedicht in der Übersetzung keine •wesentliche Einbuße erfahrt. Hegels eigene Stellung zur Musik bestätigt indirekt, daß er den poetischen Verlust nicht als sehr mindernd empfunden hat, den die Übersetzung von Dichtung hinnehmen muß. Offenbar sind ihm die Worte als die eigentlichen Sinnträger das Wesentliche. Das kommt gegenüber der absoluten Musik sozusagen im umgekehrten Sinne heraus. Ihr gegenüber betont er seine Distanz, weil ihr das Wort fehlt: »Ich muß es für ein Unglück ansehen, daß die Musik sich so selbständig konstituiert« (Marb. Bibl. 1826, Ms. 80). Offenbar ist er der Meinung, daß dort, wo der geistige Rückhalt des Wortes fehlt, der Mensch zu sehr »seinen Vorstellungen . . . freien Spielraum« läßt. Wie hier das sinntragende Wort fehlt, ist ihm im Falle der Übersetzung von Dichtung das sinntragende Wort beinahe alles. Das wird sofort deutlich, wenn man das Verhältnis der Poesie zum spekulativen Denken, wie es Hegel in der Ästhetik schildert, ins Auge faßt. Da sagt er etwa, daß das spekulative Denken mit der poetischen Phantasie in enger Verwandtschaft steht, und artikuliert den Unterschied in folgender Weise: »Das Denken verflüchtigt die Form der Realität zur Form des reinen Begriffs. Dadurch entsteht der erscheinenden Welt gegenüber ein neues Reich, das wohl die Wahrheit des Wirklichen ist, aber eine Wahrheit, die nicht wieder im Wirklichen selbst als gestaltende Macht und eigene Seele desselben offenbar wird. Das Denken ist also nur eine Versöhnung des Wahren und der Realität im Denken. Das poetische Schaffen und Bilden dagegen ist eine Versöhnnng in der Form realer Erscheinung selbst, wenn diese Ordnung geistig vorgestellt ist« (III 243). Äußerungen dieser Art müssen die junghegelianische Kritik an der Versöhnung in Gedanken besonders inspiriert haben. Für sie wurde ja gerade die Folgenlosigkeit der Versöhnung im Gedanken zum Stein des Anstoßes. Aber auch Kierkegaards Kritik am ästhetischen Stadium rückt das Hegeische Argument ins Zwielicht. Das ist typisch Hegel. Die Allseitigkeit der Reflexion erlaubt ihm, selbst die Poesie gegenüber der Prosa des Gedankens auszuzeichnen, die doch als die Wahrheit des Begriffs für ihn den höheren Rang einnimmt. Das Gleiche zeigt sich, wenn Hegel die poetische Welt der inneren Betrachtung und Empfindung, in der die lyrische Poesie lebendig wird, ausdrücklich mit dem philosophischen Denken konfrontiert und in erstaunlicher Weise auch hier das philosophische Denken zurücksetzt. Das philosophische Denken sei
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nämlich, wie es dort heißt, »mit der Abstraktion behaftet, sich nur in dem Element des Denkens als der bloßen Allgemeinheit zu entwickeln, so daß der konkrete Mensch sich nun auch gedrungen finden kann, den Inhalt und die Resultate seines philosophischen Bewußtseins in konkreter Weise als durchdrungen von Gemüt und Anschauung, Phantasie und Empfindung auszusprechen, um darin einen totalen Ausdruck des gesamten Inneren zu haben und zu geben.« Was Hegel hier im Auge hat, sind vermutlich die philosophischen Gedichte Schillers. Es bleibt aber eine erstaunliche Äußerung, wenn er hier dem spekulativen Gedanken eine Einschränkung zumutet und sagt: »nur in dem Elemente des Denkens«. Dies »nur« steht im krassen Gegensatz zu seiner systematischen Grundkonzeption, zeigt aber umgekehrt, wie sehr er zur Anerkennung von reflektierten Formen der Poesie in ihrer Unvergänglichkeit bereit war. Auch seine Preisung des >West-östlichen Divans< gehört hierher. Die Prüfung der systematischen Eingliederung der Poesie in das Gesamtgefüge der Ästhetikvorlesung hat also ergeben, daß die allseitige Reflexion, als deren Meister sich Hegel auch hier bewährt, die uns leitende Frage offenläßt. Eine unmittelbare Antwort auf die vieldiskutierte Frage, was Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst meint, läßt sich aus dem systematischen Ort der Poesie am Rande der Ästhetik kaum erhoffen. Bekanntlich steht ja das Kapitel über die Poesie am Schluß der Ästhetikvorlesung überhaupt und wird in der Hothoschen Fassung so dargeboten, ohne daß es sich ausdrücklich als Übergang bekennt. Das ist ein redaktioneller Mangel - der vielleicht die Authentizität dieses Schlusses wahrscheinlich machen kann? Jedenfalls schließt die Vorlesung nicht mit dem Übergang in die Religion, wie das der Hegeischen Systematik entspräche. Wahrscheinlich drückt sich darin aus, daß Hegel damals ausdrücklich die Trennung von Ästhetik und Religionsphilosophie — man könnte auch sagen: die religiöse Aufhöhung der schönen Künste zur >Kunst< — einführte, als er in Berlin seine Ästhetikvorlesung wieder aufnahm, deren erstes Auftreten wir auf die Heidelberger Zeit datieren können. Hier darf man sich wohl daran erinnern, daß das Verhältnis zwischen Kunst und Religion bei Hegel von Anfang an ziemlich eigentümlich verwikkelt ist. In der >Phänomenologie< begegnet die Kunst durchaus nur als die Kunstreligion. Die gegenseitige Wechselbindung, die zwischen der Kunst und der Religion von Hegel gesehen wird, läßt daher die systematische Frage eines Übergangs recht schwierig werden. Aus seiner geschichtsphilosophischen Auszeichnung der griechischen »Kunstreligion« folgt eben keineswegs ein klassizistisch beengtes Kunsturteil. Man denke nur an die Hegeische Schätzung der Niederländer. Dagegen ist es sinnvoll, den Übergang von der Kunst und damit vor allem von der Poesie zur Philosophie und das heißt: zum spekulativen Denken - ausdrücklich zu erörtern. Das ist
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der Sache nach in Hothos Redaktion der Ästhetikvorlesung an mehreren Stellen geschehen. So muß man von da aus die Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst erneut ins Licht stellen. Ich habe wiederholt die These verfochten, daß die Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst in Wahrheit die Freisetzung der Kunst als Kunst bedeutet2, wofür ich zunächst die sprachliche Evidenz auf meiner Seite hatte. Der Sprachgebrauch lehrt, daß erst in Hegels Zeit sich das Band zwischen Kunstfertigkeit aller Art und >der Kunst< so weit gelockert hat, daß der Zusatz >schöne<, also die Wendung >schöne Kunst<, überflüssig wurde. Wenn man die Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst von hier aus beleuchten will, muß man sich grundsätzlich darauf besinnen, daß auch Hegels Äußerungen über die Übergänge von einer Kunstform zur anderen etwas über den Sinn des Endes der Kunst und den Vergangenheitscharakter der Kunst bedeuten müssen. Denn auch diese Äußerungen zielen auf einen solchen >Übergang<. Dann lernen wir aber, daß diese Aussagen nicht Aussagen über den Verlauf des Geschehens sind, sondern über die Ordnung im philosophischen Nachdenken. Sie meinen die Wahrheit, die das philosophische Erkennen in den erscheinenden Realitäten herauszufinden vermag. Damit steht die Frage der Vergangenheit der Kunst auf einer Linie etwa mit der Anfangsstellung der Architektur oder der Endstellung der Poesie im System der Künste und am Ende gar mit dem bekannten Problem des Endes der Geschichte. Das ist eine höchst lehrreiche Analogie. Niemand kann hier zweifeln, daß das Ende der Geschichte nur meinen konnte, daß kein neues überlegenes Prinzip das Ideal der »Freiheit aller« überbieten kann. Nicht daß die Geschichte zu Ende ist, ist damit gesagt, sondern daß Geschichte nicht mehr als ein Fortschritt im Sinne des Bewußtseins der Freiheit vor sich gehen kann. Ja, vielleicht darf die Geschichte überhaupt nicht als Fortschritt gesehen werden, sondern ist die sich nie vollendende Anstrengung, das in der Wirklichkeit herbeizuführen, was dem Selbstbewußtsein der Freiheit entspräche. Man kann also sagen, daß die Geschichte sich seitdem ganz als das >äußerliche< Geschehen mit allen seinen Wechselfällen, Rückschlägen und illusionären Fortschritten abspielt — im Kampfe um die Freiheit aller. Ähnlich scheint es mir nun mit dem Ende der Kunst, wie es Hegel in seiner Ästhetik behauptet. Es sagt etwas für das philosophische Nachdenken aus und nichts über die Zukunft als die geschehende. Es kann damit nur gemeint sein, was Hegel ja auch ausspricht, daß die Kunst nicht mehr das höchste Bedürfnis des Geistes erfüllt. Sie ist nur das sinnliche Erscheinen des Göttlichen, und nicht das Göttliche, wie es durch die Offenbarung - in der christlichen Kirche - als der wahre Gott und das wahre Heil aufgegangen ist und wie es am Ende einer langen Anstrengung des Begreifens, wie 2
Vgl. auch den vorangehenden Beitrag »Ende der Kunst?«, S. 208f.
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Hegel meint, im spekulativen Denken zugleich die Form des Begriffs erreicht hat. Der Vergangenheitscharakter der Kunst, wenn er so verstanden ist, bedeutet deswegen durchaus nicht das Ende der Kunst, sondern schließt nur ein, daß die Kunst nunmehr innerhalb eines höheren Wahrheitsanspruches ihre Funktion ausübt. Diese Unterordnung hat in der Tat die frühe Geschichte der Kunst des Abendlandes sogleich nach dem Auftreten des Christentums bestimmt. Die Kunst hat ihre Berechtigung in mühsamen Kämpfen gegenüber dem Bilderverbot der Juden und der christlichen Offenbarung, dem Heilsanspruch der Kirche, erworben. In Hegels Ästhetik hat sie den allgemeinen Namen der »romantischen« Kunst - was sagen will, daß sie auf eine höhere Gestalt der Wahrheit hinauszielt. Hier darf man sich daran erinnern, was die romantische Kunstform in Hegels Augen im Grunde war. Die romantische Welt hat in Wahrheit, wie er sagt, nur ein einziges absolutes Werk vollbracht, und das ist die Ausbreitung des Christentums. Dieses Neue, daß das Christentum in die Welt gekommen ist und das Ende der klassischen Kunst heraufgeführt hat, bedeutet für die romantische Kunst, d. h. für die mannigfaltigsten Gestalten des künstlerischen Schaffens, daß ihre Wahrheit eine romantische, das heißt nicht mehr absolute Wahrheit, nicht mehr Übereinstimmung von Erscheinung und Sein ist. Deswegen sind Malerei und Musik in besonderem Grade — und natürlich vor allem die Poesie — Formen der Vergeistigung und Entsinnlichung, auch wenn ihre eigene Darstellungsform wiederum die des »sinnlichen Scheinens der Idee« ist und bleibt. Was Hegel die romantische Kunst nennt, umfaßt also die gesamte Geschichte der Kunst seit dem Auftreten des Christentums, und diese Geschichte der Kunst ist geradezu dadurch charakterisiert, daß in ihr kein absolutes Kunstwerk erscheint, das heißt kein Werk, in dem das Göttliche selbst sinnlich so da ist wie in der klassischen Kunst die Göttergestalten. Darin liegt zugleich, daß sich die Geschichte der Kunst nunmehr in eine Mannigfaltigkeit von endlichen Formen auseinanderfaltet, in denen jeweils ein Volksgeist sich aufgrund seiner eigenen Erfahrung der Welt im Lichte der christlichen Offenbarung und des Gedankens seinen künstlerischen Ausdruck gibt. Die Geschichte der Kunst, die sich hier entfaltet, strebt nun in gewissem Sinne einem Ende zu, das durch die Gegenwart, in der Hegel schreibt, charakterisierbar wird. Dieses Ende, das Hegel auch die »Auflösung der romantischen Kunstform« nennt, ist vollends die Freisetzung der künstlerischen Energie, die vollständige Loslösung von den Vorgegebenheiten substantieller Inhalte, denen gegenüber der Künstler ehedem keine freie Wahl hatte. Das Durchlaufensein des gesamten Bereiches welthafter Erfahrung im Schaffen von Kunst, das man auch mit Hegel romantische Selbstüberschreitung von Kunst nennen kann, bedeutet aber, wie Hegel sagt, »eben so sehr
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Die Stellung der Poesie im System der Hegeischen Ästhetik
ein Zurückgehen des Menschen in sich selbst, ein Hinabsteigen in seine eigene Brust, wodurch die Kunst alle feste Beschränkung auf einen bestimmten Kreis des Inhaltes und der Auffassung von sich abstreift und zu ihrem neuen Heiligen den Humanus macht, die Tiefen und Höhen des menschlichen Gemüts als solchen, das allgemein Menschliche in seinen Freuden und Leiden, seinen Bestrebungen, Taten und Schicksalen.« Im Zusammenhang dieser enthusiastischen Schilderung wird ausdrücklich gesagt, daß die Kunst nicht mehr darauf beschränkt ist, nur das darzustellen, das auf einer ihrer bestimmten Stufen absolut zu Hause ist, sondern alles, worin der Mensch überhaupt heimisch zu sein die Befähigung hat (II235). So kann Hegel sagen: »Das Gebundensein an einen besonderen Gehalt und eine nur für diesen Stoff passende Art der Darstellung ist für den heutigen Künstler etwas Vergangenes, und die Kunst ist dadurch ein freies Instrument geworden, das er nach Maßgebe seiner subjektiven Geschicklichkeit in bezug auf jeden Inhalt, welcher Art er auch sei, gleichmäßig handhaben kann. « Im selben Zusammenhang heißt es: »Es gibt heutigen Tages keinen Stoff, der an und für sich über dieser Relativität stände.« Hier liegt der Ton auf dem »an und für sich«. Offenbar soll das heißen, daß es eben auch nicht möglich ist, in freier Willkür vergangene Formen des künstlerischen Gestaltens wieder zu erneuern. Gegen diesen Wahn hat sich Hegels bekannte Kritik an dem Katholischwerden aus künstlerischen Gründen und an solchem SichHineinleben in eine nicht mehr wirklich gemeinsame, umfangende religiöse »Weltanschauung« deutlich genug ausgesprochen.
»Das Ende der romantischen Kunstform« (II228ff.), das am meisten seinem Heute Ausdruck gibt, keineswegs an betonter Stelle steht. Der objektive Humor, den Hegel dem dichterischen Schaffen seiner Zeit zubilligt und der sich auf seine scharfe Kritik an dem subjektiven Humor Jean Pauls zurückbezieht, gilt ihm in dem Araber- und Perserbild Rückerts und des >Westöstlichen Divans< Goethes als verwirklicht. Was er daran rühmt, ist gewiß in gutem Einklang mit der neuen ungebundenen Beliebigkeit des von aller Traditionsbindung freigewordenen Künstlergeistes, die er beschrieben hat. Es bleibt aber doch erstaunlich, wie die Zeitbezogenheit von Hegels Kunsturteil weit weniger an seiner Zukunft, auf die wir heute als unsere Vergangenheit zurückbücken, vorbeizielt als etwa sein geschichtsphilosophischer Traum von dem Endziel der Geschichte in der Freiheit aller. Wenn man die Rede von dem objektiven Humor, deren Bedeutung Henrich 3 so stark angehoben hat, wirklich zu einem ganz allgemeinen Begriff ausweiten will, findet man im Blick auf unsere Gegenwart und ihre Zukunftserwartungen einen erstaunlichen Grad von Übereinstimmung. Nicht nur der Historismus der Stile, nicht nur die Multiplizität der Schulen und Richtungen, nicht nur die Partikularität der jeweils sich bildenden Gemeinden, von denen ein jeder schaffende Künstler umgeben ist, haben Hegel bestätigt. Wichtiger noch ist, daß, was wir das historische Bewußtsein nennen, Künstler wie Kunstliebhaber in einer beständigen Erfahrung auch der Kunst vergangener Zeiten und fremder Kulturwelten vereinigt. Grundsätzlich ist das alles in Hegels Charakteristik seines »Heute« schon vorweggenommen. Wenn das noch Humor ist, aus der Zufälligkeit das Substantielle hervorgehen zu lassen, so ist das wohl die bleibende Bestimmung aller Kunst in Zeiten unbedingter Freiheit der Erfindung und des wagenden Versuchs. In Hegels Darstellung ist dagegen die Kunst »von heute« wieder nur eine Übergangsform, in der die Poesie die klar gesehene Schlüsselstellung hält. Wenn Hegel Goethes reflektierte Form der Poesie im >West-östlichen Divan* bewunderte, der erst weit später zum literarischen Welterfolg aufsteigen sollte, und wenn er in unserem Jahrhundert die Wiederentdeckung des Barock und der Allegorie erlebt hätte und all die anderen Formen, in denen moderne Kunst und Anti-Kunst in gedanklichen Netzen hängen, wäre er vielleicht gar in den Irrtum verfallen, auch in dem Übergang von der Poesie in die Philosophie einen geschichtlichen Übergang zu sehen. Indessen - das Ende der Kunst wird sich so nicht vorschreiben lassen.
Hier mag der Anklang an die Rede von dem Vergangenheitscharakter der Kunst verwirren. Gewiß ist auch die christliche Kunst des Mittelalters in Hegels Augen »vergangen« und keiner Erneuerung aus romantischem Heimweh fähig. In Wahrheit geht es aber bei der Rede von dem Vergangenheitscharakter der Kunst nicht um die Endstufe der romantischen Kunst, und deshalb ist es verkehrt, den Sinn dieser Rede in die Richtung auf ein Ende der Kunst überhaupt zu verschieben. Vielmehr ist es für Hegel kein Zweifel, daß die Kunst »vergangen« ist und doch zu hoffen ist, daß sie in ihrer ganzen universalen Wirklichkeit immer wieder Neues schaffen wird. Nun hat gewiß auch Hegel — bei aller seiner spekulativen Distanz-zu den schlimmen Tatsachen - innerhalb der Erwartungen und Hoffnungen seiner Zeit aus seinem Denken bestimmtere Folgerungen zu ziehen als Zeitgenosse nicht unterlassen können. Der Standpunkt des absoluten Geistes fällt der menschlichen Bedingtheit eben schwer. So hat ihn das Ereignis der JuliRevolution von 1830 tief bestürzt. Es ist nicht auszudenken, wie er auf die Ereignisse des 20. Jahrhunderts und seine »Fortschritte« zur »Freiheit aller« reagiert hätte. Ähnlich darf man sich auch mit seinen beiläufig bleibenden Urteilen über Gegenwart und Zukunft der Kunst nur in historischer Perspektive beschäftigen. Es bleibt bezeichnend, daß das oben erwähnte Kapitel
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DIETER HENRICH, Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart. Überlegungen mit Rucksicht auf Hegel. In: Immanente Ästhetik - Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, hrsg. von WOLFGANG ISER. München 1966, S. 11-32. Siehe dazu auch in diesem Band S. 62ff.
Philosophie und Poesie
20. Philosophie und Poesie (1977)
Es ist eine rätselhafte Nähe, die zwischen Philosophie und Poesie waltet und die zuletzt, seit Herder und seit der deutschen Romantik, ins allgemeine Bewußtsein getreten ist. Nicht immer mit Zustimmung. Das durfte freilich eher als ein Armutszeugnis des nachhegelschen Zeitalters gelten. Die Universitätsphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts büßte - nicht erst in der Folge von Schopenhauers Schimpftiraden - gegenüber den großen Außenseitern und großen Schriftstellern vom Schlage eines Kierkegaard und Nietzsche, mehr noch durch die Beschattung, die ihr von den leuchtenden Gestirnen der großen Romanliteratur, insbesondere den Franzosen Stendhal, Balzac, Flaubert und den Russen Gogol, Dostojewski), Tolstoi widerfuhr, ihren Rang ein. Sie verlor sich in die Gefilde philosophiegeschichthcher Forschung oder verteidigte in der Sterilität erkenntnistheoretischer Problematik ihre Wissenschaftlichkeit. Aber wenn in unserem Jahrhundert die Universitätsphilosophie eine gewisse Geltung zurückgewann - ich nenne nur die sogenannten Existenzphilosophen Jaspers, Sartre, Merleau-Ponty, Gabriel Marcel und vor allen anderen Martin Heidegger - , so geschah das nicht, ohne daß man sich in die Randgebiete poetischer Sprache wagte - und das stieß oft auf herbe Kritik. Der Faltenwurf des Propheten stehe dem Philosophen schlecht, der im Zeitalter der Wissenschaft ernst genommen werden wolle. Warum läßt man die großen Errungenschaften der modernen Logik, die in den letzten 100 Jahren ehedem unvorstellbare Fortschritte über Aristoteles hinaus getan hat, beiseite und dunkelt sich in immer stärkerem Maße hinter poetischen Wolkenschatten ein? Indessen, Nähe und Ferne, fruchtbare Spannung zwischen Poesie und Philosophie - das ist nicht erst ein Problem von gestern und vorgestern. Es begleitet den ganzen Weg des abendländischen Denkens, das sich eben dadurch von aller östlichen Weisheitsrede abhebt, daß es diese Spannung in sich auszutragen hat. Plato spricht von der alten Zwietracht (παλαιά διαφορά) von Poesie und Philosophie, verweist die Poesie aus seinem Reiche der Ideen und des Guten - und nimmt sie zugleich in sich auf, ein Mythenerzähler, der Feierlichkeit und Ironie, Sagenferne und Helligkeit des Denkens auf unnachahmliche Weise zu mischen weiß. Ebenso mag man fragen, wer
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zwischen Poesie und Philosophie, zwischen Bild und Begriff aufteilen wollte, was das Alte und das Neue Testament und das Millennium christlicher Weltdeutung und Weltdichtung in sich vereinen. So ist es eine Frage von eh und je, warum und aufweiche Weise Sprache, das einzige Medium des Gedachten wie des Gedichteten, dies Gemeinsame und dies Différente auszurichten vermag. Gewiß ist es nicht der alltägliche Gebrauch der Sprache, in dem sich solche Affinität hervorkehrt oder gar bis zur Interferenz vollendet. Zwar vermag jegliche Rede stets beides zu evozieren, Bild und Gedanke. Aber das Reden der Menschen gewinnt im allgemeinen sinnvolle Bestimmtheit und Eindeutigkeit aus einem Zusammenhang des Lebens, der durch Situation und Adresse seine Konkretion erhält. Das in solchem konkreten Handlungszusammenhang gesprochene Wort steht also nicht fur sich. Es >steht< überhaupt nicht, sondern >geht üben — hin zu dem Gesagten. Selbst schriftliche Fixierung solchen Sprechens ändert daran nichts, wenn auch die Aufgabe des Verstehens des so abgelösten Textes eigene hermeneutische Schwierigkeiten hat. Dagegen ist das poetische Wort so gut wie das philosophische imstande, zu stehen und sich in der Abgezogenheit des >Textes<, in dem es sich artikuliert, mit eigener Autorität auszusagen. Wie kann Sprache solches tun? Es ist unbestritten, daß Sprache, so wie sie in täglicher Anwendung begegnet, dazu nicht imstande ist, aber auch, daß sie dessen nicht bedarf. Mag sie dem Ideal eindeutiger Bezeichnung des Gemeinten nahekommen oder noch so weit von solchem Ideal entfernt sein - man denke etwa an die politischen Reden—, in jedem Falle steht sie nicht für sich, sondern für etwas, das in der Praxis des erfahrenen Lebens oder der Erfahrung der Wissenschaft begegnet und woran sich geäußerte Ansichten bewähren oder woran sie scheitern. Die Worte >stehen< nicht in sich selber. Es ist erst der Lebenszusammenhang, der sie - gesprochen oder geschrieben — voll einlösbar werden läßt. Paul Valéry hat in einem geistreichen — allerdings an die alten Zeiten der Goldwährung anspielenden — Gleichnis das dichterische Wort gegen den alltäglichen Gebrauch der Sprache abgehoben. Das letztere sei wie das Kleingeld der Scheidemünze (und wie unser gesamtes Papiergeld), daß es den Wert, den es symbolisiere, nicht selbst besitze - wogegen das berühmte alte Goldstück vor dem Ersten Weltkrieg den seinem Aufdruck entsprechenden Metallwert selber besaß. So sei das dichterische Wort keine bloße Anweisung für etwas anderes, sondern sei - wie das Goldstück - das, was es darstelle. Eine ähnliche Aussage für das Wort des Philosophen kenne ich nicht wenn es nicht etwa verborgen liegt in Piatos berühmter Kritik an der Schrift und ihrer Ohnmacht, sich des Mißbrauchs dessen, der sie benutzt, zu erwehren. Denn diese Kritik weist ja auf eine Seinsweise des philosophischen Gedankens hin, die Dialektik des Dialogs, die ihrerseits für sich
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Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel
steht, so sehr, daß sie sogar in der dichterischen Mimesis des platonischen Dialogs zum Stehen zu kommen vermochte - in einem Texte freilich sehr besonderer Art, der den Leser erneut in den Dialog verstrickt, den er darstellt. Denn es baut sich erst im Dialoge oder seiner schweigenden Verinnerlichung, die wir Denken nennen, Philosophie auf- Philosophie, die unendliche Anstrengung des Begriffs. Sie läßt die alltägliche Rede mit ihren hin und her gereichten Meinungen (δόξαι) hinter sich. Heißt das nicht: Sie läßt das bloße Wort hinter sich? So scheint die Nähe zwischen Poesie und Philosophie, die in ihrer beider Absetzung von dem Worttausch der Praxis und dem Anspruch der Erfahrungswissenschaften liegt, am Ende doch ganz zu zerfallen. Sind sie nicht Extreme, das stehende und das am Unsagbaren vergehende Wort? Indes, ihre Nähe behält ihr Recht und läßt sich begründen. Dem ist die folgende Erörterung gewidmet. Dazu mag als erster Hinweis dienen, daß der Begründer der phänomenologischen Philosophie, Edmund Husserl, in der Abwehr aller naturalistischen und psychologistischen Mißverständnisse der Philosophie, die das späte 19. Jahrhundert verbreitet hatte, fur das Wesen der Philosophie ein methodisches Selbstverständnis entwickelte, das er die »eidetische Reduktion« nannte. Die Erfahrung der kontingenten Wirklichkeit wird methodisch ausgeklammert. Das geschieht de facto in allem wirklichen Philosophieren. Denn nur die apriorischen Wesensstrukturen aller Wirklichkeiten bilden—von eh und je—das Reich des Begriffs oder, wie Plato es nannte, der >Ideen<. Wer nun die rätselhafte Besonderheit der Kunst, und damit auch und vor allem die der Poesie, zu beschreiben sucht» wird es nicht vermeiden können, sich ähnlich auszudrücken. Er wird von ihrer idealisierenden Tendenz sprechen. Selbst wenn ein Künstler einer noch so realistischen oder umgekehrt in volle Abstraktheit strebenden Richtung folgt, wird er die Idealität seiner Schöpfung, ihre Enthobenheit in eine ideelle, geistige Wirklichkeit, nicht leugnen. Husserl, der die eidetische Reduktion, die die Aufhebung aller Wirklichkeitssetzung einschließt, als Methode der Philosophie lehrte, konnte daher sagen, daß im Bereich der Kunst diese eidetische Reduktion »spontan erfüllt« sei. Die Einklammerung der Wirklichkeitssetzung, die sogenannte »Epoche«, ist immer schon geschehen, wo Kunst erfahren wird - wie ja in der Tat niemand etwa ein Gemälde oder eine Statue für wirklich hält, nicht einmal im extremen Falle der Illusionsmalerei, die noch die Wirklichkeitsillusion in die Idealitätssphäre erhebt und als ästhetischen Reiz ausspielt. Man denke etwa an die Deckengewölbe in S. Ignazio in Rom, die diesen Punkt gut illustrieren. So stellt sich dort, wo Sprache das Medium ist, die Frage, die insbesondere zwischen Philosophie und den sprachlichen Künsten spielt, wie sich diese zwei eminenten und zugleich konträren Formen von Sprache zueinander
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verhalten, der in sich stehende Text der Poesie und die sich selbst aufhebende, alles Geschehen hinter sich lassende Sprache des Begriffs. Nach einem guten phänomenologischen Prinzip wollen wir diese Frage von den Extremen her angehen und wählen daher als Ausgangspunkte das lyrische Gedicht und den dialektischen Begriff. Das lyrische Gedicht ist ein Extrem, weil es ohne Zweifel am reinsten die Unablösbarkeit des sprachlichen Kunstwerks von der originalen Spracherscheinung impliziert - wie die Unübersetzbarkeit des lyrischen Gedichts in andere Sprachen es beweist. Innerhalb der Lyrik wenden wir uns an deren radikalste Gestalt, die poésie pure, wie sie von Mallarmé programmatisch gestaltet worden ist. Schon die Frage der Übersetzbarkeit - mag sie noch so negativ beantwortet werden beweist, daß es sich freilich auch im Extremfalle, bei einer aufs höchste gesteigerten Musikalität des dichterischen Wortes, um Musikalität der Sprache handelt. Es ist das ständig umspielte Gleichgewicht von Klang und Sinn, das sich als dichterische Gestaltung aufbaut. Wenn wir der Analogie folgen, die Heidegger nahegelegt hat, wenn er sagt, eine Farbe sei nie so sehr Farbe, als wenn sie in dem Gemälde eines großen Malers erscheint, ein Stein nie so sehr Stein, als wenn er der Säule zugehört, die den Giebel eines griechischen Tempels trägt - und jeder von uns weiß ja, daß der Ton der Musik überhaupt erst >Ton< ist - , stellt sich die Frage, was es heißen soll, daß das Wort und die Sprache im Gedicht am meisten Wort und Sprache sind. Was besagt das för die Seinsverfassung der dichterischen Sprache? Die Strukturierung der Klänge, Reime, Rhythmen, Vokalisation, Assonanz usw. bilden die stabilisierenden Faktoren, die das verhallende und von sich wegweisende Wort zurückholen und zum Stehen bringen. Sie konstituieren auf diese Weise eine Einheit des >Gebildes<. Aber es ist ein Gebilde, das doch zugleich die Einheit einer Rede ist. Das bedeutet, daß im Gedicht die anderen logisch-grammatischen Bauformen sinnvoller Rede mit am Werke sind, wenn sie auch zugunsten dieser Aufbaumomente des Gebildes zurückzutreten vermögen. Die syntaktischen Mittel der Sprache können äußerst sparsam eingesetzt werden. Die einzelnen Worte gewinnen durch ihr Fürsichstehen an Präsenz und an Strahlkraft. Die Konnotationen, die dem Worte seine Inhaltsfulle geben, mehr noch die semantische Gravitation, die jedem Worte von sich aus innewohnt, so daß seine Bedeutung vieles anzieht, d. h. sich vielfaltig zu bestimmen weiß, vermögen sich dank dieser syntaktischen Unterbestimmtheit frei auszuspielen. Die dadurch zustande kommende Vieldeutigkeit und Dunkelheit des Textes mag die Verzweiflung des Interpreten sein - sie ist ein Strukturelement solcher Poesie. All das führt die Rolle des Wortes in der Rede auf ihre ursprünglichste Möglichkeit zurück, auf das Nennen. Mit dem Nennen ist stets etwas in die Gegenwart gerufen. Zwar kann niemals ein einzelnes Wort als solches, ohne Kontextbestimmtheit, die Einheit eines Sinnes evozieren, der erst im Gan-
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Philosophie und Poesie
zen einer Rede erzeugt wird. Und wenn gar noch, wie im modernen Gedicht, die Einheit einer Bildvorstellung gebrochen und überhaupt jede beschreibende Haltung verlassen wird — zugunsten überraschender Beziehungsfülle des Unverbundenen und Ungleichartigen —, fragt man sich, was die Worte, die da nennen, eigentlich meinen. Was wird da genannt? Gewiß steht solche Lyrik in der Nachfolge des Barockgedichtes, aber sie läßt doch auch wieder den einheitlichen Hintergrund einer gemeinsamen Bild- und Bildungstradition vermissen, wie ihn das Barockzeitalter besaß. Wie soll sich aus Klangfiguren und Sinnfetzen ein Ganzes bilden? Das führt zu dem hermetischen Charakter der poésie pure. Am Ende ist der hermetische Charakter solcher Lyrik in einem Zeitalter der Massenkommunikationsmittel eine einsehbare Notwendigkeit. Wie soll sich das Wort aus den Fluten des Mitgeteilten noch herausheben? Wie soll es auf sich versammeln, wenn nicht durch die Befremdung der allzu gewohnten Redeerwartungen? Das Nebeneinander der Wortblöcke schichtet sich langsam zum Ganzen des Baues und nicht ohne die Konturen jedes dieser Blöcke eigens hervorzukehren. Das geht so weit, daß von manchen bei sehr modernen Gedichten die Einheit des Redesinnes zuweilen überhaupt als unangemessene Forderung abgewiesen wird. Ich meine: zu Unrecht. Die Einheit von Sinn ist nicht aufgegeben, wo Rede ist. Aber sie ist auf komplexe Art verdichtet. Fast scheint es, als dürfte man die durch Nennung aufgerufenen >Sachen< gar nicht wirklich in den Blick nehmen, da die Wortfolge sich gewiß nicht zur Einheit einer Gedankenfolge fügen oder sich in die Einheit einer Anschauung verschmelzen läßt. Und doch ist es gerade die Feldstärke der Worte, die Spannung ihrer Klang- und Sinnenergien, die sich begegnen und tauschen, welche das Ganze bilden. Was Worte heraufrufen, sind Anschauungen - freilich sich häufende, sich kreuzende, sich aufhebende — aber Anschauungen. Kein Wort eines Gedichts meint das nicht, was es besagt. Aber es stellt sich zugleich auf sich selbst zurück, damit das Abgleiten in die Prosa der Rede und die ihr zugehörige Rhetorik ferngehalten wird. Das ist der Anspruch und die Legitimation der poésie pure.
Stilmittel des Gesanges, Strophe und Refrain etwa, teilt, oder das politisch engagierte Gedicht, das die gleichen und dazu noch andere ausgesprochen rhetorische Formen nutzt. Dennoch bleibt auch in diesen Fällen von der sprachlichen Erscheinungsweise her der reine Fall der poésie pure bestimmend - so sehr, daß das lyrische Genos des Liedes selten die bruchlose Übertragung in das Medium der Musik erlaubt, und dort am wenigsten, wo es sich selbst am meisten in sich stellt. Es hat alsdann, mit Hölderlin zu sprechen, zu sehr seinen >Ton<, als daß es sich in eine andere Melodie transponieren lassen will. Selbst für die >engagierte< Poesie gilt das gleiche Maß1. Dort erst recht. Denn alles Gutgemeinte, ζ. Β. in Kriegs- oder Revolutionsdichtung, hebt sich von dem, was >Kunst< ist, deutlich ab, und offenbar durch nichts anderes als durch die poetische Formdichte des Gekonnten, die dem bloß Gutgemeinten abgeht. Auch die Simultaneität der Dichtung durch die Zeiten hindurch, ihre Filterung durch den Zeitenabstand, ihre kontinuierliche Erneuerung und Wiederkehr im Laufe der Zeiten, beruht darauf. In allem Absterben der zeitgenössischen Relevanzen—im Falle der griechischen Tragödie sogar ohne alle musikalisch-choreographische Begleitung - ist der reine Text am Leben geblieben, weil er als Sprachgestalt in sich steht.
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Es versteht sich, daß der Extremfall der poésie pure auch die anderen Formen dichterischer Rede beschreibbar werden läßt. Es ist ja eine ganze Skala ansteigender Übersetzbarkeit, die vom lyrischen Gedicht über das Epos und die Tragödie — ein Sonderfall des Übergangs in die Sichtbarkeit, •μετάβασις εις äXL· γένος - bis hin zum Roman und zu anspruchsvoller Prosa reicht. Hier überall sind es nicht allein die oben genannten sprachlichen Mittel, die die Stabilität des Werkes tragen. Es gibt die Rezitation oder es gibt die Bühne. Oder es gibt einen Erzähler oder gar einen Autor, der - wie ein Redner - schreibend spricht. Eben deshalb ist es um die Übersetzbarkeit bei diesen Formen entsprechend besser bestellt. Aber selbst innerhalb der lyrischen Gattung gibt es Formen, wie das Lied, das mit dem Gesang die
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Was aber hat das alles mit Philosophie und der Nähe von Gedicht und Gedanke zu tun? Was ist Sprache in der Philosophie? Es scheint nur sinnvoll, unter dem gleichen phänomenologischen Grundsatz der Extremfalle die Dialektik, insbesondere in ihrer Hegeischen Form, zum Gegenstand zu machen. Gewiß handelt es sich dabei um eine ganz andere Art von Abstandnahme von der alltäglichen Rede. Nicht deren Prosa droht sich in die Sprache des Begriffs einzuschleichen, sondern es ist die Logik des Satzes, die in die Irre fuhrt - um mich mit Hegel auszudrücken: » Die Form des Satzes ist nicht geschickt, spekulative Wahrheiten auszudrücken.«1 Was Hegel mit dieser Aussage beschreibt, ist durchaus nicht auf die Besonderheit seiner eigenen dialektischen Methode beschränkt. Im Gegenteil, er stellt damit den gemeinsamen Zug alles Philosophierens — mindestens seit Piatos >Wendung zu den Logoi« — heraus. Innerhalb dessen bildet seine eigene Methode der Dialektik nur eine besondere Spielart. Die gemeinsame Voraussetzung allen Philosophierens ist, daß die Philosophie als solche keine Sprache hat, die ihrem eigenen Auftrag angemessen ist. Die Form des Satzes, die logische Struktur der Prädikation, der Zuordnung eines Prädikats zu einem gegebenen Subjekt, ist zwar unvermeidbar, wie in aller Rede. Aber sie macht die irreführende Voraussetzung, als wäre der Gegenstand der Philosophie gegeben und bekannt wie die beobachtbaren Dinge und Vorgänge in der Welt. Die Philosophie bewegt sich jedoch ausschließlich im Medium des Begriffs, 1 Vgl. dazu >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 470ff. und meinen Beitrag »Die Idee der Hegeischen Logik< in Ges. Werke Bd. 3, S. 65-86.
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»in Ideen, durch Ideen, hin zu Ideen« (Plato)2. Die Beziehung der Begriffe zueinander expliziert sich nicht in einer »äußeren« Reflexion, die einen Subjektbegriff von außen, d.h. unter dieser oder jener Hinsichtnahme, die einer wählt, anvisiert. Hegel hat diese »äußere Reflexion« geradezu als die »Sophisterei der Wahrnehmung« bezeichnet, eben wegen der Willkürlichkeit solcher Anvisierung einer Sache, die als die Prädizierung dieser oder jener Eigenschaft von einem Subjekt ausgesagt wird. Das Medium der Philosophie ist vielmehr die Spekulation, die Spiegelung der Gedankenbestimmungen ineinander, in der und durch die das Denken der Sache sich in sich selbst bewegt und artikuliert. In sich selbst - das meint: auf den Begriff hin, das im Denken Gemeinte in der Totalität und Konkretion, die es ist Sein und Geist. Der platonische >Parmenides< galt Hegel als das größte Kunstwerk der antiken Dialektik, eben weil Plato in dieser Schrift die Unmöglichkeit bewies, eine Idee für sich selbst, abgelöst von dem Ganzen der Ideen, zu bestimmen, und Hegel hat richtig erkannt, daß auch bei Aristoteles die Logik der Definition, das Instrument aller begreifenden Klassifikation der Erfahrung, an der eigentlichen Dimension der philosophischen Prinzipien ihre Grenze findet. Sie sind Erste (άρχαί), nicht klassifizierbar, sondern einer andersartigen Reflexion allein zugänglich, die er mit Plato >Nous< nannte. Diese >ersten<, größten, transzendentalen, d. h. jeden gattungsmäßig begrenzbaren Sachbereich übersteigenden Gedankenbestimmungen bilden in all ihrer Vielfalt eine Einheit. Hegel nennt sie mit einem bezeichnenden Singular »die Kategorie«. Sie alle sind »Definition des Absoluten«, nicht Definitionen von Sachen oder Sachbereichen im Stile der klassifikatorischen Logik des Aristoteles, derzufolge sich das Wesen einer Sache durch einen Gattungsbegriff und die spezifische Differenz bestimmt. Sie sind in einem weit wörtlicheren Sinne von >Horos< Grenze und begrenzend. Es sind Abgrenzungen, die sich in der Totalität des Begriffs gegeneinander abheben und die nur alle insgesamt die ganze Wahrheit des Begriffs sind. Solche Sätze spiegeln somit die Aufhebung ihres eigenen Setzens in sich selber. Sie heißen spekulative Sätze, Spiegelsätze, wie Heraklits Sprü3 che, die im Gegensatz das Eine, das Weise (εν το σοψόν) sagen . Sie halten den Gedanken in sich fest, holen ihn aus aller Äußerung zurück, so daß er >in sich< reflektiert wird. Die Sprache der Philosophie ist so sich selbst aufhebende Sprache - nichtssagend und aufs Ganze gehend zugleich. Wie die Sprache der poésie pure, die alle Prosa - oder besser: alle gewohnten Figuren des Rhetorischen - hinter sich läßt, ein Grenzfall ist und ein Maß, so ist auch die Hegeische Dialektik ein Grenzfall und zugleich ein Maß. Hegels eigener Versuch, in cartesianischer Methodik durch sich dialektisch vermit2 3
Politeia 511 c 2: εϊδεοιν αύιοϊς Si' αύταν εις σύτά. Siehe dazu meine >Heraklit-Studien< in Ges. Werke Bd. 7, S. 43-82.
Philosophie und Poesie
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telnde Fortbestimmung des Gedankens diese Grenze einzuholen, bleibt selber eine bloße Annäherung und vielleicht auf ähnliche Weise begrenzt, wie die Auslegung eines jeden Gedichts. Jedenfalls war sich Hegel dessen durchaus bewußt, daß das gediegene Ganze des Gedankens eine nie ganz erreichbare Aufgabe bleibt. Er hat selbst von der Verbesserungsmöglichkeit seiner Logik gesprochen und hat häufig neue dialektische Ableitungen an die Stelle früherer treten lassen. Das Kontinuum des Gedankens ist, wie jedes Kontinuum, ins Unendliche teilbar. Und wie ist es bei der Poesie? Unerreichbare Aufgabe ist hier nicht nur die interpretatorische Ausschöpfung eines Gedichts - die Idee der poésie pure bleibt fur das Dichten selbst eine nie ganz erreichbare Aufgabe. Das gilt am Ende furjedes Gedicht. Der Schöpfer der poésie pure, Mallarmé, scheint von dieser Entsprechung gewußt zu haben. Jedenfalls wissen wir, daß er Jahre einem intensiven Hegel-Studium gewidmet hat, und es waren die kostbarsten Gebilde seiner Poesie, in denen er die Begegnung mit dem Nichts wie die Beschwörung des Absoluten ins Wort bannt. Sich gebend, sich entziehend? Es scheint für den Dichter wie für den Philosophen, von Plato bis Heidegger, die gleiche Dialektik von Entdeckung und Entzug im Geheimnis der Sprache zu walten. Beide Weisen des Redens, das dichterische wie das philosophische, teilen daher einen gemeinsamen Zug. Sie können nicht >falsch< sein. Denn da ist kein Maßstab außerhalb ihrer gegeben, an dem sie sich messen, dem sie entsprechen könnten. Und doch sind sie alles andere als beliebig. Sie sind ein Wagnis eigener Art — sie können sich selbst verfehlen. Das geschieht in beiden Fällen nicht so, daß eine Entsprechung in den Sachen ausbliebe, sondern so, daß das Wort >leer< wird. Im Falle der Dichtung heißt das, daß es, statt zu klingen, >anklingt<, sei es an andere Dichtung, sei es an die Rhetorik des täglichen Lebens. Im Falle der Philosophie heißt es, daß die philosophische Rede im Formalen des bloßen Argumentierens steckenbleibt oder in leere Sophisterei verfallt. In beiden Verfallsformen von Sprache - dem Gedicht, das keines ist, weil es keinen >eigenen< Ton hat, und der leeren Formel des Denkens, die nicht zur Sache kommt — verfehlt das Wort sich selbst. Wo es sich erfüllt, das heißt, wo es Sprache wird, haben wir es beim Wort zu nehmen.
Philosophie und Literatur
21. Philosophie und Literatur (1981)
Daß das literarische Kunstwerk innerhalb aller sprachlichen Phänomene ein privilegiertes Verhältnis zur Auslegung besitzt und damit in die Nachbarschaft zur Philosophie rückt, scheint mit phänomenologischen Mitteln erweisbar. Um das überzeugend zu machen, muß man davon ausgehen, daß sich die zentrale Stellung des Auslegens erst aus der späteren Entfaltung der phänomenologischen Forschung ergeben hat. Für Husserl war das Etwasak-etwas-Auffassen oder gar es auf seine Bedeutung hin, auf seinen Wert hin beurteilen oder behandeln eine höherstufige Form von geistiger Aktivität, die sich auf die grundlegende Phänomenschicht der sinnlichen Wahrnehmung aufbaut. Insofern kommt für ihn die hermeneutische Dimension erst später. Für ihn war das erste die leibhaftige Gegebenheit des Wahrnehmungsgegenstandes in der >reinen< Wahrnehmung. Zwar verhielt sich Husserl selbst in seiner sorgsamen deskriptiven Arbeit durchaus hermeneutisch, und seine Anstrengung galt betändig der Aufgabe, die Phänomene >auszulegen<, in immer erweiterten Horizonten, mit immer gesteigerter Genauigkeit. Aber er hat nicht darüber reflektiert, wie sehr der Begriff des Phänomens selber mit dem >Auslegen< verwoben ist. - Das tun wir seit Heidegger. Er hat uns gezeigt, daß Husserls phänomenologischer Ansatz ein geheimes dogmatisches Vorurteil enthielt. Schon Scheler, dessen reger Geist Motive des amerikanischen Pragmatismus und Nietzsches sowie die Ergebnisse der modernen Sinnesforschung verarbeitet hatte, legte dar, daß es keine reine Wahrnehmung gibt. >Reine<, >reizadäquate< Wahrnehmung ist eine Abstraktion, sozusagen die Schwundstufe aller gelebten Weltorientierung. Zu zeigen, daß diese Abstraktion von der vollen Konkretion des gelebten Lebens zwar eine der Grundvoraussetzungen der >Objektivität< der wissenschaftlichen Forschung ist, gleichwohl aber ein >ontologisches< Vorurteil hinter sich hat, das man von der Geschichte der Metaphysik her durchschauen kann, war das große Verdienst von Heidegger. Die Tatsache selber, daß Wahrnehmen im Zusammenhang eines pragmatischen Lebenszusammenhanges begegnet und daß insofern das primäre Phänomen immer das Etwas-als-etwas-Sehen ist und nicht die sinnliche Wahnehmung, die vermeintlich die reine Subjektge-
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gebenheit erfaßt, hatten bereits der amerikanische Pragmatismus und - in anderer Weise - die Gestaltpsychologie zum Gegenstand ihrer Studien gemacht. Alles Sehen ist immer schon >Auffassen als<. Aber was wir seit Heidegger erst einsehen, ist, daß es die metaphysische Erbschaft der Griechen war, die den Dogmatismus der >reinen Wahmehmung< heraufgeführt und unsere Erkenntnistheorie in diese Enge getrieben hat. Was Heidegger seine radikale Einsicht ermöglichte, beruhte auf dem einzigartigen Zusammentreffen, daß Heidegger zugleich in die Schule Husserls und die des Aristoteles gegangen war. Im Unterschiede zu den anderen Phänomenologen und erst recht im Unterschiede zum Neukantianismus, der damals in meiner Jugend die deutsche Szene völlig beherrschte, war Heidegger, durch Herkunft und Erziehung vorbereitet und durch die gesunde Kraft seines Denkens unterstützt, durch die hohe Qualität einiger seiner akademischen Lehrer in der theologischen Fakultät in Freiburg gefördert, zu einem radikal neuen, konkreten Verständnis des Aristoteles gelangt. Das sollte Epoche machen. Ich selbst komme aus der neukantianischen Schule von Marburg. In Marburg hielt man von Aristoteles gar nichts. Hermann Cohen hatte einen besonders drastischen Ausdruck für seine Einschätzung des Aristoteles: »Aristoteles war ein Apotheker ...« Damit meinte er, Aristoteles sei ein bloß klassifizierender Denker gewesen, so wie der Apotheker seine Schubkästen und seine Dosen und Gläser hat, auf die er immer ein Etikett klebt. Das war gewiß nicht gerade die tiefste Einsicht in den Beitrag, den-Aristoteles zu dem philosophischen Gedanken der Menschheit erbracht hat. Heidegger wußte es besser und liebte das »Stahlbad« des aristotelischen Denkens. Er lehrte uns nun, daß noch in Husserls Beginn mit der sogenannten reinen Wahrnehmung griechisches, aristotelisches Denken unbewußt wirksam war und seine phänomenologische Wendung »zu den Sachen selbst« beirrte. Das griechische Erbe drückt sich in der Wendung der abendländischen Philosophie von der Substanz zum Subjekt bis ins Sprachliche hinein aus. >Substanz< und >Subjekt< sind ja beide zwei mögliche Obersetzungen von >Hypokeimenon< oder >Ousia<. Sie besagen eigentlich dasselbe: das Darunterstehende oder das Darunterliegende, das in allem Wechsel der Akzidenzien, im Wechsel der Erscheinungen, unverändert, dauerhaft, beständig da ist. Der ganze Weg des abendländischen Denkens ist in dieser terminologischen Tatsache gleichsam wie in einer Nuß beisammen. Wenn wir heute >Subjekt< sagen, merken wir gar nicht mehr, daß wir damit einen Spezialfall des Zugrundeliegens von etwas Dauerhaftem gegenüber dem Wechselnden, einen Spezialfall von Substanz im Auge haben, nämlich den Fall des Bewußtseins, in dem alle seine Vorstellungen, alle seine >Ideen< wechseln und das doch >es selbst« bleibt und insofern Selbstbewußtsein ist. Ich erinnere an die berühmte Wendung Kants, dieses Zauberwort, bei
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Die Kunst des Wortes
dessen geheimnisvollem Klang jeder Anfänger der Philosophie sich in Wahrheit nichts denken kann, die »transzendentale Synthesis der Apperzeption«, Kants technischer Ausdruck für die schlichte Tatsache, daß das »Ich denke« alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Es kann keine Vorstellung geben, die nicht die Vorstellung dessen ist, der sie selber hat. Erst mit der Kantischen Anwendung des SubjektbegrifFs setzt die Bedeutungsdifferenzierung zwischen >Substanz< und >Subjekt< ein. Von nun an ist die ganze moderne Philosophie durch die Reflexionsstruktur der Subjektivität geprägt. Was Heidegger damit erkannt hatte, ist, daß zwischen der Begriffssprache der Griechen, die ihre Welterfahrung als Physik und als Metaphysik, also im Blick auf den Kosmos, entwickelt hatten, und unserem eigenen modernen, durch das Christentum wesentlich mitbestimmten und geformten Welterfahren eine tiefe Spannung besteht, sofern als Seele, Herz, Innerlichkeit, Selbstbewußtsein oder vielleicht etwas, das noch tiefer wurzelt als das Selbstbewußtsein, unser eigenes Daseinsverständnis, die Frage nach dem endlich-geschichtlichen Sein, das wir sind, bestimmen. In der Tat hat Heidegger, wie ich meine, richtig gesehen, daß die Dimension, in der diese menschlichen Fragen zu Hause sind, sich nicht auf die faszinierende Frage nach dem Ganzen des Seienden beschränkt. Gewiß, bis zum heutigen Tage machen wir alle die Erfahrung, daß fast nichts an der Philosophie so populär ist, das heißt, so alle Kreise anzusprechen vermag, wie die kosmologischen Fragen. Das bleibt wahr. Aber ebenso ist wahr, daß die kosmologische Grundorientierung der Griechen und die Übertragung der Begriffe, die für die kosmologische Fragestellung von den Griechen entwickelt worden sind, auf die christliche Tradition unserer Kultur eine Problematik darstellt, die uns alle zutiefst angeht. Um es mit einer plastischen Formel zu sagen: Das verläßliche Dasein des Weltalls, für das Aristoteles die Garantie seiner Dauer darin sah, daß er sein Ungeschaffensein und Unzerstörbarsein durch die Kraft der begrifflichen Argumentation meinte bewiesen zu haben, wird übertönt durch die Frage des Menschen nach seinem eigenen endlichen Dasein und nach seiner Zukunft. Es war die jüdisch-christliche Entdeckung des Vorrangs der Zukunft, die Eschatologie und ihre Verheißung, die eine Dimension des Weltverständnisses aufriß, die bei den Griechen nur ganz am Rande stand, die Dimension der Geschichte. Daß Geschichte nicht nur Geschichten sind, Dinge, die man sich erzählt, weil sie geschehen sind und weil sie — als menschliche Schicksale - Interesse haben, sondern daß Geschichte den Gang des Menschengeschlechts durch die Zeiten bestimmt, und sei es auch in der Gestalt der Heilsgeschichte und der Heilserwartung, das hat einen anderen Aspekt menschlicher Erfahrung in den Vordergrund gedrängt: die Hoffnung. Die gesamte Geschichte des abendländischen Denkens durchzieht die Spannung zwischen dieser sich entfaltenden gesdüchtli-
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chen und zugleich auf die Zukunft gerichteten menschlichen Erfahrung und einer Begriffsbildung, die am Kosmos geschöpft worden war. Diese Spannung reicht durch die ganze Metaphysik hindurch bis zu Hegel, und noch in der Auflösung dieser Tradition der Metaphysik drückt sich das gleiche in dem spannungsvollen Gegensatz zwischen den Begriffen des Bewußtseins und Selbstbewußtseins auf der einen Seite und der Geschichtlichkeit auf der anderen Seite aus. Wir kennen das als das Problem des Historismus, das die Geschichte der nachromantischen und romantisch bestimmten Denkweise des späten 19. Jahrhunderts beherrscht. Eine Lösung desselben schien nicht abzusehen, bis Heidegger auftrat. Er hat uns — mir und vielen anderen — sozusagen darüber die Augen geöffnet, daß die Begriffe, in denen wir denken, immer schon für uns gedacht haben. Anders ausgedrückt, daß die Begrifflichkeit, in der wir unsere Gedanken zu fassen suchen, vorprägend ist und das vorbestimmt, was wir von unseren eigenen Denkerfahrungen aus in den Griff bekommen können. Das bedeutete für das Problem des Historismus seine kritische Hinterfragung, sofern nun nicht mehr Subjekt, Objekt, Bewußtsein und Selbstbewußtsein, sondern die Zeitlichkeit des Verstehens, Sich-âtif-etwas-Verstehen wie Sich-als-etwas-Verstehen, die zentrale Stellung gewinnt. In Wahrheit hieß das, daß die Phänomenologie phänomenologischer geworden ist, sofern sie nicht bei der >Gegebenheit< des >Objekts< der angeblich >reinen< sinnlichen Wahrnehmung, sondern in dem Engagement der praktischen Lebenserfahrung, die immer eine zeitlich-geschichtliche ist, ihren Einsatz nimmt. Diese in großen Linien gezogene Einleitung sollte lediglich die philosophische Bedeutung der >Hermeneutik< sichtbar machen und die Frage vorbereiten: Was ist Literatur und was bedeutet Literatur (im Sinne der sprachlichen Kunst) für die Philosophie? Ich habe in meinen eigenen Arbeiten die hermeneutische Dimension des Etwas-als-etwas-Verstehens und Sich-auf-etwas-Verstehens, diese essentielle Zukünftigkeit, die wir sind, den Charakter des Entwurfs, auf den hin wir leben - Bloch nannte es das Prinzip Hoffnung - , in einer bestimmten Richtung weiter artikuliert. Ich ging von der einfachen Einsicht aus, daß wir nur das verstehen, was wir als Antwort auf eine Frage verstehen1. Diese triviale Feststellung gewinnt ihre eigentliche Pointe darin, daß wir gerade auch eine Frage erst verstanden haben müssen, bevor wir auf sie eine Antwort geben oder etwas als Antwort auf sie verstehen können. Jeder kennt es, daß er etwas gefragt wird und weiß nicht recht zu antworten, weil er nicht versteht, was der andere wissen will. Die natürlichste Gegenfrage ist dann: Warum fragst du das? Erst wenn ich weiß,'warum der andere fragt - was er eigentlich wissen will - , kann ich antworten. Diese Beschreibung, so selbstverständlich sie klingt, enthält eine 1
Vgl. >Wahrheit und Methode (Ges. Werke Bd. 1), S. 368ff.
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wirklich abgründige Dialektik. Wer stellt die erste Frage, wer versteht diese Frage so, daß er sie >richtig< beantworten kann - d. h. wirklich das sagen, was er selber meint? Wer hat nicht schon beim Verstehen der Frage das Bewußtsein, daß mit ihr bereits seine Antwort vorbeantwortet ist? Es ist die Dialektik von Frage und Antwort, daß in Wahrheit jede Frage selber wieder eine Antwort ist, die eine neue Frage motiviert. So weist der Prozeß des Fragens und Antwortens auf die Grundstruktur menschlicher Kommunikation, die Urverfassung des Dialogs. Sie ist das Kernphänomen menschlichen Verstehens. Wie steht es nun damit im Falle des literarischen Kunstwerks? Was heißt da >verstehen Wenn ich in irgendeiner Abhandlung, in irgendeinem Text der Wissenschaft oder in einem Brief oder in einer Notiz einen Satz lese, dann ist es einfach zu sagen, was da >verstehen< heißt - nämlich, daß ich weiß, was der andere sagen will. Ich habe die Frage verstanden, auf die hin das Gesagte seine Bedeutung gewinnt. Dies Modell von Frage und Antwort charakterisiert all unser Erkennen in der Wissenschaft wie im praktischen Leben. Aber wie ist es mit der Sprachkunst, deren Werke wir im eminenten Sinne >Literatur< nennen? Ich möchte die Frage in drei Schritten vorbereiten.
jeden Mißbrauch von Rede durch die Gegenrede abfängt. Das ist eine platonische Einsicht, die Plato dann in seinem berühmten 7. Brief noch ausdrücklich begründet hat2. Er geht da so weit zu sagen, daß man von allen Göttern verlassen sein müsse, wenn man glaube, man könne in schriftlicher Form das wirklich Wesentliche und Wahre niederlegen.
1. Ist es nicht merkwürdig, daß wir die Meisterwerke der Sprachkunst von der Schriftlichkeit aus bezeichnen? >Geschriebensein< bildet den Hintergrund des Wortes >Literatur<. Was macht denn aber das Geschriebensein gegenüber der Ursprünglichkeit des Gesprochenseins überhaupt bedeutsam? Wieso kann, wie es doch der Fall ist, Literatur geradezu ein WertbegrifF werden, so daß wir zum Beispiel von einem schlechten Gedicht sagen: Literatur ist das nicht - oder umgekehrt von einem Meisterwerk wissenschaftlicher Prosa sagen: das ist geradezu Literatur? Wie kommt es und was bedeutet es, daß das Geschriebene hier auf den obersten Rang gestellt wird? Man erinnere sich an die Geschichte, die Sokrates im >Phaidros< erzählt, wie Theuth die Schrift erfindet und dem ägyptischen König als eine Erfindung anpreist, die für die Menschheit von ungeheurem Wert sei, da sie das Gedächtnis der Menschheit unendlich stärken werde. Der weise König von Ägypten aber entgegnete: Was du erfunden hast, wird nicht zur Stärkung des Gedächtnisses, es wird zur Schwächung des Gedächtnisses fuhren. Sokrates sah also darin nicht einen Forschritt. Geschweige denn, daß ihm in den Sinn kam, daß das gesprochene Wort sozusagen durch etwas Höheres überholt werden könnte. Vielmehr sah er das Geschriebene als preisgegeben, der Prostitution, dem Mißbrauch, der Verdrehung ausgesetzt. Die Authentizität, die Eigentlichkeit verbindlichen Wortaustausches verliert sich ins Dubiose. Schrift ist hier im Unterschied zur Rede dadurch charakterisiert, daß sie sich nicht selber helfen kann. Der Autor hat sich ausgeliefert, während er im lebendigen Gesprächsaustausch jedes Mißverständnis und
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2. Schriftlichkeit bedeutet jedenfalls den Verlust sprechender Unmittelbarkeit. In allem Geschriebenen fehlt die Modulation, die Gestik, die Betonung usw. Wir kennen alle das Problem des Vorlesens3. Im Unterricht gehört es zur allgemeinen Erfahrung: Wenn ein Schüler einen Satz vorzulesen hat, den er nicht verstanden hat, dann versteht man ihn selber nicht mehr. Man kann nur verstehen, wenn einer liest, als ob er spräche, d. h., wenn er so vorliest, daß das nicht mehr ein gleichsam buchstabierendes Abrollenlassen von Worten ist, eins nach dem andern, sondern wenn es wie der lebendige Vorgang des Sprechens vor sich geht, in dem, wie wir in einer schönen deutschen Wendung sagen, ein Wort das andere gibt. Auch an einer anderen Erfahrung läßt sich das klarmachen. Den Schauspieler, der nicht sehr gut ist, erkennt man unfehlbar daran, daß er immer eine Sekunde zu früh zu sprechen anfängt und daß man auch weiterhin das Gefühl behält, daß er immer etwas abliest und nicht wirklich spricht. Das ist in der Tat ein hermeneutisch hochinteressantes Phänomen. Im 18. Jahrhundert, im Zeitalter des Pietismus, ist es im Zusammenhang der Hermeneutik der Predigt zuerst beachtet worden. Der Obergang vom älteren Lautlesen oder Vorlesen zum stillen Lesen markiert dann eine neue Phase, die sowohl für die Kunst des Schreibens wie fur das Lesen neue Bedingungen schafft. Das müßte die Stilanalyse von >Literatur< im Auge behalten. Jedenfalls zeigt auch dieser Tatbestand, daß die Schriftlichkeit eine Minderung bedeutet. 3. Immerhin, Schriftlichkeit hat auf der anderen Seite eine erstaunliche Authentizität. Man läßt sich etwas schriftlich geben, wenn man des Gesagtseine gewiß sein will, und man glaubt dem, was schriftlich gesagt ist, eher. Aber daß es überhaupt möglich ist, durch Mitteilung von Worten in der gefrorenen Form der Schrift den vollen Sinn des Gesagten zu erhalten, so daß durch Schrift das Gesagte wieder ganz >da< ist! Es wird in seinem vollen Sinne wieder sprechend, wenn einer es liest. Freilich, was Lesen ist und wie Lesen geschieht, scheint mir eines, der noch dunkelsten und einer phänomenologischen Analyse am meisten bedürftigen Dinge. 2
Siehe dazu >Dialektik und Sophistik im Siebenten platonischen Briefi, jetzt in Ges. Werke Bd. 6, S. 90-115.' 3 Vgl. dazu auch im folgenden >Stimme und Sprache< (Nr. 22) und >Hören - Sehen Lesen« (Nr. 23).
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Wenn man >Lesen< dadurch definiert, daß es schriftlich fixierte Sprache wieder zum Sprechen bringt, gewinnt man einen weitesten Begriff von Literatur und von Text. In jedem Falle bedeutet der Durchgang durch die Schriftlichkeit eine Ablösung von dem ursprünglichen Sprachgeschehen. Was wir als Literatur auszeichnen und erst recht das literarische Kunstwerk sind aber nicht allein negativ zu bestimmen. Es ist nicht nur das Fixierte des gesprochenen Wortes, das in seiner Kommunikationskraft immer ein geschwächtes Wort ist. Literatur und erst recht das sprachliche Kunstwerk sind vielmehr ein aufrichtiges Gelesenwerden von sich aus angelegtes Wort. Je nach den Bedingungen, unter denen das Schriftliche gebraucht werden soll, wird sich daher die schriftliche Fixierung modifizieren. So werden wir etwa unterscheiden müssen: die Notiz zum eigenen Gebrauch, für deren Benutzung das eigene Gedächtnis vorausgesetzt wird; ferner den Brief, der dank der Bestimmtheit seiner Adresse seinerseits gewisse Bedingungen des Verstehens voraussetzen kann; und endlich alle Formen von Publikation, die einen unbestimmten Leser ansprechen. Damit sich in solchem Falle die Mitteilungsabsicht erfüllt, bedarf es mehr oder minder einer Art Kunst des Schreibens. In allen Fällen teilt die Schriftlichkeit die Intention des Sprechens mit, soweit die Übermittlung eines fixierbaren Inhalts damit angestrebt wird. Alle diese Formen der Schriftlichkeit vollbringen daher die Ablösung von dem ursprünglichen Sprechakt und verweisen nicht primär auf den Sprecher zurück, sondern auf das von ihm Gemeinte. Aller Schriftlichkeit ist daher eine Art Idealität eigen4. Ich weiß dafür kein anderes Wort als das von Plato eingeführte. Dies Wort ist auch fur die Seinsart des Mathematischen brauchbar, ohne die metaphysische Ideenlehre Piatos zu implizieren. >Idealität< kommt in Wahrheit nicht nur der Schriftlichkeit, sondern auch dem ursprünglichen Sprechen und Hören zu, sofern sich dessen Inhalt von der Konkretion des Sprechaktes ablösen und erneut wiedergeben läßt. Das Ideal-Identische zeigt sich darin, daß solche Wiedergabe möglich ist und mehr oder minder angemessen sein kann. Gleiches gilt nun vom Lesen. Nur weil der Text in reiner Idealität für uns da ist, ist es uns möglich zu sagen, jemand lese gut oder schlecht vor. Ein gut vorgelesener Text ist ein mit Verständnis vorgelesener und ist entsprechend verständlich. Einen schlecht vorgelesenen Text kann niemand verstehen. Nun tritt aber eine gewaltige Modifikation ein, wenn es sich um einen literarischen Text im Sinne des sprachlichen Kunstwerkes handelt. Da geht es nicht nur darum, Gemeintes zu verstehen, sondern es gerade auch in seiner sprachlichen Erscheinung zu vollziehen. Das literarisch fixierte Wort ist in solchem Falle auf das Gehörtwerden angelegt. Das läßt sich etwa an der
heute viel diskutierten Oral poetry gut beobachten. Die Kodifizierung epischer oder lyrischer Tradition, die in >Liedern< lebt, ist bereits in den Memonerqualitäten solcher Sprachgebilde angelegt. Eine extrem andere Situation haben wir dort, wo überhaupt kein Vortragen oder Vorlesen mehr vorausgesetzt ist, sondern nur eigenes bzw. stilles Lesen. Aber auch da ist im Falle des literarischen Kunstwerkes mehr erwartet als die bloße Übermittlung eines abstrahierbaren Inhalts. Die sprachliche Erscheinung soll ebenfalls übermittelt werden, aber gewiß nicht die des ursprünglichen Sprechaktes. Auch diese Übermittlung setzt vielmehr die Ablösung von dem ursprünglichen Sprechen voraus und hat an der Idealität teil, die aller Schriftlichkeit, aller Literatur und jedem Text, zukommt. Zur konkreten Veranschaulichung dessen denke man daran, wie es einem geht, wenn man Verse oder Prosa, die man besonders liebt und im Ohr hat, einmal durch den Dichter selber vorlesen hört. Ich will dabei annehmen, daß er seine Sache gut macht, was gar nicht selbstverständlich ist. Ein guter Dichter ist nicht immer ein guter Sprecher. Aber in jedem Falle erfährt man etwas wie einen Schreck. Warum hat er gerade diese Stimme? Warum skandiert, akzentuiert, moduliert und rhythmisiert er seine Verse gerade so, wie er es tut, und nicht genauso, wie ich sie im Ohr habe? Auch wenn ich ihm unterstelle, daß er richtig betont und mit Sinn für die Klangstruktur seine eigene literarische Schöpfung vorträgt, bleibt ein Moment der Kontingenz darin, etwas Unwesenhaftes, das das, was mir wesentlich ist, zu verdecken scheint. Meine These ist nun, daß das literarische Kunstwerk mehr oder weniger sein Dasein für das innere Ohr hat. Das innere Ohr vernimmt das ideale Sprachgebilde — etwas, was keiner je hören kann. Denn das ideale Sprachgebilde verlangt von der menschlichen Stimme Unerreichbares - und eben das ist die Seinsweise eines literarischen Textes5. Diese Idealität macht sich natürlich auch geltend, wenn man selber versucht, etwas vorzulesen oder laut vor sich hin zu sprechen. Wir sind uns mit unserer eigenen Stimme und dem Grad, wie ihr Modulation und Betonung gelingt, genauso zufällig.
Vgl. >Wahrheit und Methode (Ges. Werke Bd. 1), S. 393ff.
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Wo sind wir hier auf einmal hingekommen? Zu einer Schriftlichkeit, die der Sprache noch voraus ist, und zwar unerreichbar voraus! >Literatur< bleibt nicht, wie es in dem ersten Zugang zur Schriftlichkeit schien, hinter der Sprache unvermeidlich zurück. Vielmehr ist Literatur zwar sprachliches Kunstwerk, aber als solches ein Schriftliches, das aller möglichen Verlautlichung voraus ist. Das soll natürlich nicht heißen, daß man Dichtung nicht auch laut vorlesen soll. Das hängt davon ab, was es für Literatur ist. Das Versepos verlangt mehr nach >Rezitation< als der Roman. Das >Theater<Stück drängt ohnehin auf die Bühne. Aber selbst wenn es nur zum Lesen 5 Siehe dazu >Text und Interprétation, in Ges. Werke Bd. 2, S. 330-360 sowie Z w i schen Phänomenologie und Dialektik<, ebd. S. 17 ff.
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gedacht ist und nicht für die Bühne, wird es nur als Vorgelesenes ganz dasein. Doch es gibt nach meiner Überzeugung große Literatur, die man nicht laut vorlesen kann, weil das Sprechen hier ein In-mich-hinein-Sprechen sein müßte, vor allem bei Lyrik. Ich würde zum Beispiel sagen, daß Rilke ein solcher Dichter ist, der mehr Meditation als Rezitation verlangt. Während ich etwa umgekehrt sagen würde, daß Schiller oder Goethe oder George in deutscher Sprache Beispiele einer Sprachkunst sind, die man wie Musik zu Gehör bringen möchte — auch wenn dies immer eine unendliche Aufgabe bleibt, die, wie gezeigt, nie ganz so ideal gelöst werden kann, wie das >innere< Ohr es möchte. Indessen, das Gemeinsame in aller >Literatur< liegt offenbar darin, daß jedenfalls der Schreiber selber verschwindet, weil er die sprachliche Erscheinung der Idee nach so voll determiniert hat, daß nichts hinzugetan werden darf. Alles ist in den Worten des Textes, so wie sie als Text erscheinen. Wir nennen das die Kunst des Schreibens. Es ist an sich trivial, daß zu einem literarischen Kunstwerk die Kunst des Schreibens gehört. Aber worin besteht diese Kunst? Von >Kunst< reden wir doch auch in allen möglichen Annäherungen, z. B. beim mündlichen wie beim schriftlichen Erzählen. Was ist da geschehen, wo wir etwas ein Gedicht oder eine Dichtung nennen? Welcher qualitative Sprung ist da getan? Mir scheint, daß die Textlinguistik von heute diese Frage nicht genug fragt (ζ. Β. Ricœur oder Derrida). Hier muß im Textbegriff ein weiterer und ein engerer Sinn unterschieden werden. Der Begriff des Textes ist selber ein hermeneutischer. Wir berufen uns auf den Text, wenn wir gegebenen Auslegungen nicht folgen können. Umgekehrt bleiben wir nie beim >bloßen Buchstaben< stehen, wenn wir »verstehen«. Der Gegensatz von >spiritus< und >littera< ist im Verstehen aufgehoben. Insofern ist auch im weitesten Begriff >Text< auf >Verstehen< bezogen und ist der >Auslegung< fähig. Aber ein Text, der ein literarisches Kunstwerk ist, scheint mir ein Text im eminenten Sinne. Erist der Auslegung nicht nur fähig, sondern bedürftig. Vielleicht darf ich einen ersten Schritt zur Begründung dieser These in der Form machen, daß ich sage: Die erste Erfahrung, die wir mit >Literatur< machen, ist, daß ihre sprachliche Erscheinung nicht, wie sonst Sprachliches, im Verstehen durchschritten und hinter einem gelassen wird. Es gibt einen sehr plastischen Vergleich, in dem Paul Valéry den Unterschied zwischen dem dichterischen Wort und dem Alltagswort durch den Unterschied zwischen der Goldmünze von einst und dem Geldschein von heute darstellt. Wir haben es noch in der Schule gelernt: Wenn du einen Hammer nimmst und haust auf ein goldenes Zwanzigmarkstück darauf, so daß man nichts mehr von der Prägung sieht, und gehst zum Juwelier, dann gibt er dir wieder zwanzig Mark. Die Münze ist ihren Gehalt wert - er steht nicht nur darauf. Das ist ein Gedicht: Sprache, die nicht nur etwas bedeutet, sondern das ist, was sie bedeutet. Der Geldschein von heute
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ist nichts wert, er bedeutet nur etwas als der Schein, der er ist, und kann dadurch seine kommerzielle Funktion ausüben. Von dem Wort, das im Alltag gesagt wird und rein kommunikativ fungiert, gilt in der gleichen Weise, es bedeutet nur etwas. Es ist nichts in sich selbst. Das heißt, ich bin immer schon bei dem, was mir da gesagt und mitgeteilt wird. Wenn ich einen Brief bekomme und ihn gelesen habe,, hat er das Seine getan. Manche Menschen zerreißen jeden Brief, sobald sie ihn gelesen haben. Darin drückt sich aus, was zum Wesen solcher sprachlichen Mitteilung gehört, daß sie, wenn man sie empfangen hat, das Ihre getan hat. Dagegen wissen wir alle, daß etwa ein Gedicht dadurch, daß ich es kenne, nicht abgetan ist. »Das kenne ich ja schon!« wird niemand von einem guten Gedicht sagen und sich abwenden. Da ist es umgekehrt. Je besser ich es kenne, je mehr ich es verstehe — und das heißt: auslege und wieder zusammenlege — und gar, wenn ich es auswendig, wenn ich es in- und auswendig kenne, desto mehr sagt mir ein wirklich gutes Gedicht. Es wird nicht ärmer, sondern reicher. Wir kennen das auch aus anderen Gebieten der Kunst. Es ist die charakteristische Auszeichnung der Werke der Kunst überhaupt, die sich so darstellt - und deshalb verweilen wir bei ihnen. Die Erfahrung des Schönen - das hat niemand so gut beschrieben wie Kant in der >Kritik der Urteilskraft« - bedeutet eine Belebung unseres gesamten Lebensgefühk. Man verläßt eine Sammlung großer Werke der bildenden Kunst wie ein Theater oder einen Konzertsaal in einer Erhobenheit des gesamten Lebensgefühls. Die Begegnung mit einem großen Kunstwerk ist immer, würde ich sagen, wie ein fruchtbares Gespräch gewesen, ein Fragen und Antworten oder ein Gefragtwerden und Antwortenmüssen — ein wahrer Dialog, bei dem etwas herausgekommen ist und >bleibt<. Beim literarischen Kunstwerk läßt sich das besonders leicht zeigen. Aus methodischen Gründen möchte ich hier eine andere Orientierung wählen als Ingarden, obwohl gerade Ingardens Untersuchung des literarischen Kunstwerks6 am Roman sehr fruchtbare Ergebnisse hatte. Der Roman scheint mir jedoch ein Spätgenos von Literatur und stellt eine Mischform dar, an der die wesentlichen Funktionen des dichterischen Wortes nicht so klar abgelesen werden können. Ich wähle daher das lyrische Gedicht, das in seiner extremsten Form, dem Mallarméschen Ideal der poésie pure, alle Formen der Rhetorik, das heißt des alltäglichen Redegebrauchs, fast ganz hinter sich gelassen hat. Die Mittel der Grammatik und der Syntax werden so sparsam wie möglich verwendet. Im Grunde bleibt alles der eigenen Gravitationskraft der Worte anvertraut, so daß die Klangbewegung und die Sinnbewegung des sprachlichen Ganzen in eine unauflösliche strukturelle Einheit zusam6
ROMAN INGARDEN, Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung auf dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft (1931). Tübingen 41972.
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mengehen. Man sollte nicht verkennen, daß gerade auch die Bedeutungen der Worte und der von ihnen angezielte Sinn der Aussage an der strukturellen Einheit des literarischen Gebildes mitbeteiligt sind. Darin scheint mir geradezu eine Schwäche der bedeutenden Leistungen der Strukturaasten zu liegen, daß sie auf dem Felde der Literatur — in begreiflicher Reaktion auf die verbreitete prosaische Art, Poesie zu lesen, und die nicht minder verbreitete intellektuelle Art, sie zu verstehen - die Sinnmelodie von Dichtung unterbelichtet lassen und zu einseitig auf die Klangstrukturierung allein gerichtet sind. Hier liegt etwa in der Schule von Roman Jakobson eine Gefahr, die er selbst wahrscheinlich nicht ableugnen würde 7 . Auch auf die Sinnbewegung kommt es in Wahrheit an, und das selbst dann, wenn dieselbe von ausdrücklicher Verständlichkeit noch so fern scheint. Wie mir scheint, sind da schlimme Verwechslungen im Schwange. Auch Kenner ersten Ranges verteidigen - seit Hugo Friedrichs bekanntem Buch 8 -, daß die moderne Literatur unverständlich sei, und realisieren nicht die Konsequenz, daß sie damit ihren Sprachcharakter überhaupt ableugnen müßten. Etwas wird immer verstanden — und Verstehen heißt immer Gewinn einer gewissen Vertrautheit mit Sinnvollem. Gewiß gibt es verschiedene Grade solcher Vertrautheit — etwa mit dem, was man die >Sage< nennen könnte. Ein so eigenwilliger und auf so ungewohnte Weise vorgetragener Mythos wie der Hölderlins in seinen späten Hymnen 9 erschien selbst seinen Zeitgenossen, die an die humanistisch-christliche Mythologie gewöhnt waren, sogar seinen Freunden unter den romantischen Dichtern, die eine neue >ästhetische Mythologie< proklamiert hatten, als unverständliche Wahnsinnsgeburt. Vollends ist die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr von einer verbindlichen mythischen Überlieferung gespeist und wird nicht in dem Sinne verstanden, in dem eine lebendige mythische Überlieferung sich von selbst versteht. Aber Sprache ist es, Rede ist es, und gesagt wird etwas, und wie es gesagt ist, so steht es da: Sage, die vieles sagt. Gewiß mag es noch mehr als bisher so sein, daß wir das Gesagte im Wort des Begreifens nicht zu fassen vermögen. Es ist nichts darin wiederzuerkennen, das wir schon kennen und das wir anderen selber zu sagen oder zu zeigen wüßten. Aber es gewinnt gleichwohl am Ende etwas wie eine hermeneutische Identität. Es beginnt zu sprechen. Es bedürfte einer genaueren Analyse, das Ineinander der durch Klang und Bedeutung bewirkten dichterischen Evokationskraft der Sprache auseinan7
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derzunehmen. Da ist jene erste Schicht von Wortbedeutung, die mit der Sprachgebundenheit als solcher ins Spiel kommt und die Husserl durch die Begriffe >Intention< und >Erfüllung< beschrieben hat. Ihr entspricht im Bildschaffen wohl der ikonographische Aspekt - in anderen Kunstarten dürfte es ähnliches geben. Man denke an den Schwan der Pawlowa im Kunsttanz oder an die sogenannte Programmusik, wo vergleichbares Wiedererkennen vorliegt. - Eine zweite Schicht ist das, was Ingarden am Roman als den Schemacharakter der Sprache herausgearbeitet hat. Die Ausfüllung des Schemas ist variabel, auch wenn der Text als sprachliches Gebilde ein und derselbe ist und das so sehr, daß er selbst durch die beste Übersetzung an Evokationskraft verliert. - Schließlich wird man eine dritte Schicht unterscheiden können, in der sich die sprachliche Evokation vollendet. Sie ist das, was ich in allgemeinerem Zusammenhange den Vorgriff der Vollkommenheit genannt habe10, und so etwas gehört zu aller Sinnerfassung. In der spezifisch dichterischen Realisierung findet dieser Vorgriff seine Vollendung darin, daß er das- Gedicht zum >Diktat< macht, das man nur noch annehmen kann. Man kann sich fragen, ob diese drei Schichten in allen Kunstarten unterscheidbar sind—insbesondere wenn das Mimetische und der Abbild-Begriff aufgegeben werden 11 . In jedem Falle bleibt, daß beim sprachlichen Kunstwerk eine erste Ebene von bedeutungsvollen Zeichen und von sprachlichem Sinn impliziert ist, die bei keiner anderen Kunstart angetroffen wird. Weiterhin kann man sich fragen, ob sich zur Schemaausfüllung des sprachlichen Kunstwerks in anderen Kunstarten Analoges findet. Etwa so, wie wenn Musik, die einen Notentext zur Ausführung bringt, nicht so sehr als Reproduktion verstanden würde - wie man etwa im literarischen Theater den Fall der Reproduktion als gegeben ansehen möchte —, sondern als Ausfuhrung einer bloßen Handlungsanweisung, die innerhalb des Vorgezeichneten freie Ausfüllung zuläßt. In Wahrheit gibt es aber in der Musik klare Unterschiede zwischen dem auszuführenden Notentext und den besonderen Freiheiten in der >Aussetzung< oder gar in den sogenannten > Verzierungen. Auch gibt es gute Gründe, Musik wie Theater zu den reproduktiven Künsten zu zählen. Es ist ein neuer Wirklichkeitsstoff, in dem das Werk als ein und dasselbe für alle in gleicher Weise zur Aufführung kommt. Dagegen ist >Lesen< nicht eine innere Theateraufführung, sondern entspricht am ehesten dem tätigen Mitgehen des Zuschauers oder Zuhörers bei einer Aufführung. Beider Einbildungskraft ist tätig, Freiräume, die der Text oder das Spiel beläßt, auszufüllen.
Vgl. meine Laudatio auf Roman Jakobson in: R. JAKOBSON / H.-G. GADAMER / E.
HOLENSTEIN, Das Erbe Hegels II. Frankfurt 1984. 8 HUGO FRIEDRICH, Die Struktur der modernen Lyrik. Reinbek b. Hamburg 1956, erw. Aufl. 1967. 9 Vgl. dazu meine beiden Studien >Hölderlin und die Antike< und >Hölderlin und das Zukünftige^ jetzt in Bd. 9 der Ges. Werke, S. 1-38.
10
>Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 299ff. Vgl. auch Ges. Werke Bd. 2, S 61 ff. 11 Siehe dazu >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 118ff. und in diesem Band >Kunst und Nachahmung< (Nr. 4), >Dichtung und Mimesis< (Nr. 8) und >Das Spiel derKunst<(Nr.9).
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Was aber allen Künsten völlig gemeinsam ist, scheint mir die dritte Schicht. So wie der Vorgriff der Vollkommenheit aller Sinnerfassung überhaupt zukommt - was wir am Überlesen von Mängeln, zum Beispiel von Schreib- und Druckfehlern, ständig erfahren - , so ist es jedem Kunstwerk eigen, daß wir es als eine zwingende Aussage in uns aufbauen, um sie ganz gelten zu lassen. Es ist paradox genug, daß man gleichwohl von Kunstkritik spricht. Sie besteht in Wahrheit nicht so sehr darin, daß man am Kunstwerk Gutes und Schlechtes unterscheidet, als vielmehr darin, daß man etwas als ein >gelungenes< Kunstwerk vom mißlungenen oder gar vom bloßen Machwerk unterscheidet. Das hat Kant in seiner Analyse des Geschmacksurteils richtig gesehen. Das Geschmacksurteil ist nicht ein Urteil über ein Schöngefundenes, sondern das Schönfinden selber. Damit soll nicht bestritten werden, daß es auch mögliche kritische Ausstellungen gibt. Aber die Struktur bleibt die gleiche: Das Nichtgelungensein wird >kritisch< erfahren. Darin hegt durchaus nicht, daß der Kritiker es besser machen kann oder positiv zu sagen wüßte, wie man verbessern könnte. Auch müßte über das Wechselhafte in der Bereitschaft zu solchem >Auffüllen< reflektiert werden, so daß die bleibende >Qualität< von den okkasionellen Relevanzen und Resonanzen abhebbar wird. Entsprechend ist die negative Erfahrung, die den Vorgriff der Vollkommenheit im Falle der Literatur scheitern läßt. Da geht es nicht um eine kritische Ausstellung am Text (oder eine Reihe solcher Ausstellungen), sondern da gibt es den Umschlag, der es überhaupt nicht mehr als Kunstwerk sprechen läßt - sei es, daß wir es langweilig oder leer, oder lächerlich, sentimental, imitatorisch finden und es >aufgeben<. Doch kehren wir zu Valérys Gleichnis zurück: Wie kommt es, daß ein solches Goldstück von Worten auf einmal sich selber wert ist? Es ist, was es ist, und das heißt, daß Sprachliches hier eine eigene Wertbeständigkeit gewinnt und in ständige Gegenwart hervorkommt. Das sprachliche Gebilde erwirbt auf diese Weise geradezu eine eigentümliche zeitliche Gegenwart. Heidegger hat einmal in einem berühmten Aufsatz gesagt, im Kunstwerk komme alles erst wahrhaft heraus. Farbe sei nie so sehr Farbe wie in der Koloristik eines großen Malers, Stein sei nie so sehr Stein, als wenn er in einer griechischen Säule den Architrav trägt. Was heißt es nun, wenn man entsprechend sagt: Wort ist nie so sehr Wort wie im sprachlichen Kunstwerk? 12 Wie kann ein Wort mehr Wort sein als ein anderes, das dichterische mehr als das im Alltagsgebrauch verfließende? Es gibt eine naheliegende Illustration dafür, die einem das Problem sofort vor Augen stellt: die Unübersetzbarkeit von Lyrik. Im lyrischen Gedicht ist
die Einheit von Sinn und Klang offenbar so innig, daß man in einem anderen Sprachstoff nur mittelbare Annäherungen schaffen kann oder ganz neue Dichtungen an die Stelle der originalen Dichtungen setzen muß. In einem guten Gedicht haben wir ein unauflösbares Geflecht, ein so dichtes Zusamrnengewirktsein von Klang und Bedeutung, daß schon kleine Änderungen im Text das ganze Gedicht zu zerstören vermögen. Ich möchte das an einem konkreten Beispiel zeigen und erinnere zugleich daran, daß im Gedicht auch der Sinnzusammenhang unentbehrlich ist und für das Gesamtgebilde entscheidend sein kann (und durchaus nicht nur die >Struktur< der Phoneme). Es gibt ein berühmtes Hölderlin-Gedicht, das auf Sophokles geht. In den alten Ausgaben las man da: »Hohe Tugend versteht, wer in die Welt geblickt, und es neiget der Weise am Ende dem Schönen sich. « Seit etwa 30 Jahren wissen wir, daß das ein Druckfehler oder Lesefehler war und daß das Gedicht heißt: »Hohe Jugend versteht, wer in die Welt geblickt, und es neiget der Weise am Ende dem Schönen sich.« Auf einmal ist das Gedicht ein ganz anderes, und jetzt ist es erst wahrhaft da. Solange der alte Text stand, war das mehr Schiller ab Hölderlin. Das sagt nichts gegen Schiller, aber wenn Hölderlin wie Schiller ist - und so hatten die früheren Herausgeber den jungen Hölderlin im Ohr —, ist er noch nicht er selbst. Wenn man statt >Tugend< >Jugend< liest, bedeutet das fürs Klangliche kaum eine Änderung, wenn auch die richtige Lesart eine sanftere Klangführung darstellt, die sich an den Schmelz der Jugend schmiegt. Aber jetzt erst ist vom Sinn her die Geschlossenheit des Gebildes vollkommen erreicht. Die Gemessenheit des dichtenden Tanzschrittes, der den Kreis durchschritten hat, ist wirklich da. Jetzt weiß man plötzlich, warum der Weise zum Schluß »dem! Schönen« sich neigt, dem durch Jugend Schönen, das durch keinen resignierten Weltverstand davon abgebracht wird, an das Hohe zu glauben. Damit hat das Gedicht seine volle Balance gefunden, und man spürt, daß der eine Buchstabe das Ganze erst in sich zusammengeschlossen hat.
12
Vgl. dazu >Text und Interprétation in Ges. Werke Bd. 2, S. 352 ff. Siehe auch in diesem Band >Von der Wahrheit des Wortes<, S. 46ff.
Das ist natürlich ein extremes Beispiel, daß ein Buchstabe alles entscheidet. Es gibt in der Überlieferung der Texte manche Buchstaben, die unsicher sind, ja ganze Worte, Vers-Enden usw. Bei dem Erhaltungszustand etwa unserer griechischen oder unserer lateinischen Literatur wäre es schlimm, wenn jeder Buchstabe die gleiche Wichtigkeit hätte. Aber das Extrem macht deutlich, was das eigentliche Wunder ist — daß Sprache im Gedicht zu etwas, was sie im Grunde ist, zurückkehrt, zu der magischen Einheit von Denken und Geschehen, die uns aus dem Dämmer der Urzeit ahnungsvoll entgegentönt. Was also Literatur auszeichnet, ist dies Hervorkommen des Wortes, so daß in ihm die unersetzbare Einzigkeit des Klanges mit einer unbestimmbaren Vielstimmigkeit von Sinn den Sinn des Ganzen zur Aussage bringt. Das ist es, was ich am Beispiel Maliarmes im Auge hatte. Das Gedicht schafft der Gravitationskraft der Worte Raum und vertraut sich ihr an, im Gegensatz
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zur Grammatik und Syntax, die unsere >Verwendung< der Worte regelt. Darin besteht die dichterische Inkarnation von Sinn in Sprache, daß sie sich nicht in die Eindimensionalität von Argumentationszusammenhängen und logischen Abhängigkeitslinien einfügen muß, sondern durch die Vielstelligkeit eines jeden Wortes - so hat es Paul Celan einmal genannt - dem Gedicht sozusagen die dritte Dimension gibt. So ist es wirklich. Bei einem Gedicht denken wir nicht so sehr an Zeichnung oder gar an Bezeichnung von Bekanntem, sondern am ehesten an Skulptur, an Plastik und vielleicht gar an die vieldimensionalen Klangräume der Musik. Es ist ein eigentümliches Ineinander von Einzigkeit der Klangerscheinung und Vielstimmigkeit, das dem einzelnen Worte ein ganzes Bezugssystem zuordnet und uns das Ganze wie ein einziges Gewebe erscheinen läßt. Wir gebrauchen fur diese Struktur des dichterischen Gebildes ein sehr sprechendes Wort, wenn wir es >Text< nennen. Text heißt >Textun, Text meint ein Gewebe, das aus Einzelfaden besteht, die so ineinander verwebt sind, daß das Ganze ein Gewebe von eigener Textur wird. Nun mag man sagen, daß das in gewisser Weise fur jede Einheit einer Aussage gültig und nicht auf das literarische Kunstwerk beschränkt ist. Aber im dichterischen Kunstwerk empfängt das Gewebe des Textes eine neue Fertigkeit. Das ist in der Tat ein Gedicht - ein Text, der sich in sich selbst durch Sinn und Klang zusammenhält und zur Einheit eines unauflöslichen Ganzen schließt. Mein Beispiel war, wie ich auch begründet habe, der Fall des lyrischen Gedichtes. Es ist klar, daß auch andere Formen von Sprache, etwa die epische oder die dramatische Sprache, ähnliche strukturelle Einheitsbildung bewirken. Steigende Grade der Übersetzbarkeit zeigen an, daß in diesen Fällen die Klangfäden eine verminderte Funktion haben und die Einheitsbildung durch anderes getragen werden kann. Das möchte ich an einer Geschichte verdeutlichen, die-den allerdings etwas komplizierten Fall der Reproduktion zur Grundlage hat, eine Theatererfahrung. Die Geschichte kann demonstrieren, wie das Werk der Literatur oder der Kunst sich durch sich selbst zur Einheit schließt, sich sozusagen autonom konstituiert. Ich war einmal in Mannheim im Theater, in der Aufführung eines italienischen Dramatikers namens Ugo Betti (ein Verwandter des bekannten Hermeneutikers Emilio Betti). Wir saßen da erwartungsvoll im Parkett. Plötzlich, bevor die Vorstellung begann, trat ein Polizist auf die Bühne vor dem Vorhang und sagte: »Der Wagen mit der Nummer AU 27 C 6 ist falsch geparkt. Der Besitzer wird gebeten, sofort. ..« Alles dreht sich um, um zu sehen, wer jetzt herausgeht. In diesem Moment geht der Vorhang auf, und es zeigt sich, daß dieser Auftritt des Polizisten der Beginn des Stückes war. Augenblicklich drehte sich niemand mehr um - wir alle wandten uns zur Bühne. Wir hatten verstanden, daß
der Polizist mit seiner Aussage ein Teil des >Stückes< war, das hier in der Form eines Schauspiels vor uns ablief. Sicher eine drastische Geschichte, an der man sehen konnte, wie sich hier etwas seine Autonomie selber verleiht. Aber es ist genau dasselbe, was wir gegenüber rein sprachlichen Texten immer wieder erfahren. Husserl hat, wie ich meine, einen guten Wink gegeben, wie sich die Aufhebung der Realitätserwartung im Falle des Kunstwerks vollzieht, ohne daß man ungemäße Kategorien von Fiktion, Illusion usw. ins Spiel bringen müßte. Er bemerkte öfters im Zusammenhang der Lehre von der eidetischen Reduktion, dieselbe sei im Falle des Kunstwerks »spontan erfüllt«13. Die oben erzählte Geschichte illustriert das Spontane solcher »Einklammerung« der Realität vortrefflich und ebenso die neue Erwartung, daß nicht nur eine Erwartung enttäuscht wurde, sondern daß das >Spiel< uns etwas sagt. Ich gebe noch ein anderes Beispiel aus dem visuellen Bereich, das alle kennen. Bei der heutigen Reproduktionskunst sehen wir in den Zeitungen viele fotografieähnliche Reproduktionen — und man erkennt unfehlbar, wenn es sich um eine Theater- oder Filmreproduktion oder die eines Gemäldes handelt und nicht um Wirklichkeitsreportage14. Warum? Es ist zu wirklich. So wirklich ist die Wirklichkeit nicht. Es ist alles so sehr kondensiert und so komponiert, daß man sich nicht leicht irrt und das Bild nicht als ein glücklich festgehaltenes Geschehen, sondern als eine künstliche Verdichtung nimmt. Man könnte fortfahren, auch an rein sprachlichen Gegebenheiten den Übergang in die Autonomie des literarischen Textes zu illustrieren. Da wäre ζ. Β. das Verhältnis von historischer Darstellung und historischem Roman, oder für den Komponisten das Verhältnis eines >Liedes< zum Liedtext, das sogar zu einer halben Identität zu verschmelzen vermag. Wer hört »Du bist Orplid, mein Land«, ohne es in Hugo Wolfs Tonsatz zu denken? Solche Übergangsphänomene lassen das, was fast ununterscheidbar ist, in seinen Unterschieden für das Denken gerade hervortreten.
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Doch werfen wir zum Abschluß noch einen Blick auf die Philosophie, die ja auch sprachgebunden ist und nur in Sprache Dasein hat. Man braucht es kaum zu rechtfertigen, daß wir uns als Philosophen besonders mit Literatur und dem Sprachwunder, das sie ist, beschäftigen. Plato hat von dem uralten Zwist gesprochen, der zwischen Philosophie und Poesie bestand, und gewiß war die Kritik am Mythos und an den von Homer und besonders von 13 Nach Oskar Beckers Bericht in »gelegentlichen Äußerungen E. Husserls in Vorlesungen u. dgl.« (OSKAR BECKER, Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers. In: Festschrift Edmund Husserl. Halle a. S. 1929, S. 36 Anm. 1). Vgl. auch Ideen I (Husserliana Bd. DI, S. 50f, S. 163). 14 Vgl. dazu in diesem Band >Das Spiel der Kunsfc, S. 90 ff.
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Hesiod erzählten Göttergeschichten und Göttergreueln von Anbeginn an dem Erkenntnistrieb, der sich Philosophie nannte, eingeboren. Auch zeigt die griechische Dichtung selber, soweit wir sie kennen - und das heißt schon im Falle Homers und erst recht in den folgenden Jahrhunderten (Pindar!) - , ein Stück beständiger Götterkritik. In der Tat setzt ein solcher Zwist wie der zwischen Philosophie und Poesie — wie jeder Zwist - Gemeinsamkeit voraus. Hier ist es die Gemeinsamkeit des Wortes und seiner möglichen Wahrheit. Fragen wir also zum Abschluß, nachdem wir das Wort als das dichterische erörtert haben, wie Philosophie zu Worte, wie Philosophie zur Sprache kommt. Wie ist Sprache in der Philosophie da? Nun wissen wir alle, daß das, wovon Philosophen reden, in gewissem Sinne ein Nichts ist: das Ganze des Seins, »das Sein< und seine Artikulation in kategorialer Begrifflichkeit - all das ist nirgends >gegeben<. Darin begründet sich von jeher die Sprachnot des Philosophen, daß die Sprache, in der die Menschen reden, primär zur Orientierung in der Welt bestimmt ist und nicht, um uns für die Reflexionsgänge unseres eigenen Hinausfragens über alles >Gegebene< weiterzuhelfen. Daß die Sprache der Philosophie sich in einer eigentümlichen Spannung zwischen dem Alltagsgebrauch von Sprache und ihren spekulativen Aussagemöglichkeiten befindet, ist seit der deutschen Romantik den Denkern des deutschen Idealismus bewußt geworden, ebenso wie wir seit der deutschen Romantik - Ideen Vicos und Herders aufnehmend - in der Poesie die Ursprache der Menschheit erblicken. Am Ende ist es so etwas wie die Urpoesie der Sprache, was ebenso in der schöpferischen Kraft des Gedankens wie im dichterischen Gestalten am Werke ist. Aber auch wenn das so sein sollte, bleibt es ein Problem, was ein philosophischer Text eigentlich ist. Oder muß man gar sagen, daß es überhaupt keinen philosophischen Text gibt? Plato hat vielleicht recht. Die philosophischen Texte, die wir so nennen, sind in Wahrheit Interventionen in einem ins Unendliche weitergehenden Dialog. Man wird ein Scholastiker im schlechten Sinne des Wortes, wenn man >Texte< der Philosophie als literarische Texte behandelt und nicht als bloße Wegmarken auf dem Wege der begrifflichen Artikulation unserer Denkintentionen. Vieüeich liegt gerade darin eine innere Nachbarschaft von Philosophie und Poesie, daß sie sich in einer äußersten Gegenbewegung begegnen. Die Sprache der Philosophie überholt sich beständig selbst — die Sprache des Gedichts (jedes wirklichen Gedichts) ist unüberholbar und einzig. So, meine ich, könnte es sein, und es ist immerhin interessant zu sehen, daß ein Denker wie Hegel sich der Problematik des prädikativen Satzes, der Urteilsform, für das Denken der Philosophie voll bewußt war und daß er - weit mehr, als in der sich verfestigenden Methode seiner Dialektik zutage tritt - der Bewegung des Denkens gerecht geworden ist. Derselbe Hegel, der die Lehre vom spekula-
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tiven Satz vertrat, übte offenbar eine ganz besondere Anziehungskraft auf den Dichter der poésie pure, auf Mallarmé, aus15. Es gibt frühe und späte Gedichte von Mallarmé, die eine fast hegelsche Terminologie zu enthalten scheinen und doch - etwa in >Igitur<, etwa im >Coup de Dés< - seinem dichterischen Ideal der >reinen< Poesie am nächsten kommen. Das ist keineswegs eine Option für ein bestimmtes Kunstideal gegen andere Formen sprachlicher Kunst und keineswegs eine L'art-pour-l'artTheorie. Daß die Dichtkunst - trotz ihrer >ontologischen< Autonomie, die ich am sprachlichen Kunstwerk zu demonstrieren suchte - im Zusammenhang des Lebens wechselnde Gestalten besetzt, das gerade macht sie zur Kunst. Aber so wie die bildende Kunst, anhebend mit vorgeschichtlichen und frühgeschichtlichen Dokumentationen, über die >Kunstreligion< der Griechen, über die großen Schöpfungen der Kulturen Asiens, durch das Ganze des christlichen Mittelalters und seiner Verweltlichung in den neueren Zeiten hindurch, ihre Präsenz hat, so ist auch die dichterische Produktion der Völker in religiöse und weltliche Zusammenhänge eingefügt und erfüllt sich niemals in ihrer rein ästhetischen Reizwirkung. Daß sie solche Präsenz den verschiedenartigsten Inhalten zu verleihen vermag, das bekundet die ihr als Kunst eigene Aussagekraft. Was Poesie als Sprache in der Tat mit Philosophie gemeinsam hat, ist, daß der Philosoph- anders als die Wissenschaft—, wenn er etwas sagt, auch nicht auf etwas anderes hinaus weist, das irgendwo existiert, wie die Deckung, die der Geldschein auf der Bank hat. Wenn es das Denken zur Ausformulierung drängt, ist es ganz bei sich selber, so daß es sozusagen sich selbst verwortet und verbalisiert. Für den Philosophen existiert daher ein Text nicht als >Literatur<. Vielleicht darf er überhaupt keinen gegebenen Text oder Satz schlicht als >wahr< anerkennen, sondern muß ihn immer nur in den Fortgang des denkenden Gesprächs der Seele mit sich selbst hineinnehmen, um die berühmte platonische Formulierung zu wählen. Denken ist dieses ständige Gespräch der Seele mit sich selbst. So kann man wohl sagen, daß Philosophie dieselbe Art von unerreichbarer Ferne und Fernwirkung und zugleich von absoluter Gegenwärtigkeit hat, die dem Pantheon der Kunst für uns alle zukommt. Fortschritt gibt es weder in der Philosophie noch in der Kunst. In beiden und gegenüber beiden kommt es auf etwas anderes an: Teilhabe zu gewinnen.
Siehe dazu auch im vorhergehenden »Philosophie und Poesie<, S. 237 ff.
Stimme und Sprache
22. Stimme und Sprache (1981)
Ein Aspekt, der sich als Hintergrund für das Thema >Stimme und Sprache Sprechen und Sprache« geradezu von selber auftut, ist die Trias der Phänomene Sprechen, Schreiben und Lesen. Diese drei Begriffe, die als Erfahrungen und Verhaltensweisen den gesamten Raum zwischen Stimme und Sprache durchmessen, sind nicht einfach eine Sequenz, in der das eine das erste, das zweite das zweite und das dritte das dritte ist. Sie zeigen sich vielmehr in einer eigentümlichen Verflechtung miteinander, sowohl in ihrem eigenen Vollzug als auch in dem Nachdenken darüber, was sie eigentlich sind. Ich möchte daher die essentielle Bedeutung der Schrift für die Sprache in den Vordergrund stellen. Ich spreche nur von einer Trias - und nicht vom Hören. Denn Hören gehört selbstverständlich zu allem, was Sprache sein soll, ob gesprochene, geschriebene oder geheime. Aber wieso Schreiben und Lesen zur Sprache gehört, das ist eine nachdenkliche Sache. Es ist durch nur wenige Worte in Erinnerung zu bringen, welcher Verlust durch die Schrift und die schriftliche Fixierung dem lebendigen Austausch des Sprechens zugemutet wird. An einer berühmten Stelle in Piatos >Phaidros< wird erzählt, wie der Erfinder der Schrift zu dem ägyptischen König kommt, um ihm unter anderen seine neueste Erfindung als eine Stütze und Stärkung des Gedächtnisses anzupreisen. Der weise' Königvon Ägypten ist aber gar nicht glücklich damit und entgegnet: »Du hast nicht ein Mittel zur Stärkung des Gedächtnisses erfunden, sondern eines zu seiner Schwächung.« Im Zeitalter des Xerox sind wir über die Wahrheit dieser Königlichen Weisheit wohl alle im klaren. Wie vieles durch die Dominanz der Schriftlichkeit und ihrer Reproduktion verloren geht, bedarf überhaupt keiner Ausführung. Doch wäre es ein interessantes Thema, in welchem Grade etwa die Reflexion auf die Verluste an Kommunikationskraft, die durch die Schriftlichkeit eintreten, dahin zu führen vermag, daß durch die Kunst des Schreibens diese Verluste durch Stilkunst abgefangen werden. Man denke etwa daran, wie im 17. und 18. Jahrhundert die Kunst des Lesens im Zusammenhang mit der pietistischen Bewegung und überhaupt mit der zentralen Rolle der Schriftauslegung in der protestantischen Predigt einer Kultur des Schreibens und Lesens den
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Boden bereitet hat. Damals hat man zuerst die Rechnung aufgemacht - oder besser: die Ersatzleistungen namhaft gemacht, die von der Kunst des Schreibens erwartet werden, wenn sie mit der Unmittelbarkeit der Rede und in der persönlichen Anrede wetteifern soll. Der negative Aspekt der Schriftlichkeit ist so klar, daß ich vorziehe, von der positiven Beziehung zwischen Sprache und Schrift zu sprechen. Ich möchte den Blick dafür schärfen, wie sehr die Möglichkeit der schriftlichen Fixierung von Sprache auf das Wesen von Sprache selber ein wichtiges, ja erhellendes Licht wirft. Offenbar hat beides, die Lautgestalt der Rede und die Zeichengestalt der Schrift, eine sie konstituierende Idealität an sich. Das Wort >Idealität< ist dabei rein beschreibend gebraucht - man sollte die Wahrheiten Piatos nicht schon deswegen verdammen, weil sie von Plato stammen. Es ist einfach wahr, daß Sprache ihrem Wesen nach, genau wie die Schrift, in einem Spielraum des Kontingenten und Variablen auf wesentliche Konstanten hin idealisiert. DieSprachlaute sind Sprachlaute, ohne auch nur von ferne die Präzision des Lautcharakters zu besitzen, den die Töne der Musik im System der Töne für sich beanspruchen. Sie haben einen weiten Spielraum variabler Beliebigkeit. Ihre kommunikative Funktion beruht gerade darauf, daß dieser Spielraum des Kontingenten nie so weit geht, daß das allen Gemeinsame und damit das aller Variation gegenüber Konstante darüber verdeckt würde. Dasselbe gilt offenkundig für die Schrift und die Schriftzeichen. Man denke nur an die Differenzen der Handschrift, die als Entzifferer einer Handschrift oft geradezu den Orakeldeuter nötig machen. Auch dieser Spielraum ist aber an Grenzen gebunden. Es sind Grenzen der Leserlichkeit, die in unmittelbarer Wechselbeziehung zu der Artikulation des Sprechens stehen. Das prägt sich in unserer westlichen Zivilisation schon beim ältesten Nachdenken über diese Dinge aus. Ich denke vor allem an Plato, der in seinen Reflexionen — wie ja auch die Atomisten — von dem Ausdruck für Buchstabe ausgeht - und nicht von dem für Laut (>Phonê<). Der griechische Ausdruck ist >Stoicheion<. Wenn Plato über die Idealität der Sprachsystematik, der Sprachmittel, der verschiedenen Laute, der Vokale, Mitlaute, Konsonanten usw. reflektiert und den systematischen Zusammenhang darstellt, der allein erst Sprachkompetenz und Sprechen möglich macht, kann er ebensosehr von der Schrift, vom Schreiben und Lesen her, verstanden werden. Das Wort >Grammê<, das dafür steht, ist nicht umsonst im Wort >Grammatik<, das primär nicht die Sprache, sondern die Schreibkunst meint. Die Idealität, die beiden, den Lauten der Sprache und den Zeichen der Schrift, zukommt, sagt über das, was Sprache ist, etwas aus. Der Raum, den sie gliedert, und die Sicht des Gemeinsamen, die sie anbietet, ist so, daß Raum und Sicht durch die schriftliche Fixierung nicht verlorengehen. Eben dadurch unterscheidet sich Sprechen von anderen stimmlichen Ausdrucks-
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formen wie dem Schrei, dem Stöhnen, dem Lachen usw. Alle diese Phänomene haben offenbar nicht dieselbe Idealität des Gemeintseins an sich, die Sprache durch ihre Schriftfähigkeit geradezu dokumentiert, auch wenn diese Ausdrucksformen des Seelischen ihrerseits nicht ohne konventionelle Kundgabewerte sein mögen, wie etwa das archaische Lächern. Ich darf erinnern, daß Aristoteles in seiner berühmten Definition der Sprache den Ausdruck der >Synthêke<1 gebraucht; κατά ουναψψ heißt »gemäß der Konvention«. Damit weist Aristoteles gewisse Theorien zurück, welche die Sprache und die Wortbildung auf Naturnachahmung zurückfuhren, und hebt den Konventionscharakter aller sprachlichen Mitteilungsformen hervor. Diese Konventionalität ist von der Art, daß nie eine Konvention als Konvention abgeschlossen wurde, nie als Abkommen getroffen wurde. Es ist eine Konvention, die sich sozusagen als das Wesen aller Verständigung und durch sie vollzieht. Ohne daß wir in diesem Sinne schon immer übereingekommen sind, ist kein Sprechen möglich, und doch beginnen wir nicht erst mit einer Übereinkunft, wenn wir sprechen lernen. Der innere Wesenszusammenhang zwischen Sprache und Konvention sagt aber nur, daß Sprache ein Kommunikationsgeschehen ist, in dem Menschen übereingekommen sind. Genau das ist offenkundig die weit ausgreifende Dimension, in der sich beide, Sprache und Schrift, und ihr Verhältnis zueinander bewegen. Das enge Verhältnis beider spiegelt sich in der Tatsache, daß wir >Überlieferung< in Form von Literatur kennen, d. h., daß die >litterae<, die Buchstaben und damit die Schriftlichkeit, hier eine zentrale Auszeichnung erfahren. Sie kommt gerade daran heraus, daß kein Verlust eingetreten ist, wenn etwas in literarischer Form überliefert ist, wogegen alle anderen Monumente als Überreste gelebten Lebens im Vergleich zur schriftlichen Überlieferung stumm bleiben. Sie lassen uns vieles erkennen, verraten viel von Gewesenem, aber sie sagen nicht selbst etwas. Dagegen sind unentzifferte Inschriften nicht selber stumm - nur wir sind fur sie noch taub. Hier ist sozusagen das volle Dasein >gedachter< Dinge in sprachlich formulierten Mitteilungen enthalten, so daß wir durch Entzifferung etwas mitgeteilt bekämen. Freilich, >Literatur< muß es nicht sein. Wo wir das Wort >Literatur< in einem eminenten Sinne gebrauchen, etwa >schöne Literatun sagen, ist es evident, daß wir mit dem Begriff >Literatur< innerhalb der unendlichen Vielfalt des Geschriebenen (und Gedruckten) etwas auszeichnen. Wir sagen vielleicht auch von einem guten Buch wissenschaftlicher Art oder gar nur von einem Brief: Das ist geradezu Literatur! Was wir damit zum Ausdruck bringen wollen, ist, daß sich darin wahre Sprachkunst dokumentiert. Ebensooft sagen wir von Texten, welche Literatur sein wollen: Nun ja, Literatur ist das nicht. Der Begriff >Literatur< stellt also im Sprachgebrauch
einen Wertbegriff innerhalb der Möglichkeiten von Sprache dar. Dieser Sinn kann auch mit negativem Vorzeichen versehen sein, ζ. Β., wenn in einem politischen Handlungszusammenhang kritisch-verächtlich gesagt wird, das sei »Literaturc Das meint in Wirklichkeit Unbrauchbarkeit für die Praxis. Der Begriff >Literatur< kann freilich auch in einem sehr viel weiteren Sinn gebraucht werden. Wir müssen die ganze Weite dieses Begriffes ins Auge fassen, um unsere Gedanken über die Dinge zu ordnen. Immerhin würde ich doch sagen, daß wir alle übereinstimmen, daß die Notizen, die hier auf diesem Zettel stehen, nicht Literatur sind, obwohl sie geschrieben sind. Was ist das für ein Unterschied? Nun, offenbar hat das Geschriebene, das nicht Literatur ist und sein will, seine eigene kommunikative Begrenzung und Funktion. Sie gibt der Schriftlichkeit die spezifische Rückverweisung auf ein ursprünglich Gesprochenes oder Gemeintes. So sind Notizen, die sich jemand macht, in der Tat Gedächtnishilfen, wie wir auch sagen, und sind nur dazu da, daß das im ursprünglichen Akt des Denkens und Sprechens Gemeinte für den Schreiber der Notiz in gewissem Umfange reproduzierbar wird. Dieses Verhältnis erfahrt seine Umkehrung in dem Augenblick, wo etwas Literatur wird. Wenn ich ein Buch lese, so ist keine Rede mehr davon, daß ich auf den ursprünglichen Akt des Sprechens und Schreibens, etwa auf die wirkliche Stimme oder das individuelle Wesen des Schreibers, verwiesen werde. Da stehejch in einem kommunikativen Geschehen ganz anderer Art. Davon wird im einzelnen zu reden sein.
1
De Int. 2,16a ,9,27; 4, 17a,
Ein zweites Beispiel ist natürlich der Brief, der fur den Empfänger den Gesprächspartner und was er mir sagen will wieder sprechen läßt, d. h. der Austausch durch Schriftliches an Stelle von lebendigem Austausch. Wir machen dieselbe Voraussetzung beim Brief. Wenn ein Brief wie Literatur ist - nehmen wir etwa die Briefe Rilkes, die ja wahre Texte literarischer Art sind: Sie sind fast keine Briefe mehr. Rilke selber hat einen großen Teil seiner Arbeitszeit und durchaus als Arbeitszeit dem Schreiben solcher Briefe gewidmet. Daß sie nun >Texte< sind und einen Teil seiner geistigen Schöpfungen darstellen, ist außer Zweifel. So heißt es in diesem Falle ganz selbstverständlich: Das ist Literatur - gerade weil es nicht mehr auf die Verständigungssituation zwischen dem Schreiber und dem Adressaten zurückverweist. Man muß nicht wissen, wer die Gräfin Nostitz oder irgendeine andere jener würdigen Damen war, an die Rilke seine tiefsinnigen Briefe über den Tod als die andere Seite des Lebens geschrieben hat. Es sind keine echten Briefe mehr. Echte Briefe sind dagegen von der Art, daß sie auf etwas Bezug nehmen, was sie für die Verständigung mit dem Adressaten voraussetzen und Antwort meinen, wie jedes Wort im Gespräch. Sie haben mindestens in der Form solchen Substrates noch etwas von der Orchestrierung des lebendigen Gespräches an sich. Kein Zweifel, daß gerade auch durch den Übergang vom Sprechen zum Schreiben Mißverständnisse entstehen können, die
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im leibhaften Gegenüber rechtzeitig aus der Welt geschafft würden, während sie als Niedergeschriebenes oft unauflösbar werden. Obwohl Briefe offenbar diese Möglichkeit sind, das Gespräch in gewisser Weise fortzusetzen und fortzuspinnen, kennen wir doch alle die Mißverständnisse, die selbst noch zwischen Freunden im Briefwechsel aufkommen können, die in der lebendigen Rede durch sofortige Selbstkorrektur eliminiert würden. Das war auch Piatos bekanntes Argument, daß Geschriebenes sich nicht selber helfen kann und deswegen dem Mißbrauch, der Verdrehung und dem Mißverständnis hilflos ausgesetzt ist. Geschriebenes rückt selbst als Brief immer schon in eine gewisse Zone der Abstraktheit oder der Idealität ein, auch wenn es der Idee nach noch die Fortsetzung des lebendigen Gespräches - oder wenigstens Wiederanknüpfung fur ein lebendiges Gespräch - hat sein wollen in unserer mehr literarischen Welt. Dagegen gibt es andere Formen der Schriftlichkeit, die ich in weiterem Sinne Literatur nenne, wenn ich etwa an der Stelle der Notiz, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Kodifikation nenne. Ich gebrauche absichtlich den Ausdruck »Kodifikation«, wobei ich nicht an die linguistische Terminologie von heute denke, sondern lediglich den natürlichen Sprachgebrauch und seine Basis im Auge habe, daß nämlich das Schriftliche immerhin »geschrieben steht«, wie Luther in seiner Bibelübersetzung sagt. Es steht geschrieben, es hat durch sein Geschriebensein einen bestimmten Stand gewonnen, und dieser Stand meint offenkundig, daß nun das Geschriebene selbst spricht und nicht erst durch den Rückgang auf eine ursprüngliche Sprechsituation aussagekräftig wird. Das ist der Sinn aller dieser mühsamen Festlegungen in unserer durch Schriftlichkeit beherrschenden Welt, in denen man etwa eine >rechtskräftige< Übereinkunft formuliert. Älteste Dokumente der Menschheit sind, wie wir uns zu unserem Leidwesen eingestehen müssen, meist nicht hohe Geisteswerke, sondern Kaufverträge oder Steuerlisten, bestenfalls Gesetzestafeln. Jedenfalls sind es Sachen von dokumentarischem Charakter, in denen offenkundig nicht auf eine ursprüngliche Sprechsituation zurückgeblickt, sondern auf eine Implikation des darin Festgelegten hingesehen wird. Das ist von großer hermeneutischer Bedeutung. Ich darf allein nur an die Tatsache erinnern, daß etwa der Jurist in bezug auf das Geschriebene - den Code, das Gesetzbuch oder was immer es ist — beileibe nicht nur auf die ursprünglichen Intentionen des Gesetzgebers zurückgeht für die Auslegung des Gesetzes. Das ist eine sekundäre und mehr als zweifelhafte Form, die Gesetzesauslegung zu fördern, daß man etwa die Akten der gesetzgebenden Kommission im modernen Parlament studiert. Das wäre ein Historiker und kein Jurist, der sich damit begnügte, die ursprünglichen Intentionen des Gesetzgebers zu rekonstruieren. Es ist die >ratio legis<, auf die es für den Juristen ankommt. Es ist die Funktion, die das schriftlich Fixierte gemäß seinem eigenen Inhalt für die Rechtsordnung und ihre Wahrung besitzt.
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Ich stelle also fest, daß hier zwei verschiedene Formen, in denen Schriftlichkeit auf Sprache Bezug hat, nebeneinander stehen, die eine als Substitut für das lebendige Gespräch, die andere fast so etwas wie eine neue Schöpfung, ein Sprachesein neuer, eigener Art, das eben dadurch, daß es geschrieben ist, einen Sinnanspruch und Formanspruch erhalten hat, der dem vorüberrauschenden Wortlaut als solchem nicht zukommt. Nun, es ist klar, daß der Begriff »Literatur« näher zu dieser zweiten Form gehört, in der nicht die Rückverweisung auf eine ursprüngliche Sprechsituation, sondern die Vorverweisung - hier auf ein richtiges Sprechenlassen und Verstehen des Textes - das Entscheidende geworden ist. Ich berührte schon die Tatsache, daß sich von hier aus sehr gut verstehen läßt, warum die sogenannte »schöne Literatur< den Sinn von Literatur am eigentlichsten auszufüllen vermag. Die schöne Literatur heißt »schön*, weil sie nicht auf Gebrauch und damit auf unmittelbare Handlungsfolgen bezogen ist. Das ist der alte Begriff des >Kalon< und der Artes liberales. Selbst noch beim >Wissen< kann Freiheit gegenüber dem Brauchbaren und dem zu Brauchenden bestehen, und daher das >Kalon<. Das definiert vollends den Begriff der schönen Literatur, daß sie keine Gebrauchsliteratur ist. Was ich zu diesen Dingen ins Auge fassen möchte, ist, wie sich dieser engere, »eminente« Begriff von Literatur notwendigerweise so auswirkt, daß er eine Art von Forderung stellt2. Schreiben ist da nicht einfach Niederschreiben von etwas für sich oder einen anderen, sondern wird zu einem echten Schreiben, das etwas »schaffe, für den erwarteten oder zu gewinnenden Leser. Das ist der Schriftsteller im eigentlichen Sinne des Wortes. Er muß »schreiben« können, und das heißt, daß er all das, was der unmittelbare Wortaustausch an emotionaler Färbung, an symbolischen Gebärden, an Stimmführung, Modulation usw. enthält, durch seine Stilkunst aufwiegt. Man hat den Schriftsteller daran zu messen, wie weit ihm die gleiche Sprachkraft im Schreiben gelingt, die im unmittelbaren Austausch von Wort zu Wort, zwischen Mensch und Mensch am Werke i s t - und vielleicht noch eine größere. Denn im Falle von Dichtung ist Sprachkraft so intensiviert, daß der Leser dauernd gefesselt bleibt. Es ist klar, worauf dies hinzielt - aufeine Sprachkunst, welche das Geschriebene sprachkräftig macht. Sie ist eine Kunst des Schreibens. Es ist Literatur, was so zustande kommt. Es ist klar, was das bedeutet. Damit hat der Zusammenschluß zwischen Sprache und Schrift, den das Lesen vollbringt, höchste Innigkeit erreicht. >Sprechen< erscheint in der Zwiefalt von Schreiben und Lesen. Das ist der Grund für mein drittes Stichwort. Es soll zeigen, daß Lesen nicht etwa ein Drittes ist, das dann auch noch hinzukommt, sondern das dritte ist hier genau das, was Schrift mit Sprache zusammenschließt. 2
Siehe dazu im folgenden >Der >eminente< Text und seine Wahrheit« (Nr. 25).
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Nur dadurch ist Schrift überhaupt ein Sprachphänomen, daß Schrift gelesen wird. Es lohnt sich, wie ich meine, die Weisen des Lesens und den Vorgang des Lesens einer genaueren Analyse zu unterziehen. Ich bin mir bewußt, daß ich damit in gewisser Weise das Gegenthema zu dem Hauptthema >Voix -et langage< behandele. Aber ein Gegenthema hat immer den Vorzug, daß es Abgrenzungen bewirkt und damit das Abgegrenzte mit sichtbar macht. Wir fragen also: Was ist Lesen? Ich möchte eine Reihe von Phänomenen vorüberziehen lassen, die uns allen vielleicht deutlich machen können, wie die Rückbindung von Schrift an Sprache jeweils aussieht. Ich unterscheide der Reihe nach. Zunächst als eine erste Feststellung: Lesen ist nicht Buchstabieren. Solange man buchstabiert, kann man nicht lesen. Lesen setzt immer schon bestimmte antizipatorische Vorgänge der Sinnerfassung voraus und hat als solche eine bestimmte Idealität an sich. So wie wir Handgeschriebenes lesen können, obwohl jeder seine eigene, individuelle Handschrift hat, oder wie wir auch im allgemeinen ungestört über Druckfehler 'hinweglesen. Der Druckfehlerteufel ist das bekannteste Zeugnis für die trostreiche Tatsache, daß wir im allgemeinen vom Verständniszusammenhang getragen werden und über die tatsächlichen Mängel des sichtbaren Zeichenbestandes fruchtbar hinweglesen. Das hat natürlich seine Grenzen, aber in seinen Grenzen zeigt es etwas von der das Lesen leitenden Sinnteleologie.
dächtnisses gibt - und einen gewissen Spielraum für Ausfüllung desselben. Dieser Spielraum der Ausfüllung ist genau dasselbe, auf einem höheren Freiheitsniveau, wie das, was ich eingangs schilderte, wenn ich von dem Gestaltungsspielraum aller konventionellen Zeichen, sowohl unserer Laute als auch unserer Schriftzeichen, sprach. Ich möchte nun eine gewisse Klimax von Phänomenen erörtern, die fur unser Verhältnis zur Sprache und zur sprachlichen Überlieferung unserer Kultur von einer vielleicht nicht immer genügend beachteten Bedeutung ist. Ich meine die Klimax Rezitieren, Vorlesen, lautes Lesen und stilles Lesen. Diese Klimax hat eine vernünftige Logik, und man hat sich zu fragen, was sich dajeweils ändert. Alle diese Formen des Lesens sind, mehr oder minder, wie sich zeigen wird, vom unmittelbaren Ideal des reproduzierenden Sprechens als eines neuen, wirklichen Sprechens prinzipiell unterschieden. Vorlesen heißt nicht Sprechen, auch wenn es in Lautgestalt geschieht. Schwieriger ist es beim Rezitieren. Hier kann man sich fragen: Ist Rezitieren Reproduzieren? Wir kennen echtes Reproduzieren, etwa in dem Sprechen des Schauspielers auf der Theaterbühne. Da ist es in der Tat wahr, daß der echte Schauspieler wirklich >spricht<, obwohl ihm sein Text vorgeschrieben ist, und der schlechte Schauspieler nicht - er hinterläßt einem immer den Eindruck eines bloßen Aufsagens. Er setzt eine Sekunde zu früh ein - bekanntes Phänomen im Theater —, und man wird nie das Gefühl ganz los, daß er das nächste Wort schon kennt, wenn er spricht. Sprechen aber heißt in ein Offenes hineinsprechen. Der wirkliche Schauspieler reproduziert ein echtes Sprechen, so daß man darüber vergißt, daß es ihm vorgeschrieben ist. Tatsächlich gehört daher die Improvisationskunst zum echten Schauspieler, zumindest in gewissen Formen des Theaters. Aber auch im literarischen Theater läßt der Text einen Spielraum zur Ausfüllung offen. Durch diese Abhebung zur Kunst des Schauspielers wird deutlich, daß selbst das Rezitieren, das einen Text wieder zur Lautgestalt aufruft, noch nicht Sprechen, sondern irgendwie noch >Lesen< ist. Es ist noch nicht so Sprechen wie das des Schauspielers, der seine Rolle verkörpert. Wenn ihm das gelingt, dann spricht er wirklich, d. h., er bricht das Schweigen oder verstummt, er nimmt das Wort oder er schweigt.
Nun gibt es Zwischenformen, die in jüngster Zeit ins Bewußtsein getreten sind. Es gibt nicht nur den Leser von geschriebener, sondern auch den Hörer von ungeschriebener Literatur. Wir sollten an das Phänomen der Oral poetry denken. Es ist eine sehr wichtige neuere Einsicht, daß die epische Tradition der Völker durch sehr lange Zeiten der Mündlichkeit am Leben bleiben kann. Es ist die bekannte Untersuchung an den albanischen Heldenliedern, die auf dem Balkan durch die amerikanische Expedition der frühen 30er Jahre so erstaunliche Ergebnisse gehabt hat, daß ζ. Β". unsere gesamte Homerforschung heute in einem neuen Lichte erscheint. Wir wissen jetzt viel mehr über die Dauerhaftigkeit epischer Traditionsformen mündlicher Art. Das erzähle ich um einer Pointe willen, die, wie mir scheint, im allgemeinen verkannt wird. Die neue Begeisterung für die Tatsache, daß sich Traditionsformen auf mündliche Weise so lange am Leben erhalten, hat, wie ich glaube, dagegen blind gemacht, welcher Weg zur Schrift schon in den sprachlichen Mitteln der Oral poetry steckt. Ich meine damit nicht nur die Selbstverständlichkeiten mnemotechnischer Art, wie etwa Versmaß und Füllverse und dergleichen sind. Aber es gehört auch Mnemotechnik dazu. Da gibt es Wiederholungsformeln, Rekurrenzen, die den Sinn haben, die Einmaligkeit des wiederholenden Vortrags auf eine bestimmte Weise festzulegen. Die Untersuchungen auf diesem Gebiete sind höchst interessant. Es hat sich gezeigt, daß es auch da ein großes Ausmaß von Treue des Sagenge-
Von Rezitieren sprechen wir primär beim Epos und bei der Lyrik. Das Rezitieren kennen wir vor allem als die Rhapsoden-Kunst. Der Rhapsode ist nun, wie die literarischen Formen des Epos mir zu zeigen scheinen, nicht eigentlich die Wiederverkörperung eines Ursängers oder Ursprechers. In Piatos >Ion< wird ein Homer-Rhapsode geschildert, der seinen Vortrag so virtuos gestaltet, daß sich ihm, wenn irgendeine Schreckensszene kommt, selber die Haare sträuben, und wenn es irgendeine traurige Szene ist, ihm selber die Tränen kommen usw. Plato schildert das offenbar mit kritischem Bewußtsein. Er sieht darin eine bestimmte Auflösungserscheinung der epi-
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sehen und religiösen Tradition des Griechentums. Der Rhapsode wird zum Virtuosen. Der echte Rhapsode war ein reiner Vermittler der mythischen und epischen Geschehnisse und wollte gar nicht selber genannt sein. Auf der anderen Seite wird man sagen müssen, daß der berufsmäßige Sänger kein bloßer Erzähler mehr ist, sondern das Erzählen schon unter bestimmte literarische Bedingungen zu stellen beginnt. Das sind schwierige Probleme, welche Beziehungen etwa zwischen der Kunst des Erzählens, die als Literaturwerk erscheint, und der Kunst des Erzählens, die uns auch außerhalb der Literatur begegnet, bestehen. Welche Übergänge machen die Gabe eines guten Erzählers zu der Erzählkunst eines Novellisten? Wenn es wahr ist, daß das Rezitieren einen bestimmten Bezug zur Schriftlichkeit - oder mindestens zum memorierten Text - festhält, dann muß sich dies in Möglichkeiten der Literatur selber spiegeln. Ich erinnere an das Lesedrama. Da haben wir ein Drama, das nicht nur auch gelesen wird, sondern das nur für das Lesen geschrieben ist — oder mindestens bei dem Versuch, es in das Theater zu überführen, scheitert. Denken wir etwa an Maeterlinck, dessen Bühnenanweisungen schon durch ihre eigene sprachliche Dichte Ausführung ausschließen. Zum Rezitieren gehört also hier ein Bezug aufs Lesen, in der Oral poetry, in der mündlichen Überlieferung des Epos, oder auch in seiner Wiederaufnahme. Das ist übrigens ein weiteres Problem, das mit der Oral poetry inzwischen in die Diskussion eingetreten ist, das wir nie vergessen sollten. Es ist vielleicht wichtiger, nicht ob eine Tradition schriftlich fixiert war oder nicht, sondern ob sie nur im Rezitationsvortrag überhaupt gehört wurde oder ob es auch unmittelbare Benutzung des Textes durch Leser gab, ohne die Vermittlung des Rezitators, des Rhapsoden. Ein Phänomen, an dem das ganze Problem des Rezitierens auf seinen Gipfel kommt, scheint mir das Auswendigsprechen. Das war für Gedichte früher einmal etwas ganz Ehrenwertes, und nach meiner Überzeugung ist es das immer noch. Ein Gedicht, das man wirklich auswendig kann, wird rezitiert, ob innerlich oder auch mit Stimme. Es wird nicht reproduziert. Es soll nicht irgendeine ursprüngliche Art des Sprechens wiedererweckt werden, sondern es hat seinen alleinigen Bezug auf die Idealität des Textes selber, seine zwar in Schriftlichkeit dokumentierte, aber im Gedächtnis lebendige Sprachkunst. Im Auswendigkönnen ist diese Kunst der Sprache offenkundig in ihrer vollen Wirklichkeit da. Mich beschäftigt seit langem die Frage, wie weit Rezitieren immer zum Auswendigkönnen wirklich gehört. Das ist die FrageIch glaube nicht, daß jede Dichtung, die jemand auswendig kann, sich auch wirklich vor anderen sprechen läßt. Es gibt Dichtungen, die fürs Rezitieren da sind. Ich meine nicht nur solche, die ursprünglich aufgeführt wurden, wie die Chorlyrik, etwa die Pindarischen Hymnen. Wie ist es etwa mit den Horazischen Gedichten? Erst recht fragt man sich, ob man Rilke
rezitieren kann. (Die Beispiele, die ich erlebt habe, lassen mich daran zweifeln.) Das ist nicht eine Frage der Vortragskunst, sondern der Kunstgestalt des Sprachwerks, also der Dichtung selber. Es ist ein stilles Vorsichhinsprechen, das allein der sprachlichen Haltung dieser Art von Gedichten entspricht. Anderes ist anders. George läßt sich natürlich rezitieren. Er hat geradezu das >Hersagen< als Terminus fur das Rezitieren gebraucht und mit seinen Jüngern und Zöglingen geübt. Aber ob Rilke, ob Hölderlin, ob Trakl rezitierbar sind? In der deutschen Dichtung müssen wir hier zwischen dem wirklich in die Materialität einer Stimme Überfuhrbaren und dem im inneren Ohr allein zu Hörenden unterscheiden. Letzteres gehört selbstverständlich zur lyrischen Sprache. Dichtung ist das Herauskommen der Spracherscheinung selber und nicht ein bloßer Durchgang zum Sinn. Es ist ein ständiges Zusammenklingen von Sinnerfassung und sinnlicher Klangerscheinung, durch die Sinn leibhaft wird. Aber das bedeutet nicht, daß es die wirkliche Stimme geben muß, daß sie wirklich zu hören ist. Ober besser, es ist nur wie eine zu hörende Stimme und muß, ja kann keine wirkliche Stimme sein. Diese nur zu hörende, nie sprechende Stimme ist im Grunde ein Muster und Maß. Warum sind wir denn in der Lage zu sagen, jemand liest gut vor? Oder: Das ist schlecht vorgelesen - welche Instanz sagt uns das? Doch nicht etwa die, wie der Dichter selber liest. Es ist wahr, daß Dichter durch die Art, wie sie lesen, sehr instruktiv sein können. Aber sie sind deshalb nicht Vorbilder für die Art, •wie ihre Gedichte gehört werden sollen. Nicht nur, daß sie oft keine Sprechkünstler sind. Es liegt vielmehr im Wesen von Literatur, daß das Werk sich so sehr von seinem Schöpfer gelöst hat, daß der Dichter bestenfalls ein guter, nie ein privilegierter Interpret seiner selber ist. So halte ich den Zusammenhang von Literatur und Stimme zwar durchaus für wesentlich, wo immer wir Literatur im eminenten dichterischen Sinne haben. Aber die Form, in der Stimme hier da ist, muß nicht die materialisierte Stimme sein, sondern ist primär etwas, was in unserer Imagination modellhaft wie ein Kanon ist, der uns erlaubt, jede Art der Ausführung von Rezitation zu beurteilen. Noch deutlicher wird der Bezug von Stimme und Text beim Vorlesen. Da strebt man nicht die Unmittelbarkeit des Sprechens an, die auf die Bühne gehört. Vorlesen soll etwas, was geschrieben ist, als einen >Text< zu Gehör bringen. Das setzt bestimmte Restriktionen der Unmittelbarkeit des Sprechendseins voraus. Es ist eine Frage des Taktes und eine Frage des Verständnisses. Wir kennen es nur zu gut, wenn man im Unterricht etwa einen Studenten bittet, einen bestimmten Satz vorzulesen, und er ihn nicht verstanden hat. Dann verstehen wir alle den Satz auch nicht. Man kann keinen Satz verstehen, der vorgelesen wird, ohne daß der Vorlesende ihn verstanden hat. Warum ist das so? Welche Art von Idealisierung< liegt hier vor, die
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Gemeinsamkeit stiftet? Ich würde sie >hermeneutisch< nennen, denn sie ist vom Verstehen abhängig, ist eine vom Sinn gewichtete Art des Verlautbarens, des Sprechendseins, des Redendseins. Mit Verständnis — das heißt nicht mit >Ausdruck<. Da wird die Sache schon ganz schlimm, wenn einer >mit Ausdruck« liest. Der Schauspieler, der eine Rolle verkörpert, muß der ganzen Person, die er spielt, Ausdruckskraft geben, aber nur insofern auch dem >Text<. Aber ob der Vorlesende und wie weit er in Rückbindung an den ursprünglichen Sprecher oder Schreiber einem Text Ausdruck geben soll? Muß nicht der Ausdruck, den etwa der erzählende Text verlangt, etwas von unpersönlicher Sinnhaftigkeit und Anschaulichkeit haben? Eine Analogie aus der bildenden Kunst mag das verdeutlichen. Im Unterschiede zur Renaissancekunst finden wir bei den Sieneser Malern, daß etwa die Kurve eines Engelgewandes überaus ausdrucksvoll sein kann, während das Gesicht oder die eigentliche Gestik als solche gar keinen »Ausdruck« zeigt, vor allem auch nicht das Auge. Etwas von solcher Anonymität des Ausdrucks liegt im richtigen Stil des Vorlesens einer Erzählung. Mein entscheidender Punkt ist jedenfalls, daß aller Stimmgebrauch sich dem Lesen unterordnet und sich an der Idealität mißt, die allein das innere Ohr hört, in dem das Kontingente der eigenen Stimme und des eigenen Sprechens verschwindet.
nur an Ludwig Tieck - ist es zweifellos auch nicht so, daß sich der Sprecher in die Person verliert, deren Worte er im Augenblick spricht. Es bleibt ein gewisser Gesamtton des Vorlesens, dank der gleichen Stimme, die sich nur leicht charakterisierend modifiziert und das Vorliegen eines gelesenen Textes im Bewußtsein hält. Auch bei einem Phänomen, wie es etwa ein Tieck war, welcher alle Rollen eines Shakespeare-Dramas selber sprach, so daß es fast wie ein lebendiges Sprechen mit verteilten Rollen war, wurde im Vergleich zur Bühne zweifellos eine gewisse Reduktion vorgenommen. Denn gewiß hatte Tiecks Vorlesen eine einzigartige stilistische Einheitlichkeit. In der Erzählkunst sieht die Sache wieder anders aus. Da soll man sicher den Stil eines Erzählers spüren, aber so, daß man fast unmerklich zum selbstvergessenen Mitgehen mit der Erzählung gebracht wird — auch wenn man nachträglich die Kunst der Sprache bewundern mag. Im allgemeinen werden wir es hier schon mit stillem Lesen zu tun haben. Ich bin mir nicht darüber klar und weiß auch nicht, wie weit wir das wissen. Seit wann lesen wir eigentlich, ohne laut zu lesen? Im Altertum war es selbstverständlich, daß man laut las. Das weiß man aus einer erstaunten Feststellung, die Augustin über Ambrosius gemacht hat. Aber weiter: Seit wann liest >man< leise und ist nicht Zuhörer? Seit wann ist dies, daß man leise liest, ohne einen Laut zu lesen, fur den Schreibenden von Wichtigkeit? Ich meine, daß er dann für eine andere Art des Wiedererzeugens seiner Sprachkunst im Lesen schreibt, als es das Lautlesen war. Es kann doch kein Zweifel sein, daß der Übergang zur allgemeinen Lesekultur auch vom Schreibenden antizipiert wird und die Stilformen des Schreibens modifiziert hat. Bei der Dichtung ist das zuweilen unübersehbar, etwa wenn man Anagrammformen in der Barocklyrik vor sich hat, die auch für das Auge bestimmt waren. Ebenso mag es etwa in Maliarmes Spiel mit der Druckanordnung fur >Un Coup de Dés< sein. Visuelle Anordnungen können dem (äußeren oder inneren) Hörer der Sprache des Gedichts dienen - wie etwa die GeorgeSchrift geradezu >Hersagen< verlangt, um sich von den theaterhaften Rezitationskünsten abzuheben.
Hier darfich noch einen Augenblick dabei verweilen, um recht deutlich zu machen, wie sich Vorlesen in dem Falle modifiziert, wo es sich um Sprachkunst handelt und nicht um den bloßen Transfer von Sinn, um die Übermittlung eines bestimmten Inhaltes, einer bestimmten Botschaft. Dann soll vielmehr das Wie des Gesagtseins, die erscheinende, ertönende Sprache, mit aufgebaut werden, im Unterschiede zu einer Mitteilung, von der wir sagen: Ja, ja, jetzt habe ich es begriffen! — und gar nicht mehr weiter hinhören. Dagegen, wenn wir zum Beispiel ein Gedicht lesen, sagen wir nicht: Das kenne ich schon! — und hören auf. Wer ein Gedicht wieder liest, meint nicht, er brauche es nicht mehr zu lesen. Im Gegenteil, er fangt «rst dann richtig an zu lesen und versteht wohl erst, wenn er es auswendig kann. Dagegen ist die epische Gattung sehr wohl durch die Gespanntheit auf den Fortgang der Erzählung und ihre Überraschungen charakterisiert. Auch hier spielen Probleme der Zeitgestalt eine entscheidende Rolle. Was für ein Verweilen entsteht dort, wo wir es mit Kunst zu tun haben? Wird da nicht der Ablauf als solcher gleichsam zurückgeholt, für eine Art von anschaulicher Gegenwart? Das ist Sprachkunst. Natürlich ist Sprache als Sprache in den verschiedenen Kunstgattungen sehr verschieden da. Beim Theater ist das relativ einfach, obwohl es ein Problem bleibt, warum wir in einer meisterhaften Darstellung einer Rolle immer noch den Stil des Dichters hinter der Sprechweise des Sprechers spüren können. Beim Lesen mit verteilten Rollen soll es immerhin noch etwas vom >Lesen< bleiben, und beim Vorlesen von Dramen - einstmals ein gesellschaftlicher Vorgang von hohem Rang, ich erinnere
Ein besonderes Thema kann ich nur am Rande streifen: die Zeitgestalt des Lesens. Da geht es um die Frage, wie sich der Aufbau von Sprache im inneren Ohr des Lesenden und in seinem Geiste vollzieht3. Da gibt es Modifikationen, etwa den Fall des Liedes, das man singt, oder des Gedichtes, das man auswendig kann und vor sich hinsagt, und auf der anderen Seite die reine Leseliteratur, etwa den Roman. Auch wenn wir bei mancher Erzählung eine ununterbrochene zeitliche Abfolge der Lektüre annehmen können, ist sich doch der Autor eines Romanes der Diskontinuität bewußt, die die Erzählliteratur im ganzen in Kauf nehmen muß. Musil rechnete 3
Ausführlicher dazu der folgende Beitrag >Hören - Sehen - Lesen< (Nr. 23).
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gewiß nicht damit, daß man seinen >Mann ohne Eigenschaften ohne Pause liest. Die epische Literatur legt es geradezu darauf an, daß hier Diskontinuität in eine neue Kontinuität überfuhrt wird. Damit rechnet sie, und das gibt ihr auch beim Erzählen Freiheiten in der Behandlung der Zeitfolge, stellt aber auch neue Anforderungen an die Kunst des Schreibens, ζ. Β. Spannung zu erregen und zu steigern. Im Unterschied zu einem wissenschaftlichen Buche ist es keine Empfehlung für einen Roman, wenn man zurückblättern muß. Die Zeitgestalt des Lesens bleibt mit der Zeitgestalt des Textes noch in einer gewissen Entsprechung. Aber sie ist nicht dieselbe und jedenfalls nicht so, wie es die Vollzugseinheit beim >Lesen< eines Gedichtes oder Hören eines Musikstückes ist. Bei allen Unterschieden wird sich jedoch ein gemeinsamer Zug durchhalten. Das hat etwa Dilthey als die Zentrierung im Mittelpunkt > Struktur< genannt, und das steht in der modernen französischen Strukturforschung ganz im Vordergrund. So variiert der Vorgang des Lesens in vielfacher Weise, wenn sich die sukzessive Zeitdimension mit der zyklischen Zeitdimension im Vollzug des Lesens vermittelt. Die Zeitstruktur des Lesens wie die des Sprechens stellt eben ein weites Problemfeld dar.
23. Hören - Sehen - Lesen (1984)
Die Philologie nennt man seit Nietzsche die Kunst des langsamen Lesens. Das ist in Wahrheit eine mehr und mehr verschwindende Kunst, bei etwas zu verweilen, statt durch Texte durchzueilen und die Informationen abzuernten, die in ihnen gespeichert sind. Die Aufgabe, die ich mir heute stelle, ist, über die besondere Struktur des Lesens ein wenig nachzudenken. Lesen bezieht sich auf Schrift, Handschrift oder Druckschrift, und Schrift geht zurück auf Sprache. Lesen ist Sprechenlassen. Darin liegt ein hermeneutisches Moment. Wer kann lesen, ohne zu verstehen? Es wäre ein Stottern, ein Stammeln, ein Buchstabieren, aber kein Lesen, solange man nicht von der Sprache selber in das von ihr Geweckte eingeleitet wird. Sprechen fordert also Verstehen, Verstehen des Wortes, das gesagt wird. Auch des eigenen Wortes. Wir wissen alle, was es heißt, daß man sein eigenes Wort nicht versteht. So etwa sagt man, wenn es im Räume zu laut ist. Man meint damit etwas sehr Wesentliches, nämlich daß man sein eigenes Wort deshalb nicht versteht, weil man nicht sehen kann, wie es der andere aufnimmt. Das heißt nicht, daß man auf die eigenen Worte hinhört, aber man muß daraufhinzielen, daß der andere es hören kann. Es kommt auf dieses Ankommen bei dem Adressaten an. Man darf sich sogar fragen, ob nicht alles Stocken im Verstehen seiner selbst, was doch wohl eine unserer denkenden Grunderfahrungen ist, immer noch in Wahrheit ein ausbleibendes Ankommen bei sich selber ist.
Wenn ich das Phänomen des Lesens mit Hören und Sehen in Verbindung sehe, so hat dieses Thema zwei Aspekte, einen anthropologischen und einen poetologischen. Der anthropologische Aspekt ist uralt. Die Rivalität dieser unserer beiden menschlichsten Sinne ist ein bekanntes Phänomen. Jeder weiß, daß ein Habicht besser sieht als er selber und daß eine Katze mehr hört als er selber. Aber das Zusammenspiel von Hören und Sehen ist beim Menschen von alters her seine besondere Auszeichnung. Hören heißt eben nicht nur hören, sondern Hören heißt Worte hören. Hier liegt eine Auszeichnung des Hörens. So hat noch in der bekannten Redensart, daß einem Hören und Sehen vergeht, das Hören den ersten Platz. Gewiß hat Aristoteles recht, wenn er am Anfang der >Metaphysik< sagt, von allen Sinnen des Menschen
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sei das Sehen der wichtigste, denn er präsentiere die meisten Differenzierungen, die meisten Unterschiede, und stehe deswegen unter allen Sinnen dem Erkennen, dem Unterscheiden, am nächsten. Er sagt auch etwas vom Vorrang des Hörens. Hören kann die menschliche Rede aufnehmen, und deren Universalität übertrifft alles. Nun wissen wir, wie sehr sich diese beiden wesentlichen menschlichen Sinne kompensieren. Alle schlecht sehenden Menschen trainieren ihr Ohr viel mehr als die anderen. Doch umgekehrt wissen wir, wie weit sich das Ohr durch das Auge ersetzen läßt, ζ. Β. durch Ablesung der Lippenbewegung. Die Beziehungen zwischen Hören und Sehen, Sehen und Hören, sind aber sehr viel komplizierter, als der erste Anschein zeigt. Selbstverständlich geht es, wenn wir von Hören und Sehen in bezug auf das Lesen sprechen, nicht darum, daß man sehen muß, um Schrift entziffern zu können, sondern es geht darum, daß man hören muß, was Schrift sagt. Hören können heißt verstehen können. Das ist das eigentliche Thema meiner Überlegungen. Der Zusammenhang zwischen Lesen und Hören liegt auf der Hand. Es ist erst in späten Phasen unserer europäischen Kultur dazu gekommen, daß man überhaupt lesen kann, ohne zu sprechen. Wir wissen durch eine Stelle bei Augustinus, daß der Kirchenvater Ambrosius angestaunt wurde, weil er lesen konnte, ohne dabei laut zu sprechen. Aus meiner eigenen Jugend erinnere ich mich, daß mein Deutschlehrer im Breslauer Gymnasium an mir zunächst mit Mißtrauen - bis er sich von meiner Unschuld überzeugt hatte beobachtete, daß ich beim Schreiben immer die Lippen bewegte, als ob ich spräche. Vielleicht war das eine erste Frühbestimmung für hermeneutisches Talent, daß ich, wenn ich etwas lese, es noch immer hören möchte. Worum es geht, ist also die Rückverwandlung von Schrift in Sprache und das damit verknüpfte Hören. Hier befinden wir uns in einem gewissen Neuland der Fragen. Es muß doch einen Unterschied machen, ob ein Text für das Rezitiertwerden niedergeschrieben wird oder ob ein Text vom Blatt gelesen werden soll, ob ein Text vorgelesen werden soll und dafür geschrieben ist oder ob man, wie schließlich in unserer Kultur es immer häufiger geworden ist, ganz nur mit dem stillen Lesen zu rechnen hat. Nicht* daß das klare Unterschiede wären. Doch muß es für die Kunst des Schreibens selber eine Rolle spielen, wie das Geschriebene in Gebrauch genommen wird. Hier gehört das heute viel diskutierte Problem der Oral poetry hin. Was ich als klassischer Philologe noch gelernt hatte, daß epische Tradition sich nur auf der Basis der Schriftlichkeit überhaupt entwickeln könne, wird durch die Tatsache eingeschränkt, daß ein erstaunlich langes mündliches Traditionsleben gerade bei epischem Sagengut und bei epischer dichterischer Überlieferung bekannt geworden ist. Das hat die amerikanische Expedition in den albanischen Bergen gezeigt. Man muß diese Erkenntnis freilich in ihrer Bedeutung
richtig einschätzen. Sie bedeutet nämlich, daß man die >Mneme<, das Gedächtnis, das Engramm in uns selbst, als die erste Form von Schriftlichkeit erkennen muß, die sich in der Psyche eingegraben hat. Jeder sieht das an Homerischen Epen so gut wie an anderen Epen, die noch für rhapsodische Überlieferung gedichtet sind, wieviel Répétition, Floskeln, Stilmittel und Metaphern, die sich wiederholen, das Gedächtnis des Rhapsoden so gut wie das des Hörers entlasten. Die Stabilisierung durch die Schriftlichkeit wird in der mündlichen Überlieferung von Dichtung schon beinahe antizipiert. Nun kann ich hier nicht diskutieren, wie der Anteil von mündlicher Überlieferung und von schriftlicher Reduktion die Redaktion unserer klassischen Epen beeinflußt hat. Mir liegt nur daran, daß man auf die Verbindung zwischen Lesen und Hören überhaupt den Blick richtet und damit die für den Schreiber, für den Schriftsteller so entscheidenden Adressaten nicht vernachlässigt, an die er sich wendet. Wir kennen aus der Rhetorik, daß die großen Repräsentanten der Redekunst, die wir aus Griechenland kennen, durchweg geschriebene Reden verfertigt haben, also Literatur. Sie lasen Texte vor, wenn sie ihre berühmten Auftritte machten. Schon damals war also das Verhältnis zwischen Rhetorik und Literatur sehr eng geknüpft. Das sind gewiß relative Spätzeiten, in denen wir uns da befinden und auf die unsere Überlieferung von Reden allein zurückreicht. Die verschiedenen Weisen, in denen sich Lesbares in Hörbares umsetzt, sind aber offenbar von sehr weitreichender Bedeutung. Man denke an den Unterschied, wie etwa der berufsmäßige Rhapsode oder Sprecher einer bestimmten Gattung, etwa des Epos, vorsingt, oder wie Chorlyrik zur Aufführung kommt. Auch da wird im Grunde nichts aufgeführt außer Sprache, aber Sprache, die in Tanzschritten aufgeführt wird, ist etwas ganz anderes als die Sprache des Epos. Chorlyrik, das heißt ja Mitsingen und Mittun vieler. Wenn man sich die ganze Kette von Phänomenen vor Augen führt, die sich hier anschließen, lernt man etwas über das Lesen und was Lektüre ist. Hier knüpfe ich an Untersuchungen an, die ich als junger Dozent 1929 angestellt habe, als ich ein ganzes Semester lang im Philosophischen Seminar die Frage erörterte, was Lesen eigentlich ist: Ist es eine Art Aufführung auf einer inneren Bühne? Goethe hat es einmal so genannt. Der Ausdruck ist gewiß nicht schlecht gewählt, daß man beim Lesen eine Bühne in sich tragen muß, wenn man die Artikulation der Sprache in ihrer ganzen Spannungsweite wirklich ausmessen oder gar übermitteln will. Aber der Vergleich hat doch offenbar sehr enge Grenzen. Das wird etwa klar, wenn ich an eine Übersetzung wie die Shakespeare-Übersetzung Gundolfs erinnere, und ich exemplifiziere meinen kleinen Beitrag gerade damit, weil ich das letzte Mal, als ich Rudolf Sühnel sprechen hörte, ihn seine schöne Arbeit über Gundolf vortragen hörte. Er zeigte da, wie sich die deutsche Shakespeare-Rezeption
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mehr und mehr auf das klassische Zeitalter einer Lesekultur und damit auf die innere Bühne des Lesens hin bewegt. Bei Gundolf hat sich seine dichterische Übersetzungsleistung geradezu bis zu einer theaterunfähigen Form gesteigert. Das sind interessante Dinge. Goethe hat durchaus im gleichen Sinne die Dinge gesehen, wenn er zum Beispiel sagt, Shakespeare habe einen großen Platz in der Poesie. Sein Platz im Theater sei mehr ein zufalliger und äußerlicher. Die Shakespeare-Rezeption der deutschen Klassik war in der Tat ganz vom Wort her beherrscht und auf die dichterische Sprachwirkung gerichtet. Das meint selbstverständlich, sie war wesentlich auf das Vorlesen gegründet. Goethe war ein hervorragender Vorleser seiner eigenen Dichtungen, und wir wissen von Ludwig Tieck, daß er ein unvergleichlicher Meister im Rezitieren Shakespearescher Dramen gewesen ist. Was aber ist solches Vorlesen fur eine Art des Lesens? Ist es Mimus? Ist totale Verwandlung der Stimme das Ideal, so daß man den Eindruck gewinnt, daß hier wirklich immerfort ein anderer spricht? Oder ist es nicht eher eine leise Tönung in die Richtung der verschiedenen sprechenden Personen, die von dem Melos und der Melodie der einen Stimme des dichterischen Werkes und seines Sprechers zusammengehalten wird? Offenbar handelt es sich um eine Zwischenform zwischen der wirklichen Aufrührung auf einer Bühne und jener Aufführung auf der inneren Bühne, die gar keine Aufruhrung ist, sondern lediglich ein inneres Hören auf das Klangwerden der Sprache.
der evokativen Macht der Sprache überhaupt und deren Vollendung in der evokativen Macht des dichterischen Wortes. Man kann geradezu sagen, daß das dichterische Wort durch diese seine Macht seine Autonomie beweist. Ma» muß den schon einen Banausen nennen, der etwa eine in einem Gedicht oder einer Erzählung geschilderte Landschaft in der Wirklichkeit aufsuchen möchte, um die Dichtung besser zu verstehen. Die evokative Macht der Sprache fuhrt vielmehr zu einer Anschauung und Anschaulichkeit, die von einer geradezu rätselhaften Präsenz der Selbstbezeugung ist. Das ist der zweite Punkt, zu dem ich eine Bemerkung machen möchte, weil er ein vielfach erörtertes Problem berührt, seit Emil Staiger die Zeit als Mittel der dichterischen Einbildungskraft unter dem Eindruck Heideggerscher Einsichten behandelt hat. Die Sache wird heute in der poststrukturalistischen Poetologie geradezu ins Extrem getrieben. Da soll aller Präsenz der Prozeß gemacht werden. Ich halte das fur ein Mißverständnis. Derrida sieht in solcher Präsenz eine Fortwirkung der griechischen Metaphysik. Nun hat uns Heidegger in der Tat gelehrt, daß die griechische Metaphysik und ihr Seinsverständnis auf Gegenwart gerichtet ist. Das gegenwärtig Vorhandene, das Gegenwärtige, macht den eigentlichen Charakter des griechischen Seinsverständnisses aus. Diesem Zeitmodus von Seinsgegenwart widerspricht in der Tat die Zeitlichkeit des Sprechens und des Hörens, die Sukzession einschließt. Was man aber sehen muß, ist, daß das gleiche auch für die im Sprechen geweckte Anschauung gilt. Goethe selbst macht im Zusammenhang seines kleinen Shakespeare-Aufsatzes den Unterschied zwischen dem Sinn des Auges, des leiblichen Auges, und dem inneren Sinn, der durch das Wort allein angemessen erfüllt wird. Hier liegt unser Problem: Worauf beruht es und wie konstituiert sich die Anschaulichkeit, die wir nicht nur am Dichter, sondern an jedem, der Sprache gebraucht, als die Qualität seines sprachlichen Ausdruckes zu schätzen wissen?
Nun ist es für jedermann klar, daß dies letztere die Auszeichnung der Literatur ist. Sie heißt zwar Literatur, aber ihr Gegenstand ist Sprache und nicht Schrift. Sprache ist die eigentliche Wirklichkeit des in der Literatur Tradierten und ist diese äußerste Möglichkeit, sich aus allem Materiellen zurückzuziehen und aus dem Sprachvollzug des fixierten Textes gleichsam neue Sinn- und Klangwirklichkeit zu gewinnen. Alle anderen Künste, und natürlich auch die Theaterkunst, sind an materiell einschränkende Bedingungen gebunden. So kann man von einem Theaterstück sagen, daß es nicht spielbar ist, und das meint, daß die einschränkenden Bedingungen, die dadurch entstehen, daß hier in noch eine andere Erscheinungsweise als nur in die der Sprache transponiert wird, die Souveränität dieses in Sprache erscheinenden Sinnes mit antasten. Hier wird der innere Zusammenhang zwischen Lesen und Hören in seinem Kerne greifbar. Wo wir es mit Literatur zu tun haben, findet die Spannung zwischen den stummen Zeichen der Schrift und der Hörbarkeit aller Sprache ihre vollendete Auflösung. Man liest nicht nur den Sinn, man hört ihn. Von innerer Aufrührung zu reden, wie Goethe tut, ist also nicht ohne Recht. Das fuhrt mich zu dem zweiten Punkt, dem Verhältnis von Lesen und Sehen. Natürlich geht es nicht um den Trivialsinn, daß man sehen muß, um Schrift lesen zu können, sondern darum, daß durch das Lesen etwas Sichtbares geweckt wird, das wir >Anschauung< nennen. Es ist das Wunder
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Wir reden von dem >anschaulichen< Bericht. Es braucht einer kein Dichter zu sein, der uns etwas so erzählt, daß man das Gefühl hat, man sei dabei gewesen. Wir rühmen es auch im besonderen an der dichterischen Rede, wenn sie unsere Einbildungskraft bewegt und aus einer Fülle von wechselnden, auftauchenden und verblassenden Gesichten in uns so etwas wie eine Gesamtwirkung und Gesamtanschauung aufbaut. Was ist das für ein Geschehen? Es handelt sich natürlich nicht um den inneren Sinn in der Weise, in der die Philosophen, etwa Kant, davon reden. Wenn Kant die Anschauungsform der Zeit den inneren Sinn nennt, so meint er damit die Zeit als Sukzession. Im Unterschiede zu der Gleichzeitigkeit der Dinge im Raum stellt die Zeit die Abfolge des einen nach dem anderen als Anschauungsform dar. Das ist für die Zwecke, in denen Kant diese Unterscheidung getroffen hat, selbstverständlich richtig. Aber mit dem Problem der Anschaulichkeit, das wir mit gutem Grunde hier im Auge haben, wenn wir von echtem Lesen
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sprechen, hat das offenkundig nicht unmittelbar zu tun. Nicht das Nacheinander als solches, sondern die Präsenz des Nicht-Gleichzeitigen ist für alles Lesen konstitutiv. Wer Texte nicht im Gesamtvollzug ihrer Artikulation und Modulation und Gliederung auffaßt oder reproduziert, der kann eigentlich nicht lesen. Lesen ist ja nicht die bloße Aneinanderreihung von Wort und Wort und Wort. Das ist Buchstabieren oder Aufsagen. Lesen dagegen ist eine stille Art, etwas wieder sprechen zu lassen, und das setzt Vorgriffe des Verstehens voraus. Wir wissen, was wir unter gutem Vorlesen verstehen. Es muß so sein, daß man es gut verstehen kann, und es kann nur so sein, wenn der Lesende es selber verstanden hat. Ich glaube im Grunde nicht, daß es möglich ist, etwas so vorzulesen, daß ein anderer es versteht, wenn man es selber überhaupt nicht verstanden hat. Freilich, was heißt hier Verstehen? Sicherlich haben wir es hier mit einem weitgespannten Kontinuum zwischen vagster Sinnanmutung und rechenschaftsfahigem Begreifen zu tun. Am auffälligsten wird es gewiß dort, wo nicht nur gelesen und vorgelesen wird, sondern regelrecht Theater gespielt wird. Die verschiedenen Ränge des Verstehens, die etwa ein attisches Theaterpublikum zu einem übereinstimmenden Urteil vereinigte, sind nicht bloße Erweiterungen eines teilhaften Verstehens zu einem Ideal des vollendeten Verstehens hin. Die Ränge sind vielmehr konzentrisch ineinander gefugt. Auch der heutige Schauspieler steht stets innerhalb dieses Variationsraumes von >Ahmung< und bewußter Interpretation. Wir kennen es an Gegenbeispielen, etwa an dem Aufsagen von Gedichten, wie wir es als kleine Kinder zum Geburtstag unserer Eltern zu tun hatten. Das ist eine Art Sagen, das kein Sagen ist. Denn hier ist der Vollzug von Sprache in das Extrem der gedankenlosen Form des bloßen Memorierens abgesunken und ist nicht in einen verstehenden Vollzug eingelagert, der nicht Nachahmung, sondern >Ahmung<, ein Ganzes des Vollzugs ist. So Hegt der wesenhafte Unterschied auf der Hand, der zwischen der Zeitgestalt der Anschaulichkeit in Präsenz und jener Zeitgestalt des Nacheinander besteht, deren reine Ausprägung in der physikalischen Zeit, der gemessenen Zeit, vorliegt.
versteht? Das negative Extrem hebt sich deutlich ab, wenn einer sich am Schluß eines Musikstückes erst einmal ängstlich umsehen muß, ob er zu klatschen zu beginnen hat. Verstehen schließt also ein, daß man dem gleichsam schon voraus ist, was noch aussteht oder nicht mehr aussteht, und das so sicher im Ohr hat, daß kein Problem solcher Art entsteht. Worauf beruht diese Einheitsbildung? Was ist die Zeit, in der solches Verstehen von Sprachgestalten aus Sinn und Klang vor sich geht? Sicherlich hat sie ihr Wesen nicht in der meßbaren Folge der Jetztpunkte. Aristoteles behandelt einmal das Wesen des Umschlags. Er meint dabei solche Phänomene wie das plötzliche Gefrieren einer unterkühlten Flüssigkeit, die >Metabolë<. Er will damit sagen, daß nicht alle Bewegung in der Dimension der Zeit verläuft. Es gibt für diese Physik des Augenscheins auch die Plötzlichkeit des Umschlages. Nun, solche Plötzlichkeit des Umschlages ist in jedem Verstehen. Wir kennen das, wenn wir auf eine bloße Mitteilung im täglichen Leben hinhören: Wir hören dann zu, bis wir es >haben<. In dem Moment, in dem wir es >haben<, ist sozusagen das Ganze da. Ungeduldige Menschen haben es nicht einmal gern, wenn der andere dann bis zu Ende spricht. Nun ist das im Falle der Literatur gewiß nicht ebenso. Da ist das Ganze der Spracherscheinung neben dem Ganzen des Sinnes der Rede gemeint. Aber auch1 dieses Ganze, das durch Sprache und insbesondere durch dichterische Sprache zu anschaulicher Präsenz gebracht wird, wird nicht Wort für Wort aufgebaut, sondern ist als dieses Ganze da, wie mit einem Schlag. Und natürlich hat diese Art von Präsenz nicht die Gegenwärtigkeit eines Augenblicks, sondern schließt raumfüllende Gleichzeitigkeit ein. Wir haben in der deutschen Romantik bei Novalis, Baader, Schelling erste Winke in dieser Richtung, die dann durch Bergsons >Matière et mémoire< zu allgemeiner Anerkennung gelangt ist. Im Sprachgebrauch des Fremdwortes >Präsenz< spiegelt sich das deutlich. Wir sagen etwa von einem Menschen, er habe Präsenz, wenn es so ist, daß man merkt, wenn er hereinkommt, während wir es beim anderen nicht merken. Auch beim großen Schauspieler sagt man, er habe Präsenz, d.h., er füllt die Bühne, auch wenn er nur an der Kulisse steht und andere sich viel mehr anstrengen, ohne solche Präsenz zu erreichen. Präsenz heißt also etwas, was sich wie in einer Art Eigengegenwart ausbreitet, so daß das Geheimnisvolle und Unheimliche des Vergehens der Zeit, des Davonrollens der Augenblicke im Zeitflusse, wie angehalten ist Darauf beruht Sprachkunst. Sie vermag es, daß in der zaudernden Weile einiges Haltbare sei. Wir lesen ja auch wirklich ein literarisches Kunstwerk nicht auf das hin, was es an Information bietet, sondern werden immer wieder auf die Einheit des Gebildes zurückgeworfen, das sich immer differenzierter artikuliert.
Offenbar hängt der Unterschied mit dem Wesen des Sprechens, mit dieser Antizipation von Sinn aufs engste zusammen, auf die alles Sprechen suchend, verfehlend und findend gerichtet ist. Wirkliches Sprechen ist eben auf das Wecken von Anschauung gerichtet, so daß sich die anschauliche Präsenz des Gesagten gerade dadurch ergibt, daß sich nicht bloß ein Nacheinander abwickelt, sondern ein Vorgriff auf Einheit die Führung hat, die Gestalt gewinnt. Wir reden dann etwa von der Gestalteinheit, über die uns die Gestaltpsychologie belehrt hat. Oder wir reden mit Dilthey von der Zentrierung in einem Mittelpunkt und kennen all diese Dinge am besten aus dem Hören von Musik. Denn was heißt dort Verstehen? Ein auf einen Informationsinhalt gerichtetes Interesse vermag darin nichts zu verstehen. Wer also
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Wir lernen durch die Wissenschaft - von der antiken Rhetorik über die
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Philologie bis hin zur Textlinguistik und Phonologie - von den Stabilisatoren, die der Rede solchen Halt geben. Die Funktion von Rhythmus und Reim, von Assonanzen und phonologischen Symmetrien durchzieht alles Sprachliche, vom Reklametext bis zur Dichtung. Gereimtes ist nicht immer Dichtung. Gewiß gehört der Reim zu den Stabilisatoren der Rede, die in Dichtung begegnen. Vielleicht ist er eines der schwerst zu handhabenden Kunstmittel der Lyrik. Die moderne Poesie ist wohl gerade deshalb in der Verwendung des Reims so zurückhaltend geworden, weil der Mißbrauch des Reimens sich immer mehr verbreitet hat. Und so ist es immer schwerer, das Klappern des Reimes zu vermeiden. Aber auch bei anderen Kunstmitteln gibt es dieselbe Art des Mißbrauchs, ζ. Β. bei der stabreimähnlichen Assonanz. In Wahrheit steht eben die Einzigkeit dichterischer Fügung ständig in der Abwehr gegen die Abnutzung von Sprache. Abnutzung von Sprache aber bedeutet, daß Sprache nicht mehr leistet, was sie kann: eine neue Präsenz, eine neue Vertrautheit zu schaffen, die sich nicht abnutzt, sondern beständig an Tiefe gewinnt. Das schließt gewiß ein, daß die Worte nicht erst in der Äußerlichkeit des Klanges, dann in der Trägerschaft der Bedeutung, dann in der Einfügung in einen Bedeutungszusammenhang aufgenommen und so nach und nach zum Ganzen aufgebaut werden. Vielmehr ist die Wirkungseinheit von Sinn und Klang, die wie von einem Ganzen getragen wird, in jedem Worte bereits darin. Dieses Darinsein des Ganzen in allem Einzelnen des Gebildes schließt aber ein, daß auch der von ihm ganz Erfüllte ganz in ihm aufgeht — wie der Schauende in der Anschauung, wie der Singende in seinem Gesang. Darin hegt der wahre Sinn des Auswendigkönnens von Dichtung beschlossen. Das ständig Neuankommende der Präsenz der dichterischen Worte ist das, worin wir ganz zu Hause sind. In der Tat reden wir von In- und-Auswendigkönnen, und das ist es, was auch sonst das eigentliche Oberwinden von Fremdheit bereitet, das Zuhause-Sein, das Wohnen in etwas. Goethe gebrauchte einmal den Ausdrück >Wohnen< in solchem Zusammenhang. Heidegger hat darüber ausführlich gehandelt. So stellt sich das Thema >Hören - Sehen - Lesen« in der ihm eigentümlichen Verschränkung und in der Unlösbarkeit der verschiedenen Aspekte, in denen es sich darstellt, am Ende in einen größten Zusammenhang. Alle unsere Erfahrung ist Lesen, ist Auslesen dessen, worauf wir gerichtet sind, und Sich-Einlesen in das so artikulierte Ganze. Auch das Lesen, das mit Dichtung vertraut macht, läßt Dasein wohnlich werden.
24. Lesen ist wie Übersetzen (1989)
Ein berühmtes Wort von Benedetto Croce sagt: »Traduttore-traditore. « Jede Übersetzung ist wie ein Verrat. Wie sollte das der Mann nicht wissen, der so polyglott war, wie der bedeutende italienische Ästhetiker - oder wie jeder Hermeneutiker, der sein Leben lang auf die Nebentöne, die Ober- und Untertöne von Sprachen zu achten gelernt hat. Oder wiejemand, der auf ein langes Leben zurückblickt. Man wird mit den Jahren immer empfindlicher gegen die Viertels- und Halbannäherungen an wirklich lebendige Sprache, die als Übersetzungen begegnen. Man findet sie immer schwerer zu ertragen und obendrein immer schwerer zu verstehen. Jedenfalls ist es ein hermeneutisches Gebot, nicht so sehr über Grade der Übersetzbarkeit, wie über Grade der Unübersetzbarkeit nachzudenken. Es gilt, noch über das Rechenschaft zu geben, was verlorengeht, wo übersetzt wird, und vielleicht auch, was dabei gewonnen wird. Selbst bei dem hoffnungslos scheinenden Verlustgeschäft des Übersetzens gibt es nicht nur ein Mehr oder Weniger an Verlust, es gibt auch mitunter so etwas wie Gewinn, mindestens einen Interpretationsgewinn, einen Zuwachs an Deutlichkeit und mitunter auch an Eindeutigkeit, wo dies ein Gewinn ist. Sprachliches, das als Text begegnet, ist dem ursprünglichen Gesprächsleben, in dem Sprache ihr eigentliches Dasein hat, entfremdet. Schon das Sprechen selbst ist ja in Wahrheit nie von so vollendeter Genauigkeit, daß stets das rechte Wort gewählt und gefunden ist. Schon im Gespräch ist viel Darumherumreden, und das gleiche begegnet im Text in der Ausflucht zu den Leerformeln trivialer Rhetorik. Im lebendigen Gespräch wird das alles überspielt und unmerklich. Wenn aber solch kunstloses Sprechen als Text begegnet und dann gar noch wörtlich übersetzt wird, wirkt sich das verhängnisvoll aus. Da ist einmal der schreibende Autor, der, statt des treffenden Wortes sich zu bedienen, in leere Konvention abgeglitten war, und dann droht das gleiche noch einmal beim Übersetzer, der das Konventionelle und Leere für wirklich Gesagtes hält. So wird die Nachricht des Textes, die immer schon in der Vorlage ungenau ist, in der Übersetzung vollends ungenau, und zwar gerade, weil man genau sein will und jedes Wort wiedergeben möchte, auch die leeren Worte. Es ist für den Autor geradezu
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wie eine Erziehung zur Klarheit und Knappheit des Ausdrucks, wenn er etwa als Deutscher vom Englischen Gebrauch macht oder auch nur - als gebranntes Kind, das das Feuer scheut - für einen Übersetzer schreibt, und das heißt im Blick auf die Leser der kommenden Übersetzung. Da wird man die umständlichen Floskeln vermeiden und den langen Perioden aus dem Wege gehen, die wir so lieben und die uns durch die humanistische Bewunderung Ciceros anerzogen sind, und ebenso den seelenvollen Dunkelheiten, in die es uns lockt. Die Kunst des Schreibens zielt auch im theoretisch-wissenschaftlichen Bereich am Ende immer wie die der lebendigen Rede darauf, den anderen »zum Verstehen zu zwingen« (um mit Fichte zu reden). Nichts von dem, was die Mittel der lebendigen Rede gewähren, kommt dabei dem Schreibenden zu Hilfe. Wenn es sich nicht gerade um einen Privatbrief handelt, kennt ja der Schreibende seinen Leser nicht. Er kann nicht spüren, wo der andere nicht mitgeht, er kann also auch nicht nachhelfen, wo es an Überzeugungskraft fehlt. Was der Schreiber an Überzeugungskraft leisten soll, muß er durch die starren Zeichen der Schrift erreichen. Die Artikulation, die Modulation, die Rhythmisierung der Rede, laut und leise, Nachdruck und leichte Anspielung - und was das stärkste Mittel aller überzeugenden Rede ist, das Zögern, die Pause, das Suchen und das Finden des Wortes: es ist dann wie ein Glücksfund, an dem der Zuhörer mit fast freudigem Erschrecken teilbekommt - , all das soll durch nichts als niedergeschriebene Zeichen ersetzt werden. Dabei sind so viele von uns gar keine wirklichen Schriftsteller, keine Könner und Künstler des Schreibens, sondern solide Wissenschaftler, Forscher, die sich ins Unbekannte gewagt haben und von Unbekanntem einfach berichten wollen, wie es da aussieht und wie es da zugeht. Was wird da alles vom Übersetzer verlangt! Man möchte ein witziges Wort auf ihn anwenden, das Friedrich Schlegel einmal von dem verstehenden Leser, dem Interpreten, gesagt hat: »Um jemanden zu verstehen, muß man erstlich klüger sein als er, dann ebenso klug und dann auch ebenso dumm. Es ist nicht genug, daß man den eigentlichen Sinn eines konfusen Werkes besser versteht, als der Autor es verstanden hat. Man muß auch die Konfusion selbst bis auf die Prinzipien kennen, charakterisieren und konstruieren können. « Das letztere ist das allerschwerste. Man riskiert, noch dümmer zu sein als der andere, wenn man aus dem eigenen weiteren Umblick und der klareren Einsicht die Meinung des gelesenen Textes überzeugend zum Sprechen bringen will und gar nicht merkt, wie leicht man von sich aus etwas hineinliest. Lesen und Übersetzen haben einen Abstand zu überwinden. Das ist der grundlegende hermeneutische Tatbestand. Jeder Abstand, und nicht nur der Zeitenabstand, bedeutet für das Verstehen, wie ich gezeigt habe, viel, Verlust und Gewinn. Manchmal mag es als eine Erleichterung erschei-
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nen; wenn es sich überhaupt nicht um Überwindung eines Zeitenabstandes handelt, sondern nur um die Übertragung von einer Sprache in die andere im zeitgenössischen Schrifttum. Da setzt sich der Übersetzer in Wahrheit der gleichen Gefahr aus, in der sich jeder Dichter befindet, dem ständig der Rückfall in die sogenannte Umgangssprache droht oder in die matte Imitation dichterischer Vorbilder. Das gilt für den Übersetzer in beiden Fällen, aber auch für den Leser. Beiden strömen aus dem menschlichen Umgang, im Gespräch und im Gerede, beständig für den eigenen Gestaltungswillen des Übersetzers wie für den Verständniswillen des Lesers Angebote zu. Sie können inspirieren, sie mögen aber auch beirren. Mit all dem muß der Übersetzer fertigwerden. Übersetzte Texte zu lesen ist im allgemeinen enttäuschend. Es fehlt der Atem des Sprechenden, der das Verstehen anhaucht. Es fehlt der Sprache das Volumen des Originals. Gleichwohl sind Übersetzungen gerade deshalb manchmal für den Kenner des Originals echte Verständnishilfen. Übersetzungen von griechischen oder lateinischen Schriftstellern ins Französische oder von deutschen Schriftsteilem ins Englische sind oft von verblüffender und erhellender Eindeutigkeit. Das ist doch wohl ein Gewinn. Oder? Wo es um nichts als Erkenntnis geht, oder auch nur um nichts als die Erfassung des in einem Text Gemeinten, mag solche verstärkte Eindeutigkeit wohl ein Gewinn sein - so wie etwa die fotografische Aufnahme und Vergrößerung einer nur schwer sichtbaren Skulptur in einem düsteren Dom Gewinn bringt. Es wird auch bei manchem Buch der Forschung oder der Lehre gar nicht so sehr auf die Kunst des Schreibens ankommen und damit vielleicht auch nicht auf die Kunst des Übersetzens, sondern auf die bloße >Richtigkeit<. Fachleute verstehen einander (wenn sie wollen) sehr leicht, und gewiß verdrießt es sie eher, wenn man zu viele (oder gar schöne) Worte macht, so wie es einen bei mündlicher Unterhaltung verdrießt, wenn einer das weiter ausfuhren will, was man schon längst verstanden hat. Eine Anekdote mag die Sache verdeutlichen. Von dem jungen Karl Jaspers wird erzählt, daß er eines Tages, als er mit einem Kollegen über sein erstes Buch sprach und von diesem zu hören bekam, es sei schlecht geschrieben, geantwortet habe: »Sie hätten mir nichts Angenehmeres sagen können. « - So sehr folgte Jaspers damals dem Sachlichkeitspathos seines großen Vorbildes Max Weber. Der zum Denker von eigener Statur gereifte Karl Jaspers freilich schrieb dann selber einen höchst kunstvollen und so individuellen Stil, daß er kaum übersetzbar ist. Man kann es begreifen, daß in vielen Wissenschaften das Englische sich mehr und mehr durchsetzt, so daß die Forscher ihre Originalarbeiten gleich auf Englisch schreiben. Da sind sie freilich nicht nur vor ihren eigenen >schönen Worten< sicher, sondern auch vor dem Übersetzer. Längst schon ist das Englische in vielen Bereichen, z.B. in Schiffahrt, Luftfahrt und
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Nachrichtentechnik, in einem sicheren Jenseits von Gut und Böse der Übersetzerkunst standardisiert. Kein Zufall, dort kommt es aufrichtiges Verstehen wirklich an. Dort ist es lebensgefährlich, mißzuverstehen. - Aber es gibt die Literatur. Da ist es nicht gefährlich, vom Übersetzer mißverstanden zu werden. Aber da ist es nun wieder nicht genug, verstanden zu werden. Ein Dichter schreibt ja wie jeder Autor für die Menschen gleicher Zunge, und die gemeinsame Muttersprache trennt einen von der anderen Sprache. Literatur ist auch nicht nur die schöne Literatur, sondern umfaßt den ganzen Bereich, in dem das gedruckte Wort die lebendige Rede voll ersetzen soll. Es fragt sich wirklich (gegen den jungen Jaspers), ob es für einen Historiker oder Philologen und selbst für einen Philosophen (wo man streiten mag) ein wirklicher Vorzug ist, >schlecht< zu schreiben. Erst recht gilt das von Übersetzungen. In Wahrheit ist der >Stil< mehr als eine entbehrliche oder gar verdächtige Dekoration. Er ist ein Faktor, der die Lesbarkeit ausmacht - und damit freilich auch für die Übersetzung eine unendliche Aufgabe der Annäherung darstellt. Es ist das keine Sache handwerklicher Technik allein. Eine lesbare Übersetzung ist, wenn sie auch noch einigermaßen >zuverlässig< ist, schon viel, ja beinahe alles, was man sich als Autor oder als Übersetzer wünschen kann (oder als Leser). Ganz anders ist indessen die Sachlage, wenn es sich um die Aufgabe handelt, wirklich dichterische Texte zu übertragen. Das wird immer zwischen Übersetzen und Nachdichten stehen. Kunst überwindet alle Abstände, auch den Zeitenabstand. So befindet sich der Übersetzer von dichterischen Texten in einer ihm unbewußten zeitgenössischen Identifikation, und das verlangt von ihm eigene neue Gestaltung, die doch die der Vorlage wiedergeben soll. Ganz anders ist es für den bloßen Leser, dessen humanistische und historische Bildung (oder deren Mängel) ihm ein Bewußtsein des Zeitenabstandes wecken. Als Leser sind wir uns dessen mehr oder minder bewußt, wenn wir es mit Übersetzungen aus der klassischen griechischen und lateinischen Literatur oder aus der Geschichte der modernen Literaturen zu tun haben. Da sind die Texte schon durch Jahrhunderte Gegenstand solcher Bemühungen gewesen, die eine ganze Übersetzungsliteratur seit mindestens 200 Jahren hinter sich herziehen. An dieser Geschichte machen wir als Leser mit historischem Sinn die Erfahrung, wie sich die Gegenwartsliteratur des damaligen Übersetzers in der Gestaltung der Übersetzungen niedergeschlagen hat. Solches Vorliegen einer ganzen Übersetzungsgeschichte, die eine Vielfalt von Übersetzungen des gleichen Textes aufweist, ist für einen neuen Übersetzer in gewissem Sinne eine Erleichterung und doch auch eine Herausforderung, der man kaum genügen kann. Die alte Übersetzung hat ihre Patina. Wenn es sich wirklich um >Literatur< handelt, kann jedenfalls der Maßstab der Lesbarkeit nicht genügen. Die Grade der Unübersetzbarkeit richten sich drohend auf, wie ein vielschichtiges Riesengebirge, als dessen letzte Höhen-
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züge die lyrische Poesie aufragt, vom ewigen Schnee verklärt. Mit den verschiedenen literarischen Gattungen differenzieren sich gewiß auch die Ansprüche und die Maßstäbe fur das Gelingen von Übersetzung. Nehmen wir zum Beispiel zur Reproduktion bestimmte Übersetzungen, wie es das heute fur Theaterstücke gibt. Das heißt, daß hier die Bühne mit all dem zu Hilfe kommt, was sonst die >Literatur< für sich selber entbehren muß. Die Übersetzung selbst soll andererseits nicht nur lesbar, sondern auch sprechbar und bühnengerecht sein, ob in Prosa oder in Versen. Von Gundolfs mit Georges Beistand dichterisch vervollkommneter Übersetzung Shakespeares, die—nach der Schlegel-Tieckschen—fast schon eine neue Eindeutschung heißen muß, sagt man, daß sie nicht spielbar sei. Mancher mag sie heute nicht einmal lesbar finden. Die Farben sind >vergangen<. Wiederum ein eigenes Ding ist es mit dem Übersetzen von Erzählungen. Da ist kaum noch Einigkeit über die Zielvorstellung einer Übersetzung zu erwarten. Ist das Ziel Worttreue oder Sinn- und Formtreue? Das gilt fast ebenso schon von jeder >gehobenen< Prosa. Was ist da das Ziel? Wenn man an die große Übersetzungsliteratur denkt, die etwa den englischen Roman nach Deutschland brachte, oder an die Übersetzungen der großen russischen Romane in die anderen Weltsprachen, sieht man sogleich, daß der Verlust an Eigenem, an Volksnähe, an Kraft und Saft, der unvermeidlicherweise dabei eintritt, gegenüber der Präsenz dessen, was da erzählt wird, kaum ins Gewicht fällt. Wie die Worte gewählt sind, mit denen erzählt wird, ist eben nicht so wichtig. Da kommt es auf anderes an, auf Anschaulichkeit, auf Spannungsdichte, auf Seelentiefe, auf Weltzauber. Die Kunst des großen Erzählens ist ein eigenes Wunder, das selbst in Übersetzungen fast ungeschmälert bleibt. Kenner des Russischen versichern einem, daß die deutsche Dostojewskij-Übersetzung der Piper-Ausgabe (von Rahsin) dem stockenden, holprigen, achtlosen Stil Dostojewskijs durch ihre Glätte und Lesbarkeit wenig angemessen ist — und doch, wenn man Nötzels oder Eliasbergs >bessere< Übersetzung statt dessen nimmt oder die neuesten, im AufbauVerlag herausgekommenen - man merkt als Leser die Unterschiede überhaupt nicht. Die Schranke der Unübersetzbarkeit ist hier - von Sonderfällen wie dem von Gogol abgesehen - außerordentlich niedrig. Es ist daher kein Zufall, daß die Prägung des Begriffs der Weltliteratur, die von Übersetzungen unabtrennbar ist, mit der Ausbreitung der Romankunst (und der dramatischen Leseliteratur) gleichzeitig war. Es ist die Ausbreitung der Lesekultur, die die Literatur zur >Literatur< gemacht hat. So muß man heutefast sagen, >Literatur< verlangt nach Übersetzung - eben weil sie Sache der Lesekultur ist. Tatsächlich ist das Geheimnis des Lesens wie eine große Brücke zwischen den Sprachen. Auf ganz verschiedenen Niveaus scheint es die gleiche hermeneutische Leistung, zu übersetzen oder zu lesen. Schon das Lesen von dichterischen »Textern in der eigenen Muttersprache ist wie eine
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Übersetzung, fast wie eine Übersetzung in eine Fremdsprache. Denn sie ist Umsetzung von starren Zeichen in einen strömenden Fluß von Gedanken und Bildern. Das bloße Lesen originaler oder übersetzter Texte ist in Wahrheit schon eine Auslegung durch Ton und Tempo, Modulation und Artikulation — und das alles liegt in der »inneren Stimme< und ist da für das >innere Ohr< des Lesers. Lesen und Übersetzen sind bereits >Auslegung<. Beide schaffen ein neues Textganzes aus Sinn und Klang. Beide verlangen eine ans Schöpferische grenzende Umsetzung. Man kann das Paradox wagen: Jeder Leser ist wie ein halber Übersetzer. Ist es nicht wahrlich am Ende das größere Wunder, daß man den Abstand zwischen Lettern und lebendiger Rede überhaupt zu überwinden vermag, selbst wenn es sich >nur< um die gleiche Sprache handelt? Ist es so viel mehr, daß man den Abstand zwischen zwei verschiedenen Sprachen im Lesen von Übersetzungen überspielt? Es ist jedenfalls das Lesen, das die eine Entfernung wie die andere überwindet, die zwischen Text und Rede. Ist die mündliche Verständigung zwischen verschiedenen Sprachen trotz der Abstände nicht eher natürlich? Lesen ist wie ein Über-setzen von einem Ufer zu einem fernen anderen, von Schrift in Sprache. Ebenso ist das Tun des Übersetzers eines >Textes< Über-setzen von Küste zu Küste, von einem Festland zum anderen, von Text zu Text. Übersetzen ist beides. Die Lautgestalten verschiedener Zungen sind dabei unübersetzbar. Sie scheinen wie Gestirne durch Lichtjahre voneinander entfernt. Und doch versteht der Leser seinen >Text<. Aber wie ist es beim Gedicht, das man nicht nur lesen und verstehen soll, sondern das man hören muß? Hier sind die Übersetzer mit ihrem Latein am Ende. Oder besser: Was sie vorlegen, bleibt Latein. Gewiß, es gibt Sonderfälle. Wenn ein wirklicher Dichter die Verse eines anderen Dichters in seine eigene Sprache überträgt, mag das ein wirkliches Gedicht werden. Aber dann ist es fast mehr sein eigenes Gedicht als das des ursprünglichen Autors. Georges Baudelaire-Übersetzungen, sind sie überhaupt noch >Blumen des Bösen«? Schallen sie nicht eher wie Vorklänge einer neuen Jugend? Oder Rilkes Valery-Übersetzungen? Wo bleibt die Helle und die Härte der Provence in Rilkes wunderbar weichen Meditationen über den >Friedhof am Meer Wir täten wahrlich gut, so etwas weniger Nachdichtungen als Umdichtungen zu nennen. Eher schon könnte man die von Stefan George übertragenen Partien aus der >Divina Comedia< eine Nachdichtung nennen. Im ganzen wird ein wirklicher Dichter nur dann als Übersetzer tätig werden, wenn die von ihm gewählte Dichtung sich in sein eigenes dichterisches Werk einfügt. Nur dann wird er seinen eigenen Ton durchhalten können, auch wenn er übersetzt. Sein Ton ist für den wirklichen Dichter seine zweite Natur. Die Folge ist daher, wenn ein Übersetzer, der kein wirklicher Dichter ist, bei seiner eigenen Sprache poetisch-äquivalente Anleihen macht und
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sie zu einer >poetischen< Sprache kunstvoll zusammenfügt, es immer wie Lateinisch klingt, das heißt künstlich und fremd. Da mögen noch so viele poetische Anklänge und sprachliche Schönheiten aus der Literatur der Zielsprache dazwischentönen, es fehlt der Ton, der τόνος, die gespannte Saite, die unter den Worten und Tönen beben muß, wenn Musik sein soll. Wie sollte es auch anders sein. Äquivalente müßten nicht nur für die Wortbedeutungen gefunden werden, sondern ebenso auch für die Klänge. Aber nein, weder Worte (noch so entsprechende) noch auch Klänge (noch so ansprechende) könnten das leisten. Verse sind Sätze. Aber nein, nicht einmal das ist es. Es sind Verse, und das Ganze ist ein Gedicht, ein Gesang, eine Melodie — es muß nicht einmal eine Melodie sein, die sich wiederholt. Stets wird es ein Widerklang sein, ein Sinnklang aus einem und vielem, eine verborgene Harmonie, die stärker ist als eine offene, wie Heraklit gewußt hat. So sollten wir alle Übersetzer von Dichtung bewundern, die uns den Abstand zum Original nicht ganz verbergen und ihn doch zugleich überbrücken. Sie sind fast wie Interpreten. Aber sie sind mehr. Interpreten reden dazwischen. Des Auslegers größter Ehrgeiz kann es nur sein, daß auch unsere Interpretation eine bloße Zwischenrede bleibt und ins Wiederlesen der originalen Texte wie selbstverständlich eingeht und darin verschwindet. Dagegen bleibt des Übersetzers mitdichtende Spur für unser aller Lesen und Verstehen ein festgegründeter Bogen, eine Brücke, die von beiden Seiten begehbar ist. Die Übersetzung ist gleichsam eine Brücke zwischen zwei Sprachen wie zwischen zwei Ufern in einem einzigen Land. Über solche Brücken geht ein beständig fließender Verkehr. Das macht des Übersetzers Auszeichnung aus. Man braucht auf keinen Fährmann zu warten, der einen übersetzt. Mancher wird freilich Hilfe brauchen, sich drüben zurechtzufinden - und einsamer Gänger bleiben. Vielleicht trifft er hin und wieder einen, der ihm beim Lesen und Verstehen hilft. Jedes Lesen eines Gedichts ist jedesmal ein Übersetzen. »Jedes Gedicht ist eine Lektüre der Wirklichkeit, diese Lektüre ist eine Übersetzung, die das Gedicht des Dichters in das Gedicht des Lesers verwandelt« (Octavio Paz).
Der >eminente< Text und seine Wahrheit
25. Der >eminente< Text und seine Wahrheit (1986)
Das Thema, das so formuliert ist, scheint ein Paradox. Dichtung begegnet als literarische Überlieferung oder geht mindestens in eine solche ein. Sie ist in einem wesentlichen und anspruchsvollen Sinne Text, nämlich ein solcher Text, der nicht als Fixierung einer gedachten oder gesprochenen Rede auf diese zurückweist, sondern, von seiner Herkunft abgelöst, eine eigene Geltung beansprucht, die ihrerseits für den Leser und Interpreten eine letzte Instanz ist. Dann aber scheint die Wahrheitsfrage fehlzugehen. Da gibt es doch gerade das nicht, was sonst den Wahrheitsanspruch von Aussagen rechtfertigen kann, jenen Bezug auf die > Wirklichkeit, den man >Referenz< zu nennen gewohnt ist. Ein Text ist dichterisch, wenn er einen solchen Wahrheitsbezug überhaupt nicht zuläßt oder ihn höchstens in einem sekundären Sinne gelten läßt. So ist es bei allen Texten, die wir zur >Literatur< zählen. Das sprachliche Kunstwerk besitzt eine eigene Autonomie, die eine ausdrückliche Freistellung von der Wahrheitsfrage bedeutet, die sonst Aussagen, ob gesprochen oder geschrieben, als wahr oder falsch qualifiziert. Was soll es also heißen, daß nach der Wahrheit solcher Texte gefragt wird? Es kann sich offenbar nicht darum handeln, daß in solchen Texten Aussagen vorkommen und Erkenntnisse vermittelt werden, die wir von anderswoher als wahr erkennen müssen. Der Text als solcher hängt von solcher Anerkennung nicht ab. Auch wenn ein Text nichts als Fixierung von Erkenntnissen ist und nichts darüber hinaus sein will, kommt ihm ja der Wahrheitsbezug nicht als einem Text zu, sondern mit Rücksicht auf die Erkenntnisse, die er vermittelt. Wer nach der Wahrheit von Texten fragt, meint ihren Inhalt, der etwas Wahres oder etwas Falsches enthalten mag. Aber welcher Wahrheitsbezug soll literarischen Texten zukommen, die man eben deshalb zur >schönen Literatun (>Belletristik<) zählt, weil sie jedem solchen Bezug enthoben sind? Nicht umsonst gebrauchen wir das Wort >schön< in solchem Falle. Denn >schön< nennen wir etwas, das durch sein eigenes Sein gerechtfertigt ist und keine Instanz außerhalb seiner selbst kennt, vor der es sich rechtfertigen müßte. Was soll >Wahrheit< da heißen? Das Thema wird auch nicht dadurch verständlicher, daß man die Frage
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von dem Text auf seinen Autor verschiebt und etwa daran denkt, daß der Dichter selber für sich in Anspruch nimmt, nicht nur zu gefallen, sondern auch zu belehren. Daß man Wahrheiten sagen kann, ohne daß der Text selber überhaupt eine unmittelbare Wirklichkeitsbeziehung besitzt, ist zwar geheimnisvoll genug, und schon Hesiod, der erste Dichter unserer westlichen Tradition, der ein ausdrückliches Bewußtsein von seinem dichterischen Auftrag zeigt, hat etwas davon empfunden. Er schildert sich als von den Musen legitimiert, die ihm verkünden, sie wüßten viel Wahres und viel Falsches zu sagen. Was wahr und was falsch ist, scheint hier heillos ineinander verwickelt und untrennbar. Und so ist es trotz allen Sprüchen der Poetik, Dichtung diene nicht nur zum Erfreuen, sondern auch zum Belehren, durch die ganze Geschichte unserer abendländischen Zivilisation geblieben. Erst als die Philosophie und Metaphysik gegenüber dem Erkenntnisanspruch der Erfahrungswissenschaften in die Krise geriet, entdeckte sie ihre Nachbarschaft mit der Dichtung wieder, die sie seit Plato verleugnet hatte. Das war im Zeitalter der Romantik, als Schelling in der Kunst das Organon der Philosophie sah und Hegel sie als eine Gestalt des absoluten Geistes anerkannte, die freilich nur in der Gestalt der Anschauung und nicht des Begriffs das Wahre darstelle. Seitdem ist es sinnvoll, den autonomen Wahrheitsanspruch von Dichtung anzuerkennen, aber um den Preis eines ungeklärten Verhältnisses zur Wahrheit wissenschaftlicher Erkenntnis. Das hat sie mit der Philosophie gemeinsam, wenn auch in anderer Weise. Aber das ist ein anderes Thema. Jedenfalls, versteht man unter Wahrheit, der Tradition gemäß, >adaequatio intellectus ad rem<, so bedeutet das, daß die Frage nach der Wahrheit ohne Antwort bleiben muß, solange Dichtung als Dichtung verstanden und in ihrem eigenen Anspruch anerkannt wird. Nun schließt unsere Frage gerade ein, daß dichterische Texte, auch wenn sie alle viel Wahres und viel Falsches sagen, nicht nur einen solchen vagen spekulativen Wahrheitsanspruch erheben, sondern als Texte selber wahr sein können oder falsch. Was soll >falsch< heißen, wo keine Übereinstimmung womit auch immer statthaben kann? Was ist ein dichterischer Text? Man mag >Text< definieren als eine Zeichenfolge, die den einheitlichen Sinn von etwas Gesprochenem fixiert - auch wenn es nur das vor sich Hingesprochene ist, das ein Schreibender hinschreibt. Das Geflecht hin- und herlaufender Klangfäden und Sinnbezüge, aus denen sich der Sinn einer Rede aufbaut, ist in der Fixierung sozusagen festgemacht. Dieser Sinn kann von jedem verstanden werden, der die betreffende Schrift und Sprache beherrscht - und nicht nur von dem, an den die Rede sich richtet oder der dabei mit zuhört. Darin liegt eine gewaltige Idealisierung auf >Sinn< hin. Wir nennen die Sinnerfassung von Schrift das 'Lesen<. Lesen ist nun gewiß nicht eine Reproduktion ursprünglich gesprochener Rede in der ganzen Konkretion und Kontingenz jenes vergangenen
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Die Kunst des Wortes
Der >eminente< Text und seine Wahrheit
Vorgangs. Kein Leser sucht die Stimme, die Klangfarbe, die einmalige Modulation eines ursprünglich Gesprochenen nachzubilden, wenn er den Sinn von Geschriebenem vollziehen will. Wenn er verstanden hat, ist der Text durchsichtig geworden — das heißt: auf eine idealisierte Weise wieder zum Sprechen gekommen, so daß er die Sache sagt und nicht etwa den Schreiber ausdruckt. Der Leser meint gar nicht den Sprecher, sondern das Geschriebene. Aber er ist selbst gemeint. Schreiben ist auf den Leser bezogen, an den man denkt. Ein geschriebener Text soll nicht einfach wie ein Tonband Gesprochenes als solches festhalten, das zwar als Gesprochenes verständlich sein möchte, aber in bloßer Fixierung von Rede oft an die Grenze der Unverständlichkeit gerät. Ein wirklicher >Text< ist dagegen fur das Lesen geschrieben. Er will lesbar sein, und Lesen ist immer mehr als Entziffern von Schriftzeichen. Der sprachliche Ausdruck des Gemeinten im Text muß also so gestaltet werden, daß er ohne hinzukommende Tongebung, Gestik usw. sich selbst artikuliert und das Gemeinte präsent macht1. Daß das erneute Sprechen eines solchen Textes, z. B. beim Vorlesen, neue Probleme der >Auffuhrungspraxis< einschließt, ändert an der >Idealität< des Textes nichts. Schreiben und das ihm zugeordnete Lesen sind somit das Resultat einer idealisierenden Abstraktion. Das ist an der Buchstabenschrift besonders eindrucksvoll, denn sie ist eine geniale Abstraktion, in der kein bildhafter Wirklichkeitsbezug mit dem Gemeinten vermittelt. Kommunikation erwirbt damit eine neue Reichweite. Der niedergeschriebene Text ist über Räume und Zeiten hinweg allen Schrift- und Sprachkundigen voll zugänglich, und zwar wie ein authentisches Dokument und nicht nur in Annäherungen, wie sie ein Abbild darstellen würde.
jede begrenzte Adresse und Gelegenheit hinaus. Er ist als ein Kunstwerk der Sprache >e-minent<. Wodurch? Durch seine Bedeutung? Eine Gebetsformel, eine Grußformel, eine Rechtsverordnung, eine Zeitungsnachricht kann Entscheidendes bedeuten und in aller Munde sein. Trotzdem gehört sie nicht zur Literatur und ist kein >eminenter< Text. Umgekehrt wird man nicht zögern, Oral poetry, die noch aller schriftlichen Oberlieferung vorausliegt und in entlegenen Kulturregionen tief bis in literarische Zeitalter hinein sich erhalten kann, gleichwohl zur Literatur zu rechnen - gleichsam als ob das Gedächtnis des Sängers oder Rhapsoden bereits das erste Buch darstellte, in das die mündliche Überlieferung eingezeichnet war. Oral poetry ist immer schon auf dem Wege zum Text, so wie im rhapsodischen Vortrag weitergegebene Dichtung immer schon auf dem Wege zur >Literatur< ist. Auch das Lied, das ja nicht nur ein einziges Mal gesungen sein will, scheint schon auf solchem Wege, und zwar zu beidem, zur Dichtung und zur Musik. Wenn sie komponiert sind, werden solche >Texte< als bloße Liedertexte kaum zur Literatur gerechnet, aber nur deshalb nicht, weil sie in Wahrheit mehr sind und zum klassischen Bestand der Musik aufrücken, von der sie nicht getrennt sein wollen. Aber wodurch wird etwas Literatur und wird zu einem Text der Literatur? Um diese Frage zu beantworten, sollte man sich zunächst klarmachen, daß der Begriff >Text< ein ursprünglicher hermeneutischer Begriff ist. Er formuliert die autoritative Gegebenheit, an der sich Verstehen und Auslegen zu messen hat — gleichsam als der hermeneutische Identitätspunkt, der alles Variable begrenzt. Nur wo das Verständnis eines Geschriebenen oder Gesagten strittig ist, fragen wir nach dem genauen, dem >richtigen< Text oder Wortlaut. In diesem hermeneutischen Zusammenhang konstituiert sich etwas als Text bzw. wird von dem Philologen als Text konstituiert. Der Text des literarischen Gebildes ist aber noch in einem höheren Sinne Text, und dem entspricht, daß die Auslegung dichterischer Gebilde im eminenten Sinne >Auslegung<, Interpretation, ist. Meine These ist, Auslegung ist wesenhaft und untrennbar mit dem dichterischen Text selbst verbunden, gerade weil er nie durch Umsetzung in Begriff auszuschöpfen ist. Niemand kann ein Gedicht lesen, ohne in sein Verständnis immer mehr einzudringen, und das schließt Auslegen ein. Lesen ist Auslegen, und Auslegen ist nichts als der artikulierte Vollzug des Lesens. Hier ist >Text< also nicht nur die feste Gegebenheit, auf die für den Leser und Ausleger am Ende zurückzukommen ist — der eminente Text ist ein in sich selbst gefestigtes, autonomes Gebilde, das immer und immer wieder neu gelesen werden will, auch wenn es schon immer verstanden ist. Wie das Wort >Text< eigentlich das Verwobensein von Fäden zu einem Gewebe meint, das sich selbst zusammenhält und den einzelnen Faden gar nicht mehr hervortreten läßt, so
Diese Auszeichnung der Schriftlichkeit beschränkt den Text auf die reine Übermittlung von Sinn. Durch sein bloßes Niedergeschriebensein und Gelesenwerden gehört er noch keineswegs zur Literatur. Literatur meint »schöne Literatun. Nicht alles, was der Unterhaltung des Lesepublikums dient, gehört dazu, von wissenschaftlichen Texten und dem praktischen Gebrauchstext aller Bereiche gar nicht zu reden. Es ist eine Auszeichnung, zur Literatur - zum >Schrifttum< - zu zählen. Das Wort >Schrifttum< ist besonders vielsagend. Was zum Schrifttum gehört, ist nicht dadurch definiert, daß es Schrift ist, sondern dadurch, daß es, obwohl es >nur< Schrift ist, einem eigenen Bestände zugehört, der alles, was zählt, umfaßt: wie ein Bistum, Fürstentum, Altertum, Christentum, Heldentum, Priestertum, Menschentum — kurz: Reichtum, der alles in sich schließt, was dazugehört. Das schließt offenbar ein, daß ein solcher Text unabhängig von seinem Inhalt Geltung beansprucht und nicht nur ein zeitgenössisches Informationsbedürfhis befriedigt. Mindestens dem Anspruch nach reicht er über 1
Siehe dazu im vorhergehenden >Stimme und Sprache^ S. 263 ff.
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Die Kunst des Wortes
Der >eminente< Text und seine Wahrheit
ist auch der dichterische Text in dem Sinne >Text<, daß seine Elemente zu einer einheitlichen Wort- und Klangfolge zusammengegangen sind. Nicht nur die Einheit eines Redesinnes konstituiert diese Einheit, sondern ebenso und im selben Atem die eines Klanggebildes. Ein dichterischer Text ist nicht wie ein Satz im Fortgang der Rede, sondern wie ein Ganzes, das sich aus dem Strom dahinfließender Reden heraushebt. Noch das schlichteste realistische Sprachgebahren, das in einem literarischen Gebilde begegnet, ist in diesem Sinne >gehobene< Sprache. Kein Ernüchterungspathos einer progressiven Moderne kann diese Gehobenheit von sich abtun wollen. Sie ist nicht die Folge einer Stilwahl oder Stilisierung, sondern unmittelbarer Ausdruck der Strukturiertheit des Gebildes, das sich dem Leser - wie dem Autor - zwingend auferlegt. Man kann mit Paul Valéry den Kalkül dieser Strukturierung wie ein mathematisches Spiel betreiben—das Gebilde, das am Ende steht, und die Tatsache, daß ein Gebilde am Ende steht, etwas, das steht und festen Bestand hat, bleibt auch für den rationalsten Rechner, der sich seines nüchternen Machens bewußt ist, am Ende einfach hinzunehmen. Das ist kein geheimnisvoller Vorgang, den man etwa nur durch eine Art Genietheorie beschreiben könnte, sondern entspringt auf unmittelbare Weise unserer Zeitlichkeit. Wie alles Lesen ist auch alles Schreiben eine diskontinuierliche Zeitfigur. Ihre letzte Endgestalt ist, daß >es< dasteht, abgelöst von dem Vorgang seiner Herstellung und dadurch erst eigentlich >da<, als das Werk, das es ist. So definiert sich das Fertigsein eines literarischen Werkes am Ende dadurch, daß dem Dichter die Wiederaufnahme der Arbeit an ihm nicht mehr möglich war. Das ist die Antwort, die Paul Valéry sich geben mußte und die Goethe mit seinen vollendeten Fragmenten ebenfalls gibt (zum Beispiel >Prometheus<, >Pandorens Wiederkunft<, >Der Zauberflöte zweiter Teil«, die ich in einer eigenen Studie behandelt habe2). Die moderne Informationsästhetik, die sich rühmt, Computergedichte herstellen zu können, bestätigt nolens volens das gleiche. Sie vergißt, daß da einer sein muß, der aus der maschinellen Serienproduktion der Versmassen das Gedichtähnliche heraussieht und herausliest. Jeder Leser eines gelungenen Gedichtes erfahrt in Wahrheit die gleiche Endgültigkeit—nicht zuletzt durch die Erfahrung, daß nur das innere Ohr und keine noch so angemessene stimmliche Wiedergabe eines Gedichts die reine Idealität des Gebildes hörbar zu machen vermag. Es ist, als ob die Kontingenz des Stofflichen, die der rezitierenden Stimme, ihrer Intonation und Modulation, ihrer Tempowahl, Phrasierung und Setzung von Akzenten anhaftet, einen unerträglichen Rest von Willkür und Beliebigkeit fühlbar macht, den das innere Ohr, das ganz nur Ohr ist, verwirft. Nur im inneren Ohr sind Sinnbezug und Klanggestalt ganz eins.
Wenn das Gebilde im Lesen von uns selber aufgebaut wird, steht es nun gewiß nicht in dem Sinne am Ende da, daß wir es >uno intuitu< umfaßten. Wir bleiben in die Gesetze der Zeitlichkeit gebunden. Das gilt selbst noch für die sogenannten statuarischen Künste, deren Gebilde selber keine Zeitgestalt besitzen, deren Erfassung aber genauso dem Gesetz unserer Zeitlichkeit unterliegt. Auch Werke der bildenden Kunst, ja sogar solche der Baukunst, müssen >gelesen< werden, um >da< zu sein3. Die reproduzierenden Künste, Theater und Musik vor allem, haben eigens die Aufgabe, die Vorzeichnung ihrer Texte durch eine eigene Nachschöpfung im kontingenten Sinnenstoff zur Darstellung zu bringen. Das ist ihre Auszeichnung und bedeutet, daß sie als Interpretation, wie man das ja tatsächlich auch so nennt, den Charakter einer Eigenschöpfung besitzen. Aber auch diese eigene Schöpfung bleibt ihrerseits noch dem Urteil des inneren Ohres unterstellt - und das heißt am Ende: der unzerstörbaren (und so leicht gestörten) Eigenfigur des Gebildes. Unleugbar besteht hier ein Antagonismus zwischen den beiden Arten von Schöpfung, der literarischen und der auf der Bühne. Beide stehen unter eigenen Gesetzen. Aber wo sie zusammenwirken, wie das im sogenannten literarischen Theater der Fall ist, bleibt die zweite Schöpfung der ersten unterstellt. Das ist eine hermeneutische Wahrheit, die man gewiß verletzen kann; und der Mann des Theaters von heute neigt dazu, die Gesetze des Theaters höher zu stellen als den dichterischen Text. Aber sofern es sich um literarisches Theater handelt, läßt sich der beschriebene hermeneutische Maßstab nicht ableugnen. Die volle Entsprechung von Sinn und Klang, die den Text zum eminenten Text macht, findet in den verschiedenen Literaturgattungen sehr verschiedenartige Erfüllung. Das spiegelt sich in der Skala der Unübersetzbarkeit dichterischer Texte in andere Sprachen. Das lyrische Gedicht - und innerhalb desselben die Lyrik des Symbolismus und ihres Ideals der poésie pure steht da gewiß obenan, und der Roman nimmt ebenso eindeutig den untersten Platz in dieser Skala ein, wobei ich von der dramatischen Poesie ausdrücklich absehe, da ihr die Theaterkunst sogar ohne Übersetzung in gewissen Grenzen die Überschreitung der Sprachgrenzen ermöglicht. Aber >Literätun dürfte ganz allgemein dadurch definiert sein, daß Übersetzung hier immer einen enormen Verlust bedeutet, weil das Eigentliche unübertragbar bleibt, nämlich die Einheit von Sinn und Klang der Worte. Es kann hier nicht ausgeführt werden, welche stabilisierenden Mittel die Dichtkunst besitzt, um das schwebende Gleichgewicht der sinnlichen und geistigen Bauelemente eines dichterischen Gebildes herbeizuführen. Hier müßte der Beitrag, den der Strukturalismus für die Literaturkritik geleistet hat, noch um eine volle Dimension erweitert werden. Erst das Zusammengehen der
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Vgl. meinen Aufsatz »Vom geistigen Lauf des Menschen<, jetzt in Ges. Werke Bd. 9, S. 80-111.
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Vgl. dazu in diesem Band >Über das Lesen von Bauten und Bildern< (Nr. 30).
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Die Kunst des Wortes
Der >eminente< Text und seine Wahrheit
Sinnbezüge und der Klangbezüge verleiht der Sprache der Dichtung das, was oben ihre >Gehobenheit< genannt •wurde. Die Auszeichnung des >eminenten< Textes soll uns lediglich der Ausarbeitung einer bestimmten Frage dienen: Was heißt >Wahrheit< dort, wo ein sprachliches Gebilde alle Referenz zu einer maßgeblichen Wirklichkeit abgeschnitten hat und sich in sich selbst erfüllt? Es sollte nicht eigens gesagt werden müssen, daß die Bauelemente eines dichterischen Gebildes selbstverständlich immer auch Weltbezug besitzen und insofern wahr oder falsch sein mögen, wenn sie zum Inhalt einer eigenen Aussage gemacht werden der Bau selber ist es dadurch keineswegs. Ein dichterischer Text sagt Wahres und Falsches, ohne dazwischen zu unterscheiden. Er ist auf seine Weise >wahn. Das wird vollends an dem Begriff der dichterischen Freiheit« deutlich. Offenbar muß dieselbe verteidigt werden, wo ein deutlicher Bezug auf geschichtliche Vorgänge oder Personen im Spiele ist. Darin drückt sich aus, was allgemein gilt: der Dichter ist >frei<. Worin ein Text seinen eigenen Rang erhält, wird von dem Maßstab literarischer Qualität bestimmt, der ihm als Kunstwerk zukommt. Ihm entspricht keine unmittelbare >Referenz<. Vielmehr wird ein selbständiges Fremdinteresse an den dichterischen Inhalten und ihrer außerdichterischen Bedeutung vom Werk der Dichtung mit Entschiedenheit desavouiert. Müssen wir doch das Phänomen des Kitsches geradezu als den zerstörerischen Einbruch solchen Fremdinteresses in die Autonomie des Künstlerischen beschreiben und als unwahrhaftig abtun. Auch moderne Buchsitten, die eine Dichtung dadurch aufschließen wollen, daß sie einen Bildreport der in der Dichtung vorkommenden örtlichkeiten anbieten, verunklären die Seinsdimensionen, während der Buchillustrator wie der Theatermann - gut ist, wenn er sich dem Text unterordnet. Dabei besteht ein klarer Unterschied zwischen dichterischen Gebilden minderer Qualität und solchen, die wir als >Kitsch< beurteilen. Nur die letzteren würden wir unwahrhaftig nennen. Offenbar rührt das daher, daß hier von außen erborgte Formen dichterischen Sagens in den Dienst von Inhalten gestellt werden, die sich nicht unter dem Gesichtspunkt der Kunst legitimieren, sondern aus andersartigen Interessen. Man denke an religiösen oder an patriotischen Kitsch. Aus all dem geht doch wohl hervor, daß das dichterische Wort noch jenseits der Frage seiner Qualität oder künstlerischen Vollendung so etwas wie Wahrhaftigkeit kennt - und muß nicht, wo Wahrhaftigkeit (oder ihr Fehlen) erfahren wird, die Frage der Wahrheit im Spiele sein4? Wenn wir schon gewiß alle geneigt sind, gewisse literarische Schöpfungen, selbst
wenn sie eine gewisse Qualität besitzen, als unwahrhaftig abzulehnen, etwa dann, wenn begabte Schriftsteller ideologischem Druck nachgeben und offiziell erwünschte Fabrikate produzieren, so wird diese Frage vollends kompliziert, wenn wir als gebildete Leser nicht von der Gegenwart und ihren Bedingungen aus urteilen, sondern einen Text im Lichte der >klassischerw Schöpfungen der Dichtkunst sehen und beurteilen. Auch die klassischen Werke gehören doch wie der uns umgebende Tag zu unserer eigenen Gegenwart. Damit ist aber gesagt: Seit uns das allen gemeinsame Erbe der antik-christlichen Tradition nicht mehr trägt, der die Kunst mit Selbstverständlichkeit eingefügt war, steht die schöpferische Imagination der Künstler so gut wie aller anderen unter einem wachsenden Druck, der von der Simultaneität der Kunst und der Universalität unseres Kunstverständnisses ausgeht. Sie sind einer neuartigen Verführung ausgesetzt: der Verführung der Nachahmung, die wir mit abwertendem Beiklang >Imitation< nennen. Gewiß war Nachahmung und getreue Nachfolge, etwa in Gestalt der Sukzession von Meistern und Schülern und Enkelschülern, das sich beständig bewegende Lebensgesetz aller Kultur. Aber wo es mit Selbstverständlichkeit galt, gab es gerade auch zur eigensten Selbstaussage frei. Dagegen ist Imitation (wie ihr Gegenstück: gesuchte Originalität) wirklich, wie Plato die Kunst charakterisierte, »dreifach entfernt von der Wahrheit«. Wir kennen den Imitationszwang am frappantesten angesichts der Aufgaben literarischer Übersetzungen5: Verszwang, Reimzwang, Sachzwang nötigen den Übersetzer gewollt oder ungewollt zur bloßen Imitation dichterischer Vorbilder der eigenen Spache, damit er den fremdsprachigen Text zu einer Art dichterischer Gegenwart bringt.
4 Siehe auch in diesem Band >Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheifc (Nr. 7).
Darüber hinaus wissen wir sozusagen im voraus, daß das, was uns ergreift, wenn es uns im Abstand geschichtlicher Ferne begegnet, als heutige Schöpfung unwahrhaftig wirken würde. Ganze Gattungen einer bewährten Tradition der Dichtkunst sind heute wie abgestorben und lassen keine Auferstehung erwarten. So hat Lukics mit Recht die Theorie des Romans auf das Absterben der mythischen Kontinuität des Versepos gegründet. Dante oder Milton oder Klopstock konnten die durch Homer und Vergil gestaltete Gattung des Versepos noch aufnehmen. Das Zeitalter vermochte das antike Erbe der griechischen und römischen Tragödie und Komödie noch ins Eigene umzusetzen und am Ende in die Gestalt des bürgerlichen Trauerspiels hinüberzuführen. Müssen wir es nicht hinnehmen, daß das heute nicht mehr geht oder nur noch in parodistischer Form gelingt - weil eben nicht zu allen Zeiten alles möglich ist? Und liegt nicht gerade darin die Wahrheit der Kunst, daß sie solche Beschränkung zeigt? Daß die Literatur unseres Jahrhunderts von Autoren wie Proust, Joyce, Beckett geprägt wur5
Siehe dazu im vorhergehenden >Lesen ist wie Übersetzern (Nr. 24).
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Die Kunst des Wortes
Der >eminente< Text und seine Wahrheit
de, die alle Erzählbegriffe von Handlung, Charakter, Zeitfluß auflösten, daß der Held eines großen unvollendeten und wohl unvoUendbaren Romans der >Mann ohne Eigenschaften« sein konnte oder daß ein hermetischer Dichter wie Paul Celan uns wie vor ein unlösbares Rätsel vor die Frage stellt > Wer bin ich und wer bist du ?< - in all dem prägt sich eine Norm von Wahrhaftigkeit und Wahrheit aus, die dem Wesen der Dichtung eigens zukommt. Was sie auszeichnet, ist, daß in ihr der Abstand des Meinens hinfällig wird und daß eben deshalb, was als Sprache zur Darstellung wird, mehr aussagt als nur die Gekonntheit des Sagens. Es ist eine rätselhafte Form der Nichtunterscheidung des Gesagten vom Wie des Gesagtseins, die der Kunst ihre spezifische Einheit und Leichtigkeit gibt und eben damit eine eigene Weise des Wahrseins. Die Sprache selbst verweigert sich und leistet aller Willkür, allem Belieben und allem Sich-selbst-Verführenwollen Widerstand. So bleibt auch in dürftiger Zeit die Botschaft der Dichtung Botschaft, wenn auch in der negativen Form der Verweigerung. Damit erfüllt sich selbst gegenüber dem zeitgenössischen Schaffen, das nicht mehr durch eine verbindliche Tradition geleitet wird, der Sinn von >wahr< und >falsch<, der dem dichterischen Werk, also dem Text als solchem, zukommt. Der Text ist in dem so bezeichneten Sinne eine wahre Aussage (oder auch eine falsche). Das heißt nicht, Dichtung unter dem Gesichtspunkt des Soziologen anzusehen, auch wenn es gewiß wahr ist, daß der Zustand einer Gesellschaft sich auch in ihren dichterischen Gestaltungen spiegelt. Das geht den Soziologen an. Aber Soziologie meint nicht die Kunst und was sie ab Kunst, und nicht die Dichtung und was sie als Dichtung bekundet, sondern was sich an ihr als schon Bekanntes und Gemeintes verifizieren läßt. Es ist nicht zu leugnen, daß für soziologische Interessen der Kitsch weit einträglicher ist als das durch die Kunst Dokumentierte. Das tritt auch an dem sozialistischen Realismus zutage, der von dem Fremdzwang eines soziologisch begründeten Produktionsprozesses in die Nähe des Kitsches gefühlt wird. Das Dokumentarische übertönt das Dichterische. Was wir dagegen als wahre Aussage in gegenwärtiger Kunst anerkennen, geht in merkwürdiger Weise mit dem zusammen, was uns die Kunst anderer Zeiten und anderer Völker anbietet, deren Aussagewert, Ausdruckswert, Qualität und Stil uns einfach überzeugt - gewiß in wechselnden Wertungen und Bevorzugungen, aber doch unter der bleibenden Anerkennung, daß in solchen >klassisch< genannten Produktionen alles >stimmt< und daß sie uns alle erreichen, trotz ihrer Gebundenheit an eigene Bedingungen fernen Ursprungs und fremder Herkunft. Was sich heute in der Stilunsicherheit und der experimentellen Willkür moderner Kunst an die großen Wahrsprüche der Weltliteratur anreiht, ist daher so wahr wie sie, wenngleich es - nein, weil es - voller Verweigerung ist. Welche Aussage >Kunst< ist, kann mehr beanspruchen, als daß heraus-
kommt, was ist. Auch in der Verweigerung ist Gewährung. »Kein ding sei wo das wort gebricht« ist der letzte Vers eines schönen Gedichts von Stefan George, in welchem ein großer Denker unserer Zeit, Martin Heidegger, seinem Denken Verwandtes erkannt hat - und gerade in der Verweigerung.
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Über die Festlichkeit des Theaters
26. Ober die Festlichkeit des Theaters1 (1954)
Seit 175 Jahren hat Mannheim sein stehendes Theater. Das stolze Gefühl einer Selbstvergewisserung, das mit solchem Gedenken gegeben ist, kommt der bürgerlichen Gesellschaft, der Schöpferin und Trägerin des ziehenden Theaters<, zu. Noch immer ist es der Bürgersinn, der sich sein Theater verdient. Und dennoch sind 175 Jahre, gemessen an den Maßen, in denen sich geschichtlicher Wandel vollzieht, kein langer Zeitraum und keine Bürgschaft für Dauer. Der Strukturwandel der gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb dieses Zeitraums ist ein so eingreifender und tiefer, daß auch die Funktion des Theaters innerhalb der Gesellschaft diesen Wandel verspüren muß und verspürt. In diesen letzten 175 Jahren hat sich die Welt in ihrem Aussehen stärker verändert als in dem ganzen übrigen Zeitraum der uns durch schriftliche Überlieferung bezeugten menschlichen Geschichte. Man denke allein an das Anwachsen der Bevölkerung unseres Kontinents und unserer Städte. Die Sprache der Zahlen ist beredt. Die moderne Gesellschaft ist durch die industrielle Technik geprägt - was niemand stärker empfinden kann, als wer von der poetisch-akademischen Insel Heidelbergs nach Mannheim herüberkommt und den pochenden Puls des modernen Wirtschaftslebens in dieser fleißigen Industriestadt verspürt. Und vielleicht ist dies doch das wichtigste Kennzeichen der eingetretenen Wandlung, daß die Fernen verschwinden. Alles reist. Die moderne Gesellschaft ist eine Verkehrsdemokratie. Waren es ehedem die Schauspielgesellschaften, die, an die festen Sitze höfischer oder bürgerlicher Kultur ziehend, die fahrenden Leute< hießen, so sind heute wir alle, wir Zuschauer und Freunde des Theaters, die fahrenden Leute geworden, die sich unter dem festen und festlichen Dach des Theaters vereinigen. Wie sollte da das Theater das gleiche bleiben und seiner Zukunft fraglos gewiß sein können? In der Tat hat die moderne Technik durch ihre Schöpfungen den innersten Lebensbereich des Theaters angegriffen, und es ist alles andere als selbstverständlich, daß das Theater in dieser veränderten Welt eine Zukunft hat. 1
Die Erstveröffentlichung 1954 war WALTER F. OTTO, dem Deuter antiker Festlichkeit, zum 80. Geburtstag gewidmet - wie der Text lehrt, mit gutem Grund.
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Insbesondere der Film und der Funk haben da neue Befriedigungsformen der angeborenen Schaulust und Musikfreude der Menschen entwickelt, der moderne Sport auf der anderen Seite eine Form des Massenschauspiels geschaffen, die festlich und doch ohne Kunst ist. Bis in die Dichtung hinein spüren wir das neue Konstruktionsgesetz unserer Epoche, das ich als die Montage bezeichnen möchte. Montage ist Komposition aus in sich fertigen Teilen. Der Monteur, der die Montage vornimmt, arbeitet zwar nicht ohne eigenen geistigen Beitrag, sofern er das Funktionieren des Ganzen - und im Fall der poetischen oder theatralischen Montage: die Wirkung des Ganzen richtig voraussehen muß. Aber er gehört der Arbeitswelt der modernen Industrie an und scheint dem Ingenieur näher als dem Genie. Was für ein Wandel in den Gesetzen der Produktion spricht sich darin aus — und muß nicht das Theater, die Stätte der genialen Improvisation, seinen Platz in dieser veränderten Welt der technischen Planung verlieren? Um dieser Frage zu genügen, darf der denkende Historiker auf die dem Theater seit jeher und wesenhaft zugehörende Festlichkeit den Blick richten. Das Theater ist - dem Wort und der Sache nach - eine griechische Schöpfung. Sein Wesen ist das zum Zuschauen geschaffene Spiel. Die Einung, die es bewirkt - Zuschauer desselben zu sein - , ist Einigung aus Abstand. Es ist die objektivierende Leistung des griechischen Geistes, die aus den Formen kultischer Begehung, Tanz und Ritual dies Neue, noch uns Erschütternde geschaffen hat. Denn religiösen Ursprungs ist freilich auch das griechische Theater, ein Bestandteil griechischen Festes und damit, wie alle Erscheinungsformen des öffentlichen Lebens der Griechen, von sakralem Charakter. Was aber ist ein Fest? Was ist das Festliche? Feste werden gefeiert. Was ist das Feierliche des Festes? Wir wissen, daß es nicht notwendig etwas Frohes und Fröhliches ist. Auch Trauer kann festlich einen. Aber immer hat das Fest etwas Erhebendes an sich, das seine Teilnehmer heraushebt aus dem Alltäglichen und hinaufhebt zu einer alle Teilnehmer ergreifenden Gemeinsamkeit2. Zum Fest gehört daher eine ihm eigene Zeitlichkeit. Es ist seinem Wesen nach wiederkehrend. Auch das einmalige Fest noch gebiert aus sich selbst die Möglichkeit seiner Wiederkehr. Die Erinnerung an den Jahrestag eines festlichen Ereignisses wird selbst festlich begangen. Ja, Begehung ist die Seinsweise des Festes, und in aller Begehung ist Zeit zum >nunc stans< einer erhebenden Gegenwart geworden. Erinnerung und Gegenwart sind dann eins. Das Weihnachtsfest etwa ist doch wahrlich mehr als die festliche Erinnerung an die Geburt des Erlösers, die vor 2000 Jahren als Gegenwart geschah: Jedes Weihnachten ist mit jener fernen Gegenwart auf eine mysteriöse Weise gleichzeitig. Das Mysterium der Festlichkeit ist Stillstand der 2 Vgl. >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 128ff. und in diesem Band >Die Aktualität des Schönem, S. 130ff.
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Zur bildenden Kunst
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Zeit. Das charakterisiert ja den Alltag im Gegensatz zum Festtag, daß ein jeder in ihm angekettet, an bestimmte Funktionen und Termine seines Lebens fixiert ist. Diese Vereinzelung der Zwecke weicht im gehobenen Augenblick der Gemeinsamkeit des Festes, ein Augenblick, der nicht durch das, was aussteht, nicht durch das, was bezweckt wird und Profit tragen soll, seinen Sinn hat, sondern der gleichsam mit sich selbst erfüllt ist. Man versteht, daß es der Kult ist, in dem sich diese Selbsterfüllung des Augenblicks ursprünglich und exemplarisch darstellt. Der erscheinende Gott ist die absolute Gegenwart, in der Erinnerung und Gegenwart zu einer einheitlichen Augenblicklichkeit zusammengehen. Und von da versteht sich auch, daß es nicht nur eine negative Bestimmung ist, wenn wir von der Festlichkeit des Festes sprechen. Nicht nur das Herausgehobensein aus dem Alltag, nicht nur die Bestimmung, daß das, was hier erwartet wird und genossen wird, zwecklos ist und Muße ausfüllt, sondern daß ein positiver Inhalt darin dargereicht wird, macht das Fest aus. Aller Kult ist in Wahrheit Schöpfung. Es ist ein in Laienkreisen noch immer weit verbreitetes Vorurteil, das Wesen des Kultes sei vom magischen Zauber her zu verstehen. Das ist zwar eine sehr naheliegende Beschreibungsform eines aufgeklärten Zeitalters, daß man die nicht mehr verständlichen Praktiken, die Form der Begehung, des Rituals und Zeremoniells, die mit einem religiösen Fest verbunden sind, als eine Art magischen Willenszaubers ausdeutet, durch den sich eine Gemeinschaft den guten Willen der Göttlichen zu gewinnen sucht. Aber das ist, wie wir durch die neuere Forschung wissen, eine ganz irrige Beschreibung der Wirklichkeit des Kultes. Sie geht von der extremen Lebensform aus, die unser ganzes modernes Zivilisationsleben beherrscht, dem willensmäßigen Erstreben des Nützlichen und der Macht; der Tendenz, die Dinge in die Hand zu bekommen und zu beherrschen, der wir die Großartigkeit unserer modernen Zivilisation verdanken. Aber sie verkennt, daß ursprüngliches und immer noch lebendiges Wesen der Feste Schöpfung ist, Erhebung in ein verwandeltes Sein3.
den Schlupfwinkeln unseres Vergessens heraufbeschworen, vor uns ihre Stimme erhebt. Das tut der Kult im antiken heidnischen Leben in der Form der Theophanie. Im christlichen Kult hat das Meßopfer einen damit vergleichbaren Sirm - das tut auch noch in seiner Weise das Theater. Seit es ein stehendes Theater ist, tut es das freilich in einer ganz anderen Weise. Denn das Stehendwerden des Theaters ist nicht nur eine äußerliche Veränderung, in der sich die Zivilisation der Gegenwart den alten Zauber der Festlichkeit des 'Theaters zugänglich macht und erhält, es ist vielmehr eine paradoxe Verwandlung seiner Festlichkeit selbst. Wir sahen ja, jedes Fest ist an sich dadurch gekennzeichnet, daß es seine feste rhythmische Wiederkehr hat, daß es herausgehoben ist aus dem Fluß der Zeit und wie eine Art kosmischen rhythmischen Gewissens uns etwas davon übermittelt, daß nicht alle Zeiten gleich sind im unterschiedslosen Vergehen, sondern daß es Wiederkehr des großen Augenblicks in der Stunde des Festes gibt. Das stehend gewordene Theater bindet nun auf einmal diesen Charakter der Festlichkeit an sich selber, an das, was in diesem Theater in immer neuer Aufrührung, in immer neuer Begehung geboten und dargestellt wird. Es ist also eine paradoxe Umkehrung, auf der gerade das besondere Wesen des modernen Theaters beruht. Hugo von Hofmannsthal hat einmal in einer seiner Prosaaufzeichnungen etwas davon gesagt, das ich hier zitieren möchte. Denn wenn jemand in unserem Jahrhundert das Recht hatte, über Theater etwas zu sagen, dann war es ein Wiener und ein Dichter. Hofmannsthal sagt: »Das Theater ist von der weltlichen Institution die einzig überbliebene gewaltige und gemeingültige, die unsere Festfreude, Schaulust, Lachlust, Lust an Rührung, Spannung, Aufregung, Durchschütterung geradhin an den alten Festtrieb des alten ewigen Menschengeschlechts bindet. «
Wer sich in der wiederkehrenden Übung einer bestimmten Verehrung bewegt, die wir Kult nennen, weiß auch, was Fest ist. Was noch in den verweltlichten Formen christlicher Feste, etwa in katholischen Gegenden im Karneval, vor sich geht, das ist nicht mehr so fern von dem Gegenstand unserer Frage, nämlich dem Theater und der Festlichkeit, die dem Theater anhaftet. Auch das Theater ist, wie der Kult, eine echte Schöpfung, das heißt, hier wird etwas aus uns herausgestaltet und wird vor uns selbst Gestalt, was wir als eine überlegene Wirklichkeit unser selbst erfahren und anerkennen. Es ist eine Wahrheit, die gleichsam überlebensgroß, weil aus 3
Vgl. die bedeutende Einleitung, die WALTER F. OTTO seinem Buche >Dionysos< (Frankfurt 1933) vorausgeschickt hat.
In der Tat, das ist es, was mir im Nachdenken über die bleibende Funktion des Theaters in der gewandelten Gesellschaft denk- und sagwürdig erscheint. Das stehende Theater, das dieser Wandel hervorgerufen hat, ist eine Schöpfung der höfisch-bürgerlichen Gesellschaft und hat sich inzwischen durch die moderne Industriegesellschaft in einer einleitend schon skizzierten Weise in seiner Funktion weitergewandelt. Es sind gleichsam drei große Kapitel in der Geschichte des Theaters der Menschheit, die wir so, uns besinnend, überblicken. Die erste Epoche, die eben bis an die Schaffung des stehenden Theaters heranreicht, möchte ich charakterisieren als das Zeitalter der religiösen Präsenz oder der religiösen Gehobenheit. Hier ist es selbstverständlich, daß das Theaterspiel ein Akzidens, eine Miterscheinung des religiösen Festsinnes ist, bei einem Fest und im Rahmen eines Festes eine bestimmte versammelnde Funktion der Festgemeinde vollzieht. Diese Form des gemeinsamen Feierns, die ja für den Dionysoskult, diesen Geburtskult des antiken Theaters, besonders charakteristisch war - wir wissen, daß es keinen anderen
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antiken Kult gegeben hat, in dem die Kultgemeinde in demselben Grade Mitspieler war wie in dem orgiastischen Kult des Gottes Dionysos - , hat eine Jahrtausende währende Geschichte. Denn auch das mittelalterliche Mysterienspiel, ja selbst noch das Barocktheater in manchen seiner Erscheinungen, etwa in der Calderons, sind nicht ganz abgerückt von der kultischhöfischen Mitte, in der sich das christliche Welteiter seinen eigenen Mittelpunkt gab. Das entscheidende Kennzeichen dieses Kapitels der Theatergeschichte ist offenbar, daß das Theater eine Versammlung bewirkt, in der der Zuschauer nicht weniger bestimmend ist als der Darsteller. Das gilt auch heute noch, und das gibt es begreiflicherweise in den neuen Formen des modernen technisierten Kulturlebens nicht und kann es nicht geben, daß der unentbehrliche Mitspieler des Spielers der Zuschauer ist. Das ist nur möglich, weil sich im Wesen des Theaters etwas zur Darstellung bringt, das nicht nur einer sich ausgedacht hat, der Dichter, und nicht nur einer in Leib und Sinnlichkeit übersetzt, der Regisseur, sondern weil darin etwas beschworen wird, was, wenn auch unerkannt, in uns allen geistert. Dieses Zeitalter der religiösen Präsenz, in dem die Feier des Theaters ein Glied der allgemeinen Feier- und Festgemeinschaft darstellt, ist noch immer ein Stück Wirklichkeit in jedem kleinsten Theaterabend, den wir heute haben. Das zweite große Kapitel in der Geschichte des Theaters, das wir ebenfalls in unserem seelischen Besitze ständig bei uns tragen, ist durch das stehende Theater äußerlich sofort kenntlich. Sein Wesen ist besonders durch Schiller, den Heros Eponymos des Mannheimer Nationaltheaters, repräsentiert. Ich möchte es das Zeitalter der moralischen Transzendenz oder auch der moralischen Erhabenheit nennen. Denn was dieses Zeitalter von dem ersten Kapitel in der Geschichte des Theaters der Menschheit unterscheidet, ist die Spannung, die zwischen der Wirklichkeit des durchherrschenden Lebensstiles und dem Zauber der Bühnenwelt für jeden Zuschauer fühlbar wird. Jetzt erst wird der Zuschauer in dem Grade zum Zuschauer, in dem wir es im modernen Theater - ich hätte fast gesagt: schon nicht mehr - gewöhnt sind. Jetzt ist die Bühne - so hat es Schiller empfunden und so hat es ein ganzes Jahrhundert mit ihm empfunden - die große Trösterin über eine prosaisch werdende Welt. Jetzt ist ihre Aufgabe, wie Schiller es einmal formuliert, den zu engen, wirklichkeitsbeschränkten Blick der Menschen, ihren Ameisenblick, wie er sagt, zu erweitern und das Walten der Vorsehung dadurch allen sichtbar zu machen, daß die sonst im Leben verrauschenden Symmetrien von Schuld und Strafe, von Anstrengung und Erfolg, kurz alle sittlichen Harmonien des Lebens, die im Leben selbst nicht mehr sichtbar sind, in der Traumwelt der Bühne erscheinen.
ren Bühnengeschehen vor ihm geschieht, eigentlich sein sollte, und Schiller hat bekanntlich die moralische Anstalt der Schaubühne dahin bestimmt, daß sie den Übergang in eine echte sittliche Lebens- und Gesellschaftsordnung im Spiel vorwegnimmt und einübt. Solche moralische Transzendenz bedeutet nun, und das sehen wir ganz sinnlich vor Augen, daß der Zuschauer wie in seine letzte Innerlichkeit zurückgewiesen wird. Er ist nicht mehr in dem Sinne Mitspieler, in dem es der Mitfeiernde einer religiösen oder verweltlichten Gesellschaft war. Er ist nur Zuschauer, und die spezifische Form der Bühne, in die man hineinschaut, entspricht dem. Er ist Zuschauer, der in der dunklen Kammer seiner Einsamkeit den Appell der moralischen Transzendenz von der Bühne her erfährt. Dazu kommt ein zweites, das, seitdem es stehende Theater gibt und je mehr sie sich die Gesellschaft erobert haben, etwas Neues ist. Jetzt erst gibt es (zum ersten Male in der Geschichte des Theaters) die Wiederholung von Aufruhrungen und die Wiederaufnahme ehedem aufgeführter Bühnenwerke als den Normalfall. Jetzt erst gibt es neben dem jeweils neugeschriebenen, noch ganz den Augenblick, in dem wir leben, dichterisch inszenierenden Werk eines zeitgenössischen Dichters den Bestand eines klassischen Repertoires. Jetzt erst stellt sich damit für uns die Aufgabe, zu vermitteln zwischen der zeitgenössischen Gegenwart und ihrem ständig sie begleitenden Besitz an Historischer Bildung und Gegenwart. Denn das ist ja kein Zweifel, daß das Theater dadurch nicht zum Museum wird. Das Theater wird nicht und niemals historisch. Dort, wo ein Theater aus historischem Interesse ein Stück auffuhrt, hat es von vornherein auf seine eigentliche Souveränität Verzicht getan, die ist: Gegenwart, ausschließlich Gegenwart zu sein. Das ist es gerade, was wir dem Theater der letzten 175 Jahre verdanken, daß sich eine neue Dimension in unser Gegenwartsbewußtsein hinein geöffnet hat, indem geschichtliche Zeiten mit ihren Schöpfungen des griechischen, spanischen, englischen, des klassischen französischen und des deutschen Theaters, alle diese großen Hoch-Zeiten der Theaterdichtung, nun jeder Gegenwart neuer gegenwärtiger Besitz zu werden vermögen. Wir sind nicht der Meinung, daß deswegen die stilgerechte Auffuhrung im Sinne eines historisch-archaisierenden Stiles, wie ihn die Wissenschaft ermittelt, die Aufgabe des klassischen Spielplanes eines Theaters ist. Im Gegenteil — die Verschmelzungskraft, die eine Gegenwart als Gegenwart besitzt, wenn sie Vergangenes zur Gegenwart zu erheben vermag, ist das Großartige an diesem Kapitel der Theatergeschichte. Damit deute ich freilich schon an, daß wir im Begriff sind, ein weiteres Kapitel in der Geschichte des Theaters der Menschheit aufzuschlagen. Kein Wunder, daß wir das heute vermuten. Denn der Strukturwandel unserer Gesellschaft ist wirklich so tief, daß es eher ein Wunder wäre, wenn sich die Gegenwart noch immer den intimen historisch-musealen Luxus eines Thea-
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Es ist klar, daß dies eine Aufgabe der morahschen Transzendenz ist, denn hier lebt das Leben in dem Bewußtsein, daß es so, wie es in dem wunderba-
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ters erlaubte, das vor hundert Jahren seine Funktion innerhalb der Gesellschaft erfüllte, als man noch mit der Postkutsche fuhr. Was ist nun dieses dritte Kapitel? Der Wissenschaft steht es nicht an, den Propheten zu spielen. Ich möchte mich begnügen, ein paar Züge dessen zu beschreiben, was ich als dankbarer Freund unserer gegenwärtigen Theater zu beobachten meine. Ich weiß für dieses ungeschriebene, noch in seinen Initialen stehende Kapitel der Geschichte des Theaters keinen zureichenden Ausdruck. Aber ich meine zu sehen, daß die moralische Spannung zwischen Wirklichkeit und Traumwelt - dieser erhabene moralische Appell, der das Große des klassischen Theaters des 19. Jahrhunderts ausgemacht hat - , daß das Gegenüber des stummen Zuschauers und der im Rampenlicht ferngerückten und verwandelten Bühne unserem gegenwärtigen Empfinden und unseren zukünftigen Möglichkeiten nicht mehr ganz entspricht. Die Einheit von Zuschauer und Spieler gewinnt heute eine neue Bedeutung. Was uns in dieser Einheit anrührt, ist das Gefühl, daß die Welt sich in der bloßen Spannung des moralischen Aufschwungs nicht mehr genugsam erkennt und daß vielmehr das Getragensein aller von einem jeden einzelnen übertreffenden und gemeinsamen Geiste die an die alten religiösen Gründe des kultischen Festes zurückgemahnende Macht des Theaters ist. Wir sehen manches am modernen Theater, das für eine solche Entwicklung spricht. Die Fachleute werden das Gefühl haben, daß das längst bekannt und längst praktiziert ist. Aber wir Laien merken es später und suchen langsam zu begreifen, was da vor sich geht. Es ist nicht leicht, die Überschrift des neuen Kapitels, das begonnen hat, zu erraten. Wir sind zu sehr am Anfang, um das Wesentliche zu erkennen. Manches fällt dem Laien auf, was vielleicht nur äußerlich ist. Aber das Ideal der Natürlichkeit, das ehedem das hohlgewordene Pathos der klassizistischen Bühnen ablöste, die psychologische Auslegung, die atmosphärische Bildtreue — all das, was den Traumflitter der Bühne ausmacht - will uns heute wie eine Flucht vorkommen. Auch die technische Vollkommenheit, die solche Traum- und Narkosewirkung herbeiführt, scheint uns wie eine Verschwendung. Es gilt, sich klarzumachen, was für ein Fallstrick in dem Worte >Nachahmung< gelegen ist4. Die antike Mimesis und die moderne Mimik sind etwas ganz anderes, als was wir zumeist unter >Nachahmung< denken. Alle wahre Nachahmung ist Verwandlung. Sie ist nicht ein Noch-einmal-Daseinlassen von etwas, das so schon da ist. Sie ist in der Weise verwandeltes Dasein, daß freilich das Verwandelte noch zurückweist auf das, woraus es verwandelt ist. Aber es ist verwandelt, indem es gesteigerte Möglichkeiten zu Gesichte 4
Vgl. in diesem Band die Beiträge >Kunst und Nachahmung« (Nr. 4) und »Dichtung und Mimesis< (Nr. 8).
Über die Festlichkeit des Theaters
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bringt, die wir nie sahen. Jede Nachahmung ist Steigerung, ist Erprobung von Extremen. Das moderne Theater, das sich an die Extreme vorwagt, um sie zu erproben, ist gerade deshalb kein sekundäres Phänomen innerhalb unserer Gesellschaft und unserer Kultur. Denn das Theater hat, wie mir scheint, vor allen anderen Möglichkeiten dieser Art den bleibenden ungeheuren Vorzug, daß sich in der Unmittelbarkeit der Gemeinschaft von Darstellern und Zuschauern die Probe auf diese kühnen Experimente des Verwandeins ständig ergibt. Der Spieler bekommt zurück von dem Zuschauer, wohinein er sich gewagt hat, und umgekehrt bekommen wir Zuschauer vom Spieler Seinsmöglichkeiten gleichsam vorgewagt, die uns übertreffen. Es ist die Unheimlichkeit der Maske, die ganz nur Zugekehrtheit, Oberfläche ohne Dahinter ist, und daher ganz Ausdruck, die Starrheit der Puppe, die, an Drähten gezogen, dennoch tanzt, die Fremdheit all dessen, was uns aus der Wohligkeit unserer bürgerlichen Selbstbestätigung aufschreckt und was selbst mit der verläßlichen Wirklichkeit spielt — in all dem erkennt sich nicht mehr das menschliche Herz in dem Königreiche seiner Innerlichkeit, sondern als Spielball der großen überindividuellen Mächte, die uns bedingen. Dies sichtbar zu machen, ist freilich auch Technik und Montage ein Mittel. Aber nicht zur Traumvorspiegelung von Wirklichkeit dient es, sondern es bedarf der gleichen geistigen Umsetzung, die dem Wort und der Gebärde eigen sind, wenn sie nicht Seelengemälde, sondern uns treffender Spruch und Wink sind. Wir wissen heute mit einer uns immer wieder erschütternden neuen Gewißheit, daß das menschliche Wort und die menschliche Gebärde von einer Sagkraft sind, der gegenüber der ganze großartige Aufwand technischer Zivilisation, der unsere Welt verwandelt hat, immer etwas Nüchternes, Schneckenhaftes, Mühsames und Flickwerkartiges behält. Ein Wort, richtig gesprochen, ein Pochen, richtig an die Hoftür getan - und es ist da, was keine technische Mimesis mit den größten Mitteln je an Wirklichkeit erzielen kann. Und für wen ist es da, und wie ist es da? Es ist freilich nicht da ohne uns, die zuschauen. Wir sind es, die das, was dasein soll, erst einlösen müssen. Aber das ist doch die wahrhaft überraschende Erfahrung, die die letzten Jahrzehnte des fortschrittlichen Theaters in der Welt gezeitigt haben, daß die moderne Menschheit, über die ständig eine Flut von Reizmitteln ausgegossen wird, die sich vor rein passivem Sichüberfließenlassen von Rauschströmen kaum noch zu retten weiß, imstande bleibt, selbst etwas zu tun. Daß es ihr immer noch gelingt, sich zu erheben und das, was vor ihr dargestellt wird, in der ganzen Erhobenheit, die den festlichen Augenblick krönt, sein zu lassen. Das Theater ist geistiger geworden, als es im Zeitalter der Guckkastenbühne je war. Darin ist eine Unmittelbarkeit gelegen, die uns in unserem durchspezialisierten, durch tausend Vermittlungen verstell-
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ten Dasein sonst so selten zuteil wird. Daß wir hier als Gemeinschaft die Unmittelbarkeit dessen, was wir sind und was es mit uns ist, im strömenden Austausch zwischen Spieler und Zuschauer vollziehen, scheint mir eine echte Erfahrung der bleibenden Festlichkeit des Theaters. Ober uns hinüber spielt dann der Engel. (Rilke)
27. Begriffene Malerei? Zu A. Gehlen: Zeit-Bilder (1962)
Wer je eine Gemäldesammlung besucht hat, in der die Entwicklung der Malerei unseres Jahrhunderts gut dokumentiert ist, ζ. Β. den Salon des Beaux Arts in Paris, wird mit Gehlen eine Ausgangserfahrung teilen, das Erschrecken und die Nachdenklichkeit, die einen beim Betreten der Säle befallen, in denen Arbeiten von Picasso und Juan Gris zu sehen sind. Was ist da geschehen? Wie kam es zu solcher >kubistischer Formzersplitterung Woher rührt die Suggestion, die trotz aller Befremdung von da ausgeht und die wie eine Revolution einen Epocheneinschnitt darstellt, von dem aus eine neue Zeitrechnung zu beginnen scheint? Was ist dieses Ereignis, das sich nicht vergißt? Sehr schön spricht Gehlen von der geisterhaften Stummheit, die seit dem Nachimpressionismus über die Bilder gekommen ist. »Die ungebrochene Bedeutung eines Bildes, sein Gegenstandssinn, macht es sprechend. Vollkommen stumm ist dagegen ein sinnentleertes Ornament. Von dieser Stummheit dringt etwas in das Bild. [...] Abstrakte Bilder sind völlig sprachlos und verstummt, sie können ein geradezu brütendes Schweigen ausstrahlen, wie die von Mondrian«1. Man sieht sich einer kundigen Führung anvertraut, wenn man Gehlens Buch liest. Gehlen versucht nicht nur eine historisch-soziologische Erklärung, er läßt sich auch auf die kunsttheoretischen Gesichtspunkte durchaus ein und verrät eine respektgebietende Vertrautheit mit der modernen Malerei. Der Affekt, mit dem er der unermeßlichen Kommentarliteratur und ihrer oberflächlichen Ideen-, Assoziationen- und Analogienflucht gegenübersteht, wird nur noch von dem Affekt übertroffen, mit dem er die gutgläubige Naivität verfolgt, die noch immer in der romantischen GenieAsthetik Anfang und Ende alles ästhetischen Denkens festmachen möchte. Entsprechend feindselig reagiert er auf die »expressionistische Verwirrung«, in der er eine emotionale Regression erblickt. Man wird nicht sagen können, daß diese Affekte unmotiviert sind und als solche die Klarheit der Erkenntnis gefährden müßten. Weder ist uns damit ARNOLD GEHLEN, Zeit-Bilder Frankfurt 1960, S. 66, vgl. S 187.
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gedient, daß Einstein oder Niels Bohr zur >Erklärung< moderner Bilder bemüht werden (n. b. von Kommentatoren, die von der modernen Physik genau ebensowenig verstehen wie wir selber, nämlich nichts), noch wird man sich einreden, daß der spätbürgerliche Geniekult des 19. Jahrhunderts die angemessene Auffassung für das künstlerische Schaffen in unserem Jahrhundert der Industriegesellschaft liefert. Und das offenbar aus doppeltem Grunde nicht. Einmal, weil der Aufbau der Ästhetik auf den Geniebegriff wohl immer gegenüber der Wirklichkeit des künstlerischen Könnens eine Einseitigkeit war, sodann aber auch, weil die Formen des künstlerischen Schaffens selber im Zeitalter der Düsenflugzeuge, der Massengesellschaft und der Serienfertigung andere geworden sein könnten, als sie im Zeitalter der Postkutsche und des wandernden Handwerksgesellen waren. Der Grundgedanke, der Gehlens Analyse leitet, ist der der steigenden Bildrationalität. Die Wahl dieses Gesichtspunktes hat nach Gehlen zunächst einmal einen methodischen Grund. Die Anwendbarkeit soziologischer Vorstellungen steige mit dem Grade der inneren Rationalität eines Themas (14). Nun zeige die Geschichte des Bildes eine Entwicklung nach dieser Richtung. Die Konnotationen, die die religiöse Kunst besetzen, werden schon in der realistischen Kunst entbehrlich, sofern in ihr die bloße Wiedererkennung des Dargestellten gewollt sei, ζ. Β. im holländischen Stilleben. Die neue Malerei baue auch dieses Sinnmoment noch ab und beschränke sich ganz auf die »Rationalität des Auges«. Was damit in concreto gemeint ist, wird zunächst an der Kunsttheorie Konrad Fiedlers verdeutlicht, der die vollständige sinnliche Aneignung des Dinges gegen die das praktische Leben beherrschende Funktion des Begriffes stellt. Sodann gibt Gehlen eine ausgezeichnete Analyse der jüngeren Entwicklung der Malerei, die er als Auseinandersetzung zwischen Bildgegenstand und Bildfläche beschreibt. Daß in dieser Auseinandersetzung schließlich die Bildfläche die Oberhand gewinnt und der Gegenstand der Deformation - wenn nicht gar der völligen Auflösung verfallt, wird als die Logik dieser Entwicklung überzeugend herausgestellt. Im ganzen scheint mir diese Analyse ästhetisch wohlbegründet. Freilich ist die Unterscheidung von ideeller und realistischer Kunst nicht ganz so zwingend wie ihr Gegensatz zu der von allen Konnotationen freien Kunst. Denn ob es sich um Mythos oder um sogenannte Wirklichkeit handelt — den Sinn der Wiedererkennung hat alle Mimesis, gerade auch die des Mythos und der religiösen Oberlieferung, wie schon Aristoteles klar sieht2. Darauf wird unter dem Stichwort >Reflexion< noch zurückzukommen sein. Jedenfalls wird die Härte des Bruches, der mit dem kubistischen Experi-
ment geschah, durch die von Gehlen geschilderte Logik der Entwickhing nur wenig gemildert. Es ist ein anderer Gedanke, der hier bei Gehlen bestimmend wird und dessen ästhetische Berechtigung von ihm mit Verve vorgetragen, aber m. E. ins Unglaubwürdige übertrieben wird. Es ist sein Plädoyer fur die peinture conceptuelle, die allein in der Konsequenz der modernen Malerei liege. Gehlen schließt sich damit an Kahnweilers Buch über Juan Gris 3 an. Das Bild soll nicht mehr die sichtbare Welt nachahmen, sondern »gleichsam von innen her ein Gefüge von Zeichen schaffen« {78). Dabei vertritt er im besonderen die These, daß die übliche Ableitung des Kubismus aus Cézannes Satz, alles in der Natur modelliere sich gemäß der Kugel, dem Kegel und dem Zylinder, nicht überzeugend sei. In der Tat ist zuzugeben, daß Picassos Verzicht, im Bilde das allein von einem einzigen Blickpunkt aus Gesehene zu geben, zugunsten der schriftartigen Verzeichnung der »wesentlichen Eigenschaften« der Dinge, etwas schlechthin Revolutionäres bleibt. Freilich scheint mir die gegebene Erklärung, daß man, um die Deformation zu vermeiden, lieber die Naturähnlichkeit überhaupt aufgegeben habe, kaum überzeugend. Die Schrift dieses neuen facettierten Stiles bleibt eine Bilderschrift — und damit eine gewollte Schockierung der unmittelbaren Bilderwartung. Hier setzt nun die eigentliche Deutung Gehlens ein. Er sieht eine Erklärung des kubistischen Programms in der Philosophie des Neukantianismus, jener Philosophie der Erzeugung des Gegenstandes durch das Denken, die Raum und Zeit - anders als bei Kant - als apriorische kategoriale Momente mit zu den Verstandesbegriffen (Kategorien) zählt. Abgesehen davon, daß diese philosophische Theorie von Kahnweiler nur herangezogen wird, um den Kubismus zu deuten - nichts spricht dafür, daß Picasso und Braque selbst daran teilhatten-, das eigentliche Rätsel bleibt selbst dann ungelöst. Daß dem Neukantianismus zufolge der Begriff des Dinges nur ein gedachter Bezugspunkt (eine >unendliche Aufgabe<) ist, erklärt nicht im geringsten »manche der'berühmten paradoxen Neuerungen des Kubismus, ζ. Β. das Verfahren, gleichzeitig auf demselben Bilde mehrere Ansichten desselben Dinges zu geben: man setzt eben nicht den bloßen optischen Hinblick, sondern das Ding selbst voraus, zu dessen Wesen es gehört, sich nach verschiedenen Seiten zu entfalten« (88). Der facettierende Stil also als die Praktizierung von Husserls Theorie der >Abschattung< des Wahrnehmungsgegenstandes! Was für eine absurde Idee, daß der Kubismus die Synthesis der Apperzeption ins Bild gebracht und daß der alles andere als revolutionäre Neukantianismus kurz vor seinem seligen Ende die größte Revolution der europäischen Malerei seit Giotto hervorgerufen habe. Nichts kann unglaubwürdiger sein4. 3
2
Siehe dazu > Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 119ff. und in diesem Band die programmatischen Aufsätze >Kunst und Nachahmung< (Nr. 4) und >Dichtung und Mimesis< (Nr. 8).
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DANIEL-HENRY KAHNWEILER, Juan Gris.
Sa vie, son œvre, ses écrits. Paris 1946, dt.
Stuttgart 1968. 4 Inzwischen hat GEHLEN die Kunsttheorie Kahnweilers in der Festschrift fur Kahnweiler (Stuttgart 1965) eigens behandelt und ihren kantianischen Hintergrund herausgearbeitet,
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Wie kommt Gehlen zu einer solchen phantastischen Annahme? Offenbar um der These der peinture conceptuelle willen. Der revolutionäre neue Ansatz des Kubismus soll »um einen philosophischen Grundgedanken herum« konstruiert sein - um dann bei Juan Gris zuerst synthetisch gebraucht zu werden (>Mathématique picturale<). Gehlen sagt geradezu: »Es ist sonnenklar, daß hier sehr hohe Grade gedanklicher Reflexion in Kunst umgesetzt wurden.« Dieser Satz ist freilich zu zweideutig, um selber klar zu sein. Was soll hier »umsetzen« heißen? Daß die These vom neukantischen Ursprung des Kubismus so nicht gestützt werden kann, scheint mir übrigens schon aus dem Hinweis auf Mailarmes Einfluß indirekt hervorzugehen. Oder soll dessen Alchemie der Worte auch neukantischen Ursprungs sein? Nun, eine unglückliche Anwendung kann über die fragliche These noch nicht schlechthin entscheiden, zumal das Rätsel ja wirklich seine Auflösung verlangt. Man wird die weitere Argumentation Gehlens prüfen müssen. Seine Hauptzeugen sind: Paul Klee und Kandinsky - während wir heute »vorwiegend empirisch gefundene, theoretisch völlig ungetaufte (!) Bilder« zu sehen bekommen (96). Etwas gönnerhaft erkennt Gehlen an, man könne sich eine solche Kunst auch ohne Kenntnis der Theorie »rein künstlerisch« aneignen, aber das komme auf eine Frage der Genügsamkeit heraus (97). Hier liegt aber doch wohl ein Mißverständnis. Daß es möglich ist - und wenn möglich, dann auch als Aufgabe legitim - , Zusammenhänge dieser Kunst mit philosophischen Theorien zu untersuchen, ist gar nicht der strittige Punkt, sondern, ob solche Zusammenhänge in dem behaupteten Sinne bestehen, nämlich in dem Sinne, daß die Prinzipien das erste sind und daß in einer Art variierender Anwendung derselben die subjektive Phantasie des Künstlers dieselben nachträglich überflute. Es könnte ja auch so sein, daß indem er Kahnweiler neben Konrad Fiedler stellt. Das darf in einem weiten Sinn wohl gelten, wenngleich der Kantianismus, der die Kunst von Marées und seines Kreises zu deuten unternahm, ein sehr anderer sein mußte als der, mit dem Kahnweiler - Husserl bevorzugend - den Kubismus deutet. KAHNWEILER geht in seinen Schriften überdies nie so weit wie GEHLEN, einen Einfluß der Philosophie des Neukantianismus auf das malerische Programm des Kubismus zu behaupten. Wenn man etwa die klaren Ausführungen, die JUAN GRIS über die Möglichkeiten des Malens gemacht hat, prüft, wird man an ihnen gerade bewundern, wie sie ohne jede Anleihe bei der zeitgenössischen Philosophie ihre Idee der > Architektun entwickeln. Mit der Kantischen Synthesis der Apperzeption hat das wenig zu tun. Die Originalität, die dem synthetischem Kubismus (KAHNWEILER) zukommt, beruht m. E. durchaus nicht nur auf dem Konstruktivismus seines Verfahrens, sondern ebensosehr auf der Begrenzung dieser Konstruktivität und auf ihrer Modifikation durch die Lesbarkeit des Gegenständlichen. Was Kahnweiler unter >peinture conceptuelle* versteht, meint nicht, wie bei GEHLEN, Wissenschaftlichkeit bzw. Wissenschaftsähnlichkeit der Malerei, sondern die reine Geistigkeit der Elemente, aus denen die bildnerische Komposition unter Verzicht auf alles Imitative geformt wird. Die Kunst liegt nicht in den Elementen, sondern in ihrer Synthese. Das stimmt zu JUAN GRIS, der ausdrücklich einmal sagt : Ich bin zu keiner Ästhetik gelangt, und nur Erfahrung kann mir eine solche geben.
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, selbst wenn sie in einem authentischen Kommentar dargeboten werden, nicht das erste wären, sondern die sekundäre Formel fur eine rieue optisch-malerische >Vision<. Es brauchte daraus wirklich nichts von Geniekult und Emotionalismus zu folgen. Malerische >Visionen< können höchst nüchternen Arbeitserfahrungen mit Farben, Pinsel und Leinwand entspringen, von denen niemand bestreitet, daß sie im Kopfe gemachtwerden. Wie steht es nun mit Paul Klee? Wir haben seine frühen Tagebücher. Aber zur Deutung des Werkes verwendet Gehlen fast nur die BauhausVorlesungen von 1921/22 und Späteres. Muß man nicht vernünftigerweise annehmen, daß es das theoretische Reflexionsbedürfhis eines Malers, der seinen Stil gefunden hat, ist, das sich hier ausspricht (und daß es nicht diese Reflexionen sind, durch die er erst Paul Klee wurde)? Daß seine Reflexionen mit vielem übereinstimmen, was die Gestaltpsychologie wissenschaftlich erforscht hat, entscheidet darüber gar nicht. Auch Gehlen geht hier nicht so weit, die Gestaltpsychologie geradezu zum Urheber zu machen. Das zu behaupten wäre chronologisch unmöglich. Aber wichtiger noch ist, daß der Maler Paul Klee offenkundig sehr viel mehr weiß als die Gestaltpsychologie. Überdies betont Gehlen selber, daß Paul Klee »jede strenge Geometrisierung vermied« (107). Mir scheint auch seine Interpretation der >Ranke< mit den Mitteln der Gestaltpsychologie wenig geglückt. Der Begriff der Transponierung einer Gestalt steht und fällt mit der strengen Identität einer Gestalt - Klees Bild dagegen steht und fallt damit, daß solche Identität nicht besteht. Auch wird man sich fragen müssen, was die Gestaltpsychologie einen Gestalter vom Range Paul Klees lehren konnte. Etwa die abkürzende Aussage? »Der Gedanke der >Abkürzung< bedeutet eine ganz echte gestaltpsychologische Erfindung« (sie). Gehlen kann doch im Ernst nur meinen, daß die Gestalttheorie hier etwas formuliert hat, was nicht nur die Maler, sondern was wir alle, wenn wir sehen, schon >wissen<. Es scheint mir im höchsten Grade unglaubhaft, daß seine Beschreibung stimmt, wenn er schreibt, daß Paul Klee die Gestaltgesetze der Wahrnehmung »fand, sie aber zugleich variierte«. Ist es nicht vielmehr so, daß er aus den zahllosen Versuchen und Variationen seiner malerischen Arbeit schließlich manches abstrahierte? Ich jedenfalls zöge vor - oder wäre das zu genügsam? - , hier mit Gehlen von der »experimentellen Technik« (105) Klees zu sprechen, aber darunter zu verstehen, daß das Ziel aller seiner Experimente gestaltete Bilder waren - und nicht die Erkenntnis von Gestaltgesetzen. Selbst für ein so hochrationales Gebilde wie die moderne musikalische Kompositionstechnik gilt doch noch Ähnliches. Auch dort geht es, wie bei dem Maler, um Ganzqualitäten, mit denen er arbeitet, ζ. Β. m der Instrumentation, die nicht >errechnet< sind, so hochrational auch das Konstruktionsprinzip etwa bei der Zwölftonmusik ist. Man darf die Ratio-
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nalität des Stoffes, mit dem komponiert wird, nicht mit der der Komposition selbst verwechseln. Für die These der peinture conceptuelle ist nun besonders mißlich, daß Gehlen seine weiteren Zeugen, Kandinsky und Mondrian, selber nur noch für psychologisch deutbar hält - so >privat< scheint ihm ihre Gegriffene Kunst<. Kandinskys theoretische Arbeiten liegen zwar in der Richtung auf eine »Harmonielehre der Malerei«, aber nach Gehlens eigener Aussage ist er auf diesem Wege »nur einige Schritte weit« gelangt, weil »seine Kunstausübung eine in sehr hohem Grade autistische Komponente« enthalte. Für die These der begriffenen Kunst scheint mir dies eine klare Petitio principii. Überdies aber ist der ästhetisch-hermeneutische Erfolg bei dem Bemühen, im Falle Kandinskys das Nebeneinander seiner Produktion und seiner Selbstkommentierung methodisch fruchtbar zu machen (116), in Gehlens Augen selber höchst enttäuschend: »Jemand erfindet eine Sprache, allein für sich, die ihm so logisch und klar vorkommt, daß er anfängt, in ihr Mitteilungen zu machen: die anderen verstehen kein Wort... « Und wie ist es mit dem Zeugnis, das Mondrian darstellt? Er hat seine asketische Flächen- und Linienkunst selber in theoretischer Reflexion aus dem Kubismus hergeleitet und zu einer kosmischen Metaphysik aufgehöht. Aber Gehlen selbst scheint weit entfernt, ihm in solcher Herleitung zu folgen. »Mit der direkten Enthüllung des Rhythmus und der Reduktion der natürlichen Formen und Farben verliert das Subjekt seine Wichtigkeit in der bildenden Kunst« - diese klare Äußerung Mondrians wird überraschend auf den Kopf gestellt: »Er zeigt, wie nunmehr aus allen Höhen und Tiefen, Quellen und Abgründen die Subjektivität in die Kunst einströmt. « Offenbar heißt das, daß es sich auch bei Mondrian um »ganz private Inspiration« handelt. Sind das alles Zeugnisse für peinture conceptuelle? - und nicht vielmehr fur den Selbstwiderspruch, der in einer solchen liegt? Der Schlüssel für die sonderbar verschlüsselte Beweisführung Gehlens scheint mir sein Begriff von »Reflexionskunst«. Er sieht darin das spezifische Neue der modernen Malerei, »den modernen Zustand der chronischen Reflektiertheit schlechthin vom Bilde her zu erreichen« (62). Das geschehe entweder durch die »Verflächung« des Bildes bei festgehaltener Gegenständlichkeit oder gar durch den Widerspruch im Wiedererkennen selber, z.B. bei den Surrealisten. Beides seien Wege zur »Reflexionskunst«. Er führt eine ganze Reihe von Effekten in der modernen Malerei auf, die er als Entsprechung zur chronischen Zuständlichkeit der Reflexionshaltung in der modernen Kultur deutet. Er meint, daß uns die unmittelbare und ungebrochene Aussage unerträglich geworden sei. Dagegen spreche auch nicht unsere Liebe zur naiven Kunst der Vergangenheit. Denn diese sei nur durch den Kontrast selber »reflexionsbedeutsam« geworden. Demgegenüber möchte ich daran erinnern, daß das ästhetische Verhalten
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von jeher >reflektiert< ist. Kant spricht mit Recht vom >Reflexionsgeschmack< im Unterschied zu den unmittelbar sinnlichen Bevorzugungen, und diese >ästhetische< Reflektiertheit scheint mir nicht einmal an das gebunden, was ich selber zur Charakterisierung der Wende zum 19. Jahrhundert den >Standpunkt der Kunst< genannt habe5. Der attische Theaterbesucher, der zugleich ein religiöses Fest beging und zugleich als Kunstrichter fungierte, hatte — in den verschiedensten Rängen - durchaus seinen Reflexionsgenuß an dem vorgeführten >Spiel mit dem Mythos<- Ich vermag bei dem attischen Dramatiker keinen grundsätzlichen Unterschied zu einem so durchreflektierten, aus tausend poetischen Formen und Formeln komponierenden Dichter wie etwa Ezra Pound zu erkennen. Nur die Voraussetzungen des Verstehens und Genießens sind komplizierter geworden. Die Vorgeformtheit der Stoffe ist eine kunstvollere, so daß Komposition immer etwas von Montage bekommt. Der ästhetische Reflexionsgenuß, den man daran findet, scheint mir aber nicht prinzipiell verändert. Auch die große Epoche der europäischen Bildmalerei, die mit der Renaissance anhob, stellt ein ähnliches Phänomen des geistigen Genusses dar, auch sie in verschiedenen Rängen, auch sie mit dem Prachtund Schmuckbedürfnis (der Kirche und der Höfe) verknüpft und doch zugleich von allgemeiner religiöser Bedeutung. Es scheint mir also fraglich, ob die Reflektiertheit des modernen Kunstgenusses als solche eine höhere ist. Eher würde ich sagen, daß das Element, worin sich diese Reflexion bewegt, anders geworden ist, bedeutungsärmer und daher formaler. Auch glaube ich nicht, daß die >Naivität< der alten Bilder im Regelfalle Gegenstand eines Reflexionsgenusses der Naivität ist. Wird nicht ausschließlich das ihnen eigene Ineinander von Form- und Bedeutungsspannungen, das diese Bilder strukturiert, zum Gegenstand des Genusses? Die modernen Effekte der Trompe-l'œilKunst, die Gehlen sehr richtig - ebenso wie die barocken Effekte eines Tiepolo - von aller groben Täuschungsabsicht abrückt und als rein ästhetische Illusion verteidigt, stellen wie solche der Collagen eine technische Sonderform jenes allgemeinen ästhetischen Effektes der Brechung von Erwartungsintentionen dar. Solche Brechung von Erwartungsintentionen gehört ganz sicher zu aller ästhetischen Reizwirkung. Das war schon im antiken Drama so. Nicht erst heute »trifft man die Auswahl der Mittel und Effekte gezielt im Sinne des Gegensatzes zum Bestehenden« (157). Der Umschlag in die Antithese ist auf dem ästhetischen Gebiet am allerwenigsten eine Hegeische Erfindung. Wie es scheint, haben die mir leider nur durch die Wiedergabe bei Wellék-Warren bekannten pohlischen und russischen Ästhetiker schon vor Jahrzehnten das ästhetische Wirkungsge>Wahrheit und Methode« (Ges. Werke Bd. 1), S. 87 ff.
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setz erkannt, das hier nur in einem besonderen, durch die technische Zivilisation bestimmten Anwendungsfalle vorliegt6. Es ist mir auch zweifelhaft, ob der unter dem Stichwort >Entlastung< vorgetragene Gedankengang das Spezifische der modernen Kunst in den richtigen Maßen darstellt. Gehlen hat an anderer Stelle sehr richtig gezeigt, welche >Entlastung< das Bestehen einer tragenden Tradition darstellt7. Das ist offenkundig von dem Fehlen einer solchen her beschrieben. So scheint mir auch die These von der Entlastung durch Bedeutungsabbau, die die moderne Kunst charakterisiere, immer nur aus dem Gegensatz zu der hundertjährigen Romantik gedacht, die von der Prosa des Lebens Entlastung durch die poetische Verklärung in >der Ideale Reich< sucht. Solange die ungebrochene Tradition der antik-christlichen Kultur bestimmend war, verlangte man eben von der Kunst keineswegs höhere Bedeutung oder gar eine neue Mythologie, sondern die ingeniöse Darstellung der altvertrauten, gültigen Inhalte, in denen man lebte, mithin durchaus keine spezifische Entlastung von einem Wirklichkeitsdruck. Ich lasse dabei dahingestellt, ob die Kategorie der Entlastung im übrigen die anthropologische Universalität besitzt, die Gehlen in Anspruch nimmt. Gewiß hat er dafür viel beigebracht. O b aber der Überschußcharakter des Lebendigen durch das mechanische Gleichgewicht von Druck und Entlastung genügend erfaßbar ist? Und selbst wenn Tradition primär als Entlastungsfunktion verstanden wird, bleibt es das Besondere der modernen Kunst, daß sie innerhalb der Traditionsarmut unserer romantisch-unromantischen Welt nicht nur von der Prosa der Wirklichkeit, sondern dazu auch noch von der weltanschaulichen Angestrengtheit ihrer romantischen Verklärung entlasten muß. Dafür scheint mir auch zu sprechen, daß die Wiederentdeckung des Barock in den letzten Jahrzehnten mit dem Abbau der sentimentalisch-psychologisierenden Kunst des 19. Jahrhunderts seitens der >Moderne< zusammengeht. Ich möchte also — und wie ich gern anerkenne: unter dem Eindruck der vielen ästhetischen und kunstsoziologischen Einsichten, die Gehlen vermittelt - die Dinge ein wenig anders akzentuieren. Die Leitidee der >Bildrationalität< wird m. E. dann entstellt, wenn Rationalität hier konstruktiven Aufbau aus Prinzipien im Sinne der Anwendung einer zuvor aufgestellten Theorie bedeuten soll. Der von Gehlen gezogene Vergleich mit Descartes' Rückgang zu den idées simples, übrigens selber bloß eine theoretische Formulierung der von Galilei gehandhabten neuen Methode, führt m. E. zu einer falschen Einschätzung des Verhältnisses von Theorie und ihrer Anwendung im Bereich der Malerei. Konstruktiver Aufbau ist gewiß ein Grundakt der 6
R. WEIXEK/A. WAHREN, Theorie der Literatur. Frankfurt 1963, S. 274ff. Vgl. auch:
Russischer Formalismus, übersetzt ν. Ν. LOHNER. München 1964. 7 A. GEHLEN, Der Mensch. Berlin 1940. Vgl. auch die ergänzende Aufsatzsammlung: Anthropologische Forschung. Reinbek b. Hamburg 1961 (rde 138).
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modernen Technik. Vorberechnung, Vorfabrikation und Montage haben ein anderes Gesicht als die entsprechenden Vorgänge bei der handwerklichen Arbeit. Man wird den so produzierten Dingen diese Produktionsweise >ansehen<, ζ. Β. auch im Stil der Baukunst. Wie sollte nicht die Malerei davon etwas spiegeln? Aber wie sollte nicht auch die Selbstinterpretation davon etwas suggerieren? Jedenfalls scheint mir die prinzipielle These von der Kommentarbedürftigkeit der modernen Malerei äußerst zweifelhaft. Und gar: Bezeugt sie wirklich den Vorrang der Theorie vor der malerischen Produktion? Muß man nicht gegen eine solche These mißtrauisch werden, wenn durch die Theorie - wie im Falle Kandinsky und Mondrian - nicht die Verständlichkeitj sondern die Unverständlichkeit ihrer Bilder herbeigeführt würde? Die Kritik an dem romantischen Geniebegriff scheint mir in das gegenteilige Extrem zu verfallen. Soll man es ernst nehmen, wenn Gehlen gar bei Franz Marc an den Einfluß der Umweltlehre Jakob von Uexkülls glaubt, mit der Begründung: »Man kommt sonst nicht auf den Gedanken, die Tiere zu malen, wie sie sind, wie sie selbst die Welt ansehen und ihr Sein fühlen« (144)? Als ob er nicht selber sehr überzeugend gezeigt hätte, welche innerästhetische Entwicklung hier vorliegt, wie die Zentrierung des Bildraumes durch den Blickpunkt des Betrachters von der gleichzeitigen Malerei (Picasso u.a.) schon aufgegeben worden war? Er scheint mir manchmal die »Logik des Vorgangs« mit der Logik der deduktiven Theorie zu verwechseln. Könnte er sonst von Macke (im Gegensatz zu Marc) formulieren: »bei dem sich jedoch keine Logik des Vorgangs ermitteln läßt, bei ihm handelt es sich um Experimente«? Ist das wirklich ein Gegensatz? Genau hier möchte ich umakzentuieren und den Primat des Experimentes und die sich daraus ergebende Logik geltend machen. Gehlen zitiert selbst, offenbar mit Beifall, die Worte von Max Ernst: »Als letzter Aberglaube, als trauriges Reststück des Schöpfungsmythos, blieb dem westlichen Kulturkreis das Märchen vom Schöpfertum des Künstlers. Es gehört zu den ersten revolutionären Akten des Surrealismus, diesen Mythos mit sachlichen Mitteln und in schärfster Form attackiert zu haben, indem er auf der rein passiven Rolle des >Autors< im Mechanismus der poetischen Inspiration mit allem Nachdruck bestand ...« (155). Dieser Satz scheint mir weit über den Surrealismus hinaus von ganz prinzipieller Geltung. »Ausdruck der Persönlichkeit« ist eine Redensart voll naivem Anachronismus, die vor 1750 nicht gesagt werden konnte und nach 1920 nicht mehr mit Sinn gebraucht werden kann. So unterschreibe ich völlig, was Gehlen (190) über das Experimentelle im Geiste unseres Jahrhunderts sagt. Ausgezeichnet, was er über den optischen Concetto und die vorsprachliche Sphäre andeutet. Aber wieder verstehe ich ihn nicht, wenn er eine Selbstschilderung Bernhard Schultzes zitiert (191) und meint, die »eingerechnete Verwertung des Zufalls«, von der der Maler
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spricht, steigere die »Wissenschaftsförmigkeit« der Malerei. Wenn Zufälle neue Zufälle auslösen, bis es >stimmt<, so liegt der Ton doch darauf, daß der einzelne Zufall »auf ganz unvorhergesehene Weise (und nicht errechnet) neue Zufälle schafft«. Auch möchte ich bezweifeln, daß eine solche Äußerung zeigt, »wie die alten emotionalen Bezugsquellen versiegt sind«. Ob nicht Inspiration immer ungefähr so aussah - und nur das Denken darüber so ganz anders tönte? In dieser Richtung möchte ich den kunstsoziologischen Ertrag der Gehlenschen Untersuchung umformulieren, daß in einer ernüchterten Industriewelt eine ernüchterte Denkweise der Einsicht in die wirkliche künstlerische Produktionsweise nähergekommen ist - was gewisse Wechselwirkungen nicht ausschließt, aber weniger eine konstruktive Lenkung der künstlerischen Produktion durch Theorie bedeuten würde, als vielmehr die neue Entsprechung von Bild und Bilderwartung bezeugt. Jedenfalls scheint mir für das Dasein des einzelnen in der modernen Industriegesellschaft bezeichnend, daß er in Zusammenhängen steht und sich in Zusammenhängen weiß, deren zwingende Logik von ihm wie eine Kettenreaktion von Zufällen erfahren wird. Sollte das sich nicht in der Kunst unseres Zeitalters reflektieren? Das aber würde einschließen, daß das Spezifische dieser modernen >Zeit-Bilder< erst ganz heraustritt, wenn man sie - im übrigen Gehlens schönen Erkenntnissen folgend - von dem ihnen aufgedrungenen Ideal der Wissenschaftsförmigkeit befreit und die moderne Malerei -peinture conceptuelle oder nicht - an dem alten, unveralteten Maßstab der Kommentarunbedürftigkeit mißt.
28. Vom Verstummen des Bildes (1965)
Eines steht für das Bildschaffen der Gegenwart fest, daß das Verhältnis von Natur und Kunst in ihm problematisch geworden ist. Die naive Bilderwarturag wird von der Kunst enttäuscht. Was der Inhalt eines Bildes ist, läßt sich nicht sagen, und wir kennen alle die Verlegenheit des Künstlers, der sein Bild mit Worten taufen soll und am Ende zu den abstraktesten Zeichen, den Zahlen, seine Zuflucht nimmt. Das alte klassische Verhältnis von Kunst und Natur, das der Mimesis, besteht so nicht mehr. Nun erinnere ich mich der Aufgabe des Philosophen, wie sie Plato formuliert hat, »auf eines hin zusammenzusehen« und das Gemeinsame des >Eidos< herauszusehen aus der Varietät der Erscheinungen. Und so möchte ich ein >Eidos<, einen Gesichtspunkt, vorschlagen, unter dem das Bildschaffen der Gegenwart sich darstellt und deutet. Ich möchte von der verstummenden Sprache des Bildes sprechen. Verstummen heißt nicht, nichts zu sagen haben. Im Gegenteil: Verstummen ist eine Weise des Redens. Das Wort >stumm< hängt mit dem anderen Wort >stammeln< zusammen, und die ergreifende Not des Stammelns besteht ja wahrlich nicht darin, daß der Stammelnde nichts zu sagen hätte, vielmehr darin, daß er viel, ja zu viel auf einmal sagen möchte und die Worte nicht findet angesichts der drängenden Fülle dessen, was zu sagen wäre. Und wenn wir sagen, daß jemand verstummt, so meinen wir nicht nur, daß er aufhört zu sprechen. Im Verstummen wird uns das zu Sagende nahegerückt, als etwas, für das wir nach neuen Worten auf der Suche sind. Wenn man sich der reichen und farbig-prunkvollen Beredsamkeit erinnert, die aus den klassischen Zeiten der Malerei von den Wänden unserer Museen uns laut und wortreich entgegenschallt, und nun das Bildschaffen der Gegenwart vor sich sieht, hat man in der Tat den Eindruck des Verstummens, und es drängt sich einem die Frage auf, wie es zu diesem Verstummen des modernen Bildes gekommen ist, das uns mit einer eigenen, lautlosen Beredsamkeit überfällt1. Es war doch wohl das Stilleben und - mit ihm fast eines am Anfang - die 1
Auf die Stummheit der modernen Bilder hat A. GEHLEN, Zeit-Bilder (Frankfurt 1960) hingewiesen. Vgl. meine Kritik dieser interessanten Schrift im vorangehenden Beitrag Gegriffene Malerei?<, S. 305ff.
Zur bildenden Kunst
Vom Verstummen des Bildes
Landschaft, womit das Verstummen in der europäischen Malerei begann. Vordem gab es viele heilige oder königliche Inhalte, die als bildwürdig galten, Gestalten und Geschichten, die man kannte. Das griechische Wort fur Bild, >Zoon<, heißt eigentlich >das Lebewesen< und bezeugt dadurch, wie wenig die bloßen Dinge und die bloße menschenleere Erscheinung der Natur ehedem als bildwürdig galten. Aber heute sind es gerade die Stilleben, die uns, wenn wir in eine klassische Galerie treten, besonders modern anmuten. Sie verlangen offenbar nicht die Umsetzung, die Dasein oder Handlung der Menschen oder Götter von uns fordern, wenn sie im Bilde begegnen. Nicht als ob diese nicht auch ehedem Selbstaussage gewesen wären, die unmittelbar verständlich war und verstanden wurde. Aber wenn ein heutiger Künstler ohne solche eigenste Verfremdungen sich dieser Aussageweisen bedienen wollte, so kämen sie einem leicht wie Deklamation vor. Es bedarf neuer künstlerischer Formung gewohnter Motive oder gar wie bei Max Beckmann einer ganzen Welt-Allegorie. Und mit nichts will unsere Gegenwart so wenig zu tun haben als mit Deklamation. Was ist Deklamation? Wir haben ein deutsches Wort dafür, das schon in seiner Wortbildung vielsagend ist. Wir sagen dafür: Aufsagen. Aufsagen aber ist kein Sagen, denn es sucht nicht für das Gemeinte das Wort, sondern es geht von dem auswendig gekonnten Wort aus, dem Wort, das ein anderer oder man selber als ein anderer einst fand, als er etwas meinte. Es wäre nur ein Aufsagen, ein Wiederholen von ehedem gefundenen Worten, wenn sich das Bildschaffen der Gegenwart der klassischen Bildinhalte bedienen wollte. Aber mit dem Stilleben, wie es das bürgerliche Zeitalter in seiner frühen holländischen Prägung vor allem repräsentiert, ist es eine andere Sache. Dort, scheint es, sagt sich auf wortlose Weise die sinnliche Welt selber aus, die auch uns umgibt.
Mallers. Aber das Stilleben hat eine eigene und einzigartige Freiheit im Arrangement seines Sujets, weil die >Gegenstände< der Komposition handliche. Dinge sind, Früchte, Blumen, Gebrauchsgegenstände, allenfalls noch gezeigte Jagdbeute oder dergleichen - lauter der Freiheit unseres Beliebens Anheimgegebenes. Die Freiheit der Bildgestaltung hebt hier gleichsam schon mit dem Inhaltlichen an, und insofern präludiert das Stilleben jener Freiheit moderner Bildkomposition, in der kein letzter Rest von Mimesis mehr ist und in der ein völliges Schweigen herrscht. Und doch, von jenen Anfängen, in denen das stille Leben der Natur und der Dinge bildwürdig wurde, bis zu dem verstummenden Schweigen des heutigen Bildes ist der Weg selber lang genug. Wir wollen ihn kurz entlanggehen. Jene Stilleben Hollands, deren unglaubliche Präsenz uns in den Galerien förmlich überfallt, künden nicht nur von der Entdeckung der korporellen Schönheit der Dinge. Sie lassen einen Hintergrund anklingen, der ι'die Bildwürdigkeit des Dargestellten legitimiert. Man hat es längst beachtet und an Beispielen gezeigt2, wie viele Symbole der Vanitas in diesen hollindischen Stilleben zu finden sind. Da haben wir die Maus, wir haben den Falter, die Fliege, die herabbrennende Kerze, Symbole der Flüchtigkeit des Irdischen. Und es mag sein, daß der puritanische Ernst jener Zeit die Sprache dieser Symbole immer wieder vernahm, wenn er die Pracht des Irdisfchen in diesen Stilleben bewunderte und genoß. Damit man es nur ja recht begreifen sollte, wurde einem wohl gar der Totenschädel im Bilde gezeigt oder ein erbaulicher Vers verzeichnet, der die Eitelkeit aller Dinge ausspricht. Auf einem Bilde de Heems in der Alten Pinakothek in München liest man: » Maer naer d'aldershoenste Blom daer en siet' men niet naer'ovn. «
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Natürlich ist das Stilleben erst dort eine eigene Gattung, wo es das >erzählende< Bild verdrängt und an seine Stelle getreten ist. Überall, wo aus den Stilleben bekannte Motive in dekorativen Zusammenhängen der Raumkunst begegnen, haben wir es nicht wirklich mit >Stilleben< zu tun, das heißt mit dem Verstummen des Bildes. Ohne dadurch definiert zu sein, ist daher das >Stilleben< in aller Regel ein bewegliches Bild, das hier oder dort aufgehängt sein kann: Überall will es auf sich versammeln, als hätte es vieles zu sagen. Und es hat auch vieles zu sagen. Es ist ja keineswegs ein zufälliger Ausschnitt dinglicher Wirklichkeit. Es gibt vielmehr eine (noch nicht geschriebene) Ikonographie des Stillebens. Im Unterschied zu allen sonstigen Bildinhalten gehört zum Stilleben das Arrangement. Natürlich soll das nicht heißen, der Künstler male sonst eine vorgefundene Wirklichkeit einfach ab. Das gilt so wenig von der Landschaft oder dem Porträt wie von den Bildern religiösen oder historischen Inhalts. Immer ist >Komposition< ein Tun des
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Wichtiger aber ist, und das ist die erste Sprache des Verstummens, die hier laut wird, daß auch ohne alle diese Symbole und ihr explizites Verständnis das Dargestellte selbst in seiner sinnlichen Fülle seine eigene Flüchtigkeit aussagt. Zur wahren Ikonographie des Stillebens gehört, meine ich, über all das symbolisch Deutbare hinaus die Bedeutsamkeit der Selbstaussage, die im bloßen Anblick, in der Erscheinung der Dinge als solcher, liegt. So begegnet als ein konstantes Motiv in der Ikonographie des Stillebens die halbgeschälte Zitrone, deren Schale herabbaumelt. Sicher kam mehreres zusammen, was immer wieder diese Frucht als konstantes Bildmotiv motiviert: ihre relative Seltenheit, die Dialektik von ungenießbarer Schale und aromatischer Frucht - wie bei den aufgeknackten Nüssen-, die herbe Säure, die reizt und abweist zugleich. Gerade an solch immer gleichen Motiven wurde die Hinfälligkeit, das Momentane und eben damit das Vergängliche, ins Bild gebannt. Es ist eine offene Frage, wie weit das >Stüleben< nicht so 2
So etwa EWALD M. VETTER, Die Maus auf dem Gebetbuch. In: Ruperto-Carola 36 (1964), S. 99-108.
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sehr holländischer als italienischer Herkunft ist. Und wenn das letztere wahr ist, dann wird damit ein Zusammenhang mit der antiken Dekorationsmalerei (und Mosaikkunst) greifbar, deren Reste damals weit reicher an den Wänden der verfallenden Gebäude des Altertums zu sehen waren als heute, wo das neu ausgegrabene Pompeji das bekannteste Dokument darstellt3. Insbesondere zwei Momente aber sind es, die diesem ikonographischen Zusammenhang eine neue Akzentuierung verleihen. Zum einen sind die stillebenähnlichen Dekorationsbilder der Antike, die wir kennen, gern auf den Trompe-l'œil-EfTekt gestellt. Ihre Einfügung in die Wand läßt sie einen nischenähnlichen Anblick gewähren. Davon finden wir in den >Stilleben< nichts -ja, die Künstlichkeit des Arrangements weist dergleichen Illusionseffekte geradezu ab. Und zweitens: Wenn wir neben Blumen und Früchten gelegentlich auch Tieren wie Schnecken und Schlangen, Krebsen und Vögeln auf antiken Kompositionen begegnen — und gerade das mag auf die Maler der frühen Neuzeit anregend gewirkt haben —, so eignet diesen Arrangements aus Pflanze und Tier anscheinend etwas rein Dekoratives, Festes, fast heraldisch Gefugtes. Dagegen hat die Eidechse am Fuß des Blumenarrangements, das Jacobo da Udine gemalt hat, oder manche jener Falter und Fliegen, Eidechsen und Mäuschen auf holländischen Stilleben eine ganz andere Funktion. Das Huschende, Flüchtige, Gaukelnde leiht dem, um das es als stilles Leben webt, selbst etwas von seinem stillen und flüchtigen Leben. Es mag auch bemerkt werden, daß das italienische Stilleben unter den Früchten nicht die Zitrone auszeichnet, sondern den Granatapfel, dessen Symbolsinn ein ähnliches Widerspiel von lockender Üppigkeit und Abweisung zeigt wie die Zitrone. Es ist wahr, daß der religiöse Hintergrund des Stillebens in der Folgezeit langsam verblaßt und das Dekorative, das Üppige, das Genußverheißende und verlockend Arrangierte überwiegt. Aber schließlich wird am Ende eines langen Weges von seltener typologischer Beharrlichkeit (bis ins späte 19. Jahrhundert hinein ist die Zitronenschale fast obligatorisch) im Zusammenhang der Revolution, welche die moderne Malerei begründet hat, das Stilleben nochmals sprechend - und wieder wird es hintergründig. Man erinnere sich etwa der Früchte-Stilleben Cézannes, in denen nicht mehr die greifbaren Dinge in einem Raum arrangiert sind, in den hineinzugreifen möglich wäre - sie sind wie in die Fläche gebannt, in der ihr eigener Raum ist. Was von nun an bildwürdiger Inhalt heißen kann, sind nicht mehr die Dinge, nicht die Einheit des einzelnen Dings und nicht die Einheit des Arrangements. Van Goghs Sonnenblumen gehen so gut wie ein modernes 3
Vgl. die lehrreichen Darlegungen von CHARLES STERLING, La nature morte de l'Antiquité à nos jours. Paris 1959.
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Porträt in die Flächengliederung ein und leihen durch ihre gegenständliche Bedeutung dem Bilde kaum noch etwas zu seinem Sein. Ist es nun nicht bezeichnend, daß man, ähnlich wie an jener halbgeschälten Zitrone das holländische Stilleben, so das moderne Stilleben an einem Lieblingsbildinhalt - oder wie soll man das nennen, das nicht mehr Inhalt und doch da ist? — erkennen kann? Ich meine die Gitarre, wie sie bei Picasso, bei Braque, bei Juan Gris u. a. zum ersten bevorzugten Opfer jener Formzersplitterung gemacht worden ist, die man Kubismus nannte. Ich möchte nicht die Theorien untersuchen, die die Maler selbst aufgestellt haben oder sich aufreden ließen, um ihre Malweise zu begründen. Aber sollte nicht die Bevorzugung dieses Instrumentes, dessen markante Form sich wie in vibrierende Facetten auseinanderwirft, etwas damit zu tun haben, daß es ein Instrument der Musik ist? Selbst nicht zum Anschauen geschaffen, überspült von den Fluten der Klänge, die aus ihm aufsteigen und sich manchmal in Girlanden tanzender Noten auf der Bildfläche niederschlagen, beschwört es, so scheint mir, der neuen Malerei ihr Vorbild, die >absolute< Musik, diejenige Kunstgattung, die schon seit Jahrhunderten allen sagbaren Inhalt zu verlassen gewagt und damit jeden außermusikalischen Einheitsbezug aufgegeben hatte. Mag sein, daß andere Faktoren, etwa das Tempo des modernen Lebens, die Zersplitterung der konstanten Dingformen suggeriert haben. Das frühe Bild von Malewitsch, >Dame in der Großstadt<, stellt etwa die Veränderung unserer Lebenswelt im Bilde selbst dar, die das ruhende und bleibende Ding verdrängen. Jedenfalls - es ist etwas Ungeheures geschehen, als sich im Anfang unseres Jahrhunderts die Einheit der inhaltlichen Bilderwartung in eine unfaßbare Mannigfaltigkeit zu zerstreuen und zu zersplittern begann. Was bleibt, sind Beziehungen von Formen und Farben ohne gegenständlichen Träger, eine Art Musik der Augen, die uns aus der verstummenden Sprache der modernen Bilder entgegentönt. Und so fragen wir denn: Was macht ihre kompositorische Einheit aus? Sicherlich nicht mehr die Einheit des vielsagenden Bildinhalts, nicht mehr die stumme Einheit aus korporellen Dingen. Beides scheint entmachtet. Welche Einheit dann ist die Einheit des Bildes? Es ist ja nicht nur die Einheit des Gegenstandes, die dem modernen Bild fehlt, so daß alle Vorstellung von der Einheit des Dargestellten, des Mythos, der Fabel, die darin erzählt wird, oder der erkennbaren Dinglichkeit, die ehedem das Bild zur Mimesis machte, verschwunden ist. Es ist auch nicht mehr im selben Sinne eine Einheit des Anblicks, wie im Zeitalter der Zentralperspektive, wo das Bild so etwas wie einen Blick in einen Innenraum öffnete. Da konnte auch nach dem Zerfall der ikonographischen Tradition der Jahrhunderte - und das charakterisiert doch wohl weithin die Malerei nach dem Traditionsbruch des 19. Jahrhunderts - der einheitliche Augenpunkt selbst den zufälligen Ausschnitt und Ausblick zusammenhalten. Der Rahmen ist es, der diesem Sinn von Bild
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spezifisch zukommt. Er halt zusammen und grenzt ab, indem er in die Tiefe des so Abgegrenzten hineinzugehen einlädt. Es gehört zu den großen Merkwürdigkeiten des geschichtlichen Lebens, daß sich das Neue oft erst mühsam und allmählich durch die verkrusteten Schalen des Alten hindurchstoßen muß. Selbst die innere Flächenkraft Cézannescher Bilder hat den verfallenden Goldrahmen des Barock noch nicht zu zersprengen gewußt. Sicher aber ist, daß das heutige Bild nicht durch den Rahmen zusammengehalten wird, sondern, wo es einen hat, seinen Rahmen von sich aus zusammenhält. Von welcher Einheit her? Durch welche Kraft? Es ist auch nicht mehr die Einheit des Ausdrucks. Gewiß war das ein neues Einheitsprinzip, das die Bildgestaltung der Neuzeit zu beherrschen begann, seit die Nachahmung, die Wiederholung fester und vorgegebener Bildinhalte, zur leeren Deklamation wurde. Die Einheit des seelischen Ausdrucks, nicht so sehr die des Dargestellten als die des Darstellenden, die Handschrift des Pinsels, die Ausdruckskraft dieser sinnlichsten aller Schriften, mochte einem Zeitalter der Innerlichkeit als die angemessene Selbstdarstellung erscheinen, weil so auch die unbewußten Antworten auf das Rätsel des Daseins ins Bild drängten. Heute, inmitten der Maschinenkultur des industriellen Zeitalters, will die Einheit des Erlebnisses und seiner spontanen Selbstaussage als Einheitsprinzip des bildnerischen Schaffens nicht mehr einleuchten. Es ist wirklich so, daß jener Bildbegriff des klassischen Museums zu eng geworden ist. Das Schaffen der Künstler hat den Rahmen gesprengt. Die Gliederung der Fläche, die das Bild ausmacht, weist über sich hinaus in weitere Zusammenhänge. Das alte Malerschimpfwort, das von einem Bilde sagt, es sei dekorativ, verliert langsam seine Selbstverständlichkeit. Wie in älteren Zeiten die Anlage der Bauwerke, der Kirchen und Plätze, der Treppenhäuser, der Innenräume selber Bildforderungen stellte, die der Maler zu erfüllen hatte, so beginnt heute die Bildforderung des Vorgegebenen neu ins Bewußtsein zu treten. Wenn wir das heutige Kunstschaffen daraufhin anschauen, bestätigt es sich: Die Auftragskunst ist in ihre alte Würde wiedereingesetzt. Das hat nicht nur ökonomischeGründe. Auftragskunst meintj a nicht primär (wenn auch leider oft sekundär), daß der Schaffende der Willkür des Auftraggebers sich widerwillig beugen muß - ihr wahres Wesen und ihre echte Würde besteht in der Vorgegebenheit der Aufgabe, die in niemandes Willkür steht. So hat zweifellos die moderne Baukunst beute eine Art führender Stellung innerhalb des Kunstschaffens der Gegenwart erhalten, weil sie Aufgaben stellt. Sie zieht durch die Absteckung der Maße und der Räume auch die bildenden Künste in ihren Zusammenhang hinein. Das Bildschaffen der Gegenwart kann den Anspruch nicht mehr ganz von sich weisen, daß das Werk nicht nur auf sich ziehen soll, um zum Verweilen einzuladen, sondern zugleich in einen Lebenszusammenhang hineinweist, dem es zugehört und den es mitgestaltet.
So fragen wir erneut: Was macht die Einheit des Bildes aus? Was erfahren wir am Bild davon, wie es in dem Lebenszusammenhang begegnet, in dem wir stehen? Es sind gewaltige Umgestaltungen der Lebenswelt, die uns heute umgeben. Das Gesetz der Zahl wird in allem sichtar. Seine Erscheinungsformen sind vor allem die Summe und die Serie, das Zusammengezählte und das sich Aneinanderreihende. Durch sie markiert sich das Zellen- und Wabenhafte des modernen Großbaus, aber ebenso das Exakte und Pünktliche der modernen Arbeitsweise, das geregelte Funktionieren des Verkehrs und der Verwaltung. Was die Summe und die Reihe auszeichnet, ist die Vertauschbarkeit ihrer Glieder. So gehört es int ganzen zu der Lebensordnung, in der wir stehen, daß das einzelne Glied ersetzbar und austauschbar ist. »Das Maschinenteil will jetzt gelobt sein«: Vorplanung, Entwurf, Montage, Fertigung, Lieferung, Verkauf, und alles durchwaltet von Werbung, die jedes Fertiggewordene und dem Konsum Zugefuhrte so schnell wie möglich zu überholen und durch Neues zu verdrängen trachtet. Was kann in dieser Welt des Austauschbaren das Einzigartige des Bildes noch sein? Oder ist es so, daß gerade in dieser Welt der Reihung und der Summe die Einheit des Bildes einen eigenen neuen Akzent gewinnt? Nicht mehr umgeben von der Einheit beständiger und vertrauter Dinge, angesichts der steigenden Unscheinbarkeit, die dem menschlichen Gesicht und der menschlichen Person in der Industriewelt eignet, fügen sich Form und Farbe des Bildes zu einer spannungsvollen Einheit, die von der Mitte aus organisiert erscheint. Aus welcher Kraft? Was gibt dem Gebilde seinen Halt? Es ist etwas Experimentelles in das Bildschaffen eingegangen, das gewiß qualitativ anders ist als die ungezählten Versuche, die von jeher den Maler zum Meister machten. Rationelle Konstruktion, wie sie unser Leben beherrscht, will sich auch in der konstruktiven Arbeit des bildenden Künstlers ihren Raum schaffen, und gerade darin liegt, daß sein Schaffen etwas vom Experiment hat. Es gleicht der Versuchsreihe, die durch die Künstlichkeit der gestellten Frage neue Daten gewinnt und aus ihnen eine Antwort sucht. So dringt das Summenhafte und Serienhafte gewiß auch und nicht nur den Titeln zufolge - in das Bildschaffen der Gegenwart ein. Und doch, was sich planen und konstruieren und behebig wiederholen läßt — plötzlich tritt es in die alten Ränge des Einmaligen und Gelungenen. Der Schaffende mag oft unsicher sein, was unter seinen Versuchen >gilt<. Er mag sogar manchmal zweifeln, wann sein Werk fertig ist. Etwas von Willkür wird der Abbruch des Arbeitsvorganges immer an sich haben, und der endgültige am meisten. Gleichwohl scheint es einen Maßstab zu geben, an dem sich das Fertige mißt. Wenn die Dichtigkeit des Gefüges nicht mehr zunimmt, sondern abnimmt, wird die Weiterarbeit unmög-
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lieh. Das Gebilde hat sich entzogen, freigesetzt, ist da, unabhängig und aus eigenem Recht, auch gegen den Willen (und gar die Selbstinterpretation) seines Schöpfers4. Am Ende erfüllt sich damit das alte Verhältnis von Natur und Kunst, das das Kunstschaffen der Jahrtausende durch den Gedanken der Mimesis beherrscht hat, mit einem neuen Sinn. Gewiß ist nicht mehr die Natur im Blick, auf die die Kunst sieht, um sie neu zu gebären. Sie ist nichts Musterhaftes und Vorbildliches, das es nachzugestalten gilt — und doch, auf seinen eigenen, eigenwilligen Wegen hat das Kunstwerk Natur. Das in sich Geschlossene, um eine Mitte Gewachsene des Bildes hat etwas Gesetzliches und Zwingendes. Man denkt an den Kristall. Auch er ist nichts als Natur, in der reinen Gesetzlichkeit seines geometrischen Aufbaus, aber inmitten der Fülle des amorphen und zerpulverten Seins begegnet er als das Seltene, das Harte, das Funkelnde. Das moderne Bild hat im gleichen Sinne etwas von Natur. Es will keine Innerlichkeit ausdrücken. Es fordert keine Einfühlung in die Gemütsverfassung des Künstlers. Es ist in sich notwendig und wie von jeher da, wie der Kristall: Falten, die das Sein wirft, Verwitterungen, Runzeln und Runen, in denen Zeit zur Dauer wird. Abstrakt? Konkret? Gegenständlich? Gegenstandslos? Ein Unterpfand von Ordnung. Der moderne Künstler wird sich schwerlich verstehen, wenn er auf die Frage Antwort sucht, was er eigentlich darstellt. Die Selbstinterpretation der Kunst ist immer ein sekundäres Phänomen. Paul Klee, der es wissen mußte, sollte man folgen, wenn er sich gegen jede »Theorie an sich« wehrt, wenn er den Ton auf die Werke legt, »und zwar auf die schon geborenen, und nicht einmal auf die nächsten zukünftigen« (Tagebücher Nr. 961). Der moderne Künstler ist weit weniger Schöpfer als Entdecker von Ungesehenem, ja Erfinder von noch nie Dagewesenem, das wie durch ihn hindurch einrückt in die Wirklichkeit des Seins. Aber merkwürdig, das Maß, unter das er gestellt ist, scheint kein anderes als das, was von jeher dem Künstler gesetzt ist. Es findet sich ausgesprochen bei Aristoteles - denn was steht nicht bei Aristoteles, was richtig ist? - : ein rechtes Werk ist das, wo nichts fehlt und nichts zuviel ist, wo nichts hinzugesetzt werden kann und nichts weggenommen werden darf. Ein einfaches, ein schweres Maß.
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In meinen Studien zu Goethes unvollendeten Dichtungen (jetzt in Ges. Werke Bd. 9, S. 80-111) bin ich an emem Beispiel dieser Frage nachgegangen.
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Das Mißtrauen des heutigen Bewußtseins gegenüber jeder Form hergebrachter Verkleidung ist groß. Wie problematisch sind heute religiöse Bilder, wie problematisch ist das Porträt, wie problematisch ist selbst die uns vertraute, von Menschen belebte und geformte Landschaft, wenn sie Gegenstand der Malerei wird. Wieviel mehr noch gilt das für die aus der Ferne der Zeiten, aus einer fremden Kultur, aus einer uns verschlossenen religiösen Welt kommende Sprache, die aus der humanistischen Tradition zu uns spricht. Wenn eine solche bildungsbeladene Symbolwelt von einem modernen Maler aufgenommen wird, fragt man sich, ob hier nicht etwas verschleiert wird, was eigentlich in seiner ganzen Härte und Schärfe uns bestimmen sollte und in Wahrheit auch bestimmt. Ist es doch die Symbolnot, ja der Symbolverzicht, der die gegenwärtige Kunst in allen ihren Bereichen bestimmt - und das ganz gewiß nicht aus Willkür, nicht einfach nur einer Mode oder irgendwelchen Manipulationen zufolge, sondern weil eine Kunst, die uns heute etwas zu sagen hat, der gegenwärtigen Stunde gehorchen muß. Symbol heißt etwas, woran man wiedererkennt. Und in der Tat ist für die Stunde, in der wir stehen, Symbolnot ein Charakteristikum. Sie entspricht der wachsenden Unkenntlichkeit und Unpersönlichkeit der Welt, in der wir leben. Wiedererkennung ist das Wesen aller Symbolsprache, und Kunst, wie immer sie aussehen mag, kann nie etwas anderes als Sprache der Wiedererkennung sein. Auch die Kunst von heute, die uns so viele quälende Rätsel aufgibt, wenn wir in ihr stummes Antlitz blicken, bleibt eine Weise der Wiedtererkennung. In ihr begegnen wir der Unkenntlichkeit selber, die uns umgibt. Es ist eine Chiffrenschrift, die sie schreibt, etwas, was man lesen möchte, weil sich in ihm ein Sinn aussagt. Aber es ist eine Schrift aus undeutbaren, aus unentzifferbaren Zeichen. In der Malerei kennen wir diese Zeichen als die Elemente der Fläche: Punkt, Linie, Flächenstück, Farbe—und was in diesen Chiffren geschrieben steht, das ist auf eine nicht sagbare, nicht greifbare, nicht mit anderen Erfahrungen verbindbare Weise dennoch so, daß wir sagen: die Konstruktion steht, die Bewegung ist eingefangen, eine Lösung ist gefunden. So ist Sinnbezug in allem, was uns als Gestaltung der
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modernen Kunst umgibt, aber Sinnbezug ohne Schlüssel. Daß so etwas möglich ist, lehrt uns seit Jahrhunderten die vielleicht sublimste aller Künste, die Musik. Jede Komposition der >absoluten Musik< hat diese Struktur, Sinnbezug ohne Schlüssel zu sein. Auch die »absolute Malerei< unserer Tage hat den Raum solcher Sinnbezüge nicht verlassen, in denen wir immer schon leben. Um so mehr muß man fragen: Kann die Beschwörung mythischer Inhalte aus der ehrwürdig vertrauten und doch unwirklich fernen griechischen Welt, wie sie in Epos und Drama gestaltet ist, heute noch künstlerisch glaubhaft werden? Sind ihre Symbole geeignet, Chiffren der Unkenntlichkeit zu werden? Daß es nicht mit den Formen des Kenntlichen, nicht mit den Symbolen, die uns vertraut sind, getan sein kann, ist jedem eine Gewißheit, der auf die Entwicklung der letzten zwei Jahrhunderte zurückblickt und der sich dabei eingestehen muß, daß seit dem Barock und seiner christlichhumanistischen Selbstdarstellung und Selbsterhöhung keine einheitliche Symbolik mehr es vermocht hat, echte Verbindlichkeit zu gewinnen. Ich rede gar nicht von der Mattigkeit derer, die im Zeitalter des Klassizismus bildnerische Aussagen versuchten. Ich erinnere nur daran, wie es einem geht, wenn man sich, von der kräftigen Farbigkeit und dem starken Abstraktionswillen des gegenwärtigen Jahrhunderts herkommend, vor Bilder etwa eines Meisters wie Feuerbach oder vor Arbeiten der Nazarener gestellt sieht. Angesichts solcher Erfahrung fragt man sich, ob ein heutiger Künstler aus der mythisch-humanistischen Überlieferung überhaupt noch etwas herausholen kann, das Symbol unserer eigenen Unkenntlichkeit zu werden vermöchte. Gewiß, es ist ein verwandeltes Griechenbild, das unsere Zeit hegt, nicht mehr Goethes edle Menschlichkeit, wie er sie in Iphigenie zur Darstellung bringt und den barbarischen Sitten der Thraker entgegenstellt. Dank Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche ist es heute im allgemeinen Bewußtsein, daß die Griechen nicht waren, was der Klassizismus mit jenem Vorbild edler Menschlichkeit vor uns aufgerichtet hatte. Heute gibt es der humanistischen Überlieferung gerade ihre eigene Schärfe, daß wir ständig den Hintergrund spüren, auf dem sich die apollinische Heiterkeit griechischer Kunst erhebt. Auch die Wiederentdeckung Friedrich Hölderlins in unserem Jahrhundert, die eigentlich seine erste Entdeckung war, wurde nicht zuletzt deshalb ein so großes geistiges Ereignis, weil sein Werk dies erneuerte, tiefer gesehene Bild des Griechentums bestätigt, in dem die Titanen als eine stete, dunkel gärende, untergründige Gegenwart mit den gestalteten Formen olympischer Helligkeit und Weltherrlichkeit zusammengesehen sind1. Es ist Verwandlung der humanistischen Überlieferung, die sie an jener
Unkenntlichkeit teilhaben läßt, die uns Heutigen aus allem entgegenblickt. Damit aber gibt sie uns ihrerseits das gleiche Rätsel des Menschseins auf, wie wir uns kennen und unkenntlich sind — in jener Spannung von Natur und Geist, von Tierheit und Gottheit, die das Menschsein ausmacht: ein Zwiespältiges, das sich eint und sich nie voneinander trennen läßt, das auf rätselhafte Weise unsere eigensten, persönlichsten seelischen und geistigen Verhaltensweisen durchströmt wie ein großer Naturstrom und das Unbewußte unseres naturhaften Seins mit dem bewußten, ergriffenen und gewollten Sein harmonisch-disharmonisch zusammenklingen läßt. Das, meine ich, ist es, was die griechische Religion, wie sie aus Epos und Drama zu uns spricht, immer neu bedeutsam sein läßt. Sie ist ein erster Lösungsversuch des Rätsels, das "wir uns sind. In Homer und Hesiod ist uns das einzigartig faßbar - Homer mit jener merkwürdig abenteuerlichen und doch immer wieder menschlichen, nahen Erzählung vom Trojanischen Krieg und der Heimkehr der Helden, und Hesiod mit seiner Göttergeschichte von ganz anderer, gewaltiger Fremdheit. Furchtbar, was da erzählt wird aus den früheren Generationen der Götter, bevor Zeus die Herrschaft auf dem Olymp antrat—und nun Weisheit und Recht Götter und Menschen regieren. Die Ferne der Sage, Troja, die Heimkehr, Unheil, das über die Heimkehrer und ihre Geschlechter kommt, wird durch Homer zur beständig strömenden Quelle mythischen Sagens und Singens. Tritt sie bei ihm noch in der Distanz des Erzählers auf, der in seinem riesigen Epos von dem Handeln der Götter am Menschen und von dem Leiden des Menschen an den Göttern erzählt, so ist das griechische Theater die einzigartige Verwandlung dieser ganzen Sagen- und Fabelwelt in die Unmittelbarkeit kultischer Gegenwart. Beide, Epos und Drama der Griechen, so fern sie uns auch scheinen, haben Gegenwart, und so sagen sie uns immer noch etwas von uns, wenn sie von den Göttern und den Menschen, den heroischen Stellvertretern aller heute Lebenden, Kunde geben. Wir verdanken insbesondere dem Philologen Walter F. Otto die Einsicht, daß die griechischen Götter Aspekte der Welt selbst sind und deshalb fur uns erfahrbar bleiben, wenn auch nicht in ihrem ursprünglichen, religiös-verbindlichen und kultischen Sinne. Sie behalten Wirklichkeit. Auch uns bestürzt die jähe Veränderung des Aspektes der Dinge: Etwas geschieht, und auf emmal ist alles anders. Beschattung, Düsternis, Wahnsinn, Unglück, Krankheit, Tod, Liebe, Haß, Enthusiasmus, Prahlerei, Eifersucht, das ganze große Panoptikum menschlicher Leiden und Leidenschaften, das die Griechen als die Wirklichkeit göttlicher Gestaltungen erfuhren, ist auch uns nichts Unbekanntes. Es ist die uns allen bekannte Grunderfahrung, daß etwas über den Menschen kommt und wie es über den Menschen kommt. Das ist das, was aus dem griechischen Mythos zu uns spricht. Man mag sich fragen: Ist denn solches Überwältigtwerden alles? Sind wir
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Vgl. die Hölderlin-Arbeiten und die Goethe-Studien in Ges. Werke Bd. 9.
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nicht vor allem Handelnde, gibt es nicht den Konflikt, die Entscheidung, die Verfehlung, die Schuld? Und ist das alles nicht auch im Epos und Drama der Griechen da? Gewiß, aber es gehört doch wohl zu den fruchtbarsten Einsichten der neueren Forschung auf dem Gebiete der Altertumswissenschaften, daß wir >das Handeln im Drama< und erst recht das Handeln im Epos heute mit ganz anderen Augen ansehen — und, was das Erstaunliche ist, nicht mit befremdeten Augen. Wenn wir bei Homer Schilderungen lesen, wonach die Götter es sind, welche den Menschen die Entschlüsse ins Herz geben, und daneben andere, subjektivere, reflektiertere, bewußtere Schilderungen finden, wonach der Held sich selbst an die Brust schlägt und unter Qualen und Zweifehl seinen Entschluß faßt, so denken wir heute nicht mehr an verschiedene Schichten des Epos, etwa an ältere und jüngere Verfasser. Wir wissen heute aus genauerer Beobachtung - und das heißt eben auch: aus genauerer Selbstbeobachtung - , daß Homer recht hat, beides zu sagen, im selben Satz. Wenn etwa einer sich entschließt und Athene gibt es ihm ein, so heißt das nicht, daß da zweierlei behauptet wird, von dem nur eines wahr sein kann: der Held entschließt sich - oder Athene gibt es ihm ein. In Wahrheit ist es dasselbe Geschehen, nur unter anderem Aspekt. Was so die Philologen - ich nenne vor allem Bruno Snell und Albin Lesky2 - am antiken Epos und selbst noch am Drama haben zeigen können, lehrt, daß >das Handeln< eine höchst einseitige Selbstauffassung des modernen Menschen ist. Daß wir das heute deutlicher sehen, verdanken wir gewiß nicht in erster Linie einem Fortschritt der Wissenschaft, sondern eigenen Erfahrungen, die uns zwangen, gewisse Illusionen über das Menschsein zu begraben und dem Rätsel Mensch ernster und zweifelnder ins Gesicht zu blicken. Die Griechen haben ihr Geschick religiös verstanden. Was den Menschen überkommt, das sind ihnen miteinander streitende Götter. Hier ist nicht von Schuld und Sühne die Rede, sondern von Schicksal, ja von Opfer. Der tragische Held ist stellvertretend wie ein Opfer. Er ist Opfer. Was für eine großartige Weisheit liegt im Gedanken des Opfers, was für eine Partizipation, was für eine Niederlegung der Grenzen von Ich und Du und Wir, was für eine eigentümliche Vereinigung aller, in der unser endliches Geschick transzendiert wird! Das alles, so sehr es der griechischen Welt eigen ist, erscheint uns gleichwohl nicht als ein fremdes, von uns durch Abgründe der Zeiten getrenntes, auf die andere Seite gebrachtes Moment des Daseins, sondern es ist das weithin Reichende unseres eigenen Menschseins, die Vielschichtigkeit dieses unseres Seins, das hier auf griechische Weise da ist. Wenn ich die Sprache der Philosophie einen Augenblick sprechen darf, so kann ich mich hier durch Hegels Gegensatz von Substanz und Subjekt 2
Vgl. die Arbeiten von BRUNO SNELL, und zuletzt ALBIN LESKY, Göttliche und
menschliche Motivation im homerischen Epos (SB d. Heid. Akad. d. W. 1961, Abh. 4).
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verdeutlichen. Substanz meint—bei ihm und hier - nicht etwa jene Kategorie der griechischen Naturerkenntnis, die wir durch die Metaphysik der Jahrtausende gehen sehen, sondern es ist ein Wort, das wir alle im hegelschen Sinne zu brauchen gewöhnt sind, wenn wir etwa von einem substanziellen Geist sprechen oder wenn wir von jemandem sagen, er sei zwar ein sehr gescheiter Mann, aber er habe keine Substanz. Substanz heißt hier jenes Tragende, nicht Hervorkommende, nicht in die Helle des reflexiven Bewußtseins Gehobene, nie sich voll Aussagende, das dennoch unentbehrlich ist, damit die Helle, die Bewußtheit, die Äußerung, die Mitteilung, das Wort, das trifft, sein können. Substanz ist der »Geist, der uns verbinden mag«. Rilkes Wendung, die ich zitiere, deutet an, daß Geist mehr ist, als jeder einzelne weiß und von sich weiß. Hegel hat die Kategorie der Substanz aufgerufen, um zu begreifen, was der Geist eines Volkes ist - oder der Geist der Zeit oder der Geist einer Epoche - , nämlich ausgebreitete Wirklichkeit, die alle trägt und in keinem einzelnen bewußt und adäquat gewußt da ist. Wenn die griechische Religion im Menschen mehr den vom Handeln der Götter Entschiedenen als den sich selber Entscheidenden sieht, wird sie eben dieser Wahrheit gerecht, daß wir immer sehr viel mehr und anderes sind, als wir von uns wissen, und daß dies, was uns und unser Wissen so weit übertrifft, gerade unser eigentliches Sein ist. Wie steht nun die heutige Kunst vor dieser noch immer gültigen Wahrheit und ihrer griechischen Erscheinungsform? Sehen wir von der Dichtung ab und ihren Möglichkeiten, im verklingenden Sagen etwas vor uns hinzustellen, so daß es mit der Eindringlichkeit einer echten Gegenwart für uns da ist und uns ergreift. Wie sich das Einst und Jetzt ineinander spiegeln, so daß vor allem die antike Tragödie zu immer neuer dichterischer Umsetzung erwacht, wäre ein Thema für sich. Die bildende Kunst kennt solches Verschwinden des Wortes und seine Auferstehung im Sprachstoff der Gegenwart nicht. Sie muß im Sichtbaren bleiben, sie muß als Sichtbares bleiben und das in einer Welt, die sich unter den Hämmern der modernen Arbeit immer mehr ins Gesichtslose hinein verändert, in die Abstraktion, die Konstruktion, die Nivellierung, die Konformität. Wie soll die menschengestaltige Kunstreligion der Griechen im heutigen Bildschaffen wiederkehren können? Gewiß nicht einfach als Wiedererkennung von Bekanntem und am allerwenigsten als Wiedererkennung wohlbekannter Gestalten, wie etwa Feuerbach Iphigenie malte, »das Land der Griechen mit der Seele suchend«. Was uns allen das Bekannte ist, das ist vielmehr ein Unkenntliches, in dem nur hin und wieder eine Sinnspur blitzhaft aufleuchtet. Wie kann sich das noch in Menschengestalt aussagen? Ich möchte meinen, in der Sprache der Gebärde. In der Gebärde ist das, was sie ausdrückt, wie wir zu sagen pflegen, da. Gebärden sind etwas völlig Leibliches — und sie sind etwas völlig Seelisches. Da gibt es nicht ein Inneres,
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das sich von der Gebärde unterscheidet, sich in ihr verrät. Was die Gebärde als Gebärde sagt, ist ganz ihr eigenes Sein. Jede Gebärde ist daher auf eine rätselhafte Weise zugleich verschlossen. So viel sie verrät, so viel behält sie als ihr Geheimnis. Denn es ist Sein von Sinn, das in der Gebärde aufleuchtet, und nicht Wissen von Sinn. Sie ist, hegelisch gesprochen, substanziell, nicht subjektiv. Jede Gebärde ist menschlich, aber nicht jede ist ausschließlich die Gebärde von Menschen -ja, keine einzige ist bloßer Ausdruck eines einzelnen Menschen. Sie spiegelt, wie die Sprache, immer eine Welt des Sinnes, der sie zugehört. Auch sind es nie menschliche Gebärden allein, die diese Welt lesbar machen und die ein Maler herauszuholen vermag. Das sind Überlegungen, die uns zu den Bildern aus der Mythologie der Griechen fuhren, die wir Werner Scholz verdanken. Da ist beispielsweise ein Bild, das drei Schiffe darstellt, drei Segelschiffe im Stile des Urgedankens eines Segelschiffes, die aber auch ungefähr unserer Vorstellung von antiken oder mediterranen Segelschiffen entsprechen: ein rotes Segel, ein grünes Segel und ein mehr graues. Sie liegen hintereinander, wie gebaut. Woran wir bei diesem Anblick denken, ob an die Heimfahrt der Griechen von Troja, ihre immer wieder vor der Niederwerfung Trojas beinahe angetretene oder ihre wirkliche und so unheilvoll verlaufene Heimfahrt nach der Zerstörung Trojas, oder ob wir all das Griechische nicht im Augen haben -jedenfalls wird hier nichts abgebildet, was in einer mythischen oder wirklichen Zeit einmal geschehen ist. Vielmehr ist es das Ungewisse der Fahrt, das zweideutige Geschick, das auf jeden wartet, der auf diesen Schiffen - welcher Heimat wohl?- zufahrt. Es ist die Gebärde des Lebensschicksals selbst, was in diesen Schiffen da ist. Oder Landschaften - was sind bei Werner Scholz Landschaften? Die KüsteT die wie die brechenden Augen der See auf uns blickt, die Ruine, welche die Anklage der Vergänglichkeit wie Krallenarme emporreckt, ja selbst die Blumen, Fische, Eulen, Schmetterlinge - all das sind Gebärden3. Freilich, es ist eine sehr besondere Art von Gebärde. Es ist die stumme Sprache der Heraldik, die hier gesprochen wird, jene Wappensprache, in der sich wortlos die Zueinandergehörigen erkennen. Und endlich die menschlichen Gebärden. Sie sind nicht Gebärden von einzelnen Menschen innerhalb einer im Bilde dargestellten Umwelt, sondern Bildgebärden selber. Nicht nur hie und da erkennbare — nicht immer ganz leicht erkennbare - Umrisse einer menschlichen Figur, die eine Gebärde macht oder ist - vielmehr ist auch das, wogegen sie sich abhebt, das, worin sie verwebt ist, nach den Gesetzen vori Fläche und Farbe, nicht minder selbst Gebärde. Da gibt es zum Beispiel eine Antigone, die eingemauert dem Hungertode entgegensinkt, nachdem sie das Gesetz der Unteren über das Gesetz des Staates gestellt hat. Vgl. unter anderem mein Buch über Werner Scholz (Reddinghausen 1968).
Büd und Gebärde
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Diese Antigone ist nicht Darstellung einer griechischen Sagengestalt, die sich gegen ihren Hintergrund abhebt. Sie ist die Gebärde des einwilligenden Sinkens und sonst nichts, und mit ihr sinken die Felsen, die sie einschließen. Es ist eine einzige Gebärde, die Mensch und Welt ineinander webt. Oder Penthesilea, die Gebärde der Reiterin, die in voller Fahrt zu Rosse dahinrauscht, gejagt und jagend, bis der Pfeil sie trifft und sie stürzt. Ich brauche die Urgebärde dieses Jagens und Gejagtwerdens, bis der Pfeil uns trifft, nicht ausdrücklich auszulegen. Oder die Gebärde des Orestes - auf der Unken Seite des Triptychons —, der bei dem sich anspinnenden Unheil seinen Kopf so geneigt hält, daß jeder, ohne etwas zu wissen, sieht, dieser Handelnde ist ein Opfer. Er hält den Hals hin für den Streich des Übermächtigen. Andere Bilder gehen noch leichter und sofort ein, zum Beispiel die verlassene Ariadne, die am Meeresstrande von Naxos in die blauen Fernen blickt - da ist es die Opfergebärde der Liebe. Oder ein anderes Opfer, Iphigenie: Was im Bilde steht, ist die Riesengebärde einer sich selbst zum Opfer Neigenden. Dies Opfer weiß, was Sich-Opfern heißt. In ihm ist Opfer da. Es handelt sich in all diesen Bildern um nichts anderes als um Gebärden, das heißt um etwas, das seine Bedeutung in sich trägt und bei weitem mehr ist als das, was uns nur aus humanistischem Wissen bekannt ist. Es sind Bildgebärden, die ganz in die Bildfläche gebunden bleiben, auch dort, wo sie menschliche Züge tragen. Wie flimmert etwa über Kalypsos dargebotenen Leib das ganze versucherische Farbenspiel der bunten Welt, wogegen der sich abkehrende Odysseus austauschbar, stellvertretend, fast nicht da scheint, wie ein abgeschiedener Schatten. Bezeichnend, daß, je mehr Werner Scholz in seinen Bildern menschliche Gesichter gibt, also das, worin menschliche Subjektivität, menschliche Innerlichkeit, sich ausdrückt, seine Schrift immer diskreter wird, bis zur Unleserlichkeit. Kaum noch eine Gebärde, eine bloße Linie der Nase ist zu sehen, allenfalls ein Blick nach oben, etwa wenn Alkestis der oberen Welt wieder zugeht. Sehr wenig ist hierin Psychologie, sehr wenig Ausdeutung eines subjektiven Inneren, fast alles nur Innerlichkeit der Maske, hinter der nichts ist, Innerlichkeit aus lauter Zugekehrtheit, in sich selbst aufgehendes Rätsel, das wir uns sind. Man wird nicht behaupten, daß diese Bilder griechisch gesehen sind. Ich möchte im Gegenteil sagen, sie sind mit unseren Augen gesehen. Und mit unseren Augen sehen heißt von vornherein: sehen als einer, der durch die ganze große Geschichte der christlichen Innerlichkeit hindurchgegangen ist. Aber gerade deshalb ist hier Griechisches wie gegenwärtig gesehen. Es ist das alte Rätsel Mensch, das uns in diesen Arbeiten eines heutigen Malers aufgegeben wird, indem er griechische Lösungen neu vergegenwärtigt. Vielleicht läßt sich an einem Bilde zusammenfassend aufweisen, was für alle gilt. Es heißt: >Iphigeneia<. Eine Iphigenie, sehr in Blau gehalten. Hier ist weder Sehnsucht eines sich in seine Heimat zurücksehnenden Wesens da
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noch Trauer der sich Opfernden, die Heimat und Leben lassen mußte. Erst recht nicht wird der Mythos von der Entrückung Iphigenies aus der Heimat in die Fremde erzählt. Iphigenie ist vielmehr da als die Entrückte, die ihre eigene Grenze zu dem anderen, unsichtbaren Reich berührt. Was das Bild darstellt, ist die Entrücktheit selbst. Indem alles bis zur Unkenntlichkeit chiffriert ist, wird das zu Erratende unmittelbar sprechend. So wird hier nichts erzählt und nichts Bekanntes neu gedeutet. Es ist im Ganzen dieses Werkes ein heraldischer Zug. Die ritterlichen Wappen unseres Menschseins stehen in Bildern vor uns, Wappen, Embleme, an denen wir uns erkennen, ohne uns verstehen und enträtseln zu können, Symbole der Unkenntlichkeit, in denen wir uns und unserer immer unkenntlicher werdenden Welt begegnen. Was dem Wort der Dichter - Homers wie dem der Tragiker - im Widerschein der Übersetzung kaum noch gelingt, vermag dem bildenden Künstler unserer Tage zu gelingen, wenn er die alte Sage in die Einfachheit der großen Gebärde zusammenzieht.
30. Über das Lesen von Bauten und Bildern (1979)
Von der ganz schlichten und trivialen Feststellung ausgehend, daß jeder Satz, jede Äußerung im Grunde erst dann verstanden ist, wenn sie als die Antwort auf eine mögliche Frage verstanden werden kann, habe ich die Frage-Antwort-Struktur des Verstehens analysiert. Das ist bei gewissen Nachfolgern Hegelscher Denkweise, insbesondere bei Collingwood, schon in einigem Ansatz zu finden. Ich habe daran angeknüpft und die Dialektik in dem Verhältnis von Frage und Antwort aufgedeckt1. Sie zerstört den Schein, als handelte es sich beim Verstehen um eine Methode, die man gebraucht. Das eigentümliche Wechselspiel der Herausforderung, die das Andere, Unverständliche, darstellt und auf das der Verstehenwollende antwortet, indem er es befragt und als Antwort zu verstehen sucht, spielt nicht nur zwischen Ich und Du und dem, was wir einander sagen, sondern gerade auch zwischen dem >Werk< und mir, dem es etwas sagt und der immer wieder wissen möchte, was es ihm sagt. Ich habe an dieser Struktur des Verstehens die Wiedergewinnung der Frage in den Vordergrund gestellt. Aber genügt diese allgemeine Struktur der Frage und der Dialektik von Frage und Antwort als Ausgangspunkt für ein Reflektieren über die Erfahrung von Kunstwerken? Es scheint ganz dunkel, wie sich am Umgang mit dem Kunstwerk die dialogische Struktur von Frage und Antwort überhaupt bewähren soll. Welche Fragen werden denn in einem Kunstwerk erhoben — und damit: welche Antworten des Verstehens in uns ausgelöst, und zwar so, daß wir am Ende das Kunstwerk selbst als die Antwort auf solche Fragen verstehen? Ich möchte einige konkrete Beispiele vorlegen, um daraus meine theoretischen Folgerungen zu ziehen. Ich war mehrmals in der Kathedrale von St. Gallen und empfing dort den eigentümlichen Raumeindruck dieses Bauwerks, der dadurch entsteht, daß ein Längsschiff mit einer sehr stark ausgebauten Vierung und der Chor in eine seltsam spannungsvolle und großartige Form von Einheit gebunden sind. Das Schiff und die Vierung, das ist offenbar die große Baufrage, die der abendländische Kirchenbau durch die 1
VgL >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 375ff.
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Jahrhunderte zu beantworten gesucht hat. Jede Lösung dieser Vereinigung des Zentralbaugedankens und des Schiffgedankens im Laufe der Geschichte unserer abendländischen Baukunst ist, wie mir scheint, das, was die Kunsthistoriker in ihrer Art >Baugedanken< nennen. Zweifellos ist es eine Frage, die in dem Moment, in dem man sie sich bewußt macht und sozusagen selber fragt, das Gebilde sprechend macht, vor dem man steht. Es gibt uns eine Antwort. Die Antwort der St. Galler Kirche ist nun eine sehr späte und, durch die Baugeschichte mitbedingt, eine besonders verspätete Antwort, deren Großartigkeit trotzdem jeden Besucher überzeugt. Sie nimmt gleichsam wie ein letztes Résumé die Spannung zwischen Schiff und Zentralbaupartie noch einmal zu einer Einheit zusammen, aber so, daß der Raum fur den ihn Durchschreitenden förmlich umspringt, als ob er zweifach gelesen werden könnte. Wenn wir in den Kirchenraum treten, erfahren wir diese Spannung wie eine Antwort. Die Erfahrung, die wir da machen, scheint mir eine gute Exemplifizierung fur das, was Interpretation ist. Was der Kunsthistoriker aus baugeschichtlichem und stilgeschichtlichem Wissen mitbringt, fuhrt am Ende nur zur Auslegung von etwas, was wir alle spüren und geradezu leiblich verstehen, wenn wir durch diese Gewölbe schreiten. Oder ein anderes Beispiel. Ich erinnere an das berühmte Bild von Giorgione, das in der Accademia in Venedig hängt. Man kann das Original leider nur unter Glas sehen, weil die Farben sehr gefährdet sind. Es ist dadurch besonders interessant, daß kein Mensch weiß, was auf dem Bild eigentlich dargestellt ist. Man erkennt natürlich die Einzelheiten. Da steht ein junger Mann, und da ist eine Mutter mit einem Kind, und hinten ist ein Gewitter über einer Stadt, deren Zinnen und Dächer sichtbar sind, aber wie ohne Leben scheinen. Man nennt das Bild >Das Gewitten, aber was es eigentlich sagen will, was da das Dargestellte ist, ist bis heute ein offener Gegenstand der Diskussion. Ist es eine Genreszene oder ist es eine allegorische Komposition? Aber wie dem auch sei - ich möchte an diesem Bilde und seiner Rätselhaftigkeit die verschiedenen Möglichkeiten des Die-Frage-Gewinnens vor Augen stellen. Es soll uns im Laufe unserer theoretischen Darlegung hilfreich sein, daß wir alle gemeinsam an dieses Bild denken dürfen, das auch durch seine Koloristik einen der großen Wendepunkte in der RenaissanceMalgeschichte darstellt. Die Fragen, die bisher aufgeworfen worden sind, weisen offenbar in zwei sehr verschiedene Richtungen. Was Giorgiones Bild eigentlich darstellt, ist für uns dunkel. Das schließt offenbar ein: Wenn uns jemand überzeugend machen würde, das und das ist da dargestellt, dann hätten wir etwas verstanden, was wir bisher nicht verstanden haben. Es wäre ein hermeneutischer Gewinn. Freilich möchte ich kühnlich sagen, es wäre ein sehr bescheidener
hermeneutischer Gewinn. Ob die Aufgabe, dies Gemälde, ein Meisterwerk der Malerei, zu verstehen, wirklich darin aufgeht, es ikonographisch zu deuten? Ist vielleicht doch eher die Atmosphäre, die eine geheimnisvolle Landschaft sprechen läßt und die fur den Kunsthistoriker die Bedeutung dieses Bildes im Verlaufe der Malgeschichte des Abendlandes ausmacht, das, was von uns allen >verstanden< wird, wenn wir von dem Anblick dieses Gemäldes wie elektrisiert werden? - Und wenn es so ist, was ist die Frage, die wir zu gewinnen haben, um sagen zu können: Jetzt habe ich es besser verstanden? Wie gehen diese beiden Fragen zusammen — die Frage, die wir in der Kunstwissenschaft die ikonographische Frage nennen (wörtlich: das Beschreiben des Ikons, des Dargestellten, des Abgebildeten), und die andere Frage: Was >sagt< uns das Bild und das selbst dann, wenn wir, wie in diesem Falle, nicht wissen, was der ikonographische Inhalt des Bildes ist? Sicher bleibt das Bild von Giorgione für jeden, der es einmal gesehen hat, ein tiefer Eindruck, und noch in der Reproduktion spürt man darin etwas Geheimnisvolles, etwas Vielschichtiges, das einen nicht losläßt. Manche Betrachter weisen etwa auf die menschenleere Stadt im Hintergrunde, andere sprechen über die Bezugslosigkeit zwischen diesem schön aufgebauten Jüngling - wir wissen, daß es ursprünglich ein Mädchen war, das Giorgione da konzipiert hatte, das ist mit Hilfe moderner Technik inzwischen herausgekommen — und auf der anderen Seite die Mutter mit dem Kind, die zu uns hinblickt. Was bedeutet der abgeschrägte Säulenstumpf? Hier braucht man zwar nicht zu fragen, was er bedeutet. Wir verstehen unmittelbar, was er bedeutet. Wir erkennen ihn unmittelbar als das Sinnbild des Halben, des Endlichen, des Verstümmelten. Aber was sagt dies bekannte Symbol hier? Oder der Kontrast zwischen dem arkadischen Vordergrund und dem in der Ferne tobenden und offenbar nicht drohenden Gewitter? Ich mache diese Fragen an das Bild bewußt, um die theoretische Frage zu exponieren: Was ist das, was wir da zu verstehen suchen? Würde uns die Lösung des ikonographischen Rätsels all diese Fragen beantworten? Welche anderen Fragen möchten wir beantwortet sehen, wenn es sich um das Verstehen dieses Kunstwerkes handelt?
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Die Metapher »es beginnt zu sprechen« drängt sich auf. Es ist die einfachste Bestimmung dessen, was Hermeneutik im Bereich von Kunst und Geschichte ist. Sie ist die Kunst, etwas wieder sprechen zu lassen. Nun liegt es auf der Hand, daß wir fur die Kunst, etwas sprechen zu lassen, voraussetzen, daß es ohne unsere Bemühung nicht spricht oder sich nicht genügend ausspricht. Das handgreiflichste Beispiel für die Bemühung, etwas wieder sprechen zu lassen, ist daher das Lesen von Geschriebenem oder Gedrucktem, das die Struktur des Textes hat. Wir werden aber etwas ein literarisches« Werk, ein Dichtwerk, nur dann nennen, wenn es noch sehr viel mehr verlangt als Lesenkönnen. Gleichwohl ist die elementare Forderung, die das
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Werk an uns stellt, lesen zu können, nicht so trivial, wie es aussieht. Überhaupt lesen zu können ist noch nicht >wirklich< lesen können, und das gilt allgemein. Auch vom Werk der bildenden Kunst gilt, daß man lernen muß, es zu sehen, und daß es nicht in dem Naivblick auf das anschauliche Ganze, das da vor einem steht, bereits verstanden, d. h. als Antwort auf eine Frage erfahren wird. Wir werden es >lesen< müssen, wir werden es sogar buchstabieren müssen, bis wir es lesen können. Ähnlich gilt für das Bauwerk, daß wir es >lesen< müssen; und das heißt, daß wir es nicht nur - wie eine fotografische Reproduktion - anschauen, sondern auf es zu, um es herum, in es hineingehen und es auf diese schreitende Weise gleichsam für uns aufbauen. Wir müssen diese Analogien zwischen einem Literaturwerk und den Schöpfungen der bildenden Künste uns zunutze machen2. Solche Analogien verkörpern die große Weisheit eines noch nicht formulierten Allgemeinen. An einem klassischen Beispiel der großen philosophischen Weltliteratur läßt sich das gut illustrieren. Bekanntlich ist das große Gespräch Piatos über den idealen Staat als Analogie für die Einsicht in die Gerechtigkeit als die oberste Tugend der Seele konzipiert. Plato führt uns den idealen Staat als Konstruktionsaufgabe vor, um die >Verfassung< der Seele sichtbar werden zu lassen. Seele und Staat sollen sich wie zwei Feuersteine aneinander reiben, damit der Funke des Verstehens entspringt. So sollen sich hier das literarische Kunstwerk und das Kunstwerk der bildenden Kunst ein wenig aneinander reiben, damit wir die Aufgabe, die uns beschäftigt, in die rechte Weite stellen. Was ist das, was verstanden werden muß, und welche Frage ist es, auf Grund deren ein >Werk< als Antwort verstanden werden kann? Man sollte auch in unserer Zeit, in der es so viel bemerkenswerte künstlerische Produktion auf dem Gebiete der informellen und der gegenstandslosen Kunst gibt - oder wie immer man das bezeichnen mag - , nicht bestreiten, daß das Wiedererkennenden etwas, so daß man es als das, was es >darstellt<, erkennt, ein Verstehensmoment im Betrachten darstellt3. So waren etwa die Einzelheiten des Giorgioneschen Bildes für uns alle kenntlich und selbstverständlich, wenn auch die Frage: Was geht da vor, was ist da dargestellt? - u n d erst recht die eigentliche Frage: Was spricht uns da an? — für uns unbeantwortet blieb. Die Frage ist: Wie werden wir mit diesem Primat des im Bilde Wiedererkennbaren fertig? Denn es ist klar: Etwas ist dadurch noch lange nicht ein Bild, daß es etwas abbildet. Die Abbildung in einem Verkaufskatalog ist zweifellos kein Bild. Im Bild haben wir ein bestimmtes Wie des Dargestelltseins, durch das das Dargestellte nicht als ein Musterstück aus einer in der
Wirklichkeit antreffbaren Kollektion erscheint, sondern so, daß das Dargestellte plötzlich wie einzig in seiner Art erscheint. Wir kennen alle die leisen Beschwerden, die wir haben, wenn ein Meister das Motiv eines Bildes zu oft variiert: Etwas zu viel Sonnenblumen, etwas zu viel Bauernschuhe machen es für uns schwierig. Ich will nicht sagen, daß das stets eine berechtigte Kritik wäre. Aber es wird für den Betrachter nicht ganz leicht, die Einzigkeit jedes Gemäldes van Goghs, das ein Paar Bauernschuhe oder Sonnenblumen zeigt, wirklich zu realisieren. Und doch ist es offenbar erst dann verstanden, wenn das Bild nicht mehr unter den Verständniszusammenhang Bauernschuhe oder Sonnenblumen subsumiert wird (oder gar unter den Verständniszusammenhang »Ah, wieder einmal Sonnenblumen!« oder »Wieder einmal Bauernschuhe!«), sondern wenn es in seiner eigenen Darstellungsfunktion zugleich das Werk und nicht nur das Dargestellte sprechen läßt. Das ist das Problem: Wie geht das miteinander zusammen? Daß wir etwas als etwas erkennen, schließt ein, daß wir sogar eine gewisse Leitfunktion des gegenständlich Wiedererkennbaren für das Eindringen in ein Werk anerkennen müssen. Wenn etwa im Hörsaal Dürersche Holzschnitte in der Projektion gezeigt werden, entstehen schon durch die Übergröße des Projektionsformates plötzlich neue Entzifferungsschwierigkeiten. Erst wenn man das Dargestellte auch erkannt hat, bekommt das Spiel der Schwärze und der Weiße, der Linien und der Flächen seine volle Geschlossenheit. Auch kubistische Porträts wie die eines Picasso wollen so entziffert werden. iDaß eine bestimmte Einungsfunktion des gebrauchten Bildvokabulars (wie der Einheitssinn von Rede) sehr oft erst in der Erkenntnis des Dargestellten entspringt, läßt sich, wie ich meine, nicht leugnen. Es besteht ein eigentümlicher Zusammenhang zwischen dem Ikonographischen — mindestens in seiner schwächsten Potenz, dem Wiedererkennen von erkennbaren Bildelementen - und der Einheit der Werkgestalt, ein Wechselverhältnis, das wie eine besondere Art des Lesens ist. Denn wie ist es beim Lesen? Wenden wir uns zum sprachlichen Text zurück. Da ist Lesen nicht so, daß wir erst buchstabieren. Das Kind, das lesen lernt, kann bekanntlich noch nicht lesen. Das kommt vollends beim Vorlesen heraus4. Die meisten Erwachsenen können es auch nicht. Das hat seinen guten Grund: Man kann nur etwas vorlesen, was man auch versteht. Wenn man im stillen Lesen plötzlich einmal nicht mitkommt, stockt man ja auch, und wenn man beim Vorlesen, ohne zu verstehen, weiterliest, kann es ein anderer schon gar nicht verstehen. Das ist ein sicherer Beweis dafür, daß im Vorlesen, auch im wirklich vollzogenen stillen Lesen, am
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Siehe dazu vor allem die vorletzte Studie dieses Bandes, >Wort und Bild< (Nr. 35). Vgl. >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 118ff.
Vgl. in diesem Band >Stimme und Sprache^ S. 267 ff.
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Ende alles noch so artikuliert Aufgenommene zu der konkreten Einheit des Verstehens zusammengegangen ist. Gehört der ikonographische Gehalt eines Bildes etwa auch nur zu den Buchstaben? Wie lernen wir lesen? Wie lernen wir verstehen? Im Lesen stocken wir, fallen heraus aus der Selbstverständlichkeit des Weiterlesens, müssen zurückgreifen, weil sich ein Erwartungshorizont offenbar nicht erfüllt hat. Das ist wie ein Schock. Wir gehen zurück. Wir lesen noch einmal, wir berichtigen, wir verändern die Betonung und all das, wovon wir alle wissen, daß es etwas Geschriebenes oder Gedrucktes erst wieder zum Sprechen bringt. Bekanntlich ist nun ein literarisches Werk dadurch ausgezeichnet, daß es durch die Art, wie es sprachlich geformt ist, selber vorschreibt und dem Ohr vermittelt, wie wir zu lesen haben, wie wir zu betonen haben. Die sogenannten Lesehilfen sind sekundär. Interpunktion im lyrischen Gedicht3 ist eigentlich für Schwächlinge. Darin hatte George ganz recht, wenn er das möglichst wegließ. Wenn man nicht imstande ist, das Klang- und Sinngebilde eines Verses dadurch aufzubauen, daß man die rechten Modulationen, Rhythmisierungen, Phrasierungen selber anbringt, versteht man es nicht. Aus der Musikausübung wissen wir auch, welche Rolle die Phrasierung spielt, die nicht in der Komposition steht und doch in der Musik ist. Offenbar haben wir es im Lesen mit einem solchen Vorgang des Aufbau•ens einer Zeitgestalt zu tun. Das Problem, das mich seit Jahrzehnten beschäftigt, ist nun, was Lesen eigentlich ist6. Ist es eine Art innerer Reproduktion, so wie «ine Theaterauffuhrung eine ins Sinnenhafte herausgesetzte Reproduktion ist? Man wird zweifellos sofort sagen: Nein, selbstverständlich versetzt die Theaterauffuhrung in ein neues Wirklichkeitsmedium. Davon ist beim Lesen keine Rede. Da sind es alles nur Phantasien, innere Produkte der Einbildungskraft, die wir durch unser Lesen erzeugen. Aber das ist noch lange nicht klar. Lesen ist keine innere Theateraufrührung. Das Erstaunliche ist doch, daß die unermüdlichen Produktionen unserer Einbildungskraft ständig wie auf einem reißenden Strome dahintreiben, so daß ich nicht erst das eine und dann das andere Bild in seiner bildhaften Einheit fest erfasse. Roman Ingarden, der Phänomenologe, hat sehr schön am Roman gezeigt, welche Evokationskraft in der Schemafunktion einer Beschreibung steckt, so daß eine noch so minuziöse Beschreibung in einem dichterischen Werke von jedem Leser verschieden ausgefüllt wird - und doch ist dieselbe Sache beschrieben. Das ist, so trivial es klingt, in seinen theoretischen Konsequenzen sehr weitreichend. Es zeigt nämlich, daß das durch die Worte Evozierte eine Art von Virtualität besitzt. Es hat keine Wirklichkeit, keine ausaktuali5
Für ein instruktives Beispiel siehe >Poesie und Interpunktion« in Ges. Werke Bd. 9, S. 282-288. 6 Siehe dazu im vorhergehenden >Hören - Sehen - Lesen< (Nr. 23).
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sierte Determiniertheit, sondern läßt gerade in seiner Virtualität eine Art Spielraum von Aktualisierungsmöglichkeiten anklingen. In dieser Weise scheint mir in der Tat >Lesen< ein Prototyp fur die Forderung, die an jede Betrachtung von Kunstwerken, gerade auch von Werken der bildenden Kunst, gestellt wird. Es gut zu lesen, mit all diesen Vorgriffen und Rückgriffen, mit dieser wachsenden Artikulation, mit diesen sich anreichernden Sedimentierungen, so daß am Ende einer solchen Leseleistung das Gebilde in all seiner artikulierten Reichhaltigkeit dennoch wieder zur vollen Einheit einer Aussage zusammenschmilzt. Nun ist meine These: Interpretieren ist nichts anderes als Lesen. Das gilt in dem Sinne, den wir mit dem deutschen Worte >Auslegen<, wie ich glaube, sehr schön bezeichnen. >Interpretation< wird oft als >Auslegung< übersetzt oder wiedergegeben, und das trifft. >Auslegen< ist ein Wort, das in seiner eigenen spekulativen Dimension schon enthält, daß wir hier nichts zum Lesen hinzutun. Einmal meint es, daß wir nichts hineinlegen. Man denke an den mephistophelischen Rat: »Legt ihr's nicht aus, so legt was unter.« Zweitens aber, daß das Auslegen im Grunde genommen nur das, was schon darin ist, herauslegt, um es dann wieder zusammenzulegen. Das geschieht selbstverständlich in einem Verfahren, das sich in gewissen Grenzen als methodisches Wissen und auf methodischem Wege erlernen läßt. Doch ist selbst das nicht so einfach. Vielmehr stellt es einen ganzen Prozeß der inneren Ausbildung dar, bis man anfängt, für Beobachtungen an einem Bild oder einem Text die >richtigen< Gesichtspunkte zu finden, die für den Verständniszusammenhang des Gegebenen wirklich fruchtbar werden. Selbst da, wo wir unser Metier treiben und als Philologen, als Historiker, als Kunstkritiker methodisch vorgehen, stellt die sinnvolle Anwendung der Methode die eigentliche Aufgabe dar, die nicht selber wieder durch Methode vermittelt wird. Nun ziehe ich den Schluß. Was ich durch die Analogie des Lesens des Textes und des Eindringens in ein künstlerisches Gebilde anderer Art zu zeigen versucht habe, ist, daß es nicht so ist, daß da ein Betrachter oder Beobachter als eine Art Neutraler einen Gegenstand dingfest macht. Derart sind zwar die methodischen Aspekte, mit denen die Geisteswissenschaften arbeiten und deren Gebrauch man lernen muß. Aber das Eigentliche ist doch offenbar etwas anderes, nämlich daß wir an der Sinnfigur, der wir begegnen, teilgewinnen. Sie als Ganzes ist offenbar etwas, was sich nicht in seiner objektiven Gegebenheit festlegen und bestimmen läßt, sondern in der Sinngerichtetheit, in der Bedeutsamkeitsstrahlung, die sie als Gebilde auszeichnet, uns, wie wir sagen, >einnimmt<. Wir sind von dem Werk gleichsam ins Gespräch gezogen. So ist die Struktur des Gesprächs keineswegs weit hergeholt, wenn man das anscheinende Gegenüber zwischen einem Kunstwerk oder einem Literaturwerk
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und seinem Interpreten richtig beschreiben soll. Dies Gegenüber ist in Wahrheit ein Wechselspiel der Teilhabe. Wie in jedem Gespräch ist der andere immer ein entgegenkommender Zuhörer, so daß sein Erwartungshorizont, mit dem er mir zuhört, meine eigene Sinn-Intention sozusagen auffängt und mitmodifiziert. In der Analyse der Struktur des Gespräches zeigt sich, wie eine gemeinsame Sprache entsteht, indem sich die Sprecher verwandeln und ein Gemeinsames finden. Das scheint mir in Wahrheit auch für unsern Umgang mit >Werken< zu gelten. Der Kunstausdruck, den wir dafür zu gebrauchen pflegen, heißt Kommunikation. Kommunikation meint nicht: ergreifen, begreifen, übermächtigen und in Verfügung nehmen, sondern meint Teilhabe an der gemeinsamen Welt, in der man sich versteht. Offenbar ist das, was wir ein Werk nennen, nicht ablösbar von diesem Strom gemeinsamer Teilhabe, durch den es sich in seine Zeit oder seine Nachwelt hineinspricht, und sofern wir alle miteinander zu dieser Welt der Verständigung und der Kommunikation gehören, in der uns mancher und manches etwas zu sagen hat, gehören die Dinge, die uns nicht nur im Augenblick, sondern immer wieder etwas zu sagen haben, wohl an erste Stelle.
31. Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt Ein Studium-generale—Vortrag (1990)
Es ist ein Thema von höchster Aktualität. Es ist im Grunde das politische Thema katexochen, für das die Geschichte der Menschheit auf uns wartet. Denn darum geht es, daß die ungeheuere Entwicklung des Abstandes zwischen dem Waffenbesitzer und dem Nicht-Bewaffneten uns dahin gebracht hat, in einer Welt zu leben, in der die gegenseitige Furcht vor kriegerischen Auseinandersetzungen alles beherrscht. Es ist eine Furcht, die mit Recht empfunden wird. Sie ist keineswegs - wie man manchmal so tut—nur durch die Besonderheit der Atomenergie erregt. Es ist ein so unwahrscheinlicher Fortschritt in der Logistik und in der Technik des Waffengebrauchs eingetreten, daß wir nur sagen können: Jedes unkontrollierte Kräftemessen der Menschheit unter sich kommt einem erfolgreichen Selbstmordversuch gleich. Der Mensch ist ein sehr erfinderisches Lebewesen. Er hat den Krieg erfunden. Wir kennen in der Natur bei höher organisierten Wesen sonst keinen solchen Fall, daß es innerhalb der gleichen Spezies Krieg gibt. Wir kennen alle die bekannten Unterwerfungsriten, mit denen Kämpfe um die Rangordnung unter Tieren einer Gruppe beendet werden. Schon das ist es, was unser Thema besonders dringlich macht: Wie wird es möglich sein, die Menschheit vor sich selbst zu retten und den Gemeinschaftsgeist zu entwikkeln, die Solidarität des Lebenswillens und des Überlebenwollens, die notwendig wäre? Da gute Bibelkenntnis nicht mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden darf, erlaube ich mir, zur Einleitung einen Text aus dem Alten Testament zu zitieren. Es ist die bekannte Geschichte vom Turmbau zu Babel. Dort wird erzähk, ein Volk, das sich im Zweistromland niedergelassen hatte, beschloß, einen großen Turm zu bauen, der bis zum Himmel reiche. Und da heißt es:
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Und so wollen wir uns einen Namen machen, damit wir uns nicht über die ganze Fläche der Erde zerstreuen. Und der Herr fuhr herab, um die Stadt und den Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Und der Herr sprach: »Siehe, ein Volk sind sie, und eine Sprache haben sie alle. Und dies ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts unmöglich scheinen, was sie zu tun ersinnen. Wohlan, laßt uns herabfahren und dort ihre Sprache verwirren, daß sie einer des anderen Sprache nicht mehr verstehen. « Und der Herr zerstreute sie von dort über die ganze Erde, und sie hörten auf, die Stadt zu bauen. So einen Text kann man mit heutiger Bereitschaft nicht im alttestamentlichen religiösen Zusammenhang allein lesen. Man muß unwillkürlich darüber nachdenken, daß offenbar die Einheit und Solidarität einer gemeinsamen Sprache hier das eigentlich Tragende ist, das unbändige Energien des Willens und grenzenlose Zuversicht in die eigene Berufung zur Herrschaft verkörpert. Wenn wir von diesem Text des Alten Testaments ausgehen, werden wir uns unwillkürlich fragen, wie es denn in unserer Welt aussieht, in der die Menschen ganz gewiß nicht die Einheit einer Sprache haben und wie ich glaube - auch nie haben werden. Aber ob wir denn vor der Versuchung gefeit sind, unsere Kräfte ins Vermessene anzuwenden? Das jedenfalls ist das Motiv, warum uns die Geschichte vom Turmbau zu Babel so betroffen macht. Meine Aufgabe als Philosoph ist, die Begriffe zu klären, mit denen wir hier arbeiten. Es ist zu fragen, was ist Sprache, was ist Welt — und was bedeutet hier vieles, und was ist ei««? Der Turmbau zu Babel wiederholt in einer ins Umgekehrte verstellten Form das Problem der Einheit und Vielheit. Da ist die Einheit die Gefahr, und die Vielheit ihre Überwindung. Die Geschichte steht ganz isoliert im Erzählungszusammenhang des ersten Buches Mose. Sie gehört sicher zum ältesten Gut. Die Alttestamentier werden wissen, woher sie kommt, und jedenfalls hat sie einen so aussagekräftigen Hintergrund, daß man der Aktualisierung der Geschichte kaum ausweichen kann. Ich frage also ganz unabhängig von dieser Geschichte und nicht in der Absicht, sie zu interpretieren. Ich meine, sie rührt einen genug an, damit sie jeder mit heutigen Ohren hören kann. Wenn wir diese Geschichte zum Ausgangspunkt nehmen, dann möchten wir uns im Blick auf die Vielfalt der Sprachen unter den Menschen fragen: Wie sieht der Turmbau zu Babel oder das, was ihm gleichen kann, in unserer Welt aus? Eine Antwort hat die Geschichte des Abendlandes auf diese Geschichte deutlich genug gegeben. Sie liegt in dem Sonderweg der Menschheit, der im Abendland durch die Entstehung der Wissenschaft eingeschlagen worden ist - die Wissenschaft und gerade auch das, was wir heute >die Wissenschaft^ nennen und womit wir vorzugsweise die Naturwissenschaften meinen. Die >Wissenschaft< ist nicht auf Gedeih und Verderb - vielleicht auf andere
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Weise, aber nicht als Wissenschaft - durch ihre Sprachabhängigkeit bedingt. Das ist ja gerade der ungeheuere Schritt, den die Menschheit schon mit der Entstehung des griechischen Denkens gemacht hat, daß sie sozusagen den Logos, die Logik und damit die Denknotwendigkeiten in ihrer rücksichtslosen Abstraktion legitimiert hat. Ist nicht die Mathematik die Einheitssprache der Neuzeit? Das ist die Herkunft der weltgeschichtlichen Lage, in der sich die heutige Menschheit befindet. Es ist wirklich so, wie es oben im Text formuliert war. Es sieht so aus, als ob man alles, was man ersinnen kann, nun ausführen könnte. Das verdanken wir der Abstraktionskraft des Menschen und ihrer Mathematik, auf die sich die Beherrschung der Naturkräfte gründet und die indirekt auch unsere gesellschaftlichen Kräfte mit umfaßt. Wenn wir von dieser Überlegung ausgehen, dann ist es wohl klar, was die Sprachen, die wir sprechen, für unser Menschsein bedeuten. Das merkt man schon an dem Beginn, wie die Griechen wie jede lebendige Kultur ihre Sprache als die selbstverständlich >richtige< Sprache ansehen. Das gilt im Grunde für jede Sprachgemeinschaft. Irgendwo hat man doch immer auf •Grund der Prägung unseres Weltverständnisses durch unsere Muttersprache ein sonderbares Gefühl, daß >Pferd< in einer anderen Sprache >horse< heißt. Das gehört sich doch eigentlich nicht. Worum es hier geht, das ist, wie die gewaltige Abstraktionsleistung, die die Menschheit durch ihre Sprachen vollbracht hat, eine volle Sprachvergessenheit einschließt. Die Griechen hatten ein einziges Wort für alle, die nicht Griechisch sprachen: Das waren die Barbaren, die >Barbaroi<. Das Wort kennen wir alle, nicht nur aus dem Gebrauch unseres Fremdworts >Barban, sondern auch aus der Theatertechnik. Wenn ein Volksgemurmel entstehen soll, müssen nämlich alle Leute >Rhabarber< sagen. (So war das zumindest früher, vielleicht machen das heute Maschinen.) »Rhabarber< sagen heißt, etwas Unverständliches sagen, etwas, was gar keine Sprache ist. Von diesem Ausgangspunkt gesprochener Sprachen aus ist der Aufbruch des Abendlandes zu seiner großen Reise, ist der Aufbruch zur Wissenschaft, den ich hier nicht im einzelnen ausbreiten kann, recht deutlich. Es sind zwei •Kultursprachen, durch die sich die antike Welt und die Geschichte der Wissenschaften formierte und aus denen die Neuzeit neue Kräfte gesogen hat: die griechische Sprache und die lateinische Sprache. Als Kultursprachen beherrschten sie die gesamte antike Oikumene, die bewohnte Welt. Als Gelehrtensprache hat das Latein noch weit länger bis zum Beginn der Neuzeit dominiert. Man vergißt im allgemeinen, daß selbst Kants >Kritik der reinen Vernunft/ implizit eine Übersetzung aus dem Lateinischen ins Deutsche ist. Wir werden sehen, was das bedeutet, daß sich in der Neuzeit •eigene Nationalsprachen entwickeln mußten, um den Mitmenschen etwas zu sagen, und gewiß auch, um einander zu verstehen. Es war ein weltgeschichtlicher Prozeß, in dem die Gelehrtensprache des Mittelalters und die
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Kirchensprache des Mittelalters schließlich auch durch die Bibelübersetzungen zur Entwicklung der Nationalsprachen führten und seitdem nur in der mathematischen Naturwissenschaft und ihren technischen Erfolgen die eine Sprache begegnet, die man vielleicht nicht spricht, aber die alle lesen müssen. Ich gebe nur ein grobes Gemälde, um daran zu erinnern, wie es gekommen ist, daß heute unter den Naturforschern, auf denen unsere technische Perfektion beruht, mehr oder minder der Weg zur Tafel der kürzeste ist, auf die sie fur uns fast unverständliche Symbole schreiben. Das hat mit Sprache in dem Sinne, in dem unsere Muttersprache uns mitgegeben ist und die so mit uns verwachsen ist, wie ich das am Beispiel mit dem Wort >Pferd< deutlich zu machen suchte, wenig zu tun. Daß also dieses Ganze von beherrschenden Formeln eine mathematische Technik und Symbolik von großartiger Vollendung ermöglicht hat - das ist unsere Weltlage. Das heißt zugleich, daß wir alle unsere Vernunft brauchen werden, um die ungeheueren Potentiale des Wissens und des Könnens, die uns zur Verfügung stehen, vernünftigen Anwendungen entgegenzufuhren. Das war der Gesichtspunkt, um dessentwillen ich die Geschichte vom Turmbau zu Babel erzählt habe. In der Tat, zunächst scheint der Zusammenhang zwischen der Welt und dem Menschen durch die wachsende Beherrschung der Natur und der Gesellschaft mit Hilfe der modernen Wissenschaft eine eindeutige Voraussetzung fur unser Leben, und wir alle wissen, daß Wissenschaft und Technik fur unser Überleben eine unentbehrliche Bedingung sind, wenn es überhaupt gelingen soll, die riesig anschwellende Zahl von Menschen auf diesem Planeten zu ernähren. Aber das heißt eben nicht, daß die Menschen mit Hilfe der Wissenschaft als solcher in der Lage wären, die Probleme zu lösen, vor die wir gestellt sind, die friedliche Koexistenz zwischen den Völkern zu organisieren und den Haushalt der Natur zu bewahren. Es ist offenkundig, daß nicht die Mathematik, sondern die sprachliche Verfassung der Menschen die Grundlage der menschlichen Zivilisation ist. Das große Rätsel der Sprache ist ja doch, was eigentlich Sprache ist, daß sie sich so zwischen Extremen vollzieht. Der Mensch stiftet für alles die Namen, wie es im Alten Testament hieß, und in den Augen dieser Erzählung läßt er sich dann — nach dem Sündenfall — in ein gottwidriges Unternehmen ein. Was ist es eigentlich mit der Sprache? Die Versuche um eine Einheitssprache, um eine >Ars combinatoria<, wie sie etwa durch Leibniz und die Mathematiker der Zeit entwickelt worden ist, haben für die künftige Entwicklung der Mathematik und damit auch für unser technisches Können ungeheuere Fortschritte heraufgefuhrt. Trotzdem ist klar, daß es einer Art Gegenerinnerung bedurfte, die mit der deutschen Romantik begann:
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Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen, Wenn die, so singen oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt in's freie Leben, Und in die Welt wird zurück begeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu ächter Klarheit werden garten, Und man in Mährchen und Gedichten Erkennt die ewgen Weltgeschichten, Dann fliegt vor Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort. Mit der Grenzziehung gegenüber einer sich selbst übersteigernden Aufklärung trat die Sprache in ihrer Vielfalt und selbstschöpferischen Universalität ins Bewußtsein. Wilhelm von Humboldt war in einem der Begründer der Sprachphilosophie und der vergleichenden Sprachwissenschaft. Die Entwicklung der Sprachwissenschaft macht die Sprache jeweils zum Gegenstand. Aber das Denken lebt im Element der Sprache. Wie hat sich das in der Philosophie unseres Jahrhunderts ausgeprägt? Wir haben in diesem Jahrhundert, wie bekannt ist, eine Art >linguistic turn< vollzogen, eine Wendung zur Sprachlichkeit. Das ist einmal, was in England geschah, als einer der begabtesten Schüler von Bertrand Russell, Ludwig Wittgenstein, für Russell selber ganz unverständlich, neues Interesse an der >ordinary language< nahm, an dem Sprachgebrauch, an der Form, wie wir reden, wenn wir uns miteinander verständigen, und dergleichen mehr. Der Name Wittgenstein ist heute einer der großen Namen der Philosophie unseres Jahrhunderts. Ein zweiter, entsprechender Vorgang ist in unserer deutschen Tradition erfolgt. Ich meine den Übergang vom Neukantianismus zu der Phänomenologie und insbesondere die Weiterentwicklung der Phänomenologie von Husserl zu der hermeneutischen Wende, die Heidegger eingeleitet hat. Damit ist das Sprachliche, die Grundverfassung des menschlichen Daseins, sprachlich zu sein, so wesentlich und beherrschend geworden, daß sogar die Metaphysik, die Lehre von dem, was Sein heißt, in einen neuen Zusammenhang gerückt worden ist. Die Sprache ist Sprachgeschehen, ist Ereignis. Das Wort, das einem gesagt wird, ist nicht in begrifflichen Symbolen darstellbar, auch wenn man das Gesagte als solches in mathematischer Form in Gleichungen darstellen kann. Das Wort ist vielmehr da als eines, das einen erreicht. Die Ausdrücke bei Wittgenstein sind ganz ähnlich. Er spricht von Sprachpragmatik. Das heißt, Sprache gehört in die Praxis, in das menschliche Miteinander und Zueinander. Die Hermeneutik sagt, Sprache gehört in das Gespräch, d. h., die Sprache ist überhaupt nur das, was sie ist, wenn sie Verständigungsversuche trägt, zu Austausch, Rede und Gegenrede führt.
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Sie ist nicht Satz und Urteil, sondern ist nur, wenn sie Antwort und Frage ist. Dadurch hat sich die Grundorientierung, in der wir überhaupt Sprache heute in der Philosophie denken, gewandelt. Sie führt vom Monolog zum Dialog. Es geht nicht mehr allein um das Gewußte, diesen bleibenden Umriß der Gestalten, wie den Arten in der lebendigen Natur oder in der Gesetzmäßigkeit der Mechanik und Dynamik der modernen Physik. Es geht jetzt noch um anderes, um Verständigung. Da genügt es nicht, zu wissen, was unmittelbar unserem eigenen Interesse entspricht. Das ist der neue Schritt, in dem wir uns befinden, daß wir die Sprache nun aufeinmal als ein Unterwegs zum Miteinander denken und nicht als eine Mitteilung von Tatsachen und Sachverhalten, über die wir verfügen. Wenn ich in einer vielleicht unglücklichen und nur durch die Umstände legitimierten Form als Titel wählte >Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt<, so wäre es eigentlich genauer, es etwas anders zu formulieren. Erstens: Was heißt >die Welt Was ist denn das? Die Lateiner sagten dafür >das Universum<. Als die deutsche Nationalsprache ihr Selbstbewußtsein entwickelte, sagte man im Deutschen >das All< oder >das Weltall·. Und als der Neuhumanismus in der klassischen Zeit Goethes das Griechische gegenüber dem Lateinischen und der Gelehrtensprache in den Vordergrund schob, hieß es plötzlich >Kosmos<. Alexander von Humboldts berühmtes Werk hat geradezu diesen Titel. So kann man an der Wortgeschichte des Wortes für Welt schon allerhand lernen. Ich halte nicht viel von Etymologien. Meistens sind sie von Gelehrten gefunden, die nichts lieber tun, als sich gegenseitig zu widerlegen. Deshalb sind auch die meisten Etymologien immer wieder bezweifelt worden. Aber im Falle von >Welt< können wir wohl kaum bezweifeln - auch wenn wir an englisch >world< denken-, daß hier der Stamm >wer< drinsteckt: >weralt<. Man denke auch an >Wergeld<, >Werwolf<. In all diesen Wörtern steckt >wer<, d.h. Mensch. Kurz, Welt ist Menschenwelt. Das ist die ursprüngliche Bedeutung in den germanischen und indogermanischen Sprachen.
ker in gelassener Weise sagt: »Wir wollen es mal anschreiben. « Selbst dieser Ausdruck >anschreiben< verrät, wie wenig Verständigung, wie wenig überhaupt >der Andere< in der modernen Wissenschaft im Blick· ist. >Verständigung< meint nicht nur die Sache, auch nicht die Verständigung, die mit den ersten Lall-Lauten des Säuglings und dem ersten Austausch zwischen Mutter und Kind einsetzt. Interpretieren wir den Titel unseres Vortrags also lieber so: Verstehen ist Sich-Verstehen in der Welt. Das ist die Aufgabe, durch die die Vielheit der Sprachen in ihrer Dringlichkeit als Aufgabe an uns herangetragen wird. Was ist nun dieses Sein in der Welt, in dem wir uns zu verstehen suchen? Die Welt ist dabei gewiß nicht Gegenstand. Bereits Kant hat in seiner Antinomienlehre, der berühmten Kritik an der dogmatischen Metaphysik<, gezeigt, daß die Welt als Ganzes niemals ein Gegebenes ist und deswegen auch nicht mit den Kategorien der wissenschaftlichen Erfahrung als ein ganzes Gegebenes erklärt werden kann. Genauso ist es jedenfalls und erst recht für uns alle klar - und hier nehme ich einen meiner Lieblingsbegriffe auf-: Welt ist als Horizont da. >Horizont< evoziert die lebendige Erfahrung, die wir alle kennen. Der Blick ist ins Unendliche der Ferne gerichtet, und dieses Unendliche weicht mit jeder noch so großen Anstrengung vor uns zurück, und bei jedem noch so großen Marschtempo öffnen sich immer nur weitere neue Horizonte. Die Welt ist in diesem Sinne für uns ein grenzenloser Raum, in dem wir mitteninne sind und unsere bescheidene Orientierung suchen. Aber ob wir diese Orientierung nur auf dem Wege über die Fortschritte in den Naturwissenschaften und über deren gesammelte Erfahrung und über die sich an sie anlehnenden Sozialwissenschaften suchen dürfen, das verlangt einen Augenblick der Besinnung. Jetzt geht es doch darum, daß nicht nur die Welt nicht etwas Gegebenes ist, sondern ebenso unser Sein inmitten der Welt. Die prekäre Stellung des Menschen zwischen einem Lebewesen von der Art der Tiere und einem mit gefährlichen Denkmitteln ausgerüsteten Naturwesen hat den Menschen aus den Instinktlinien herausgesetzt, in denen die lebendigen Wesen sich sonst getrieben, oder besser: gehorsam dem Gebot der Natur unterworfen finden. So ist der Mensch in eine sonderbare Freiheit herausgestellt. Kant ist der große Denker gewesen, der uns die metaphysische Bedeutung des Begriffes der Freiheit ein für allemal hätte lehren sollen. Er hätte uns lehren sollen, daß es ζ. Β. ein Unding war, als mit der Unbestimmtheitsrelation in den zwanziger Jahren allerhand ehrenwerte Gelehrte und Forscher sich dazu hergaben, zu sagen, wir wären jetzt dem Beweis für die Freiheit einen Schritt näher gekommen. Wenn die >Kausalität aus Freiheit von der Wissenschaft erklärbar wäre und von ihr abhinge, daß man sich für etwas verantwortlich fühlt oder nicht, das wäre doch wohl eine traurige Abtretung der höchsten,
Das besagt schon etwas, daß wir uns hier daran erinnern müssen, daß es um das Verstehen der Welt nicht allein in dem Sinne geht, wie es etwa an einer Weltgleichung deutlich wird, der Heisenberg noch wenige Jahre vor seinem Hinscheiden nachgesonnen hat. Nicht um eine solche Form des Verstehens der Welt geht es, in der sich die Physik zu einem einheitlichen Lehrgebäude zusammenschließen könnte, wie das vielleicht im Zuge der weiteren physikalischen und sonstigen Forschung gelingen wird. Nicht in diesem Sinne geht es darum, die Welt zu verstehen. Die Welt ist zunächst einmal für den Menschen das, worin er ist und wo er mitten drin ist. Zwar sagen wir >auf der Welt sein«, wenn ein neuer Erdenbürger auf die Welt gekommen ist—als ob die Welt etwas ganz anderes wäre als der Mensch. Wir sehen >die Welt< nicht mit diesem ungeheuren Abstand, mit dem der Physi-
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eigensten, persönlichsten Rechte und Pflichten des Menschen und wäre noch schlimmer als Drogenabhängigkeit. Kant hat daher die Freiheit das >Vernunftfaktum der Freiheit genannt. Das heißt, es gehört fur uns als Wesen, die sich selber verstehen wollen und in diesem Sinne vernünftige Wesen sind, unausbleiblich dazu, daß wir, wo wir die Wahl haben, uns die Entscheidung zurechnen. Kant hat nie behauptet, daß es in Wirklichkeit eine rein aus freiem Willen getane Handlung je gibt. Er hat nur gesagt: So müssen wir uns denken, wenn wir in unserer gemeinsamen Welt miteinander leben wollen und gesellschaftliche Institutionen, Rechtsordnung, Sittenordnung und friedliches Zusammenleben der Völker um uns aufbauen wollen. All dies ist in der Moralphilosophie Kants auf den berühmten kategorischen Imperativ gegründet worden. Was also heißt es eigentlich, um auf unsere Ausgangsfrage zurückzukommen, sich in der Welt verstehen? Es heißt sich miteinander verstehen. Und Miteinander-sich-Verstehen, das heißt den anderen verstehen. Und das ist moralisch, nicht logisch gemeint. Es ist die schwerste menschliche Aufgabe überhaupt - und vollends für uns, die wir in einer durch die monologischen Wissenschaften geprägten Welt leben. Die Wissenschaften sind ein einziger großer Monolog, und sie sind stolz darauf- sie können es in der Tat auch sein. Die Sicherheiten, Gewißheiten, Kontrollierbarkeiten, die sie eingeführt haben, schirmen uns gegen unsere Schwächen und gegen die zufalligen Übergriffe der anderen in weitem Umfange ab. Trotzdem geht es offenbar noch um etwas anderes in unserer Welt und für uns alle, einschließlich der Wissenschaft und ihrer Forschung, als um solche Sicherheit. Unsere Aufgabe ist, zu lernen, wie wir das Rätsel unseres Daseins in wirklich angemessenen Formen anzunehmen haben und uns nicht kraft unseres Denkens als ein sich inmitten der Welt zu einer Art Weltherrschaft aufschwingendes Wesen zu denken haben. Wir alle müssen lernen, daß der andere eine primäre Grenzsetzung unserer Eigenliebe und unserer Egozentrik bedeutet. Das ist ein allgemeines moralisches Problem. Es ist auch ein politisches Problem. Ich kann das in diesen Wochen und Monaten gar nicht ernsthaft genug betonen, was das für eine schwere Sache ist, daß wir lernen müssen, inmitten der Verschiedenheit der Sprachkulturen und der Traditionen zu einer wirklichen Solidarität zu kommen. Das wird nur langsam und mühsam gelingen. Dazu gehört, daß wir die wahre Produktivität der Sprache einsetzen, uns zu verständigen, statt uns auf all die Regelsysteme zu versteifen, mit denen man nach richtig und falsch unterscheidet. Wir meinen doch, wenn wir sprechen, vor allen Dingen, daß wir uns und dem andern dadurch verständlich •werden, so daß der andere mir antworten kann, mich zu bestätigen oder mich zurechtzusetzen — alles das gehört zu einem echten Gespräch. Heidegger hat einmal als junger Mann einen Ausdruck gebraucht, der
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inzwischen durch die Veröffentlichung seiner Jugendvorlesungen bekanntgeworden ist: »Es weitet.« Eine wunderbare Wortbildung! Ich erinnere mich, daß einer meiner Jugendfreunde — er war ein expressionistischer Dichter und war deshalb für Sprachkühnheiten natürlich besonders empfänglich — voll Begeisterung ausrief: »Ist das nicht wunderbar!« Es ist in der Tat, wenn es weitet, etwas ganz Wesentliches zur Sprache gekommen, nämlich das Aufgehen in offene Horizonte, in vielerlei offene Horizonte hinein. Wer auf den anderen hört, hört immer auf jemanden, der seinen eigenen Horizont hat. Das ist zwischen Ich und Du dieselbe Sache wie zwischen den Völkern oder zwischen den Kulturkreisen und Religionsgemeinschaften. Überall stehen wir vor dem gleichen Problem: Wir müssen lernen, daß im Hören auf den anderen der eigentliche Weg sich öffnet, auf dem sich Solidarität bildet. Es ist genau umgekehrt als das, was in der Geschichte vom Turmbau zu Babel dort als Wahnideal den Leuten vorschwebte. Dort hieß es: »Wir müssen uns einen Namen machen, damit wir uns nicht über die Oberfläche der Welt zerstreuen.« Was ist das für ein Name, in dem wir da zusammenbleiben wollen? Es ist der Name, den man hat und der einem erlaubt, auf den anderen sozusagen nicht mehr zu hören. Worauf es mir ankommt, ist, zu zeigen, daß wir vor dieser Aufgabe stehen, die Vielfalt der Sprachen nicht etwa durch Rationalisierung oder Bürokratisierung wegorganisieren zu wollen, sondern daß ein jeder die Abstände und Gegensätze zwischen uns überbrücken und ausfüllen lernt, und das heißt, daß wir den anderen achten, pflegen und schonen und einander ein neues Gehör geben. Das fehlt viel zu sehr in der Welt, in der man sich auf den Experten beruft. Wobei ich nicht bestreiten will, daß es auch Experten gibt, die ein Ohr für die Bedürfnisse der Menschheit oder der Gesellschaft haben, aber nicht weil sie Experten sind, sondern weil sie Menschen sind, die einem offenen Verantwortungsgefühl für die Menschheit und ihre Schicksale folgen. Aber ebenso gilt es, auf den Experten richtig zu hören. ι Ich stelle also neben den Welthorizont, in den "wir hineinleben, den Sprachhorizont, und dieser ist ein Plural. Da ist eine Vielheit von Horizonten, die wir nicht etwa durch irgendeine besondere Einheitsmechanik verringern sollten. Wir haben Übersetzungen. Gut, das ist unsere literarische Welt. Aber das heißt, wir müssen lesen, um uns etwas sagen zu lassen. Dolmetschen ist schon etwas mehr von einem Gespräch. Wenn ich als Leipziger Rektor mit den Russen zu verhandeln hatte, habe ich gelernt, daß es nicht darauf ankam, meinen russischen Gesprächspartner mit meinen eigenen Argumenten zu überzeugen, sondern den Dohnetscher für mich zu gewinnen. Der sollte das sagen, was meinen Anliegen nützlich war. Wenn er nur übersetzt hätte, was ich sagte, hätte ich vermutlich nicht viel Erfolg gehabt.
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Dolmetschen ist eben noch ein Rest von lebendigem Gespräch, wenn auch vermittelt, gespalten, gebrochen. Man darf allerdings nicht so töricht sein, wörtliche Übersetzungen zu verlangen. Das gilt nicht nur für das Gespräch zwischen Menschen verschiedener Sprachen. Auch wenn man einen eigenen Text in einer anderen Sprache wiederlesen muß, entdeckt man: Mein Gott, wie schrecklich genau seid ihr mit mir verfahren — das kann ja kein Mensch mehr verstehen! Das ist erst eigentlich Sprechen, und dem dient Hermeneutik: daß wir die Möglichkeit entwickeln, das, was einer eigentlich meint, dem anderen zu übermitteln und von ihm die Antwort, das Gegenwort, wie er es meint, zu erhalten. Ich bin durchaus der Meinung, daß wir auch Übersetzen als Hilfsmittel gebrauchen und pflegen sollen, aber nur, wenn wir uns dabei dessen bewußt sind, daß der neue Text neu sprechen muß. Er darf nicht durch das ganze rostige Gerüst der Ausgangssprache und ihrer Rhetorik verdeckt werden. Nur so können wir den anderen erreichen und an das, was er sagen will, herankommen. Das ist übrigens nicht nur beim Übersetzen so. Es geht immer darum, in unserem Umgang mit unseresgleichen das, was der andere eigentlich sagen will, aufzunehmen und über seine Antwort den gemeinsamen Boden zu suchen und zu finden. Die Bürokratisierung ist, wie Max Weber gezeigt hat, das eigentliche Schicksal unserer Zivilisation. Das ist sehr wahr und zeigt sich immer mehr in seiner Bedeutung. Es zeigt sich gerade auch im Umkreis der akademischen Welt und ihrer Aufgaben, die natürlich mit den Massenmedien und mit den Schulen und allem, was damit verbunden ist, eine innerliche, organische Einheit bilden. Da gilt es überall, Sprache in ihren schöpferischen Möglichkeiten zu entbinden und Verständigung zu erreichen. Das läßt sich nicht durch bloße Institutionen machen, sondern nur durch den lebendigen Austausch, und deswegen hat der Pluralismus, in dem wir leben, eine wahrhaft produktive Bedeutung. Das gilt in allen Bereichen, ζ. Β., wie sich Baustile herausbilden oder Kleidermoden oder die Formenwelt, in der wir uns ständig in der Literatur oder in der Kunst oder sonstwo bewegen. Auch jedes dichterische Werk, auch jedes Kunstwerk ist immer wieder ein anderes, ist auf eine geradezu fordernde Weise anders und verlangt unsere Antwort immer aufs neue. Das ist der Gesichtspunkt, unter dem ich die Aufgabe der Philosophie in unserer Zeit sehe. Unsere pluralistische Welt, in der wir uns befinden, ist wie das neue Babel. Aber diese pluralistische Welt enthält Aufgaben, und diese bestehen nicht so sehr in rationalisierender Planung und Verplanung, sondern in der Wahrnehmung der Freiräume des menschlichen Miteinanders, auch über Fremdes hinweg. Auch Sprache ist eben nicht das, was wir das sogenannte Zeitungsdeutsch nennen, bei dem jeder merkt, daß das eigentlich keine Sprache mehr ist, sondern eine bloße Informationsarbeit, die als
solche Meinungsbildung ihren Wert und ihre Notwendigkeit hat, aber das eigene Denken und den lebendigen Austausch des Gesprächs nicht ersetzen darf. Angesichts der alles gleichmachenden Informatik, mit der sich künftig wahrscheinlich in noch ganz anderem Maße Verfügbarkeiten in unserem gesellschaftlichen Leben breitmachen werden, muß um so mehr die Sprache in ihren eigensten Möglichkeiten gepflegt werden. Dazu gehört, das treffende Wort zu finden, und auch, das vielsagende Schweigen zu lernen. Das Ganze heißt im Gespräch sein. Das wahre Gegenteil ist die Routine des Streitgesprächs, wenn man auf irgendeine These einzig mit der Frage reagiert: »Ist da aber nicht ein logischer Widerspruch?« In Debattiernationen, zu denen wir Deutschen nicht gerade durch Talent berufen sind, ist das oft eine bloße Technik. Wir müssen das Gespräch in seiner inneren Wahrheitsmöglichkeit dagegen verteidigen, vor allem natürlich gegen die Unterwerfung unter die Regeln einer bloßen Scheinlogik, die man als Sophistik kennt. Ich möchte sagen, wir hätten damit einen besseren Begriff von Vernunft gewonnen. Das ist nicht etwas Irrationales, weil es freilich nicht nur Kalkulieren oder logisch zwingendes Schließen ist. Es ist im Gegenteil ein vielseitigerer Anblick von Vernunft, so wie einer in unserer Sprache sagt: »Aber sei doch vernünftig und argumentiere nicht wild drauflos!« Was heißt es denn, wenn man etwa im Streit ist, daß man vernünftig sein soll? Es soll offenbar heißen, daß man das, was der andere hat sagen wollen, in seinen positiven Intentionen aufgreifen sollte. Wenn man ihn darin versteht, dann kann sich überhaupt erst die Möglichkeit finden, mit ihm in Streitfragen vielleicht zu Lösungen zu kommen. Alle Diplomatie beruht wesentlich darauf, daß solche Möglichkeiten wahrgenommen werden. . Ich möchte zum Schluß noch etwas über den Begriff der Bildung sagen. Da redet man vom Bildungsbürger, von den Zeiten der höheren Bildung. Da redet man von dem Klassengegensatz von Gebildeten und Ungebildeten, der durch eine übertriebene Patentierung akademischer Qualitäten in unserer deutschen Geschichte und in unserer Gesellschaft recht zweifelhaft und unheilvoll gewesen ist. Aber macht das Bestehen eines Examens gebildet? Was ist eigentlich Bildung? Erlauben Sie mir, hierzu einen Größeren zu zitieren. Es ist ein Wort von Hegel: Bildung heißt, sich die Dinge vom Standpunkt eines anderen ansehen zu können. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen, daß Ihre Studien Ihnen nicht nur zu wirklichem Können und nicht nur zu Patenten verhelfen, sondern auch zu der Bildung, einen anderen von seinen Gesichtspunkten aus verstehen zu lernen.
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Über die Sprache und ihre Grenzen nachzudenken, das ist ein Angebot, das fur mich so unwiderstehlich ist, wie es für Sokrates war, wenn ihm von einem vielversprechenden jungen Mann berichtet wurde, mit dem zu reden es sich lohne. So geht es mir, wenn von dem »Knochen Sprache« die Rede ist, an dem Hamann sein Leben lang gekaut hat und den er nicht losließ, auch wenn kein Fetzen Fleisch mehr von dem Knochen lösbar scheint. Während freilich die Wissenschaften, die auf Erfahrung aufbauen, viel Farbiges und Reizvolles über die Sprache berichten können, hat es das besondere Grau der Philosophie an sich, nur begriffliche Klärungen vorschlagen zu dürfen. Indirekt mag dann auch die wissenschaftliche Erforschung der Sprache und ihrer Grenzen etwas gewinnen. Wieweit die Evolutionstheorie dabei eine Rolle spielt, wird im folgenden nicht ganz unbeachtet bleiben. Es besteht wohl kein Zweifel, daß Sprache nicht nur als Wortsprache, sondern als Kommunikationsform gesehen werden muß. Das bedeutet, daß ein weiter Begriff von Sprache neben einen engeren zu stehen kommt. Sprache meint im weiteren Sinne alle Kommunikation, nicht nur Rede, sondern auch alle Gestik, die im sprachlichen Umgang der Menschen mitspielt. Nun gibt es die sogenannten Tiersprachen. Doch das ist ein eigenes Thema. Dagegen ist es mir besonders wichtig, die Zwischenform zu beachten, die ohne Zweifel eine Kommunikationsform von eigenem Typus ist, die Sprache, die der Mensch mit Tieren redet und die bei gewissen domestizierten Tierarten irgendwie verstanden wird. Im Zentrum meiner Überlegungen wird aber selbstverständlich die Wortsprache stehen. Bereits eingangs möchte ich eine Bemerkung machen, die in gewissem Sinn schon darauf hinweist, daß Sprache ihre Grenzen hat. Ich meine den Zusammenhang zwischen Sprache und Schrift, und dabei ist alle Art von Schriftlichkeit gemeint. Es muß natürlich nicht Buchstabenschrift sein, es kann auch Silbenschrift sein, es kann auch Bilderschrift sein. Aber daß es überhaupt möglich ist, Sprache in Schrift zu übertragen oder der Sprache etwas durch Schrift nachzuschreiben oder >vorzuschreiben^ weist auf eine Art Selbsteinschränkung hin, die dem sprachlichen Ausdruck unseres Denkens auferlegt ist. Wir haben es wie im Gespräch mit einem Gegenüber zu
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tun, das meiner eigenen Sprachgemeinschaft angehört und damit uns beide verbindet. Um sich der Universalität des Problems der Sprache in ihrer ganzen Bedeutung bewußt werden zu können, möchte ich, wie auch öfters, auf Aristoteles zurückgehen. Bei allem Respekt vor Leuten wie Herder oder Rousseau, die über den Ursprung der Sprache Rede gestanden haben, meine ich doch, sie haben am Ende alle Aristoteles nicht genug gelesen. Ich denke als erstes an die berühmte Wendung des Aristoteles über den Vorzug des Sehens. Am Anfang der >Metaphysik< heißt es da, daß das Sehen der erste und wichtigste unserer Sinne ist, weil es die meisten Unterschiede offenbar macht. An anderer Stelle spricht aber Aristoteles dem Hören den Vorzug zu1. In der Tat, unser Hören kann auf die Sprache hören, und damit kann es nicht nur die meisten Unterschiede offenbar machen, sondern alle möglichen Unterschiede überhaupt. Diese Universalität des Hörens ist ein Hinweis auf die Universalität der Sprache. Sie hat ihre besondere Bedeutung gerade auch für die Auseinandersetzung wissenschaftlicher Art, die ich zum Beispiel mit meinen naturwissenschaftlichen Freunden oder mit der Frankfurter Schule, mit Habermas und anderen, gehabt habe und wo es um die Frage geht, ob es nicht neben der Sprache noch andere ebenso fundamentale Auszeichnungen des Menschen gibt, die für sein Schicksal bestimmend sind. Mir scheint dabei nicht die volle Potentialität in Rechnung gestellt, die in der Sprache liegt und die Sprache befähigt, mit dem, was man Vernunft nennt, jeweils Schritt zu halten. Eine zentrale Stelle, die wir bei Aristoteles über die Universalität der Sprache lesen und die in außerordentlich perspektivenreicher Weite dazu Stellung nimmt, ist die berühmte Definition des Menschen im Zusammenhang der Aristotelischen >Politik<2. Da ist es bekanntlich so, daß der Mensch das vernünftige Lebewesen, das >animal rationale<, genannt wird. So lernte man es auch im philosophischen Unterricht, und ich erinnere mich, wie ich dreiundzwanzig Jahre war und zum ersten Male durch Heidegger die Augen dafür geöffnet bekam, daß es außerordentlich irreführend ist, an der Aristoteles-Stelle >Logos< mit >rationale< zu übersetzen und den Menschen als das Vernunftwesen zu definieren. Der Zusammenhang der Stelle ist ganz eindeutig. Es ist davon die Rede, daß die Natur bei den Vögeln so weit gekommen ist, daß sie sich mit Signalzeichen gegenseitig Gefahr oder auch Futter anzeigen. Beim Menschen dagegen sei die Natur einen Schritt weiter gegangen. Sie habe ihm den >Logos< gegeben, das heißt die Möglichkeit, etwas durch Worte zu zeigen. Die Rede kann etwas vorstellen, vor uns stellen, wie es ist, auch wenn es nicht gegenwärtig ist. Dann aber fährt dieser 1 2
De Sensu 1,437a 5 . Pol. A 2, 1253 a 9.
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bedeutende Satz des Aristoteles fort, daß damit die Natur uns den Sinn fur das Zuträgliche gegeben hat — und fur das Gerechte. Auch wenn wir uns bewußt sind, daß die Stelle im Zusammenhang der Aristotelischen Vorlesungen über die Politik steht, ist es doch im ersten Augenblick rätselhaft, wie das alles zusammenhängt, und wir. werden es genauer bedenken müssen. Zunächst steckt darin - wie auch der Text andeutet - der Sinn fur Zeit. Es ist überzeugend und im griechischen Wort fur das Zuträgliche (συμφέρον) ganz deutlich, daß man nicht nur das, was einem selber im Augenblick gefällt, wählen kann, sondern gerade auch etwas, was für die Zukunft etwas verspricht. Das ist die Art, wie wir Mittel wählen, z.B. eine schlecht schmeckende Medizin, wenn wir gesund zu werden hoffen. Aber was ist nicht schon alles darin gelegen, daß wir Mittel wählen. Hier werden Vorzüge und Nachteile gegeneinander abgewogen. Darin ist schon Distanz vorausgesetzt. Man muß sich vorstellen, was im einen, was im anderen Falle daraus folgt, und man kann entsprechend das, was man so vor sich stellt, auch anderen in solcher Weise mitteilen. In gewisser Weise ist dieses Zeugnis auch ein Zeugnis für die Evolutionstheorie. Es steht geradezu da: »Die Natur ist so weit gekommen - bei den Vögeln, bei den Menschen. . .« Es ist freilich weit mehr als eine Evolutionstheorie, sofern dieses Gegenwärtighaben, das uns die Sprache gewährt, von Aristoteles als die letzte Perfektion in der Entwicklung des Lebendigen durch die Natur gesehen ist. Das drückt sich nicht zuletzt in der Theologie des Aristoteles aus, in jenem Begriffe des Göttlichen, den Aristoteles von der Selbstvergegenwärtigung aus beschreibt, die im Denken als seine besondere Möglichkeit gelegen ist. Hier hat die moderne Evolutionstheorie doch wohl eine völlig andere Perspektive. Gerade die Evolutionstheorie darf das nicht vergessen, wenn sie jetzt versucht, eine Erkenntnistheorie auf ihrer eigenen Voraussetzung aufzubauen und damit erkenntnistheoretische Fragen in einem neuen Lichte zu sehen. Wenn die Evolutionstheorie konsequent ist, dann muß sie sich der Folgerung stellen, daß sich unser Organismus — und damit die Erkenntnisund Handlungsfähigkeiten der menschlichen Rasse - in Anpassung an die Lebensbedingungen unserer Erde entwickelt hat, die in Gestalt des Menschheitswissens und der abendländischen Wissenschaft ungeheuere Erfolge gezeitigt hat. Aber gerade unter diesem Gesichtspunkt kann es nicht als unmöglich angesehen werden, daß die Unspezialisierung, die die Auszeichnung des Lebewesens Mensch sein soll und ihm seine einzigartige Anpassungsfähigkeit an die Lebensbedingungen auf der Erde verliehen hat, selber eine Spezialisierung ist, die es in eine Sackgasse führt. Sie könnte dazu fuhren, daß wir uns vor lauter Verstand umzubringen lernen und am Ende vielleicht einer neuen Spezies, vielleicht den Delphinen oder irgend einem anderen Lebewesen aus den Ozeanen (oder den Ratten), eine neue Lebenspe-
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riode auf diesem Planeten eröffnen. Es ist, wie ich meine, ein reiner Zirkel, wenn sich die Evolutionstheorie zur Erkenntnistheorie ausweiten will. So läßt sich Erkenntnis nicht als Erkenntnis rechtfertigen, und man irrt sich, damit der Konsequenz Nietzsches ausweichen zu können, daß menschliche Erkenntnis als Erhaltungs- und Steigerungsbedingung des Willens zur Macht überhaupt nichts mehr über das Sein der Dinge und die Wahrheitsfrage auszusagen hat. Betrachten wir das Aristoteles-Zitat etwas genauer. Da sehen wir einen eigentümlichen Übergang, nämlich von der tierischen Kommunikation durch Signale zu einem Offenlegen des >Zuträglichen<, das heißt zu einer Beziehung auf anderes, von dem wir annehmen, daß es sich so und so verhält. Das ist ein schöner Ausdruck der deutschen Sprache: »die Sache verhält sich so und so«. Es liegt darin, daß wir sie so nehmen und zu nehmen haben, wie sie sich von sich selber her verhält. Darin liegt abermals Distanzierung von uns selbst und von unseren Wunschillusionen. Es ist eine Art Objektivierung, die uns von der Natur nicht so sehr geschenkt als von der Realität abverlangt wird und bei der man durchaus noch nicht an die neuzeitliche Experimentalwissenschaft denken muß. Vielmehr ist solche Distanz die Voraussetzung, unter der der Mensch zu der besonderen Leistung gegenüber der Wirklichkeit fähig geworden ist, nicht nur sich etwas vorzustellen, sondern auch sich im voraus etwas vorzustellen. Das bedeutet den Sinn für Zeit, den Sinn fur das Nichtgegenwärtige, für das Vorzügliche, um dessen willen ich Mittel wähle - auch solche, die mir nicht sofort gefallen. All das läßt sich nun von einem weiteren Begriff des Aristoteles aus nicht nur verdeutlichen, sondern in seiner kulturstiftenden Bedeutung begreifen. Es geht dabei um den Übergang vom >homo faben zum >animal politicum<. Es handelt sich um den Begriff der >Synthëke<. In einer allerdings irreführenden Übersetzung ist das >Konvention<. In Wahrheit ist es der Vollsinn von Sprache und die volle Menschlichkeit des Lebens, die sich durch diesen Ausdruck bestimmt. Da sagt nämlich Aristoteles, Sprache sei eine Form des Bezeichnens und des Mitteilens, die nicht von Natur ist, sondern aufgrund von Übereinkunft3. So wenig wie in Rousseaus Staatstheörie ist hier natürlich von einer wirklichen Übereinkunft, die getroffen wird, die Rede. Im Fall der Sprache wäre das nicht nur ein Zirkel, sondern ein offenbarer Widersinn, daß man sich abspricht, so und so zu sprechen. Wir kennen genug das Zerrbild von Sprache, das bei solchen Sprachregelungen herauskommt. Selbstverständlich ist das nicht gemeint. Durch den Ausdruck >Syntheke< soll nur die Grundstruktur dessen, was sprachliches Verstehen und sprachliche Verständigung ist, bezeichnet werden: Übereinkommen. 3
De Int. 2, 16a 27; 4,17a t .
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Dafür gibt es in der Aristotelischen Logik eine wunderbare Stelle4, die sicher auch Herder gekannt hat und die ich oft zitiere. Im Kapitel über die sogenannte Induktion schildert Aristoteles, wie sich aus Wahrnehmungen, die sich häufen und die wir in der Erinnerung festhalten, Erfahrung ergibt, und von da aus der Übergang zu allem Wissen und allen Fertigkeiten. Wenn sich nun Aristoteles fragt, wie dieser Obergang eigentlich zu denken ist, durch den aus vielen Einzelheiten das Wissen von Allgemeinem zustandekommt, bringt er folgenden Vergleich. Es ist wie bei einem fliehenden Heer, alle rennen in Panik davon. Schließlich bleibt einer stehen und schaut sich um, ob der Feind ihnen noch nahe aufden Fersen ist. Und dann bleibt vielleicht ein anderer stehen, und ein dritter. Wenn einer stehenbleibt, ist das noch nicht das Ende der Flucht, und auch nicht, wenn der zweite oder dritte stehenbleibt. Aber am Ende, man weiß nicht wie, kommt das Heer wieder zum Stehen. Es kommt die Flucht zum Stehen. Der Ausdruck ist: die > Archê< wird wiederhergestellt, die Einheit des Kommandos. Alle gehorchen wieder der Führung. Das ist die Beschreibung eines Anfangs ohne Anfang. Schon im Altertum ist zu dieser Stelle durch Themistios das Sprechenlernen des Kindes herangezogen worden, und in der Tat sollte man auf diesen Zusammenhang zwischen Sprach- und Begriffsbildung achten. Der Begriff der >Synthêke<, des Übereinkommens, enthält zunächst, daß Sprache sich im Miteinander bildet, sofern sich da Verständigung entwickelt, durch die man zu Übereinkünften kommen kann. Dieses Übereinkommen ist von außerordentlicher Bedeutung. Es liegt in ihm kein erster Anfang, sondern es ist geradezu im Wortsinn des deutschen Ausdrucks ein Zusammenkommen, ein Kontinuum des Übergangs, der das Leben der Menschen von der Familie, der kleinen Wohn- und Lebensgruppe, bis zu der schließlichen Entfaltung einer Wortsprache in größeren sprachlichen Gemeinschaften führt. Wendet man die logische Beschreibung der Bildung von Allgemeinbegriffen in dieser Weise auf die Sprache an, dann wird einem gewiß deutlich, wie der Fluß der Erscheinungen, in dem man etwas behält, die erste Voraussetzung für das Denken des Allgemeinen ist. So wie Herder das mit dem Blöken der Schafe schildert, dassichim Gedächtnis festsetzt. Darin liegt das Besondere des sprachbildenden Vermögens überhaupt, das merkmalhaft Bedeutsame herauszuhören. Das heißt aber, Bildung von Allgemeinem bedeutet auch eine Selbstbeschränkung des eigenen SpielVermögens. Wir müssen uns eingestehen, daß ein dreijähriges Kind im Umgang mit der Sprache sehr viel reicher und genialer ist als jeder Erwachsene. Gewiß gibt es ein paar Riesenkinder des Geistes, wie Goethe etwa, dessen Sprachschatz heute in lexikalischer Aufarbeitung aufgenommen wird und der in einer Unzahl von Bänden einen enormen Reichtum sprachlicher Vielfalt aufweist. • An. Post. Β19,100a , 2 .
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Doch das gilt allgemein. Es sind überhaupt die Dichter, die von der Flexibilität des sprachlichen Vermögens jenseits der Regeln, jenseits der Konvention Gebrauch machen und doch auch noch innerhalb der Möglichkeiten, die die Sprache selbst anbietet, Ungesagtes zum Sprechen zu bringen wissen. Wenn wir an diese Sonderfälle, das Kind und das Genie, denken, dann wird uns bewußt, wieviel wir als menschliche Gesellschaft für die Einformung in dieselbe zu zahlen haben. Da artikuliert sich eine wohlvertraute und einen wahren Schatz darstellende Erfahrung im Sprechenlernen selbst. Das ist eine durchaus wandlungsfähige Weltorientierung. Ich habe in meiner Kindheit noch >Walfische< sagen gelernt. Heute sagt jeder Mensch >Wale<. Es hat sich in unser aller Bewußtsein eingeprägt, daß das Säugetiere und keine Fische sind. So wird die Sprache selber wieder Erfahrung berücksichtigen. Im ganzen ist das aber doch eine eigentümliche Doppelgerichtetheit unseres kreativen Vermögens. Einerseits sind wir zu Verallgemeinerungen und Symbolisierungen fähig, wie sie im Wunder der Wortsprache besonders eindrücklich am Tage liegen, und doch ist dieses sprachbildnerische Vermögen gleichsam in Schranken geschlossen, die es sich selbst aufrichtet. Es verpuppt sich gleichsam, ohne je wie der Schmetterling die Flügel wieder zu regen. Wir nähern uns damit der Frage der >Grenzen der Sprachen Es ist ja nicht nur die Abhebung der Sprache gegen das Vorsprachliche, die sich in unseren Betrachtungen gezeigt hat. Wir sollten auch das Nebensprachliche nicht ganz außer Acht lassen. Ich meine etwa: Was ist das Lachen? Aristoteles hat zwei Definitionen des Menschen gegeben. Er ist demnach das Lebewesen, das Sprache hat, und das einzige Lebewesen, das lachen kann5. Nicht ohne Grund. Beide Definitionen haben offenbar eine gemeinsame Wurzel, die der Distanz zu sich selber. An der Sprache hatten wir das als die Fähigkeit kennengelernt, eine Annahme zu machen, etwas vorzustellen, ohne an es ausgeliefert zu sein, sondern es so vorzustellen, daß wir über es nur nachdenken. Auch im Lachen ist eine eigentümliche Form der Selbstdistanzierung gelegen, in der die Wirklichkeit ihren Wirklichkeitsdruck für einen Augenblick verliert und zum Schauspiel wird (Bergson, Plessner). Das Lachen scheint mir ein Nebensprachliches zu sein und nicht, wie die sonstigen Formen tierischer Kommunikation, ein Vorsprachliches. Wer lacht, sagt etwas. Tiere lachen nicht. Auch wenn es gewiß Lachtauben gibt, wären sie doch ein schlechtes Argument. Wir fragen also, was dieses Nebensprachliche wie das Lachen, das so eng mit dem Sprachlichen selber verknüpft scheint, eigentlich ist. Was wir am kleinen Kind sehen, ist ja gerade die innere Beziehung zwischen der Entwicklung des Säuglings zum kommuniDe Part. An. Γ10, 673 a 8, 28·
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kativen Wesen, zum Lachen und zum Sprechen. Was geht da vor sich? Was ist das fur ein Übergang, der uns so aufregt? Wie ist das möglich, daß aus den imitativen Artikulationsspielen, dem Lallspiel des Säuglings und dem Antwortspiel mit der Mutter, schließlich das Bedeutungshafte von Wortbildungen sich freiringt und festmacht? Mir scheint es ein wenig irreführend, wenn man diese Probleme an Beispielen expliziert wie dem, wo ein Kind mit Hilfe seiner Mutter das Wort >Ball< lernt. Das hätte es auch ohne die Hilfe der Mutter gelernt. Es war auf gutem Wege, sprechen zu lernen. Ich bin nicht so ganz überzeugt, daß es richtig ist, solcher rührender Bemühung der Mutter in unserer Welt Bedeutung zuzusprechen. Daß das in der sogenannten heilen Welt, von der wir so heimwehtrunken sprechen, der Fall war, mag gewiß als Material für den Forscher von heute von besonderem Werte sein, weil sich dort die Dinge mit den modernen Beobachtungsmitteln objektivieren lassen. Aber das Erstaunliche an der menschlichen Natur, aus der wir sozusagen hervorgegangen sind, ist doch, daß selbst in unserer so verfremdeten und entfremdeten Welt, in der etwa Eltern hochdeutsch zu Kindern reden und nicht ammendeutsch, die Kinder gleichwohl zu ihren schönsten Abstraktionen selber fähig werden. Ich erinnere mich einer kleinen Beobachtung, die ich einmal bei einer meiner Töchter machte. Ich las Zeitung. Das Kind muß so zweieinhalb Jahre gewesen sein - und deutet plötzlich mit dem Finger auf den Annoncenteil mit dem Ausdruck: »Meck-Meck! « Erst wußte ich gar nicht, was sie meinte. Dann sehe ich, da war eine Reklame für das Bock-Bier, wo ein Ziegenbock sehr stilisiert abgebildet war. Das Kind hatte den abstrakten Bock besser erkannt als ich. Solche Abstraktionsleistungen stellen in einem erwachenden Kinderbewußtsein den großen ersten Schritt dar, und ich bin im Grunde zuversichtlich, daß meine Zuwendung zu dem Kinde auch von ihm aus der wohlklingenden Prosodie meines Hochdeutsch herausgehört^worden ist. So habe ich als Vater nie versucht, mich auf das Ammendeutsch einzulassen, und bin nicht sicher, ob das wirklich ein Mangel war. Ich glaube, daß auch meine Mutter, die ich sehr früh verloren habe und die sehr krank war, kaum auf diese Weise mit mir zu kommunizieren versucht hat, und ich habe doch noch Deutsch gelernt. Aber es ist ein ernsteres Problem hinter diesem Scherz. Wie sieht die Kommunikation aus, die im Sprechenlernen vor sich geht? Sie kann ja noch nicht Sprechen sein. Es ist ohne Zweifel ein Sich-Einspielen-miteinander. Der Erwachsene ist selbstverständlich in gewissem Sinne im Besitz eines vollen Sprachvermögens, und das Kind hat das noch nicht. Aber auf der anderen Seite ist ein wirkliches Kommunizieren doch nur möglich, wenn es sich immer schon um ein echtes Spiel von Frage und Antwort, Anwort und Frage handelt. Das ist es, was sich hier in einem Vor-Wortstadium bereits
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meldet und was schließlich zum gemeinsamen Aufbau von Verständigung und zum >Verstehen< der Welt fuhrt. Das Geschehen, das den Graben zwischen der noch nicht semantisch artikulierten Form der Kommunikation und der Wortkommunikation überbrückt, ist das Spiel. Das scheint mir eine Art vorsprachlicher Dialog zu sein. Schon das Spiel des Säuglings mit seinen eigenen Fingern und Bewegungen, erst recht das Spiel, das den anderen meint. Hierhin gehört als ein Übergangsglied zweifellos die Autonomie der Prosodie. Das Überwiegen des prosodischen Elements, des melodischen Elements, lange bevor die Artikulation in semantische Elemente überhaupt mithineinspielt, zeigt sich deutlich an der Sprache mit dem Haustier. Das domestizierte Tier versteht, angesprochen, weil es den prosodischen Aspekt realisiert und weiß, ob man es zum Fressen einlädt oder ihm versichert, daß es nichts mehr gibt. Die ganze Sphäre kommunikativen Austausches ist offenbar von prosodischer Struktur mitgetragen und wird immer noch weiter dadurch mitgetragen, solange gesprochen wird. Das bedeutet für das Vorsprachliche, daß es im gewissen Sinne immer schon auf das Sprachliche hin unterwegs ist.
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zwischen einer Massengesellschaft und wenigen, eigentlich kreativen Begabungen, die zugleich ein Nebeneinander ist, scheint unausweichlich heraufzukommen. So wird wohl auch eine Gesellschaft, die technisch noch weit über unsere fortgeschritten ist, am Leben bleiben können, weil sich die Anpassungstalente und die kreativen Neuerer in immer neuen Verhältnissen ausbalancieren. Auf der anderen Seite wird man gerade, was das Vokabular unserer Sprache betrifft, nicht blind dagegen sein dürfen, daß die Zwischeninstanz der Computerwelt, die unsere Schriftsprache beherrschen wird, dem Wortreichtum möglicher Verständigung mit Sicherheit enge Grenzen setzt, so daß wir hier gleichsam zu einem Code kommen, der für das sprachliche Vermögen eine Barriere aufbaut und seine erstarrte Regelform mit Maschinengewalt erzwingt.
für die Brauchbarkeit seiner Aussage geschützt werden. Aber das ist offenkundig ein hermeneutisches Problem von hoher Verwicklung. Dem Zeugen kann dabei nicht wohl sein, dem entscheidenden Gericht ist leicht zu viel aufgetragen. Ähnlich steht es mit dem Zitieren von Worten. Nichts ist ja so geduldig wie aus dem Zusammenhang gerissene Zitate. Manche haben ein richtiges eigenes Leben als Redensart gewonnen, zum Beispiel »Ich kenne meine Pappenheimer«. Bei Schiller sagt Wallenstein es in vermeintlicher Freude, weil er sie für tapfer und treu hält. Das Wort hat im heutigen Gebrauch einen ganz ironischen Sinn erhalten. Wir sehen an den Beispielen, welche prinzipielle Grenze eine Aussage hat. Sie kann nie alles sagen, was zu sagen ist. Wir könnten dem auch die Form geben, daß alles, was sich uns zu einem Gedankenzusammenhang in uns bildet, im Grunde einen unendlichen Prozeß einleitet. Ich würde vom hermeneutischen Standpunkt aus sagen, daß es kein Gespräch gibt, das zu Ende ist, bevor es zu einem wirklichen Einverständnis geführt hat. Vielleicht muß man hinzufügen, daß es deswegen im Grunde kein Gespräch gibt, das wirklich zu Ende ist, da ein wirkliches Einverständnis, ein ganz vollständiges Einverständnis zwischen zwei Menschen, dem Wesen der Individualität widerspricht. Daß wir in Wahrheit kein Gespräch wirklich bis zu Ende führen und oft nicht zum Einverständnis kommen, das sind Begrenzungen unserer Zeitlichkeit und Endlichkeit und Voreingenommenheit. Die Metaphysik redet von dem aristotelischen Gott, der all das nicht kennt. Die Grenze der Sprache ist also in Wahrheit die Grenze, die sich in unserer Zeitlichkeit, in der Diskursivität unserer Rede, des Sagens, Denkens, Mitteilens, Sprechens vollzieht. Plato hat das Denken das innere Gespräch der Seele mit sich selbst genannt. Hier wird die Struktur der Sache ganz offenkundig7. Es heißt Gespräch, weil es Frage und Antwort ist, weil man sich so fragt, wie man einen anderen fragt, und sich etwas sagt, wie einem ein anderer etwas sagt. Schon Augustin hat auf diese Redeweise hingewiesen. Jeder ist gleichsam im Gespräch mit sich selber. Auch wenn er im Gespräch mit anderen ist, muß er im Gespräch mit sich selbst bleiben, soweit er denkt.
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Zuletzt möchte ich als Grenze der Sprache das Übersprachliche nennen, die Grenze zum Ungesagten und vielleicht gar zum Unaussprechlichen. Dafür gehe ich von dem aus, was wir die Aussage nennen6. Ihre Grenze war wohl das Schicksal unserer abendländischen Zivilisation. Unter der extremen Bevorzugung der >Apophansis<, der Aussage, hat sie eine ihr entsprechende Logik entwickelt. Es ist die klassische Urteilslogik, die auf den Urteilsbegriff gestützte Logik. Die Bevorzugung dieser Form des Sprechens, die nur einen Aspekt innerhalb der reichen Vielfalt sprachlicher Äußerungen darstellt, bedeutet eine besondere Abstraktion, die ihre Wichtigkeit für den Aufbau doktrinaler Systeme bewiesen hat, etwa fur die Monologe der Wissenschaft, die am Lehrsystem Euklids ihr Vorbild anerkennen. Da müssen es Aussagen sein, die man logisch kontrollierbar machen kann. Wenn man aber zum Beispiel als Zeuge vor Gericht geladen ist, muß man auch eine Aussage machen. Dieselbe wird dann protokolliert, und man muß das Protokollierte, das man da gesagt hat, unterschreiben. Ganz ohne den lebendigen Gesprächszusammenhang wird es fixiert. Ich: kann nicht bestreiten, daß ich das Protokollierte gesagt habe. Ich kann also die Unterschrift nicht verweigern. Aber in welchem Redezusammenhang das stand, in welchem Beweiszusammenhang das zwecks Urteilsfindung und Urteilsbegründung auftrat, kann ich als armer Zeuge überhaupt nicht mehr beeinflussen. Das Beispiel zeigt besonders deutlich, was eine Aussage ist, die aus ihrem pragmatischen Zusammenhang gelöst ist. Es gibt gute Gründe, daß man das im Gerichtswesen so machen muß. Wie könnte man sonst überhaupt zu unbeeinflußten Aussagen über Tatsachen gelangen. Dafür ist nötig, daß der Zeuge über die Fragepunkte und Ungewißheiten möglichst uninformiert ist. Wenn einer ein bißchen schlau ist, fragt er sich doch bei jeder Frage, was die eigentlich wissen wollen. Daher muß die Uninformiertheit des Zeugen 6
Siehe dazu auch >Sprache und Verstehe» in Ges. Werke Bd. 2, S. 192ff.
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Die Sprache vollzieht sich also nicht in Aussagen, sondern als Gespräch, als die Einheit von Sinn, die sich aus Wort und Antwort aufbaut. Erst darin gewinnt Sprache ihre volle Rundheit. Das gilt vor allem für die Wortsprache. Aber sicherlich gilt es auch für die Sprache der Gesten, der Sitten und Ausdrucksformen verschiedener einander fremder Lebenswelten. Am Phänomen der Fremdsprache ist es besonders deutlich. Die Griechen haben in ihrem relativ begrenzten Kulturhorizont und in ihrem relativ unbegrenzten Kulturstolz gegenüber allen anderen Völkern als Ausdruck 7
Vgl. >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 368ff.
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für das Sprechenkönnen >hellenizein< gebraucht. Das heißt fur sie reden. Andere Völker reden in ihren Augen überhaupt nicht wirklich. Sie bringen nur eine Art Rhabarber zusammen, und deswegen heißen sie Barbaren. Das ist ein lautmalerisches Wort, das unterstellt, daß solche Menschen gar nicht wirklich sprechen, daß sie gar keine Sprache haben. Das ist gewiß nicht mehr unsere Art. Aber auch für uns bleibt die Fremdsprache eine eigentümliche Grenzerfahrung. In der tiefsten Seele des einzelnen Sprechers wird es wohl nie ganz überzeugend, daß andere Sprachen ihm wohlvertraute Dinge anders nennen, etwa für den Deutschen, daß das, was ein Pferd ist, auch >horse< heißen kann. Da scheint doch etwas nicht richtig. Für uns alle aber gilt das, wo es sich um Übersetzung handelt8. Da ist Poesie, das lyrische Gedicht, die große Instanz für die Erfahrung der Eigenheit und der Fremdheit von Sprache. Es gibt nicht so sehr Grade der Übersetzbarkeit von Sprache zu Sprache als Grade der Unübersetzbarkeit. Es ist die Verzweiflung jedes Übersetzers im Anfertigen von Übersetzungen, daß es zu den einzelnen Ausdrücken der fremden Sprache keine korrespondierenden Ausdrücke gibt. Die reine Korrespondenztheorie ist offenbar falsch. Wir haben hier eine Grenze anzuerkennen. Allerdings würde ich sagen, es ist eine Grenze, die sich immer wieder ein paar Schritte weit überschreiten läßt und immer besseres Gelingen verspricht. Das würde ich auch für den Versuch in Anspruch nehmen, das, was ein anderer gedacht hat und •was in einem anderen Sprachkleide vor uns steht, als Wort oder als Text, in der eigenen Sprache sagen zu können. Übersetzer bleiben freilich zumeist, auch dann, wenn es sich nicht um den Extremfall dichterischer Worte handelt, ermattet auf dem halben Wege stehen. Es ist eben ein unendlicher Prozeß, die Umbildung des Sprachgefühls und des Sprachinhalts des fremden Sprechers in das Sprachgefühl und die Sprachinhalte der eigenen Sprache zu leisten. Es ist ein nie ganz vollendbares Selbstgespräch des Übersetzers mit sich selbst. Ebenso ist es für den, der eine fremde Sprache gebraucht. Dieselben Worte oder ganz verwandte Worte können in einem fremdsprachlichen Zusammenhang ganz anderen Stellenwert besitzen. Je besser einer die Zielsprache, wie wir sagen, spricht, desto weniger wird er die bloßen Annäherungen der Wiedergabe ertragen können, die ihm in den sogenannten Übersetzungen begegnen. Auch in dem begrifflichen Vokabular der modernen Linguistik zeigt sich die gleiche Grenze. Die Forscher selber haben die Regelsysteme, die sie zu erkennen und zu entwickeln suchen, durch den Begriff der Sprachkompetenz ergänzen müssen, das heißt durch etwas, was wir nicht mehr durch Beschreibung von Regelrichtigkeit definieren können, sondern was über jede mögliche Regelgerechtigkeit hinausweist. Hier erlaubt Sprache etwas 8
Ausfuhrlicher dazu im vorangehenden >Lesen ist wie Obersetzen« (Nr. 24).
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oder verbietet Sprache etwas, was man nicht eigentlich weiß und wissen kann, solange man nicht die volle Sprachkompetenz besitzt. Das Regelsystem einer Grammatik ist eben nicht vollkommener als ein Gesetzbuch, das so gerecht wie möglich sein möchte. Hier zeigen sich Grenzen, die das Sprachvermögen für den unerreichbar macht, der die Sprache als Regelsystem konstruieren möchte. Endlich sei auf das tiefste der Probleme hingewiesen, die der Grenze der Sprache wesenhaft eingeboren sind. Ich fühle es nur dunkel, was in anderen Bereichen der" Forschung - ich denke vor allem an die Psychoanalyse — bereits eine große Rolle spielt. Es ist das Bewußtsein, daß jeder Sprechende in jedem Augenblick, in dem er das richtige Wort sucht - und das ist das Wort, das den anderen erreicht -, zugleich das Bewußtsein hat, daß er es nicht ganz trifft. Immer geht ein Meinen, ein Intendieren über das hinaus, an dem vorbei, was wirklich in Sprache, in Worte gefaßt den anderen erreicht. Ein ungestilltes Verlangen nach dem treffenden Wort - das ist es wohl, was das eigentliche Leben und Wesen der Sprache ausmacht. Hier zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen der Unerfüllbarkeit dieses Verlangens, des désir (Lacan), und der Tatsache, daß unsere eigene menschliche Existenz in der Zeit und vor dem Tode vergeht.
Musik und Zeit
33. Musik und Zeit Ein philosophisches Postscriptum (1988)
Wenn es die Sache der Philosophie ist, menschliches Denken und Trachten und Fragen auf den Begriff zu bringen und das Selbstverständliche zu neuer Verständlichkeit zu erheben, so umfaßt diese Aufgabe fast alles. Doch mag es weniges geben, was solchem Unternehmen ein so unüberschreitbares Halt gebietet, wie in diesem Falle. Wo Sprache überall mitgeht und vorangeht, mag es dem Begreifen der Begriffe gelingen, manche Schranken zu übersteigen. Aber zwei große Rätsel, die uns martern, die dem Philosophieren immer wieder aufgegeben werden, ohne Lösungswege sehen zu lassen, liegen eben dort, wo Sprache nicht vorangeht, sondern zurückbleibt. Das ist besonders auf zwei Feldern unserer europäischen Kulturwelt auf unzweideutige Weise der Fall, im Bereich der Musik und im Bereich der Mathematik. Beide sind einander von den Anfängen her nachbarlich verwandt und fast untrennbar, damals bei den Pythagoreem wie heute. Das Rätsel der Zahlen, die nirgendwo sind als in unserem denkenden Tun, legt sich uns auf wie eine unabhängige Wirklichkeit, die von unserem Belieben ganz und gar unabhängig ist. Eben das läßt uns so ratlos sein. Unser Denken steht staunend vor dem, was das ist, das hier seinem eigenen Gesetz gehorcht. Wie die Zahlen ist der Raum und sind sogar die Räume, die wir uns nicht einmal vorstellen können, ventia rationis< und können doch im Weltraum der Sprache keinen Anhalt finden. Die symbolischen Zeichensysteme, mit deren Hilfe sie sich artikulieren, führen auf ein geheimnisvolles Apeiron zu, mit dem menschliches Denken wohl überhaupt beginnt. Aber vor diesen Zeichensystemen weicht es ständig zurück. Für das Sprache begleitende und einen umfassenden Sinnraum erfüllende Denken, das Denken der Dichter und der in Begriffen Fortdenkenden, ist der Gebrauch dieser abstrakten Zeichen und verabredeten Symbole wie eine Blendung, die das gewohnte Dunkel mehr verdeckt als erhellt. Gewiß, wir ahnen, daß diese Welt der Mathematik mehr ist als ein bloßes Instrumentarium, mit dessen Zeichenhilfe man Begriffenes fixiert. Aber was ist sie? Und was ist die andere Welt der Sprache, die Heidegger das Haus
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des Seins genannt hat? Die Naturforscher können es kaum begreifen, warum die so hilfreichen Symbolsprachen manchem anderen gar nichts helfen, ja, oft nur die zusätzliche Aufgabe stellen, die Formelsprache in Wort und BegrifFzurückzuübersetzen, bis sie den Schein der Eindeutigkeit verliert. Wie ist es nun mit der Musik, mit der Sprache der Töne? Und wie ist es mit der Musik der Sprache? Beides kann wie Gesang sein und wird oft auch so genannt. Wo es >wirklich< Gesang ist, da ist es ein Zusammenspiel von Wortwelt und Tonwelt, ein Spiel zwischen zwei Welten. Es ist wohlbekannt, wie sich der Dichter und sein Leser nie ganz in dem wiederfinden und Wiederhören, was das vertonte Gedicht geworden ist. Goethe hat die Vertonung minderer Komponisten den Liedwundern Schuberts vorgezogen, und die >Poesie< der Textbücher der großen Opernkunst gehört vollends nicht der Weltliteratur an. Ist, wie die der Mathematik, die Welt der Töne wirklich eine so ganz andere Welt als die durch die Naturlaute der menschlichen Sprache gedeutete Welt? Im Grunde spüren wir an dem Sonderfall des erwähnten Zusammenspiels von Wort und Ton in der Liedkunst und in der Opernkunst, daß dieses Zusammenspiel verschiedener Welten auf einen geheimen Grund von Gemeinsamkeiten zurückdeutet. Dieser verborgene Grund tritt in manchen Erscheinungen der abendländischen Musik deutlich hervor, so im gregorianischen Choral und seiner Ausdeutung durch die flämische Polyphonie, in dem wortsprachlichen StO der Musik von Heinrich Schütz. Diese Erscheinungen haben vor allem Georgiades inspiriert, und manchmal scheinen mir auch Hugo-Wolf-Lieder so zu sein, daß ein Liebhaber Mörikescher Gedichte diese gar nicht von dem Duktus Hugo Wolfs lösen kann. Im ganzen scheint sich jedoch im dichterischen Worte etwas gegen die Verschmelzung von Musik mit der Sprachmelodie des Gedichtes zur Wehr zu setzen, auch wenn man sich der nicht minder hohen Kunst des Liederkomponisten und der Autonomie der Tonwelt am Ende willig und dankbar beugt. Aber was ist das für eine Welt, was für ein aufzunehmendes Ganzes? Auch wer mit dem Alphabet der Tonkunst nicht recht vertraut ist, spürt doch deren Eigengesetzlichkeit - und er findet sie sehr anders als die mathematischen Formelspiele, die gewiß ihren eigenen Zauber haben. So frage ich mich: Ist die Sprache der Töne am Ende doch eine wirkliche Sprache, wie die Sprache der Wortkunst? Gewiß wird ein jeder auch beim stillen Lesen von Gedichten in Wahrheit >hören<, wenn auch in einer eigentümlich idealisierten, unhörbaren Lautgebung1. Nun aber frage ich mich: Ist nicht vielleicht im >Musikmachen< ein ähnliches Hören im Spiel wie bei einem solchen Lesen? Es bleibt ja wahrlich ein unüberbrückbarer Abstand zwischen der Sinn- und Klanggestalt, die man so lesend >hört<, und jeder hörbaren LautgeAusflihrlicher dazu in diesem Band >Stimme und Sprache< (Nr. 22).
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bung, auch wenn es die der eigenen Stimme ist. Es gilt, einen Text sprechen zu lassen, vielleicht sogar vor anderen, den Zuhörern. Einen Text sprechen zu lassen, das zu können, nennen wir Interpretation. Es scheint das gleiche, was der, der Musik macht, tut und was der Leser im verstehenden Lesen tut. Hier kommt uns der Sprachgebrauch sehr zu Hilfe. Er warnt uns, denen zu folgen, die der Interpretation von Musik oder einer Aufführung eines Theaterstückes einen >sekundären< Sinn zusprechen, einen anderen als der Wissenschaft, die einen Text mit wissenschaftlichem Aufgebot >interpretiert<. Ist dieses Bemühen nicht in Wahrheit das Sekundäre, mehr wie das Stimmen der Instrumente, damit alles >rein< herauskommt, und alsdann wie das zusammenfassende Zusammenstimmen zu der Stimmung des Orchesters in einer homogenen Klanggestalt? Hier wie dort ist, was herauskommt, niemals ganz wiederholbar. Ein lesender Hörer eines Gedichtes wird es nie wieder ganz so lesen wie bei einem anderen Mal, auch wenn er es immer >ganz< versteht. Was der begnadete Dirigent vollbringt - und im Prinzip jeder seiner Musiker (oder der Regisseur wie jeder Schauspieler) - , sie können uns und den interpretierenden Wissenschaften am Ende nur ein Vorbild sein. Nicht in der Zwischenrede der Interpreten, deren Kommentare dickleibige Bände füllen, sondern im Sprechendwerden des Werkes selbst, das einem vorliegt, stellt sich das eigentliche Ziel des Verstehens dar. Kein Interpret, welcher Art auch immer, sollte je anders dasein wollen und anderes wollen, als in diesem Ziel zu verschwinden. Aber wie macht er es denn, so im Vollzug aufzugehen? Der große Künstler wird es wissen, wie jeder, der wirklich versteht, ob man da nun einen Text versteht oder gar einen Anderen. Nicht zufällig kam mir das Wort >Vollzug< in den Sinn, ein wunderbares Wort, voll von dialektischer Spannung. Aller >Zug< ist ein Verlauf in der Zeit, und aller Verlauf in der Zeit läßt die durchlaufene Zeit hinter sich und läßt die Raumstelle leer, die einer soeben durcheilt hat. Interpretieren, das Verstehen ist, läßt dagegen nichts leer hinter sich und nichts leer vor sich. Wer versteht, weiß zu warten und wartet, bis >es< kommt, wie der gute Schauspieler, der nicht aufsagt und das Leere auffüllt, sondern der warten kann, als ob er das Wort suchte und fände, als ob er >spräche<. Zwar, die Dialektik der vergehenden, der sich verzehrenden Zeit regiert alles2. Und doch, wo einer versteht, kommt etwas zum Stehen. Wer versteht, bringt zum Stehen, mitten im vollen Zug, dem Vorbeizug, den wir Leben nennen und der in aller Dauer nicht aufhört, eine Zeitgestalt zu haben. Aber was da zum Stehen kommt, ist nicht das berühmte >nunc stans<, wie der Augenblick der Inspiration. Eher schon ist es wie ein Ver2
Siehe >Über leere und erfüllte Zeit< in Ges. Werke Bd. 4, S. 137-153.
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weilen, bei dem nicht ein Jetzt, sondern die Zeit selbst eine Weile steht. Wir kennen das. Wer in etwas aufgeht, der vergißt die Zeit. Manchmal will mir scheinen, daß hier das Rätsel der Musik und seine Auszeichnung vor allen anderen Künsten sich ein wenig lichtet. Nichts zu sein als ein solches Zum-Stehen-Kommen im Vollzug selbst, das ist die Musik, die wir >machen< und die als Musik da ist. Auch in den anderen Künsten wird zwar >Verstehen< die gleiche Zeitgestalt haben, und Wahrheit wird auch dort im Vollzug bestehen. Aber es zieht nirgends so wie in der Musik als das reine Ziehen vorbei. Anderswo ist immer etwas darin, das steht, sei es eine eindeutige Bedeutung von Worten oder der Sinn der Rede, den man vernimmt. So ist es in der Dichtung, so auch in der Prosa des Gedankens. Selbst noch in der Folge von Tanzfiguren ist da noch ein Etwas, oder in der gegliederten Folge des Bildes, der Skulptur, des Bauwerkes. Daß nichts steht als das Ziehen selbst, das ist die Wahrheit des Vollzugs, der Musik ist. Wir nennen sie wohl Spiel. Aber - was ist dann Ernst? Wenn man die europäische Musikkultur als eine Einheit betrachtet, mag man sich fragen, ob eine so allgemeine Aussage ihre spezifische Eigenart trifft und ob sie nicht die besondere Affinität schuldig bleibt, die Musik zur Mathematik der Zahlen und der Maße besitzt. So hat die europäische Musik ihre reife Gestalt in der Wiener Klassik erreicht. Nun hat aber unser Jahrhundert wie in anderen Kunstarten, so auch in der Musik neue Impulse aus anderen Kulturwelten in sich aufgenommen - man denke an die wilden Gewalten des Rhythmus und an die Reizwirkungen, die eine fremdartige instrumentale und vokale Klangrhetorik ausübt. Auch das freilich steigert das Wachsen und das Sinken aller Lebenspulse und ist selbst auf eine rätselhafte Weise da und reißt uns mit. Wieder sind es Zeitgestalten. Nun muß es aber etwas bedeuten, daß gleichzeitig mit dem Einbruch solcher Musik, und fast im Gleichschritt mit der Ausbreitung der europäischen Wissenschaftskultur und der industriellen Technik, gerade die abendländische Musikkultur eine •wahrhaft planetarische Ausbreitung erfahrt. Es wäre ein ganzer neuer Fragenkreis, der sich in dieser Parallelität anzeigt - und auch in der atemberaubenden Geschwindigkeit, mit der sich beides in unserem Jahrhundert vollzieht. Zu der Reifung der abendländischen Musikkultur gehört nicht zuletzt die >absolute< Musik, und vollends mit ihr rücken wir in eine neue Dimension ein, in ein Jenseits der Vielfalt menschlicher Wortsprachen, und doch im Verbund mit ihnen. Da bahnt sich eine planetarische Kommunikation an, die nicht nur wie das stofflose Wehen des Geistes ist, sondern ebenso im leiblichen Tun besteht, im Machen der gleichen und immer neuen Musik. Den Botschaftern solcher Musikkultur der Menschheit seien diese Nachdenklichkeiten gewidmet.
Heimat und Sprache
34. Heimat und Sprache (1992)
Heimat ist nicht bloß ein Aufenthaltsort, den man wählt und verändern kann. Man kann die Heimat auch nicht vergessen. Sie ist, um ein berühmtes Wort von Schelling zu verwenden, etwas Unvordenkliches. So muß das Leben im Exil von dem Gedanken an die Heimat begleitet sein, aus der man sich ausgeschlossen weiß — und damit auch von dem Gedanken an Rückkehr, auch wenn an eine Rückkehr gar nicht zu denken ist. Die Heimat bleibt unvergessen. Nun ist Heimat in unserer Welt einer immer mehr sich steigernden Beweglichkeit nicht mehr das gleiche, wie es in Zeiten größerer Seßhaftigkeit war. Damals war daher der Gedanke der Rückkehr aus der Verbannung in die Heimat, die einem verwehrt ist, etwas, was man wie eine immer neue Ausschließung erleidet. Nun ist jedes Exil schwer, und so ist die Hoffnung immer lebendig, daß die Verbannung aufgehoben wird und man in die Heimat zurückkehren darf. So klingen die Trauerlieder, die der römische Dichter Ovid von seinem Verbannungsorte am Schwarzen Meer angestimmt hat, noch heute den Menschen ans Herz. Aber was ist Heimat für uns, dieser Ort der Urvertrautheit? Wo ist er, was wäre er, ohne die Sprache? Zur Unvordenklichkeit der Heimat gehört vor allem die Sprache. Wir kennen es ja selbst von der flüchtigen Erfahrung des Reisens. Wenn wir aus einem fremdsprachlichen Ausland heimkommen, ist die plötzliche Wiederbegegnung mit der eigenen Muttersprache förmlich wie ein Erschrecken, und es ist ja wirklich das Ganze des Vertrauten, die Sitten und Bräuche und die gewohnte Welt, die von der eigenen Sprache durchtönt ist. Gewiß kann ein jeder, der in seiner Muttersprache zu Hause ist, andere Sprachen lernen, und am Ende so gut, daß er in ihnen in gewissem Sinne auch zu Hause ist. Aber der entscheidende Punkt ist doch hier: Wer im Exil lebt, fâr den ist die Rückkehr in die eigene Sprachwelt nicht seiner eigenen freien Entscheidung überlassen. Wer sich nur als Gast in die Sprache eines Gastlandes eingelebt hat, hat ja nicht seine Heimat verloren, und dasselbe gilt auch, wenn einer ganz im Ausland lebt, wenn er nur weiß, daß er zurückkehren kann. Aber in der Tat, Heimat ist vor allem Sprachheimat. Die Muttersprache behält für jeden etwas von unvordenklicher Heimatlich-
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keit, und das gilt auch noch für den Vielsprachigen, selbst wenn er, in flüchtigen Begegnungen mit den eigenen Landsleuten, die eigene Muttersprache wieder hört und spricht. Wer aber das Schicksal hat, im Exil zu leben, der fuhrt ein Leben zwischen vergessen wollen und das Andenken wahren, zwischen Abschied und Andenken, Verlust und Neubeginn, wo immer es auch sei. Leben ist Einkehr in eine Sprache. So muß ein jeder sehen, die Fremde und das Fremde bewohnbar zu machen, und er muß die Einkehr in eine andere Sprache suchen. Darin liegt ein Bruch, der nicht zu vermeiden ist und der heilen muß, wenn man überleben will. Heilen ist ja überhaupt nicht, wie man sich in unserer mechanisierten Gesellschaft so oft einbildet, etwas, was jemand tut, der Arzt. Es ist immer eine Lebensaufgabe des Kranken selber. So ist es Abschied von der menschenverbindenden Sprache, wenn man die eigene Sprache nicht mehr zu hören bekommt. Das ist der menschliche Hintergrund allen Exils. So ermessen wir das Gewicht der eigentlichen Frage: Was kann Rückkehr aus dem Exil sein? Muß es nicht ein neuer Bruch sein, ein zweiter Bruch? Oder macht es gar den ersten Bruch noch einmal wie einen Schmerz fühlbar? Es ist wie ein Gesprächsnotstand, der bei solchem Bruch im Spiele ist. Auch wenn die eigene Heimat, die man nicht verlassen hat, bis zur Fremdheit entstellt wird, kann man am Ende nur leben unter dem Spruch der Hoffnung und der Verheißung: »Et illud transit. « Wir erleben es auch jetzt in Deutschland, was ein solcher Bruch ist, der sozusagen das Gespräch schwer macht. So ist das Gespräch zwischen den im Westen Lebenden mit den im Osten Lebenden nicht leicht. Ich erinnere mich, wie schwer es war, auch nur mit den eigenen Freunden, die ins Exil gegangen waren, das Gespräch über die Notbrücke der Post wieder aufzunehmen, als sie durch den Krieg unterbrochen war. Beide Partner eines Gesprächs stehen dann vor einer neuen Aufgabe, eine neue Identität zu finden, die Kontinuität ist und doch auch nicht sein kann. Wie groß die Kraft des Geistes und des Herzens sein mag, der Mensch kann Zeit nicht zurückholen. Wozu wir zurückkehren, ist anders geworden, und ebenso ist anders geworden, wer zurückkehrt. Zeit hat beide geprägt und verändert. Für jeden, der zurückkehrt, ist die Aufgabe, in eine neue Sprache einzukehren. Es ist ein Hauch von Fremdheit an allem, wohin man zurückkehrt. Es wiederholt sich gleichsam für jeden die Uraufgabe des In-der-WeltSeins, Fremdheit zu überwinden. Das Kleinkind stößt sich an den Wänden der Tatsächlichkeit, und im langsamen Erwachen des Tausches der Blicke, im ersten Tasten, im ersten Lallen sprachähnlicher Laute und schließlich in den ersten Worten beginnt das Gespräch. Etwas von dieser Situation des Sprechenlernens wiederholt sich in Wahrheit in jeder Verständigung durch Gespräch. Sprache ist ja nicht, was wir an Worten besitzen und nach freier Wahl verwalten. Es ist ein Geben und Nehmen, in dem sich Sprache bildet.
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Sprechen hat seinen Sinn im Vollzug und kann nur sein, wo sich der eine dem anderen nähert, um sich der Gemeinsamkeit des Erfahrene zu versichern. Eben hieran aber mißt sich die Aufgabe der Literatur. Sie will etwas zu Worte bringen, wofür es keine vorgeformten und vorgestanzten Formeln geben darf. Es wird in einem Zeitalter zunehmender Regulierung, in der wie eine Betäubungswelle durch den ganzen Tag eine öffentliche Informationsflut nach allen Seiten ausgegossen wird, so, daß dem Schriftsteller und dem Dichter die Einkehr in die Sprache, die sie selber aussprechen könnte, fast wie eine Rückkehr in ein ganz Anderes und Fremdgewordenes erscheinen muß. Von da aus bestimmt sich doch wohl auch der Sinn von Literaturtagen. Sie beanspruchen nicht, daß man hier Dichter findet, die man ohne das nicht fände, und man beansprucht auch nicht, daß man hier etwa Dichterschulen gründen wollte, was vielleicht gar nicht einmal das schlechteste in der Geschichte der Bildung hohen literarischen Niveaus gewesen ist. Aber es gilt doch wohl, sowohl zwischen den Schaffenden wie zwischen den Aufnehmenden von Literatur eine wechselseitige Bestätigung zu stärken, auf der am Ende alle Möglichkeiten kulturellen Schaffens beruhen. Fragen wir uns zunächst, was ein Schriftsteller eigentlich ist. Ich würde sagen, er ist ein Bittsteller bei der Sprache. Er will von der Sprache erhört werden. Er will von der Sprache beschenkt werden, so daß es ihm gelingt, sie neu zum Sprechen zu bringen, so daß das bloß Geschriebene als solches oder das Gelesene als solches nicht etwas im allgemeinen Geschehen der Informationsflut ist, sondern daß wir auf Sprache hören. Darin liegt die Auszeichnung der dichterischen Sprache und dessen, was wir im eigentlichen Sinne Literatur nennen, daß man dort auf die Sprache hört. Dichtung in jederlei Gestalt, ob als Lyrik, ob als Erzählung, ob als Szene, immer ist ihr Anspruch und ihre Möglichkeit, wie ein Diktat zu sein, das man nur aufzunehmen hat und nicht in eine kritische Erfahrungswelt subsumiert. Das Wort >Dichtung< kommt von >dictare<, von >diktieren<, auch wenn vielleicht noch ältere vorhumanistische Bedeutungsschichten im Sinne des Dichtmachens nachklingen. Jedenfalls ist das, was der Schriftsteller aus sich herausstellt, so daß es am Ende gelesen wird, etwas, das man nicht abhört auf etwas, das einem dadurch mitgeteilt wird, sondern auf das man hinhört, was es in seiner eigenen sprachlichen Evokationskraft sehen läßt. Das Können eines Schriftstellers hängt von dem Grade ab, in dem das einem bewußt wird, und seines Gelingens, daß in dem anderen diese Art Präsenz des in der Sprache Evozierten antwortet. Es ist daher sozusagen ein Ehrentitel von Literaturtagen, daß sie lauter stille Leser vereinigen und daß sie nur mit großem Abstand öffentliches Interesse auf sich zu ziehen vermögen. Wir sollten uns dessen nicht etwa schämen oder deswegen geringer fühlen, es ist
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am Ende ein Beweis dafür, wieviel Mitarbeit von jeder Art zur Gemeinsamkeit in unserem gesellschaftlichen Leben gehört. Was leicht eingeht, ist auch schnell wieder verschwunden. So möchte ich zum Abschluß den Zusammenhang zwischen Rückkehr und Literatur etwas schärfer beleuchten. Wir müssen uns klarmachen, daß im Zeitalter der industriellen Revolution und der automatisierten Kommunikation und der gewaltig sich vervielfachenden Informiertheit aller über alles ganz neue Aufgaben für den Schriftsteller erwachsen sind. Er muß in gewissem Sinne ständig aus einem Exil zurückkehren, wenn er sich der Welt der ständig gebrauchten und benutzten Worte, der Vorgekautheit aller Meinungsbildung und aller Redeweisen und Informationserwartungen, die durch die Technik bereitet werden, zu entziehen sucht. Um so mehr wird uns zum Bewußtsein kommen, was Sprache in ihren wahren Möglichkeiten ist und wie der Literatur diese Aufgabe der Rückkehr zur Sprache gestellt ist. Das macht alle Dichtung zu einer Rückkehr aus der Fremde. Das habe ich seinerzeit in meiner Gratulationsrede zu der Verleihung des Droste-Preises an Hilde Domin zum Ausdruck gebracht, daß auch für sie ihre Dichtung Rückkehr zur Sprache ist1. Es ist ja auch für jeden von uns die Aufgabe unseres Lebens, aus der Entfremdung heimzukehren. Das Wort der Dichtung geht uns dabei voran. Ich möchte drei Stufen unterscheiden, in denen Sprache uns alle vereinigen kann. Ich beziehe mich dafür zuerst auf das von Paul Celan gebrauchte Wort Sprachgitter. Sprache ist zunächst ein Gitter. Das setzt mit dem schon beschriebenen Prozeß der Sozialisierung in der Spracherziehung des Kleinkindes ein. Wir sollten uns in unserer durch die Sozialisierung gereiften, aber auch abgeschliffenen Welt des sprachlichen Ausdrucks an die Genialität dieses frühen Alters erinnern, in dem man sprechen lernt, und wir sollten darin ein Vorbild sehen. Denn da zeigt sich, was Sprache kann, wenn sie nicht zu sehr durch Regelzwang eingeengt wird, sondern wenn sie in dem hingegebenen Versuch, dem anderen etwas mitzuteilen, sich zu sich selbst herauswagt. So wie wir es an dem dreijährigen Kind immer wieder mit Staunen verfolgen. Da sieht man, daß Sprache nicht nur das verhindernde Gitter ist, sondern ebenso das Gitter, das eine intime Verständigung durchläßt. Es ist beides, auch das Verhindern, das an bestimmte Bedingungen mahnt, ohne die ein Hinüberkommen zum anderen überhaupt nicht möglich wäre. Wittgenstein hat mit Recht gesagt, eine Privatsprache kann es nicht geben. Sprache ist Gespräch. Ein Wort, das den anderen nicht erreicht, ist tot. Das Gespräch ist ja mit dem anderen, und jedes Wort bedarf im konkreten Augenblick 1 Siehe dazu >Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr^ jetzt in Ges. Werke Bd. 9, S. 323-328.
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des rechten, unwiederholbaren Tons, damit es das andere Gitter, das Gitter des Andersseins, überwindet und den anderen erreicht. Die zweite Funktion, die damit verbunden ist, würde ich den Sprachschleier nennen. Er umfaßt alle jene die Sphäre gewöhnlicher Höflichkeit miteinschließende Vermeidung von Härten und Schärfen, von Unbesonnenheiten und Gereiztheiten, die das Miteinanderleben durch Abschleifung überhaupt nur möglich macht. Dieser Schleier der Sprache hat gewiß auch seine bedenkliche Kehrseite, fur die das berühmte Wort von Talleyrand gilt: Sprache sei das allerbeste Mittel, seine Gedanken zu verbergen. Das ist in der Tat die Kunst des Diplomaten. Doch ist auch diese nicht nur etwas Negatives. Offenbar gelingt es dieser Kunst, seine Gedanken zu verbergen, am Ende auf den Boden der Übereinstimmung und des friedlichen Ausgleiches zu gelangen. Und damit komme ich zum dritten, woran ich hier im Kreise von um literarisches Schaffen Bemühten besonders denke. Dieses dritte würde ich den Sprachblitz nennen. In allen gemäßigten, gut beleuchteten und einleuchtenden Worten, die im Austausch zwischen den Menschen hin und her gehen, kann es blitzen. Das erinnert mich an Erfahrungen, die ich oft habe machen können. Darf ich eine solche erzählen, weil sie besonders lustig ist: Ich habe einmal, um das Geheimnis des dunklen Erdteils etwas kennenzulernen, in Südafrika an einer Universität fur Buschmänner doziert. Allerdings auf Englisch. Das war dort die Unterrichtssprache. So habe ich im wesentlichen mit den Professoren, die Afrikaans waren, und mit den von ihnen bereits ausgebildeten Assistenten zu tun gehabt, die mit der Philosophie in Europa Fühlung gewinnen sollten und dann ihrerseits ihre Studenten zu versorgen hatten. Da hat man mich gebeten, ich möchte doch einmal zu allen Studenten über die Aufgabe der Philosophie sprechen. Es war ein eindrucksvolles Schauspiel. Die Buschmänner sind sehr hochgewachsene, besonders schöne Menschen. So war es eine wahre Galerie von Ebenholzstatuen, die mich umgab. Aber sie verzogen keine Miene, wemrich auch alles daran setzte, sie zu erreichen. Ich war verzweifelt. Was sollte ich ihnen über Philosophie erzählen können, wenn ich nicht die geringste Regung von Antwort spürte? (Später haben mir meine Kollegen gesagt, das sei leider für sie auch immer so, daß man keine Reaktion zu spüren bekomme. ) Da fiel mir nun bei meinem Vortrag ein rettender Gedanke ein. Ich führte aus, daß die griechische Philosophie mit Parmenides begonnen habe und daß seine Einsicht war, daß es das Nichts nicht gibt, sondern nur das Sein. Dazu sagte ich nun: »Bitte machen Sie sich klar: Nothing is no thing. « In diesem Augenblick ging es durch die Reihen wie ein Lauffeuer. »Hast du verstanden, hast du verstanden? Nothing is no thing! « Das war wie ein Sprachblitz, der bei ihnen einschlug. Es wurde einen Augenblick lang klar, daß Sein kein Ding ist. Diese Geschichte dient natürlich mehr zur Unterhaltung als zur Belehrung, aber sie hat ihre belehrende Seite.
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Wir müssen uns bei solchen Erfahrungen fragen, was in diesem Kontinent von Europa her getan werden kann. So fragen wir uns ja heute schon, was es bedeutet, wenn die hochzivilisierten und hochgeschulten japanischen Kollegen kommen und durch ein schier undurchdringliches Sprachgitter hindurch aufgrund des Lesens unserer Texte unsere abendländische Philosophie mit einer erstaunlichen Kenntnis und gediegenem Scharfsinn aufnehmen. Wir würden so gern bei dieser Gelegenheit lernen, was sie aus ihrer Tradition, dem Konfuzianismus und dem Schintoismus und ihren religiösen und sittlichen Traditionswerten, zu unserem Denken und uns zu sagen hätten. Wir stehen heute eben am Anfang eines riesigen Menschheitsprozesses, in den wir alle einbezogen sind. Wir werden das Ideal der Aufklärung des 18. Jahrhunderts vom ewigen Frieden in der Welt niemals durchsetzen können, wenn es uns nicht am Ende gelingen wird, zu wirklichem Austausch zwischen den fremden Kulturen und unserer europäischen zu kommen. Was bedeutet es, wenn sie mit uns philosophieren und mit uns zusammen Weltliteratur aufnehmen? Dazu gehört nun ganz gewiß das Lernen fremder Sprachen. Da gibt es kein Ausweichen. Übersetzungen sind nur eine erste Dienstleistung, von dem Klang, Laut und Sinn des Originals etwas zu ahnen. Aber was möglich ist, wo die Sprachbarriere nicht hindert, das lehrt uns die Allgegenwart der bildenden Kunst aller Kulturen, und nicht zuletzt lehrt es uns die Musik, diese erste Kultursprache der gesamten Menschheit. Doch wir sind hier im deutschen Sprachraum und in der Teilhabe an Literatur. So schließe ich, indem ich die Rückkehr zur Sprache an einem Sprachblitz illustriere. Es ist ein berühmter Satz Heraklits, der mir besonders vertraut ist, weil ihn Heidegger in die Tür seiner Hütte geritzt hatte. Er lautet in deutscher Fassung: »Es ist der Blitz, der alles steuert. « Man muß das sehr wörtlich nehmen. Nicht so, als ob das Feuer als Element der Natur wie Wasser, Luft und Erde gemeint wäre - nein, es ist der Blitz. Aber ist es nicht paradox, daß der Blitz steuert? Ο ja, das soll man verstehen, daß es paradox ist, daß der Blitz steuern soll. Aber was ist dann gemeint? Ich meine, es ist dies, daß die Augenblickshelle des zuckenden Blitzes plötzlich die Welt in einer blendenden Klarheit zeigt. Und wenn auch alles in tiefe Nacht zurücksinkt, so ist uns doch ein Augenblick der Orientierung gewährt worden, und ^vir erkennen etwas von dem Leben des Geistes darin. Wenn auch vieles wieder ins Dunkel zurücksinkt, sind wir auf den Weg des Suchens und des Fragens gewiesen, der zwischen Vergessen und Erhellung hin und her schwankt. So komme ich schließlich zu einem Letzten, wie wir alle Sprache in der Annäherungsform kennen. Das nenne ich Sprachkristall. Das klingt nicht nur an >Sprachgitter< an. Das erinnert an den Kristall, dessen Gitter eine feste mathematische Struktur hat, nach der die Kristalle sich bilden. So ist es, meine ich, wenn der Fluß der Rede in Dichtung gültige Gestalt gewinnt.
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Und wie der Krisuli in seiner Bildung und in der Festigkeit seines Baues sein Feuer zu versprühen beginnt, wenn das Licht auf ihn fallt, so ist es auch die sprachliche Leistung der Dichtung, daß sie sich der Härte und der Festigkeit und der Beständigkeit des Kristalls nähert und nicht durch eine gefallige Form besticht, sondern durch das Aufleuchten von Licht. Es ist ein vielfaltiges Funkeln das von einem dichterischen Gebilde ausstrahlt wie vom Kristall. Wir alle nehmen daran teil und ahnen etwas von der Wahrheit des Wortes, das in solchem Licht steht.
35. Wort und Bild - >so wahr, so seiende (1992)
Mein hermeneutisches Grundwerk >Wahrheit und Methode< mag manchem eine Überraschung bereitet haben, daß der erste Teil dieses Werkes nicht, wie der Untertitel >Hermeneutik< erwarten ließ, die Geisteswissenschaften und die sich daran anschließenden Wissenschaften zum Gegenstande nahm, sondern die Kunst selbst. Damit folgte ich in Wahrheit meiner Erfahrung, die sich mir während meiner Lehrtätigkeit immer mehr bestätigte, daß das Interesse an den sogenannten Geisteswissenschaften in Wahrheit nicht allein Wissenschaft meint, sondern Kunst selber, und zwar in allen Bereichen, Literatur, bildende Kunst, Baukunst, Musik. Es sind ja die Künste, die insgesamt das metaphysische Erbe unserer abendländischen Tradition mitverwalten. Die Geisteswissenschaften stehen in besonders enger Wechselwirkung zu künstlerischer Empfänglichkeit und Empfindlichkeit, und sie können deshalb eine eigene philosophische Authentizität beanspruchen. So kommt es, daß ich ein so allgemeines Thema wie »Wort und Büd<, das von jeher das Denken bewegt hat, immer wieder zu behandeln suche. Jedermann weiß, daß das Verhältnis von Bildkunst und Wortkunst ein altes klassisches Thema ist, mit dem wir mindestens seit Lessings >Laokoon< wohlvertraut sind. Lessings berühmte Analyse, in der das dichterische Wort und die bildnerische Gestaltung etwas zur Aussage zu bringen vermögen, war auf Unterscheidung gerichtet. Wenn Lessing die bildende Kunst auf das Nebeneinander im Räume und Poesie auf das Nacheinander in der Zeit zurückführen wollte, hat ihm bereits Herder widersprochen. Mir liegt dagegen am Herzen, das Gemeinsame von Kunst des Bildens und dichterischer Kunst herauszuarbeiten, um dieses Gemeinsame in ein noch Allgemeineres einzuordnen, das Kunst zur Aussage von Wahrheit macht. Unter dem Thema >Wort und Bild< will ich daher nicht das wichtige hermeneutische Problem behandeln, wie durch das Wort des Interpreten Bildwerke erreicht werden und wie es möglich ist, zu einem bildnerischen Werk ein deutendes Wort zu finden, das nicht aus Anlaß eines Bildes Gedanken äußert, sondern das zum besseren Sehen des Bildes selber hinleitet. Das wäre ein Thema, das in einer Theorie der Interpretation einen wichtigen Platz besäße. Was mich hier beschäftigt, ist aber die Frage, wie
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sich das Wort und das Bild, die Kunst des Wortes mit dem Ganzen der bildenden Kunst, in eine gemeinsame Aufgabe teilt, und wie sich innerhalb dieser Gemeinsamkeit die Rolle bestimmt, die die eine und die andere Kunstform in der Gestaltung unserer Kultur ausfüllen. Worin besteht die echte Gemeinsamkeit zwischen Bild und Dichtung? Jedenfalls werden wir solche Schöpfungen Werke der >Kunst< nennen und damit zu verstehen geben, daß sie sich beide durch ihre unmittelbare Gegenwärtigkeit und Zeitüberlegenheit auszeichnen. Das Werk der Literatur, dem wir literarischen Rang zuerkennen, spricht zu uns über alle zeitlichen Abstände hinweg, sofern wir nur mit der betreffenden Sprache vertraut sind. Ebenso hat auch das Bild, das ein Kunstwerk ist, die Macht, uns unmittelbar zu erreichen. Beides nötigt einen förmlich zum Verweilen, und bei beidem ist, mit Kant zu sprechen, viel Unnennbares hinzuzudenken. In meinem eigenen Versuch einer hermeneutischen Philosophie habe ich den Wahrheitsanspruch der Kunst und seine Bedeutung für die Geisteswissenschaften zur Geltung bringen wollen. Dabei habe ich unter anderem die Ablösung des Bildbegriffs vom Abbild hervorgehoben. Auf der anderen Seite gibt es eine ähnliche Entsprechung in der dichterischen Sprache. Letztere wurde im Zusammenhang des 3. Teiles von >Wahrheit und Methode< unter dem Gesichtspunkt der Sprachlichkeit zum Thema gemacht. Was da Wahrheit heißen kann, wurde damit nur gerade vorbereitet und fand später in meinen gesammelten Studien und insbesondere in Band 2 meiner Ausgabe unter dem Titel >Text und Interpretation weitere Ausführung. So drängt sich die klassische Fragestellung Lessings über das Verhältnis von bildender Kunst und Uterarischer Kunst erneut auf, und ich habe der Konkretisierung dieser Frage viele Beiträge zugewandt. Was wir heute >Kunst< nennen, ist freilich auf diesen klassischen Gegensatz nicht zu beschränken. So ist auch bei anderen Kunstarten, der Musik, der Tanzkunst, der Theaterkunst u. ä., die Frage nach der Wahrheit mitgefragt. Neben den eben genannten Künsten gibt es aber auch solche, bei denen man nicht in derselben Weise von Selbstpräsentation eines Kunstwerkes reden kann, weil sich ihre Produkte anderen Zwecken der Lebenspraxis oder auch der wissenschaftlichen Forschung unterordnen und höchstens eine Art Mitpräsenz in Anspruch nehmen, die im Hintergrunde bleibt. Das gilt vor allem von der Redekunst, der Baukunst und von aller dekorativen Kunst. Wir werden auch diese Kunstarten streifen müssen, um die Schlüssigkeit unserer Untersuchungsergebnisse zu befestigen. Aber das dichterische Wort und die bildende Kunst bleiben in der Mitte. Es gehört nun zu der Eigenart der hermeneutischen Reflexion, daß sie des ständigen Rückhalts an der Praxis hermeneutischer Erfahrung bedarf. Das hatte schon Schleiermacher in einer Anmerkung freimütig bekannt: »Ich hasse alle Theorie, die nicht aus der Praxis erwächst. « Das war mir eine
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wichtige Bestätigung für mein eigenes Verfahren. Meine eigenen kunsthistorischen und literarhistorischen Studien und meine Ausbildung als klassischer Philologe, so begrenzt das alles ist, führten mich daher immer wieder in den Problemkreis von bildender Kunst und Dichtung, wenn es galt, den Wahrheitsanspruch der Kunst zur Prüfung zu stellen. Auch bleibt mit im Blick, was etwa der Bildzauber der frühen Höhlenbilder bedeutet oder vorzeitliche plastische Gebilde, und auf der anderen Seite die Sagenfrühe der mythischen Vorwelt, die hinter unserer literarischen Oberlieferung steht und in der Ferne verdämmert. Von ihnen allen gilt das gleiche »So ist es« mit, an dem wir Werke der Kunst als >richtig< erkennen. Von hier aus ist einer der Grundbegriffe der neueren Philosophie, der aus dem spätantiken Neuplatonismus stammt, im deutschen Idealismus zu einem wahren Schlüsselwort aufgestiegen. Was meistens ein gedankenloses Nachleben genießt, hat in unserem Zusammenhang seinen ursprünglichen Sinn. Es ist der Begriff des Absoluten. Das Wort heißt nichts anderes als »das Abgelöste< und steht im klassischen Latein dem Relativen als Gegenbegriff entgegen. Es meint Unabhängigkeit von allen einschränkenden Bedingungen. - So spricht Hegel von dem absoluten Geist als dem sich selbst stets ganz gegenwärtigen, der sich im absoluten Wissen vollendet. Zeitlose Gegenwärtigkeit kommt insofern der Kunst zu, als sie von allen geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen abgelöst und unabhängig ist, wie die Religion und wie die Philosophie. Auch die Kunst behauptet den Anspruch auf Absolutheit dadurch, daß sie über alle geschichtlichen Zeitunterschiede hinwegreicht. Wir verstehen daher sofort, warum Hegel die innere Nähe von Kunst mit Religion und Philosophie behauptet. In allem handelt es sich um >absolute< Seinsgewißheit. Der Theologe versteht etwa die eschatologische Geltung der christlichen Botschaft in Gleichzeitigkeit, sofern die verheißene Wiederkehr des Erlösers in Wahrheit in dem Heute der Annahme des Glaubens geschieht, wie Kierkegaard seinem und unserem Jahrhundert des historischen Denkens in die Erinnerung gerufen hat. Es gilt auch für die Philosophie, daß sie in beständigem Gespräch mit allen großen Denkversuchen unserer abendländischen Geschichte mit ihnen als ihren Partnern wie gleichzeitig ist. Es ist das gleiche in der Geschichte der Kunst. Auch da ist es gewiß nicht möglich, im Blick auf das Ganze der Kunst »Fortschritt* auf eine letzte Vollendung hin zu denken. Wenn auch etwa die Entwicklung der Zentralperspektive als eine Lösung der Raumprobleme durch die Malerei so gesehen werden kann, so ist das doch nicht etwa >Vollendung< einer solchen Bildkunst überhaupt. Selbst in Hegels Konstruktion der Weltgeschichte, wonach alles auf die Freiheit aller hinziele, ist das mehr eine Beschreibung dessen, was der Kampf der Weltgeschichte in seinem wesentlichen Kern ist, und ebenso gilt es auch für die immer neuen Ansätze der Philosophie, in denen sie ihre Fragen nach den letzten Dingen stellt und mit uns gleichzeitig
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ist. Hegel hat daher selber die Geschichte der Philosophie der dialektischen Entfaltung der philosophischen Wissenschaft gleichgeordnet. Was ist denn überhaupt die Zeit dieser Gleichzeitigkeit? Was ist die eigene Gegenwart? Wissen wir das etwa je? Das Wort >Gegenwart< deutet schon daraufhin, daß da Zukunft hineinspielt. Zukunft ist als das Kommende stets das Gewärtigte, das auf uns wartet und auf das wir warten. Alle Erwartung beruht aber als solche auf Erfahrung. Mit jeder Gegenwart wird nicht nur ein Zukunftshorizont geöffnet, sondern auch der Vergangenheitshorizont ins Spiel gebracht. Gleichwohl ist es weniger Gedächtnis und zurückblickendes Gedenken als gegenwärtige Erfahrung. So sehr stellt sich Kunst und Philosophie als eigene Gegenwart ein. Man muß nicht einmal wissen, aus welcher Vergangenheit, aus welcher Ferne und Fremdheit einem da etwas begegnet. Es hat seine Präsenz und wird nicht als fremd bestaunt, sondern zieht einen in seinen Bann - mag auch zunächst viel Fremdes dabei zu überwinden sein. Eine jede Gegenwart hat ihren eigenen Lebensraum und ihre eigene Tradition, die sich in ihren Lebensformen, in Sitten und Gewohnheiten und in allen Einrichtungen des gesellschaftlichen Lebens ausprägt, und überall waren es religöse Überlieferungen, die die eigene Geschichte und das eigene Herkommen begleiten und zu seiner Eigenart entfalten. Nun gehört es zu jeder Religion, daß sie von der Absolutheit ihrer eigenen Wahrheit überzeugt ist. Religionen befinden sich daher stets in der Abgrenzung gegen andere Religionen, deren Bekenner >die Ungläubigem sind. In unseren aufgeklärten Zeiten geht es überdies auch noch um die Auseinandersetzung mit dem sich ausbreitenden Atheismus. Damit stellen sich neue Schwierigkeiten ein. Nun gilt es, den eigenen Absolutheitsanspruch, der zum Wesen allen Heilswissens gehört, mit der Anerkennung anderer Traditionen zu vereinen und selbst mit ganz religionsfeindlichen Gesellschaftsordnungen gemeinsame Solidaritäten zu entwickeln. Das ist eine Menschheitsaufgabe, für die uns die Erfahrung der Kunst eine Ermutigung sein kann. Gewiß gibt es auch im Bereich der Kunst bestimmte und anspruchsvolle Traditionen und fest eingeprägte Geschmacksrichtungen. Künstlerische Schöpfungen anderer Zeiten oder ferner Kulturen können uns manchmal nicht so leicht erreichen. Aber die Kunst setzt sich in aller ihrer ungezählten Vielfalt auf die Dauer auch mit Fremdestem durch. Daran beweist sich die absolute AUgegenwart der Kunst. Sie vermag über die Schranken und Räume hinweg Brücken zu schlagen. Am eindrucksvollsten zeigt sich das vielleicht für uns Heutige in der Musik. Da hat Ostasien sich Mozart und Schubert und die ganze europäische Musik in wenigen Jahrzehnten so angeeignet, daß ihre Interpreten, die von dort kommen, zu den führenden Figuren unseres Musiklebens zählen. Auf der anderen Seite hat Europa bekanntlich sehr viel von der Musiksprache des schwarzen Kontinents in sich aufgenommen.
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Wenn es sich um sprachliche Kunstwerke handelt, bleibt in unserer vielsprachigen Welt die Schranke der fremden Sprache freilich schwer überwindbar. Doch hat unser literarisches Zeitalter selbst da eine Art von Gleichzeitigkeit erreicht, und das nennt sich die Weltliteratur. Teils auf Übersetzung beruhend und teils darauf, daß immer größere Leserkreise mit fremden Sprachen vertraut werden, kann man selbst im Falle der literarischen Künste von einer gewissen Gegenwärtigkeit und Gleichzeitigkeit sprechen. Für die bildenden Künste spielen die sprachlichen Schranken nicht so hinein oder können mindestens leicht überwunden werden. In der bildenden Kunst wird freilich Fremdes fremdartig wirken. Aber solche Wirkung vermag geradezu eine eigene Anziehungskraft auszulösen, die zur Aneignung führt. Es besteht seit alters eine beständige Wechselwirkung zwischen den Kulturen und den Zeitaltern. Jedes Gedächtnis eignet sich an, was ihm begegnet, um sich in der ständigen Bereicherung des Überlieferten selber fortzubewegen. Aber man vergesse nicht: Aneignung meint nicht Wissen, sondern Sein. Nun hat sich in der europäischen Tradition, der wir angehören, auf langen Wegen immer mehr das >historische Bewußtsein< entwickelt und zu einer zunehmenden Verfeinerung des historischen Sinnes geführt. Im letzten Jahrhundert war es die Entwicklung des Weltverkehrs und der neuen Nachrichtentechnik, die in der gleichen Richtung gewirkt hat, sofern wir in so etwas wie ein Zeitalter der Reproduktion eingetreten sind. Nietzsche war der erste, der unter dem Titel >Über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben< darin ein Problem gesehen hat. Das Vordringen der historischen Forschung und das wissenschaftliche Bewußtsein führen zu einer Schwächung des Mythos, der allein eine Kultur zu prägen vermag. In dem wechselnden Licht, das über die Dinge fallt, verlieren sie ihr eigenes Gewicht: In der Tat läßt sich beobachten, wie selbst die Erfahrung der Kunst durch den Selbstgenuß historischer Bildung beeinträchtigt wird, wenn etwa Besucher im Museum mit Genugtuung einen Meister erkennen oder ein wohlvertrautes Motiv. Das ist jedenfalls nicht die Unmittelbarkeit künstlerischer Erfahrung. Denn Erfahrung ist niemals bloße Bestätigung. Selbst bei Höchststand historischer Bildung wird man künstlerische Schöpfungen vergangener Zeiten nie mit deren eigenen Augen zu sehen vermögen. Das kann überhaupt nicht das Ziel sein. Es ist vielmehr die eigene Gleichzeitigkeit und Gegenwärtigkeit, mit der die Kunst sich behauptet. Etwas wehrt sich dagegen, daß Kunst, die von so bannender Gegenwärtigkeit ist, zum bloßen Gegenstand historischer Forschung gemacht wird. Wir stellen gerade deshalb die Frage, worauf sich dieser zeitüberlegene Anspruch der Kunst gründet, der allen Einschränkungen trotzt. Das schließt gewiß nicht aus, daß wissenschaftliche Forschung, die sich vor historische Aufgaben gestellt sieht, der Erfahrung der Kunst zugute
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kommen kann. Aber ihr Wissen bleibt als solches etwas anderes als die Gegenwärtigkeit, mit der Kunst begegnet. Schleiermacher hat einmal gesagt, daß ein religiöses Bild vergangener Jahrhunderte, das wir im Museum bewundern, immer Brandflecken an sich hat, wie wenn es aus einer Feuersbrunst gerettet worden wäre. Wir wissen sehr wohl, daß ein solches Bild seinen Sitz im Leben verloren hat, in Kirche oder Palast oder wo immer es einmal zu Hause war, und gewiß, wir wissen es nicht nur. Wir lernen es auch sehen, in dem Bilde selber, wie es etwa auf einen bestimmten Platz hin gemalt ist und für welche kultische Funktion. Wir lernen die Lichtverhältnisse mitzusehen und haben die Umgebung mit im Auge, die die Bildgestaltung mit beeinflußt hat. All das kann uns lehren, besser zu sehen. Erst recht gilt das natürlich von dem Sachwissen, das wir der Wissenschaft verdanken, die es uns im religiösen wie im profanen Bereich vermittelt. Aber es bleibt doch bei dem Worte Hegels, daß wir vor religiösen Bildwerken des Gekreuzigten oder der Madonna nicht mehr die Knie beugen. Gleichwohl wird von da aus vieles mitsprechen und die Aussage bereichern, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Die Vorprägung religiösen Herkommens oder die eigene geschichtliche Bildung wirken immer mit. Was ein Bild oder ein Bühnenspiel oder eine Dichtung ist, die uns ergreift, erfährt durch ein >Weniger an Wissen< keine wirkliche Einschränkung. So fragen wir uns: Was macht ein Bild, was macht ein Gedicht zu einem Werk der Kunst, so daß es eine solche absolute Gegenwart hat? Es ist doch gewiß nicht das Brandungsgetöse der ständigen Informationsflut, die uns umrauscht und die das Zeitalter der Reproduzierbarkeit begleitet. Es bedroht vielmehr, um mit Benjamin (oder gegen ihn?) zu reden, die Aura des Kunstwerkes und droht sie aufzulösen. Wir wollen von einer sprachlichen Beobachtung ausgehen, die auf die Frage ein Licht wirft, die uns bewegt. Im Griechischen hat das Wort >Poiesis<, das wir in unserem Wort >Poesie< wiedererkennen, einen doppelten Sinn. Das Wort meint zunächst >Machen<, also das Herstellen von etwas, das es vorher nicht gab. Das Wort umfaßt den ganzen Bereich des Hersteilens, alles, was wir Handwerk nennen, aber auch die Fortentwicklung solcher Verfertigungen bis zur industriellen Produktionsweise der Moderne. Daneben hatte das gleiche Wort >Poiesis< die ausgezeichnete Bedeutung von Dichtkunst. Das Dichten ist in gewissem Sinne auch ein Machen. Damit ist aber weder der einmalige Vortrag gemeint noch die bloße Aufzeichnung, die da gemacht wird. Das Machen, um das es sich hier handelt, meint den Text. Er macht, daß aus dem Nichts ganze Welten aufgehen können und Nichtsein zum Sein kommt. Es ist fast mehr als ein Machen. Zum Machen gehört ja sonst Material, das dem Handwerker vorgegeben sein muß, aus dem er etwas herstellt. Mnemosyne bedarf dessen nicht. In den bildenden Künsten ist es insofern ein wirkliches Machen, als es eines Materials bedarf,
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aus dem man das Werk herstellt. Dagegen scheint die Poesie in dem luftigen Hauch der Sprache und in dem Wunder des Gedächtnisses allein zu existieren. Bei den Griechen teilt sie das freilich mit der Musik, die aber den dichterischen Gesang nur begleitet. Immerhin, beides ist wie aus keinem Stoffe gemacht. Es bleibt ein sekundäres Moment, daß Dichtung schließlich schriftlich fixiert wird und >Literatur< heißt, und daß die Musik zum Notenwerk geführt hat. Das ist beides sekundär und gehört weder zur Dichtung noch zur Musik. Was dagegen dazugehört, ist, daß Texte überhaupt zum Sprechen gelangen und zu Gehör kommen. Im Deutschen ist der Gebrauch des Wortes >schöpferisch< dafür bezeichnend. Es hält den Anklang an den religiösen Begriff der Schöpfung fest, die im Sinne des Handwerkes kein Machen war. Im Anfang war das Wort, das >verbum creans<. In die gleiche Richtung weist ein anderer semantischer Tatbestand, der sich an das Wort >Werk< knüpft. Das Wort begegnet zunächst im Umkreis dessen, was im Griechischen Technik bzw. >Techne< heißt. Darin ist nicht das Machen und Herstellen selber gemeint, sondern die geistige Fähigkeit, das Ersinnen, Planen, Entwerfen, kurz: das Wissen, das das Machen leitet. In solchem Zusammenhang kann man immer sagen, daß das Herstellen ein Werk, das >Ergon<, zustandebringt. Aber wir sagen dafür in solchem Falle kaum >Werk<. Wenn es sich nicht um Kunst handelt, redet man nicht von Werk. Warum? Man sagt doch immerhin >Handwerk<. Offenbar ist der Grund, daß das Erzeugnis des Handwerks wie der industriellen Fertigung nicht eigentlich für sich da ist, sondern in einer dienenden Funktion steht und für den Gebrauch bestimmt ist. Dagegen stellt ein Künstler, selbst wenn einmal maschinelle Fertigungsweise dabei im Spiele sein sollte, etwas her, das für sich ist und nur für ein Betrachten da ist. Man läßt es aufstellen oder möchte es ausgestellt sehen - und das ist alles. Und gerade dann ist es ein Werk, und es bleibt das Werk des Künstlers, das er als ein solches, als seines, signieren kann. Das gilt selbst, wenn etwa eine Orgelimprovisation so überzeugend war, daß sie einem wie das Werk eines schöpferischen Augenblicks einen >bleibenden< Eindruck gemacht hat. Die bildende Kunst kennt mithin das gleiche, was sich in dem sprachlichen Vorgang des Übergangs von >Poiesis< zu >Poesie< ausdrückte. Auch für den Dichter gilt, daß seine Schöpfung eine Welt für sich ist und als solche vorgeführt oder aufgeführt wird. In der modernen Welt sagt man dafür: »veröffentlicht wird«. Das gilt nun gewiß nicht nur für Dichterisches, sondern auch für Wissenschaft und andere Informationen. Aber es hat einen besonderen Klang, wenn etwas zur Literatur gehört, einen anderen Klang von Bestand und Geltung, als wenn es Unterhaltungsliteratur ist oder Fachliteratur. Unsere Überlegung bestätigt im Ausgang von sprachlichen Beobachtungen, daß die Rede von der Abgelöstheit - der Absolutheit - der Kunst einen genauen und wörtlichen Sinn hat. Was wir an der semantischen Auszeich-
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nung des Poeten und der Poesie bei den Griechen beobachteten, hat, wie sich zeigt, seine Parallele an dem Klangwert, den in der Neuzeit im Deutschen das Wort >Kunst< erlangt hat und dem in anderen Sprachen die Ableitung des lateinischen >ars< entspricht. Der Weg, den der Wörtgebrauch durchläuft, beschreibt der Sache nach den Weg von dem für Gebrauch und Nutzen bestimmten Herstellen zu einem Herstellen, das nichts Nützliches erbringt und keinem Gebrauch dienen soll. In solcher >Freiheit< besteht die eigentliche Auszeichnung des Schönen. Deshalb hat man anfangs ja auch den Ausdruck >schöne Kunst< gebraucht. Schön ist etwas, auf das nie die Frage trifft, wozu es da ist. Diese Bemerkungen zu dem Begriff der schönen Kunst ergänzen meine abschließende Analyse, die ich in der Zusammenfassung der letzten Seiten von >Wahrheit und Methode< dem Begriffsgegensatz von >kalon< und >chrësimon<, von >schön< und »nützlich/, gewidmet habe. Im Begriff der freien Künste klingt bereits etwas von der Nachbarschaft an, die zwischen den Begriffen des Theoretischen und des Ästhetischen besteht, und damit von der Nachbarschaft zwischen dem Schauen des Schönen und dem Wissen des Wahren. Der Begriff des Schönen ist im griechischen Denken mit dem Begriff des Guten, ja sogar mit dem Begriff der >Aretê< aufs engste verknüpft, wie das der bekannte Ausdruck »Kalokagathia< als Idealbegriff menschlicher Vortrefïlichkeit anzeigt. Hierzu gibt Aristoteles, der das Unterscheiden liebt, einen wichtigen Wink1, wenn er feststellt, daß >gut< immer mit der Praxis zu tun habe, >schön< dagegen vor allem mit den unveränderlichen Dingen (εν τοις άκινήτσις), das heißt also mit dem Bereich der Zahlen und der Geometrie. So nennt er als Arten des Schönen >Taxis<, >Symmetria< und >das Bestimmte< (το ώρισμένον). Das entspricht dem Argumentationszusammenhang der >Metaphysik< (M 3 und 4), der zur kritischen Diskussion der Ideenlehre vorbereitet und am Ende in die eigenste Domäne des aristotelischen Denkens hineinfuhrt, und das ist die >Physik<. Das Zeugnis des Aristoteles ist deshalb so wichtig, weil sich darin die Nachbarschaft bekundet, die zwischen dem Bedeutungsfeld von Poiesis, Kunst und Werk zu dem Bedeutungsfeld des Schönen und des Wahren besteht. Das Schöne bleibt dem Bereich des Wissens und des Erkennens nahe. Von hier aus ist.· es nicht überraschend, daß der Rückgang auf die griechischen Anfange des Denkens und auf die metaphysische Rolle, die der Begriff der Schönheit dort besitzt, auch für die hermeneutische Philosophie von zentraler Bedeutung ist. Wenn ich in »Wahrheit und Methode< mit der Erfahrung der Kunst einsetzte, um von da aus die ganze Dimension der Hermeneutik in der universalen Bedeutung der Sprachlichkeit zum Thema zu machen, sollte der Rückgriff am Schluß des Buches auf den Met. M 3,1078 a 31-32-
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Begriff der Schönheit und die Weite seines Bedeutungsbereichs die Universalität der Hermeneutik abschließend bestätigen. Der Begriff des Schönen bringt uns nicht nur mit dem Begriff des Guten, sondern auch mit dem Begriff des Wahren in Berührung und damit mit der Fragestellung der Metaphysik überhaupt. Es geht nicht allein um die Kunst, sondern es ist der weite Begriff des Schönen, wie er in den Platonischen Dialogen Thema ist. Damit ist gewiß nicht die Kunst als solche gemeint. Man denke nur an die Vertreibung der Dichter aus dem idealen Staat2 oder an die herausfordernden Sätze, daß die Kunst in einem doppelten Abstand von der Wahrheit sei. Plato verwendet dafür den Begriff der Mimesis. Das Einzelne ist jeweils Nachahmung der Idee. Die Abbildung wird so Nachahmung von Nachahmung. Das ist eine bewußte Zuspitzung. Aristoteles sieht in >Mimesis< dagegen nicht so sehr den Unterschied von Nachahmung und Nachgeahmtem. Er hebt die Identifikation von beidem hervor 3 . Daher leistet die Mimesis in Wahrheit Erkenntnis, weil eben Erkenntnis überhaupt Wiedererkenntnis ist, wie ich in meinen Arbeiten gezeigt habe. Jedenfalls denkt Plato nicht an die Kunst, wenn er von >Aletheia< spricht und sie mit Schönheit in Verbindung sieht, und er denkt auch nicht an die Dichter, die zwar viel Wahres zu sagen haben, aber wie das Sprichwort sagte: »Die Dichter lügen viel.« Plato meint vielmehr die Freude an den reinen Formen und Farben und nicht an Blumen oder Tieren »und ihren Abbildungen« (Phileb. 51 c). Die Stelle lehrt deutlich, wie wenig die Abbildung als solche ins Gewicht fallt. Dagegen tritt der Begriff des Schönen mit dem Begriff der Aletheia und dem Begriff des Guten in den tiefsinnigsten späten Dialogen Piatos ganz in den Vordergrund. Plato sucht dort in dem »guten Leben< nicht reine Genauigkeit mathematischer Art, sondern die maßvolle Gemessenheit eines wohlgemischten Lebenstrankes: dort ist das Gute zu suchen. Das ist die Idee des >Philebos<. Damit erhält die berühmte, vielbehandelte Wendung (Phileb. 64e 5) fur uns Interesse, wonach sich das Gute auf der Suche nach dem richtig gemischten Sein in das Schöne geflüchtet hat4. Wenn dort betont wird, daß das Gute sich nur in der Dreiheit von Schönheit, Symmetria und Aletheia fassen läßt, zeigt das, wie wichtig es für Plato ist, daß das Gute zwar jenseits des Seins, aber eben nicht nur das Eine ist, sondern notwendigerweise Vielheit in sich enthält. Das schließt aber ein, daß sich in der »Gemessenheit der Erscheinun2
Siehe dazu auch meinen Beitrag >Plato und die Dichten in Ges. Werke Bd. 5, S. 187-211. 3
Siehe >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 118ff. und die einschlägigen Arbeiten dieses Bandes: >Kunst und Nachahmung< (Nr. 4), >Dichtung und Mimesis<
(Nr. 8) und >Das Spiel der Kunst< (Nr. 9). 4 Vgl. hierzu >Platos dialektische Ethik< in Ges. Werke Bd. 5, S. 149ff., sowie >Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles< in Ges. Werke Bd. 7, S. 185 ff.
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gen Schönheit darstellt. Dem entspricht, wie Plato im >Politikos< (283 bff.) auf das gleiche Thema eingeht. Dort ergreift Plato die Gelegenheit zu einer fast absurden Abschweifung. Es beklagt sich der Gesprächspartner, daß der Weg des Gesprächs allzu lang und beschwerlich sei. Da rechtfertigt sich der Fremde durch eine lange Auseinandersetzung über das zweierlei Maß und daß es am Ende immer auf die Angemessenheit ankomme. Der Gesprächspartner ist hier Sokrates der Jüngere und wahrlich nicht der Sokrates der >Politeia<, der die Stemenbetrachter verspottet. Aber der alte Sokrates im >Philebos< ist auch nicht mehr der der >Politeia< (wobei über die Enstehungszeit dieser Dialoge oder gar der Platonischen Gedanken nichts gesagt ist). Im >Politikos< begegnet die breit ausgeführte Darlegung über zweierlei Maßkünste, und dort wird, wenn ich recht sehe, das Angemessene (μέτριον) als >das Genaue selbst< (αντό το ακριβές) bezeichnet. Dies ist nun jedenfalls nicht die reine Genauigkeit, die in Zahlen und Maßen begegnet, wie sie die Auszeichnung der Mathematik ist. Man darf diesen Ausdruck nicht, wie es von Werner Jaeger behauptet wird, als eine Anspielung an die Zahlenmetaphysik bei Plato ansehen. Das trifft vollständig daneben. Es wird ja ausdrücklich gesagt, worum es sich bei dem >Genauen selbst« handelt: es ist das Gemessene, das Geziemende, der günstige Augenblick, das, was man soll5. Es heißt geradezu »das Mittlere zwischen den Gegensätzen. Das ist nicht Zahlenmystik, sondern im Gegenteil eine Vorwegnahme der Mesoteslehre der Nikomachischen Ethik. Durch sie hat Aristoteles den Begriff des Ethos und der Tugend definiert. Plato betont gewiß, daß beide Arten des Gemessenen unentbehrlich sind. Aber wenn er hier im Bereiche des Ethos >das Genaue selbst< im Auge hat, so meint das doch offenkundig, daß es gerade dort auf das genaue Treffen ankommt, weil die Anwendung des >reinen< Wissens der Mathematik hier nicht ausreicht, wo es auf das genaue Treffen ankommt. So geht es offenkundig bei Harmonie, bei Stimmigkeit, bei Schönheit. In diesen Fällen ist in der Tat die kleinste Abweichung schon schlimm. Ein einziger falscher Ton, in der Musik so gut wie im Umgang der Menschen miteinander, stört bereits die Harmonie wie die Stimmung. Dabei kann man nicht einmal sagen, was das Angemessene eigentlich gewesen wäre, und doch wissen wir mit voller Gewißheit, was das Unangemessene war, das die Harmonie gestört hat. Man möchte eine solche Darlegung, die hier die Umständlichkeit des Argumentationsganges begründen soll, nicht ganz am Platze finden. Aber Plato gibt gerade dadurch der Darlegung ihren Nachdruck. Er betont die Bedeutung des rechten Unterscheidens, die er >Dialektik< nennt, in kritischer Abkehr von den weisen Leuten, die blindlings auf Genauigkeit beste-
hen 6 . Diese »weisen Leute< begehen einen fundamentalen Irrtum, wenn sie den Unterschied zwischen den reinen Verhältnissen der Zahlen und Maße beachten, aber nicht den Unterschied, der diese Maße von dem »Genauen selbst< trennt. In Wahrheit vernachlässigen sie damit den wahren Sinn des Reinen und nehmen es für das Seiende selbst, und so halten sie etwas für einen Beweis, wenn sie etwa bei der berühmten Quadratur des Kreises den sinnlichen Augenschein gelten lassen. Es ist das Gegenstück zu dem Irrtum, den ein Baumeister beginge, wenn er auf der mathematischen Genauigkeit des Richtmaßes bestünde. Diesen Irrtum bezieht Aristoteles in kritischer Absicht auf die Platoniker. Der Rückgang auf den antiken Schönheitsbegriff, zu dem einen die Nähe von Schönheit und Wahrheit im antiken Denken einlud, scheint nun freilich für die Frage nach der Kunst in Enttäuschung zu enden. Es sieht so aus, als ob die Probleme der Kunst und ihres Wahrheitsanspruches hier gar keine Stütze finden. Es geht immer nur um Mathematik und um die reinen Verhältnisse, denen die mathematische Wissenschaft von den Zahlen und Kreisen gewidmet war. Plato hat dem Anschein nach die bildende Kunst so gut wie die Dichtung auf den gröbsten Begriff von Abbild begründet. Dagegen ist es unser Hauptanliegen, von dem Begriff des Abbildes überhaupt loszukommen und einen Wahrheitsbegriff zu gewinnen, der für das Bild wie für die Dichtung gültig wäre. Indessen, man muß auf die Begriffsbildung der griechischen Metaphysik, die hier im Spiele ist, genauer eingehen. Dann zeigt sich, daß interessante Entsprechungen zu unserer Fragestellung hilfreich werden. Gewiß war Plato in den Augen des Aristoteles ein Pythagoreer, und man kann ihn wirklich eher einen Metamathematiker nennen als einen Metaphysiker. Aber die innere Folgerichtigkeit des griechischen Denkweges rückt Plato und Aristoteles enger zusammen, und gerade dieser Zusammenhang ist es, der für unsere Frage aufschlußreich ist, was die Kunst zur Kunst macht und worauf die Absolutheit und Gleichzeitigkeit der Kunst beruht. Jedenfalls ist es nicht der Abbildcharakter des Bildes oder der Dichtung, von dem aus man Goethes Satz verstehen darf: »So wahr, so seiend. « Damit ist nicht etwa eine Besonderheit jener Muscheln, ihr Aussehen, ihre Gestalt und Zeichnung gemeint, sondern etwas, was jenseits dieser Greifbarkeiten liegt und gerade durch das Ungreifbare auf Goethe einen so überwältigenden Eindruck gemacht hat. So ist auch für uns die Kunst überwältigend, ob in ihr Abbildhaftes erscheint oder ob eine völlige Abkehr von aller Abbildlichkeit vorliegt, wie es in der gegenstandslosen Malerei und Plastik sein kann. Es geht eben um anderes als um das Verhältnis von Abbild und Original. Werke der Kunst haben einen erhöhten Seinsrang, und das zeigt sich daran, daß wir an 6
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Polit. 284eff. : τό μέτριον, το ηρέηον, το καίριον, το δέον.
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Polit. 285 a: οι κομψοί und μεγαλοηρεπζύς.
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dem Kunstwerk die Erfahrung machen: Es kommt heraus - und das ist das, was wir Wahrheit nennen. Es kann nicht verwundern, daß weder im Altertum noch im christlichen Mittelalter von einem erhöhten Seinsrang der Kunst die Rede war. Ihr >Sitz im Leben< war für die antike Welt und ihre sakralen Ordnungen selbstverständlich und wird im kirchlichen wie im weltlichen Rahmen der christlichen Metaphysik derart befestigt, daß die Weltordnung bzw. die Schöpfungsordnung den hohen Rang der Werke der Kunst mitträgt. Das gilt ebenso fur die literarischen Künste, welche Mythen und Sagen in immer neuer Darstellung zwingend zur Sprache bringen. Darauf beruht ja die alte Zwietracht zwischen Dichtern und Forschern, die man Philosophen nannte, daß sie beide auf ihre Weise Wahrheit meinten. Auch die verschiedenen Bilderstürme, die über die christliche Kirchengeschichte hinweggegangen sind, wirken wie ein später Nachklang dieser Spannung zwischen dem wahren Bild und dem wahren Wort. Erst im Zeitalter des Humanismus, als das Mittelalter zu Ende ging, änderte sich das. Da trat neben den Schöpfergott des Alten und Neuen Testaments der schöpferische Künstler als ein >alter deus<, als eine Art zweiter Gott. Ab die Revolution des dritten Standes die neuzeitliche Aufklärung auf die Spitze trieb, erreichte dann die Kunst als Stellvertreterin ihren höchsten Rang. Man denke an Lucile in Büchners »Dantons Tod<. Vor allem war es die Nachwirkung von Hegels Ästhetikvorlesungen und ihrer Bearbeitung durch Hotho, die bis in den Neukantianismus hinein die größte Wirkung ausübte. Es war nicht mehr das Schöne, sondern die Kunst, was die Ästhetik behandelte. So hat etwa Paul Natorp im Zeitalter der Wissenschaft der Religion auf der Grenze der reinen Vernunft ihren Platz angewiesen, den sie mit der Kunst zu teilen hat: Mit der Abwendung von dem geschlossenen geozentrischen Weltbild und mit der Kopernikanischen Wendung öffneten sich unausdenkbare Unendlichkeiten, die eine neue Forschungsgesinnung weckten. Die wissenschaftliche Aufklärung trieb nach allen Seiten ins Unbekannte. Aus dem Forschungsreisenden wurde der Forscher. Damit wurde eine steigende Umarbeitung der Natur und die Beherrschung der Natur durch Wissenschaft und Technik die Grundgesinnung des Zeitalters. Es waren nicht länger kirchliche oder weltliche Themen, an denen eine heile Welt zur Darstellung durch die Kunst kommen konnte. Damit trat die Ordnungserfahrung als solche, wie sie die bildende Kunst, die Dichtkunst und schließlich vor allem die Musik vermittelt, in die Mitte des bürgerlichen Kulturlebens. Es feiert in dem Wunder der Kunst das letzte Unterpfand einer heilen Welt.
physik innehatten. Es ist die neuzeitliche Physik, die dergestalt alles ihrer eigenen Jurisdiktion unterstellte. Die alten Lehrgebiete verloren ihre Geltung, und der Ästhetik bzw. Philosophie der Kunst kam ein neuer Rang zu7. Was das für eine gewaltige Veränderung war, läßt sich an einer begriffsgeschichtlichen Einzelheit illustrieren. Die antik-mittelalterliche Astronomie hieß »Musica caelestis< — im Unterschiede zu der irdischen Musik der hörbaren Töne. Was die alte Lehre der Pythagoreer von den reinen Zahlverhältnissen am Sternenhimmel fand und was das Mittelalter als pythagoreisches Erbe in einem Jenseits der Physik verwaltete, verlor an die neuzeitliche Wissenschaft ihre Geltung. So wiederholte sich im Grunde eine antike Problemsituation. Sie bestand in dem Gegensatz zwischen dem Pythagoreer Plato und der Physik des Aristoteles, der in gewissem Sinne bis heute fortbesteht, wenn man etwa an den Einbruch der Statistik in die Quantenphysik denkt. Da gibt es Gleichungen, aber keine eindeutigen Zuordnungen zu dem Ganzen der Meßbefunde. Versuchen wir es also noch einmal, mit älteren Begriffen das Gemeinsame aller Kunst herauszuarbeiten. Wir wollen das, was wir heute >Kunst< nennen und was Künstler schaffen, begrifflich so fassen, daß der Wahrheitsanspruch der Kunst verständlich wird. Plato unterscheidet im >Philebos< bei der Mischung des Lebenstrankes, auf die wir schon anspielten, die reine Mathematik und die Praxis, der es auf etwas anderes ankomme — und das sei unentbehrlich. Er nennt dies andere »Treffsicherheit«8. Es wird ausdrücklich gesagt, daß es für die Praxis des Lebens nicht genüge, sich auf die göttliche Wissenschaft von den reinen Zahlen, Kreisen und Dreiecken zu beschränken. Zur menschlichen Anwendung gehöre durchaus auch der >falsche< Kreis und ebenso das »falsche< Maß. Selbst bei der Musik und der Baukunst, in denen die Zahlen und Maße eine besonders hervorragende Rolle spielen, kommt es auf die Kunst des Treffens an. Sie sei unentbehrlich. So sei sie in dem guten Leben überhaupt zuzulassen, »wenn einer auch nur den Weg nach Hause soll finden können« (Phileb. 62b 8 ). Das ist ein entscheidender Schritt, den Plato damit gegenüber den Pythagoreern tut, indem er den alten pythagoreischen Gegensatz von Unbegrenztem und Grenze ergänzt durch eine dritte Gattung des Seins. Er nennt sie das »Werden zum Sein<9. Diese höchst paradoxe Formel gebraucht Plato offenbar mit vollem Bewußtsein und - wie er es auch im >Parmenides< tut (Parm. 155eff.) - um eine wirkliche Getrenntheit von zwei Welten, einer Welt der Ideen und einer Welt der Erscheinungen, als falschen Schein zu überwinden.
In anderen Zusammenhängen habe ich dargestellt, wie Ästhetik in Gestalt von Kunstphilosophie im deutschen Idealismus den Platz eroberte, den die Kosmologie und die Naturphilosophie im Rahmen der klassischen Meta-
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7 Vgl. meinen Beitrag »Geschichte des Universums und die Geschichtlichkeit des Menschen<, erscheint in Ges. Werke Bd. 10. 8 Phileb. 55 e-?: στοχασακή. 9 Phileb. 2 6 dg: γένεοιςεΐςονοίαν.
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Wie um dem Nachdruck zu geben, variiert Plato den Ausdruck und sagt statt »Werden zum Sein< geradezu »gewordenes Sein<10. So betont er noch mehr die Einheit von Werden und Sein. Das gibt nun doch zu denken, daß Plato dem scheinbaren Gegensatz von Werden und Sein, von Anderswerden und An-sich-Sein, nicht das letzte Wort läßt. Die Reinheit der Mathematik bleibt zwar ein Vorbild des Wissens dank ihrer Genauigkeit und Wahrheit. Plato spricht hier aber nicht mehr wie in der >Politeia< davon, wie die reine Mathematik den Aufstieg zur reinen Dialektik vorzubereiten hat. - Vielmehr zielt er nunmehr überall darauf, daß im Weltenbau wie in der Praxis des Lebens das Gemischte vorliegt und darin das >Genaue< gesucht und getroffen werden muß. Am Ende bleibt nur die Welt der Zahlen und der Maße mit dem Begriff des reinen Wissens verknüpft. Das Werden wird nicht mehr als ein bloßes Nichtsein, das heißt als Anderswerden, gesehen, sondern bedeutet Werden zum Sein. Das ist der neue Schritt, der in Piatos >Philebos< seinen Ausdruck findet. Der Schritt vom Werden zum Sein beläßt dem Sein etwas von seinem Gewordensein. Das ließ sich an der Redeweise des >Philebos< schon beobachten. Das Sein kommt aus dem Werden heraus. Das ist eine Wendung, über die es sich nachzudenken lohnt. Wir erkennen darin die Grunderfahrung wieder, die wir dem Werke der Kunst gegenüber machen, wenn wir sagen: »So ist es« - so ist es »richtig«. Aristoteles hatte nur einen Schritt über Plato hinaus zu tun, wenn er am »Werden zum Sein< das Sein des Werdens zum Thema machte. In diesem Zusammenhange führte er den Begriff der >Energeia< ein, um seine >Physik< zu begründen. Aber dieses Wort läßt uns aufhorchen. Das Wort >Energeia< ist offenbar eine Aristotelische Neuschöpfung. Man bemerkt die Verlegenheit, die Aristoteles bei der Definition der >Energeia< hat, weil er sich eben nicht auf den Sprachgebrauch berufen kann. So muß er den Begriff durch die Analogie zur >Dynamis< definieren (Met. θ 6), die Plato bereits im >Sophistes< (Charm. 168dff., Soph. 247eff.) aus dem allgemeinen Sprachgebrauch in die philosophische Diskussion überfuhrt hatte. Der Begriff >Energeia< schillert zwischen Aktualität, Wirklichkeit und Tätigkeit und wird dann auch noch der Begriffsbestimmung von >Kinesis< (Bewegung) dienstbar gemacht. Mit dem neuen Begriffsausdruck >Energeia< öffnet sich ein Problemhorizont, in dem auch auf die Seins weise des Kunstwerks ein neues Licht fallen dürfte. Das zeigt sich bereits an einer benachbarten, fast synonymen Wortschöpfung des Aristoteles, nämlich >Entelecheia<. Es ist ein Ausdruck, der ebenso "wie >Energeia< auf der Schwelle der Neuzeit neue Begriffsbestimmungen an sich gezogen hat. Das Gemeinsame beider Wortbildungen besteht darin, daß sie etwas bezeichnen, das nicht wie ein >Ergon< ist, das mit der vollendeten Herstellung sein Dasein hat. Die aristotelischen Begriffe, die nach dem Sein 10
Phileb. 27 bg: γεγενημενη ουσία.
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der Bewegtheit fragen — wie Dynamis, Energeia und Entelecheia -, verweisen damit auf die Seite des Vollzuges und nicht auf ein >Ergon<. Der Vollzug hat sein vollendetes Sein in sich selber (τέλος έχει). Damit wird zugleich deutlich, daß >Energeia< nicht bloß Bewegung (>Kinesis<) meint. Denn Bewegung ist ατελής. Solange sie im Gange ist, ist sie nicht vollendet. Das Bewegte ist noch unterwegs, ist noch nicht angekommen. Es ist noch im Werden. So erwähnt Aristoteles ausdrücklich und im Unterschied zur >Energeia<, daß Werden und Gewordensein nicht zugleich sind. Wohl aber ist Sehen und Gesehenhaben zugleich, oder Über-etwas-Nachdenken und Nachgedachthaben ebenfalls. Beides meint ein Verweilen bei dem Gemeinsamen, so wie wir etwa »bei der Sache sein« sagen. Nun meine ich, Aristoteles beschreibt >Energeia< durch das Wort für >Zugleich< (άμα), um die immanente Gleichzeitigkeit der Dauer zu bezeichnen. Es ist kein Nacheinander, sondern ein Zugleich, das dem zukommt, das die Zeitstruktur des Verweilens besitzt. Es ist nicht ein Verrichten von diesem und jenem, erst dies und dann das, sondern es ist ein Ganzes, das da gegenwärtig ist, im Sehen, im Nachdenken, im Betrachten, in das man versunken ist — oder hören wir lieber auf die Weisheit der Sprache und sagen: »in dem man aufgeht«. Aristoteles fugt denn auch das Beispiel des Lebens an. So sagen wir ja auch, daß man »am Leben ist«. Solange einer am Leben ist, ist er mit seiner Vergangenheit und mit seiner Zukunft eines. Machen wir die Anwendung auf die Kunst. Wir fragen dabei nicht so sehr, was da herauskommt oder sich zeigt. Wir sagen vielmehr, >es< kommt heraus. Das sagen wir sowohl im Falle des Bildes wie im Falle von Sprache und ihrer dichterischen Mächtigkeit. Wir machen daran eine Erfahrung. Dies >Machen< meint nicht eigentlich, daß wir etwas tun, sondern vielmehr, daß uns etwas aufgeht, wenn wir etwas richtig verstehen. Das heißt also ganz und gar nicht, daß wir etwas hineinlesen oder hineinlegen, das nicht darin ist. Wir lesen vielmehr heraus, was darin ist, und so, daß es herauskommt. So ist es eine Erfahrung der Kunst. Sie ist keine bloße Aufnahme von etwas. Man geht vielmehr selber darin auf. Es ist mehr wie ein wartendes und gewahrendes Verweilen, das das Werk der Kunst herauskommen läßt, als daß es ein Tun wäre. Wieder können wir auf die Sprache hören: Was so herauskommt, »spricht einen an«, wie wir sagen, und so ist der Angesprochene mit dem, was da herauskommt, wie in einem Gespräch. Das gilt ebenso vom Sehen wie vom Hören oder Lesen, daß man so bei dem Werk der Kunst verweilt. Verweilen ist eben nicht Zeitverlieren. Verweilendes Sein ist wie ein intensives wechselvolles Gespräch, das nicht terminiert ist, sondern dauert, bis es beendet wird. Das ist das Ganze eines Gesprächs, daß man eine Weile ganz »im Gespräch« ist, und das heißt »ganz dabei ist«. So ist es beim Lesen eines Dichtwerkes, wenn wir auch noch so sehr Zeile
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fur Zeile nacheinander lesen und Seite fur Seite. Auch da ist es nicht wie das Durchlaufen einer Strecke bis an das Ziel. Wir gehen ganz mit, wenn wir lesen. Wir sind dabei - und am Ende vertieft sich der Eindruck immer mehr: »So ist es.« Es ist wie eine wachsende Faszination, die sich durchhält und sogar vorübergehende Störungen überstrahlt, weil die Stimmigkeit des Ganzen zunimmt und Zustimmung fordert. Wir kennen das besonders anschaulich beim Hören von Musik. Dilthey hat öfters an der Musik das Strukturgesetz allen Verstehens illustriert. Es ist fast überflüssig zu sagen, daß, wie das Aufnehmen, auch das Schaffen kein bloßes Herstellen ist. Für den Schaffenden ist es das Gelingen des Werks. Für den Aufnehmenden weiß man nicht zu sagen, was es ist. »Je ne sais quoi« sagt dafür die bekannte französische Aufklärung. Es ist eben gelungen und hat seine unbegreifliche Richtigkeit. So ist es sinnlos, wenn es sich um Kunst handelt, den Schaffenden zu fragen, was er da gemeint hat. Ebenso ist es sinnlos, den Aufnehmenden zu fragen, was es eigentlich ist, was ihm das Werk sagt. Beides geht über das subjektive Bewußtsein des einen wie des anderen hinaus. Es überschreitet alles Meinen und Wissen, wenn wir sagen: »Das ist gut. « Das bedeutet in beiden Fällen, daß >es< herausgekommen ist. So ist die Erfahrung des Kunstwerkes nicht nur die Entbergung aus der Verborgenheit, sondern es ist zugleich wirklich darin. Es ist darin wie in Geborgenheit. Das Werk der Kunst ist eine Aussage, die keinen Aussagesatz bildet, aber die am allermeisten sagend ist. Es ist wie ein Mythos, wie eine Sage11, und zwar gerade deshalb, weil sie das, was sie sagt, ebensosehr vorenthält wie zugleich bereithält. Die Aussage wird immer wieder sprechen. Es ist nun deutlich geworden, daß der Rückgang auf die griechische Begriffswelt für unsere Frage Früchte trägt. Es ist zwar richtig, daß wir von der Sonderstellung der Kunst und dem besonderen Seinsrang des Kunstwerkes ausgingen, und das heißt von einer modernen Fragestellung. Die griechische Überlieferung versagte uns daher die Antwort auf unsere Frage, sofern der Grieche das vom Künstler Geschaffene, und damit die Einzigartigkeit seines Könnens, nicht von dem handwerklich Hergestellten, das auf >Techne< beruht, unterschied. Man verlieh höchstens dem großen Künstler den Ehrennamen eines Weisen. Unsere Frage ist aber, wieweit wir solcher Weisheit auch Wahrheit zuordnen können. Kann die neuzeitliche Wissenschaft das überhaupt anerkennen? Kann sie ihre Denkweise so erweitern, daß das Wahre neben dem Schönen und dem Guten steht, wie das in der antiken Welt galt? Zwar redet man auch im Bereiche der Kunst davon, daß etwas wahr ist oder daß es so richtig ist. Das ist sogar ein guter Ausdruck für das, was man meint. Aber was da so genannt wird, ist nicht von der Art, daß 11 Über das Aufkommen des >Mythos<-Begriffs in der Vorromantik vgl. in diesem Band >Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft (Nr. 16).
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wir darauf zeigen könnten oder daß es, wie es das Schöne tut, >hervorscheint<. Wenn wir in einem Bild oder in einem Gedicht alles >richtig< finden, dann meint das nicht >richtig< im Sinne der Satzwahrheit. So hat ja auch Kant, in kritischer Abhebung von der Regelästhetik des Rationalismus, das ästhetische Apriori an die Subjektivität des Gefühls verwiesen. Als Ergebnis der vorstehenden Überlegungen möchte ich festhalten: Es geht um einen veränderten Ansatz der Frage, was Wahrheit, >Aletheia<, Unverborgenheit eigentlich sagen will. Die Heranziehung des Begriffs der >Energeia< hat den besonderen Wert, daß wir uns damit nicht im Bereiche der Satzwahrheit bewegen. Aristoteles hat mit diesem Begriffswort eine Bewegtheit ohne Weg und Ziel gedacht, so etwas wie die Lebendigkeit selbst, wie das Wachsein, das Sehen oder das >Denken<. All das nennt er >reine Energeia<, und das ist es, was uns hier an die Kunst denken läßt. Der Gott, der in der aristotelischen Metaphysik als der unbewegte Beweger des Alls eingeführt wird, führt ein solches Leben der reinen Energeia, das heißt des ununterbrochenen reinen Schauens. Offenbar meint dieses Sein Gegenwärtigkeit als solche. Man weiß bei dieser aristotelischen Lehre daher nicht auf die Frage wirklich zu antworten, was das beschauliche Schauen des Gottes eigentlich zum Gegenstand hat - alles oder was? Für Hegel ist es das Sein als die Vollendung des Selbstbewußtseins, und er nennt es den absoluten Geist. Er denkt dabei ohne Zweifel auch an den Heiligen Geist, die dritte Person der christlichen Trinität. Aber man kann sich die Sache auch so klarmachen, daß man etwa an das Wort >Geistesgegenwart< denkt. Da meinen wir auch nicht etwas Bestimmtes, dessen man gewahr ist und worauf man reagiert. Man meint damit vielmehr, daß man wachsam und all dessen gewärtig ist, was da kommen mag. Nach der Ausdeutung der griechischen Philosophie ist es die Lebensweise der Götter, die in solchem Schauen, in der >Theoria<, ihre volle Erfüllung findet. Da bedeutet der ursprüngliche Sinn des griechischen Ausdrucks >Theoria< etwas Wichtiges. Das griechische Wort meint, an einem festlichen Akt teilzuhaben und dabeizusein. Schauen ist also hier kein bloßes Zuschauersein. Es meint »ganz dabei sein«, das heißt eine höchste Tätigkeit und Wirklichkeit. Tatsächlich braucht man für das griechische Wort >Energeia< diese beiden deutschen Worte als jeweilige Übersetzung: Tätigkeit und Wirklichkeit. Wer so teilhat an einem Kult, der läßt ja auch das Göttliche >herauskommen<, so daß es da ist, wie eine leibhaftige Erscheinung. Das gilt bestens für das Kunstwerk. Vor seiner Erscheinung sagen wir auch: »So ist es.« Was da herausgekommen ist, dem stimmen wir zu, und zwar nicht, weil es ein genaues Abbild von etwas wäre, sondern weil es als Bild wie eine überlegene Wirklichkeit ist. Es kann vielleicht auch Abbild von etwas sein. Es braucht aber auch gar nichts Abbildhaftes an sich zu haben. Man denke daran, was etwa die Mysterienkulte als heiliges Geheimnis gehütet haben. So ist das Kunstwerk
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da und ist »so wahr, so seiend«. Es hat im Vollzug sein vollendetes Sein (τέλος ίχει). Die Sache ist bedeutsam genug. >Aletheia< meint also nicht einfach Unverborgenheit. Wir reden zwar davon, daß >es< herauskommt, aber das Herauskommen hat eine eigentümliche Verfassung. Es besteht darin, daß ein Werk der Kunst sich so darstellt, indem es sich ebenso verbirgt, wie es sich zugleich selbst verbürgt. Was die Griechen »Hervorscheinen des Schönen« nannten, gehörte einer Weltordnung an, die sich in wahrer Vollendung am Sternenhimmel darbot. Die Trennung des handwerklichen und maschinellen Hersteilens von dem, was im modernen Sinne Kunst ist, meint daher im radikaleren Sinne ein >Herauskommen<. >Es< kommt heraus, weil es darin ist und in gewissem Sinne ein Verborgenes ist, das erst herauskommen muß. Die Unverborgenheit dessen, was da herauskommt, ist nun aber in dem Werk selbst geborgen - und nicht in dem, was wir darüber sagen. Es bleibt auch immer dasselbe Werk, auch wenn es in jeder neuen Begegnung auf seine eigene Weise herauskommt. Wir kennen das wohl. Der Betrachter eines Gemäldes sucht den rechten Abstand, wo es richtig herauskommt. Der Betrachter einer Plastik muß vielleicht darumherumgehen. Der Betrachter eines Bauwerkes verlangt am Ende, daß man es >begeht<, um immer wieder andere, wechselnde Abstände und Blicke zu gewinnen. Wer hält da Abstand? Hat man seinen eigenen Standpunkt nach eigenem Beheben zu wählen und dann festzuhalten? Man muß doch den Punkt suchen, von dem aus >es< am besten herauskommt. Dieser Punkt ist nicht der eigene Standpunkt. Man macht sich geradezu lächerlich, wenn man einem Kunstwerk gegenüber sagt, was man sonst sagen kann, man stünde nicht auf seinem Standpunkt. Solchen Abstand gibt es da nicht. Wenn ein Kunstwerk seine Faszination ausspielt, ist alles eigene Meinen und Gemeinte wie verschwunden.
Kunstwerkes kein Maßstab. Was auf solche Weise an einem Bild feststellbar ist, ist gerade nicht die Kunst, die es auszeichnet. Das zeigt sich etwa an den Chancen, die die Wissenschaft, die Kunstgeschichte, gegenüber dem Kunstwerk hat. Da ist etwa die ikonographische Thematik, in der die Kunstgeschichte als Wissenschaft unbestreitbar vieles in diesem Jahrhundert geleistet hat. Aber sofern die Wissenschaft das rechte methodische Bewußtsein behält, weiß sie sich dabei in der Perspektive des Abbildhaften. Was bei alleiniger Orientierung am Abbild und seiner Richtigkeit herauskommt, hat Plato mit ironischer Deutlichkeit gezeigt, wenn er es etwa an einer monumentalen Skulptur als »falsch« bezeichnet, daß die oberen Partien derselben um der Bildwirkung willen größer angelegt werden als »richtig« wäre (Soph. 235e). Die platonische Schönheitslehre selber leuchtet dagegen unmittelbar ein und hat über Plotin ihre Nachfolge bis Hegel gefunden, wenn man nach Hegel die Kunst als das »sinnliche Scheinen der Idee« beschreibt. Gibt nicht Plotin einen weiteren Wink, wenn er sagt, ein Gesicht erscheine bald schön und bald häßlich, auch wenn nicht die geringste meßbare Veränderung vorliegt? Plotin hat dabei das Schöne der Kunst schon immer mit im Auge, das wir bei Plato und Aristoteles nur beiläufig erwähnt fanden. Für uns ist es wesentlich, daß es sich hier um ein Er-scheinen handelt. Als Scheinen ist es seinem Wesen nach ein wechselnder Schein. Und doch gibt es das einzigartige Hervorscheinen des Schönen wie den Zauber der Kunst, sei es im Sehen, sei es im Hören, sei es in der bildenden Kunst, der Dichtkunst oder etwa in der Musik.
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Das gilt ebenso, wenn es sich um eine Dichtung handelt. Man tut gut, sich hier an Hegels Begriff des Absoluten zu erinnern. Ja, wir müssen uns fragen, ob man bei einem Kunstwerk überhaupt so, wie man das bei dem Handwerk tut, zwischen dem Machen und seinem Produkt trennen darf, das ja alsdann seinem Gebrauchszweck überlassen wird. Das Kunstwerk ist offenbar nicht im gleichen Sinne ein Werk. Wenn wir von ihm sagen, daß >es< herauskommen muß, dann sollten wir Heber statt an Handwerk an die Natur denken, die im Frühling die Blumen herauskommen läßt. Das Kunstwerk ist eben nicht das Produkt, das nach getaner Arbeit fertig ist. Das Kunstwerk ist überhaupt kein Gegenstand, dem man sich mit dem Maßstab in der Hand nähern kann. Ein wirkliches Kunstwerk läßt sich nicht durch Meßvorgänge erfassen, auch nicht nach der Zahl der Bits. Informationsleistungen, wie man sie aus Zeitungen, Abbildungen, Reiseberichten oder Romanen empfangen mag, sind für den Kunstwert eines
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Die Kunst ist im Vollzug. Das ist das Ergebnis unserer begrifflichen Rückbesinnung auf die griechische Schönheitslehre und ihre Anwendung. Das bedeutet aber: Die Seins weise des Kunstwerks ist weder ein Geschaffenes, noch treffen Begriffe wie Produktion und Reproduktion seitens des Aufnehmenden die Sache. Ja, diese Unterscheidung ist geradezu ihr Verfehlen. Die Künstler, Bildhauer, Maler, Dichter leisten zwar planvolle Arbeit, machen vielleicht viele Entwürfe und Versuche, um ihren Plan auszufuhren. Aber es ist kein Herstellen von etwas, was ein anderer so haben will, um es dann in Gebrauch zu nehmen. Beides sind unangemessene Begriffe, die die geheime Selbigkeit des Schaffens und des Aufhehmens verdecken. Die künstlerische Schöpfung ist nicht etwas, was man macht — und wird auch nicht nachgemacht oder gar nacherlebt. Wir sagten immer, es kommt heraus und es ist etwas darin. Aber was und wie, was da herauskommt, läßt sich nicht sagen. Der Maler kann es in seinem Bild sagen, und er kann das Gelingen seiner Arbeit meinen, und der Betrachter wird auf der anderen Seite mit konzentrierter Kraft dabei sein. Er wird dann vielleicht finden: »Es kommt heraus« - oder: »Es ist etwas darin.« Aber gewiß ist es nicht das Abgebildete, das da herauskommt, so daß man es erkennt und wiedererkennt. Das ist nicht die Aussage des Bildes.
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»Es kommt heraus« - ist vielmehr etwas, was man noch nie so gesehen hat. Selbst wenn man es mit einem Porträt zu tun hat, den Porträtierten kennt und das Bild ähnlich findet, ist es doch so, als hätte man ihn noch nie so gesehen. So sehr ist er es. Man hat sich sozusagen hineingesehen, und je mehr man das tat, desto mehr ist es herausgekommen. Das Porträt ist gewiß ein Sonderfall. Indessen, beim Götterbild oder beim Heiligenbild sagt man es sich auch. Das Bild hat seine eigene Hoheit. Man sagt es selbst bei einem wunderbaren Stilleben oder einer Landschaft, weil in dem Bild alles so stimmt. Da läßt man jeden Abbildbezug hinter sich. Das ist die Bildhoheit, Oder man liest ein Gedicht. Man üest es wieder. Man geht es durch und es geht mit einem mit. Es ist, als ob es zu sprechen, als ob es zu singen begönne, und man singt mit. Wenn es sich um Musik handelt, sei es, daß man selber Musik macht, »nach Noten<, wie wir sagen, oder auch nur die Musik mitanhört, dann ist all das da, Wiederholung, Variation, Umkehrung, Auflösung, und es ist einem geradezu vorgeschrieben. Aber nur, wenn man mitgeht, sei es als Musizierender, sei es als Zuhörer, kommt es heraus und es geht einem ein. Sonst rauscht es vorbei und schien einem leer. Bleiben wir bei dem Gedicht. Da ist, wenn man ein Gedicht liest oder es >sich aufsagt<, allerhand zu verstehen, und es ist ganz gegenwärtig geworden. Ein wahrer Strom von Bildern und Klängen erfüllt einen, und am Ende sagt man sich vielleicht: »Wie schön! «, oder vielleicht sagt man: »Wie da alles sitzt und wie da alles richtig ist!« Man hat dem Diktat gehorcht. Man hört es geradezu, wenn man es liest, und zwar immer noch ein wenig richtiger, als wenn man selber es sich wirklich aufsagt. Was ich beschrieben habe, ist die Bildhoheit in den bildenden Künsten und das Diktat des Textes in der >Literatur<. In beiden Fällen handelt es sich um eine normative Gewalt. Wie jede Norm, ist sie immer nur in verschiedenen Graden der Näherung erreichbar. Aber nein - das ist gerade nur, was wir sagen, wenn wir nachträglich reflektieren. Im Vollzug ist es anders. Da ist es >richtig da<, das Bild, das Gedicht, das Lied. Es ist herausgekommen. Von da aus versteht man auch den ursprünglichen Sinn von Kritik — daß man etwas als ein Kunstwerk von Unkunst scheidet (und nicht, daß man es besser weiß als der Künstler). Wir fragen.jetzt nicht mehr, was ein solcher Vollzug eigentlich ist, wie er anfangt, endet, wie lang er dauert, wie er einem nachgeht und am Ende absinkt und doch irgendwo bleibt und wieder auftauchen kann. Wir fragen so nicht. Das haben wir eben an Aristoteles' >Energeia< gelernt - und so zu fragen verlernt. Gewiß, es ist eine >Weile<, aber eine, die niemand mißt und die man nicht lang- und nicht kurzweilig findet. Gleichwohl baut sich ein Bild oder ein dichterischer Text im Nacheinander der Zeit auf, und das >nimmt Zeit<. Wieder aber sagen wir das nur, wenn wir die leere Zeit konstruieren, in der allein so etwas meßbar wird. Die
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erfüllte Zeit dauert nicht und vergeht nicht12. Und doch geschieht da allerhand. Beim Bild wie beim Buch nenne ich, wie dieses Geschehen geschieht, das >Lesen<. Bei Lesen weiß man, was es heißt, das zu können und kein Analphabet zu sein — was freilich nur der erste Schritt zum Können ist, das ein Werk der Kunst verlangt. Aber wenigstens bildet man sich nicht ein, wie die meisten beim Sehen meinen, das könne man schon. In Wahrheit muß man es lernen, wie das Sehen und wie das Hören von Musik. >Lesen< hat dabei vielfältige Anklänge von Zusammenlesen, Auflesen, Auslesen und Verlesen wie bei der >Lese<, das heißt der Ernte, die bleibt. Aber >Lesen< heißt auch, was mit dem Buchstabieren anfängt, wenn man schreiben und lesen lernt, und wieder gibt es zahlreiche Anklänge. Man kann ein Buch anlesen oder auslesen, man kann sich einlesen, man kann weiterlesen, nachlesen, vorlesen - und auch diese Reihe zielt auf eine Ernte, die gesammelt ist und aus der man sich nährt. Diese Ernte ist das Sinnganze, das sich aufbaut, ein Sinngebilde wie ein Klanggebilde zugleich. Das sind gleichsam Bauelemente von Sinn: Motive, Bilder und Klänge. Es sind aber nicht etwa die Buchstaben, die Wörter, die Sätze, die Perioden oder die Kapitel. Solches gehört in die Grammatik und Syntax, zählt zu dem bloßen Skelett der Schriftlichkeit und nicht zu der Formgestalt. Die Formgestalt ist es, was herauskommt, dank den dichterischen und bildnerischen Sprachmitteln, die im Fluß ihres Zusammenspiels die Gestalt aufbauen. Nachträglich kann das durchgegliedert werden, und das mag dann dem wirklichen Sehen oder Hören, dem Vollzug, zugute kommen, so daß er an Differenzierung gewinnt. Im allgemeinen bildet sich aber die Formgestalt von Bild und Text ohne ausdrückliche Abhebung. Der Vollzug ist die Interpretation13. Wenn ich mich auf den Begriff des Lesens konzentrierte, so geschah das, um den Unterschied zwischen der Äußerlichkeit des Daseins, etwa von Farben oder Worten oder auch Schriftzeichen, klar von dem abzuheben, was der Begriff des Vollzuges hier zu leisten hat. Da muß man sich nur klarmachen, wie es beim Vollzug des Lesens ist. Lesen will keine Reproduktion von ursprünglich Gesprochenem sein. Das war der große Fehler Bettis, hier zweierlei Sinn von Interpretation zu unterscheiden, den einen im theoretischen, den anderen im Bereich der transitorischen Künste, etwa im Falle der Musik oder der Theaterkunst, wo man von >Reproduktion< sprechen möchte. Gerade an der Musik läßt sich aber zeigen, daß nicht das richtige Abspielen des Notentextes die Interpretation ist. Ebenso würde man es, wenn man 12
Zur Unterscheidung zwischen >leerer< und >er£üllter< Zeit siehe meinen Beitrag in Ges. Werke Bd. 4, S. 137-153. 13 Siehe dazu in diesem Band >Hören - Sehen - Lesen< (Nr. 23) und >Über das Lesen von Bauten und Bildern< (Nr. 30).
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einen sprachlichen Text von dichterischer Art so liest, in Wahrheit nicht lesen nennen, sondern buchstabieren bzw. >aufsagen<. Der Begriff des Lesens muß also von dem, was man Reproduktion nennt, ganz unterschieden werden, und so muß auch der Begriff der Interpretation von dem Aspekt bloßer Reproduktion unterschieden werden. Wer Musik macht und Musik nicht buchstabiert, ist in Wahrheit als Interpret der Vollzieher der Musik, so daß sie herauskommt. Die perfekte technische Reproduktion, und leider damit auch im Prinzip die Schallplatte und jede andere technische Reproduktionsform, etwa die farbige Reproduktion von Gemälden, ist wirklich nur Reproduktion ohne Interpretation. Im Zeitalter der Reproduzierbarkeit bedarf es der Erinnerung, was Interpretation eigentlich ist. Es gibt Polemik gegen die Interpretation und berechtigte Kritik an ihr, wenn sie sich gegenüber dem Kunstwerk vordrängt und von ihm abdrängt. Daß sie sich das anmaßt, ist die Folge eines Wissenschaftsbegriffs, der ganz von der Objektivierung eingenommen ist. Das, was man an einem Kunstwerk, das im Vollzug sein Sein hat, durch Objektivierung und wissenschaftliche Methodik erfassen kann, bleibt notwendig sekundär und insofern geradezu unwahr. Die Wahrheit, die wir in der Aussage der Kunst suchen, ist die im Vollzug erreichbare. Die bekannte Polemik von Susan Sontag legt den Finger auf den wunden Punkt, wenn es sich um wissenschaftliche Interpretation von Dichtung und Kunst handelt. Wissenschaftliche Methodik läßt ein Werk der Kunst nicht in seinem eigenen Licht erscheinen. Sie muß überhellen. Heidegger hat einmal gesagt, jede Interpretation müsse überhellen. Das ist am Ende immer so, wenn man sich auf einen Vollzug bezieht. Erst durch Zurücknahme aller vereinzelnden Vergegenständlichung kann Interpretation dem Vollzug selber dienen. So ist es jedenfalls bei einem Kunstwerk, daß es im Vollzug allein sein Sein hat. So ist es wohl aber auch in der Philosophie, wenn man Piatos Siebentem Brief oder Kant folgt.
Herstellen von Produkten, die in der Werkstatt entstehen. Unsere Sprache spricht bei Natur und Kunst von >organischer Einheit*. Sie ist wie von niemandem gemacht. Das hat Kant gesehen, wenn er die ästhetische und teleologische Urteilskraft zusammenfaßte. Freilich hat er im Blick auf den Wissenschaftsbegriff der neuzeitlichen Physik weder in der Ästhetik noch in der Naturerkenntnis dem Zweckbegriff objektive Geltung zuerkannt. Das hat erst der deutsche Idealismus gewagt — und damit >die Kunst< als Kunst entdeckt14. Daraufläuft es am Ende hinaus, daß die Kunst in die Nähe zur >Theoria< gehört. Wirklich kennen wir ja in der Geschichte des Denkens die innige Nachbarschaft von Kunst und Wissenschaft, die sich gegen alle praktischtechnische Betätigung abgrenzt. So ist es ein positives Ergebnis und zugleich die Rechtfertigung des Rückgriffs auf die Grundbegriffe der theoretischen Philosophie, wenn man den neuzeitlichen Sinn von Kunst und ihren Absolutheitsanspruch begreifen will. Während das Werk des Handwerkers oder seiner industriellen Nachfolger dem Gebrauch dient, ist das Kunstwerk fur sich selbst da und ist in seiner Seinsweise reine >Energeia<. Die Griechen machen diesen Unterschied von Handwerk und Kunst sonst nicht. Wohl aber unterscheiden sie mit grundsätzlicher Schärfe >Techne< und >Physis<. Das Natürliche und Lebendige ist in allen Phasen seines Daseins Natur, als Same, als Keim, wenn es aus dem Boden herauskommt, und sein ganzes Wachstum, Reife, Frucht. All das ist ein einziger Vollzug >von Natur zu Natun, wie Aristoteles sagt15. Eben das zeichnet aber auch die Kunst gegenüber den Produkten des Herstellens aus. Das Werk der Kunst ist nicht hergestellt wie eine Ware (auch wenn es auf den Markt gebracht wird), wenn es in einer Sammlung, im Museum oder sonstwo für den Vollzug des Betrachtern da ist oder wenn ein Buch in der Bibliothek daraufwartet, im Vollzug des Lesens als Kunst erfahren zu werden — das ist nicht unser gewöhnliches Tun, es ist eine höchste Praxis, wie wir die griechische >Theoria< schon kennengelernt haben. Kunst ist im Vollzug, wie Sprache im Gespräch.
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Nicht ohne Bedacht sprach ich von dem Fluß der das Lesen begleitenden Gestaltung, die sich am sprachlichen Text in der richtigen Betonung oder in der rechten Phrasierung beim Musizieren bekundet. Hier wird erneut deutlich, was Vollzug ist. Es ist eben kein vergegenständlichendes Erkenntnisverhalten. Es ist vielmehr die in den Vollzug eingegangene Mannigfaltigkeit. Das ist es, was Aristoteles >Energeia< nannte. Seine Begriffsschöpfung entstand aus der Abhebung von der pythagoreischen Mathematisierung des Universums und seiner Musik. Was wir Natur und die Griechen >Physis< nennen, das ist vor allen Dingen Lebendiges in seiner Bewegtheit. Das Durchlaufen eines Massenpunktes durch die Strecke von Weg und Zeit macht die Bewegung kalkulierbar und konstruierbar, aber das ist nicht die >Energeia< des Lebendigen oder wie es das Sehen und Wachsein des Denkenden ist. Ich ziehe eine Konsequenz, die zunächst verblüffen mag, aber sie hat ihre Evidenz: Natur und Kunst stehen einander näher als das planende
Das Thema >Bild und Gedicht<, bildende Kunst und dichterische Kunst, erschöpft nun bei weitem nicht den Umfang dessen, was wir mit ins Auge fassen müssen, wenn es um den Vollzugscharakter von Kunst geht. Das sei noch an zwei Beispielen erörtert. Das eine ist die Architektur. Sie hat in gewissem Sinne, wie ich in >Wahrheit und Methode< betont habe16, eine 14
Vgl. die gediegene Studie VOIIJÜRGEN-ECKARDT PLEINES, Ästhetik und Vernunftkritik (Hildesheim/Zürich/New York 1989) und den Aufsatz >Einheit und Mannigfaltigkeit im ästhetischen Urteil· in der Zeitschrift fur Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 33 (1988), S. 151-175. 15 Phys. Β 1,193b 12-13: ή φύσις. .. οδός έσαν εις φύοζν. ι* Ges. Werke Bd. 1, S. 161 ff.
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tragende und raumschaffende Funktion fur allen Vollzug von Kunst. Gleichwohl ist Architektur nicht bloße Herstellung eines zweckvollen Produktes, worin sich Vollzug von Kunst abspielen kann, wie etwa das Theater, die Galerie, der Musiksaal dazu bestimmt ist. Architektur ist vielmehr in einer doppelten Hinsicht ihrer Bestimmung getreu. Ein Bauwerk kann gewiß kaum je ein Produkt der freien Kunst sein. Es dient einem Zwecke und hat seinen Ort inmitten des tätigen Lebens. Gleichwohl nennen wir solche Bauten wie eine Kirche, einen Palast, ein Rathaus, ja sogar ein Kaufhaus oder einen Bahnhof mitunter ein Baudenkmal, und das meint doch: etwas, das Gedächtnis weckt und einem zu denken gibt. Es ist zwar nicht zum bloßen Betrachten da, sondern dient seinem Zweck, und doch ist es ein Kunstwerk. Man muß freilich mit Nachdruck sagen, daß die Reproduktionswut unseres technikbesessenen Zeitalters hier einen falschen Schein erzeugt. Die fotografische Reproduktion von Bauwerken hat die fatale Tendenz, sie zu malerischer Wirkung umzufalschen. Das fuhrt zu einer unwahren Vertrautheit und in der Folge zu einer Enttäuschung, wenn man ein Bauwerk nicht mehr im falschen Schein des Malerischen sieht, sondern ihm erstmals in seiner Wirklichkeit begegnet und in seinen Baugedanken eindringt. Es ist fast wie mit der farbigen Abbildung von Gemälden, die als das Bild auftritt, das sie nicht ist, oder wie mit dem dichterischen Werk, das man nur aus der Zeitungskritik kennt. Entsprechend ist es mit der Zweckfunktion des Bauwerkes. Als Kunstwerk kommt es erst heraus, wenn es mitten in der Nutzung gleichsam hervorscheint, wie alles Schöne. Da macht man seine zweckvollen Gänge, etwa im Kirchenraum oder in einem Treppenhaus, und plötzlich bleibt man wie gebannt stehen. Das braucht nicht zu heißen, daß man die Zwecke des eigenen Tätigseins vergißt. Wie etwa der kultische Zweck im Kirchenraum, so kann sich auch sonstwo eine bedeutende Treppe in die eigenen Lebensvollzüge einfügen. Wir befinden uns bereits bei dem anderen problematischen Begriff, den ich erörtern wollte, bei dem Begriff des Dekorativen. Was wir »dekorativ* nennen, ist bereits von dem Begriff der Kunst aus gedacht, und wenn wir etwa ein gemaltes Bild dekorativ finden, so ist das fast schon eine Kritik. Es kommt da eigentlich nichts heraus, bzw. es ist eben nichts darin. Was dekorativ ist, soll ja wirklich nicht herauskommen, sondern hat seine Bestimmung als Hintergrund. Wenn sich ein solcher Hintergrund zu sehr hervordrängt, etwa bei figürlichen Tapeten, wie das in den Fieberträumen meiner Kindheit, war, verfehlt eine solche Dekoration ihre wahre Bestimmung. Gleichwohl handelt es sich um Kunst, wenn wir etwa von einem Schmuckstück reden, das einem in die Augen sticht. Da mag man dann mehr die Kunstfertigkeit und den Geschmack bewundern, und zwar weil es nicht zu auffallend ist und sich zurücknimmt. Ein scharfer Unterschied
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zwischen Kunst und Handwerk besteht nicht immer, und so auch nicht bei der Architektur. Aber das weist ja gerade auf die spannungsvolle Dialektik des Schönen, sofern auch dekorative Kunst nur im Vollzugscharakter ihr Sein hat. Aber es ist anders als bei der Baukunst. Da bleibt der Baugedanke hinter dem Zweck zunächst zurück, bis er einen förmlich überfallt, und dann tritt der Zweckbezug in den Hintergrund, so daß das Repräsentative des Bauwerkes uns ganz erfüllt. Es ist wie »verstummte Musik« (Goethe). Daß sich Begleitfunktion und Präsenz verflechten, spielt nicht nur hier, sondern in allem Vollzug von Kunst eine Rolle. All unser Sehen, ebenso wie das Hören, ist ja vom Gesetz des Kontrastes beherrscht. Das Umfeld dessen, was wir betrachten, spielt immer mit. Das gilt nicht nur fur die bildende Kunst, sondern auch fur Dichtung. Abstumpfung des Geschmacks und Reizgewinn durch das Neue spielen eine Rolle. Bei der Baukunst ist es aber noch anders. Da spielen nicht nur begleitende Bedingungen hinein. Der Zweckgedanke gehört vielmehr selber zur Bauschöpfung. Wo der Zweckbezug eines Baues allzu unklar ist, kann das irritieren, etwa bei der Porta Nigra in Trier, die fast etwas Unheimliches wie ein Grabmal hat, oder wenn der Pergamon-Altar in Berlin mit seiner Treppe gegen die Wand rennt oder der Lettner im Dom von Hildesheim gegen eine Wand steht. Zu einem Bau gehört eben ein vorgegebener Zusammenhang, in den er sich einzufügen hat. Die Raumwirkung ist mitgemeint. Freilich stehen Bauten oft wie verloren als steinerne Zeugen einer Vergangenheit in einer fremden Umgebung, und doch sind sie eine unverrückbare Erscheinung. Der Blick auf die Baukunst und die Rolle des Dekorativen behält insofern eine vorzügliche Bedeutung, als es für die Kunst in der Moderne charakteristisch war, daß ihr »Sitz im Leben« fragwürdig geworden ist. Die Baukunst repräsentiert die ständige Aufgabe, das zu leisten, was die >freie< Kunst in ihrem eigenen Vollzug als Bildwerk, Dichtwerk, Tonwerk kraft ihrer eigenen Formgewalt vermag, nämlich, auf sich zu ziehen und auf die Gestaltung des ganzen Lebensvollzugs einzuwirken. Diese Art Einwirkung, die sie ausübt, nennen wir >Stil<. Es ist ja ein Ganzes, das sich in den verschiedenen Bereichen bildet und zusammenordnet. Es gibt den Stil im Schreiben und natürlich auch Stil in der Rede, Stil im Umgang der Menschen miteinander und in der gesamten Gestaltung der Umwelt, in der menschliches Leben sich abspielt. Daß am Ende die Baukunst dabei eine besondere Rolle spielt, Stil zu bilden und darzustellen, verdankt sie ihrer raumgestaltenden Aufgabe, mit der sie zugleich aller anderen Kunst einen Sitz im Leben bietet - für deren eigene stilschaffende Kraft und ihre Wahrheit. . Die Erörterung der Architektur und der dekorativen Kunst ist also kein bloßer Anhang, nachdem die bisherige Untersuchung sich in betonter Absicht auf den Kunstbegriff der Neuzeit konzentriert hat. Wir sahen ja, daß tatsächlich die philosophische Relevanz der Kunst sich erst spät durchgesetzt
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hat, und freilich bedeutete das zugleich, daß für die Kunst der Sitz im Leben problematisch wurde. Von den Höhlenzeichnungen der Urzeit über die Kunst älterer Zeiten war das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts selbstverständlich. Die Baukunst und die dekorativen Künste bleiben evidentermaßen von dem Ganzen der Lebensgestaltung untrennbar. So muß sich in diesen Kunstarten der Absolutheitsanspruch der Kunst erst durch ausdrückliche Abhebung von allen Zweckfunktionen durchsetzen. Etwas von solcher Abhebung gehört in Wahrheit zu aller Erscheinung des Schönen. Für die antike Welt versteht sich das ohnehin und ist kein Problem: Die ägyptische und die griechische Götterplastik waren wie die antiken Grabdenkmäler in sakrale Lebensordnungen eingebunden. Das liegt auf der Hand. Auch wenn sich etwa auf der Akropolis im Perikleischen Athen große Kunstschätze gespeichert hatten, so blieben sie doch für die kultischen Anlässe bereit. Mit charakteristischen Veränderungen gilt das auch für das christliche Zeitalter und seine Anfange. So hat man mit Recht das Thema verfolgt, wie sich das >Bild< erst allmählich im christlichen Abendland aus solchen kultischen Lebensordnungen löst (H. Belting). Wir haben zwar betont, daß die ikonographische Fragestellung an der Abbildlichkeit orientiert ist. Aber diese Forschungsrichtung ist gleichwohl nicht einfach Dokumentenforschung, sondern Kunstforschung, gerade weil die Abbildfunktion für den Sitz im Leben von besonderer Bedeutung ist. Es ist eine andere methodische Orientierung, wenn man etwa von einer Vollendung des Bildgedankens in der Entwicklung der Malerei bis hin zur Renaissance redet (mit Gombrich). Das kann dennoch nicht ausschließen, daß etwa die Pantokrator-Darstellungen der mittelalterlichen Wandmalerei oder Mosaikkunst eine durch nichts zu übertreffende Feierlichkeit ausströmen, mit der die Madonnenbilder der Renaissance nicht wetteifern können. Dieser Sachverhalt deutet in Wahrheit auf die von uns befragte Absolutheit und Gleichzeitigkeit aller Kunst hin. Ich brauche die vielfaltigen Ordnungsmöglichkeiten von geschichtlichen Entwicklungsabläufen nicht weiter zu entwickeln und erinnere nur etwa an den Fall Raffael und die wechselvolle Geschichte seines Ruhms. Oder an die späte Wiederaufwertung etwa des Barock. Man könnte die Linien weiter ausziehen, die die Geschichte der bildenden Künste mit ihrem Geschmackswechsel, ihren neuen Wendungen und wechselnden Einflüssen von jeher und bis heute artikulieren. Im besonderen dürfte es die Geschichte des Tafelbildes sein, das geradezu ein neues Bildzeitalter eröffnet hat, dem die Galerie, das Museum und überhaupt die Schaustellung von Sammlungen entstammen. Was man auch immer gegen die Verluste sagen mag, die die neue Heimat- und Ortlosigkeit der Kunst und der Künstler zur Folge haben - keine kunstpolitische Programmatik ist ernst zu nehmen, die nicht den Absolutheitsanspruch aller Kunst anerkennt. Daran ändert die Tatsache nichts, daß das Zeitalter der gemeinsamen europäischen Baustile zu Ende
gegangen ist. Mnemosyne bleibt die Mutter der Musen. Die Gegenwart der Vergangenheit gehört zum Wesen des Geistes. Die Wunden des Geistes hinterlassen keine Narben (Hegel).
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Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache
36. Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache (1992)
Die Verborgenheit der Sprache Es muß die Phänomenologie interessieren, daß in unserem Jahrhundert das Thema >Sprache< ganz in das Zentrum der Philosophie gerückt ist. So hat die Phänomenologische Gesellschaft in Deutschland auf ihrer Tagung in Trier im Jahre 1987 das Thema >Sprache< gewählt. Ich hatte Gelegenheit, an den Diskussionen teilzunehmen. Was ich damals zur Sprache brachte und was mich immer wieder aufs neue beschäftigt, war, daß es den meisten, die aus der phänomenologischen Tradition kommen, in ihren Reflexionen das Thema >Sprache< wirklich festzuhalten schwer fallt. Es prägt sich darin die Eigenart unserer eigenen philosophischen Tradition aus. Sowohl der deutsche Idealismus wie die Wiederaufnahme des Idealismus durch den Neukantianismus und schließlich auch der sich neukantianisch interpretierende Husserl, ja selbst Max Scheler, der als Denker wahrlich dem Idealismus abtrünnig geworden war, haben der Sprache in ihren philosophischen Lehren keine zentrale Stellung zuerkannt. Für die Phänomenologie ist das besonders erstaunlich, sofern sie ja im ganzen eine Abkehr von dem Faktum der Wissenschaft hin zu der Lebenswelt bedeutet hat, in der wahrlich die Sprache eine beherrschende Rolle spielt. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß wir innerhalb der deutschen Tradition von großen Denkern etwa nichts über Sprache und Welt lernen könnten. Wir stellen vielmehr sogar mit Überraschung fest, was für tiefsinnige Dinge Hegel ganz nebenbei über Sprache gesagt hat, zum Beispiel, wenn er etwa für Gymnasiasten redete. Wahrscheinlich würde er uns alle nur als Gymnasiasten einstufen. Wenn Hegel dagegen mit der >Wissenschaft< ernst macht, kommt das Thema der Sprache kaum zu seinem Recht. Ähnlich war es im Neukantianismus, sowohl in der südwestdeutschen Schule und ihrer Wertphilosophie wie in der Marburger Schule mit ihrem großen Rahmenthema der Allgemeinen Logik<. Die Sprache wird, wie Heidegger einmal bemerkt 1 , als Objektivierung, als »objektartig meinend« logisiert. 1
MARTIN HEIDEGGER, Gesamtausgabe Bd. 56/57: Zur Bestimmung der Philosophie. Frankfurt 1987, S. 117.
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Die Tendenz des deutschen Idealismus, die der Sprache keine Beachtung geschenkt hatte, hält sich durch. Noch in der Anwendung auf den Wertbegriffhat zwar die Phänomenologie versucht, die Logisierung zu vermeiden, aber doch darauf bestanden, die Objektivität der Werte zu verteidigen (Max Scheler, Nicolai Hartmann). Es war erst der späte Natorp, der »endlich, endlich« in der Sprache den eigentlichen Schlüssel entdeckt zu haben meinte. Selbst in der imponierenden Fortbildung der Marburger Schule, die Ernst Cassirer in seiner >Philosophie der symbolischen Formern vorgelegt hat, nimmt die Sprache zwar einen großen Raum ein, und dort wird auch die moderne Sprachwissenschaft mit universaler Kenntnis verarbeitet, in der ja das große Erbe Wilhelm von Humboldts und damit ein idealistischer Grundansatz weiterlebt. Die transzendentale Subjektivität des Neukantianismus wird aber nicht in Frage gestellt. So muß man sich darüber Rechenschaft geben, warum die Phänomenologie, die doch das Thema der Lebenswelt freigelegt hat, das Thema der Sprache nicht wirklich aufgegriffen hat. Natürlich hat Husserl nicht übersehen, welche besondere Bedeutung die Sprache für die Lebenswelt besitzt. Sein Buch >Formale und transzendentale Logik«, das mit Heideggers >Sein und Zeit< fast gleichzeitig ist, bleibt dafür ein erhellendes Zeugnis. Die vereinfachte Fragestellung der >Logischen Untersuchungen< hatte Husserl ja längst hinter sich gelassen und war durch die Weiterentwicklung der »passiven Genesis« an das Wesen der Sprache näher herangeführt worden. Gleichwohl blieb die cartesianische Grundlegung seiner transzendentalen Phänomenologie unangetastet. Erst als der junge Heidegger unter der Einwirkung der Arbeiten Wilhelm Diltheys das »phantastisch-idealisierte transzendentale Ego« hinter sich ließ und von dem »Welten« der Lebenswelt sprach, rückte mit der historischen Dimension die Zeitproblematik ins Zentrum der neuen Stellung der Seinsfrage und damit auch die Sprache. Das brachte eine neue Wendung. Es leuchtet ein, daß nicht nur die Vernunft für sich Universalität in Anspruch nehmen kann, sondern ebenso die Sprache, das heißt die Sprachlichkeit des Menschen. In beider Hinsicht darf man gewißlich nicht Universalität mit Totalität verwechseln. Es geht nicht um eine enzyklopädische Umfassung alles Wißbaren. Man würde damit nur zu dem klassischen Vernunftbegriff der Metaphysik zurückgeführt und damit auf die Lehre vom »intellectus infinitus<, der in der Fortentwicklung der griechischen Metaphysik den Gottesbegriff ausgezeichnet hatte. So konnte es dahin kommen, daß das Thema >Sprache<, wie wir Menschen sie sprechen, überhaupt als sekundär angesehen wurde. Humboldts geniale Leistung konnte sich in •der idealistischen Bewegung selber nicht durchsetzen. Sprache ist gewiß keine Totalität, und am Ende gilt es auch fur die Vernunft selbst, daß sie nicht das Ganze des Seins in seiner Gegenwärtigkeit umfaßt, sondern als eine menschliche Vernunft selbst ein Seiendes im Gan-
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zen heißen kann und auf die Einheit nur hingewendet ist. Sprache ist ein Uni-versale und keineswegs ein abgeschlossenes Ganzes. Gerade in dieser gemeinsamen Universalität meldet sich aber die Nähe von Sprachlichkeit und Vernunft. So muß im Begriff der Vernunft die gleiche unabschließbare Offenheit gedacht werden, wie sie im Begriff der Sprache und der Sprachlichkeit liegt. Man wird von hier aus verstehen, daß im Blick auf die Endlichkeit des Daseins gerade auch die zentrale Bedeutung der Sprache fur das Denken unseres Jahrhunderts bestimmend geworden ist. In dem lange Jahrhunderte währenden gedanklichen Kampf der Metaphysik mit der modernen Wissenschaft ist jedenfalls jetzt ein entscheidender Schritt auf die Sprache zu getan worden. Dieser Schritt war in Wahrheit durch die Phänomenologie so weit vorbereitet, als diese vom Faktum der Wissenschaft auf die Lebenswelt zurückgeht. Als ich noch in der Marburger Schule heranwuchs, war es dort ganz selbstverständlich, daß es keine andere mögliche Fragestellung geben könne als die nach dem Gegenstand der Erkenntnis, wie ihn die Wissenschaft kennt. Der Gegenstand der Erkenntnis war eben damit nicht das Gegebene, sondern die unendliche Aufgabe des Bestimmens durch die Wissenschaft. So lautet die alte Formulierung Natorps: »Das Gegebene ist das Aufgegebene.« Das Vorbild der modernen Wissenschaft, das sich so ausspricht, hatte schon seit Jahrhunderten den Systembegriff in die philosophische Diskussion eingeführt. Die Erfahrungswissenschaften erhoben seit ihrer Begründung durch Galilei und Newton den Anspruch, das Universum aller Erkenntnis zu umfassen und jeden Erkenntnisanspruch der traditionellen Metaphysik zurückzuweisen. Das führte zu einer nicht abreißenden Folge von Systemkonstruktionen, die die Philosophie des 17., 18. und 19. Jahrhunderts durchzieht. Sie bereitet sich bereits am Anfang der Neuzeit vor. Alle epochalen Wendungen, so plötzlich sie zu dominieren scheinen, haben eine lange Vorgeschichte. So ist es auch mit dem philosophischen Systembegriff. Er hat sich eigentlich bereits im gegenreformatorischen Aristotelismus gebildet, insbesondere bei Suarez. Bei aller inneren Kohärenz finde ich solches bei Thomas noch nicht, obwohl es sich bereits im gegnerischen Scotismus vorbereitet hat, -wie neuerdings de Muralt gezeigt hat2.
seins gegründet. Erst in der Folge ist diese >cartesianische< Grundlegung durch Hinterfragung der Dimension des Bewußtseins angenagt worden. Im Ausgang von Schelling hat Schopenhauer, und im Ausgang von Schopenhauer hat Freud die Dimension des Unbewußten gegen die Gewißheit des Selbstbewußtseins ausgespielt. Damit verband sich das Aufkommen des historischen Bewußtseins und in der Folge die selbstzerstörerische Fragestellung Nietzsches, zu der in unserem Jahrhundert die Ideologiekritik das Ihre beigetragen hat. Tiefer blickte hier, wie mir scheint, die theologische Besinnung, die teils auch durch die altjüdische Tradition belebt wurde, so durch Martin Buber und Franz Rosenzweig, aber auch durch christliche Denker wie Theodor Haecker und Ferdinand Ebner, oder auf protestantischer Seite durch den Einfluß Kierkegaards (Friedrich Gogarten), der mit dem Anfang dieses Jahrhunderts einsetzte. Gegenüber der griechischen Okularität gewann damit das Hören ein neues Gewicht. Luther wurde neu gelesen, und ein Lutheraner wie Graf Yorck und zuletzt auch der im Wirkungsraum der katholischen Kirche erzogene Heidegger gaben dem Ausdruck. In der Begriffssprache der griechischen Metaphysik und ihrem lateinischen Fortleben hatte das Hören auf das Wort keine rechte Heimat gefunden, zumal die gelehrte Sprache des mittelalterlichen Lateins auch in die modernen Nationalsprachen eine lateinische Note eintrug. So bedeutete es eine neue Erkenntnis, daß die Begrißlichkeit der philosophischen Tradition eine eigene und vorgreifliche Bedeutung besitzt. Sie gab der Sprache, wie wir sie alle sprechen, einen uns fremden Akzent. Gewiß war die Sprache von jeher unterwegs zum Begriff. Sie hält in ihrem Bedeutungsleben Angebote fur die philosophische Begriffsbildung ständig bereit. Das konnte aber nichts daran ändern, daß aus der griechisch-lateinischen Gelehrtentradition kommend eine Begrifflichkeit vorherrschte, die selbst den Übergang in die Nationalsprachen überdauerte.
Mit dieser Frage hängt das umstrittene Problem der Letztbegründung zusammen, das auch in der phänomenologischen Schule, mindestens seit Husserls >Ideen<, bis heute umstritten ist. Ein System der Philosophie verlangt Ableitbarkeit aus einem obersten Prinzip. Wenn auch Hegel die Form des obersten Grundsatzes dialektisch aufzulösen unternommen hat, bleibt doch der deutsche Idealismus insgesamt auf das Prinzip des Selbstbewußt2
ANDRÉ DE MURALT, Kant, le dernier occamien. In: Revue de métaphysique et de morale 80 (1975), no. l, S. 32-53.
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Natürlich hat sich gegen die Herrschaft der Gelehrtensprache und ihre terminologische Künstlichkeit immer auch Widerstand geregt. Vor allem die Bibelübersetzungen, sowie die Rolle der Predigt im protestantischen Gottesdienst, haben den Sprachschatz des spekulativen Denkens bereichert. Auf der anderen Seite stand der Begriff von Wissenschaft, der in der ersten und führenden Wissenschaft des Abendlandes, der Mathematik und ihrer Beweistechnik in der euklidischen Geometrie, sein Vorbild besaß und durch Aristoteles logische Durcharbeitung erfuhr. Das wirkte sich in der Weise aus, daß die Schulmetaphysik die Katheder beherrschte, und selbst als das historische Bewußtsein erwachte, behielt der Systembegriff in der Philosophie seine Herrschaft und ist sogar in die gesamte historische Erforschung der Geschichte der Philosophie eingegangen. Wie wenig dabei, trotz Humboldt und der großen Entwicklung der Sprachwissenschaften, das Thema der Sprache überhaupt ins philosophische
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Bewußtsein trat, ist mir noch in meiner eigenen Jugend zur Überraschung geworden. Als ich durch Heidegger Aristoteles lesen lernte, sah ich zu meiner Verblüffung, daß die klassische Definition des Menschen nicht ist >das Lebewesen, das Vernunft hat< (animal rationale), sondern >das Wesen, das Sprache hat<. Die gesamte Begriffsarbeit der aristotelischen Philosophie gewann damit eine neue Zugänglichkeit. Das hatte den Erfolg, daß dank der von Anschauung belebten Sprachkraft Heideggers geradezu Aristoteles als der erste Phänomenologe vor Husserl erscheinen konnte. Innerhalb der phänomenologischen Schule, im Gefolge der Husserlschen deskriptiven Meisterschaft und in der Nachfolge von Heideggers Destruktion der traditionellen Begriffsmetaphysik, und am Ende auch in Heideggers radikaler Kritik an der transzendentalen Selbstinterpretation Husserls, war es neben Heidegger Hans Lipps vor allem, der mit seinen Beiträgen die bewußtseinstheoretische Verengung auf eigenem Wege überschritt3. Ähnlich ist es mir selbst gegangen, als ich, von Heidegger belehrt, mich von der lateinischen Begriffssprache abzulösen begann und von der griechischen Sprache aus in das Denken der Metaphysik Eingang suchte. Damit begann ein tieferes Eindringen in die Nachbarschaft von Sprechen und Denken, von Wort und Begriff, von Dialektik und Rhetorik, von dem Miteinander des Sprechens und dem Aufeinander des Hörens. Das nahm ich zum Leitfaden meiner Heidegger-Nachfolge. Fangen wir also nochmals dort an, wo Wort und Begriff noch nicht »aufgetrenntesten Bergen« wohnten. Das war und ist offenbar die Leistung der Sprache, daß der Mensch überall durch sein eigenstes Vermögen des sprachlichen Ausdrucks in Worten und Sätzen Anschauung zu wecken weiß. Wie sollte das mit solchen Leitbegriffen wie System, Prinzip, Begründung und Ableitung zusammengehen, wie sie nach dem Vorbild Euklids das philosophische Denken der Neuzeit seit Descartes beherrschte? Was soll ein Erstes im Aufbau der Sprache sein? Daß es kein erstes Wort geben kann, ist doch eigentlich selbstverständlich. Wenn auch Eltern immer wieder an ihrem erwachenden Kind das erste Wort bejubeln mögen, so ist es doch klar, daß das kein Wort ist und kein Sprechen. Es gibt kein erstes Wort, wenn es kein zweites Wort gibt, und es kann kein zweites Wort geben, wenn es nicht Sprache gibt. Sprache gibt es aber nur im Miteinander des Gesprächs. Seit wir gelernt haben, auf die Sprache als auf den eigentlichen Mutterboden für alle Begriffsbildung zurückzugehen, hat die Geschichte des griechischen Denkens vieles von ihrer doxographischen Prägung verloren. Seit wir uns bewußt sind, daß Sprache nur im Gespräch ist, haben die uns erhaltenen Texte des griechischen Denkens und ihre Begriffe eine neue Frische und Aussagekraft erlangt. Wir lesen sie anders, nicht mehr auf dem gelehrten 3
HANS LIPPS, Die Verbindlichkeit der Sprache. Frankfurt 21958.
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Höhenwege über die lateinische Begriffssprache, die in der modernen Wissenschaftssprache überall durchklingt. Wir sprechen nicht mehr gerne von Prinzip und Prinzipiat. Eher sagen wir dafür >Archê<, und dabei hören wir mit, daß das sowohl >Anfang< wie auch >Herrschaft< bedeutet. Wir denken an Aristoteles' geistreiches Bild von dem fliehenden Heer, das am Ende zum Stehen kommt und wieder dem Kommando {άρχφ gehorcht 4 . Das ist ein tiefsinniges Wortspiel. Es soll beschreiben, wie unser Wissen überhaupt auf Erstes, auf Anfange, hingeführt werden kann. Wenn Erkenntnis Ableitung aus Prinzipien ist, wie soll dann Erkenntnis von Prinzipien möglich sein? Für uns klingt dabei das aristotelische Wortspiel mit >Archê< nach, seit Max Scheler den soziologischen Begriff des >Herrschaftswissens< für das Wissen der neuzeitlichen Wissenschaft eingeführt hat. Der Neukantianismus berief sich auf den platonischen Begriff des Voraussetzungslosen (άννπόδετον), das Plato in der >Politeia< einfuhrt5, um den entscheidenden Schritt zur Dialektik zu charakterisieren, der über die Wissenschaft der Mathematik hinausfuhrt. So hat man im Neukantianismus in Plato eine Bestätigung des Ideals der Letztbegründung zu finden geglaubt. Wir beginnen inzwischen, griechische Texte besser zu lesen. Uns ist klar geworden, daß Texte für die Griechen schon insofern etwas anderes waren, als sie es fur uns sind, weil damals alles Lesen lautes Lesen war und damit immer ein Hören einschloß. Das gilt vollends für die platonische Dialektik, die sich geradezu als die Kunst des Fragens und Antwortens versteht. Diesen Hintergrund aller griechischen Schriftlichkeit sollte man auch bei Aristoteles immer mitwahrnehmen. Wir verdanken einigen Aufsätzen Richard Härders, der leider sein >Schriftbuch< nicht mehr hat schreiben können, wichtige Einsichten in die Bedeutung, die das griechische Alphabet für die europäische Weltkultur von heute besitzt. Er hat nicht verkannt, daß Schrift nie etwas anderes sein kann als eine Planskizze für Hören und Verstehen6. Während es sich in der Mathematik um den technischen Begriff der Voraussetzung handelt, der in die Logik des mathematischen Beweises gehört, kann man das Voraussetzungslose doch noch von einer anderen Seite sehen. Dann meint es das, was für ein Gespräch nötig ist und den Boden fur alle Verständigung darstellt, damit man im Fortgang des Unterscheidens zum gegenseitigen Sich-Überzeugen gelangt. Dann hat das Voraussetzungslose den relativen Sinn des hinreichenden Anfangs, der eben fur die Verständigung ausreicht (ίκανόν Phaid. 101 ei). In der platonischen Dialektik und in den Platonischen Dialogen geht es dabei um einen ganz anderen 4
A n . P o s t . Β 1 9 , 1 0 0 a 12-13: ένας οτάντος έτερος ίστη.. . εως im αρχήν iJAfov. s PoliteiaVI,510b 7> 511b 6 . 6 RICHARD HÄRDER, Kleine Schriften, hrsg. von WALTER MARC München 1960 (Darin:
»Bemerkungen zur griechischen Schriftlichkeit<, S. 57-80; >Die Meisterung der Schrift durch die Griechen«, S. 81-97).
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Vorgang als in dem Beweisanspruch der Mathematik. Es geht um das Spiel von Frage und Antwort, um das um Verständigung bemühte Gespräch, das dem anderen sein Nichtwissen beweist und ihm die Augen öffnet. Voraussetzungslos ist dann das, worin die beiden Sprechenden so übereinstimmen, daß es keiner Begründung bedarf. Es ist das von beiden Anerkannte. Das hat mit der Logik des mathematisch-logischen Beweisens nichts zu tun. So hat Aristoteles die Beweiskraft der platonischen Dialektik, die Dihairesis, mit Recht kritisiert7. Freilich haben die Aristoteliker aus dieser Sachlage nicht gerade die richtige Folgerung gezogen, wenn sie in den Aristotelischen Lehrschriften die Schemata schlüssiger Beweise aufsuchten, die Aristoteles in den > Analytica< aufgewiesen hat. Das ist ein müßiges Spiel. Aristoteles hat wohl gewußt, daß man Anfängliches, also Prinzipien, nicht ableiten und nicht beweisen kann. Er hat auch gewußt, daß seine eigentliche philosophische Arbeit Hinführung auf Anfänge und Prinzipien war und nicht Syllogistik sein wollte. Die Logik der Hinführung (επαγωγή) gehört nicht wirklich in die Analytiken, sondern eher zur Topik, das heißt zu einer Dialektik, die zugleich Rhetorik ist, allerdings eine auf die Sache gerichtete Rhetorik. Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, daß der Prozeß der Verständigung durch Dihairesis ein Prozeß der Erinnerung ist und dadurch seinen Fortgang nimmt, daß es dem anderen einleuchtet, weil er sich erinnert. Es geht hier nicht um die Widerspruchsfreiheit im Anspruch des logischen Beweisens, wie ihn die Mathematik erhebt und die gewiß bei aller Argumentation als logische Konsequenz gefordert ist. Wir verdanken Ernst Kapp die Einsicht, daß die Aristotelische Syllogistik selber auf dem Hintergrund von Frage und Antwort gelesen werden muß 8 . Diese Feststellungen schließen ein, daß man der Rhetorik ihre weitreichende Geltung wieder zurückgeben muß, aus der sie in der beginnenden Neuzeit von der mathematischen Naturwissenschaft und Methodenlehre vertrieben worden ist. Rhetorik meint das Ganze des sprachlich "verfaßten und in einer Sprachgemeinschaft ausgelegten Weltwissens, mit allen seinen Inhalten, wie Vico gegen die moderne Critica gesehen und verteidigt hat. Das paßt trefflich für Husserls Ausdruck >Lebenswelt<. Doch wird man dabei im Auge behalten müssen, daß das, was man später >Ästhetik< nannte und was man seit alters die >Poetik< nennt, in die Rhetorik miteingeschlossen war. In Wahrheit beschränkt sie sich nicht auf die Bereiche, in denen die moderne Wissenschaft den Erkenntnisanteil der Rhetorik bestritten hat. Sie umfaßt den gesamten Bereich des gesellschaftlichen Lebens, in Familie und Öffentlichkeit, in der Politik und im Rechtswesen, im Kult- und im Schulwesen, in Handel und Industrie - kurz: überhaupt in allem Umgang der 7 8
An. Pr. A 31; An. Post. Β 5 und 13. ERNST KAPP, Art. >Syllogistik<. In: Pauly-Wissowa RE, Bd. IV A, Sp. 1046-1067.
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Menschen miteinander. Erst seit der Methodenbegriff als die Grundlage der modernen Erfahrungswissenschaften sich im Kampf gegen die Rhetorik mehr und mehr durchgesetzt hat, haftet dem alltäglichen Sprachgebrauch von >Rhetorik< ein kritischer Beiklang an, insbesondere wenn man sie auf wissenschaftliche Prosa anwendet. Auch wenn man dichterische Texte >rhetorisch< nennt, ist das ein Tadel. Das Rhetorische soll aus der reinen Poesie ebenso weggefiltert sein wie aus der strengen Forschung. Der klassische Begriff der Rhetorik weist dagegen auf das gesamte Miteinander und auf die Verständigung, die unter Menschen in symbolischen Formen verläuft9. Sprache ist übrigens nicht nur Wortsprache. Es gibt die Sprache der Augen, die Sprache der Hände, Zeigen und Nennen, all das ist Sprache und bestätigt, daß Sprache stets im Miteinander ist. Worte sind immer Antworten, auch wenn sie Fragen sind. So redet man in weiterer Anwendung von >Entsprechungen<, in denen das eine dem anderen antwortet. Man muß sich sogar fragen, ob nicht symbolische Handlungen am Ende früher sind als die artikulierte Wortsprache. Aber kann man hier überhaupt von früher und später reden, wenn doch alles Gespräch ist? Es muß offenbar nicht nur Gespräch mit anderen Personen sein. Alles Denken strebt ins Wort und ist Antwort auf Erfahrung. »Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist kein Zweifel«, so lautet das erste Wort Kants in der >Kritik der reinen Vernunft< (B1). Denken aber ist, was über alle Erfahrung hinausdenkt und seinen eigenen Lebenshorizont und Zeithorizont im Miteinander des Gesprächs ständig überschreitet. Wir kennen das besonders in der einzigartigen Unverständlichkeit, die der Tod für das Lebensbewußtsein des Denkenden hat und für die verborgene Grenze, die ihm selber gesetzt ist. Dennoch muß er ständig über sie hinausdenken. Das hat Heidegger, und wahrlich nicht als erster und einziger, als die Zeitlichkeit des Daseins ausgezeichnet und hat es das Vorlaufen zum Tode genannt. Wenn unser Fragen an dieses Geheimnis rührt, dann gibt es eine noch andere Erfahrung, nämlich daß es auf unsere Frage keine Antwort mehr gibt. Sie ist jeder Erfahrung verschlossen, und das ist die Erfahrung, die einem bei jeder Begegnung mit dem Tode anderer zuteil wird. Mit wem man gestern noch sprach, von dem kann keine Antwort mehr erwartet werden. In der Welt des Miteinander, in dem Frage und Antwort und das Gespräch sich vollzieht, ist es das Erschreckende des Abbruchs jedes möglichen Gesprächs. Unser aller Antwort daraufist unser Widerstand. Man versteht auf einmal, warum die Menschen, die »ein Gespräch sind und hören können voneinander«, es nicht hinnehmen können, daß es Abbruch gibt. So ist das 9 Zur Rehabilitierung der Rhetorik habe ich in Band 2 und 4 der Ges. Werke einige kleine Beiträge beigesteuert.
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Denken immer darüber hinaus und leistet gleichsam die Erstattung einer Antwort, die einem nicht mehr gegeben wird. Es ist wie ein Ersatz, daß man selber das Grab mit den reichsten Gaben besetzt. Denkend und dankend bestatten die Menschen ihre Toten, und nur die Menschen tun das. Weil sie miteinander im Gespräch sind, statten sie ihre Toten mit allem aus, und alle diese Votivgaben sind wie eine Fortsetzung des Gesprächs. Am Ende gilt das vielleicht gar für alle unsere symbolischen Handlungen, für das Denken und alle Worte, die sich im Vollzug ihrer selber erfüllen. So ist es noch in jedem Gebet, daß es seine Erhörung in sich selbst hat. »Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst. « Die Antwortlosigkeit, die der Tod bedeutet, hat viele Formen der Ausfüllung, im Kultus, im Mythos, in den Schöpfungen der Kunst. So zieht unser Denken notwendig weiter und muß über das hinausdenken, woran das Denkendsein ein Ende hat. Ich brauche nur an Goethe zu erinnern und was er bei der Beerdigung von Wieland geäußert hat, als er mit den Mitteln der Leibnizschen Philosophie jener Tage sich selbst eine Antwort zu geben versucht hat. Man kennt überdies alle jene Vorstellungen vom Jenseits, die alle Religionen verkünden.
Sprache - Gespräch und Ritual
Es scheint mit dem Ende ähnlich zu stehen wie mit dem Anfang. Es gibt kein erstes Wort, wie es kein letztes Wort gibt. Sofern sich Denken und Sprache einander geleiten, stehen wir immer mitten im Gespräch. Selbst zwischen Mutter und Kind hat das Gespräch wohl schon längst gespielt, bevor der erste Tausch von Blicken und Gebärden beginnt. Es folgen die Jahre des ersten Sprechenlernens. Sie führen uns staunend vor Augen, was die Erwachsenen alles gelernt haben, seit sie den Sozialisierungsprozeß erfuhren - und was sie verlernt haben, seitdem man nur das sagt, was >man< sagt und wie man es sagt und wie man es schreibt. Wenn wir uns diese Anfangserfahrungen und die Erfahrungen des Endes vor Augen stellen, dann sehen wir, wie die Sprache beides umfangt und umgreift. Wir erkennen dann, was Sprechen eigentlich ist. Es ist ein immer Unvollendbares, ein Suchen und Finden von Worten. Da gibt es keine Grenzen. Stets ist es das grenzenlose Offene, das wir denkend und gedenkend zu durchmessen nicht müde werden. Wir erkennen den Lebensdrang darin, der alles Leben trägt, und so auch den Menschen in seiner Sprachlichkeit. Deren Grundlage hat Bühler ehedem als Zeigen und Nennen ausgezeichnet. Beides sind symbolische Handlungen besonderer Art. Das Zeigen ist eine deutliche Richtungsweisung, die dennoch ein Hund niemals verstehen wird. Er wird immer nach der zeigenden Hand springen und nicht nach dort, in die rechte Richtung. Ebenso ist es mit dem Nennen, von dem Heidegger gesagt hat, daß das Nennen die Dinge zu dem ernennt, was sie uns sind. Aber es stimmt, daß man sie im Nennen wiedererkennt und daß das Andenken stiftet.
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Kehren wir von dem Anfanglosen und Endlosen in die Mitte der Sprachlichkeit des Menschen zurück. Versuchen wir, ihren lebensweltlichen Ort zu bestimmen. Ohne Zweifel hat sich nach allem der gesamte Problemhorizont geweitet. Man kann es vielleicht durch zwei Begriffe anzeigen, die zunächst mit Sprache noch nichts zu tun haben, wohl aber mit dem weitesten Bereich von Kommunikation. Das eine nenne ich das >Mitsamt<, das im Bereich der tierischen Verhaltensweisen herrschend ist, und das andere nenne ich das >Miteinander<, das auf dem Untergrund der naturhaften Bestimmtheit dank der menschlichen Sprache das menschliche Miteinander trägt. Es ist sich nahe, was in diesen zwei Begriffen des Mitsamt und des Miteinander am Werke ist. Man kann sich schwer vorstellen, daß im Bereich des tierischen Verhaltens eine klare Unterscheidung von Mitsamt und Miteinander gelingen kann. Der bewegende Reichtum von Erkenntnissen, die wir der neueren Verhaltensforschung verdanken, läßt die Vorgänge in der Tierwelt und das Verhalten der Menschen zueinander oft zu einer geradezu erschreckenden und rührenden Nähe des einen mit dem anderen kommen. Gleichwohl scheint es irgendwie wahr zu bleiben, daß die Natur den Tieren kein wirkliches Einander geschenkt hat, sondern ihre Verhaltensweisen zu einer Hörigkeit zusammenschließt, die alles Verhalten der Tiere als ein artspezifisches Mitsamt erscheinen läßt. Alles an das Menschliche grenzende Verhalten bleibt dem Lebenswillen untergeordnet, mit dem die Natur die Erhaltung der Art verfolgt. Das schließt gewiß nicht aus, daß auch Tiere miteinander Freundschaft schließen und sich verfeinden, oder daß sie gar ihr eigenes Leben, etwa in der Verteidigung ihrer Brut, opfern. Ich habe es einmal erlebt, wie Schwalben, die eben noch mit emsiger Hingabe ihre Jungen gefüttert hatten, als das Jahr zu weit fortgeschritten war, vom Wandertrieb erfaßt wurden. Sie mußten diesem Triebe folgen und ihre Brut im Nest verhungern lassen. Das nenne ich Hörigkeit. Gleichwohl gibt es auch unter so Hörigen Verständigung, und so ist es vielleicht auch mehr oder minder bei symbolischen Handlungen, ζ. Β. wenn der Singvogel selber mit Lust singt, wiewohl die Natur es ist, die damit ihren Hauptzweck verfolgt und nichts als die Erhaltung ihrer Art meint. Ebenso entwickelt sie Werbungsriten, Rivalitätskämpfe und all den Formenreichtum, womit sich Tiere etwa über die Paarungsbereitschaft verständigen. Indessen, es ist nicht einer und ein anderer, die da handeln. Es ist die Natur, die aus Anlage und aus Anpassung ihren eigenen Fortbestand besorgt. Wir pflegen dergleichen >Riten< zu nennen, obwohl die Einhaltung eines bestimmten Verhaltens dabei gar nicht gemeint ist. Man mag bei der Beschreibung des Verhaltens der Tiere so etwas Riten nennen, aber man überträgt damit etwas auf Naturerscheinungen, was grundsätzlich davon
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Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache
verschieden ist. In Wahrheit wird die Einhaltung der Formen rituellen Verhaltens von der Natur blind vorgeschrieben. Beim Menschen entwickelt sich dagegen innerhalb der gleichen Spezies eine Vielfalt von Bräuchen und Sitten, die, wie auch immer, gesetzt und gewollt sind. Nun behalten wir gewiß im Sinne, daß das menschliche Verhalten auch nicht in einer völligen Loslösung von den Triebkräften der Natur zu seinen Bildungen gelangt. Es bleibt immer ein Ineinander von Mitsamt, zu dem wir als Naturwesen bestimmt sind, und auf der anderen Seite die Menschlichkeit, mit der wir einander und unser Miteinander ordnen. Dabei bleibt das auch bei uns ein Ineinander von Mitsamt und Miteinander, von Triebgewalt und Triebbeherrschung. Die Philosophie Kants hat hier mit Recht von der Achtung vor dem Anderen geredet. Sie beruht darauf, daß wir die natürliche Selbstliebe einzuschränken wissen und daß wir unsere Selbstliebe soweit überwinden, daß wir den Anderen als »Zweck an sich« anerkennen, um mich in der Sprache des kategorischen Imperativs auszudrücken. Kant mag damit recht haben, daß auch das nur eine Forderung der menschlichen Vernunft ist, das heißt der praktischen Vernunft, und man nie eine tatsächliche Erfüllung derselben annehmen darf, die die Willensfreiheit beweise. Die Naturkraft durchströmt alles Lebendige, auch das Menschliche. Gleichwohl ist die Trennung von Naturbedingtheit und sogenannter Freiheit eine fundamentale Auszeichnung des Menschen, kraft deren sich die Menschenwelt durch ihre Rituale und die Fähigkeit des Zeigens und Nennens heraushebt. Riten sind eben nicht bloße Verhaltensweisen, wie wir sie auch von den Tieren kennen. Wenn man den Ruf des Kuckucks, der sein Revier verkündet und verteidigt, hört oder das Balzverhalten sieht und die bekannten Kämpfe um die Rangordnung und die Hackordnung und freilich auch die Beendigung solcher Kämpfe durch die Unterwerfungsgesten, erscheint das wie symbolische Handlungen, und doch sind es alles artspezifische Verhaltensweisen. Unter den Menschen sind dagegen die Verhaltensweisen gesellschaftlich überformt. Da gibt es Formen des richtigen Verhaltens, die im eigentlichen Sinne Riten heißen, und es gibt Sitten, mit ihrer ganzen Geltungsstrenge, die in verschiedenen Kulturen sich voneinander vielfältig unterscheiden. Sie sind so ausgebildet, daß es für die Angehörigen der einen Kultur oft kaum möglich ist, sich denen der anderen Kultur gegenüber richtig zu verhalten. Innerhalb einer jeden Kultur besteht Übereinkunft und Übereinkommen. Mit dem Ausdruck >Übereinkommen< deutet die Sprache an, daß so etwas nicht so sehr auf ausdrückliche Stiftung oder Vertragsschließung zurückgeht, sondern >überkommen< ist. So ist es auch bedeutungsvoll, daß die Sprache sagt, daß wir ein Übereinkommen >treffen<. Da sagt uns die Weisheit der Sprache, daß es hier zwei sehr verschiedene Partner sind, die
miteinander zusammentreffen, wie es bei jeder Verabredung ist. Das entscheidende Gewicht fällt also darauf, daß man sich miteinander versteht. Wenn gar das Erlernen der Sprache des anderen einsetzt, dann können sich Möglichkeiten eines friedlich geregelten Miteinander ergeben, wenngleich immer nur in Grenzen. Das soll man nicht so verstehen, daß das wahre Einander, das die Auszeichnung des Menschen ausmacht, ihn von seiner Naturheit trennt, wie die Begriffe von Seele und von Geist mit allzu großer Selbstverständlichkeit zu behaupten scheinen. Es kommt auf etwas anderes an. Aristoteles sagt einmal, der Mensch sei ein Doppelwesen10. Wir würden dafür sagen, er sei Natur und Geist. Aber diese Unterscheidung hat eine falsche Abstraktheit. Worauf es ankommt und was in dieser Doppelung liegt, scheint mir eher das Ineinander von Mitsamt und Miteinander. Das ist die wahre Wesensgestalt des Menschen und darin liegt in meinen Augen der besondere Wert der Verhaltensforschung. Das findet sich in Aristoteles bereits vorbereitet, wenn er die Seele als die Entelechie des Leibes definiert. Er hat damit die Leibhaftigkeit des griechischen Lebensgefühls festgehalten. Dem entspricht, daß der Nous, was wir vielleicht >Geist< nennen können, nach Aristoteles von außen, sozusagen durch die Tür hereinkommt 11 und daß das nicht eigentlich ein Verhalten des Menschen ist,, sondern als das >Eintreten< von Helle beschrieben wird. Das wird uns noch beschäftigen. Es stellt sich die Aufgabe, die geheimnisvolle Auszeichnung der Sprachlichkeit bei dieser Sachlage richtig zu orten. Wir hatten uns an die Zweiheit von Zeigen und Nennen gehalten, die der Sprachtheorie Bühlers zugrunde liegt, und wir fragen nach ihrer inneren Gemeinsamkeit. Dabei wollen wir uns durchaus nur beschreibend verhalten und nicht so unfaßbare Begriffe wie Bewußtsein, Seele, Geist, Vernunft, Gemeinschaftssinn (als Gemeinsinn im alten Sinne des Wortes) wie bekannte Größen behandeln. Was Zeigen und Nennen vereinigt, ist doch wohl zunächst, daß beides Abstand hält. Wer zeigt, ist hier - und er zeigt dorthin. Er überschreitet das Hier und überschreitet damit den Greif- und Eigenraum des eigenen Verfïigens. Wie der Falke, der über Fernen hinweg seine Beute erspäht und dann wie der Blitz auf sie herabstößt, so verhält sich der Mensch zu allem blitzhaft, wenn er versteht, was immer ihm gezeigt oder gesagt wird. Das gilt ebenso vom Nennen, das wie eine Art von Zeigen mit Worten ist. Es gibt ein Wort im Lehrgedicht des Parmenides, das irgendwo in seiner Einleitung gestanden haben muß: »Schaue, wenn es auch Abwesendes ist, es mit deinem Sinn unverrückbar als Anwesendes.«12 Auf einmal weitet sich
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10 Eth. Nie. H 15, 1154b 2\- μή άπλήνήμϋνείναι τψ φύαη. Κ 7, 1177b28 und 8, 1178a2o: σύνθετον. 11 Gen. An. B 3 , 736b2e: ιοννοννμόνονdvpadevέηευηέναι. Β 6, 744b2i: ό dvpadev νους. 12 Fr. 4,1 : Χενσσε δ' όμως άηεόντα νόψ παρεόντα βεβαίως-
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der Raum. Da ist es nicht nur die Ferne des Dort, die einen Raum weitet. Da ist ein Raum aufgegangen, in dem etwas als seiend behauptet wird. Man darfauch das deutsche Wort >Behaupten< nicht nur so einfach hinsagen. Man erinnert sich aus der Mathematik, daß im Argumentationsverfahren die Behauptung auf die Voraussetzung folgt und sich mit dem Beweis in Erkenntnis verwandelt. Was eine pure Behauptung ist, ist von dem Bedürfnis nach Beweis her gesagt. Aber daß man überhaupt etwas behaupten kann, ohne es beweisen zu können, hat eine neue Weite des Raumes geöffnet. Man kann etwas behaupten, ohne es beweisen zu können. Ohne es geradezu zu behaupten, kann man es dahingestellt sein lassen. Das ist vollends etwas Erstaunliches, diese Abstandnahme, die menschliches Verhalten auszeichnet. Wer etwas dahingestellt sein lassen kann, dem hat sich ein schier grenzenloses Reich von anderen Möglichkeiten aufgetan. Die Grundform unseres Verhaltens, das diese Leistung zum Ausdruck bringt, ist die Frage. Die Frage ist nicht eine sekundäre Modifikation der Behauptung, auch wenn eine Behauptung ohne Beweis stets von zweifelnden oder kritischen Fragen bedroht ist. Alle Behauptung behauptet sich vielmehr immer schon gegen den Zweifel, und am entschiedensten die >dogmatische< Behauptung. Die Frage ist im Grunde ursprünglicher als die Behauptung. Es ist geheimnisvoll genug, daß man sie zurückziehen und einen in die Zweiheit des Zweifels verstricken kann. Nur wer die Zweiheit der Alternative sieht, und das heißt andere Möglichkeiten sieht, kann überhaupt fragen. Wenn man ihm überhaupt antwortet, gibt man die Zweiheit zu, und wenn man keine andere Möglichkeit sieht, sagt man geradezu: »Das ist doch keine Frage!« Man sagt dann vielleicht sogar, die Frage habe keinen Sinn, oder auch, diese Behauptung habe keinen Sinn. Das bestätigt nur, was wir suchen und was das Gemeinsame zwischen Zeigen und Nennen ist, nämlich die Richtung auf Sinn. Wer zeigt, kann nicht auf nichts zeigen, auch wenn er nur in eine Richtung weist. In dieser Richtung ist es dann etwas, auf das er zeigen will, weil es für den anderen Sinn hat. Nicht anders ist es mit dem Nennen. Auch da zeigt man auf etwas hin, wenn das auch kein bewußter Akt sein muß. Man sucht das rechte Wort, wenn man etwas sagen will. Das einzelne Wort ist freilich eine bloße Vokabel, das heißt nur ein möglicher Mitträger einer Aussage, und nicht selber die Aussage. Gewiß muß man die einzelnen Worte und ihre Bedeutung kennen. Darauf beruht alle Verständigung im Miteinanderleben. In solchem sprachlichen Austausch wächst für uns die Welt, und das Nennen bewirkt, daß sich im Sprachgebrauch die Nennkraft des Wortes anreichert, und im Gebrauch der gleichen Sprache bildet sich die Gemeinsamkeit der Welt. Worte, die bloße Vokabeln sind, begegnen nur beim Lernen fremder Sprachen. Aber die Vokabeln lernen bedeutet noch keine wirkliche Aneignung. Erst wenn man sie braucht, um etwas zu sagen, sind sie nicht nachgesprochen, sondern tragen den Sinn der Rede. Dann sind
die Wörter nicht mehr Wörter, sondern gehen in die Sinngestalt der Aussage ein. Wie man es auch wende, eine Handlung richtig ausfuhren und in einer fremden Sprache richtig sprechen fallt unter einen Begriff der Richtigkeit, des >rite<. Was da >richtig< heißt, bemißt sich nicht einfach an einem angebbaren Zweck der Handlung oder an einer gelernten Regel, und ebenso ist es beim Sprechen. Damit greifen wir in den Bereich des Sprachlichen über, das auch als wirkliches Sprechen an den Riten des Lebens seinen Anteil haben kann. Die mannigfaltigen Probleme des Sprechens, des Redens und auch des Gesanges lassen es ganz anschaulich werden, daß es nicht immer ein einzelner ist, der da die Worte gebraucht und sich als einzelner ausspricht. Wer etwa an einer Beerdigung teilnimmt, wird einem anderen seine Teilnahme zeigen. Da erwartet man wirkliche Teilnahme, aber man erwartet nicht, daß man den anderen in ein Gespräch zu ziehen sucht, wie man es sonst tut, wenn man auf den anderen eingehen will. Hier erfüllt man einen Brauch, und man spielt die Rolle, die einem zufällt. Das heißt durchaus nicht, daß etwa das alles >Gerede< ist. Es ist ein Handeln — und eines, das richtig sein will. Mit Heideggers berühmter Unterscheidung der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit des Daseins hat das kaum noch etwas zu tun. Vielleicht muß man sogar sagen, daß das übliche Bitte- und Dankesagen überhaupt kein Sprechen ist, sondern in den Bereich der Verständigung durch Gebärden gehört, die ja auch sonst einen großen Teil unseres Miteinanderseins bestimmt. Ähnlich könnte man sagen: Haustiere >verstehen< manche Worte, ohne daß sie unser Sprechen verstehen. So merken sie etwa auf, wenn man ihren Namen ausspricht, auch wenn man sie dabei gar nicht meint, und das heißt, nicht wirklich zu ihnen spricht. In diesem Sinne haben sie gerade nicht >verstanden<. Wir sahen, daß Sprechen selber den Charakter eines Rituals haben kann. Es ist eben nicht so, daß der bloße Vollzug der Bedeutungen der Worte, wie sie in den Aussagen begegnen, schon das eigentliche Sprechen ist. Wenn es nicht die Intention aufVerständigung ist, in der man spricht, ist es eigentlich kein wirkliches Sprechen. Der Gebrauch von Worten ist derart in ein Handlungsgefuge eingesenkt, in dem sie ihre Funktion ausüben, daß sie als Bedeutungsträger nicht wirklich ganz vollzogen sein müssen. So ist es mit dem >Danke< und mit dem >Bitte<, das wir über jeden gesellschaftlichen Umgang streuen wie eine Art Salz der Höflichkeit. Gleichwohl sind die Worte im pragmatischen Zusammenhang eindeutig. Das merkt man etwa, wenn man in eine fremde Sprachwelt einkehrt. Wenn man in Amerika bei einer Bewirtung >Danke< sagt, dann wird einem das Glas neu eingefüllt, •während wir doch >Danke nein< meinten. So eindeutig ist der Sprachgebrauch in jeder Gesellschaft, so daß das, was wir mit >Bitte< meinen und sagen würden, wenn man uns etwas einschenken soll, in der amerikanischen
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Gesellschaft schon vorweggenommen ist, und deshalb wird >Danke< gesagt. Das Beispiel zeigt den Unterschied zwischen Wortbedeutung und Umgangsfunktion von Worten. Es zeigt aber auch, daß jede eingespielte Gesellschaft den Umgangssinn solcher Worte beherrscht. Daran wird anschaulich, wie Sprachgemeinschaft gemeinsames Leben gestaltet. Was einfach Brauch ist, wird von allen eingehalten. Da ist keine Freiheit im Gebrauch von Worten, keine wirkliche Wortwahl. Es ist ein Zusammenhandeln, und so wird durch solche Gebräuche der ganze gesellschaftliche Raum gegliedert. In dem Wortgebrauch drücken sich Verhaltensordnungen aus. Aber das ist ein ganz anderes Verstehen als das, was man sucht, wenn man >jemandem etwas sagen< will. Den Platz des Rituellen in der Lebenswelt zu bestimmen ist nicht ganz leicht, wenn man auf die besondere Form des Sprechens und der Sprachlichkeit gerichtet ist. Ich habe das Thema schon öfters in Vorträgen behandelt, aber meine Arbeitsversuche scheinen mir heute zu sehr von dem Sprachproblem her angelegt gewesen zu sein, und zu wenig von der Lebenswelt, in der Handeln ebensosehr wie Reden begegnet. Das Rituelle besteht durchaus nicht immer in sprachlicher Form. Auf der anderen Seite ist die theoretische Aussage selber nur ein Extremfall von Sprache, den die Logik in der Lehre vom Satz und vom Urteil im Blick hat und den Aristoteles zu dem einzigen Gegenstand seiner >Hermeneutik< gemacht hat. In Wahrheit spielt in allem sprachlichen Verhalten, also auch im theoretischen Bereich, in dem die Logik eine so große Rolle hat, ein Hintergrund von Rhetorik und von Affektbeteiligung hinein, der durchscheint. Wenn wir unseren Blick auf den Platz der menschlichen Sprache in der Lebenswelt richten, haben wir daher einen langen Weg zurückzulegen, bis wir zu der Sprache der Wissenschaft gelangen, das heißt zur rein theoretischen Verwendung von Sprache, die dem Formalismus der Logik Genüge tut. Wir haben nicht dort Maß zu nehmen, wenn wir Verständigung in der Lebenswelt im Auge haben.
eigentlichen rituellen Handlungen ausfuhren. Die Darbringung des Opfers ist ja der Vollzug einer Amtshandlung und erfüllt einen Ritus. Aber alle, die dabei sind, stehen im gleichen Abstand zum Göttlichen und stehen in der gleichen Haltung der Verehrung des Göttlichen zusammen. Die Kultgemeinde darf sich durchaus nicht als Zuschauer fühlen. Sie gehört zu der Handlung. Sie kann mithandeln, etwa im Gesang, in den alle einstimmen, auch wenn es vielleicht nur geheimnisvolle, liedähnliche Texte sind, die am Ende gar einer fremden Sprache angehören, von.der man kein Wort vesteht. Oder man denke an die Tänze, die die heilige Handlung umkränzen. Selbst wenn es am Ende mimische Darbietungen sind, werden sie nicht eigentlich einer Zuschauerschaft angeboten, sondern der Gottheit selber. — Aber das ist ein weites Feld, wie sich die Bräuche des sakralen Lebens von ihrem religiösen Ursprung aus verbreiten und ein gesellschaftliches Nachleben führen. Da haben wir das heilige Schweigen, mit dem der Höhepunkt einer Kulthandlung erwartet und aufgenommen wird. Ähnliches begegnet noch immer im profanen Bereich, etwa bei der Urteilsverkündung vor Gericht oder beim Erlaß eines Gesetzes oder bei einer Beschlußfassung. Das sind nicht einfach Mitteilungen, für die man sich im alltäglichen Leben ins Wort drängen muß, um eine Neuigkeit mitzuteilen, und für die man die Gespräche unterbricht. Verkündung ist nicht bloße Bekanntmachung, sondern als solche eine Handlung, die zugleich etwas verändert. Man denke etwa an den Ausbruch eines Krieges, der alles schlagähnlich verändert. Auch das Schweigen, in dem alle Verkündung erwartet und aufgenommen wird, ist noch ein Teil der Handlung - bevor es in einem Wirbel der Aufgeregtheit untergeht. Erwartung und Anhörung gehören in einen Lebenszusammenhang, in dem sich alle zusammenfinden. Insofern ist es nicht eigentlich ein Miteinandersein.
Ritus ist als erstes nicht Sprechen, sondern Handeln. Wo es rituell zugeht, wird auch das Sprechen zu einem Handeln. Wir gingen in unserer Erörterung von der Zweiheit des Gesamt und des Einander aus. Die Vollzugsdimension des Rituellen ist jedoch stets ein Gesamtverhalten. Rituelle Handlungsweisen meinen nicht den einzelnen und auch nicht den einen im Unterschied zu dem anderen, sondern meinen alle im Gesamt, die zusammen die rituelle Handlung vornehmen. Daher hat die Herrschaft des Ritus besondere Verbreitung im religiösen Bereich, der alles durchstimmt. Die Verehrung des Göttlichen kann die verschiedensten Formen haben. Alle Kulthandlungen haben aber diesen gemeinsamen Zug, daß nicht ein einzelner als einzelner seine Handlung vollzieht. Es ist nicht >seine< Handlung, und die Worte, die er dabei spricht, sind auch nicht die seinen. Man denke etwa an den Opferbrauch. Gewiß gibt es im Kult den Stand der Priester, welche die
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Zum Ritus gehört das Getragensein von der Gesamtheit der Versammelten oder ihrer Repräsentanten, die alle auf der Einhaltung der Gebräuche bestehen. Das zeigt sich auch daran, wie ein Ritus in Gebrauch kommt. Da gibt es etwa Stiftungslegenden, die ein urzeitliches Geschehen berichten, auf das alle rituelle Wiederholung zurückgeht und an das kaum jemand noch denkt. So wiederholt etwa die berühmte Heidelberger Schloßbeleuchtung die große Katastrophe der Einäscherung Alt-Heidelbergs beim Abzug der Franzosen im 18. Jahrhundert. Das Ritual besteht eben darin, daß keine Begründung, auch diese nicht, im Vollzug des Ritus wirklich gemeint ist. Es war ein spätes literarisches Geschäft, wenn man im Hellenismus die Gattung der sogenannten >Aitia< entwickelte. Aber es ist ein riesiges Thema, das Religionsforscher wie Volkskundler behandeln müßten, wie sich die großen religiösen und geschichtlichen Überlieferungen über die gesamte Lebensordnung der Menschen ausbreiten. Wie wenig ist da vom Miteinander, wie wenig ist da von Gespräch, und wie sehr ist alles ein Gesamt. Das mag man
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bei jedem Fest in seiner Begehung empfinden. Es ist geradezu die Auszeichnung des Festlichen, nicht, daß man sich gut unterhält, sondern daß allesamt, zum Beispiel durch Musik oder durch Festreden, beteiligt sind. Wenn es kein Fest der Freude ist, etwa eine Grabfeierlichkeit, ist es ähnlich. In alten Kulturen, und in fernen Ländern teilweise bis heute, gibt es dafür geradezu die Klageweiber. Sie üben es als Beruf aus, die Trauer aller in bewegten Stimmen und mit großen emotionalen Ausbrüchen darzubieten. Das sind Formen des Lebens, in denen sich alle zusammenfinden, mit oder ohne innere Beteiligung der einzelnen, aber so, daß der Ablaufder feierlichen Stunden und der Vollzug der Bräuche von allen mitgetragen wird. Wir erkennen ohne Schwierigkeit, wie in wirklichem Aufgehen im Vollzug des Ritus und im betonten Einhalten der Formen der Zusammenhalt der Menschen Platz greift. Die Sprache kann uns belehren, wenn sie von Form redet und von Förmlichkeit - oder wenn sie im sprachlichen Bereich von Formel oder Floskel spricht. Das Bestehen auf der Form wird mitunter zur äußersten Präzision getrieben, wie es für die Zeremonie vorgeschrieben ist. Formfehler sind eine ärgerliche Sache - in Rechtsdingen geradezu von folgenschwerer Tragweite. Und was für ein Zwang liegt darin, wenn man etwas zu Protokoll zu geben hat, zum Beispiel als Zeuge vor Gericht. Was man eigentlich zu sagen hat, kann man so gar nicht sagen. Das will niemand wissen.
Vorausdenken des Menschen, alle >Techne<, alles Wissen und Schaffen, um mit Prometheus zu reden, im genauesten Sinne des Wortes >Verdrängung< des Todes ist. Ich will damit nicht Nietzsche folgen, wonach alle vermeintliche Wahrheit eine Art Lüge ist, und zwar wirkliche Lüge, das heißt Verlogenheit, die nicht anders kann, sondern muß, weil Leben leben will. Doch, es muß jedenfalls etwas bedeuten, daß der Wille zur Macht, der alles durchwaltet, im Menschen die rätselvolle Fähigkeit des Symbolfindens, des Zeigens und des Nennens und der Sprachfahigkeit in Dienst nimmt, um sich als Leben zu erhalten. Vogelgesang und menschliches Lied bleiben grundverschieden, auch wenn beide der Wille zur Macht durchwaltet. Die Unterschiede bleiben. Tonfolgen mit vollkommenem Wohllaut hervorzubringen bleibt etwas anderes, als sinnvolle Lieder zu singen. Gewiß gibt es beim Menschen auch falsche Töne, die Lüge und vor allem die Selbstbelügung, und alles Vorgebliche und Angebliche, kurz, all das, was zu geben scheint, aber nichts gibt. Heißt das aber, daß es überhaupt kein wirkliches Geben gibt? Ich würde sagen, es gibt den Anderen. Das ist keine Erfindung des Willens zur Macht. Daran findet er seine Grenze. Sprache meint den Anderen. Sprache will Antwort. Was öffnet sich damit? Ein Jenseits? Oder ein Diesseits?
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Im wahren Leben der Sprache bildet sich dagegen das Miteinander aus, und das vor allem in Gesprächen. Miteinander besteht darin, daß nicht erst der eine das Wort hat und einen Monolog hält, und dann der andere. Vielmehr sucht das Wort im Gespräch eine Antwort und findet sie vielleicht. Oder ist das eigene Wort immer schon eine Antwort, wenn man dem anderen ein Wort sagen will? Das Einander von Wort und Antwort hat seinen eigenen Anspruch. Auch wenn zwei Menschen die gleiche Sprache sprechen, suchen sie doch in jedem Gespräch die eigentliche, die gemeinsame Sprache, in der die Partner des Gesprächs sich verstehen. Jedes Wort ist Frage, Zustimmung wie Widerspruch. Jede mögliche Entgegnung ist im Grunde ein Entgegenkommen und nicht der Widerstand des Dagegenseins, sondern bezeugt, daß man das Übereinkommen sucht. Manchmal will es einem scheinen, als sei solches Spiel von Frage und Antwort der Lebensdrang der Natur überhaupt und spiele sich in aller Anpassung des Lebens an seine Umwelt ab. Ist das Einander am Ende das Bauprinzip alles von der Natur hervorgebrachten Lebens? So hat Nietzsche gefragt, und das meint die Vision des Willens zur Macht, der zufolge alles, was Leben hat, und noch über es hinaus alles, was ist, eine Art von Werden zum Sein ist. Ist das der Ursprung aller Sage? Oder ist es so, daß die Sage sich über den verstummten Toten erhebt und ihn zum Einander in das Gespräch einholt? Das hieße dann, daß in letzter Konsequenz alles
Meine Überlegungen erheben nicht den Anspruch, eine Widerlegung Nietzsches zu sein. Auch ich weiß, daß man durch alle Worte, die zu Parolen werden, Macht wollen kann. Blicken wir auf den Übergang zur Sprache, der im menschlichen Lebensverhalten am Kleinkind zu beobachten ist. Wir sahen, da ist kein greifbarer Anfang. Was wir da am Kleinkind beobachten können, das langsam in eine Sprachgemeinschaft hinein erwacht, hat seine Entsprechung in allen Anfangen von Sprachgemeinschaften, wie sie sich in Ritus, Brauch, Sitte und aller Verhaltensordnung bilden und schließlich auch zu sprachlichem Austausch führen. Wie sich die Worte herausbilden, die man gebraucht, wie man die richtigen Worte lernt und so lernt, wie man die Sachen lernt, das ist nicht bewußtes Lernen und Üben. Gleichwohl vollbringt dieser Prozeß des sprachlichen Austausche die Festwerdung des Sprachgebrauchs. Insoweit ist die Fixierung durch die Schrift in der Bildungsgeschichte einer jeden Sprache angelegt. Man wird am Ende verstehen, daß vom Schreiben aus das Denken und das Gedächtnis als Schreiben und Geschriebenes beschrieben werden kann. Nicht umsonst reden wir vom Be-schreiben. Die Griechen haben in ähnlicher Weise nicht zwischen dem im Gedächtnis Behaltenen und der Schrift unterschieden, wie sie der Seele eingeschrieben ist. Auch wir können, was Sprache ist, nie in voller Absehung von der Schriftlichkeit ermessen, die sich m ihr niederschlägt. Die Nähe von Schrift und Sein (>Grammë< und >Ousia<) hat Derrida
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seinerzeit in der Festschrift fur Beaufret behandelt und gleichzeitig in dem dichtgedrängten Kapitel seiner Schrift »La voix et le phénomène< genauer expliziert. Man kann hier sehen, wie der Anstoß, den Heidegger bedeutete, zu einer direkten Auseinandersetzung mit Husserls Zeitanalyse und auf selbständige Wege geführt hat. Diese Wege enden alle in der überzeugenden Elimination des transzendentalen Subjekts und damit in der Kritik an einem Begriffder Identität, der nicht selber die Differenz in sich schließt. Das spitzt sich bei Derrida dazu zu, daß >das Jetzt< der Zeit, diese zum Hinhalten ausgestreckte Hand — denn das ist la main tenante — das >Jetzt< - , in Wahrheit nur seine eigene Spur im anderen Jetzt sei. So hat Derrida den Begriff der Spur in die eigentliche Wahrheit der Zeichen eingezeichnet. Er hat damit an Husserl eine richtige Kritik geübt. In seiner Widerlegung des Psychologismus hat Husserl die sprachliche Verlautbarung als eine sekundäre Dimension der Sprache angesehen. Mit der Betonung der Idealität der Bedeutung des Wortes hat den Mathematiker Husserl sein Gebrauch von Symbolen und mathematischen Figuren geleitet und beirrt. Die Gegenstände der Mathematik haben gewiß die Idealität des Genauen. Auch der platonische Begriffder Idee zielt auf solche Genauigkeit. Aber Sprechen ist deswegen doch noch nicht eine bloße Abbildung des im Denken Vorgesprochenen. Zwar hat Plato Denken als das innere Gespräch der Seele mit sich selbst bezeichnet. Das will aber nicht sagen, daß Sprechen wie eine Vorlage dieses Gespräch einfach wiederholt, das im Denken schon vorliegt. In der Sprachwerdung vollzieht sich vielmehr ein Übergang in eine andere Dimension - und damit auch in die der Aufzeichnung durch Schrift. Ich habe mich selber an Augustins Aufnahme der stoischen Lehre von dem »inneren Logos< angelehnt. Augustin bezieht sich darauf, um das Geheimnis der Inkarnation, wonach das Wort »Fleisch geworden< ist, dem menschlichen Denken näherzubringen. In dieser christlichen Botschaft wird jede Weltverdoppelung ausdrücklich vermieden. Die innere Rede ist nicht die Vorlage fur die geäußerte Rede, sondern das Ganze ist ein Prozeß von eigener und geheimnisvoller Struktur. Das sollte man nicht Piatonismus nennen, wenn es auch in der polemischen Plato-Auffassung des Aristoteles als eine Zweiweltenlehre erscheint. Man kann verstehen, daß Derrida in Husserls frühen »Logischen Untersuchungen* solche angebliche Weltverdoppelung gesehen und als Metaphysik der présence kritisiert hat. Inzwischen haben wir alle von Heidegger gelernt, daß man gegen die Selbstverständlichkeit der présence die Seinsfrage im Horizont der Zeit neu stellen muß. Dadurch sind wir in die Lage gesetzt, zu sehen, warum Derrida fehlgreift, wenn er bei Nietzsche, der dem Werden den Stempel des Seins 13
Jetzt auch in: JACQUES DERRIDA, Marges de la philosophie. Paris 1972, S. 31-78. (Mittlerweile auch dt.).
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aufdrücken will, dessen geheime Abhängigkeit von der Metaphysik nicht erkennt, ja, wenn er aus Heideggers Aufzeigung der Metaphysik in Nietzsche, die in Wahrheit kritisch gemeint ist, umgekehrt auf einen Rückfall Heideggers in die Metaphysik schließt. Es kann nicht meine Aufgabe sein, dieser Frage hier nachzugehen14. In Wahrheit sind meine eigenen Versuche insoweit in der Nachfolge Heideggers, als sie von der Sprachlichkeit aus einen Weg suchen, die griechische Metaphysik hinter sich zu lassen.
Von der Sage zur Literatur Wie mich Derridas Auseinandersetzung mit Heideggers Nietzsche-Interpretation nicht ganz überzeugt, so gilt ähnliches auch für die Auseinandersetzung von Derrida mit Levinas in »L'écriture et la différences Jedenfalls sollte man nicht mit Derrida die Wendung zur Schrift auf die bloße literarische Entwicklung der europäischen Kultur gründen. Der Zusammenhang zwischen Schrift und Wortsprache reicht tiefer und gab uns schon zu denken. Noch heute redet man gern von den Engrammen, die im Zentralnervensystem eingezeichnet sein sollen - als ob wir in unserem Sprechen und Erinnern in Wahrheit etwas abschrieben und abläsen. Die Dimension der Schrift, die zu entziffern ist, stellt gewiß ein sehr fruchtbares Modell für alle Erfahrung dar, und so hat man mit Recht seit Galilei (mit Hans Blumenberg) von der »Lesbarkeit der Welt« sprechen können. Offenbar ist der Zusammenhang zwischen der Bedeutung tragenden artikulierten Äußerung und dem als Text geschriebenen Satz sehr eng, und so konnte die mathematische Physik zum Modell aller Erfahrung stilisiert werden. Gleichwohl behält die lebendige Stimme auf diesem Felde der Sprache sowohl das erste wie das letzte Wort. Es ist das im Sprechen gefundene Wort, das im Lesen von Texten wiedergefunden werden muß, wenn der Text sprechen soll. Das gilt sowohl für die Stimme des Redenden wie für das Lesen, auch wenn es in der literarisch gewordenen Welt dabei stimmlos bleiben mag l s . Es ist doch Vollzug unserer Leiblichkeit und Lebendigkeit im ganzen. Das wird uns bewußt, wenn wir an die moderne Reproduktionstechnik denken, durch die eine auf mechanischem Wege fixierte >Stimme< in Stimme zurückverwandelt wird. Das heißt eigentlich, daß die »Stimme* jetzt nicht wirklich spricht. Sie ist vielmehr nur eine Art von Lautschrift. Selbst noch die hohe Bedeutung, die die Reproduktionstechnik für die heutige 14 Ausführlicher dazu »Text und Interpretation< in Ges. Werke Bd. 2, S. 330-360 sowie einige neuere Arbeiten über Dekonstruktion und Hermeneutik in Ges. Werke Bd. 10. 15 Zu den unterschiedlichen Arten des Lesens in ihrem Bezug zur Idealität des »inneren« Hörens vgl. in diesem Band »Stimme und Sprache* (Nr. 22) und »Hören - Sehen - Lesen< (Nr. 23).
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Musikkultur besitzt, ändert nichts daran, daß sie Sprünge über Abgründe zumutet. Auch wenn die aus dem Apparat erschallenden Töne noch so gut die lebendige Aufführung wiedergeben, bleibt dem Hörenden die neue Aufgabe, eine Erstarrung zu lösen, die im lebendigen Miteinander von Musikern und den mit der Musik mitgehenden Zuhörern nicht aufkommt. Erst recht gilt das von dem Sprecher, der in Apparate >spricht<, daß er nicht wirklich spricht. Ganz anders ist es, wenn im Sprechen des großen Schauspielers auf der Bühne das Wort >Fleisch wird<. Das schmälert nicht die Bedeutung der Schriftlichkeit. Die Vielfalt der Schriftarten geht von der Runenschrift, der Keilschrift über die Bilderschrift und Silbenschrift bis zum Alphabet. Gewiß ist die Übernahme des im Orient entwickelten Alphabets durch die Griechen und seine Vervollkommnung eine epochemachende Leistung. Wir kennen ähnliche Leistungen in Gestalt all der Geheimschriften, Kurzschriften und dergleichen, in denen echter Erfindungsgeist steckt. Jede erfundene Schrift ist ja in Wahrheit eine Geheimschrift, solange sie nicht allgemeine Aufnahme gefunden hat. Darin ist die Schrift nicht so wie die Sprache. Die Schrift ist etwas, das man erfinden kann - und das sich dann vielleicht einfuhrt und sich durchsetzt. Eine künstlich erfundene Sprache dagegen kann so trefflich sein, wie das Esperanto - sie führt sich doch nicht ein. Das Esperanto wollte, wie seine Benennung hofft, eine Einheitssprache der Erde werden. Das sieht nicht so aus. Dagegen wird vielleicht das europäische Alphabet die Einheitsschrift der Zukunft sein können. Der Grund für diesen Unterschied ist klar. Sprechen lernt man eben nicht in der Schule, wie man Schreiben lernt. Sieht man vor dem Hintergrund aller rituellen Verhaltensweisen auf ihre Stiftung und ihre Einführung und auf die schier unauflösbare Nähe von Schrift und Sprache, kann es nicht überraschen, daß gesellschaftliche Gruppenbildungen im Laufe der Erdgeschichte an so vielen Orten zu Kulturen eigener Prägung und eigener Sprache geführt haben. Wo immer sich in einer Sprachgemeinschaft die Fertigkeit des Schreibens einführt, ist das ein großes Ereignis. Jede Schriftkultur bedeutet die Bildung einer gesellschaftlichen Unterscheidung, die sich mit der Herausbildung oberer und unterer Schichten der Bevölkerung verknüpft. So war der Vollzug von Zeremonien und Riten ein Vorrecht der Priester und Oberen, an die sich dann die Kunst des Schreibens und die Schriftlichkeit anschließt. Dieser Prozeß setzt sich bis heute fort. Am Ende wird der Schriftkundige zum Bürokraten. Bei der Begegnung mit russischen Soldaten in Leipzig ist mir handgreiflich vorexerziert worden, daß ein der Schrift Unkundiger in allem Geschriebenen und Gedruckten geradezu eine Dokumentation von Wahrheit und Geltung erblickt. Es ist ja auch wirklich voll von Geheimnissen, daß man mit solchen Kratzern, Schnitten und Strichen verständliche Worte übermitteln kann. Dagegen ist es kein Wunder, daß es Felsbilder oder andere
Abbilder von etwas gibt, die etwa als Jagdzauber oder im Seelen- und Götterkult unmittelbare Verständlichkeit haben. Da wird kein Mensch von Erfindung sprechen. Aber daß die Schrift durch Anordnung von Zeichen verschiedener Form und Gruppierung die Lautgestalt der Wortsprache wiedergeben kann, ist wie ein Rätsel. Man begreift, daß mit dem Obergang von der verhallenden Stimme zu solcher Dokumentation etwas von steinerner Untrüglichkeit dargetan ist. Wir sollten nicht überrascht sein, daß auf Inschriften oft so triviale Dinge entziffert werden, wie Steuerlisten, Anordnungen und andere Bekanntmachungen - und nicht das, was wir so gerne fänden, zum Beispiel Kunde über die religiösen Urerfahrungen der frühen Menschheit. Um von solchem Schriftgebrauch zu dem zu gelangen, was wir eigentlich suchen, nämlich, was Sprache als Sprache ist und was in ihr zur Sprache kommt, wenn sie als Sprache da ist - und das ist, wenn sie Sprache der Dichtung oder Sprache des Begriffs ist - , müssen wir weiter ausholen. Das Besondere der uns verborgenen Geheimnisse drückt sich in der deutschen Sprache durch das Wort >Sage< aus. Im Griechischen heißt es >Mythos<. Sage meint, daß nur im Gesagtwerden von Mund zu Mund, von Generation zu Generation, im freien Wachsen und Wuchern der erzählenden Phantasie, >Geschichten< sich überliefern. Es ist seit langem eine vielumstrittene Frage, wie etwa das Leben und Weiterleben von Sagen zu der dichterischen Gestaltung der Homerischen Epen geführt hat. Doch es ist hier nicht der Ort, das weite Thema der Schriftlichkeit überhaupt zu erörtern. Wir fragen, wie es überhaupt zur Literatur wird. Was bedeutet es, daß sich durch schriftliche Fixierung das freie Walten der Phantasie des Erzählers selber unter beschränkende Auflagen stellt, und wie geschieht das? Da müssen wir vor allem die Kultformen und Rituale, die noch vor aller dichterischen Formung von Sprache und Schrift liegen, als den wahren Lebensboden von Literatur ins Auge fassen. Solche Sagen sind noch ganz von der lebendigen Stimme gesagt und weitergesagt, und zwar noch jenseits aller Unterscheidung von Leiblichkeit und Geistigkeit. Die Vorgestalten und Frühgestalten der Sagen waren vielleicht geradezu in rituelles Handeln eingefügt. Und trotzdem. In allem Erzählen herrscht eine Art Freiheit, die im Grunde der Fixierung widersteht. Wer gut zu erzählen weiß, um den scharen sich die Zuhörer, und gewißlich nicht, weil er immer dasselbe erzählt. Im Gegenteil, er weiß immer neue Geschichten und ist geradezu unerschöpflich. Was für eine freie Distanz ist da gewonnen, was für eine Freude an allem Möglichen, was die Musen dem Erzähler eingeben - wenn man auch wie Hesiod im Grunde weiß, daß die Musen dem Erzähler nicht nur Wahres, sondern oft auch Falsches eingeben. In allen Erzählungen von Göttern und Helden, von Wundern der Ferne und der Vorzeit, hegt ein einziger Zauber schweifender Freiheit, und noch ganz unabhängig von aller sprachlichen Kunst. Es ist erst
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etwas Neues, eine neue Formkraft, die daraus die Großform des Epos entstehen läßt, und gewiß ist die neue Schriftlichkeit bei diesem Vorgang hilfreich gewesen, die sich im damaligen Griechenland verbreitete. So wird Sprache zur Literatur - aber im Grunde, weil die Sagen schriftfähig geworden sind. Was das heißt, wird zu fragen sein. Erzählen hat eine ungeheure Macht. Im griechischen Räume gab es dabei immer zugleich musikalische Begleitung. Es waren Lieder, in die man einstimmen möchte, die schon eine gewisse dichterische Gestaltung einschlössen. Gleichwohl ist es wichtig, sich zunächst die ganz kunstlose Freude am Erzählen vor Augen zu stellen, um von da aus die große Kunstleistung der Homerischen Epen richtig zu würdigen. Erzählfreude zeigt sich wahrlich bei Homer. Einmal wird da die Kunst des Rhapsoden selber zum Gegenstand des Epos. Als Odysseus zu den Phäaken kommt, wird es herrlich geschildert, welche Rolle der Sänger für das Zusammenleben der Menschen zu spielen vermag. Wenn Spannungen auftreten und Streitigkeiten drohen, dann ruft man nach dem Sänger, der im geselligen Kreise neue Gemeinsamkeiten zu stiften weiß. Das gilt ganz gewiß auch für die frühe Zeit der Rhapsoden, daß sie eine solche wichtige Rolle zu spielen hatten und dabei beteiligt waren, damit in frühen Gesellschaftsordnungen Zwietracht immer wieder überbrückt werden konnte. Noch in den kunstvollen Erzählstrukturen der Homerischen Epen schimmert es durch, wie die Kleinform der Erzählung gepflegt wurde — ganz so, wie noch heute große Erzähler im geselligen Kreise Geschichte an Geschichte nach Beheben zu reihen wissen und die Erzählfreude der Menschen befriedigen. Man kennt die Diskussion um die homerische Frage. Sie berührt uns hier kaum. Beide Parteien, die Unitarier und ihre Gegner, sind sich ja darin einig, daß es lange schriftlose Jahrhunderte gab, in denen Mythen und Sagen in der griechischen Welt zu rhapsodischer Gestaltung und Überlieferung gelangten. Davon wissen wir kaum etwas. Aber Cicero hat gewiß nicht unrecht, wenn er die Vollkommenheit der Homerischen Gedichte als Argument dafür gebraucht, daß ihr lange Vorbereitungen vorausgegangen sind. Daß mit der Schriftlichkeit ein neuer Schritt möglich wurde und daß, im Sinne einer neuen Autonomie von bleibendem Kunstverstande, Literatur zustande kam, eröffnet in jedem Falle ein neues Zeitalter, das neue Möglichkeiten bot und neue Aufgaben stellte. Es ist die Kunst der epischen Komposition, auf die es nun ankam. Im Spiel mit dem Sagengut hatte sich die Kleinform erzählender Lieder entwickelt. Jetzt aber war die Aufgabe, nicht nur solche kleinere Spannungseinheiten in geselligem Spiel aneinanderzureihen, sondern zu der großen Erzähleinheit epischer Dichtung zusammenzufassen. So hört man es beim ersten Wort in den Proömien der Homerischen Epen an der Ankündigung: »Den Zorn des Achilles . . .« und »Den Mann nenne mir, M u s e . . . «. Der Trojanische Krieg, der nach der Sage schon lange Jahre
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im Gange war, wird hier auf 40 Tage zusammengedrängt, und dann verschränkt sich mit diesen vierzig Tagen der Bericht vom Ende des Krieges, von der Zerstörung von Troja, mit der abenteuerreichen Rückkehr der Griechen von Troja, die die Odyssee erzählt. Bei den Phäaken erfährt der damalige Zuhörer - Odysseus - und der heutige Leser erstmals aus dem Gesang des Demodokos von dem hölzernen Pferd und dem Untergang Trojas. Dabei bricht Odysseus in Tränen aus. Man kann sich kaum denken, daß andere Kriegs- oder Heimkehr-Epen, die es sicherlich gegeben hat, die Aufgabe auch nur annähernd so gut gelöst haben, über ein weitgespanntes Ganzes von Geschichten immer neu die Spannung zu beleben und zu -einer großen Erzähleinheit zu gelangen. Wir wissen nicht viel von anderen epischen Versuchen, die unter dem Namen Kyklos zusammengefaßt sind, aber doch genug, um das Unvergleichliche behaupten zu können - oder war es jener letzte Bearbeiter der beiden letzten Homerischen Epen? Jedenfalls ist die große dichterische Leistung >Homers< - und ihre Aufnahme in die werdende Poliskultur - die Urstiftung all dessen geworden, was man im Abendland >Epos< nennt, und ist von vergleichbaren epischen Dichtungen anderer europäischer Sprachen bei weitem nicht erreicht worden. Erzählungen müssen spannend sein, aber sie müssen auch den Zuhörern oder Lesern etwas von bleibender Bedeutung vermitteln. Es müssen Berichte sein, die unser Wissen bereichern. Wer etwas zu erzählen hat, war bei etwas dabei, wo der andere nicht dabei war - oder wenigstens erzählt er etwas weiter, was jemand erzählt hat, der es selbst erlebt hat. So sind wir im wörtlichsten Sinne im Bereich der Sage. Auch wenn die Sage weitererzählt wird, behält sie etwas von Augenzeugenschaft, und zwar für Ungewöhnliches, etwas aus einer Welt der Urzeit, die niemand mehr bezeugen kann, oder aus einer Welt der Fernen, wenn der, der von einer Reise zurückgekehrt ist, viel zu erzählen hat. Er erzählt von seinen Abenteuern, von Gefahren, Nöten, Zufallen und Unfällen ganz aus seiner eigenen Erfahrungsfulle oder Phantasie, aus der er schöpft. Das ist alles so besonders spannend, weil der Erzähler - oder der Erzähler des Erzählten - vor einem sitzt und alles überstanden hat. Ob es Göttergeschichten, Heldengeschichten, Heiligengeschichten sind, die da erzählt werden, es sind alles keine Zeugenaussagen. Im Gegenteil, sie bezeugen die Geschichten, die sie erzählen, nur durch die Art, wie sie erzählen, durch den Ton des Dabeiseins, der sich trotz aller Wiederholungen und Ausschmückungen durchhält. Das verleiht den erzählten Geschichten so etwas wie Wahrheit und gewiß nicht die Glaubwürdigkeit von Zeugnissen, wie selbst die Musen anerkennen, deren Mutter >Mnemosyne< ist. Aber sie verleihen das Ihre als eine Gabe, die einen zum Dichter weiht. Erzählungen müssen die Traumfähigkeit der menschlichen Seele anregen und im Nachklang solcher Erzählung sich erfüllen. Wie im Traumleben besteht man nicht auf genauer Logik, und doch laufen geheime Sinnli-
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nien hin und her. Die Sagenüberlieferung der Völker hat in der abendländischen Literatur mit der Form des Epos, der Tragödie und der großen Lyrik einen weiten Raum erzählerischer Phantasie durchmessen. Das Versepos hat in der weiteren Geschichte des Abendlandes vor allem dank Vergil immer wieder neue Aufnahmen gefunden. Erst in der Neuzeit ist sie von der Romankunst abgelöst worden, die nicht mehr auf die mythische Vorwelt und auf religiöse Überlieferung zurückgreift. Von Cervantes bis Joyce oder bis zu dem geheimnisvollen Kafka wird nicht mehr von Helden Großes erzählt. Statt dem Heldenlied wird das Klagelied der Menschheit gesungen, und die Abenteuerlichkeit des Lebens, die Bildungsgeschichte des Menschen und das Leiden an der Gesellschaft sind ihre Sage. Unvorhersehbare Wechselfalle des Geschehens, Überraschungen, die aus dem menschlichen Herzen hervorbrechen, das sind die Welten, die seither einer unerschöpflichen Literaturgattung ihr Leben geben. All das sind Geschichten, die nicht wahr sein wollen, und doch sind sie wie Welten, in denen wir heimisch werden und von denen wir uns kaum trennen mögen. Gewiß, wir werden nie daran denken zu fragen, ob das alles wahr sei. Die verschlungenen Wege des Lebens, die ein fernes Ziel vorgaukeln, und die Stürme, die die Phantasie der Zuhörer schütteln, finden dank der mitreißenden Kraft ihrer dichterischen Gestaltung Wahrheit in sich selbst. Erst mit der Ausbreitung der wissenschaftlichen Aufklärung begann man so etwas >fiction< zu nennen. . Es ist nicht nur die erzählende Kunst, mit der wir so mitgehen. Wir sind nicht nur Leser der großen Romanciers. Da sind auch die bildenden Künste, die alles begleiten, .so daß uns eine ganze Welt aufgeht16. Die Erinnerung an die bildende Kunst tut not. Es ist unübersehbar, daß auch sie von der Zeitlichkeit unseres Daseins im Aufbau des Gebildes zeugt, das wir ein Kunstwerk nennen. Auch wenn es sich nur um eine Skulptur oder um den überwältigenden Eindruck eines Bauwerkes handelt, das >herauskommt<, ist das wie bei den sprachlichen Künsten. Auch da •kommt es heraus<, und wir finden darin Halt. Es bleibt uns. Das hat auch auf den großen Umwegen über das dichterische Wort oder die bildende Kunst seine Entsprechung. Nun mag man sagen, daß ein Text oder ein Kunstwerk nicht antwortet, so daß es kein wirkliches Gespräch geben kann. Da möchte ich behaupten, es ist gerade umgekehrt. Jedes Werk'der Kunst ist, wenn es einen anspricht, schon eine Antwort heischend. Wer sich darauf einläßt, dabei verweilt, schauend oder denkend, ist bereits ins Gespräch verwickelt und nimmt irgendwie am anderen teil, mit dem man eine gemeinsame Sprache sucht, wie in jedem Gespräch. Es ist, als hielte
Dichtung oder ein Werk der bildenden Kunst immer neue Antworten bereit und rege zu immer neuen Fragen an. Wir bewegen uns ständig in einem Bereich, den wir mit der Kraft unserer eigenen Phantasie aufbauen. Wir sind zwar bloße Zuschauer, und doch sind wir zutiefst beteiligt. Das ist nicht anders, als wenn wir unseren eigenen Fragen nachhängen, uns in Gedanken verlieren, und wenn langsam aus diesen Gründen Sinngestaltungen wieder auftauchen. Es ist wie ein erhöhter Lebensvollzug, zu dem wir erhoben sind. Hier fällt einem die Aristotelische Definition der Lust ein, der >Hedonê<. Aristoteles definiert sie als freien, ungehinderten Vollzug17. Im Deutschen gebraucht man dafür das Wort >Lust<, freilich nur noch selten, meist nur, ob man zu etwas >Lust hat< oder nicht, und in dem neuartigen Fachausdruck >Lustgewinn<. Indessen scheint mir der Begriff der Lust, den wir in Schillers Begriff des freien Spiels wiedererkennen, allen Kunstarten wie aller freien Bewegung des Gedankens zugeordnet. Es ist immer Lust an etwas. Wir verlieren uns förmlich an eine Welt von Gestalten und Gedanken, und gerade darin sind wir da. Das heißt, wir sind wach. Es ist doch wohl in der Sache begründet, daß in der »zaudernden Weile« etwas in uns von der mündlichen Sagenüberlieferung auf die Literaturform und damit auf die neue Schriftlichkeit hindrängt. So kam es, daß in Griechenland die Verskunst Homers und Hesiods vorbildlich wurde. Sie setzte sich als die Form von Literatur überhaupt durch, jedenfalls in den ältesten philosophischen Texten, die wir in Griechenland kennen, bei Parmenides und Empedokles. Sie sind in homerischen Hexametern geschrieben. Gewiß gab es auch Prosaaufzeichnungen, wenn auch nicht gleich bei Thaies, wohl aber bei den anderen Milesiern. Es sind aber nur Bruchstücke erhalten. Später, im Zeitalter der zunehmenden Schriftlichkeit, bei Heraklit, Zenon, Melissos, Anaxagoras und später bei Demokrit sind uns Zitate erhalten, und schließlich Texte von den Historikern, den Rednern und den Sophisten. Man muß sich aber bei all dem klarmachen, daß auch solche beginnende Literatur zur Vortragskunst gehört, und natürlich gilt das erst recht für die uns erhaltenen Tragödien der Griechen, sowie von der Lyrik und der Chorlyrik. Der Weg vom mündlichen Vortrag zum schriftlichen Memoriertext und zur Literaturform ist kurz. Wir können sicher sein, daß hinter den uns bekannten Texten ein ganzer Chor von Gesängen im Hintergrunde steht, die in den Ritualen der Kult- und der Erntefeste und bei höfischen Festlichkeiten zur Darbietung kamen. Verskunst und Tonkunst waren ohnehin untrennbar.
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l * Siehe dazu vor allem den vorangehenden Beitrag >Wort und Bild - >so wahr, so seiend« (Nr. 35).
Eth. Nie. H14, 1153b n: ενέργεια ανεμπόδιστος.
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Auf dem Wege zum Begriff Wie steht es nun aber mit der Philosophie, in der die Sprache des Begriffs gesprochen wird, und wie mit der Schriftlichkeit dieser Sprache? Daß Sokrates selber nicht geschrieben hat, ist bekannt. Wenn Plato statt irgendwelcher Lehrschriften oder Lehrvorträge seine kunstvollen Dialogdichtungen hinterlassen hat, dann will das etwas sagen. Wir wissen überdies aus dem Siebenten Brief, daß er die Schrift fur das Philosophieren überhaupt ungeeignet fand. Das gut in gewissem Umfange selbst noch für die Zeit, in der die philosophischen Schulen gegründet wurden und die erst im Zeichen des politischen Niedergangs der griechischen Städte aufblühten, als ihre politische Selbständigkeit dahin war, also in der Zeit Alexanders und seiner Nachfolger. Man muß das im Auge behalten, daß die Lehrschriften des Aristoteles gar keine wirkliche Literatur waren und auch gar nicht sein wollten. Sie waren zunächst nur für die Lehre und ihren Vortrag bestimmt, und jedenfalls nicht ohne Zusammenhang mit der Mündlichkeit der Schule. Das unterschied sie deutlich von den geschriebenen Redekunststücken, die in Piatos >Phaidros< bloßgestellt werden. Man sollte das bei dem stilistischen Äußeren und den formidablen Begriffskünsten, die sich in den Lehrschriften des Aristoteles aneinanderreihen, nicht vergessen. Das waren nicht die >Werke< des Aristoteles. Für das griechische Altertum war Aristoteles in Wahrheit als Schriftsteller berühmt. Diese Schriften sind für uns freilich verschollen und nur im Spiegel von Ciceros Diskussionsdialogen einigermaßen vorstellbar. Cicero rühmt aber ausdrücklich den Stil dieser verlorenen Aristotelischen Schriften, wenn er noch in römischer Zeit auf das »flumen orationis aureum« anspielt. Da sind gewiß nicht seine Lehrschriften gemeint. Erst in hellenistisch-römischer Zeit nähert sich die griechisch-lateinische Schulkultur jener Lesekultur, die mit der Ära Gutenberg heraufkam und jetzt vielleicht langsam zu Ende geht. Die Neuzeit steht unter einem allgemeinen kritischen Vorbehalt gegenüber dem Weltbild der Sprache und der Verfuhrungskraft der Sprache. So hat Bacon von den >Idola fori< gesprochen. Man muß zugeben, daß die moderne Wissenschaft, vor allem die Physik, in ihren grundlegenden Leistungen die Symbolik der Mathematik benutzt und sich damit den Verführungen der Sprache ganz entzieht. Wenn Sprache wirklich nichts anderes wäre als eine bloße Fixierung und Verlautbarung dessen, was im Denken bereits gedacht ist, dann müßte man in der Tat wünschen, es gäbe nicht mehr die Vielfalt der menschlichen Sprachen, die doch allesamt dem Ideal der genauen Fixierung nicht genügen. In solchem Falle müßte man das Ideal der Aufklärung bejahen, die eine >Characteristica universalis< entworfen hat, und heute etwa die Orthosprache, die Lorenzen einfuhren möchte, die alles Mißverstehen ausschließen soll. Das ist im Falle der Mathematik maßgeb-
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lieh und verbindlich. Aber wo bliebe dann, um es mit einem berühmten Ausdruck von Heinrich von Kleist zu sagen, »die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«? Am Ende ist der Vergleich der mathematischen Symbolsprache mit der Sprache der Philosophie überhaupt abwegig. Ist das überhaupt eine Sprache, und gibt es eine Sprache der Philosophie? Es ist vielmehr die gesprochene Sprache, wenn es auch Jahrhundertelang nicht die vom Volke gesprochene Sprache war, sondern das Kirchenlatein und das Gelehrtenlatein, aus dem sich die Begriffsbildungen und terminologischen Konventionen erheben. Solche Begriffe gewinnen erst durch ihre Einfügung in den Fluß der gesprochenen oder geschriebenen Sprache ihre begriffliche Aussagekraft. Es handelt sich also bei schwerverständlichen philosophischen Texten nicht um eine Art Geheimschrift — bei der man einen Schlüssel braucht, der mit einem Schlage das Ganze entziffert — und auch nicht um die Vertrautheit mit einer künstlichen Symbolsprache. Heideggers Rede von der Sprache der Metaphysik, in die das Denken immer wieder verfalle, ist eine ungenaue Rede. Was Heidegger sagen will, ist gewiß, daß ihm für das, was er sagen wolle, die Sprache fehle. Aber man bedenke wohl, daß diese auch im alltäglichen Leben vorkommende Wendung »mir fehlt die Sprache« - das heißt »ich bin sprachlos« — eigentlich meint, daß einem etwas Erstaunliches und Unerwartetes begegnet, für das die treffenden Ausdrücke fehlen, zu sagen, was man sagen will. So meint auch Heidegger, daß ihm bei dem Versuch, >das Sein< angemessen zur Sprache zu bringen, in unserer Sprache die rechten Begriffe fehlen. Es war in Heideggers Augen der große Vorzug der Griechen, daß sie ihre Begriffe nicht einer Schultradition verdankten, sondern unmittelbar aus dem lebendigen Sprachgebrauch herausgehoben und entwickelt haben. Es kann natürlich nicht sinnvoll sein, nun diese von den Griechen entwickelten Begriffe in die Denkbewegung unserer eigenen Fragen einfach einzufügen. Aber Heidegger hat gezeigt, daß man aus der Nähe der griechischen Begriffsbildung zu der damals wirklich gesprochenen Sprache auch für unsere eigenen Fragen und die Bildung fur uns angemessener Begriffe lernen kann. Wenn sie etwas von der bildnerischen Kraft lebendiger Sprache in sich aufnehmen, dann sind auch unsere Fragen lebendige Fragen. : Nun hat die Weltgeschichte der abendländischen Philosophie den Rückweg zur urgriechischen Spracherfahrung nicht gerade leicht gemacht. Der abendländische Denkweg ist, wie wir schon in Erinnerung riefen, durch die Aufnahme des griechischen Denkens im lateinischen Sprachraum weitergeführt worden und von da aus in die Schulsprache der Philosophie eingedrungen. Es sind griechische Grundbegriffe, die wir in lateinischer Umformung gebrauchen. Dem Sprachleben der Griechen sind sie ganz entfremdet, und damit ist auch ihre begriffliche Aussagekraft geschwächt. So war es wohl-
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motiviert, daß Heidegger zunächst auf die Griechen und ihre Begriffsbildung zurückging. Er hat nicht, wie mancher andere originelle Denker, von der Denkweise der mathematischen Naturwissenschaften verführt, künstliche Symbolschöpfungen nach seinem Belieben zum Ausdruck seiner Gedanken ernannt. Er hat aber auch nicht die herkömmlichen Begriffe der Schulsprache der Philosophie wie feste Größen in seine Argumentationen eingelassen. Sein Bestreben war vielmehr die Destruktion der Schulsprache der Metaphysik. Destruktion meint, wie ich immer wieder betonen muß 18 , die Abdeckung der Verdeckungen, welche Begriffe durch ihre lateinische Umsetzung und ihre geschichtliche Weiterbildung in der Neuzeit erlitten haben. So trieb uns Heidegger an, uns in die ursprüngliche Welterfahrung einzuarbeiten, die in der Sprache und in der Begriffsbildung der Griechen steckte. Sie auf diese Weise neu zum Sprechen zu bringen verlangt gewiß methodischen Einsatz philologisch-historischer Arbeit, die an der Sprache und mit der Sprache zu leisten ist. Aber es ist eine Aufgabe des Denkens, und Denken geschieht vor allem in der eigenen Muttersprache. Heidegger gelang es, für seine eigenen Fragen neue Horizonte zu öffnen. Nachdem er die Fragen der Griechen aus deren Welt heraus verstehen gelernt hatte, hat er, durch Husserls Phänomenologie angeleitet und von der Lebensphilosophie der Kriegs- und Nachkriegsjahre herausgefordert, die Frage nach dem Sinn von >Sein< neu gefragt und in den Horizont der Zeit zu stellen unternommen. Damit hat er die Eigenart der griechischen Denkerfahrung - und zugleich ihre Grenze - sichtbar gemacht. Ihre Grenze haben die griechischen Denker nicht selbst gedacht. Es war vielmehr der Horizont, von dem für sie alles umschlossen war, was ist: Sein war fur die Griechen Anwesenheit. Als der alte Heidegger auf einer Schiffsreise durch die Ägäis eines Morgens an Deck kam und aus dem Morgendunst langsam die Umrisse einer Insel auftauchen sah, war ihm, als hätte er zum ersten Male >Sein< wie die Griechen gedacht. Er schrieb mir damals: »Wir denken noch immer die griechische Welt nicht griechisch genug. « Das wollte wahrlich nicht sagen, daß wir selber wie die Griechen denken sollten. >Sein< kann fur uns nicht nur Anwesenheit meinen. Das war schon fur den jungen Heidegger, der sich damals als christlicher Theologe verstand, seine Grunderfahrung und der tiefste Antrieb seines Fragens, daß er sich in der Schulsprache der Philosophie nicht selber verstehen konnte. So stellt er eine kühne Forderung an das Denken. Man müsse im Denken so viel wagen, wie die Griechen in ihrem Denken gewagt haben. Sein Wagnis war, >Sein< - und wenn man es »Seyn« schreiben müßte - als Zeitwort zu denken. Mit seiner Forderung hat Heidegger an Hegel angeknüpft, der den griechischen Denkern der Frühzeit nachgerühmt hat, daß sie sich auf die hohe See des Denkens gewagt hätten. Wenn wir verstanden 18
Siehe >Destruktion und Dekonstruktion< in Ges. Werke Bd. 2, S. 361-372.
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haben, daß griechisches Denken Sein als Anwesenheit versteht, können wir indes bei Hegel nicht stehenbleiben, wenn Sein als Anwesenheit in der Selbstbegegnung, in der Geistesgegenwart des Bewußtseins, gipfelt und wenn der Gott als Geist gedacht ist. Wir suchen auf unsere eigenen Fragen Antwort, und dafür befragen wir nicht nur die griechische, sondern die gesamte Überlieferung unseres philosophischen Denkens. So war es gewiß keine Willkür, wenn Heidegger von Aristoteles aus immer wieder das Gespräch mit Parmenides gesucht hat. Zwar war dessen Lehrgedicht in homerischen Hexametern geschrieben, und das nicht ohne eine gewisse poetische Kraft, wie sie das erhaltene Proömium beweist. Dafür gab es noch keine Begriffe. Gleichwohl begegnet in diesen Versen zum ersten Male so etwas wie eine Begriffsbildung, sofern dort in der Gegensetzung zum Nichts, dem μή ôv oder dem ουκ öv, der Singular το öv begegnet. Das ist so etwas wie ein Begriff. Welches Seiende ist denn damit gemeint? Wenn auch zunächst aus dem Munde einer Göttin, ist das doch ein neuer Schritt der Abstraktion, etwa gegenüber gewissen Vorläufern des Plurals von τα όντα oder τα πάντα. Mit der Schärfe der Konzentration auf το öv als das Eine und Einzige des Seins ringt sich der Begriff los 19 . Man darf natürlich nicht in den naiven Fehler verfallen, den die Lehrbücher begehen, wenn sie im Gegensatz zu Thaies, der das Wasser, und Anaximenes, der die Luft für das Erste erklärt, nun dem Anaximander nachrühmen, daß er das >Apeiron<, das Grenzenlose, als eine Begriffsschöpfung gemeint und gedacht habe. Wohl aber dürfen wir es bei den Eleaten tun. Das bestätigt sich vor allem durch Piatos Aufnahme des Eleatismus. So kritisch dieselbe auch war, zeigt sie doch gerade, wie damals das >unsterbliche Pathos der Logoi< erfahren wurde. Im Kampf mit der Sophistik und Rhetorik erwacht die Logik und die Dialektik, die auf dem Grundriß der Physik und Metaphysik des Aristoteles die kommende Weltepoche der Philosophie bestimmen sollte. Plato und Aristoteles haben sich am Leitfaden der Sprache dem Unterscheiden der Begriffe zugewandt, Plato in der Dialektik der Dihairesis, Aristoteles mit dem Analogiebegriff und dem Begriffskatalog (Met. Δ), der seine Begriffssprache registriert, wie sie im griechischen Sprachgebrauch begegnete. Heidegger behält für die Griechen recht. Das >Sein< wird als Anwesenheit verstanden, wie jene am Morgen auftauchende Insel und wie die Evidenz der zeitlosen Wahrheit, die den Griechen in der Mathematik und in allen ihren logischen Funktionen aufgegangen ist. Das war der erste Schritt zur Wissenschaft, der Europa den Weg gewiesen hat. Aber >Wesen< ist nicht nur das Sein des Seienden, wie in der Metaphysik des Aristoteles und der Logik Hegels, sondern ist das, was in allem Seienden >anwest<. 19
Vgl. dazu >Parmenides oder das Diesseits des Seins< in Ges. Werke Bd. 7, S. 3-31.
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Doch es ist hier nicht der Ort, erneut darzustellen, wie die Begriffssprache der Metaphysik den spekulativen Winken der Sprache gefolgt ist. Das ist für Heidegger wohlbekannt. Er hat die festgewordene Begriffssprache der antiken und neuzeitlichen Schulmetaphysik durch Neuschöpfungen flüssig zu machen gewußt, noch mehr, als schon Hegel das durch seine Dialektik anstrebte. Man kennt Heideggers Hang zu Wortspielen und seinen Rückgriff zu Etymologien. Aber daneben ist er den großen Wegbereitern der deutschen Sprache gefolgt, Meister Eckhart, Martin Luther, Leibniz und Kant, und am Ende hat er mit einer fast exegetischen Treue die Sprache Hölderlins in sein denkendes Gespräch aufgenommen. Auch zeigt sein Interesse am Japanischen und Chinesischen, wie sehr er nach Vorgaben auf der Suche war, durch die ihm Sprache helfen könnte, neue Denkwege zu bahnen. Auch Heidegger folgt im übrigen, wie wir alle, unserer alltäglichen Sprache, die uns geläufig ist. Aber es gilt immer wieder, das Geläufige aufzubrechen, wo neue Fragen über uns kommen. So ist es eben mit dem sprachlichen Grunde des Denkens. Sprache begründet nicht, sondern öffnet Wege. Wer spricht, wählt seine Worte, weil er Antwort sucht. Jeder Versuch des Denkens ist ein Versuch zum Gespräch, und das gilt vollends für die Philosophie, die über durch Erfahrung Feststellbares hinausfragt. Man weiß nie, ob man nicht auf dem Holzwege ist und umkehren muß. Hegel hat sich weit hinausgewagt und ging oft bis zu Aristoteles zurück, Heidegger noch weiter. Wittgenstein besaß das Genie der Metapher. Aber am Ende bleibt Sprache auch im Philosophieren Gespräch - Gespräch der Seele mit sich selber oder auch mit dem Anderen. Philosophie kennt keine wahren Sätze, die man nur zu verteidigen hat und die man als die stärkeren zu erweisen sucht. Philosophieren ist vielmehr eine beständige Selbstüberholung aller ihrer Begriffe, wie ein Gespräch eine ständige Selbstüberholung durch die Antwort des Anderen ist. Deshalb gibt es eigentlich keine Texte der Philosophie in dem Sinne, in dem wir von literarischen Texten sprechen - oder von Gesetzestexten oder von der Heiligen Schrift. So wahr sich die Erfahrung der Menschen unter den geschichtlichen Bedingungen ihres Lebens und ihrer Schicksale bildet, so formen sich die Worte und Antworten, die neue Fragen zu stellen erlauben. Daher ist die Geschichte der Philosophie ein durchgehender Dialog mit sich selbst. Die Philosophen haben keine Texte, weil sie wie Pénélope ihr Gewebe immer wieder auftrennen, um sich fur die Heimkehr ins Wahre aufs neue zu rüsten.
Platonischen Dialogen. Es liegt auch in der aristotelischen Begriffssprache, die der Vielfältigkeit von Bedeutungen nachspürt. Immer ist es Sprachgebrauch, der am Ende Begriffswert entstehen läßt. Die Abstraktionskraft der Griechen hat dazu geführt, daß die Mathematik, die sich in Ägypten wie in Babylon bereits zu praktischen Zwecken entwickelt hatte, zur Wissenschaft wurde. Die Abstraktionskraft der Griechen hat aber auch in Astronomie, in Erdbeschreibung, in Medizin die Wege zur Begriffsbildung gebahnt und hat am Ende Logik und Dialektik reifen lassen. Für die europäische Kultur mag es dabei eine nicht geringe Rolle gespielt haben, daß die Griechen das im Orient erfundene Alphabet bis zu wahrer Sprechbarkeit weiterzuentwickeln verstanden haben. Die Wissenschaftskultur begann damit, daß sich auf diesem Grunde, in der beginnenden Wiederaufnahme der antiken Kultur, die wir die Renaissance nennen, die mathematischen Naturwissenschaften zu der Sondergestalt der >empirischen Wissenschaft entwickelt haben. Sie hat den Begriff von Wissenschaft und von Methode neu bestimmt und selbst der Philosophie aufgezwungen. Die Erinnerung an die griechischen Anfänge läßt nun aber den Zusammenhang von Ritual und philosophischer Sprache mit besonderer Anschaulichkeit hervortreten. Nach der Einführung der alphabetischen Schrift behält die griechische Kultur auf lange hinaus eine überwältigende Mündlichkeit. Erst die mathematische Grundlegung dessen, was in der Neuzeit Wissenschaft wurde, brachte die Auflösung der alten Einheit von Kult, Ritual, Gesang und Sprache, Rhetorik und Poetik, und am Ende von Wissenschaft und Philosophie. Die Rhetorik, die große Bildungsmacht des Humanismus, war bereits in ihrer sophistischen Erscheinungsform von Plato zurückgebunden, aber damit auch legitimiert und vertieft worden. Mit der neuzeitlichen Begründung der mathematischen Naturwissenschaften setzte dagegen eine Entwicklung ein, die für den Bildungsauftrag der Rhetorik keinen Platz mehr ließ und sie zu einem Makel machte, der eigentlich ganz beseitigt werden sollte. Der Wandel des Begriffs der Methode führte dazu, >Weg zur Vergewisserung< zu sein, und das gibt implizit dem Begriff des Subjektes, des Bewußtseins, des Selbstbewußtseins eine Schlüsselstellung, die den Rückblick aufdas griechische Denken und seine bleibende Bedeutung dauerhaft beirren sollte. Das lehrt am Ende ein großes Beispiel, Natorps >Platos Ideenlehre< (1903). Natorp hat im Geiste des Marburger Neukantianismus mit Scharfsinn und Konsequenz den Wissenschaftsbegriff der Neuzeit in die platonische Philosophie hineinprojiziert. Daß das einseitig war, hat Natorp selber im Nacbwort zur zweiten Auflage von >Platos Ideenlehre< (1921) ausgesprochen und die neuen Horizonte angedeutet, in denen der wahre und tiefe Sinn der Ideenlehre seinen Ort finden könnte. Der Ort war die Schlüsselstellung der Sprache.
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Nun ist gewiß die Begriffsbildung, die zur Metaphysik und ihren Folgen geführt hat, eine Sonderentwicklung der Griechen und ihres Erbes. Die Worte, die sich aus der Sprache anbieten, haben im lebendigen Sprachgebrauch oft viele Bedeutungen und erhalten ihren Begriffswert erst durch die Unterscheidung, die sich im denkenden Gespräch bewährt. Das geschieht beispielhaft in der Unermüdlichkeit des Fragens des Sokrates und in den
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Plato hatte keinen Begriff des Subjekts. Wenn man vom >Sein< redet oder >Sein< meint, kann man nicht anders, als sich in die Logoi zu flüchten. So stellen die höchsten »Gattungen« des Seins in dem Gespräch über den Sophisten durchaus nichts dar, was die Idee einer Ableitung aus einem letzten, obersten Prinzip bedeuten könnte. Auch wenn man noch so sehr die zurückhaltenden Spiele Platonischer Dialogdichtung in Rechnung stellt, bleibt doch die Rekonstruktion eines Systems der Philosophie ein Anachronismus. Das Paradigma der Zahlenreihe und die zwei >Prinzipien< der Eins und der Zwei sind auf unleugbare Weise auf die Dualität bezogen, in der Sein nicht nur als das Eine, sondern ebenso ursprünglich als das Andere und als die Vielfalt der Unterschiede sichtbar wird und als Identität und Differenz zur Sprache kommt 20 . Daß Plato seine gesamte Philosophie, soweit sie überhaupt schriftlich überliefert ist, dem Gespräch eines Sokrates oder seiner Partner in den Mund gelegt hat, hat Schleiermacher als erster in seiner Bedeutung wiedererkannt. Im Siebenten Brief, wo Plato ausdrücklich die schriftliche Fixierung philosophischer Rede ablehnt, sieht er den entscheidenden Punkt beim Gebrauch aller Kommunikationsmittel der Worte und der Modelle im Gespräch im Zusammenleben (iν τω σνζψ) und der sich aus dem Zusammenleben ergebenden möglichen Einsicht21. Sprache meint den Anderen und das Andere und nicht sich selbst. Das bedeutet, daß die Verdeckung der Sprache als Sprache ihren Grund in der Sprache selbst hat und der menschlichen Erfahrung mit Sprache überhaupt entspricht. Sie geht nicht in einer bestimmten Ausdeutung auf, etwa in der angeblichen metaphysischen Ideenlehre oder der sogenannten Zweiweltenlehre. Das scheint mir jenseits allen möglichen Zweifels. So muß man die Frage so stellen, wie wir sie seit der Phänomenologie mit erneutem Bewußtsein stellen, ob Philosophie wirklich nichts anderes sein soll als die Rechtfertigung und Begründung der Wissenschaften, oder ob Philosophie nicht vielmehr mit dem Ganzen der Lebenswelt des Menschen mit innerer Notwendigkeit verbunden ist. Die Rolle, die Sprache fur die Philosophie spielt, entspricht völlig Wittgensteins Kritik an der Privatsprache und bestätigt den Primat des Gesprächs. Gewiß geht es in allem um die rätselvolle Untrennbarkeit und Nachbarschaft von Denken und Sprechen. Wenn man freilich im Sprechen nichts anderes sieht als die Verlautbarung der schon still für sich in sich hineingesprochenen Gedanken,'hat man das wirklich Rätselhafte im Wesen der Sprache gründlich verkannt. Humboldt sprach von der Sprachfähigkeit des Menschen, und immerhin konnte man von da aus dem feststellbaren 20 Siehe dazu meinen Beitrag über >Platos ungeschriebene Dialektik< in Ges. Werke Bd. 6, S. 129-I53.
Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache
Befund der Sprachenvielfalt gerecht werden. Sprache ist eben ein lebendiges System, das sich jeweils in einer jeden Menschengesellschaft ins Offene weiter entwickelt, sich bereichert oder auch verarmt. Sprache hat also ohne Zweifel an der Universalität teil, mit der unser Denken alles Denkbare zu umfassen und zu durchmessen trachtet. Hier muß man wohl die Frage wagen, ob die griechische Denkweise dem Problem der Sprache überhaupt gewachsen sein konnte. Das Griechische hatte für >Sprache< ja nicht einmal ein Wort, und die fremden Sprachen waren fur es Rhabarber. In Wahrheit ist jede Sprache Tausch von Rede und Antwort und ist nicht allein ein Wortgefecht oder ein Spiel wie das mit gegebenen Steinen oder Argumenten. Das Gespräch ist mehr. Gewiß kann dieses Mehr auch ein Weniger sein. So unterliegt alles menschliche Sprechen der Verfallsmöglichkeit des Miteinander. Das ist das Gespräch, wenn es eine bloße Form des Konformismus wird, in dem man sich durch den Tausch von Frage und Antwort zu gemeinsamen gegenseitigen Anpassungen zu bewegen sucht. Das sind gewiß auch Gespräche, in denen man sich austauscht, aber es ist kein wahres Miteinander. Das wahre Gespräch ist ein gelebtes Miteinander, in dem sich einer und ein anderer vereinigen. Seinerzeit habe ich unter Heranziehung der Augustinischen Trinitätsspekulation den stoischen Begriff des >nicht ausgesprochenen Logos« (λόγος ένδιάθετος) benutzt, der noch nicht in die Verschiedenheit der Sprachen zerfällt und auf den geheimnisvollen Sinn von >Prozeß< hinleitet22. Diesen Problemen näherzukommen, schienen mir Überlegungen über das Verhältnis von Schriftlichkeit und Sprachlichkeit von Bedeutung. Schriftlichkeit, und damit auch Verständlichkeit und Verständigung in Schrift, beruht auf der Basis fixierbarer Rede — und das bereitet unzweifelhaft1 eine gewisse Gemeinsamkeit vor. Doch gerade hier wird deutüch, worin Schriftlichkeit zurückbleibt. Ich erinnere an den schon öfters erwähnten Exkurs in Piatos Siebentem Brief, der den unheilbaren Mangel aller Schriftüchkeit mit Nachdruck darstellt. Dabei läuft es am Ende darauf hinaus, daß der Sinn aller schriftlich fixierten Darlegungen noch von etwas anderem getragen wird, das nur im lebendigen Gespräch vermittelt wird. Es zeigt sich etwa, wie ich meinerseits hervorhebe, an der falschen oder richtigen Betonung, von der es abhängt, ob der gemeinte Sinn überhaupt herauskommt. Aber auch andere Phänomene sind an der Übermittlung beteiligt, wie Eindringlichkeit, Intensität, Tonverstärkung oder auch Tonabschwächung — und vor allem leises Zweifeln und leises Zögern. Das sind alles Dinge, fur die es keine Sprachzeichen gibt und die kein Alphabet vermittelt. Man sieht daran, was Sprache in der Form von Schrift nicht leisten kann oder zumindest nicht in der gleichen Weise leistet, solange es von der bloßen
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Vgl. >Dialektik und Sophistik im Siebenten platonischen Brief«, Ges. Werke Bd. 6, S. 90-115.
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>Wahrheit und Methode« (Ges. Werke Bd. 1), S. 422ff.
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Fertigkeit des Schreibens abhängt. Vielmehr bedarf es dazu einer besonderen Kunst, der schweren Kunst des Schreibens. Man kann die kommunikative Rolle der Gestik an einer allgemein gemachten Erfahrung illustrieren. Es ist im Telefongespräch sehr viel schwerer, Zweifel oder Zögern oder gar, wenn man nicht die Wahrheit sagen will, zu verbergen. Es kommt deutlich heraus, eben weil keine Gestik mitwirkt, welche die Stimmschwankungen einzuhüllen hilft. —Ein anderes allgemeinbekanntes Beispiel für die Grenze der Schrift ist die Ironie. Wie sich eine ironische Äußerung von einer, die wir ernstgemeint nennen, unterscheidet oder wie vielleicht auch eine scherzhafte Bemerkung sich von einer ernsthaften unterscheidet, das läßt sich nicht mit den Kriterien und aus den Evidenzen einwandfrei erfassen, über die die Schrift verfügt. So zeigt sich, wie die eigentlich sprachlogische Funktion alles Sprechens und des Gesprächs noch von etwas anderem getragen wird, das über einen größeren Reichtum von kommunikativen Mitteln und Wegen verfugt. Wenn das so ist, daß Sprache im Gespräch ist und nur so sein kann, was sie ist, und wenn das wahre Gespräch ein Miteinander einschließt, müssen wir es unter den Grundbegriff der Partnerschaft stellen. Das ist ein Wortvorschlag, der an den griechischen Begriff der >Methexis< erinnert. Der Ausdruck >Partnerschaft< deutet an, das Miteinander besteht nicht im Geteiltsein der Parteien, sondern in der Gemeinsamkeit von Teilnahme und Anteilnahme. In ebenso weitem Sinne ist auch der Bereich von Gespräch zu verstehen. Partnerschaft hat nicht nur zwischen dem einen und dem anderen, zwischen der Äußerung und der Entgegnung, zwischen Frage und Antwort statt, sondern in der allgemeinen sprachlichen Verfaßtheit des menschlichen Lebens. Gewiß ist es beim Tasten nach der gemeinsamen Sprache, in der die Menschen miteinander Verständigung suchen, oft so, daß die Verständigung nur dahin fuhrt, daß abweichende Meinungen und Überzeugungen der beiden Partner herauskommen. Auch dann sieht man es fur ein gewinnbringendes Gespräch an, und so ist es mit allem sprachlichen Austausch. Ja, dasselbe gilt sogar von jedem stillen Gespräch, das man mit sich selbst fuhrt, und so auch mit dem Gespräch, das dort einsetzt, wo ein Werk der Kunst einen angesprochen hat und wo dann ein nicht so leicht abzubrechendes Gespräch seinen Fortgang nimmt. Man sucht auch da im Gespräch eine Gesprächsbasis. Das gilt von allen Verhandlungen zwischen Menschen, von geschäftlichen Beziehungen, und es ist ein Fragen und Antworten in all solchen Beziehungen, die weit über das hinausreichen, was wir zum sprachlichen Ausdruck bringen. Da ist es durchaus nicht immer so, daß erst eine förmliche Definition den Gebrauch eines Begriffes gemeinsam macht. Noch weniger bedarf es einer Letztbegründung, von der aus alles sich beweisen läßt. Es ist vielmehr ein fester
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Hinblick auf das wahrhaft Gemeinsame, dem man angehört und den wir einzuhalten suchen. Da kann man nicht zweifeln, daß solcher Hinausblick über das wirklich Geäußerte stets hinausliegt. Es ist so etwas wie die Idee und insbesondere wie die Idee des Guten, die der platonische Sokrates unermüdlich sucht, ohne an ihr zweifeln zu können. Darin liegt nicht die Setzung von etwas, das in unverbindlicher Allgemeinheit oder fur den Anspruch wissenschaftlicher Gewißheit seine Legitimation finden kann. Wenn philosophisches Gespräch so ist, so sage man nicht, daß damit der Weg der Philosophie zur Wissenschaft ungangbar geworden sei. Wissenschaft ist nicht im Lehrbuch, sondern im Wagnis der Forschung. Gerade die Entwicklung der abendländischen Wissenschaft, deren Anfange in der Mathematik lagen, kann das bestätigen. Da ist nicht die Rede von einem geschlossenen System alles Wißbaren und Beweisbaren und von seiner letzten Begründung. Plato wußte wohl, -warum er den Überschritt über das Beweisbare >Dialektik< genannt und der Kunst des Gesprächs anvertraut hat. Plato scheint mir hier eine dauerhafte Bestätigung zu leisten, auch wenn die Logik der Forschung und damit diejeweilige Begrenztheit der wissenschaftlichen Aufklärung und der Aufklärung durch Wissenschaft' das spezifisch -neuzeitliche Pathos der Forschung ausmacht. Piatos Kunst des Gesprächs scheint mir die große Mitgift, die uns die abendländische Geschichte in dem Moment bereithält, in dem sich die großen, einander fremden Kulturkreise in all ihrer Vielfalt des Wesens einander ins Auge zu blicken beginnen. Wenn Plato keinen Begriff fur >Sprache< besitzt, der dem unsrigen genau entspricht, so daß Logos leicht in >Denken<, Sinn, Vernunft usw. übergehen konnte, schließt das nicht aus, daß in Wahrheit sein ganzes Denken sprachlich gegründet war, nämlich auf die Logoi, wie der >Phaidon< deutlich macht. Das muß gerade auch für die Zahlentheorie beachtet werden. Wenn Aristoteles in seinem Bericht über die ungeschriebene Lehre die Eins und die Zwei als die Prinzipien (άρχαί) benennt, ist das im Grunde eine Kurzformel von λόγος und damit fur Sprachlichkeit. Wie Sprache im Denken in den • λόγοι, aber nicht als solche Thema war, so ist auch >Forschung< und ihre unlösbare Nähe zur Wissenschaft ein erst mit den neuzeitlichen Erfahrungswissenschaften geborener Ausdruck. Deshalb darf man nicht in den Irrtum 'verfallen, die Eidos-Philosophie als solche mit dem HypothesenbegrifFder modernen Wissenschaft gleichzusetzen, wie Natorp getan hat. Wenn auch die Sprachverfassung des Denkens und seiner Begriffsbildung ins Offene vorgreift, sind hier nicht Expeditionen ins Unbekannte gemeint. Denken ist vielmehr ein Wiedererkennen des Gemeinten im Unterscheiden. Χσγαν διδόvm heißt nicht, den Grund oder gar die Letztbegründung angeben, sondern >Rede stehem. Es ist ein sehr enger Begriff von Wissenschaft, der gewiß die Größe des griechischen Aufschwungs des Denkens und die Rolle des Beweises in der
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Mathematik zum Ausdruck bringt, der aber ebenso sicher in der Frage nach drti letzten Anfangen, den >Prinzipien<, wie die Tradition sagt, überhaupt keine Kompetenz mehr hat. Hier nicht genügend unterschieden zu haben ist wohl der entscheidende Einwand, der gegen die Fortentwicklung der Transzendentalphilosophie durch Fichte und die anderen geltend zu machen ist. Die Pragmatisten, die Empiristen, die kritischen Realisten sowie die von Dilthey ausgehende hermeneutische Phänomenologie stimmen allesamt in der Kritik am Idealismus überein, und besonders an der Form, in der die Wiederaufnahme Hegels am Anfang unseres Jahrhunderts Platz gegriffen hat. Wenn man einen positiven gemeinsamen Nenner dem Ideal der Letztbegründung gegenüber angeben soll, sollte man wohl lieber an den Begriff des Sprachspiels denken. Der Spielbegriff hatte schon bei Kant und Schüler sowie unter den Vorläufern der Romantik Widerhall gefunden und dann vor allem durch Nietzsche Geltung erlangt, dessen »Weltspiel« wie ein zitternder Schatten über das Jahrhundert fallen sollte, in dessen ersten Tagen Nietzsche in seine letzte Verdunkelung versank. Es lag nahe, in der allmählich durchdringenden Kritik an der neukantianischen Transzendentalphilosophie der Dimension der Sprache grundlegende Bedeutung zuzuerkennen. Damit verlor das Ideal einer Universalsprache das Ideal von Leibniz und seine logische Wiederaufnahme durch Russell - an Geltung, ebenso wie die Selbstverständlichkeit des Systembegriffs in der Schulphilosophie. Kierkegaard hat in unserem Jahrhundert dabei eine neue entscheidende Rolle gespielt. So ist trotz Husserl das Ideal der Letztbegründung ins Wanken gekommen. Man konnte die Zentralstellung der Sprache angesichts der ausgebreiteten Mannigfaltigkeit der Sprachen mit diesem Ideal nicht leicht versöhnen, wenn man Wilhelm von Humboldts Entwurf und dem weithin wirksamen Erbe folgen wollte, das der modernen Sprachwissenschaft von ihm hinterlassen war. Der Versuch, beides zu vereinigen, stellt die >Philosophie der symbolischen Formern Ernst Cassirers dar. Freilich, wenn man sich mit Wilhelm von Humboldts Begriff der Sprachfahigkeit begnügt, kann man seinen idealistischen Hintergrund weithin gelten lassen. Aber was soll hier >Fähigkeit< heißen? Und worin soll die Einheit dessen liegen, was in dieser wunderbaren Vielfalt gewachsener und gewordener Sprachen zum Ausdruck kommt? In der bewußtseinstheoretischen Thematik des transzendentalen Idealismus blieb der Sprache immer nur eine sekundäre Funktion. Herder wurde lediglich als ein unglücklicher Kritiker Kants behandelt. Indessen muß es den Versuch immer wieder lohnen, die geheimnisvolle Nähe zwischen Vernunft und Sprache in die Thematik der Philosophie aufzunehmen. Das ist ein Anliegen der hermeneutischen Wende, die von der neuen Mittelstellung der Sprache im Denken unseres Jahrhunderts ihren Ausgang nahm. Kann man die transzendentale Wendung auf das Ganze der sprachlichen Welt ebenso in Anspruch nehmen,
wie Kant an die neue Newtonsche Wissenschaft die Frage gerichtet hat: Wie ist reine Naturwissenschaft möglich? Kant hat mit seiner Deduktion der reinen Verstandesbegriffe darauf seine kritische Antwort gegeben, und er hat von der Kritik an der traditionellen Metaphysik aus eine neue Grundlegung der Metaphysik anzubieten gewußt. Es war die im Vernunftfaktum der Freiheit erkannte Grundlage, die sich fur das Ganze des neuzeitlichen Denkens insoweit als tragfähig erwies, als es jeden Beweis im Sinne theoretischer Erkenntnis und ebenso jede Bestreitung der Willensfreiheit als Ignoratio elenchi ad absurdum führte. Gewiß hat das das Denken des W.Jahrhunderts nicht daran gehindert, unter dem Auftrieb der neuzeitlichen Wissenschaften Determinismus oder Indeterminismus als Weltanschauungen zu etablieren. Aber schon der Ausdruck >Determinismus< zeigt an, daß der positive Sinn von Freiheit hier verkannt war - und damit das Apriori der Sprachlichkeit, das die weltöffnende Dimension der Möglichkeiten und das Vernunftfaktum der Freiheit vereinigt23. In meinen eigenen Überlegungen stelle ich demgegenüber die Frage, ob nicht Erziehung und Gesittung die Rationalität der praktischen Vernunft mit ausmacht? Jedenfalls ist Rationalität durch den Begriff der Argumentation zu eng charakterisiert. Die Rationalität der praktischen Vernunft schöpft ihre normative Kraft nicht so sehr aus Argumenten wie aus dem, was Aristoteles >Ethos< nennt, das heißt aus der Prägung des emotionalen Lebens, das in Erziehung und Gesittung praktische Vernunft am Werke zeigt. Aber die normative Kraft der praktischen Vernunft ist nicht die der Stärke der Argumente, sondern verdankt sich eher langsamer Prägung der Lebensrichtung, die schon vor dem Erwachen zu sprachlicher Kommunikation im Gange ist und sich im Hineinwachsen in die sprachliche Gemeinschaft Vollends entfaltet. Zeugnis der immanenten Rationalität der Muttersprache ist, daß von diesem muttersprachlichen Boden aus der Mensch auch andere Sprachen zu lernen vermag und in ihnen leben kann. So handelt es sich hier nicht um eine Grenze der Rationalität, sondern es ist eine sehr andere Rationalität als die des in wahren Sätzen bestehenden Wissens. Sie ist als eine
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23 KARL-OTTO APEL hat in seinem zweibändigen Werk ^Transformation der Philosophie< (Frankfurt 1973) mit weiter Umsicht und großem Scharfsinn zur Verteidigung des Sprachaprioris die Kommunikationsgemeinschaft als das wahre Apriori der Sprachlichkeit geltend gemacht. Wenn er das Gemeinsame aller Rationalität nur in Argumenten sucht, wird man ihm gewiß zustimmen, daß es nicht die emotionalen Bestimmungskräfte der Leidenschaft sein können. Aber gilt das nur für die Interpretationsgemeinschaft der Wissenschaftler? Das aber heißt, daß alles menschliche Miteinandersein und die Verständigung in Sprache nicht nur mit Wissenschaft oder gar nur mit der Gemeinschaft der Wissenschaftler im Stile von Peirce zu tun hat. Solches ist höchstens ein Spezialfall in der elementaren Gemeinsamkeit, die in aller sprachlichen Verständigung liegt. Wahrheit ist nicht nur Satzwahrheit.
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andere Art von Erkenntnis (άλλο είδος γνώσεως) in der Lebenspraxis am Werke. Darin erkenne ich die entscheidende Einsicht des Aristoteles, Ethos und Logos als zwei Seiten desselben Einen zu denken. Die Nähe von Vernunft und Sprache bewährt sich nicht zuletzt in der vielfältigen Verschränkung von Ethos und Logos, mit der der Mensch in das unberechenbare Spiel der Welt eingefugt ist. Ethos ist eben im menschlichen Miteinander nicht einfach Gewöhnung und Vertrautheit, wie sie die Lebensweise der Tiere charakterisiert (dieim Griechischen auch >Ethos< heißt). Das menschliche Ineinander von Ethos und Logos habe ich eben wegen dieser seiner rational-normativen Seite durch den Begriff des Rituals zum Ausdruck gebracht, dessen Einhaltung und Erfüllung es als >richtig< charakterisiert. Die Bezugnahme auf die griechische und im besonderen auf die aristotelische Begriffsbildung soll nicht den Eindruck erwecken, als sei mit der Unterscheidung von theoretischem Wissen und praktischem Wissen das letzte Wort gesprochen. Es ist eher ein erster Schritt, den übrigens auch der junge Heidegger von seinen frühen Aristoteles-Studien aus (1922) getan hat, den Horizont der Seinsfrage, der zu dem Universum Sprache gehört, angemessen zu erweitern. Die neuzeitliche Diskussion über das Verhältnis von Theorie und Praxis, die durch den Brückenschlag der angewandten Wissenschaft bzw. der Technik bestimmt ist, darf nicht darüber täuschen, daß das Universum Sprache noch ganz andere Bereiche einschließt, und das ist es, was ich bei meiner Heranziehung des Rituals der Sprache im Auge habe. Was Aristoteles die >dianoetischen< Tugenden nennt und wenn er die Weisheit (σοφία) als Vollendung des Wissens und die Vernünftigkeit (φρόνψις) als Vollendung praktischen Sich-Verhaltens unterscheidet, meint er beides als Aspekte des Logos. Weder ist das theoretische Wissen durch den Begriff der modernen Wissenschaft angemessen illustrierbar, noch enthält das vernünftige Sich-Verhalten der Klugheit (>prudentia<) das wahre Wesen der Rationalität des Ethos, die — mit Sokrates - im aristotelischen Denken gemeint ist. Wohl aber läßt sich an der Zusammengehörigkeit und Verschiedenheit dieser beiden Weisen von Rationalität das herrschende Seinsdenken der Griechen in helles Licht stellen. >Theoria< bedeutet im griechischen Denken die Unmittelbarkeit des Anschauens, gleichsam das Aufgehen im >Da< des Angeschauten. Die Rationalität des praktischen Sich-Verhaltens besteht ebenso keineswegs nur in dem, was wir >Vernünftigkeit< nennen. Es ist 24
Vgl. Eth. Nie. Ζ 9, 11423^; Eth. Eud. θ 1, 1246b36- Diesem Thema habe ich seit
meiner frühen Arbeit über Praktisches Wissen< (jetzt in Ges. Werke Bd. 5, S. 230-248) eine Reihe von Beiträgen gewidmet. Siehe u.a. >Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik< in Ges. Werke Bd. 4 (S. 175-188), >Probleme der praktischen Vernunft< in Ges. Werke Bd. 2 (S. 319-329) und besonders die Aristoteles-Arbeiten in Ges. Werke Bd. 7: >Die sokratische Frage und Aristoteles« (S. 373-380) sowie >Aristoteles und die Imperativische Ethik< (S. 381-395).
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vielmehr die sittliche Vernunft gemeint, die das, was sich gehört (ας δει), weiß — das, was als das sittlich Richtige und Nonnkräftige einem vorschwebt, das man im Auge hat und das man in die konkrete Situation hineinsieht. Für dieses Gemeinsame des Allgemeinen und des Einmaligen gebrauchen die Griechen den Ausdruck >Nous<, das Gewahren und Wahren dessen, was da ist. >Sein< bedeutet für die Griechen >Da<, wie Heidegger nach meiner Überzeugung richtig gesehen hat, und das nennt Heidegger >Anwesenheit< (το παρόν). >Nous< ist dann die Helle, in der das steht, was ist und sich zeigt. Man versteht von da die Rolle, die das Göttliche im Denken der griechischen Metaphysik spielt25, und damit auch die Rühmung, die das dem Schauen und Wissen gewidmete Leben in ihrem Denken erfährt. Es ist gleichsam eine höchste Art von Freiheit, Wachheit und Offenheit für das, was ist, das dem griechischen Seinsgefiihl ein Höchstes an vollendeter Wachheit, Helligkeit und Leichtigkeit des Daseins verleiht. So hat Aristoteles das theoretische Lebensideal geradezu als »Sich—über—den—Tod-Erheben, soweit es den Menschen möglich ist« gepriesen26. Wir kennen das nur noch in der abgeschwächten Form vom »unsterblichen Ruhm«. Ein solcher Gottesbegriff wie der aristotelische spiegelt eben einen Seinsstand des Göttlichen, der anders ist als das menschliche Dasein, fur das nicht ständige Wachheit und Schauen all dessen, was ist, gilt - nicht Allgegenwärtigkeit, sondern Versinken in Schlaf und Erwachen, nicht nur Helle, sondern auch Verdunkelung. Es gilt, das festzuhalten: Sein ist nicht nur Anwesenheit. Was ist das für ein Sein, das sich zeitigt, jeden neuen Morgen beginnt und sich mit jedem neuen Beginn aufs neue einrichtet, und all das im Miteinander von Sprache und Ritual, vom >Guten Morgen< bis zur >Guten Nacht<, in der das Selbstgespräch und Gespräch mit anderen und all die Rituale symbolischer Handlungen im Dunkel versinkt, wie in das Dunkel des Todes. All solches soll >richtig< sein. Wir müssen auf das Wort genau hinhören, das wir in solchen Zusammenhängen gebrauchen. Es meint nicht Übereinstimmung mit einer vorschreibenden Regel, sondern im Gegenteil die richtige Anwendung von Regeln. Was wir überall mit >richtig< meinen, geht über das Vorgegebene und Vorgeschriebene hinaus und weist in diese Richtung: sich richtig benehmen; das richtige Urteil fallen; das richtige Wort finden; den richtigen Rat geben; verstehen, was ein richtiges Gebet ist; einen Text richtig lesen; ein richtiges Gespräch führen; mitgehen mit dem Gedicht, das man liest oder sich aufsagt; mitgehen mit der Musik; mitgehen mit der Szene auf der Bühne—und so ist alles Aufgehen in Wort und Bild. Das ist 25
Siehe dazu auch meinen Beitrag >Ober das Göttliche im frühen Denken der Griechen« in Ges. Werke Bd. 6, S. 154-170. 26
Eth. Nie. K 7 , n77b33:έφ'δσονενδέχεταιάθανατίζεη.
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die Vollzugswahrheit des leibhaften Miteinander, in dem das Universum der Sprache sein Leben fuhrt: »Der Mensch, in stiller Nacht, steckt sich Licht an-sich selber« (Heraklit)27.
Bibliographische Nachweise Genannt sind nur die ErstveröfFentlichungen. Die Beiträge selbst erscheinen in überarbeiteter Form.
1. Ästhetik und Hermeneutik. Vortrag, gehalten auf dem 5. Internationalen Ästhetik-Kongreß in Amsterdam 1964. Erstdruck in: Algemeen Nederlands Tijdschrift voor Wijsbegeerte en Psychologie 56 (1964), S. 240-246.
2. Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins. Beitrag fur das Ästhetik-Symposium in Venedig 1958. Erstdruck in: II Giudizio estetico. Atti del simposio di estetica - Venezia 1958, hrsg. von Luigi Pareyson. Padova: Edizioni della Rivista di Estetica 1958, S. 14-23.
3. Dichten und Deuten. Vortrag, gehalten auf der Frühjahrstagung der Darmstädter Akademie fur Sprache und Dichtung vom 25.-27. April 1960 in Tübingen. Erstdruck in: Jahrbuch der Deutschen Akademie fur Sprache und Dichtung 1960 (1961), S. 13-21.
4. Kunst und Nachahmung. Nach einem 1966 im Mannheimer Kunstverein gehaltenen Vortrag Erstveröffentlichung in: Kleine Schriften Bd. II: Interpretationen. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1967, S. 16-26.
5. Von der Wahrheit des Wortes. Vorlage zu einem Kolloquium 1971 an der Universität von Toronto/Canada. Bisher ungedruckt.
6. Zur Poetik und Hermeneutik: Lyrik als Paradigma der Moderne · Die nicht mehr schönen Künste. Rezensionen der im Wilhelm Fink Verlag erscheinenden Reihe >Poetik und Hermeneutik -Arbeitsergebnisse einer Forschungsgruppe«. Band II: Immanente ÄsthetikÄsthetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, hrsg. von Wolfgang Iser (München 1966). In: Philosophische Rundschau 15 (1968), S. 291-299. Band UI: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, hrsg. von Hans Robert Jauß (München 1968). In: Philosophische Rundschau 18 (1971), S. 58-62.
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Fr. 26: οηιδρωηοςένεύψρόντιψάοςαιαεταιέαντψ.. .
7. Ü b e r den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit. Nach einem Rundfunkvortrag am 18. April 1971 im Südwestfunk. Erstdruck in: Zeitwende 42 (1971), S. 402-410.
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Bibliographische Nachweise
8. Dichtung und Mimesis. Zuerst erschienen unter dem Titel »Dichtung und Nachahmung« in: Neue Zürcher Zeitung, 193.Jg., Nr. 186 (Fernausgabe) vom 9.Juli 1972, Beilage >Literatur und Kunsfc, S. 53.
9. Das Spiel der Kunst. Nach einem Rundfunkvortrag unter dem Titel >Der wahre Schein der Kunst< am 30. März 1975 im Deutschlandfunk. Erstdruck in: Kleine Schriften Bd.JV: Variationen. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1977, S. 234-240.
10. Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest. Oberarbeitete Fassung von Vorlesungen, die unter dem Titel >Kunst als Spiel, Symbol und Fest< während der Salzburger Hochschulwochen vom 29. Juli bis 10. August 1974 gehalten wurden. Erstdruck der ursprünglichen Fassung in: Kunst heute. Salzburger Hochschulwochen 1974, hrsg. von Ansgar Paus. Verlag Styria Graz/Wien/Köln 1975, S. 25-84. Die überarbeitete Fassung erschien zuerst als selbständige Veröffentlichung unter dem Titel >Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest< im Philipp Redam Verlag Stuttgart 1977 (77 S.).
11. Ästhetische und religiöse Erfahrung. Vortrag aufdem Internationalen Kongreß für Ästhetik 1964 in Amsterdam. Erstveröffentlichung in: Nederlands Theologisch Tijdschrift 32 (1978), S. 218-230.
12. Reflexionen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft. Erstdruck in: Rudolf Bultmanns Werk und Wirkung, hrsg. von Bernd Jaspert. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1984, S. 295-300.
13. Mythos und Vernunft. Erstdruck in: Gegenwart im Geiste. Festschrift für Richard Benz, hrsg. von Walther Bulst und Arthur von Schneider. Christian Wegner Verlag Hamburg 1954, S. 64-71.
14. Mythos und Logos. Erstdruck in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft (Enzyklopädische Bibliothek), 2. Teilband. Verlag Herder Freiburg/Basel/Wien 1981, S. 8-12.
Bibliographische Nachweise
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18. Ende der Kunst? - Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst bis zur Anti-Kunst von heute. Vortrag, gehalten in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste im Mai 1984. Erstdruck in: Ende der Kunst - Zukunft der Kunst, hrsg. von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Deutscher Kunstverlag München 1985 (Kunstgeschichte und Gegenwart), S. 16-33.
19. Die Stellung der Poesie im System der Hegeischen Ästhetik und die Frage des Vergangenheitscharakters der Kunst. Erstdruck in: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik, hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler (Hegel-Studien Beiheft 27). Bouvier Verlag Herbert Grundmann Bonn 1986, S. 213-223.
20. Philosophie und Poesie. Erstdruck in: Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel zu seinem 60. Geburtstag, hrsg. von Herbert Anton, Bernhard Gajek und Peter Pfaff. Carl Winter Universitätsverlag Heidelberg 1977, S. 121-126. 21. Philosophie und Literatur. Erstdruck in: Was ist Literatur? (Phänomenologische Forschungen, Bd. 11). Verlag Karl Alber Freiburg/München 1981, S. 18-45. 22. Stimme und Sprache. Vortrag 1981 am Romanistischen Seminar der Universität Heidelberg. Bisher ungedruckt.
23. Hören - Sehen - Lesen. Vortrag, gehalten auf dem Symposium zu Ehren Rudolf Sühneis vom 30. Juni bis 2. Juli 1982 im Anglistischen Seminar der Universität Heidelberg. Erstdruck in: Antike Tradition und Neuere Philologien. Symposium zu Ehren des 75. Geburtstages von Rudolf Sühnel, hrsg. von Hans-Joachim Zimmermann (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1983, Abh. 1). Carl Winter Universitätsverlag Heidelberg 1984, S. 9-18.
24. Lesen ist wie Übersetzen.
16. Der Mythos i m Zeitalter der Wissenschaft. Erstdruck in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft (Enzyklopädische Bibliothek), 2. Teilband. Verlag Herder Freiburg/Basel/Wien 1981, S. 20-29.
. Vortrag, gehalten auf dem Michael-Hamburger-Symposium am 3. und 4. Juni 1987 im Deutsch-Amerikanischen Institut in Heidelberg. Erstveröffentlichung auf italienisch unter dem Titel >Leggere è corne tradurre< in: MondOperaio. Rivista mensile del Partito socialista italiano 19 (1988), Nr. 2, S. 119-121. Erstdruck auf deutsch in: Michael Hamburger - Dichter und Übersetzer. Beiträge des Michael-HamburgerSymposiums am Deutsch-Amerikanischen Institut Heidelberg, hrsg. von Walter Eckel und Jakob J. Köllhofer (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXXIX, Bd. 3). Verlag Peter Lang Frankfurt/Bern/New York/Paris 1989, S. 117-124.
17. Anschauung und Anschaulichkeit. Erstdruck in: Anschauung als ästhetische Kategorie (Neue Hefte für Philosophie 18/ 19). Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1980, S. 1-13. Erweiterte Fassung.
25. Der >eminente< Text und seine Wahrheit. Vortrag, gehalten auf der Jahrestagung der Midwest Modern Language Association im November 1978 in Minneapolis. Erstveröffentlichung auf englisch unter dem
15. Mythologie u n d Offenbarungsreligion. Erstdruck in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft (Enzyklopädische Bibliothek), 2. Teüband. Verlag Herder Freiburg/Basel/Wien 1981, S. 13-19.
444
Bibliographische Nachweise Titel >The Eminent Text and Its Truth< in: The Bulletin of the Midwest Modern Language Association 13 (1980), Nr. 1, S.3-10. Erstdruck auf deutsch in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Heft 57 (1986), S. 4-10.
26. Ober die Festlichkeit des Theaters. Vortrag, gehalten 1954 zum 175jährigen Bestehen des Mannheimer Nationaltheaters. Erstveröffentlichung in: Mannheimer Hefte 1954, Heft 3, S. 26-30. 27. Begriffene Malerei? - Z u A. Gehlen: Zeit-Bilder. Erstveröffentlichung unter dem Titel >Wissenschaftliche Malerei?<, Walter Bröcker zum 60. Geburtstag gewidmet, in: Philosophische Rundschau 10 (1962), S. 21-30.
Bibliographische Nachweise
33. Musik und Zeit. Ein philosophisches Postscriptum. Erstdruck unter dem Titel >Ein philosophisches Postskriptunv in: Wo Sprache aufhört . . . Herbert von Karajan zum 5. April 1988, hrsg. von Heinz Götze und Walther Simon. Springer-Verlag Berlin/Heidelberg/New York 1988, S. 149-153.
34. Heimat und Sprache. Vortrag, gehalten anläßlich der 9. Baden-Württembergischen Literaturtage in Karlsruhe vom 21. Juni bis 5. Juli 1991. Erstdruck unter dem Titel >Rückkehr aus dem Exil« in: Grenzüberschreitungen. Baden-Württembergische Literaturtage in Karlsruhe, hrsg. von Regine Kress-Fricke. Edition G. Braun Karlsruhe 1992, S. 123-131.
35. Wort und Bild — >so wahr, so seiend«. 28. Vom Verstummen des Bildes. Vortrag, gehalten bei der Eröffnung der Ausstellung des Künstlerbundes RheinNeckar in Heidelberg 1965. Zuerst erschienen in: Neue Zürcher Zeitung, 186. Jg., Nr. 139 (Fernausgabe) vom 22. Mai 1965, S. 21.
29. Bild und Gebärde. Oberarbeitete Fassung eines Einfuhrungsvortrages zu der 1964 in Leverkusen veranstalteten Ausstellung von Werner Scholz, >Die Mythologie der Griechen<. Erstdruck in: Kleine Schriften Bd. II: Interpretationen. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1967, S. 210-217.
30. Über das Lesen von Bauten und Bildern. Teilabdruck unter dem Titel >Hermeneutik und bildende Kunst< in: Neue Zürcher Zeitung, 200. Jg., Nr. 218 (Femausgabe) vom 21. September 1979, Beilage Literatur und Kunst<, S. 29-30. Vollständige Fassung zuerst erschienen in: Querschnitt Kulturelle Erscheinungen unserer Zeit, hrsg. von Hanno Helbling und Martin Meyer. Verlag Neue Zürcher Zeitung Zürich 1982, S. 65-73. Sodann unter dem Titel >Uber das Lesen von Bauten und Bilden» in: Modernität und Tradition. Festschrift für Max Imdahl um 60. Geburtstag, hrsg. von Gottfried Boehm, Karlheinz Stierle und Gundolf Winter. Wilhelm Fink Verlag München 1985, S. 97-103.
31. Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt. Ein Studiumgenerale-Vortrag. Vortrag, gehalten im Rahmen des Studium générale im Sommersemester 1990 an der Universität Heidelberg. Erstdruck in: Sprache. Vorträge im Sommersemester 1990, hrsg. von der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Heidelberger Verlagsanstalt Heidelberg 1991, S. 165-175.
32. Grenzen der Sprache. Vortrag auf einer Tagung 1984 in Bad Herrenalb. Erstdruck in: Evolution und Sprache. Ober Entstehung und Wesen der Sprache, hrsg. von Wolfgang Böhme (Herrenalber Texte 66). Eigenverlag Karlsruhe 1985, S. 89-99.
445
Entstanden 1991. Erstveröffentlichung.
36. Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache. Entstanden 1992. Erstveröffentlichung.
Namen Adorno, Th. W. 122,192,211,226 Aischylos 65,140 Allemann, Β. 53 Altdorfer, A. 102 Ambrosius 269,272 Anaxagoras 425 Anaximander 429 Anaximenes 429 Apel, K.-0.437 Apollinaire, G. 58,60 Archenholtz, J. W. v. 66 Aristoteles 29-34,39,45,50,54,67,80, 83f., 91,103f., 114,133,172f., 191, 223,232,238,241 f., 260,271,277,306, 322,351-355,380-383,385-389,391 f., 394 f., 403-406,411,414,418,425f., 429f., 435,437 flf. Auerbach, Ε. 68 Augustinus 37,269,272,359,418,433 Austin, J. L. 38 Baader, F. v. 277 Bach,J. S. 95,140,212 Bacon, F. 426 Baeumler, A. 108 BalzacH.de 232 Baudelaire, Ch. 284 Baumgarten, A. G. 107ff.,189 BeaufretJ. 418 Becker, 0.204,255 Beckett, S. 293 Beckmann, M. 316 Beethoven 129 Belting, H. 398 Benjamin, W. 124,378 Benn, G. 19,53 Bergson, H. 277,355 Betti,E.254,393 Betti, U. 254 Bloch, E. 243 Blumenberg, H. 59,65,419 Boehm, G. 98
Bohr, Ν. 306 Braque, G. 118,307,319 Brecht, B. 100,115 Broch, H. 24 Bröcker, W. 29 Buber, M. 403 Büchner, G. 384 Bühler, K. 408,411 Burckhardt, J. 324 Calderon300 Callas, M. 142 Camap, R. 157 Cassirer, E. 40,168,202,401,436 Celan, P. 75,213,254,294,369 Cervantes424 Cézanne, P. 98,307,318,320 Cicero 280,422,426 Cohen, H. 241 Collingwood, R. G. 331 Comte, A. 207 Creuzer, F. 181,183 Croce, B. 66,279 Dante 72,180,284,293 Demokrit 425 Derrida, J. 248,275,417 ff. Descartes,R.86,312,404 Dickens, Ch. 177 Dieckmann, H. 68 Düthey, W. 270,276,388,401,436 Dionysos 187,300 Domin, H. 369 Dostojewskij, F. 75f., 118,156,232,283 Droysen, J. G. 4,66 Duchamp, M. 113 Dürer, A. 335 Ebner, F. 403 Meister Eckhart 430 Eliasberg, A. 283 Einstein, A. 306
448 Empcdokles66,425 Epikurl56,193 Ernst, M. 313 Euklid 358,404 Fabian, B. 66 Feuerbach, A. 214,324 Feuerbach, L. 156 Fichte, J. G. 89,189,202,280,436 Fiedler, K. 306,308 Flacius, M. 151 Flaubert, G. 232 Frank, M. 201 Freud, S. 156,158,188,403 Friedrich, H. 250 Frye, N. 43 Fubini, E. 27 Fuhrmann, M. 65
Galilei312,402,419 Gehlen, A. 136,305-314,315 George, St. 54,60,248,267,269,283 f., 295,336 Georgiades, Th. 48,363 Gethmann-Siefert, A. 221 Gk>rgione332ff. Giotto307 Goethe7f., 12ff., 20,62,70,72,77,80, 122,125,180,202,208,218,227,231, 248,273 ff., 278,290,322,324.337,344, 354,363,383,397,408 Gogarten, F. 403 Gogh, V. van 318,335 Gogol, N. 232,283 Gombrich, E. 398 GörresJ. 183 Gregord.Gr.95 Gris,J.26ff.,305,307f.,319 Guardini, R. 113 Gundolf,F.273f.,283 Gutenberg, J. 426 Habermas, J. 351 Haecker,Th.4O3 Hamann, J. G. 350 Hamann, R. 119 Härder, R. 405 Hartlich, Ch. 181 Hartmann, N. 401 Heem,J.D.de317
Namen
Namen Hegel 1,3,45,55f., 62ff, 66-69,78,80, 95-98,105,121,123 f., 127,137,162, 167,183,190,192,195 f., 201 ff., 206-209,211,214f., 219,221-231, 237ff., 243,256,287,311,326f., 331, 375f., 378,384,389,390f., 399f., 402, 428ff.,436 Heidegger, M. 38ff., 45,53,56,73,125, 157,162,167,200,207 f., 210,232,235, 239-243,252,275,278,295,343,346, 351,362,371,394,400f., 403f., 407 f., 413,418 f., 427-430,438 f. Heine, H. 60,68 Heisenberg, W. 344 Hempel, H. 68 Henrich, D. 60,62ff., 96,231 Heraklit 154,171,238,285,371,425,440 Herder, J. G. 180f., 232,256,351,354, 373,436 Hermes 4 Herodot66f.,70,172 Hesiod24,70,146f., 165,171,176f., 256, 287,325,421,425 Heyne, Ch.G. 181 Hölderlin, F. 14,24,52,54,77,180,183, 237,250,253,267,324,430 Hofmannsthal, H. v. 299 Homer 24,38,53,65,70,72,146 f., 159, 168,178,255 f., 265,273,293,325 f., 330,421ff.,425 Hönigswald, R. 135 Horaz266 Hotho, H. G. 221-225,227 f., 384 Huizinga.J. 113 Humboldt, A. v. 344 Humboldt, W. v. 38,181,343,401,403, 432,436 Hume, D. 181 Husserl, Ε. 53,76,191,200,234,240f, 251,255,307f., 343,400ff., 404,406, 418,428,436 Imdahl, M. 68 Immermann, K. L. 98 Ingarden, R. 18,48,118,219,249,251,336 Iser, W. 68 Jaeger, W. 382 Jakobson, R. 250 Jaspers, K. 232,281 f. Jauß,H.R.60,67f.,204
Jean Paul 231 Jesus Christus 37,126,151,153,158,174, 178
Joyce, J. 25,239,424 Jung, C. G. 188 Jünger, E. 19 Kafka, F. 22,24,53,424 Kahnweiler, D.-H. 26,29,307 f. Kandinsky, W. 308,310,313 Kant2f., 9f., 12,29f., 89,109-112,117, 119ff., 133,157,166,189-204,208,211, 223f., 241 f., 249,252,275,307,311, 341,345f., 374,389,394f., 407,410, 430,436f. Kapp, E. 406 Kerényi, K. 130,187 Kierkegaard, S. 5,226,232,375,403,436 Klee,P.308f.,322 Kleist, H. v. 427 Klenze, L. v. 209 Klopstock, F. G. 293 Koller, H. 127 Kommerell, M. 112 Kopernikus, N. 384 Koselleck, R. 66,102 Kracauer, S. 66 Lacan, J. 361 Lao-Tsel44 Lasson, G. 221 Leibniz, G. W. 342,408,430,436 Leonardo da Vinci 13 Lesky, A. 159,326 Lessing, G. E. 112,122,373f. Lévi-Strauss, C. 188 Levinas, E. 419 Lipps, H. 404 Lorenzen, P. 426 Lowth, R. 181 Lucan65 Lukâcs, G. 293 Lukrezl58 Luther, M. 37,74,126,153,262,403,430 Macke, A. 313 Maeterlinck, M. 266 Malewitsch, K. 28,319 Mallarmé, St. 78,149,235,239,249,253, 257,269,308
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Malraux, A. 110,138 Mann, Th. 24 Marc, F. 313 Marcel, G. 232 Marées, H. v. 98,214,308 Marquard, 0.68 Marx, K. 156 Maurer, R. 68 Meier, Ch. 66 Melissos425 Merleau-Ponty, M. 232 Milton, J. 72,293 Minerva 26 MiroJ. 215 Mnemosyne 101,136,378,399,423 Mondrian, P. 152,305,310,313 Monet, C. 215 Moore, H. 215 Mörike,E.255,363 Mozart 376 Müller, G. 65 Müller, M. 186 Murait, A. de 402 Musil, R. 24,269,294 Natorp, P. 384,401 f. 431,435 Newton, 1.402,437 Nietzsche, F. 50,92,136,158,165,184, 207,232,240,271,324,353,377,403, 416-419,436 Nolde, E. 49 Nostitz, H. v. 261 Nötzel, K. 283 Novalis 153,180,277,343 Ödipus23,152 Odysseus422 Otto, W. F. 130,187,2%, 298,325 Overbeck, F. 62 Ovid366 Parmenides 171,370,411,425,429 Pascal, B. 156 Paulus 178 Paz, 0.285 Peirce, Ch. S. 437 Picasso, P. 28 f., 118,215,305,307,313, 319,335 Pindar52,256,266 Plato 16,31,34 f., 45,61,80,82ff, 103-106,108,122,146,166,172f., 185, 191,211,224,232ff, 237ff, 245f.,
450
Namen
255f., 258f., 262,265,287,293,315, 334,359,381 ff, 385 f., 391,394,405, 418,426,429,431 ff., 435 Pleines, J.-E. 395 Plessner, H. 136,355 Plotin391 Pound, E. 60,311 Preisendanz, W. 60,63,68 Proust, M. 25,293 Pythagoras, 29,33
Sokrates 172,244,350,382,426,430,432, 435,438 Sontag, S. 394 Sophokles 65,140,253 Sorel, G. 165,184 Staiger, E. 275 Stendhal, H. 232 Sterling, Ch. 318 Suirez, F. 402 Sühnel, R. 273
Raffael398 Rahsin, Ε. Κ. 283 Ramin, G. 215 Ranke, L. 67 Richards, I. A. 55 Ricœur, P. 43,248 Rilke, R. M. 19,125,168,215,248,261, 266f.,284,304,327 Rosenzweig, F. 403 Rotermund, E. 68 Rothacker, E. 67 Rousseau,J.J.351,353 Rücken, F. 62,231 RusseU, B. 343,436
Tacitus94 Talleyrand,C.M.de370 Tapies, A. 215 Taubes,J.65f.,68 Themistios354 Theuth244,258 Thomas v. Aquin402 Thorvaldsen, B. 117 Tieck, L. 48,269,274,283 Tiepolo, G. B. 311 Tizian 118 Tolstoi, L. 232 Trakl, G. 60,267 TredeJ. H. 199 Troeltsch, E. 163 Tschizewskij, D. 68
Sachs, W. 181 Saint-Simon, C.-H. de 165,184 Sartre, J.-P. 232 Saussure, F. de 188 Scheler, M. 136,240,400f., 405 Schelling, 63,162,182f., 187,202,277, 287,366,403 Schüler, F. 10,77,89,105,122,125,202, 204,227,248,253,300f., 359,425,436 Schlegel, A. W. 181,283 Schlegel; F. 181,280 Schleiermacher, F. 144,157,195,374,378, 432 Scholz, W. 328-330 Schopenhauer, A. 202,232,403 Schubert, F. 363,376 Schultze, B. 313 Schütz, H. 95,363 Sedlmayr, H. 16 Serra, R. A. 215 Shakespeare, W. 48,64,77,81,112,269, 273 ff, 283 Snell, B. 159,326
Udine,J.da318 Uexküll,J.v.313 Uhland, L. 183 Usener, HL 175,186 Valéry, P. 13 ff., 19,59,233,248,252,284, 290 Vasarely,V.6O Velizquez, D. 118,120,215 Vergü72,293,424 Vetter, Ε. Μ. 317 Vico, G. B. 59,180f., 256,406 Vitruv45 Voß.J. H. 181 Wagner, R. 184 Warburg, M. 55 Warren, A. 311 f. Weber, M. 156 f., 281,348 Wellek,R.311f. Wieland, C. M. 408 Wieland, W. 202
Namen Wilamowitz, U. v. 186 Winckelmann, J. ]. 64,80 Wittgenstein, L. 343,369,430,432 Wolf, F. A. 181 Wolf, H. 255,363
Wölfflin, H. 28 Yorck, P.Graf67,403 Zenon 425 Zwingli 126
451