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Hans-Georg Gadamer
Gesammelte Werke Band 9
Hans-Georg Gadamer
Ästhetik und Poetik II
Hermeneutik im Vollz...
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EIII 11
Hans-Georg Gadamer
Gesammelte Werke Band 9
Hans-Georg Gadamer
Ästhetik und Poetik II
Hermeneutik im Vollzug
J. c. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1993
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke / Hans-Georg Gadamer. - Tübingen: Mohr. NE: Gadamer, Hans-Georg: [Sammlung] Bd. 9. Asthetik und Poetik. -2. Hermeneutik im Vollzug. -1993 ISBN 3-16-146065-0
© 1993
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außcrhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Bembo-Antiqua gesetzt, auf alterungs beständiges Werkdruckpapier der Papierfabrik Gebr. Buhl in Etdingen gedruckt und von der Großbuchbinderei Heinr. Koch in Tübingen gebunden.
Vorwort Der vorliegende Band trägt den Titel )Hermeneutik im Vollzuge. Hier wird also nicht Literatur als ein Gegenstand zum Thema gemacht, wie etwa der Forscher seine Beispiele oder Belege unter einer bestimmten Fragestellung und mit dem ganzen Aufgebot wissenschafdicher Zurüstung behandelt. Hier ist meine Absicht allein, dem Vollzug zu dienen, durch den Dichtung zum Partner eines nachdenklichen Gesprächs zu werden vermag. Was das meint und warum das nottut, bedarf selbstverständlich philosophischer Rechtfertigung. Meine theoretischen Versuche hierzu werden im 8. Band meiner Gesammelten Werke vorgelegt. In diesem 9. Band soll die Stimme der Wissenschaft nicht als solche sprechen. Damit will· ich nicht sagen, daß es nicht für jeden Leser von Dichtung des Wissens bedarf, des sprachlichen wie des sachlichen Wissens. Das gilt vollends für einen Leser, der wie ich davon überzeugt ist, daß zwischen der Sprache der Dichtung und der Sprachfindung des philosophischen Gedankens eigentümliche Fäden hin und her laufen. An Dichtung teilhaben bleibt aber etwas anderes als Dichtung zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung machen. So ist der Titel )Hermeneutik im Vollzuge zu verstehen. Erst seit ich den Versuch einer hermeneutischen Philosophie in Arbeit genommen hatte, begann ich gelegentlich meinen eigenen Umgang mit Dichtung schriftlich zu fixieren. Die äußeren Anlässe dazu boten die aufreibenden Jahre, in denen ich nach dem Kriege als Rektor der Universität Leipzig die Erfahrung machen mußte, daß auch freie Wochenenden keine kontinuierliche Weiterarbeit an meiner philosophischen Arbeit erlaubten. Als Liebhaber der Dichtung kam ich in dieser Zeit darauf, die Erfahrung eines besinnlichen Lesers von dichterischem Wort anderen zugute kommen zu lassen, auch wenn dieser Leser eigentlich nichts anderes will als recht lesen und sich allenfalls noch Gedanken darüber machen, warum er eigentlich dem Wort der Dichtung so anhängt. So entstanden die ersten Sammlungen meiner literarischen Essays, wie ich solche nie zuvor geschrieben hatte. Im Insel-Verlag wurden sie erstmals unter dem Titel )Poeticae und später in erweiterter Form unter dem Titel )Gedicht und Gespräch< vorgelegt. Andere finden sich in dem zweiten Band meiner Kleinen Schriften, der den Titel )Interpretationene trug.
VI
Vorwort
All das ist jetzt in diesem Bande meiner Gesammelten Werke vereinigt. Dazu gehört auch mein kleines Buch über Paul Celans >Atemkristall(, das in der Bibliothek Suhrkamp den Titel )Wer bin Ich und wer bist Du?( trägt. Dies Büchlein enthält einen Leseversuch von besonders schwer verständlicher Dichtung. Durch sie sieht sich der Leser vor die unausweichliche Frage gestellt: Was muß der Leser wissen? Auf diese Frage kennt die Wissenschaft keine Antwort. Sie folgt ihrem eig~en Gesetz. Ohne Frage wird bei einem solchen besonders schwer verständlichen Text jeder Leser immer wieder an Lücken seines Wissens kommen, und auch ich mußte der literaturwissenschaftlichen Forschung viele Aufgaben überlassen. Dennoch verteidigt hier ein Leser seine eigene Hoheit, wenn es ihm nicht um Wissenschaft geht, sondern um Teilhabe an Dichtung. Auch diese folgt ihrem eigenen Gesetz. HGG
Inhalt
1. Hölderlin und die Antike (1943) 2. Hölderlin und das Zukünftige (1947)
20
3. Die Gegenwärtigkeit Hälderlins (1983)
39
4. Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins ,Andenken< (1987)
42
5. Goethe und die Philosophie (1947)
56
6. Goethe und die sittliche Welt (1949)
72
7. Vom geistigen Laufdes Menschen (1949)
80
8. Goetheund Mozart-das Problem Oper (1991)
112
9. Das Türmerlied in Goethes ,Faust, (1982)
122
10. Die Natürlichkeit von Goethes Sprache (1985)
128
11. Bach und Weimar (1946)
142
12. Prometheus und dieTragödie der Kultur (1946)
150
13. Der Gott des innersten Gefühls (1961)
162
14. Vergänglichkeit (1991)
171
15. Kar! [mmermanns ,Chiliastische Sonette< (1949)
180
VIII
Inhalt
16. Zu Immermanns Epigonen-Roman (1964)
193
17. GesangWeylas (1989)
207
18. Der Dichter Stefan George (1968)
211
19. Hölderlin und George (1971)
229
20. Ich und du die sei be seele (1977)
245
21. Der Vers und das Ganze (1979)
249
22. Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft (1983)
258
23. Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins (1955)
271
24. Poesie und Interpunktion (1961)
282
25. Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien (1967)
289
26. Rainer Maria Rilke nach 50 Jahren (1976)
306
27. Hilde Domin, Lied zur Ermutigung 11 (1966)
320
28. Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr (1971)
323
29. Die Höhe erreichen (1988)
329
30. Gedicht und Gespräch (1988)
335
31. Ernst Meister, Gedenken V (19n)
347
32. Denken im Gedicht (1990)
349
Inhalt
IX
33. Kafka und Kramm (1991)
353
34. Verstummen die Dichter? (1970)
362
35. Im Schatten des Nihilismus (1990)
367
36. Wer bin Ich und wer bist Du? (1986)
383
37. Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan (1975)
452
38. Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan? (1991)
461
Bibliographische Nachweise
470
Namenregister
477
1. Hölderlin und die Antike (1943)
Es ist die Auszeichnung der Antike in ihrer Wirkung auf die deutsche Kultur, daß sie mit dem Wandel unserer geistigen Geschicke auf geheimnisvolle Weise Schritt zu halten vermag. Wandelt sich sonst mit dem wechselnden Geiste der Zeit unser Geschichtsbild und die innere Wertordnung, die es setzt,so behält die Antike für unser geistiges Leben in beständiger Verwandlung dennoch den gleichen Rang einer uns übertreffenden Möglichkeit unsrer selbst. Es gibt heute wohl keine schärfere Probe auf die Wahrheit dieses Satzes, als die Frage nach dem Verhältnis Hälderlins zur Antike zu stellen. Denn es ist ein wahrhaftes, noch nicht abgeschlossenes Ereignis unseres geistigen Lebens, das mit der Erweckung des dichterischen Werkes Hölderlins in unserem Jahrhundert begann. Dieser Zeitgenosse Schillers und Goethes erweist sich immer mehr als der Zeitgenosse unserer eigenen Zukunft, dem insbesondere unsere Jugend, soweit sie Dichterwort zu hören weiß, mit leidenschaftlicher Vorbehaltlosigkeit folgt - ein schlechterdings einzigartiger Vorgang in der geistigen Geschichte der Neuzeit. Es ist die Geschichte eines um ein Jahrhundert aufgesparten Werkes. Schien schon der Wandel des Griechenbildes von Winckelmann bis zu Nietzsche die äußerste Spannweite des griechischen Wesens auszumessen - kein Zweifel, daß nach dem humanistischen und dem politischen Griechenbild unser Bild der Antike durch das Eindringen in die Welt Hölderlins erneut umgestal tet wird. Die Götter Griechenlands bekommen ein neues Gewicht. Ihre eigentliche Zuspitzung hat aber die Frage )Hölderlin und die Antike< darin, daß die dichterische Existenz Hälderlins mit einer Ausschließlichkeit, die ihn auch im Zeitalter des deutschen Klassizismus auszeichnet, von seinem Verhältnis zur Antike bestimmt ist. Sein dichterisches Werk so gut wie seine kunsttheoretischen Reflexionen sind als Ganzes gleichermaßen Stellen und schicksalvolles Austragen dieser Frage. Es ist also nicht ein beliebiger Bezug, einer unter anderen, so wie im Falle Goethes oder Schillers oder Kleists oder Jean Pauls, wenn man Hälderlins Bezug zur Antike untersucht. Man fragt damit nach dem Grunde seines Wesens und dem Ganzen seines Werks. Daher bliebe auch eine lediglich literarästhetische Untersuchung unangemessen, die dem Einfluß der antiken Dichter und Denker auf Höl-
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Hölderlin und die Antike
~erlin, auf sein Weltbild, seine Dichtersprache, seinen Stil, seine Stoffwelt nachginge. Gewiß ist Pindars Hymnendichtung eine wesentliche Voraussetzung der späten Hymnendichtung Hölderlins, ebenso wie der dauernde Umgang mit der antiken Tragödie wesentlich ist für sein ganzes eigenes Werk. Dennoch aber ist Hölderlins Dichtung nicht von dem aus zu begreifen, was als antike Bildungsüberlieferung auf ihn einwirkt. Eben das zeichnet ihn vor dem klassischen Weimar aus, daß ihm die antike Welt nicht als Bildungsstoff, sondern mit der Gewalt eines ausschließlichen Anspruchs begegnet. Zwischen Griechischem und Vaterländischem, zwischen, den antiken Göttern und Christus als dem Meister des hesperisch-germanischen Zeitalters besteht das standhafte Herz des Dichters Hölderlin. Es ist eine heutige Denkgewohnheit, uns übertreffende Spannweiten geistigen Seins in Phasen geistiger Entwicklung zu verkehren, die als solche unserm Verstehen erreichbar werden. Es muß daher als ein großes Glück bezeichnet werden, daß der Schöpfer der ersten großen Ausgabe, Norbert von Hellingrath, bereits der Auffassung entgegengetreten ist, die die vaterländischen Gesänge Hölderlins als eine Abkehr vom griechischen Vorbild verstehen wollte, als eine »hesperische Wendung«, die der Abkehr der deutschen Romantik vom klassizistischen Ideal ent~prächel. Hellingrath hat damit dem dichterischen Wesen Hölderlins seine wahre Spannweite erhalten - oder besser, er hat die Spannung zwischen Hellenischem und Vaterländischem als Ausdruck von Hölderlins eigenstern Wesen erkannt und als das Geheimnis seiner antik anmutenden Größe. Es wird daher angemessen sein, den Blick auf den eigentlichen Höhepunkt dieser Spannung zu lenken, auf die große Hymnendichtung der letzten Schaffensjahre des Dichters. Den Berichten nach scheint Hölderlin noch in den erstenjahren der Umnachtung unter der Gewalt dieser Spannung nachzuzittern. Der Hyperion-Roman umgekehrt, der ganz in Griechenland spielt, spiegelt die vaterländische Sehnsucht des Dichters in fremdem Gewande und in der fruchtbaren Verkehrung, die in der großen Scheltrede auf die Deutschen Gestalt gewonnen hat. Im großen Hymnenwerk der Spätzeit dagegen findet diese Spannung ihren dichterischen Ausdruck und im ständig erneuerten Versuch der dichterischen Verschmelzung aller lebendig erfahrenen Gewalten ihren Ausgleich. Innerhalb dieses dichterischen Spätwerks ist eine Hymne geradezu die Ausgestaltung dieses Zwiespalts, die Hymne .Der Einzige(:Z.
In der Vorrede des von ihm besorgten vierten Bandes seiner Ausgabe, S. XII. Mir lag bei Abfassung dieses Beitrages im Jahre 1943 nur die HEu.INGRATHsche Ausgabe vor, nach deren erster Auflage im folgenden zitiert wird (inzwischen ist stets die Große Stuttgarter Ausgabe von BElssNER zu vergleichen). Sowohl die spätere Entdeckung der .Friedensfeier. wie die dreifache Version der Ausführung des >Einzigen< waren nur in der Hellingrathschen Materialsammlung teilhaft enthalten. Mittlerweile sind diese Dinge viel untersucht worden. Man kann wohl kaum sagen, daß das Interesse an dieser Gruppe I
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Hölderlin und die Antike
3
Was ist es, das An die alten seligen Küsten Mich fesselt, daß ich mehr noch Sie liebe, als mein Vaterland? [... )
Wenn wir diese sogenannte Christushymne hören, so stellt sie uns offenbar ein Rätsel: Nicht die übermäßige Liebe zu den alten Göttern, die der Dichter eingangs bekennt (und dieses Bekenntnis wiederholt er in zahlreichen anderen seiner Gedichte), ist die Ursache des Fernbleibens Christi, sondern im Gegenteil: Schuld ist die übergroße Liebe zu Christus (v. 48ff.). Nicht, daß die Himmlischen einander eifersüchtig ausschlössen - der Hang des eigenen Herzens des Dichters, seine Liebe zu dem Einzigen ist der Fehl, der der Vereinigung Christi mit den alten Göttern entgegensteht. »Nie treff ich, wie ich wünsche, das Maas« (v. 77). In der Tat, dies ist es, was Hölderlin tiefer als irgendein anderer der großen Hellasfahrer der deutschen Seele erkannt und gestaltet hat: Nicht die Unerrullbarkeit ihrer Vorliebe rur das klassische Griechenland ist das Problem der deutschen Klassik, sondern umgekehrt, daß sich diese Vorliebe nicht vervon Gedichten der Spätzeit Hölderlins uns Leser - ich spreche nicht von den Literaturforschern, zu denen ich auch nicht gehöre - etwa nicht beschäftigt hätte. Die ganze Literatur nach 1914 ist in weitem Umfange von der Wirkung dieses groBen Hymnenwerks Hölderlins beherrscht. Das sollte man nicht vergessen. Inzwischen hat die historische Forschung, nicht zuletzt in dem hochgelehrten Kommentar von JOCHEN SCHMIDT (Hölderlins gcschichtsphilosophische Hymnen .Friedensfeier. - .Der Einzige< - .Patmos<. Darmstadt 1990), die reichen theologischen Quellen namhaft gemacht, auf denen die Theologie dieser Hymnen aufruht. - Ich wurde auf die neue Buchveröffentlichung von jochen Schmidt aufmerksam gemacht, weil darin auch eine kritische Anmerkung zu meinem eigenen wiederabgedruckten Aufsatz von 1943 zu finden ist. Diese Anmerkung las ich allerdings mit Verblüffung. Zwar habe ich an der hochgelehrten Untersuchung jeden Hinweis daraufvermißt, wie aus so viel Theologie ein großes Gedicht entstehen konnte. Aber das war ja auch nicht der Anspruch von jochen Schmidts Untersuchung. Dagegen war ich verwundert, daß er meine 1943 entstandene Untersuchung offenbar unter dem Vorzeichen gelesen hat, daß hier doch irgend welche Spuren des nationalistisch überhitzten ideologischen Klimas dieses Augenblicks zu fmden sein müßten. Es tut mir leid, davon nichts, aber auch gar nichts fmden zu können. Nicht ich bin dafiir verantwortlich, daß die Einleitung des .Einzigen. die Küsten Griechenlands und unser Vaterland in Gegensatz setzt. Aber meine Interpretation liegt durchaus und immer wieder ausdrücklich in der Zurückweisung des Gegensatzes von Klassisch und Vaterländisch und zielt sehr ähnlich wie in dem Sinne des Kommentars von jochen Schmidt auf den Gegensatz von Weltlichem und Pneumatischem. Freilich kann ich ihm nicht zustimmen, wenn er glaubt, daß der Hymnus einen Ausgleich zwischen diesen heiden spannungsvollen Gegensätzen zum Ausdruck bringen will. Das Gegenteil ist richtig. Dieser Ausgleich kann nicht gelingen. Das ist die leidvolle Erkenntnis, die der Dichter über die ihm durch sein Handwerk des Dichtens gesetzten Grenzen sich eingesteht. Ich hoffe, in anderem Zusammenhang auf die vonjochen Schmidt mit großer Sorgfalt interpretierte zweite reinschriftliche Fassung des .Einzigen. meinerseits zurückkommen zu können.
4
Hölderlin und die Antike
einigen lassen will mit dem Hang des Herzens, das seine abendländischchristliche und vaterländische Art an den »seligen Küsten loniens« nicht zu vollenden vermag. Wir wollen versuchen, am Leitfaden dieses Gedichtes Hölderlins Erkenntnissen nachzudenken, und so Hölderlins Stellung zur Antike wie unsere eigene Stellung besser begreifen lernen. Im Hinblick auf den bruchstückhaften Charakter der Hymne werden wir Motive der späteren Fassung (IV 231 ff.), die ganz Entwurf geblieben ist, zur Erklärung mit verwenden. Der Dichter beginnt mit seiner Philosophie, was ihm das griechische Leben gegenüber dem Leben in seinem Vaterlande auszeichnet: daß dort die Götter unter den Menschen erscheinen, mit ihnen sich vermählen, daß Gottes Bild »lebet unter den Menschen« (v. 27). Die Klage um das Ende dieses göttlich erfullten Tages der Griechen ist uns der vertrauteste Klang der Hölderlinschen Dichtung, ein Klang, der den Hyperion-Roman durchtönt und die herrlichen Sehnsuchtsbilder der großen Elegien, wie )Archipelagus< und )Brot und Wein<, hervorgezaubert hat. Aber auch die unablässige philosophische Selbstbesinnung des Dichters sagt deutlich, was er am griechischen Leben und warum er es so liebt: daß dort jeder »mit Sinn und Seele der Welt angehörte« und daß gerade daraus eine eigene Innigkeit in die Charaktere und Verhältnisse kam, während bei den modernen Völkern eine »Gefühllosigkeit für gemeinschaftliche Ehre und gemeinschaftliches Eigenthum« herrscht, eine »Beschränktheit«, die sie alle - und vor allem die Deutschen - auch innerlich lähmt (III 366). Von dieser allgemeinen Einsicht her gewinnt Hölderlin ein grundsätzlich positives Verhältnis zur Philosophie seiner Zeit. Er sieht nämlich das Amt des Kantisch-Fichteschen Idealismus und seiner Weckung der »großen Selbstthätigkeit der Menschennatur« in der Erziehung zur Allgemeinheit - und erblickt darin eine freilich einseitige, aber als »Philosophie der Zeit« die richtige Einflußnahme (I1I 367). Allerdings sei von dieser Allgemeinheit, die zu Pflicht und Recht zusammenknüpft, noch ein gewaltiger Schritt bis zur Lebensweise der Alten. »Aber wie viel ist dann zur Menschenharmonie noch übrig?« (I1I 370). Die Alten bedurften dessen nicht, was den Heutigen die Philosophie leisten muß. Bei ihnen war der Kreis des Lebens, worin sie mitwirkend und, mitleidend sich fühlten, weit genug, daß ein jeder daraus Zuwachs seines Lebens empfmg. Hölderlin erläutert dies durch einen Vergleich mit dem Krieger, der, »wenn er mit dem Heere zusammenwirkt, muthiger und mächtiger sich fühlt, und es in der That ist« (I1I 368). Dies den Einzelnen nicht nur in seinem Gefühl, sondern als wirkliche Seinsmacht übertreffende, als Sphäre, in der alle Menschen zugleich leben, ist ihre» gemeinschaftliche Gottheit« (III 263f.). So sagt eine Randschrift zu einer Dichtung geradezu: »Die Sphäre, die höher ist als die des Menschen, diese ist der Gott« (IV 355). Es ist ja eine allgemeine Erkenntnis, daß bei den Griechen alle Verhält- .
Hölderlin und die Antike
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nisse religiös waren, alle jene »feinem, unendlichen Beziehungen des Lebens«, wie Hölderlin sagt. die wir in unserer aufgeklärten Moral oder Etikette mit unseren »eisernen Begriffen« regeln (I1I 262f.). Was hier •• religiöse« Verhältnisse heißt. nennt Hölderlin »solche. die man nicht so wohl an und für sich als aus dem Geiste betrachten müsse. der in der Sphäre herrsche, in der jene Verhältnisse stattfinden«. Dieses der Anwesenheit göttlicher Mächte ausgesetzte und in ihrem Namen ausgelegte Leben, wie es die Griechen lebten, ist nun, nach Hölderlin, gegenüber dem modernen •• Schneckenleben« des auf Ordnung und Sicherheit Bedachten im Recht, d. h., es ist die eigentlichere Erfahrung der Lebendigkeit des Lebens. Nun nennt der Dichter diese Liebe zum griechischen Göttertag in der Hymne .Der Einzige< ein Gebücktsein (oder Verkauftsein) in eine »himmlische Gefangenschaft«. Gefangenschaft aber ist ein Erleiden der Fremde. Was ist das für ein Leiden? Wieder bietet uns eine theoretische Studie Hölderlins ihre Hilfe an, die überschrieben ist: .Der Gesichtspunct, aus dem wir das Altertum anzusehen haben< (I1I 257-259). Dort ist von der •• Knechtschaft« die Rede, »womit wir uns verhalten haben gegen das Altertum«, eine Knechtschaft, die so umfassend und erdrückend sei, daß alle unsere Rede von Bildung und Frömmigkeit, von Originalität und Selbständigkeit nur ein Träumen sei, bloße Reaktion, •• gleichsam eine milde Rache gegen die Knechtschaft
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Hölderlin und die Amike
und den Sinn aller kunsttheoretischen Bemühungen, die wir in seinen Prosaentwürfen, seinen sogenannten philosophischen Schriften, finden. Diese am antiken Vorbild erarbeiteten Versuche betreffen fast alle den gleichen Gegenstand, den Unterschied der Dichtungsarten, bekanntlich ein von den Alten mit Strenge innegehaltenes Prinzip. Eben diese Strenge der alten Dichter aber ist es, von der sich der Dichter rur sich selbst Segen erhofft3. In ihren praktischen Verfahrungsweisen sind ihm die alten Dichter vorbildlich. Bezeichnend heißt es in der Vorrede seiner Sophokles-übersetzung, sie sei ein Geschäft, das »in fremden, aber festen und historischen Gesezen gebunden« sei (V 91)4. Die )Anmerkungen zum Odipus( beginnen geradezu mit der Forderung einer Poetik nach griechischem Muster (V 175). In einem Brief an einen jungen Dichter klingt dies an, wenn er sagt: D Und darum ehr' ich den freien, vorurtheilslosen, gründlichen Kunstverstand immer mehr, weil ich ihn für die heilige Aegide halte, die den Genius vor der Vergänglichkeit bewahrt« (III 466). Diese Vorbildnahme Hölderlins am griechischen Kunstverstand ist aber keineswegs ein Bekenntnis zum Klassizismus. Im Gegenteil, gerade im Studium der Alten ist ihm die Erkenntnis gekommen, wie er in dem berühmten Brief an Boehlendorffvom 4. Dezember 1801 (V 314ff.) schreibt, •• dass ausser dem, was bei den Griechen und uns das höchste sein muss, nemlich dem lebendigen Verhältniss und Geschik, wir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen. Aber das Eigene muss so gut gelernt seyn wie das Fremde. Desswegen sind uns die Griechen unentbehrlich. Nur werden wir ihnen gerade in unserm Eigenen, Nationellen nicht nachkommen, weil [... ] der freie Gebrauch des Eigenen das schwerste ist«. Es ist wohl deutlich: Die Kunsttheorie ist mehr, als sie scheint, sie ist die wesentliche Form der Selbstbefreiung des Dichters aus der Knechtschaft der Alten. Dasselbe sagt uns der letzte Brief an Schiller, wo er vom Studium der griechischen Literatur sagt, er habe es fortgesetzt, »bis es mir die Freiheit, die es zu Anfang so leicht nimmt, wiedergegeben hatte« (V 311). Das Befreien »vom Dienste des griechischen Buchstabens «, dessen er sich am Ende rühmt, führt zu einer grundsätzlichen Unterordnung des Griechischen unter das Vaterländische, die in den )Anmerkungen zur Antigonä( in tiefsinniger Gegenüberstellung behauptet wird (V 257ff.). Vgl. etwa III 463. Vgl. V 331. Diese Stelle habe ich im Erstdruck dieser Arbeit zu Unrecht als Beleg für die Vorbildnahme am griechischen Kunstverstand zitiert. BEISsNERs Deutung des »gegen. (Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen. Stuttgart 21%1, S. 168) hätte ich folgen sollen. Nicht nur der Sprachgebrauch verlangt, daß mit »gegen. die Richtung gemeint ist, auch inhaltlich bestätigt die Briefstelle, daß Hölderlin die griechische Einfalt gerade dadurch erreicht zu haben glaubt, daß er die rechte Freiheit vom griechischen Buchstaben gewonnen hat. Das Ziel will er mit »gegen die exzentrische Begeisterung. angeben. 3
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Hölderlin und die Antike
7
Dieser Weg der Kunstreflexion Hölderlins ist also in der Tat ein Weg der Befreiung aus der Knechtschaft der Alten. Aber ist diese Knechtschaft und . diese Befreiung die gleiche, von der unsere Hymne spricht? Ist nicht die Brechung des Stilzwanges einer klassizistischen Asthetik etwas anderes als die überwindung jener allzu großen Liebe zum gotterfüllten Leben der Griechen? Nun war freilich auch von Bildung und Frömmigkeit oben die Rede (III 257). Und wenn der Verstand als die »heilige Aegide« bezeichnet wird, so ist damit nicht nur die poetische Reflexion gemeint. Das dichterische Wort ist das Wort überhaupt, und das Wort ist die Wirkung und Erfahrung des Göttlichen selbst, wie es gefaßt und »ausgeteilt« wird. Bindung des Geistes an die Erde ist nicht nur des Dichters Aufgabe, zu der ihm der Kunstverstand hilft, indem er »Junonische Nüchternheit« mit der Begeisterung vereinigt. Stets bedarf das begeisterte Ungestüm des Herzens der heiligen Ägide des ruhigen Verstandes, um sich vor den »Belaidigungen der Menschen« zu bewahren (111364). So kann Hölderlin angesichts des »heißen Reichtums« des menschlichen Herzens vom Menschen überhaupt sagen: »Dass er bewahre den Geist, wie die Priesterin die himmlische Flamme, diss ist sein Verstand« (IV 246). Aber jene übergroße Liebe zu Griechenland, die der Dichter dichterisch bekennt, soll sie überhaupt überwunden werden? Sie ist ja nicht eine Beugung unter klassizistisches Maß, sie ist vielmehr selbst schon Ausdruck der erworbenen dichterischen Freiheit. Die Klage, die sich nach Griechenland zurücksehnt und die entschwundenen Götter besingt, trägt in sich einen dichterisch verwandelten Sinn. Gerade indem sie sich verwehrt, die entschwundenen Götter zurückzurufen und Totes neu zu beleben s, wird offenbar, worin Götter noch gegenwärtig sind: Des Göttlichen aber empfiengen wir Doch viel. Es ward die Flamm uns In die Hände gegeben und Boden und Meeresfluth (.Versöhnender< v. 63 ff.).
So wird die Sprache der heimischen Landschaft, ihre schicksalsvollen Zeichen, Gebirg und Strom, in denen sich Erde und Himmel begegnen, Gegenstand eines neuen, des deutschen Gesanges. Das sind die »Engel des heiligen Vaterlands« (V 91), die der Dichter sich zu künden vorsetzt, die Mittler und Boten des Göttlichen. Diese vaterländische Wendung ist mithin gar nicht eine Abkehr vom alten Zug der Seele nach dem Orient, sie ist derselbe Zug des Herzens: Nicht sie, die Seeligen, die erschienen sind, Die Götterbilder in dem alten Lande, Sie darfichja nicht rufen mehr, wenn aber Ihr heimatlichen Wasser!jezt mit euch
---S
Vgl. den Anfang von .Gerrnanien< IV 181.
8
Hölderlin und die Antike Des Herzens Liebe klagt, was will es anders Das Heiligtrauemde? [... ] (IGermanien( v. 1ff).
Das Bekenntnis der Liebe zu Griechenland und die Klage um seine entschwundene Herrlichkeit gehören dieser dichterischen Erfahrung der Ilalllebendigen Gegenwart« - in der neuen Freiheit des deutschen Gesanges wesentlich zu. Ihr dankt diese Klage, daß ihr Künden von den alten Göttern mehr ist als ein klassizistischer Prunk, daß es lebendige Bilder aufruft. Eben hier aber, in der himmlischen Freiheit dieser Gefangenschaft in das Gewesen-Gegenwärtige, entspringt die andere Klage, daß Chri.stus fernbleibt, daß er sich versagt (IDer Einzige( v. 36ff.). Wem versagt er sich? Dem Gesang von Gottes Bild, also dem dichterischen Ruf. Ausdrücklich wehrt der Dichter ab, als beruhe das auf einer unversöhnlichen Eifersucht der Himmlischen gegeneinander. Es liege am Dichter, der zu sehr an Christus hänge, um ihn mit den anderen vergleichen zu können, zu sehr, um ihn als Gegenwärtigen, als» Welt«, singen zu können. Es hindert aber eine Schaam Mich dir zu vergleichen Die weltlichen MälUler (v. 6Off.). Wenn überhaupt, dann erscheint am ehesten der Vergleich mit Herakles und Dionysos begründet (v. 51 ff.). Denn sie alle drei sind Bringer einer neuen, besseren Ordnung: Herakles als der Reiniger der Welt von Ungeheuern, Dionysos als Stifter der Rebe, Zähmer der Tiere und Vereiniger der Menschen im Rausch, Christus als der Versöhnende, der neue Friedensbringer zwischen Gott und Menschen. Der Dichter selbst hat diesen Vergleich in der späteren Fassung der Hymne immer mehr zu stützen gesucht. Doch lehrt das Wort »Diesesmai«, mit dem der Entwurf der erweiterten Fassung abbricht (IV 234), daß auch jetzt noch das Zurücklenken zu den beiden Schlußstrophen beabsichtigt war, daß also das Mißlingen des Ausgleichs zwischen den weltlichen Göttern des Altertums und Christus das unveränderte Grundthema des Gedichtes geblieben ist6 • Im einzelnen bietet der neu hinzugetretene Teil manche Schwierigkeiten, bringt aber eine so wichtige Ausgestaltung des Vergleichs, daß seine Deutung versucht werden muß. Christus wird den »weltlichen Männern« darin gleichgestellt, daß auch er seine Stunde, seinen Schicksalsauftrag von Gott hatte, und somit genau wie jene »allein gestanden« ist. Sein »Gestirnll, d. h. sein Auftrag war, frei zu walten »über das Eingesezte«. Das Eingesetzte ist 6 Das Gesagte scheint mir richtig, auch nachdem die Große Stuttgarter Ausgabe die Überlieferung genauer darstellt. Lediglich die zweite Fassung der Hymne, die inhaltlich noch gam: der Entschlüsselung bedarf, scheint einen anderen Abschluß, aber auch ab v. 54 fast ein anderes Thema zu haben. Hier ist die neuere Forschung zu befragen.
Hölderlin und die Antike
9
das Positive der Satzung, in der der eigentliche Geist nicht mehr lebt bekanntlich das Hauptthema von Hegels >Theologischen Jugendschriften<. Hier wird das so ausgeführt, daß »das Beständige« des lebendigen Geistes vom "Geschäfftigen« überwachsen wird, und damit die "Kenntnisse« unverständlich werden. Auch das aber ist das Amt eines jeden dieser religiösen Helden, Feuer und Leben neu zu spenden, wenn »ausgeathmet das heilige Feuer« (>Versöhnender< v. 78). So heißt es auch hier: Nemlich immer jauchzet die Welt Hinweg von dieser Erde, dass sie die Entblösset; wo das Menschliche sie nicht hält (v. 72ff.). So zu halten und zu binden sind sie alle gekommen, insbesondere eben die Bringer einer neuen Ordnung wie Herakles und Dionysos. Daher heißt es: »So sind jene sich gleich.« Der Dichter zeigt ähnlich im Vorentwurf der späteren Fassung, daß er diese Gleichheit Christi mit den anderen gegen den christlichen Anspruch festhält: Auch Christus »hatja auch Eines gehabt, das ihn hinweggerissen ... «. »Jeder nemlich hat ein Schicksal, das ist« (ist's?) (IV 388). Nun wird in dunkler Art mit dieser Lehre von den Bringern und Bewahrern des Feuers die Versuchungs geschichte (Matth. 4) verbunden. Offenbar ist es die Wüste, die des Göttlichen entblößte Erde, die die christliche Versuchungsgeschichte hier heraufruft, und wieder nicht zur Unterscheidung, sondern, um ihn mit den anderen Ordnern der chaotischen Erde, mit Herakles und Dionysos, gleichzusetzen. Es ist auch in götterloser Zeit immer noch »eine Spur doch eines Wortes« geblieben. So weiß Christus die Versuchung durch den Teufel zu bestehen, weil für ihn noch nicht verloschen ist, was geschrieben stehe. Er ist ein Mann, der in der Wüste des erstarrten religiösen Lebens, in der er auftritt, die Spur eines Wortes noch zu erhaschen weiß und eben damit den Versucher abweist und das Amt des leidenden Erlösers annimmt 8 • Auch in der Folge bemüht sich der Dichter, Christus in seiner Vergleichbarkeit mit den anderen zu zeigen. Indem er ihn nicht etwa mit Apoll oder Zeus, sondern mit den Vergleichbaren, mit Herakles und Dionysos vergleicht, die auch schon anders sind als »andere Helden«, folgt er einem echten religionsgeschichtlichen Zusammenhang. Insbesondere Dionysos ist ihm eine wahrhaft brüderliche Erscheinung zu Christus, wie er denn schon in >Brot und Wein< (Str. 8 und 9) die dichterische Verschmelzung der beiden syrischen Freudenbringer und Weinspender gewagt hat. In der Tat scheinen diese drei sich gleich, »ein Kleeblatt«. Im Unterschied zu den anderen 7
8
Vgl. das dreimalige .. Es steht geschrieben« im Text des Evangeliums. Zu .Spuren« vgl. auch die »Spuren der alten Zucht« im ersten Pindarfragment (V
271).
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Hölderlin und die Antike
IIGroßen« sind sie einander nicht Ausschließende. Vielmehr schließt es sie zusammen und macht es »schön und lieblich [... ] zu vergleichen«, [... ] dass sie unter der Sonne Wie Jäger der Jagd sind, oder Ein Akersm2nn, der athmend von der Arbeit Sein Haupt entblösset, oder Bettler (v. 85ff.).
Das will sagen: Sie alle drei sind, was sie sind, mit einer sich selbst nicht zurückbehaltenden Hingabe an ihren Auftrag (»Jäger derJagdcc). Sie alle drei leiden, bestehen also gerade nicht auf sich und sind dadurch Gott: Man denke an Herakles' Mühen und an sein Ende; Dionysos ist der leidende und sterbende Gott des antiken Kultus. Dies vor allem verbindet die beiden mit Christus, der »siegend blickend« starb (,Patmos( v. 89). So sagt der Dichter jetzt: »Wie Fürsten ist Herkules. Gemeingeist Bacchus. Christus aber ist das Endecc; d. h. er »erfUllet, was noch an Gegenwart der Himmlischen gefehlet an den andern«. Dennoch aber kommt ihm beim Vergleich immer wieder das Ungleiche zum Bewußtsein: liDer Streit ist aber, der mich versuchet ... « - das ist eben jene» Schaam «, die ihn an wandel t, wenn er Christus den anderen angleichen will. Sie beruht offenbar darauf, daß Christus nicht im gleichen Sinne Gegenwart ist wiejene weltlichen Männer. Jene nämlich haben »aus Noth als Söhne Gottes die Zeichen [... ] an sich«. Denn es hat noch anders, räthlich, Gesorget der Donnerer. Christus aber bescheidet sich selbst (v. 91 f.).
Christi Wesen erschöpft sich offenbar nicht darin, den "himmlischen Chore( nur zu beschließen (,Brot und Weine Str. 8), d. h. in der Folge der als Gegenwart wirkenden Götter eben der letzte, den andern Wesensgleiche zu sein. Was ihn auszeichnet, ist, daß er sich selbst bescheidet. Jene anderen sind, was sie sind, als Wender einer gegenwärtigen Not - der Donnerer hat immer noch anders gesorgt: d. h. sie erfüllen nur ihren begrenzten Gegenwartsauftrag. Christus dagegen, der sich selbst bescheidet, reicht eben dadurch über diese seine Gegenwart hinaus. Er wußte auch das noch, was er IIverschwieg« (,Versöhnender< v. 86ff.), und eben weil er das Sterben, zu dem er gesandt war, nicht einfach erleidet, sondern freiwillig aufsich nimmt (und man darf wohl daran denken, daß das der unterscheidende Sinn der Versuchungsgeschichte ist), ist er »das Ende«. D. h. aber, er waltet über die ganze Folgezeit (für die nun nicht mehr anders zu sorgen war). Er ist der Gott, dessen Verkündigung und Verheißung der Wiederkehr als eine stille Wirk1ichkeit das ganze abendliche Weltalter beherrscht. So setzt sich immer durch, daß er IInoch andre Natur« ist. Aber bedeutet das nicht doch ein Sichausschließen der Gottheiten selbst
Hölderlin urtd die Antike
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und nicht einen Fehl des Dichters? Anders gewendet: Schlägt der eigentlich christliche Anspruch, der Einzige zu sein, nicht alle Versöhnungsversuche des Dichters nieder? Wird hier nicht gerade die religiöse Mächtigkeit des Christentums über den Dichter mächtig? Dem Versuch einer solchen christlich gesinnten Interpretation9 widerspricht aber das Ganze der Hölderlinschen Gottesvorstellung von Grund aus. Hölderlin gibt diesem christlichen Anspruch auf Einzigkeit niemals statt. In unserer Hymne heißt es über den obersten Gott, daß er nicht einen, sondern zahlreiche Mittler hat: Denn nimmer herrscht er allein. Und weiss nicht alles. Immer stehet irgend Eins zwischen Menschen und ihm (v. 65f.). Und Der hohen Gedanken Sind nemlich viel Entsprungen des Vaters Haupt [... ] (v. 13f.). Die Hymne )Patmos(, dem christlichen Landgrafen von Homburg gewidmet, muß geradezu dessen christliche Frömmigkeit vor dem göttererfullten Gemüt des Dichters rechtfertigen: »Denn noch lebt Jesus.« Des Dichters eigene sichere Gewißheit aber sagt, daß er gerade nicht der Einzige ist: Es sind aber die Helden, seine Söhne
Gekommen all, und heilige Schriften Von ihm. Und den schnellen Bliz erklären Die Thaten der Erd, ein Wettlauf, unaufhaltsam [... ] (.Patmos< v. 204ff.). Was also bedeutet es, daß des Dichters Liebe zu sehr an dem Einen hängt? Er heißt der .. Meister und He[[(, er heißt der »Lehrer« (.Der Einzige( v. 36), d. h. des Dichters und des abendländischen Zeitalters, dem der Dichter zugehört. Diese Gebundenheit des Dichters an sein Zeitalter also ist es, die dem ersehnten Ausgleich im Wege steht. Für dieses christlich-abendländische Weltalter gilt, daß Christus gerade als der Unsichtbar-Abwesende sein Gott' ist. Mit wunderbarer Eindringlichkeit hat Hölderlin in der PatmosHymne (v. 113ff.) das neue Wesen der christlichen Frömmigkeit beschrieben: [... ] Es erlosch Die Freude der Augen mit ihm. Denn Freude war es Von nun an, Zu wohnen in liebender Nacht und zu halten 9 Vg!. 557f.
ROMANO GUARDINI,
Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit. Leipzig 1939, S.
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Einfliltigen Sinns
Abgründe der Weisheit [." .. ]. Das niedergeschlagene Auge und die innere Erleuchtetheit sind die neuen Formen der Andacht, wo, [... ] Züchtig blikend Von'schwellenden Augenbraunen nur Still leuchtende Kraft iallt [ ... ] (,Patmos< v. 192f.)10.
Es ist also der eigenen religiösen Wirklichkeit Christi entgegen, daß es der Dichter mit dem Reichtum seiner Schätze versucht, Ein Bild zu bilden und ähnlich Zu schaun, wie er gewesen, den Christ [... ] (ebd. v. 164f.).
Hier liegt die Antwort, die der Dichter sich gibt: Nicht, daß die Himmlischen selbst, die alle füreinander Gegenwart sind, sich eifersüchtig ausschlössen, aber der Dichter vermag den Ausgleich ihres göttlichen Seins nicht zu treffen, weil Christus noch andere Natur ist als Gegenwart. Eben diese andere Wirklichkeit Christi beherrscht aber die Weltsrunde des Dichters derart, daß er ihn nicht nach Art der griechischen Götter als welthafte Gegenwart der »Natur« zu feiern vermag. Was sich der Dichter zunächst als Schuld eingesteht: »Ich weiss es aber, eigene Schuld ist's« (>Der Einzige< v. 48), was er als gutzumachenden »Fehl« beklagt: »Nie treff ich, wie ich wünsche, das Maas« (ebd. v. 77), das erkennt er am Ende als des Dichters Form, ein Schicksal zu haben. So handelt der Schluß der Hymne (ebd. v. 78-93) von der Gefangenschaft des Geistes in seine menschlich-geschichtliche Lage. Nur »ein Gott weiss aber, wenn kommet, was ich wünsche das Beste«. Einjeder andere hat ein Schicksal, in das seine Seele gefangen ist. Auch Christus war ein solcher auf Erden Gefangener und »sehr betrübt«, bis er zu seiner unirdisch-geistigen Bestimmung frei wurde, »bis er gen Himmel fuhr in den Lüften, dem gleich ist gefangen die Seele der Helden«. Auch die Unbedingtheit des heldischen Geistes leidet das Schicksal der Gefangenschaft in die »Zeitn. Auch sie sind nicht frei, sind nicht Meister ihres Geschicks. Und nun wird diesen, die alle IIgeistign und doch gefangen sind, in der alles beschließenden Schluß wendung zugestellt: Die Dichter müssen auch Die geistigen weltlich seyn.
Die Dichter sind sich »geistig«, d. h., sie sind der Gegenwart des Göttlichen insgesamt, allen Himmlischen zugleich, zugeordnet. Auch sie aber leiden 10
Vgl. MAle KOMMBRBLL, Geist und Buchstabe der Dichtung. Frankfurt 1940. S. 287.
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eine unaufhebbare Gefangenschaft in die Zeit. Das hat der Dichter eben an sich seIbst erfahren: auch sie können »das Beste«, was sie wünschen, nicht nach ihrem Willen herbeizwingeIl - es bleibt »einem Gott« anheimgestellt. Die Dichter müssen also weltlich sein, weil sie nur die Gegenwart, in die sie gefangen sind, singen können. Hölderlins Gegenwart gehört zu, daß sich Christus der dichterischen Gestaltung versagt. Die griechischen Götter sind Gegenwart der Sage, die sich dem Dichter im Lichte der »allgegenwärtigen« Natur neu deutet - Christus dagegen ist der im Glauben Lebende, dessen Anbetung "im Geist« geschieht. "Denn noch lebt Christus«. Der Dichter weiß, welch Vergehen es wäre, wenn er erzwingen will, was ihm versagt ist: »Wenn aber einer spornte sich seIbst [... ]« (.Patmos< v. 166ff.) oder: Zum Traume wirds ihm, will es Einer Beschleichen und straft den, der Ihm gleichen will mit Gewalt (.Die Wanderung, v. 113ff.).
Gerade die Zugehörigkeit des Dichters zur unweltlichen Innerlichkeit des Abendlandes ist es, die ihn als Dichter in die himmlische Gefangenschaft der weltlichen Götter, die allein seinem Gesang sich darbieten, verkauft hält und ihm den ersehnten Ausgleich verwehrt. Die schmerzlich zu erleidende Spannung, zu der der Dichter sich so bekennt, findet in dieser Einsicht ihre Lösung. Das überraschende dieser Lösung aber ist, daß gerade der Verzicht auf den ersehnten Ausgleich, daß gerade die eingesehene Ungleichheit für die große neue Aufgabe des vaterländischen Gesanges freigibt. Christus ist in der Tat anders als die andern ". Denn Christi Gegenwart ist nicht die seines kurzen ErdenwandeIs allein. Er ist Gegenwart im geschichtlichen Schicksal des Abendlandes. So wandelt sich Verzicht in Auftrag:
11 Diesem Deutungsversuch der Ungleichheit des Einzigen und der weltlichen Götter scheint eine Stelle der anderen Christushymne •Versöhnender< zu widersprechen, wo es zwar auch in Anwendung auf Christus, aber doch in allgemeiner Wendung heißt: »Und immer grösser, denn sein Feld, wie der Götter Gott I Er selbst, muss einer der anderen auch seyn« (v. 89f.). Dies, so allgemein gesagt, scheint den Vorrang des Einzigen aufzuheben. Es fragt sich nur, ob es nicht gerade die christliche Verheißung ist, die, im Dank bewahrt, diesen Satz auch für die anderen Götter erst wahr macht. Vgl. die Rolle des Trösters in .Brot und Wein< und hier im Vorentwurf: »keiner, wie du, gilt statt der übrigen alle« (IV 355). F. BEISSNER, Friedensfeier. Stuttgart 1954, S. 36, weist daraufhin, daß eine Variante zu dieser Stelle »übrigen alle«: »Menschen« lautete. Gerade das bestätigt Christi Auszeichnung - wohlverstanden: innerhalb der Göttlichkeit aller. Inzwischen hat die Hymne durch die Auffindung der .Friedensfeier< eine höchst wichtige Parallele gefunden, sofern auch dort die Gestalt Christi besonders betont und bei aller Heraushebung dennoch gerade in die allgemeine Anrufung der Götter eingegliedert wird. (Daß nicht Christus in der .Friedensfeier< als der» Fürst des Festes« zu verstehen ist, dürfte heute anerkannt sein.)
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[... ] Diesen möcht' Ich singen, gleich dem Herkules, [... ] Das geht aber Nicht. Anders ists ein Schicksaal. Wundervoller. Reicher zu singen. Unabsehlich Seit jenem die Fabel [... ]12. Dem Dichter öffnet sich im Verzicht kraft einer wahrhaft geschichtlichen Logik das Ganze der abendländischen Geschichte. Die »unabsehliche Fabel« der Geschichte tritt neben die dichterische Gegenwart der griechischen Sage. Wir müssen diesen Zusammenhängen genauer nachdenken, um zu erkennen, wie der Dichter aus dieser doppelten Gefangenschaft in die Griechenliebe und in die christlich-abendländische Weltstunde die einmalige Inständigkeit seines Wissens um beide, um die griechischen Götter und um die »Engel des Vaterlandes«, gewinnt. Was in dem Hymnus ,Der Einzige(, von dem wir ausgehen, einmalig bekannt, aber mehr verborgen als offenbart ist, bleibt dabei fur uns der Schlüssel unseres Verständnisses: . Die Weltlichkeit der Alten und die Innerlichkeit der christlich-abendländischen Seele sindja auch die unbegreifliche Bürde, an der wir selbst tragen. Der Dichter erfährt sie in der elegischen Form des Auszugs der Götter, ihrer Abwendung und Flucht, als den Hereinbruch des Abends und der Nacht. Die griechische Landschaft liegt nun wie eine riesige, verlassene Tafel da (,Brot und Wein< Str. 4), die »Ehre« der Himmlischen ist unsichtbar geworden. Nur als von Grabesflammen, ziehet dann Ein goldner Rauch, die Sage drob hinüber, Und dämmertjezt uns Zweifelnden um das Haupt [... ] <'Germanien< v. 24ff.). So lebt der Dichter, der berufene Künder göttlicher Gegenwart im Wort, wie ein Verstoßener unter den Menschen. »Und wozu Dichter in dürftiger Zeit?« ()Brot und Wein< v. 122). Die Antwort, die der Dichter auf den leidvollen Zweifel an seiner Bestimmung immer wieder findet, erwächst ihm aus der Bejahung dieser Nacht. Im prachtvollen Beginn von ,Brot und Wein< schon wird das zwiefache Wesen der Nacht sichtbar: indem sie das Leben des Tages und seinen lauten Lärm ersterben läßt, weckt sie zugleich ein bisher verborgenes Leben, eigene Stimmen der Nacht (ebd. Str. 1), vor allem aber gewährt sie dem wachenden Menschen Ermutigung zu »kühnerem Leben«, das auch das' Geheime der Seele aussprechen läßt und das so dem im Dunkel der abendlichen Geschichte Stehenden aus der Bewahrung des Gedächtnisses des Tages seine Wiederkehr versichert (ebd. Str. 2). Hier gewinnt die christliche Kultform des lZ
,Patmosc, Bruchstücke einer späteren Fassung, IV 229.
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Abendmahles eine ganz Hölderlin eigene Deutung (ebd. Str. 8). Christus, der stille Genius, der letzte Gott, der gegenwärtig unter den Menschen lebte, hinterließ Trost und Verheißung der Wiederkehr den in der Nacht Verlassenen·, und zum Zeichen dessen das Abendmahl, Brot und Wein. Hölderlin sieht nun darin nicht die mystische Kommunion, nicht die, Wandlung(, auch nicht das vom scheidenden Erlöser gestiftete Gedächtnismahl des reformierten Glaubens - er sieht darin die Heiligkeit der Elemente, der Erde und der Sonne, aus denen beide, Brot und Wein, kommen. Hölderlin geht davon aus, daß diese beiden, Brot und Wein, auch in unserer götterlosen Zeit immer noch anders angesehen werden als alles andere. Sie werden nicht nur zum Nutzen gebraucht, sondern noch mit Dankbarkeit geehrt, I>es lebt stille noch einiger Dank«, d. h., bei ihnen denkt man noch der Himmlischen. So, als die heilig gehaltenen, weltlichen Güter des Brotes und Weines, sind sie die Bürgen göttlicher Wiederkehr und göttlicher Fülle. Brod ist der Erde Frucht, doch ists vom Lichte geseegnet, Und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins (v. 137f.).
Gedächtnis ist Gegenwart des Abwesenden in seiner Abwesenheit. Brot und Wein sind solche Gegenwart, die Abwesendes, das Ganze der göttlichen Gaben und der göttlichen Wirklichkeit, verbürgt. Ihre Heiligkeit lebt nicht von der Sage (etwa der Stiftung duch Christus), vielmehr lebt die Sage, lebt Gottes Bild in diesen Symbolen, in der Gegenwart der Elemente und in dem sie bewahrenden Dank. Diese Umkehrung und Gründung der Sage auf die Gegenwart ist die entscheidende Umwendung von Verlassenheit in Erwartung. die der Nacht der abendländischen Geschichte ihren eigenen, gegenwarts- und zukunftsvollen Sinn gibt. Das Gedächtnis, weil es Gegenwart hat, wird zur Erwartung. Gedächtnis zu bewahren ist von jeher das Amt des Dichters. Dies sein Amt gewinnt hier den Sinn der Erweckung und des Herbeirufs des Abwesenden. "Zeichen des Himmels« wecken den Mut. Die Klage wird zur Hymne. zum Anruf dessen, »was vor Augen dir ist« (,Germani~n( v. 83). Ja. mehr noch. Gerade die Nacht, die Götterferne, das Leiden an ihr, sind nicht nur Mangel und Entbehrung - in ihnen geschieht eine geschichtliche Notwendigkeit. Die Nacht ist die Nacht der Schonung. I>Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch« (.Brot und Weine v. 114). Sie ist aber auch Nacht der Sammlung und der Vorbereitung eines neuen Tages. So fragt und antwortet sich der Dichter: [... ] wenn die Ehre Des Halbgotts und der Seinen Verweht und selber sein Angesicht Der Höchste wendet, Darob, dass nirgend ein
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Hölderlin und die Antike Unsterbliches zu sehn ist am Himmel oder Auf grüner Erde, was ist diss? Es ist der Wurf des Säemanns, wenn er fasst Mit der Schaufel den Waizen Und wirft, dem Klaren zu, ihn schwingend über die Tenne. Ihm fällt die Schaale vor den Füssen, aber Ans Ende kommet das Korn (.Patmos~ v. 145ff.).
Die erwartete Zukunft deutet sich ihm als »Frucht von Hesperien« (.Brot und Wein~ v. 150). Das lang Verborgene und Verschwiegene gerade, das, wofur das Wort fehlte, weil der allgemeine Sinn dafür nicht da war, wird die Wahrheit eines neuen Tages sein. Denn »es wächst schlafend des Wortes Gewalt« (ebd. v. 68). Der Dichter aber hat eben mit dieser Einsicht sein Amt und sein Geschick auf sich genommen: er muß allein sein, weil er zuerst das allen gemeinsame Göttliche in seinem Wort zu nennen und herbeizurufen hat, wie das Vorspiel der Orgel den Gesang der Gemeinde, den Choral einleitet (.Am Quell der Donau( Str. 1, .Der Mutter Erde( Str. 1). Die Umwendung des Gedächtnisses in den Anruf des Kommenden, wie sie im Liede des Dichters gelingt, ist das Nennen einer ganz eigenen Gegenwart: nicht der der alten, namentlich bekannten Götter, auch nicht des über aller Abwesenheit waltenden Genius Christi - es ist Anruf und Deutung von lauter Zeichen und Winken, der bedeutenden Figuren der heimatlichen Berge und Ströme vor allem, die als Runen der Geschichte Antike und Abendland zusammenschließen. Man denke an die Symbolik des Laufs der Donau. Natur wird hier Geschichte. Der Lauf des Stromes, in dem sich Himmel und Erde vermählen, wird zum Sinnbild der Zeit und des abendländischen Geschichtslaufes. Vor der Gegenwart solcher zukunftsvollen Chiffren wird die Sage von den entschwundenen Göttern zur Kündung ihrer neuen Wiederkehr. Die Gegenwart der Erwartung ist das Medium, in dem sich der vermißte Ausgleich alles Göttlichen nunmehr vollziehen kann. Erwartung ist, wie Gedächtnis, Gegenwart des Abwesenden. In ihr darf auch der Gott des Abendlandes, der Versöhnende, versöhnt heißen (.Versöhnender< v. 74). Denn keines Gottes Wirklichkeit ist so sehr wie die seinige die Gegenwart der Verheißung und der Erwartung. Nun kann der Dichter sagen, daß er schon immer - unwissend - der Mutter Erde und dem Sonnenlichte gedient hat (.Patmos( Schluß). Denn was er tat, was sein Lied über die Anrufubg klassischer Schemen in eine neue Zukunft hinaustrug, war eben, daß sein Gesang Gegenwärtiges ersah. C• • ·1 der Vater aber liebt Der über allen waltet Am meisten, dass gepfleger werde Der veste Buchstab, und Bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.
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Der Buchstabe und das Bestehende sind nicht etwa Lehre und Übung des Christentums allein, es sind Ildie Sprachen des Himmels« (I Unter den Alpen gesungen< v. 27), die dem Dichter zur Deutung aufgegeben sind. "Manche sind von Menschen geschrieben. Die andern schrieb die Natur« (,Am Quell der Donau<, Prosaentw. IV 344). Der hesperische Dichter kann nun, weil auch er eine Gegenwart singt wenngleich nicht die der Fülle und des allen gemeinsamen Tages -, die antike Form der Feier der gegenwärtigen Götter, den Hymnus, in der Form, die ihm Pindar gegeben hat, aufnehmen. Dennoch ist es eine ganz andere Sprache, die Sprache Luthers, und ein ganz anderer Geist, was diese antiken Formen verwandelt und erfüllt. Es ist die Gegenwart der drängenden Erwartung, nicht die des kunstvoll sicher verflochtenen Besitzes Pindarischer Frömmigkeit. Es ist die Gegenwart des Offenen, in die sich die alten Götterbilder verwandeln und der sich auch der christliche Gott nicht vorenthält, der mehr als alle anderen der »kommende Gott« ist (IBrot und Wein< v. 54). [... ] einer ist immer für alle. Sei gleich dem Sonnenlichte! (,Versöhnender< v. 102f.).
Auch hier ließe sich wieder an kunsttheoretische Gedanken Hölderlins anknüpfen, um das Eigene der Hölderlinschen Dichtungsart vom antiken Vorbild abzuheben. Hölderlin hat ja diese neue Freiheit, von der seine vaterländischen Gesänge zeugen, auch in der ausdrücklichen Arbeit an antikem dichterischem Gut betätigt, so vor allem in seiner Sophokles-Übersetzung, wie uns die Untersuchungen Beißners gelehrt haben. Dort nun 13 hat er in ausdrücklichen Reflexionen begründet, warum die abendländisch-vaterländische Vorstellungsart anders, der griechischen übergeordnet und gegensätzlich auf sie bezogen sei. Er findet das tragische Wort bei den Griechen lImittelbarer factisch [... ], indem es den sinnlicheren Körper ergreift«. Der tragische Untergang vollzieht sich hier in der realen Gestalt des körperlichen Todesgeschicks. Im Gegensatz dazu wirke das tragische Wort ,mach unserer Zeit und Vorstellungsart, unmittelbarer, indem es den geistigeren Körper ergreiftl< . Es tötet, indem es innerlich vernichtet. Man möchte diese Betrachtungen über das tragische Wort des Dramas gern auf Hölderlins neuen Hymnenstil und sein Pindarisches Vorbild anwenden. Was wir in seinen Studien über die 'tragische Ode< lesen, denkt allerdings noch gar nicht über das Gegensätzliche im antiken Bezug nach. Es zeigt nur, daß Hölderlin auch hier, wie im Falle des Dramas, dem Kunstverstand des alten Dichters ganz unromantisch nachgedacht hat - wie ja auch seine eigenen Hymnen der Strenge architektonischer Gesetze gehorchen. Doch wird ihm, was er aus Anlaß der Sophokles-Obersetzung mit solcher Allgemeinheit durchdenkt, Il
,Anmerkungen zur Antigonä( 3. V 257.
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auch hier klar gewesen sein. Auch das lyrische Wort der vaterländischen Hymne ist unmittelbarer als das Pindarische, dessen Bezug im Vorgegebenen liegt, in Geschlecht und Verdienst des zu feiernden Siegers und in einer festen religiösen Wirklichkeits ordnung. Zwar hält auch davon Hölderlin gern etwas fest, indem er Anrede oder Widmung in seine Verse verflicht, aber gerade solches Siegel der Widmung macht es bewußt, daß der in ihnen Angeredete einer anderen dichterischen Seins ordnung zugehört. Sieht man auf den religiösen Bezug des Wortes, so wird vollends deutlich, warum Hölderlin die griechische Kunstform der vaterländischen unterordnet. Denn Pindars Wort vom Göttlichen hat Bezug auf eine feste religiöse Gegenwart, deren reine Pflege des Dichters Amt ist, Hölderlins Wort dagegen ist dem Andrang so unversöhnter Gewalten wie der griechischen Weltlichkeit und der abendländischen Innerlichkeit ausgesetzt. Auch bei den Alten, bei Pindar, wird im Hymnus nur sparsam aus der Fülle des Sagwürdigen gewählt. Wenn aber Hölderlin sagt: »Vieles wäre zu sagen davon« (,Patmos( v.88) oder» Viel ist die Ansicht« (,Der Einzige<, spät. Fassung v. 78), welch ein Reichtum, nicht des Unausgesprochenen, sondern des Unaussprechlichen, wird darin laut! Die Klage des ,Einzigen<: »Nie treff ich, wie ich wünsche, das Maas« hat damit ihre Bedeutung für das Ganze der Hölderlinschen Dichterhaltung erwiesen. Sie ist nicht das Eingeständnis einer unbewältigten Aufgabe und eines Versagens, das der sonstigen Meisterschaft des Dichters an einer Stelle ihre Grenze setzte - im Gegenteil ist dies an seiner äußersten Grenze Stehen das Geheimnis von Hölderlins ans Prophetentum gemahnender dichterischer Kraft. )Das Maß nicht treffen< ist der beständige Ausdruck seiner einzigen Inständigkeit. »Singen wollt ich leichten Gesang, doch nimmer gelingt mirs« (IV 315). Es ist die »Fülle des Glücks«, die »Last der Freude« ()Der Rhein< v. 158), was diese innige Unmittelbarkeit in Hölderlins letzten Ton bringt, ein »thörig-göttliches« Reden (ebd. v. 145), das im Verstummen noch fortsingt: Jezt aber endiget, see\igweinend, Wie eine Sage der Liebe, Mir der Gesang, und so auch ist er Mir, mit Erröthen, Erblassen, Von Anfang her gegangen. Doch Alles geht so ()Am Quell der Donau< v. 89ff.). Und nun erinnere man sich der Gegenüberstellung der griechischen und vaterländischen Vorstellungsarten, die Hölderlin in den )Anmerkungen zur Antigonä( vornimmt. Dort (V 258) sagt er von den Griechen: »Ihre Haupttendenz ist, sich fassen zu können, weil darin ihre Schwäche lag, da hingegen die Haupttendenz in den Vorstellungsarten unserer Zeit ist, etwas treffen zu
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können, Geschik zu haben, da das Schicksaallose, das 6Vo'}lopov, unsere Schwäche ist. « I Hölderlin gewinnt hier aus der Gegenüberstellung zum antiken sein eigenes Selbstbewußtsein. Er erkennt (natürliche) Schwäche und (künstlerische) Tendenz in ihrem Widerspiel, so die antike Schwäche, sich nicht fassen zu können, der in ihrem Kunststreben diese unvergleichliche plastische Be.stimmtheit entspricht, so den Mangel an Geschick, die Schicksalslosigkeit der Neueren, die ihrem Kunststreben das heilige Pathos der Begeisterung verleiht, diese unmittelbare Hingerissenheit der Seele, der das Maß der Nüchternheit so schwer wird. HölderIin hat mit Bewußtsein die antike der neueren Vorstellungsart untergeordnet gefunden - so wie Hegel es schwerer fand, die festgewordenen Verstandesformen zu verflüssigen und zu lbegeistenc, als, wie es die Tat der Griechen war, sich überhaupt erst einmal zur Allgemeinheit des Gedankens zu erheben 14 • Doch sah er in diesem Gegensatz zugleich eine harmonische Ergänzung. An dem griechischen Kunstverstand geübt, hat er die llFceiheit im Gebrauch des Eigenen« (V 316) stärker entwickelt als irgendein anderer unter den Freunden oder Feinden der Griechen. Man mag sein Schicksal ein antikes nennen, das Schicksal der überfülle des Göttlichen, sein Werk aber ist darin von antik anmutender Größe, daß ihm - wie unter den Griechen Homec 1S - die eigene Bildung des vaterländischen Gesanges gelang.
14 HEGEL, Phänomenologie, Vorrede S. 30 (Lasson). Vgl. dazu auch meine Studie .Hege! und die :.ntike Dialektik., in Bd. 3 der Ges. Werke, S. 3-28. IS Vgl. Hölderlins Wort über Homer, daß er dem Apolloreich die »Junonische Nüchternheit. hinzugewonnen habe (V 315).
2. Hälderlin und das Zukünftige (1947)
Das Jahr 1943 brachte die hundertjährige Wiederkehr des Todes von Friedrich Hölderlin. Aus diesem Anlaß wurde er Gegenstand einer öffentlichen Anteilnahme, wie sie nur ganz tief im Herzen der Nation lebende Vorbilder zu finden vermögen. Ja, diese Anteilnahme hatte etwas ganz Eigenes, etwas, worin eifersüchtige Abwehr lag. Was dieser Gedenktag ins allgemeine Bewußtsein herausrief, war nicht ein vergessener Ruhm, den es zu erneuern, auch nicht ein immer gegenwärtiger Stolz, den es zu bestätigen galt - es war ein noch ganz junger Ruhm, der einem Dichter zugesprochen wurde, der nicht wie ein seit hundert Jahren Toter, sondern wie ein noch heute Lebender von einer leidenschaftlichen Jugend geliebt wird. Einjeder möchte ihn fiir sich zurückbehalten, der Schwabe nur den Schwaben, d~r Deutsche nur den Deutschen. Und doch gehört dieser Dichter heute der jungen Elite aller Länder als ihr neuer, unverhoffter Besitz. Noch wissen wir nicht recht, was wir in ihm haben - auch darin ist er wie ein Dichter unserer Gegenwart. Unser Verhältnis zu Schiller, ja auch das zu Goethe - wie fügt sich ihm diese neue, leidenschaftliche Vorliebe ein? Das Bild, das frühere Generationen von dem Dichter Hölderlin hatten, ist ungültig geworden. Aber wie ist er überhaupt zu messen, er, an dem sich alle Maßstäbe derart zu verwirren drohen, daß nichts, auch die höchste Wertung nicht, eine Vermessenheit scheint? Er selbst war von einem glühenden Ehrgeiz verzehrt, es den Größten, es Schiller und Goethe gleichzutun. Heute, hundert Jahre nach seinem Tode, scheint sich dieser vermessene Ehrgeiz erfüllt zu haben. Selbst die deutsche Bühne wirbt um diesen bühnenfremdesten von allen wie um eine neue Hoffnung, und unübersehbar wird das Werben der Deuter um sein tief verrätseltes Werk. Um diesen Vorgang zu verstehen, muß man sich die Geschichte seines Werks und seiner Wirkung vor Augen halten. Als ihn die Schatten des Wahnsinns verdunkelten, in dessen Nacht er noch vierzig Jahre lang leben sollte, war sein Werk nicht zu einer in sich vollendeten Gestalt gelangt. Nur weniges war in Buchform erschienen, das große lyrische Hauptwerk der letzten Jahre vor der Umnachtung war teils überhaupt unbekannt, teils war es in Almanache und Taschenbücher verstreut. So blieb er in seinem eigenen
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Wesen unkenntlich. Man nahm ihn auf und nahm ihn an, soweit er sich einer schon vertrauten Vorstellungswelt einfügen ließ. Man sah in ihm einen edlen Ausdruck romantischen Dichtergeistes. Seine Dichtungen ehrte man, wie die des Novalis, als die Dokumente eines Frühvollendeten, in denen sich ein ähnliches, christlich-germanisches Geschichtsempfinden dichterisch aussprach. Das Neue, Einzigartige, das Hölderlin erst zu dem großen Dichter macht, den wir heute in ihm verehren, die Kraft seiner Sprache und die Fügung seiner WeIt, blieb unsichtbar und unverstanden. Was sich dem Verständnis der Zeitgenossen versperrte, konnte überdies stets der Wahnsinn des Dichters verschuldet haben. So hat weniger das lyrische Hauptwerk Hölderlins als sein Hyperion-Roman das allgemeine Bild des Dichters bestimmt, dieses Epos von einem in Begeisterung und Verzweiflung unbedingten Willen zum Vollkommenen, der an der niedrigen Wirklichkeit tragisch zum Scheitern kommt. Gewiß gab es eine stille Schar geheimer Freunde des Dichters im ganzen Jahrhundert. Zu diesen gehörte etwa der junge Friedrich Nietzsche. Aber das allgemeine Bewußtsein nahm ihn nicht auf. Wenn sich dann auch gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts unser Besitz an Hölderlinschen Dichtungen durch den Eifer der philologischen Forschung zu mehren begann, so war es doch die Entdeckung eines neuen Dichters, als kurz vor dem Ersten Weltkrieg Norbert von Hellingrath das lyrische Hauptwerk Hölderlins großenteils aus den Handschriften herstellte. Es geschah mit einem für das Dichterische neu aufgeschlossenen Sinn. Es war der Dichter Stefan George, aus dessen Nähe der junge Philologe kam 1 , dem wir die große Werkausgabe Hölderlins verdanken. Seitdem hat Hölderlin einen ständig wachsenden Einfluß auf die deutsche Jugend geübt; und so ist es gekommen, daß er hundert Jahre nach seinem Tode zu den Größten unter den Großen gerechnet wird. Eine neue große Ausgabe seiner Werke begann im Jahre 1943 zu erscheinen. Was hier vor sich ging, ist ein in der neueren Geistesgeschichte einzigartiger Vorgang - es ist die Geschichte eines um einjahrhundert aufgesparten Werkes. In Zeiten kärglicher überlieferung, wie wir sie aus der antiken Literaturgeschichte kennen, wäre hieran nichts Sonderbares - dies aber vollzog sich in einer Zeit, der das Bewahren und überliefern eine Lieblingsbetätigung ihrer historischen Neigung war. Wie um uns zu belehren: es ist nicht die Historie, die über Schlaf und Erweckung der Geister waltet. Wirklich war es eine echte Erweckung, die dem Werke Hölderlins widerfuhr. Es war und ist keine Literatenmache oder Philologenentdeckung, auch keine bloße Sache der Mode (die nichts verschont und auch dieses nicht verschont hat), noch auch des bloßen Selbstgefühls der Bildung. Das gerade ist das Erstaunliche, daß die großen Dichter unserer Zeit, daß George und 1
VgJ. dazu auch ,Hölderlin und George<, in diesem Band, S. 229 ff.
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Hälderlin und das Zukünftige
Rilke (von den geringeren Lebenden ganz zu schweigen) uns bereits historisch anzumuten beginnen, während Hölderlins Dichtung - unbegreiflich genug - absolute Gegenwart ist. Wir stellen die Frage: Wie ist das möglich? und treten mit dieser Frage in eine philosophische Besinnung ein. Denn wir fragen: Was ist uns unsere Gegenwart und was ist uns Hölderlin, daß sich uns beides so in eins setzt? Bestimmen wir Gegenwart als die weltgeschichtliche Einheit der letzten Jahrzehnte, und bedenken wir, daß es eben diese sind, in denen sich Hölderlins Aufstieg vollzog, so können wir hoffen, daß sich das eine durch das andere erhellen wird. Daß insbesondere, was uns Gegenwart ist, an dem sichtbar wird, was Hölderlin uns ist. Eines freilich weiß diese Gegenwart von sich: daß sie das Ende eines Zeitalters ist, und - wie es zum Wesen des geschichtlichen Werdens gehörtdamit auch der Beginn eines neuen. Man kann dieses Zeitalter, das da kommt, verschieden charakterisieren: als das sozialistische Zeitalter, als das Zeitalter der sich zu sich selbst bekennenden Macht, als das Zeitalter des Kam pfes um die Erdherrschaft oder auch das Zeitalter der Weltkriege - oder man kann den Beginn dieses Zeitalters bestimmen durch den Zusammenbruch des Idealismus - das will sagen, durch das Ende des Glaubens an die ursprüngliche und selbständige Mächtigkeit der Vernunft, oder man kann es charakterisieren durch das Ende der Bildung als der eigentlich bürgerlichen Gestalt des Geistes - in jedem Falle entbehrt das Selbstbewußtsein der Gegenwart des gesicherten Gefüges, in dem sich frühere Generationen verstanden. Eine neue Unsicherheit, eine neue Unmittelbarkeit zu dem Schicksal, das uns trifft, ein freies Ausgesetztsein ins Ungewisse ist in der Welt, gerade auch da, wo das Pathos eines jeden Heroismus, selbst das eines heroischen Nihilismus, verschmäht wird. Fragt man sich, was diesem Gegenwartsbewußtsein im dichterischen Wesen Hölderlins entgegenkommt, so wird die historische Besinnung verwandte Züge im allgemeinen Zeitbewußtsein feststellen wollen. Sie wird sich erinnern, daß auch das Zeitalter Hölderlins eine Zeit der Wende, der Auflösung und der Erwartung war. Die Französische Revolution brachte eine gewaltige Erschütterung der europäischen Gesellschaftsordnung. Sie war der Anfang eines Jahrhunderts der Revolutionen, das bis in unsere Gegenwart hineinreicht. Mit ihr entstand zuerst, maßlos in Erwartung wie im Schrecken, das Bewußtsein, an der Schwelle einer neuen Epoche zu stehen. Das Bewußtsein unserer Gegenwart scheint fast so etwas wie die Vollendung dieses Bewußtseins zu sein. Allein, solche Bezüge im allgemeinen Zeitbewußtsein können die besondere Wirkungskraft Hölderlins in unserer Zeit noch nicht erklären. Er teilt sie ja nicht mit seinen großen Zeitgenossen. Gerade der klassischen Geltung Schillers und Goethes gegenüber bedeutet die Wirkungs geschichte Hölder-
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lins fast so etwas wie eine Verschiebung auf unserer geistigen Ahnentafel. Hölderlin ist zwar auch heute weniger als unsere klassischen Dichter ein Inhalt unserer nationalen Bildung. aber eben dadurch ist er fast mehr. Er redet uns auf eine andere. unvergleichbare Weise an. Die Vorstellung etwa. er könnte zu dem Zitatenschatz unserer Bildung ähnlich beisteuern wie Schiller und Goethe. hat etwas in sich Unmögliches. Es gibt keine mögliche Lebenslage. zu der die dichterische Begleitung und Beleuchtung aus Hölderlins Werk genommen werden könnte. Er vermag uns in nichts zu bestätigen oder zu sichern. er zwingt uns vielmehr ins Offene. Gegenüber der bildnerischen Selbstgenügsamkeit Goethes oder dem wortgewaltigen Enthusiasmus Schillers ist sein Werk und Wesen unverwechselbar bezeichnet durch die Unmittelbarkeit. mit der es den Gewalten ausgesetzt ist. von denen es kündet. Daß unter diesen Gewalten die Liebe zum Vaterland dem Dichter als eine letzte und höchste dichterische Erfahrung zuteil ward. sichert ihm einen besonderen Widerhall im Bewußtsein einer Generation. der die alten frohgemuten Formen patriotischen Empfindens und Bekennens über einem neuen Schicksalsbewußtsein vergangen sind. Hölderlins Unmittelbarkeit ist eine Unmittelbarkeit zur Zeit. Der Grund seines Wesens ist bestimmt durch sein Geschichtsbewußtsein. Nicht als ob er vonjenem geschichtlichen Bewußtsein ergriffen wäre. das wir das historische nennen und in dem sich das Bewußtsein. Erbe der Vergangenheit zu sein, mit dem anderen Bewußtsein verbindet. selbst nur Glied der endlosen Kette geschichtlicher Entwicklung. selbst nur untergehend da zu sein. Hölderlins Geschichtsbewußtsein ist vielmehr Bewußtsein der Gegenwart und der sich in ihr bezeugenden Zukunft. Das Vergangene. Zeiten wie Männer. ist ihm Zeichen für das Geschehen des uns bestimmten Schicksals. Kein anderer unserer Dichter ist so wie er gleichsam aufgesogen von der Gegenwart der Zukunft. Sie ist seine Gegenwart, das. was er sieht und dichterisch verkündet. Es ist dafür bezeichnend, daß ihm die Nacht zum dichterischen Ausdruck seines Geschichtsbewußtseins wird. Denn die Nacht hat eine tiefe Zweideutigkeit in sich. Zwar ist ihr Kommen das Ende des geschäftigen Tages. Das Dunkel entzieht. nimmt die gegliederte Ordnung aus den Dingen, die uns umgeben. und verhüllt den Weg. Aber indem sie so die Gegenwart der Welt einhüllt, öffnet sie zugleich den Sinn des Menschen für solches, was im Licht und im Lärm des Tages verborgen blieb: fernes Saitenspiel, Geläut von Glocken, das Rauschen der Brunnen, das Duften der Blumenbeete. und mit all dem bewegt sie »die hoffende Seele der Menschen«. So ~childert in unvergänglichen Versen die erste Strophe von IBrot und Wein< das offenbarende Aufziehen der Nacht:
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Hölderlin und das Zukünftige Rings um ruhet die Stadt, still wird die erleuchtete Gasse, Und, mit Fackdn geschmückt, rauschen die Wagen hinweg. Satt gehn heim von Freuden des Tages zu ruhen die Menschen, Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt Wohlzufrieden zu Haus; leer steht von Trauben und Blumen, Und von Werken der Hand ruht der geschäftige Markt. Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten; vielleicht, daß Dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann Ferner FrCWlde gedenkt und derJugendzeit; und die Brunnen Immerquillend und frisch rauschen an duftendem Beet. Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Glocken, Und der Stunden gedenk rufet ein Wächter die Zahl. Jetzt auch kom met ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf, Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond, Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht kommt, Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen Ober Gebirgshöhn traurig und prächtig herauf.
Durch ihre lyrische Stimmungs kraft haben diese Verse schon die Bewunderung der Zeitgenossen erregt und wurden unter der überschrift IDie Nacht< damals (1807) in einem Musenalmanach gedruckt. In Wahrheit gehören sie aber nicht in den Zusammenhangjener schwärmerischen Begeisterung für die alles in mystisches Geheimnis auflösende Nacht, wie sie Herder und die Romantiker hegten. Diese Verse sind die erste Strophe eines großen und tiefsinnigen Gedichtes, ein Aufklang, der die Nacht ehrt, weil sie Symbol für die weltgeschichtliche Lage des abendländischen Menschen ist. Die Ehrung der Nacht meint die IGeschichtsnacht<, das nächtliche Schicksal des Abendlandes, fern von der göttlich erfüllten Welt des Altertums in einer götterlosen Zeit zu leben. In ähnlicher Weise hat auch Novalis in seinen IHymnen an die Nacht< der Nacht einen geschichtlichen Klang gegeben. Aber setn christliches Denken sieht in der Nacht die höhere Wahrheit gegenüber dem heiteren Anschein des Tages. So wie er sie ehrt, weil in ihr alles Wesenlose absinkt und die reinen Geister sich unbehindert miteinander vermählen, so ist auch ihr geschichtlicher Sinn, in Christus die überwindung des Todes gebracht zu haben, an dem die heitere Götterwelt der Griechen versagte. Dagegen bezeichnet der Gegensatz zwischen Tag und Nacht das Geschichtsbewußtsein Hölderlins im negativen Sinne, als die Not der Götterferne, und am Gegenbild des griechischen Lebens als des vom Göttlichen erfiillten Tages. Es sind ganz eindeutige Erfahrungen, die Hölderlin in diesem Bild und Gegenbild gestaltet. Die Götterlosigkeit der Neueren meint jene »Gefühllosigkeit für gemeinschaftliche Ehre und ge.:. meinschaftliches Eigentum«, jene Beschränktheit in eine enge Lebenssphäre, jene» bornierte Häuslichkeit« insbesondere. die Hölderlin im deutschen
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Volkscharakter erkennt, einen Geist der knechtischen Sorge, die stetS nur ihren Vorteil sucht und im Mißtrauen alle von allen vereinzelt. Dagegen weiß der Dichter: »Die Sphäre, die höher ist als die des Menschen, diese ist der Gott. « Die Himmlischen sind die begeisternden Kräfte, die den einzelnen als eine ihn übertreffende Gemeinsamkeit beseelen. In unseren Tagen, ))da die knechtischejetzt alles die Sorge zwingt«, ist allein noch die Liebe ein Zeichen der schöneren Zeit. Nur in der Seele der Liebenden ist noch die Gemeinschaft des Lebens wahrhaftig lebendig. Ihnen ist die Welt noch göttlich. Sie nehmen alles Begegnende als eine Gunst entgegen, die so wunderbar ist, wie sie selber einander ein Wunder sind. So ftihlt sich der Dichter durch Diotima verwandeltundgeheilt: »Denn göttlich stille ehren lernt'ich/daDiotima den Sinn mir heilte«. Wo aber die Sorge herrscht und ehernen Dienst fordert, wo Tag für Tag »der Gebrauch«, das ist das stetige Bedachtsein auf das BrauchbarNützliche, »uns die Seele ablistet«, dort ist das Leben unmenschlich geworden, so daß das Göttliche sich ganz entzieht. Es ist die Nacht der Götterferne. Aber weh! es wandelt in Nacht. es wohnt. wie im Orkus, Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben Sind sie geschmiedet allein, und sich in der tosenden Werkstatt Höretjeglicher nur und viel arbeiten die Wilden Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer Unfruchtbar. wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.
Von dort bestimmt sich der Sinn des Göttertages )) bei Hellas blühenden Kindern« als ein Leben, das ganz und gar aus der Anwesenheit göttlicher Mächte verstanden wird, das im Ehren der Götter die Ordnungen des eigenen Lebens aufrichtet, die wir als die herrlichen Tempel und Städte, als die Feste und Theater des klassischen Griechenland lieben und bewundern. ))Gegenwart der Himmlischen« in all den feineren unendlichen Beziehungen des Lebens, die wir mit unseren »eisernen Begriffen« aufgeklärt, das heißt moralisch, verstehen. Das durchherrschende religiöse Lebensverständnis der Griechen ist in Wahrheit eine ))höhere Aufklärung«. Sie besteht nicht in der abstrakten Allgemeinheit einer verständigen Moral, sondern in der konkreten Allgemeinheit einer gemeinsam erlebten Wirklichkeit, eines gemeinsamen Geistes. Die dichterische Verklärung dieses Göttertages in Tragödie und Hymnik der Griechen ist kein zufalIiger Vorzug eines poetisch begabten Volkes, sondern bezeichnet die Vollendung der Erfahrung des Göttlichen selbst. ,)Nun, nun müssen daflir Worte. wie Blumen, entstehen. « Die Nacht istaber nicht nur diese Zeit der Götterferne, der Not, in der alles Haltbare aus dem Leben entwichen ist. Sie ist zugleich die Nacht des bewahrenden Gedächtnisses an den Tag und die Erwartung seiner Wiederkehr. »Denn wenn es aus ist und der Tag erloschen«, ist zwar das Göttliche und sein Bild unsichtbar geworden:
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Nur als von Grabesflammen ziehet dann Ein goldner Rauch, die Sage, drob hinüber Und dämmert jetzt uns Zweifelnden um das Haupt.
Aber diese Zeit der Trennung von Göttern und Menschen bewahrt dennoch ein Gedächtnis ihrer Vereinigung. Auch in unserer götterlosen Welt fehlt es nicht ganz an Wissen um Göttlichkeit. Brot und Wein, die Unterpfänder der christlichen Verheißung, deuten sich dem Dichter als Gaben der Götter, für die ))stille noch einiger Dank lebt(c. Ihr Gesegnetsein vom Einklang der Erde und Sonne, ihr sichtbares Abhängen von uns übertreffenden Mächten, den Elementen, die im Wetter sind, läßt sie als Unterpfand einer Form der Welterfahrung erscheinen, die den Heutigen sonst unverständlich geworden ist. Es ist die Erfahrung der Welt in der Freude. ))Denn zur Freude, mit Geist, wurde das Größre zu groß / unter den Menschen. ce Es ist das Wesen der Freude, daß sie »Geist« ist. Das bedeutet zunächst, daß sie gemeinsam ist und Gemeinsamkeit schafft. Sie ist nicht erst Freude und will sich dann auch mitteilen, sondern sie wird gerade im Sichmitteilen erst Freude:
[... Jes ertrug keiner das Leben allein; Ausgeteilet erfreuet solch Gut und getauschet mit Fremden Wird's einjubel [... ] Sie ist aber zweitens nicht ein blindes Zumutesein, sondern steht in der Offenheit des Empfangens. Sich im gemeinsamen Besitz sehend und wissend ist sie »Freude mit Geistcc. Diese Welterfahrung des antiken Daseins, die im Gut die Gabe erkennt und ehrt, ist nicht mehr unter den Menschen. Nur Brot und Wein, meint der Dichter, bewahren etwas von ihr. Sonst aber sind die Menschen gewohnt, alles stets nur auf ihren Nutzen zu beziehen. Der Geist des Nutzens aber vereinzelt. Die ängstliche Sorge um den eigenen Vorteil macht unfrei und einsam. Es ist der »Nachtgeist« des abendlichen Zeitalters. Eben aus dieser Lage entspringt das Amt des hesperischen Dichters, die Kunde vom Göttlichen zu bewahren und weiterzugeben. Gewiß ist es schwer, Dichter in dürftiger Zeit zu sein, und Hölderlin klagt: »zu ahnen ist süß, aber ein Leiden auch
Das ist des Dichters Mission: Er ist der Vorsänger der Zeit. Er singt, was sein wird. Das Gedächtnis wandelt sich in Erwartung, die Bewahrung in Verheißung.
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Damit gewinnt die Nacht einen weiteren neuen Sinn. Sie ist nicht nur die Dämmerung, in der sich noch einiges vom gewesenen Tage bewahrt, sie ist auch die Dämmerung, in deren Schatten sich der Geist erholt, die Verhüllung, in der sich eine neue Zukunft vorbereitet. Die hesperische Nacht ist eine Nacht der Schonung und der Sammlung. Die Götter leben jetzt fern von uns, »droben in anderer Welt«. [" " .) So sehr schonen die Himmlischen uns. Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen, Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch. Traum von ihnen ist drauf das Leben. Aber das Irrsal Hilft, wie Schlummer, und stark machet die Noth und die Nacht.
Das ist die Einsicht, zu der sich der nächtlich-kühne Geist des Dichters erhebt: Dieses abendländische Weltalter ist eine heilige Nacht, die auf die sichere Wiederkehr der Götter deutet. Was der Alten Gesang von Kindern Gottes geweissagt, Siehe! wir sind es, wir: Frucht von Hesperien ist's!
In einer frühen Reinschrift heißt es dafür: Siehe! wir sind es, wir; Orkus, Elysium ist's!
Die beiden Fassungen erläutern einander wechselseitig. Die eine sagt: auch Hesperien, das Schattenland, von dem man es nicht glaubte, wird Frucht tragen; die andere: was der Orkus der Götterferne schien, ist in Wahrheit Elysium, das Land der Verheißung. Ein später Entwurf zur Fortsetzung, der hier anschließt2, lautet: [... ) Nemlich zu Hauß ist der Geist Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimat; Kolonie liebt und tapfer vergessen der Geist. Unsere Blumen erfreun und die Schatten unserer Wälder Den Verschmachteten. Fast wär der Beseeier verbrannt.
Diese Verse gehören doch wohl in den gleichen Zusammenhang der Schlußstrophe von IBrot und Weine. Dann sind sie aber auch aus diesem Zusammenhang zu deuten. Sie sprechen also ebenfalls von der wunderbaren Erfüllung einstiger Verheißung, die der Dichter darin erkennt, daß aus der abendländischen Nacht die neuen Kinder Gottes erstehen sollen. Dann muß ihr Sinn sein: Der Geist ist im Anfang, das heißt in seiner südlichen Heimat, nicht zu Hause. Zu Hause ist man dort, wo man seine Bleibe hat. Der Geist aber darfin seiner heißen, verzehrenden Heimat nicht bleiben. Deshalb zieht 2 Von FRIEDRICH BEiSSNER in seiner Dissertation (Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen. Stuttgart 1933, 11961) zuerst veröffentlicht, aber, wie ich im folgenden zeigen werde, nicht richtig gedeutet.
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er aus. Er »liebt« Kolonie, das heißt, er sucht sich mit tapferem Vergessen des alten Glückes eine neu zu gründende Heimat, die Stätte neuen Zuhauseseins und Bleibens3 • Und wunderbarerweise sind es unsere Blumen und die Schatten unserer Wälder, die den schier Verschmachteten erfreuen. Der Dämmer des Nordens und der von ihm beherrschten Zeiten ist der neue, bisher nur verborgene Wohnsitz des Geistes. Es ist eine Sinngebung der abendländischen Geschichte, die sich in dieser Umdeutung der Nacht vollzieht, und der Dichter, der dies weiß und verkündet, ist ein in den Sinn der Geschichte Eingeweihter, sei es, daß ihn eine Entrückung geheimnisvoll an den Anfang der abendländischen Geschichte versetzt und über ihren Gang nachdenken läßt (>Patmos<), sei es, daß er als ein Wissender, den »der Wandlungen viele bewegen«, dem Weg des Wortes aus Osten, dem Flug des Adlers folgt, [... ] der vom Indus kömmt Und über des Pamassos Beschneite Gipfel fliegt, hoch über den Opferhügeln Italias [... ],
der zuletzt die Alpen überschwingt und Germanien in seine weltgeschichtliche Bestimmung beruft. In dieser vaterländischen Verheißung gipfelt des Dichters Neudeutung der Nacht. Gerade die Not, die unschuldig-wehrlose Stellung Germaniens »unter den Königen und den Völkern«, begründet die Verheißung seiner Erwähltheit:
o heilig Herz der Völker, 0 Vaterland! Allduldend gleich der schweigenden Mutter Erde Und allverkannt [... ] beginnt der >Gesang der Deutschen<. Und in der anderen Ode >An die Deutschen< siegt ebenfalls über den Unmut dessen, der die Seinen »tatenarm und gedankenvoll« schilt, die Zuversicht in den »Genius unseres Volks«. So wird endlich das Auge des in der Nacht der dürftigen Zeit vereinsamten Dichters rur eine neue Gegenwart geöffnet, die Gegenwart des Zukünftigen. Er. der litt, weil er von sich sagen mußte: Nur was blühet, erkenn ich.
3 F. BEiSSNER weist die obige Deutung wiederholt zurück: St.A. 112. S. 621 und S. 825, sowie Friedensfeier (Stuttgart 1954), S. 41. Aber mit was fiir Gründen! Welche hermeneutische Naivität, sich auf den Boehlendorflbcief zu berufen, statt den Zusammenhang des Gedichts als erste Instanz anzuerkennen! .Orkus, Elysium ist's« muß als genaue Parallele zu .Frucht von Hespecien ist's« verstanden werden. Das steht fest. So ergibt sich, in welcher Blickrichtung hier gesehen wird: vom Anfang. von der Quelle. von Griechenland aus. Und welches unpoetische Mißverständnis von .Kolonie., offenbar unter den Assoziationen von Hitze. Durst und Tropenhelm. Friedensfeier, S.4O und St.A. 112, S. 825 scheint BEiSSNER sogar »im Anfang« als .anfangs« mißzuverstehen!
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und deshalb in den Ton der Klage um die entschwundene Herrlichkeit gebannt war, wird zum hymnischen Sänger, der die Zeichen entziffert, in denen das Zukünftige sich ankündigt. [... ] Der Vater aberliebt, Der über allen waltet, Am meisten, daß gepfleget werde Der veste Buchstab, und Bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang. In diesem Schluß von >Patmos< ist die neue Aufgabe genau bezeichnet. Auf Deutung des Bestehenden kommt es an, so daß es zum Zeichen des Zukünftigen, zur bedeutungsvollen Schrift wird. Diese Aufgabe meint der Dichter, wenn er sich vorsetzt, vonjetzt an die »Engel des Vaterlandes« zu singen. Sie sind die Zeugen und Boten des Göttlichen, die der Dichter erkennt - vor allem in der großen Urschrift des elementaren Naturlebens: [... ] Des Göttlichen aber empfiengen wir Doch viel. Es ward die Flamm uns In die Hände gegeben und Boden und Meeresfluth. Denn menschlicher Weise nimmermehr Sind jene mit uns, die fremden Kräfte, vertraut. Das Hinausgehen über die menschliche Weise der Vertrautheit - bei allem nahen Umgang des Nutzens und Brauchens -, das die Elemente auszeichnet, ist ihre Göttlichkeit, und insofern sind sie uns, gerade weil sie »vor Augen dir« sind, zur Lehre. Sie lassen in der Gegenwart des Täglichen an das Göttliche denken und mahnen zum rechten Dank. [... ] Es rauschen die Wasser am Fels Und Wetter im Wald und bei dem Namen derselben Tönt auf aus alter Zeit Vergangengöttliches wieder. Noch bedeutender aber sind uns die bestimmten Gestalten der heimatlichen Landschaft, insbesondere ihre Ströme und ihre Gebirge. Denn der Lauf der Ströme und der Zug der Gebirge sind wie über uns ergangene Entscheidungen des Schicksals. Sie formen den geschichtlichen Raum unseres Daseins, und bedeutungsvoller noch weisen sie über ihn hinaus in andere Sinnsphären der Herkunft und der Bestimmung. So, wenn die Donau gleichsam den Weg unseres geschichtlichen Erinnerns voraneilend nach Osten strebt, so, wenn der Rhein im gleichen Drang nach dem Ursprungslande gehemmt »still wandelnd sich im deutschen Lande begnügt« und sich und uns »ein wohlbeschiedenes Schicksal« findet. »Sie sollen nämlich zur Sprache sein.« Offenbar meint Hölderlin nicht eine bloße vage Symbolik. Gebirgszüge und Flußläufe lassen uns fdhlen, wie wenig unser menschliches Tun und Lassen angesichts dieser Runen der Erdgeschichte bedeuten. Das
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sagen sie uns. Die Fugen und Furchen von Himmel und Erde sind uns Schicksalszeichen. Die menschliche Geschichte, die des einzelnen wie die der Völker, ist nicht nur jenen in die Natur eingestalteten Schicksalszügen zugeordnet, sie ist selbst ein solches Schicksal, wie eine Begegnung von Menschen und Göttern, ein Stück Geschichte der Götter. Ebenso fand Hölderlin auch in den großen Männern der abendländischen Geschichte solche Bedeutung. Er sah in ihnen Schicksalsmänner, die, sich selbst erfüllend, den einen Sinn der Geschichte bilden, eine )) Himmelsleiter«. [... ] Wo nämlich Die Himmlischen eines Zaunes oder Merkmals, Das ihren Weg Anzeige, oder eine Bades Bedürfen, reget es wie Feuer . In der Brust der Männer sich. Doch damit ist eine letzte, alles vollendende Stufe in der Neudeutung der Nacht erreicht. Sie ist nicht bloße Zeit der Not, nicht bloße Zeit der Bewahrung und Bereitung, die auf das Zukünftige deutet. Sie ist zugleich auch der bleibende Grund und das beständige Mitdasein mit dem gestalteten Tage und dem gegenwärtigen Göttlichen. Es ist der Mythos von den Titanen, in dessen Lichte sich dem Dichter die Deutung der Geschichte aus dem Zukünftigen vollendet. Ihm sind mehrere fragmentarisch gebliebene Hymnenentwürfe gewidmet. Er steht aber auch im Hintergrunde mancher anderer seiner großen Dichtungen der Spätzeit. Die Titanen sind die Götterfeinde der griechischen Mythologie, die Gegner der Olympier, die in der gewaltigen Götterschlacht in Thessalien, die uns Hesiod erzählt, besiegt und in den Tartaros, den lichtlosen Abgrund, verbannt wurden. Zu den Titanen gehört aber auch im besonderen4 Prometheus, der Menschenfreund, der den Sterblichen das Feuer verschaffte und so ihre Herrschaft über die Natur begründete. Aufstand der überwundenen Titanen ist von da aus jede neue Bedrohung der göttlich regierten Weltordnung, auch die durch den maßlosen und widergöttlichen Herrschaftswillen der Menschen. Das etwa sind die gängigen Züge der antiken mythologischen Überlieferung, die Hölderlin vom Ursprung seiner Erfahrung aus belebt. Wie sieht der Dichter das Titanische? Offenbar im Vergessen des Ursprungs und dem daraus entspringenden Trachten, »den Göttern gleich zu werden«. Der Rhein ist anders. Er ist ein Göttersohn, der seines Ursprungs nicht vergiBt, als er das stille Schicksal seines langsamen und segenspendenden Ganges durch die deutschen Lande annimmt. Damit weckt er das Gegenbild des Titanischen, dessen, das sich vermißt. 4
Nach K.
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erst des Aischylos.
(Tradition und Geist. Gättingen 1%0, S. 207f.) eine Erfindung
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Wenn einer, wie sie, sein will und nicht Ungleiches dulden, der Schwärmer, so trifft ihn das göttliche Gericht,
[... J daß sein eigenes Haus Zerbreche der und das Liebste Wie den Feind schelt und sich Vater und Kind Begrabe unter den Trümmern [... ) Hier mag Mythologisches, die vom Wahnsinn gestraften Heroen Bellerophon, Herkules, dem Dichter vorschweben. Die belebende Erfahrung aber ist wiederum eine gegenwärtige: die Selbstzerstörung des maßlos auf sich selbst Bestehenden. Wer war es, der zuerst Die Liebesbande verderbt Und Stricke von ihnen gemacht hat? fragt der Dichter und will doch keine Antwort aus der mythischen Vorzeit hören,' sondern sagen, was diese mythische Auflehnung gegen die Götter immer und als eine immer bleibende Versuchung im Grunde ist: Vergessenheit, eine wahre Gottvergessenheit, Verkehrung des wahren Verhältnisses von Göttern und Menschen. Sie wirkt sich in der Verkehrung unseres Seins zu den Dingen aus. Liebesbande und Stricke sind die Art unmerklicher Führung und Leitung, die in liebender Verbundenheit geübt wird (»in leichtem Umfangen(!) gegenüber dem Gezwungen- und Gezogensein durch ausgeübte Gewalt. Dies soll den Wandel im Sein zur Natur beschreiben, der sich durch die Entfesselung des menschlichen Herrschaftswillens vollzogen hat. Die Gaben der Natur werden nicht mehr so, wie sie sich bieten, hingenommen und genutzt, sondern gewaltsam zu Leistungen gezwungen. Das ist selbst noch mythologisch geredet. Gemeint ist die Verwandlung alles Seinsverhaltens in Berechnung, die das Schicksal der Neuzeit bezeichnet. So, wenn die Menschen in der segenspendenden Fülle der Natur, etwa im Laufe des großen Stromes, nicht mehr erkennen, was sie lieben, die unvordenkliche Vertrautheit der Heimat. sondern nur noch einen Rechnungsfaktor in' ihrem wirtschaftlichen Fieber, eine Wasserstraße von so und so )auszulastender. verkehrs technischer Potenz. Das kennzeichnet die Gegenwart, daß in ihr »der Geist zu Diensten« gebraucht wird: Zu lang ist alles Göttliche dienstbar schon. Und alle Himmelskräfte verscherzt. verbraucht. Die Gütigen, zur Lust danklos ein Schlaues Geschlecht [... )
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Es ist der Geist des »Wilden«, des Ungebundenen, des Unteilnehmen...; den, den der Dichter in dem herrschenden Geiste seiner Zeit erkennt: »Sich in der tosenden Werkstatt/ höretjeglicher nur.« In diesem Geiste sieht er eine mythische Macht. Es sind Titanenflirsten, die »wie Raub« die Gaben der Mutter greifen. Sie haben gewaltsam »den Fluch in die Brust empfangen« - einen Fluch, denn dieser Aufstand des Titanenturns ist am Ende doch ohnmächtig, und ihr Schicksal bleibt unselig. Zwar scheint ihnen keine M:jcht mehr be.grenzend und bindend entgegenzustehen, da das Götdiche sich v e r b i r g t . .. D.~.v.:at~ab~qi~_'*c.t mitheili~Na.ch.t; "., _._
Damit wir bleiben mögen. die Augen zu, Nicht liebt er Wildes [... ] Dennoch aber ist gerade das äußerste Aufbegehren des Abgrundes, die äußerste Vermessenheit des Widergöttlichen niemals eine wirkliche Bedrohung der väterlichen Gottesrnacht. Nicht möcht ich aber sagen, Es werden die Himmlischen schwach, Wenn schon es aufgährt [... ] Denn in der höchsten Bedrohung, »wenn es gehet an die Scheitel dem Vater«, ist es erst Zeit. 11 Wunderbar / im Zorne kommet er drauf. ce Das ist gewissermaßen die äußerste Kunde, die der zeichendeutende Dichter zu .leseli~ers:teht,::Getad6in)def Nacht und-im Ansteigen.-der »uralten' Verwirrung« liegt das stärkste Vorzeichen des Künftigen. Die Zeichen des Himmels, die der Dichter erkennt und die ihm die Wiederkehr der Götter deuten, sind nicht irgend welche »Taten der Erde«, die einem jeden Auge offen daliegen. Nur der Dichter kennt sie, das heißt aber, sie bekunden sich nur im Wort des Gesanges, der dem Dichter gelingt. Die allgemeine Geltung des Titanenmythos reicht so weit, daß auch des Dichters Deuteramt in der Versuchung und Bedrohung durch den Fluch des Titanischen steht. Er ist von der Versuchung bedroht zu übereilen, »mit eigenem Sinn zornig zu deuten«, sich »selbst zu spornen« und »aus Unruh und Mangel« dem Oberfluß des Göttertisches zu nahen. Dieser Versuchung war Tantalos erlegen. Dem begegnet die Einsicht, daß das Gesetz der ordnen
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Dann ist, wie jetzt, ~e Zeit des Gesanges. Und hier ist der Stal;! ::. Des Gesanges, nieder\tiinkend [... J Der Stab des Gesanges, 'das alte Rhapsodenzeichen, soll die Toten aufwekken, »die noch gefangen nicht vom Rohen sind«. Darin liegt ein Doppeltes, Der Gesang ist nur Wink, das heiß t, er weckt und erliest nicht jeden - 11 denn nichts ist gemein«. Aber er hat diese weckende Kraft, weil er löst und bindet. Er löst aus der Fessel des Rohen, aus den barbarischen Sorgen, und er bindet, weil er in die Gemeins:amkeit des Wortes herausruft und in ihr für alle bewaht,t·und--wirklich macht, was: die »verschwiegene Brust« weniger einzelner erfüllte. Schon für die Göttlichkeit des Weines war es dem Dichter ein Unterpfand, daß die ihm geltenden Gesänge I)im Ernst« gesungen waren, das heißt: nicht aus einer gelehrten Mythologie, sondern als eine lebendige, lösende und begeisternde.Macht den Wein priesen. Warum aber - wird man sich fragen - ist das Gelingen des Gesanges Unterpfand des Seins und der kommenden Rückkehr der Götter? Gewiß, das Gelingen ist nicht das Resultat einer berechnenden Bemühung des Dichters, sondern erscheint als die Verfiigung eines Höheren über ihn. Aber wieso hat dies die Bedeutung eines Unterpfandes für die Wandlung aller? Offenbar ist die Sprache, der gemeinsame Besitz von Welt, in ihrer eigentlichen Möglichkeit, wenn sie nicht Ausdruck der Meinungen einzelner ist, sondern in ihrem dichterischen Gefügtsein in sich selbst besteht und von sich a\'fs·,·ctas"Aufgetaßtwerden bestinihi't·, Als solChes Gefüge von Dichtung, in der Abgelöstheit von den Meinungen, ist die dichterische Sprache eine den einzelnen, auch ihren Schöpfer übertreffende Seinswirklichkeit, kein bloßer Zauber, sondern die Erscheinung einer verwandelten Welt. Diese Verwandlung der Welt in eine das einzelne menschliche Bewußtsein übersteigende Seinsordnung ist aber ebenjene Rückkehr der verlorenen Verbindung und Bindung von Göttern und Menschen, von der die Dichtung Hölderlins spricht. So ist der Gesang nicht in dem Sinne ein Zeichen, daß er hinzeigt auf ein Anderes, Kommendes, Gemeintes - in ihm selbst geschieht das Kommende. . Ein spätes Bruchstück kann diese Zusammenhänge verdeutlichen. Es lautet:
...... L: ,J eifen die Fenster des Himfu'e1s~" Und freigelassen der Nachtgeist Der himmelstürmende, der hat unser Land Beschwätzet, mit'Sprachen viel, undichtrischen, und Den Schutt gewälzet Bis diese Stunde. Doch kommt das, was'ich will,
Wenn! ... }
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Offenbar hat der Dichter hier zwei mythische Motive verschmolzen: den griechischen Mythos von den Titanen und die Geschichte vom babylonischen Turmbau und der ihm folgenden Sprachverwirrung. Das Beschwätztsein von undichterischen Sprachen, diese Entstellung des sprachlichen Kosmos, erscheint zugleich als eine Verwirrung der göttlichen Ordnungen. Undichterisch heißt, nichts vom Göttlichen wissen zu wollen. Und so bedeutet ein Undichterischsein der von den Menschen gesprochenen . Sprachen in der Tat den titanischen Aufstand. Umgekehrt besteht offenbar eine klare Entsprechung zwischen der allen gemeinsamen Sprache, die der Dichter führt, und dem allen gemeinsamen Tage. Das Wort des Dichters gibt der Erfahrung des Göttlichen Halt und Bindung. Haltbarkeit, Bindung an feste Wege des Wandels kennzeichnet. auch den Tag, im Unterschied zum Rohen, zur Wildnis, zum Dämmer, zur Verwirrung der Nacht. Tag und Nacht werden aber nicht nur als ein. Gegensatz erfahren, sondern gerade in ihrem inneren Bezug. Die· Worte müssen •• wie Blumen« entstehen, ebenso mühelos, aber ebenso wohlvorbereitet im Wurzelboden der Erde (»tragen muß er, zuvor«); ebenso ist das Sein des Tages auf das Nächtliche bezogen, wenn .>es fieberhaft und angekettet das/ Lebendige scheint«; wenn •• rein das Licht und trunken/ die Himmlischen sind/ vom Wahren, daß ein jedes/ ist wie es ist?« Diese Eindeutigkeit der gestalthaften Welt und ihrer göttlichen Ordnungen bewahrt den Bezug auf das Ungestaltete: Ihr ruhlet aber Auch andere Art. Denn unter dem Maße Des Rohen brauchet es auch, Damit das Reine sich kenne. Im Mythos ist dies die Gebundenheit der Titanen durch die Macht des Zeus, der die gewaltigen Berge über sie getürmt hat. Es sieht der Dichter das ungestalte Wesen der titanischen Kräfte ständig am Werk, auch innerhalb der göttlichen Ordnungen, aber als das Angekettete. Die göttliche Ordnurig ist eine Bindung des Chaos. Die eigentliche Botschaft des Dichters aber ist die Unzerstörbarkeit dieser Herrschaft der ordnenden Geister. Titanenaufstand, Lossagung vom Göttlichen, ist das wesenhaft Ohnmächtige. Daß die Macht der Himmlischenjemals schwach würde, ist nur ein Schein. Auch noch über der Entgötterung der Welt waltet das Gesetz und behält sie ein. Man denke an den Schluß der Rheinhymne, wo Gott erkannt wird: Bei Tage, wenn Es fieberhaft und angekettet das Lebendige scheinet oder auch Bei Nacht, wenn alles gemischt Ist ordnungslos und wiederkehrt Uralte Verwirrung.
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Bei der großen und übertllschenden festigkeit, die Hölderlins mythische Welt aufweist, darf man mit diesem Titanenmotiv wohl das andere verknüpfen, das der Dichter (in etwas früherer Zeit) in dem Gedicht INatur und Kunst oder Saturn undJupiter( gestaltet hat: Du waltest hoch am Tag und es blühet dein Gesetz, du hältst die Waage, Satumus' Sohn! Und theilst die Los' und ruhest froh im Ruhm der unsterblichen HerrscherkÜIlSte. Doch in den Abgrund, sagen die Sänger sich, Habst du den alten Vater, den eignen, einst Verwiesen und es jammre drunten, Da, wo die Wilden vor dir mit Recht sind, Schuldlos der Gott der goldenen Zeit schon längst; Einst mühelos und größer, wie du, wenn schon Er kein Gebot aussprach und ihn der Sterblichen keiner mit Namen nannte. Herab denn! oder schäme des Danks dich nicht! Und willst du bleiben, diene dem Alteren Und gönn' es ihm, daß ihn vor allen, Göttern und Menschen, der Sänger nenne! Denn, wie aus dem Gewölke dein Blitz, so kömmt Von ihm, was dein ist, siehe! so zeugt von ihm, Was du gebeutst, und aus den alten Freuden ist jegliche Macht erwachsen. Und hab' ich erst am Herzen Lebendiges GefUhit und dämmert, was du gestaltetest, Und war in ihrer Wiege mir, in Wonne die wandelnde Zeit entschlafen, Dann hör' ich dich, Kronion! und kenne dich, Den weisen Meister, welcher, wie wir, ein Sohn Der Zeit, Gesetze gibt und, was die Heilige Dämmerung birgt, verkündet. Der mythologische Befund, auf dem Hölderlin hier aufbaut, schließt an den Titanenmythos an. Er betrifft das Verhältnis des neuen Herrschers des Olymp, Jupiter, zu Saturn, dem von ihm gestürzten und verbannten Vater. »Da, wo die Wilden vor dir mit Recht sind« - dort im Abgrund, der die Titanen birgt, sei der Gott der goldenen Zeit »schuldlos«. Ihn von dort zu befreien und ihm die ihm gebührende Ehre zu erweisen, wird Jupiter gemahnt. Man wird an Aischylos' Prometheus erinnert, der auch dem jungen Herrscher des Olymp Maß und Versöhnlichkeit zu lernen aufgibts. Hier ist 5 Vgl. meine Studie ,Prometheus und die Tragödie der Kultur., in diesem Band, S.lS0ff.
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es nicht Prometheus, an dem Zeus zum gerechten Herrscher zu werden hat. Aber auch hier muß sich die dämmernde Zeit - Saturn - mit dem klaren Gesetz des Jupiter vereinigen, wenn dieses Bleiben gewinnen soll. Saturnusherrschaft, .die saturnischen Tage, war die fiir die Menschen selige Zeit des mühelosen Genusses der Freuden des Daseins. Saturn herrschte, ohne ein Gebot auszusprechen, mühelos waltend wie die Natur. Jupiter ist demgegenüber die Kunst des Herrschens, das bewußte Ordnen nach Recht und Gesetz. Eben diese neue Ordnung soll sich mit der wandelnden Zeit versöhnen. Dann erst werde Kronion Oupiter) der weise Meister sein, wenn er [... ] wie wir, ein Sohn Der Zeit, Gesetze gibt und, was die Heilige Dämmerung birgt, verkündet.
Die Versöhnung Von Saturn und Jupiter, von Natur und Kunst, drückt in älterer Sprache.9,ie gleiche Überwindung des Gegensatzes von Nacht und Tag aus, die wir ·in HÖlderlinsEntWicklung des Titanenmotivs fanden. Die Ordnung des Tages kann nicht dem bloßen Übermut des siegreichen Gottes entspringen. Dann hätte sie keinen wahren Bestand. Der »Verstand« muß vielmehr hinzukommen, das heißt aber, das Wissen um die Natur, um die Abhängigkeit und Herkunft aus dem Dämmer der Zeit. Die Titanen sind mit Recht in den Abgrund verbannt, denn sie sind »Wilde«, die der Tag nicht duldet. Saturn aber ist kein Widergott. er ist die Natur und damit die wahrhaft göttliche Ordnung aller Dinge. Die Kunst, bei all ihrer Herrlichkeit, zeugt nur von ihr. Und das Gedicht will sagen, daß nur der zu dieser Weisheit gelangte Herrscher durch jedes Aufbegehren des Abgrundes unangefochten bleibt. - Vielleicht muß man geradezu so weiterdenken: Weil er die Titanen ruhig aufbegehren läßt und erst auf dem Höhepunkte dt!1: A.\l.{l~~~g.. 0rcin~!i.h,!\lI:a~(~~ht,. i~t .er der unaJlgr.eifbare Herrscher. Er hält nicht abstrakt eine durch ihn begründete Ordnung der Dinge (und der Menschen) fest. sondern sein »Verstand« ist eben, einverstanden zu sein mit dem Willen der »reifenden Zeit« und den ungeschriebenen Gesetzen, nach denen die »Natur« waltet und ihren Ausgleich trifft. Deshalb läßt er der Gegenwart ihren heillos scheinenden Lauf. Es braucht nun kaum noch ausgesprochen zu werden, wie sich diese mythologische Deutung der Dinge durch den Dichter in das Bewußtsein der von ihm Angesprochenen umsetzt. Auch ist es ja nicht so, daß die versteckten Züge dieser Symbolik in einem ausdrücklichen Begreifen des Verstandes vereJugt und angeeignet werden müßten, um ihre Sinn wirkung zu tun. Sie stellen nur die mythische Gestaltung dessen dar, was an Hölderlins letzter dichterischer Eigenart Von jedem erfahren wird und was seine geheiinilisvoUeGegeriwäriigkeit ·begrünaet. Hölderlin ist so sehr auf
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das Zukünftige gerichtet, von dem er sieht und zeugt, daß er dem Dichter etwas von der antiken Würde des Sehers zurückgegeben hat. Der antike Seher - und der Dichter, der sich im Amt des lvates< weiß - ist nicht ein·Wundermaim, dem durch eine Art Zauber die Erkundung der Zukunft gelingt, sondern er ist ein Wissender. Er versucht die Zeichen des Kommenden zu lesen, weil er weiß, was gewesen ist - und wie es immer ist. Aber während sich der antike Seher und Dichter mit seiner Rede, ob sie nun warnt oder mahnt, flucht oder weiht, als Sprecher des Gottes weiß, der alles Sein und alles Tun sichtbar durchwaltet, ist die Lage des abendländischen Dichters eine andere, und noch das Ähnlichste stellt sich anders zusammen. Auch Hölderlins Wort ist das Wort eines Wissenden, eines Eingeweihten. Aus der bewahrenden Innigkeit des »Dankes«, in dem das VergangenGöttliche fortlebt, deutet sich ihm die kommende Stunde. ))Doch Vergangenes ist wie Künftiges heilig den Sängern.« Auch er also weiß, weil er weiß, was gewesen ist und was sein kann. Gleich dem antiken Seher steht auch er unter dem Andrang_~iner göttlichen. Fülle, derer kein anderer gewahr wird, es sei denn ein Erblindeter. Gleich ihm trägt er die gefährliche Einsamkeit dessen, der unter einer Berufung steht. Gleichwohl ist alles ganz anders, und gerade dies Anderssein fUgt den Dichter Hölderlin in die einmalige Figur seines Schicksals. Er weiß nicht, wie der antike Seher, um Zukunft und Vergangenheit, weil das außerordentliche Wissen des Sehers alles Seiende umschließt. Es ist die Kraft seines Herzens, die das Vergangene in das Künftige wendet. Das Symbol der Nacht, des Dämmers zwischen gewesenem und kommendem Tage, meint diese geschichtliche Lage des Dichters, die für ihn Mangel und Fülle zugleich ist. Er liest nicht, als der vom Gott her Wissende, die Zeichen irgendeiner Zukunft, die den anderen verhüllt ist und doch zu wissen not. Das Zukünftige, das er sieht, ist nicht das noch verborgene Geschehen einer ausstehenden Zeit. Es wäre ein Mißverständnis, wollte man seine dichterische Botschaft als' )Erkundung der Zukunft< verstehen und beherzigen. Das Zukünftige, das er kündet, ist überhaupt nicht ein von den Göttern Gesandtes, Gutes oder Schlimmes, sondern es ist die Wiederkehr der Götter selbst, die in nichts anderem als in diesem Ruf des Dichters (und seinem Widerklang im Herzen des Volkes) geschieht. Damit ist der Seher mitsamt seinem Wissen in die äußerste Ungewißheit ausgesetzt ..~ein Lied singt nicht nur von Zukünftigem, sondern ist selbst das wesentliche Geschehen, in dem sich das Zukünftige zeitigen muß. Was der subjektiven Reflexion als ein Vorgang der dichterischen Eingebung und Empfängnis sich darstellt, ist Erscheinung des göttlichen Seins und hat an aller Gewißheit und Ungewißheit des Kommenden teil.
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Und cüe Zeiten des Schaffenden sind Wie Gebirg, das hochaufwogend Von Meer zu Meer Hinziehet über cüe Erde [... ]
So steht das Seherwort des hesperischen Dichters ganz auf sich selber und bleibt seiner selbst gewärtig. Sich selbst zukünftig ist es das ins Ungewisse der Zeit ausgesetzte Unterpfand eines bleibenden Seins. Deshalb zielen alle schnellen Anwendungen seiner dichterischen Rede auf die Gegenwart und ihre Erwartungen zu kurz. Auch wenn der Dichter in einem Gedicht von so erschütternder Kraft und Eindringlichkeit, wie es das Bruchstück )Der Frieden< ist, geradezu die Erfahrungen des eigenen kampfund leiderfahrenen Geschlechts auszusprechen scheint, meint sein dichterisches Wort vom Frieden doch nicht ein zu erwartendes Ereignis der Zukunft. Er spricht als ein in alle Zukunft Eingeweihter und in allem menschlichen Geschick Erfahrener sein bleibendes Wort:
Der Frieden Wie wenn cüe alten Wasser in andern Zorn In schröcklichem verwandelt wieder Kämen, zu reinigen, da es not war. So gährt' und wuchs und wogte von Jahr zuJahr Rastlos lind überschwemmte das bange Land Die unerhörte Schlacht, daß weit hüllt Dunkel und Blässe das Haupt der Menschen.
Wer hub es an? wer brachte den Fluch? von heut Ist's nicht und nicht von gestern, und die zuerst Das Maß verloren, unsre Väter Wußten es nicht, und es trieb ihr Geist sie. Zu lang, zu lang schon treten die Sterblichen Sich gern aufs Haupt, und zanken um Herrschaft sich, Den Nachbar fürchtend, und es hat auf Eigenem Boden der Mann nicht Segen. Und unstät wehn und irren, dem Chaos gleich, Dem gährenden Geschlechte die Wünsche noch Umher und wild ist und verzagt und kalt von Sorgen das Leben der Armen immer.
3. Die Gegenwärtigkeit Hölderlins (1983)
Als ich die ersten Verse Hölderlins las, war das noch eine Ausgabe von Marie Joachimi-Dege, in der nur wenige der späten Gedichte in vollem Wortlaut auftraten - ich bin nicht einmal sicher, ob IBrot und Weine schon in der vollen Fassung dort aufgenommen war. Bekanntlich ist ja von den Romantikern nur die erste Strophe dieses großen Gedichtes in die Öffentlichkeit gegeben worden. Das große Ereignis, das mich und andere in einen neuen Hölderlin eingewiesen hat, war die Hellingrathsche Ausgabe der späten Gedichte, die 1916 im Druck erschien und 1914 vor Ausbruch des Krieges im Manuskript von Hellingrath abgeschlossen war. Man weiß, daß der Dichter Stefan George in einem mit Recht berühmten, wahrhaft epochalen kurzen Wort die Entdeckung dieses uns bisher verborgenen Dichters verkündet hat und daß es eben die Hellingrathsche Entzifferung und Erweckung des Hymnenwerks war, aufgrund deren der Dichter dieses Neue ankündigen konnte. Aber es war ja mehr als ein Kreis von eingeweihten Freunden eines Dichters vom Range Stefan Georges, was diese plötzliche Gegenwart eines neuen großen Dichters ermöglichte. Man fragt sich doch auch, und wir alle fragen uns, wir Älteren, die wir eine lange Zeit die Wellenschläge des Echos dieser Dichtung erlebt haben, und die Jüngeren fragen sich gewiß auch, wie dieses gedankenvolle Brandungsgeräusch in unserem industriellen und technischen Getöse weiterschallen wird oder ob es verstummt. So sind wir sicherlich alle gemeinsam vor die Frage gestellt: Was hat neben dem glühenden Atem Schillerschen Freiheitspathos und seiner dichterischen Rhetorik, und 'neben der für uns alle und immer wieder unfaßlichen Gelassenheit des dichterischen Genius von Goethe - was hat diesen dritten großen Dichter deutscher Sprache fast auf dieselbe Stufe von Gegenwärtigkeit gehoben? Was ist das so anders, daß einer sagen kann, er ist ein' von Hölderlin Getroffener gewesen? Was begegnete uns in diesem Dichter aus der schwäbischen Enge -, was ist es, das ihn fUr Zugereiste meines Schlages und für die ganze deutsche und europäische, die ganze französische, englische, amerikanische und darüber hinaus die italienische und spanische Sprachwelt auszeichnet -
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und ich weiß nicht, wie weit das Jenseits der Sprachen reicht, die ich selber zu lesen vermag. Was ist es, daß überall Hölderlin als ein Dichter unseres Jahrhunderts erscheinen kann? Wenn ich diese Frage stelle, so glaube ich sagen zu dürfen, daß hier ein Geheimnis des'Wortes, das, was wir das Leiden am Suchen des Ausdrucks nennen könnten, im Spiele ist. Keiner unserer großen Dichter sonst hat so das Wort immer wieder fast stammelnd gesucht und die Suche immer wieder verzweifelt abgebrochen. Keiner von allen unseren Dichtem sonst war so wie er durchdrungen von der Unfähigkeit, der Unmöglichkeit, das zu sagen, was zu sagen ihm vorschwebte. Vielleicht ist es das, was am Wort dieses Dichters auch den Zeitgeist in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, injener Epoche, die dann für die deutsche Geschichte so unselig enden sollte, uns alle zutiefst anrührte. Es war ja die Zeit, in der auch in anderen Sphären die Kunst der Erbmasse eingeübter Formen und Gestaltungsweisen eigentlich nicht mehr folgen konnte, sondern suchend, gepreßt, gesteigert, deformierend und doch immer wieder ganz besessen von dem eigenen Ausdrucksverlangen, neue Gestaltungen unennüdlich versuchte. So mag es wohl damit zusammengehangen haben, daß wir, lange bevor durch eine politische Instrumentierung dieser Hölderlinpflege die Dinge ins Zwielicht kamen, alle Hölderlin lasen, über Hölderlin nachdachten wie über einen, der über die Zeitenfeme unserer klassischen Dichter weit hinaus zu uns selber gehörte. Für Rillte, Trakl, fiirGottfried Benn, für alle Kommenden - ich wage gar nicht, die jüngeren Namen überhaupt zu nennen - war es eine Selbstverständlichkeit, dieser Dichtweise zuzuhören, dieser Weise eines Dichters, die keine vertraute Weise, die keinen sozusagen ererbten und weiterentwickelten Ton aussingt, sondern ihr eigenes gepreßtes Unvermögen zu immer neuen Visionen ins Wort zu bannen versucht - und das vermag. Er war für uns auch der Vorläufer von Nietzsches Entdeckung des dionysischen Untergrundes der apollinischen Heiterkeit in der griechischen Kultur. Er war rur uns insofern eine beständige, fordernde Aufgabe, die mit uns gegangen ist. Trotzdem war er nicht eine Bezugsfigur konstanter Art. Ich sprach von dem Rhythmus der Wellenschläge, in denen uns alle die Hölderlinsche Dichtung erreicht. Sehr verschiedenartig wirkte etwa die HyperionPhase auf uns; -öder wie eigentümlich war unser Schwanken zwischen der Bevorzugung der prophetisch klingenden Hymnen oder der gelassenen und doch auch wieder aufs kühnste gebrochenen Form, in der die strengen antiken Maße zum Ausdruck von HölderIins gedrängtem und bedrängtem Sehnen wurden. In den letzten Jahrzehnten konnten sogar die Gedichte der spätesten Zeit, der Zeit der Umnachtung, wie man sie nannte und nennen darf. eine neue - ich weiß nicht, was filr eine - Gegenwärtigkeit erreichen, als das Ausklingen einer ermatteten und gepreßten Seele in unvergleichli-
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chen Einklängen von Natur und Seele, im Rhythmus der Jahreszeiten, im Rhythmus der Lebensjahre - Ineinanderspiegelungen im Nachklang, in denen der Einklang von Natur und Mensch selbst in einer durch die Emsigkeit unserer technischen Zivilisation entstellten Umwelt uns nochmals erkennbar wird. Gerade auch die Vielfalt dieser Brechungen, in denen das Werk Hölderlins zu uns sprach, macht für den, der ein Ohr für Dichtung hat, noch immer seine Gegenwärtigkeit aus. Als Pl1ü9soph hätte ich natürlich noch allerhand über die neue Bedeutung zu sagen, die Hölderlin für unser Verständnis der Epoche zwischen Klassik und Romantik gewonnen hat. Was inzwischen so vielfach in aller Munde ist, hat uns schQJ1 in den zwanziger Jahren sehr bewegt: Hölderlin. der Jakobiner. Ich arbdt'ete um 1933 an einer größeren Arbeit über die Französische Revolution und ihre Wirkungen auf die deutsche Kultur. Da ich mich entschloß, in Deutschland zu bleiben. habe ich das Arbeitsthema wieder fallengelassen. Aber es gab Vorarbeiten, und man wußte allerhand über diese Dinge, die dann inzwischen durch andere. vor allem durch Bertaux, ins allgemeine Gespräch gekommen sind. Nun, etwas von dieser Präsenz Hölderlins, des aus ganz engen Verhältnissen Kommenden und trotzdem »von der Sprache Geküßtenlt, gilt wohl für uns alle. Was für ihn Sprechen war, ist vielleicht die Urform von Sprechen überhaupt. Sprechen ist Suchen des Wortes. Finden des Wortes ist wohl immer schon eine Beschränkung. Wer wirklich zu jemandem sprechen will, tut es im Suchen der Worte. weil er an die Unendlichkeit dessen denkt. was einem zu sagen nicht gelingt - und was gerade dadurch, daß es einem nicht gelingt, im Anderen anzuklingen beginnt. Etwas von dieser Weisheit des Stammelns und Verstummens wird vielleicht das Zukunftserbe unserer geistigen Kultur für kommende Generationen sein müssen. Man sieht es ja, wie hermetisch die Form heutiger Dichtung geworden ist. Da braucht man sich weder zu wundern, daß es keine breite Resonanz von Dichtung in der Öffentlichkeit gibt, noch muß man sich wundern, daß diejenigen, die das Wort der Dichtung fiir ein unentbehrliches Lebenselement halten, nicht mehr freudig und gelassen über den Besitz eines dichterischen Erbes frohlocken, sondern selber wie Beengte und wie Stammelnde in diese unsere Welt hinein- und in diese unsere Zukunft hinausblicken. Die Weisheit des Stammelns und Verstummens trägt die Gegenwärtigkeit des neu entdeckten Hölderlin.
4. Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins >Andenken< (1987)
Das Thema )Dichten und Denken< ist jedermann dank der schicksalhaften Nähe Hölderlins und HegeIs, des unglücklichen großen Dichters und des imperialen Denkers der gleichen Epoche, nahe. Selbst die Wahl des Gedichtes )Andenken< zur Diskussion eines so grundsätzlichen Themas kann nicht gerade überraschen. Schließlich hat Heidegger im Jahre 1943 eine umfangreiche Auslegung des Gedichts vorgelegt l . Er war offenkundig von der inneren Gewißheit erfüllt, daß die Grundhaltung des späten Hölderlin mit seinem eigenen Denkschicksal, das i~ in seine philosophische Arbeit genötigt hatte, nahe übereinstimmt und eine überwältigende Aktualität aufweist. Nun verfolgen alle Hölderlin-Beiträge Heideggers das gleiche Ziel. Er möchte Hölderlin aus der Nachbarschaft mit dem deutschen Idealismus, mit dem er zeitgenössisch war, ganz herausrücken und in seiner Einzigkeit sichtbar machen. Wie Stefan George in den späten Hymnen Höderlins den Seher der eigenen Zukunft unseres Volkes gesehen hat und das schon vor dem Ersten Weltkrieg aussprach, als er die durch Hellingrath geleistete Entzifferung des Hölderlinschen Spätwerkes kennengelernt hatte. Martin Heidegger hat in vergleichbarer Weise Hölderlin und seine einzigartige symbolische Vorläuferschaft für sein denkerisches Anliegen in Anspruch genommen, und das war, die Frage nach dem Sein neu fragen zu lernen. Hölderlins dichterische Werke sollten ihm für sein Bemühen hilfreich werden, die Metaphysik zu »überwinden«. Heidegger hat in seinem Umgang mit dem Hölderlintext vieles neu zum Klingen gebracht. Er folgte sachlichen Zusammenhängen, wenn er das Gedicht )Andenken< mit. Entschlossenheit in die Reihe der großen späten 1 Veröffentlicht zusammen mit meiner Interpretation von Hölderlins Hymne IDer Einzige. Getzt in diesem Band. Nr. 1) in: Hölderlin. Gedenkschrift zu seinem 100. Todes-' tag. Herausgegeben von PAUL KLUCKHOHN. Tübingen 1943. S.267-324 Getzt in der HElDEGGERschen Gesamtausgabe Bd.4, S.79-151). Inzwischen ist außer dem Aufsatz Heideggers auch die weitausgreifende Vorlesung aus den Jahren 1941/42 als Band 52 der Gesamtausgabe zugänglich, die das Gedicht interpretiert hat. In den Bänden 4, 39 und 53 sind weitere seiner Arbeiten über Hölderlin enthalten.
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Hymnen einordnete und aus'diesem Zusammenhang interpretierte. Er hat sich mit dieser Anordnung gegen die Einreihung Hellillgraths entschieden. Hellingrath hatte - nicht ohne das zu begründen - )Andenken( der Reihe der »lyrischen« Gedichte eingefügt2. Dagegen war es Heideggers Art, daß er Hölderlins denkerisches Werk als eine einheitliche geschichtsphilosophische und geschichtspoetische Vision verstand. Man kann daher viel über die innere Folgerichtigkeit lernen, die zu der sogenannten vaterländischen Wendung Hölderlins und der Wendung zur Heimat geführt hat. In dem Gedicht )Andenken( gibt es aber nur eine ausdrückliche Anspielung auf das, was Hölderlin sonst oft in die Mitte seiner hymnischen Schöpfungen gestellt hat. Nur im letzten Vers seines )Andenkens( spielt er an den Beruf des Dichters an. Von dieser Schlußwendung »Was bleibet aber, stiften die Dichtecc< läßt sich Heidegger leiten, indem er überall in dem Gedicht die Dichter gemeint finden will, sowohl in den Schiffern, welchen der Nordost günstige Fahrt verheißt, als auch in den entschwundenen Freunden, nach denen sich der Dichter sehnt. Heidegger nimmt damit gleichsam voraus, was erst am Ende ausdrücklich wird. Immerhin wird der Schluß vers wie ein wahrer Schluß aus dem Ganzen gezogen. Beim Lesen des Gedichts kann ich Heidegger aber nicht ganz folgen. Das Gedicht hat nicht sogleich das Thema, das wir aus den Hymnen kennen. Hier ist von Heimat oder von Rückkehr ins Eigene überhaupt nicht die Rede, so oft auch sonst bei Hölderlin Wanderung, Heimkunft, Heimat im Blick stehen. Im Gedicht )Andenkenl ist es offenkundig ein Heimgekehrter aus Bordeaux, den das Andenken an den fernen Süden überkommt und der sich jetzt allein weiß. Diese Evidenz war es wohl, die Hellingrath veranlaßt hat, .Andenkenl den »im engeren Sinne lyrischen Gedichten« einzuordnen. Darin stimme ich der Grundthese des Beitrages von Dieter Henrich durchaus zu, die sich schon im Titel seines Buches ausspricht: •• Der Gang des Andenkens«3. Henrich nimmt allerdings einen eigenartigen Weg für seine Untersuchung dieses Ganges. Mit größter Sorgfalt und Mühe hat er für die Kulturgeschichte allerhand Interessantes zutage gebracht. Aufgrund seiner Nachforschung hat er das Bordeaux der Tage Hölderlins, wie es damals wirklich war, rekonstruiert, und sucht von da aus, soweit möglich, das in dem Gedicht Ausgesagte und seinen Gang des Andenkens aus den Lokalitäten zu verdeutlichen. Das macht mir methodische Schwierigkeiten. Ob eine noch 2 Hölderlin. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, unter Mitarbeit von FRIEDRICH SEEBASS besorgt durch NORBERT VON HELUNGRATH. Band IV. München und Leipzig 1916. S.303. Dazu F. BEISSNER in der Großen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe (St.A.) Bd. II 2. S. 802. 3 DIETER HENRICH. Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht. Stuttgart 1986.
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so zutreffende Rekonstruktion des damaligen Bordeaux für das Verständnis des Gedichtes hilfreich sein kann? Mag sein, daß man die dichterische Umsetzung tatsächlicher Wirklichkeiten im einen oder anderen Falle so ,erklären< kann. Aber wer ein Gedicht liest, will die dichterische Einbildungskraft und ihre Freiheit nicht in die Fesseln einer genauen Beschreibung von Lokalitäten geschlagen sehen. Welcher Leser will denn erklärt bekommen, wie er sich dieStege am Ufer der Garonne vorstellen müsse? Er weiß es besser. Man kann, wenn man das will, etwa als Kunsthistoriker, wie das Oskar Schürer ehedem getan hat'. das Gemälde von Caspar David Friedrich ,Böhmische Landschaft< an Ort und Stelle überprüfen - um daran zu zeigen, wie der Maler sogar Berge zu versetzen imstande war. Wir können das doch wohl kaum mit überraschung hören. Ein Maler komponiert eben die Wirklichkeit fast so, wie er etwa mit der Wirklichkeit umgeht, wenn er ein Stilleben aufbaut. Auch dann ist das Gemälde vollends eine neue Komposition und nicht ein getreues Abbild des Aufbaus. Wenn es sich gar um ein ,Andenken< handelt, in dem immer verklärende Arbeit der erinnernden Phantasie steckt, und wenn es sich nun gar um eine dichterische Gestaltung handelt, dann ist in diesem Falle die wirkliche Lokalität von Bordeaux, um in eirler Umkehrung Platos zu reden. »dreifach von der Wahrheit entfernt«. Daher würde ich sogar zögern, auch nur von einer Vedute zu sprechen. obwohl das selber eine Kunstgattung ist, aber eine mit dem besonderen Anspruch. eine fast porttäthafte Widergabe des ,Blickes< zu sein. Man wird auch das Porträt eines Künstlers gerade nicht wirklich bewundern können, wenn man für die Ähnlichkeit den Porträtierten zum Vergleich heranzieht. Im Falle der Dichtung ist das aber noch abwegiger. Denn was durch die Dichtung zur Darstellung kommt. findet in jedem Leser eine eigene Ausfüllung. Da kann man überhaupt nicht mehr von Ähnlichkeit reden. ohne die Kunst zu verfehlen. Ich kann nicht einsehen, warum man sich für das Verstehen eines Gedichtes und der verklärenden Kraft eines Andenkens überhaupt für das damalige Aussehen von Bordeaux interessieren soll. Henrich wird wohl antworten, die Gewaltsamkeit von Heideggers Interpretation, zu der Heidegger sich verführen ließ, die Schiffer als die Dichter zu verstehen. verdeiXe den wahren Gang des Gedichtes. Man müsse doch sehen, daß die Landschaft des Anfangs und die Landschaft der Schlußstrophe verschieden sind. Das kann gewiß niemand bestreiten, der sein dichterisches Ohr befragt. Es ist eine fast selbstverständliche Bestätigung, die Henrich durch seine minutiöse Ortsinspektion erbracht hat. daß die Schlußstrophe die Landschaft des Abschieds der in See stechenden Kauffahrer meint. 4 OSKAR
SCHOau, Zu Caspar David Friedrichs Gemälde ,Böhmische Landschaft,. In: (Hrsg.), Festschrift fllr Erich Gierach. Reichenberg 1941,
KURT OBBRDORl'F&R U.2.
5.433-446.
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Wieder habe ich nicht das leiseste Interesse daran, welche genaue Stelle dort gemeint sein soll, wo an der »luftigen Spitz'« die Dordogne herabbraust. Der Punkt, auf den es hier ankommt, ist nicht ein Punkt in der LandschaJt, sondern der Punkt des Abschieds, welcher immer es gewesen sein mag, und das ist der betonte Punkt des Andenkens. Wenn auch ich den Gang des Gedichtes zwischen zwei verschiedenen Punkten der Garonne mitgehe und damit die Rede von den Schiffern und dann die von den Dichtern wörtlich nehme, dann kann man gewiß nicht, wie Heidegger (und sogar Binder) taten, die Schiffer als die Dichter. verstehen. Ich möchte es jedoch ganz offen lassen, ob die neuen Erkenntnisse über die Örtlichkeiten, die Henrich mit stupender Gelehrsamkeit vorgelegt hat, die Grundfrage, die Henrich an Heidegger stellt, wirklich zur Entscheidung bringen kann. Henrich will. wie in manchen anderen Studien, Hölderlin aus seinen Beziehungen zum deutschen Idealismus, zu Fichte und zu Heget verstehen. Mir scheint das Gedicht ,Andenken< nicht geeignet. zu dieser kontroversen Frage einen Beitrag zu leisten. Cyrus Hamlin hatte als Veranstalter des Kolloquiums 1987 in Yale selber eine größere Arbeit über das Gedicht ,Andenken< vorgelegts . Sie stellt in meinen Augen ein anderes methodisches Extrem der Deutung dieses Textes dar. Zwar stimme ich mit ihm - gegen Henrich - überein, daß der Wirklichkeitsbezug, den Henrich geprüft hat, für die Interpretation des Gedichtes nichts austrägt. Hamlin geht seinerseits den ganz anderen methodischen Weg. daß er IIpoetisch-intertextuelle« Bezüge aufsucht. Da wird es mir manchmal auch schwer. zu folgen. Gewiß bestreite ich nicht. daß es solche Bezüge bei Hölderlin wie in aller Dichtung gibt. für die man sich als Literaturforscher interessieren kann. Sie mögen sogar mitunter beitragen, das dichterische Volumen solcher Verse, wie esjeder spürt, in seinen verborgenen Dimensionen ein paar Schritte weit aufzuklären - wenn man das wissen will. Das scheint mir aber nicht das Verständnis des gegebenen Gedichtes zu fördern. wie es der Leser, wenn er versteht, mehr oder minder bewußt sucht und erreicht. Da gibt es gewiß Untertöne und Anklänge, die vielleicht irgendwo mitschwingen. So kann man etwa bei dem Trunk, den hier der Sprechende sich erbittet, an andere Hölderlinsche Gedichte erinnern, also etwa an ,Brot und Wein< und dessen vielschichtige Anklänge an das Herrenmahl und an die Heiligkeit von Erde und Licht. Aber der Becher in ,Andenken< hat nichts davon. Es ist in meinen Augen überhaupt unhaltbar, worin Henrich und Hamlin beinahe einig scheinen, die dritte Strophe, mit der Bitte nach dem Trunk. in die Szenerie des Frühlingsfestes zu versetzen, die in der zweiten Strophe evoziert wird. , CYRUS HAMLIN, Die Poetik des Gedächtnisses. Aus einem Gespräch über Hölderlins ,Andenken<. In: Hölderlin-Jahrbuch Bd. 24 (1984/85), S. 119-138.
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In Wahrheit gebietet der Einsatz der dritten Strophe dieser Erinnerung gerade Einhalt. Es ist ein bewußter Unterbruch, der in die dritte Strophe einleitet. Was Hamlin sucht, scheint mir auch sonst ohne Rückhalt im Text. Dieser Trunk wird nicht weitergereicht. Er soll auch nicht Gesprllche beleben, sondern es soll im Gegenteil dem an seiner Einsamkeit Leidenden leichter werden und ihn in Schlummer wiegen. - Ein anderes Beispiel. das ich ror eine Fehldeutung halten muß, ist, wenn Hamlin in der letzten Strophe 11 Ausgehet der Strom«. diesen Ausgang ins Meer, als eine Anspielung an den Tod verstehen will. Es gibt sich.!!rlich gute Gründe, bei Hölderlin den Symbolgehalt von »Ausgang« zu beachten. Aber mit dem vorliegenden Gedicht hat das wiederum nichts zu tun. Selbst die Gefahr. das Risiko, das die ausfahrenden Seefahrer in Kauf nehmen und das natürlich als die Sorge um ihre Rückkehr und im Gedanken an den Tod die Zurückbleibenden erfüllt, ist in dieser Abschieds-Szene von >Andenken< nicht der entscheidende Punkt. Die Strophe meint nicht so sehr die Gefährdung der Seefahrer, als die Gefahrdung des Gedächtnisses, wie es die See nimmt und gibt und das über aller Trennung, und für beide Teile, waltet. Die beiden Beispiele mögen genügen, welche grundsätzliche Frage hier zur Diskussion steht. Es gilt beim Verstehen von Dichtung zwar die Vielstelligkeit des dichterischen Wortes wahrzuhaben. Aber Intertextualität muß vom Texte geboten werden, und nicht von einem allzu gelehrten Leser. Hier trifft mein Einwand die extremen Formen des heute modernen Dekonstruktivismus. Ich bestreite nicht, daß es Tiefendimensionen gibt und auch daß sie wie eine mögliche Psychoanalyse an Literatur freigelegt werden können. Aber ich bestreite, daß dies die Weise ist. wie ein Leser die Gedichte versteht, die er liebt. Hier spielt eine noch viel weiterreichende Frage hinein. Ob es wirklich so ist, daß die tiefenpsychologische Dimension zur Aufhebung aller Kommunikation führt und zu den extremen Ausfolgerungen von Nietzsches Theorie des Willens zur Macht nötigt? Wäre man konsequent. würde damit eine wahre Anti-Hermeneutik etabliert. In Wahrheit aber wird doch wohl auch seitens derer, die diese theoretische Interessennahme vertreten. Verständigung von Menschen mit Menschen gesucht. Das gilt für jeden, der zu einem andem spricht, und auch für jeden Vertreter einer Theorie. Man möge mir erlauben, hier das Recht des Lesers zu verteidigen. der ein Gedicht liest und sich zu eigen macht. In einem solchen Falle ist Verstehen genauso strukturiert wie im täglichen Gespräch zwischen Menschen. Ob einem etwas ins Gesicht gesagt wird oder in einem Gedicht gesagt wird - als der Andere versucht man, die Sinn-Einheit dieses Gesagten zu vollziehen. Man ist der Partner. der mitgeht und antwortet, oder ist der Leser eines Gedichtes. der mit dem Gedicht mitgeht und der am Ende mitsingt. Es bleibt die erste Aufgabe einer Interpretation, dieses Mitgehen zu fördern.
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Die Sinnfragmente, die eine dekonstruktivistische Hinterfragung jeder Sinnintention aufsuchen mag, mögen allerhand Interesse verdienen, aber sie vermögen nicht das Verständnis eines Gedichtes als einer Sinn-Einheit zu ersetzen. Wer etwas Gesagtes verstehen will, will das Ganze verstehen, was einem gesagt wird. Darüber sollte doch Einverständnis erreichbar sein. So stelle ich mir im vorliegenden Falle im Mitgehen mit dem Gedicht .Andenken( die Aufgabe, das Recht des Lesers zu verteidigen. Es geht um die Einheit der ,Aussage(. Andernfalls bliebe Dekonstruktivismus aller Namensversichetung zum Trotz destruktiv. Vielleichdst es nützlich, es an einem Beispiel vorzuruhren. wieweit die intertextuene Interpretationstendenz reicht und wie sie ihre Grenze an der Einheit der Aussage findet. Man möge sich dafiir an die besonderen Fälle erinnern. in denen es Dichtern wie T. S. EHot und Ezra Pound auf zwingende Weise gelungen ist. Zitate geradezu in das wunderbare Melos ihrer Dichtungen einzufügen. in welchem alles Fragmentarische zum Ganzen wird. Gewiß ist der Dichter nicht ein Interpret. Aber der Interpret sollte doch dem Leser nahe bleiben und dem Leser erlauben, Interpretation in sein Lesen einzufügen. Man hat mir nun berichtet. daß in Yale seineizeit zu dem Vers» Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum 11 der Feigenbaum wie ein Zitat behandelt worden ist. Die Kenner der Barock-Poesie haben da gewiß viel gefunden, und vielleicht würden sie auch ihre .Anatomie( zum Beispiel auf die Silberpappeln ausdehnen können. Wenn man hier den Feigenbaum thematisiert. wird man gewiß vieles finden. Nicht gerade Rilke (aus Gründen der Chronologie nicht): »Feigenbaum, 0 wie lange schon ists mir bedeutsam '" « Aber woran jeder denken muß, ist doch im johannesEvangelium (Joh. 2) jene dramatische Szene, in der Jesus den Nathanael mit den Worten empfängt: »Siehe da. ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist ... als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich. ce Mit dieser Antwort ist in N athanael alles Zweifeln zu Ende. - Daß Hölderlin, derTübinger Stiftler. die Szene mit dem Feigenbaum im Sinn haben konnte, wird niemand bezweifeln. Aber - gehört das in die Aussage des Gedichts? Wer dem Gang des Andenkens im Gedicht wirklich folgt, wird doch sofort verstehen müssen. was dieses »aber« meint. Das vom Gedicht beschworene Landschaftsbild. mit dem Ufer der Garonne und dem Ulmen wald und der Mühle. - das könnte irgendwo nördlich der Alpen auch sein. Der Feigenbaum aber steht rur den Süden. In Schwaben kannte man gewiß Feigen. aber nur getrocknete. »Ein Feigenbaum«, der da ))wächsetl<. ist wie ein Wahrzeichen des Südens. In dem Gedicht leitet er den Gang des Andenkens weiter zu den braunen Frauen und dem seidnen Boden und zu der Märzenzeit ... Das ist mein Punkt. So ist es eine Aussage. In der Klage. mit der der sich einsam Fühlende an die Hyperionwelt denkt, an diese auch südliche. wenn auch nur geträumte Welt. kommt ihm auch die Erinnerung an die südliche
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Hafenstadt an der schicksalskundigen See, mit all den "wagenden Männern. Auf dem Gange dieses Andenkens steht der Feigenbaum, und nirgendwo sonst. Im Falle des Gedichtes )Andenken< ist die Bewährung des Verstehens erst erreicht, wenn man den Schlußsatz des Gedichtes» Was bleibet aber, stiften die Dichter« nicht nur in sich versteht, sondern aus dem Gedicht, im Mitgehen mit dem Gang des Andenkens, zu gewinnen vermag. Sucht man nun den Zugang zu der Einheit der dichterischen )Aussage<, so drängt sich zwar wirklich die dritte Strophe auf, aber gerade als Unterbrechung des Beschwörens schöner Erinnerungen an Bordeaux. Daher die Bitte um den Trunk. Hier kann keine Rede davon sein, daß Erinnerungen an die Feiertage in der Märzenzeit als die Teilnahme an einem Festmahl beschworen werden. Dazu gibt es in der zweiten Strophe keinen Anhalt. Die dritte Strophe markiert vielmehr den Zusammenhang mit der zweiten durch das »aber« (»Es reiche aber«). Das meint doch offenbar den, der sich hier seinen Erinnerungen hingibt. Heidegger hat mit Recht, in diesem Falle, die Parallele aus dem Gedicht )Der Wanderer< zitiert: »Darum reiche mir nun, bis obenan von des Rheinesl Warmen Bergen mit Wein reiche den Becher gefilllt!« Der Topos solcher unterbrechender Anrede ist auch sonst nicht gerade ungewöhnlich. Der Bau des Gedichtes ist eigentlich leicht zu durchschauen. Im Gang des )Andenkens< liegt die Wendung in der dritten Strophe, die die zweite Hälfte des Gedichtes und seinen Schluß heraufruft. Am Schluß ist es in der Tat eine andere erinnerte Landschaft. Es ist die Landschaft des Abschieds, auf die das Andenken hinzielt. Was bedeutet der übergang von der Anrufung der dichterischen Freunde der Hyperionwelt zu der Rede von den Männern, welche als Seefahrer von Bordeaux aus in die Weite ziehen? Diesen übergang gilt es zu verstehen. Er ist vorbereitend für den Schluß des Gedichtes. In meinen Augen ist er der wahre Prüfstein für das Verständnis der dichterischen )Aussage<. Es ist der übergang von den erinnerten Freunden zu den erinnerten Männern. Wenn man mit Heidegger in beiden von vornherein nur Decknamen fiir die Dichterfreunde des sprechenden Dichters sieht, fällt der übergang flach. Man kann dann zwar den Sinn der Schlußzeile in sich verstehen, aber man unterschlägt den eigentlichen Gang des Andenkens. Es ist doch handgreiflich. Die Erinnerung an die Hyperionwelt geht in die Erinnerung an eine Erfahrung über, die dem Dichter in Bordeaux wurde. Da hat er den Pulsschlag einer großen Handelsstadt erfahren, wo alle mit dem Wagnis der Seefahrer mitleben und wo das Denken an sie bis zu der erwarteten Rückkehr bewahrt wird und zu spüren ist. Das ist die Landschaft des Andenkens. In Heideggers Behandlung der Sache ist insoweit etwas Wesentliches gesehen, als die Freunde der Hyperionwelt und die Seefahrer von Bordeaux
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hier in einer wesenhaften Beziehung zu der Lage und dem Schicksal des Dichters stehen. Das muß auch in dem schwierigsten Satz stecken: »Mancher trägt Scheue, an die Quelle zu gehn«. Das kann für die Hyperionfreunde verstanden werden, die nach dem Scheitern ihres Kam pfes um die Befreiung des Griechenlandes in die Ferne entschwinden. Es kann auch als das Schicksal der Seefahrer verstanden werden, die den Reichtum des Meeres mit kühnem Wagemut heimzubringen suchen. Und es muß von beiden verstanden werden. Gehen in die Ferne und Gehen von Umwegen ist nicht nur das Schicksal geträumter Helden oder kühner Kauffahrer. Es ist das Schicksal des Menschen. Das lebt im IAndenken< des Gedichts. Beide sind in die Ferne gefahren. Erinnerungen an die dahingegangenen Hyperionhelden. nach denen der Einsame sich sehnt, haben sich mit einer neuen Erfahrung verbunden und damit vertieft. Die Hafenstadt Bordeaux mit den Kauffahrern, die den Reichtum heimbringen, werden wie ein Abbild des Heldischen im Leben selber gefeiert. Die Kauffahrer erscheinen darin mit der gedichteten Hyperionwelt vergleichbar. Nun geht der Gang des Andenkens so, daß bei der Schilderung dieser kühnen Männer nochmals Andenken zum Thema wird. Es ist die Erinnerung an den Abschied, an die Trennung und an das Gedenken, das zwischen Ausfahrenden und Zurückbleibenden spielt. Der Satz, der anhebt »Mancher trägt Scheue ... «, klingt durchaus nicht so, als ob jemand Besonderem etwas nachgesagt wird. Es ist Menschenschicksal, nicht direkt zur Quelle zu gehen. In der »Scheue«, die die Menschen dann hindert, findet der Sprecher die eigene Aufgabe des Dichters wieder. Er ist in die Heimat zurückgekehrt und, einsam zurückgeblieben, leidet er, allein, ohne Freunde. Heidegger hat in seiner Interpretation in diesem Punkte richtig gehört. Die Scheue ist vor dem Heiligen, und die Scheue ist auch in dem Auftrag des Dichters, der sich nicht übereilen darf und das Alleinstehen aushalten muß. Das sind die Züge. die dem Dichterberuf seine Auszeichnung verleihen und ihm wie einem Opfer sein Schicksal zuteilen. Man kann den Satz »Mancher trägt Scheue« geradezu so umschreiben: Mancher? Wer denn nicht? Gewiß. es gibt ausgezeichnete Menschen, ob im Heldengedicht Geträumte oder Helden der Tat. Bewunderte. für ihr Wagnis und ihren Verzicht. Aber hat nicht jeder sein Schicksal und seinen lebenslangen Umweg? Man darf sich hier. weil es vom Text geboten wird, an intertextuelle Hilfen erinnern. an die zahlreichen Stellen im Hölderlinschen Werk, in denen der Quell das Geheimnisvolle ist. aus dem alles entspringt und wo ein jeder sein Schicksal findet. Ist es nicht so auch für den Dichter selbst? Der Dichter ist einer, der auch die Scheue kennt. Aber er ist der, der in dürftiger Zeit in immer neuen Versuchen das U nnennbare und Unsagbare dennoch ins Werk zu rufen versucht. Er ist Dichter. weil er es für alle Menschen tut. Daß sich hier bereits. in diesem .. Mancher trägt Scheue ... «. die erste
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Anspielung auf die Unterscheidung und Auszeichnung des Dichters ankündigt, die der Schlußvers von )Andenken< besiegelt, läßt sich, wie ich inzwischen sehe, durch das unter der überschrift )Palingenesie< überlieferte Fragment stützen6 : »Aber es wohnet auch ein Gott in dem Menschen, daß er Vergangenes und Zukünftiges sieht und wie vom Strom ins Gebirg hinauf an die Quelle lustwandelt er durch Zeiten«, und er ist mit »ihrer Thaten stillem Buch« bekannt. )Palingenesie< ist Wiederkehr - im Andenken. Man sollte den Titel des Gedichtes )Andenken< ernst nehmen. Andenken ist weder Erinnerung noch Gedächtnis, obwohl beides ins Spiel kommt, wo von Andenken die Rede ist. Aber sowenig der Inbegriff von allem Behaltenen das Gedächtnis ist und sowenig Gedächtnis das ist, dessen man sich gerade erinnert, liegt im Andenken etwas von ganz anderer Art, nämlich, daß man ein Andenken sich bewahrt. Es kann ein gutes oder schlechtes Andenken sein, aber jedenfalls ist es etwas, das weder vergessen ist noch einem gerade einfällt. Es ist ein Bleibendes, freilich nicht als eine ständige Gegenwart, aber immer etwas, das unser eigenster Besitz ist, etwas, an das man denkt und das einem in reicher Vielfalt wieder gegenwärtig wird. So liegt etwas Betontes darin, wenn Hölderlin ein Gedicht so benennt. Wenn er ein Gedicht dem Andenken widmet, so ist es in diesem Falle klar, daß es sich um eine Reiseerinnerung handelt, und doch ist diese ein Andenken. Das heißt, sie ist von ausgezeichneter Bedeutung. Warum eigentlich? Das ist nicht mit einem Satze zu sagen. Es ist der Gang des Gedichtes selbst, das etwas heraufruft, woran man mit Freude und Wehmut denkt. Gewiß ist es der nördliche Wind der Heimat, den man kennt, der die Erinnerungen heraufruft, und er heißt hier lIder liebste unter den Winden«. Warum er das ist, wird einem vom Anfang bis zum Ende des ganzen Ganges der Erinnerung und des Gedichtes gesagt. Der Wind erinnert an die Schiffer von Bordeaux und ihre Ausfahrt, weil es ein guter Fahrwind ist. Es ist seltsam, daß die Interpreten, allen voran Heidegger, diesen Realitätsbezug zurückdrängen, obwohl es doch von der ersten bis zur letzten Strophe um die Schiffer geht - und nicht um den Dichter, der fast wie eine Überraschung, freilich eine alles erhellende, das letzte Wort ist. Was ist denn an den Schiffern so wichtig, und sogar so wichtig, daß sie die Helden der geträumten Hyperionwelt in den Hintergrund drängen? Gewiß, es mag für den schwäbischen Dichter, der als Student, Magister und Hauslehrer nur bescheidene Lebenserfahrung besaß, eine große und neue Erfahrung gewesen sein, als er die See sah und ihren großen Atem verspürte und sie nicht nur wie in seiner Dichtung zu träumen brauchte. Es muß für ihn etwas bedeutet haben, als er kühnen Männern begegnete, die immer wieder 6 HÖLDERLiN,
St.A. 11 1, S. 317 (Nr. 12).
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auf die gefahrvolle und gewagte Fahrt gehen und alles in Kauf nehmen, statt sich dem Zauber des südlichen Lebens hinzugeben. Das muß wohl für den Gedenkenden, dessen dichterische Träume ganz in die südliche Landschaft Griechenlands zu wandern liebten. eine ungeheure Begegnung mit Wirklichkeit gewesen sein. So übermannt den Dichter oder den Gedenkenden die Erinnerung an beides. an die Helden der Hyperionwelt und an diese in Bordeaux erfahrene Wirklichkeit. Es ist eine echt pindarische Unterbrechung, die durch die Bitte nach dem Vergessenstrank betont wird und die Mitte des Gedichtes darstellt. Dabei darf man wohl auch daran denken, daß in diesem Erinnerungstraum, den das Gedicht beschwört, nichts von dem vorkommt, was sonst in der späteren Dichtung Hölderlins oft zum Thema wird: die stechende Sonne des Südens und die sengende Sommerhitze. die nach der Kühle der Wälder Verlangen weckt. »Fast wär der Beseeler verbrannt ... « Nichts davon ist an den Feiertagen, die ihm in der Erinnerung aufsteigen, und nichts davon ist offenbar auch in der Erinnerung der kühnen Seefahrer, die unter Entbehrungen den »geflügelten Krieg« am »entlaubten Mast« durchkämpfen. Was in ihrem Andenken auftaucht. ist nichts als die südlichen Feiertage, ist das Saitenspiel und der eingeborene Tanz. Am Beginn des Gedichtes wird der Nordostwind der Heimat genannt, dem gleichsam aufgetragen wird, Bordeaux zu grüßen. Dort, an der Mündung der Garonne, ist dieser Wind ein Fahrwind, über den die Schiffer glücklich sind. Der sprechende Dichter empfindet das mit - und damit sein eigenes Fernsein. So drängt sich die Rückerinnerung an all das Vergangene ihm auf. Er empfindet die Seellosigkeit der Gespräche, die er hier nach seiner Heimkehr hat, er nennt sie sterbliche Gedanken. Wie anders, wenn er sich der Gespräche mit seinen Freunden erinnert, an die schicksal vollen Erwartungen und Hofmungen auf die Befreiung Griechenlands, die im HyperionRoman zwischen Hyperion und Bellarmin beschworen werden. Wo aber sind die Freunde? Plötzlich und unvermittelt ist von den Schiffern die Rede. die von der Gironde aus nach Indien gehen und von dem Reichtum der Welt Schönes unter unendlichen Mühen und Gefahren zurückbringen. Hier schließt sich an den aus seinen dichterischen Träumen sich zurückrufenden Dichter die Erinnerung an die kühnen Seefahrer an, denen er in Bordeaux in leibhafter Erfahrung begegnet war. Es sind zwei hohe Formen des menschlichen Lebens, der kriegerische Held und der seefahrende Kauffahrer, der vor dem träumenden Auge des Andenkens Gegenstand einer Besinnung wird. Welche Besinnung es ist, sagt der letzte Vers, Er klingt wie ein Schluß: »Was bleibet aber, stiften die Dichter«. In einer Lesart des ersten Verses der letzten Strophe fand sich ursprünglich: »Nun aber sind zu Indiern die Freunde gegangen«, Die zweite Fassung sagt: »... sind ... die Männer gegangen«.
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Das deutet auf den wahren Gedankengang des Andenkens: von den dichterisch beschworenen Freunden zu der gelebten Wirklichkeit bewunderter Männer. So folgt die Wendung auf den eigensten Auftrag des Dichters llnd bildet den Schluß. Das ist die Pointe des Ganzen, daß diese Erinnerungen an die HyperionWelt und an die Wirklichkeitswelt von Bordeaux miteinander verknüpft sind. Immer geht es um überwindung von Feme und Festhalten von Nähe. Sehen wir uns die Schlußstrophe daraufhin an. Sie schildert die Stelle an der Mündung der Garonne in die See. Von da an wird sie Gironde genannt. Es ist die Stelle, bis zu der bei der Ausfahrt die Angehörigen und Freunde der ausfahrenden Schiffer dieselben begleiteten. Das ist die luftige Spitze, an der die Dordogne herabbraust und in die Garonne einmündet und den Ausgang in die See nimmt. Welcher genaue Ort es auch immer war - es war der Ort des Abschieds, an dem die Zurückbleibenden mit fleißigen Augen der Liebe dem verschwindenden Schiffe nachschauen und die Ausfahrenden ebenso zu den Zurückbleibenden hinüberblicken. Es ist eine Kraft des Menschen, die hier beschworen wird. Es ist die Kraft, Ferne zu überwinden, Andenken zu bewahren und Nähe festzuhalten. Deswegen heißt das Gedicht .Andenken•. Und man findet es am Ende natürlich, daß diese Kraft des Menschen sich im Gedicht - worin denn sonst? -, in Bleibendem, vollendet. Das berühmte »aber(C am Schluß: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.c, will also nicht sagen, daß der Dichter etwa eine höhere Einweihung in das Wahre hat als die anderen, wohl aber, daß er die in allen lebende Kraft des Festhaltens des Abwesenden, im Geben und Nehmen des Gedächtnisses, das das .Dac gewährt, zu Bleibendem zu erheben vermag. Das ist der Auftrag des Dichters. Er ist wahrlich nicht der, dem die »Worte wie Blumen entstehen(C. Er ist der Vorsänger in dürftiger Zeit, auch wenn er die Rückkehr der Götter singt . •Andenken. ist die nie zu vollendende überwindung von Ferne - und doch zugleich die Gewähr, die in dem ständigen Wagen von Abschied und Andenken und fleißigem Heften der Augen der Liebe liegt. Das Gedicht hat in seinem Gange das Andenken beschworen, das rur das dichterische Selbstbewußtsein die bleibende Erfahrung seines Aufenthaltes in Bordeaux war. Fragen wir noch einmal: Was bedeutet sie rur den Dichter? Was hat er gelernt, so daß er am Schluß des Ganzen wie ein Belehrter schließt: »Was bleibet aber, stiften die Dichter«? Wie es seine Hyperionhelden am Ende in die Ferne verschlagen hat, lernt er nun an den ganz anderen, an den Seefahrern, daß die Wege und Umwege des Geschicks nicht nur ein Leben in hohen dichterischen Träumen sind. Der sich vereinsamt fühlende Dichter erkennt daran sein eigenes Geschick und seinen Beruf. So erklärt sich die überraschende gnomische Wendung des Schlusses, an der das Verständnis des ganzen Gedichtes hängt. Der im Andenken Versin-
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kende faßt sich. Er hat sich gefragt: wo ist Bleiben, wo ist seliger Genuß der Feiertage, ist seelenvolles Gespräch? Und er erfährt, wie Trennung und Aufbruch in ungewisse Femen ist, die der Verlockung des Meeres folgt und Andenken bewahrt. Das dichtende Ich erfährt sich selbst darin. »Mancher trägt Scheue, an die Quelle zu gehn(d Hier ist es wie ein Vorbild von Trennung und Treue, Aufbruch in die Feme und Heimkehr. die im Andenken verbunden sind. Sie wagen alles und halten zugleich fest, auch wenn keine Rückkehr und Wiedervereinigung den Liebenden gegönnt sein solltedas Andenken bleibt. Das ist der große Atem der See, dessen Botschaft der Dichter vernimmt. »Es nehmet aber und giebt Gedächtniß die See.« Im Andenken an Bordeaux erfährt der Dichter, was Andenken ist und daß Dichter. Andenken ist. Wenn also auch dieses Gedicht nicht (wie )Der Einzige( und manche andere der Hymnen Hölderlins) über das Versagen der Worte klagt, weil er nie das rechte Wort findet, so tritt der Dichter am Ende doch ganz an die Seite der Helden und der Wagenden, die in die Ferne gehen und Schönes zurückbringen: »Nemlich zu Hauß ist der Geist ... nicht an der Quell.« Damit fUhrt uns das Verständnis des Gedichtes auf den entscheidenden Vers zurück: »Mancher trägt Scheue, an die Quelle zu gehn.« Hier hat, wie mir scheint, Heidegger die treffende Auslegung gegeben und den gnomischen Sinn dieses »Mancher« richtig herausgehört. Manche, und zwar gerade die geträumten Helden oder die wagenden Seefahrer oder die Dichter gehören zu denen, die hier »Mancher« heißen. Es ist eine Auszeichnung, diese Scheue zu tragen, die gewag~en Wege und Umwege zu gehen, und des Dichters besondere Auszeichnung ist, daß er Bleibendes stiftet. Er ist Dichter, weil ihn Scheue hindert. Das ist es, was jenseits seiner eigenen nennenden Kraft zu liegen scheint. Gerade das Unnennbare. das die dichterische Kunst so gut wie die Begriffe des Denkens übersteigt, ist das, was es beständig zu wagen und festzuhalten gilt. Heidegger hat nicht ohne Recht später und gerade in der Kritik am .kalkulierenden< Denken. das alles in den Griff nehmen und sich aneignen will, vom )Andenken( gesprochen. Fragen wir erneut, wie sich die Schluß zeile an das Vorangegangene anschließt. Man pflegt hier von eirier Trias gnomischer Sätze zu sprechen, die den Schluß bilden soll. Das scheint mir nicht ganz angemessen. In den beiden Vordersätzen »Es nehmet aber und giebt Gedächtniß die See« und in dem anderen Satz »Und die Lieb' auch heftet fleißig die Augen« haben wir zwar gnomisch klingende Sätze vor uns, aber sie sind genaue Beschreibung der Erfahrung, der das Gedicht Ausdruck gibt. Sie beschreiben das Auf und Ab des Gedenkens und des Gedächtnisses, und zwar in beiden, den Ausfahrenden wie den Zurückbleibenden. Dem Dichter war aus der Erinnerung an das leichte, beseelte südliche Leben, das eingangs geschildert ist, diese andere Erinnerung gekommen, eben die an die heldenhaften Männer, die alle
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Gefahren in Kauf nehmen, und an die nicht minder heldenhaften Frauen, die sich beide einander im »Gedenken
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Man versteht das Gedicht in seinem Melos nur, und man versteht den Gang des Andenkens im Gedicht auch nur, wenn man im Abschied die tiefe Gemeinsamkeit von Trennung und Gedenken im Auge behält. Vermissen und Festhalten, das ist der Bereich des Gedächtnisses. Es ging dem Dichter, als er von Bordeaux zurückgekehrt war, auf. An der Entbehrung und dem Vermissen der Freunde leidet er, und so gewinnt die Erinnerung über ihn Macht. Nun zieht er den Schluß auf das eigene Tun, das Tun des Dichters. Abschied und Gedenken durchwalten wie das Auf und Ab des Atems der See das Leben der Menschen. Darin erkennt er sein eigenes Schicksal als seinen Auftrag, im Wort festzuhalten, was bleibt. So gewinnt das Gedicht etwas von dem Stiften einer Wahrheit und etwas vonjener Sakralität, die von jeher den Dichter und den Seher auszeichnen. Das Gedicht sagt kaum etwas, was nun das Bleibende ist. Es ist das Andenken selber, das der neuen Wende von Hölderlins letzten Dichterjahrm, den großen Hymnen, ihr eschatologisches Pathos verleiht. »Des Götdichen aber empfiengen wir doch viel. CI 7 So konnte Heidegger seinerseits in diesem Gedicht sein eigenes Schicksal, sein Andenken und seine Erwartungstheologie wiedererkennen. In der Inständigkeit des Harrens und des Beharrens auf seiner eigenen Frage war sein Auftrag, die Frage nach dem Sein und der Überwindung der Metaphysik festzuhalten, an der Nietzsehe zerbrochen war.
7 S[.A. II 1, S.136 (,Versöhnender<, Dritte Fassung, v. 19f.) und St.A. 111, S.535 (,Friedensfeier<, v. 64f.).
5. Goethe und die Philosophie (1947)
Goethe ist eine der beziehungsreichsten Gestalten der gesamten Weltliteratur. Die Beziehung. unter der er hier betrachtet werden soll. ist nur eine unter vielen, deren Untersuchung die Erkenntnis seiner Gestalt und seiner bleibenden Bedeutung fördern kann!. Die AufgabensteIlung >Goethe und die Philosophie( meint nicht, daß seine gesamte Welt- und Lebensansicht Gegenstand unserer Betrachtung werden soll. Diese Aufgabe bliebe bei Goethe am Ende doch vor allem dem Interpreten seiner Dichtungen gestellt. Wir dagegen fragen nach seinem Verhältnis zur Philosophie. Danach zu fragen muß uns in der Tat naheliegen, wenn wir bedenken, daß das Zeitalter Goethes zugleich das Zeitalter der großen deutschen philosophischen Bewegung gewesen ist und daß die großen Denker des deutschen Idealismus. Kant. Fichte. Schelling und Hegel, Zeitgenossen. ja die jüngeren von diesen sogar alle durch ihre Tätigkeit in Jena vertraute Nachbarn des großen Dichters gewesen sind. Dennoch enthält diese Aufgabe etwas Fragwürdiges. ja Mißliches. Goethe, dieser allseitige und durchdringende Geist, der die ganze Daseinsmasse seiner Zeit wie kein anderer in sich verarbeitet und verwandelt hat, hat zeit seines Lebens der Philosophie und Metaphysik gegenüber eine eigentümliche Zurückhaltung gewahrt. Ja, er hat diese seine Zurückhaltung gegenüber der Philosophie nicht nur selber geübt - sie ist durch ihn fast zu einer Losung geworden, die den Menschen. die sich in seinem Zeichen zu bilden trachten, Verwerfung aller philosophischen Spekulation und unbefangene Hingabe an die Fülle der Erfahrung anbefiehlt. Insbesondere das aus dem Selbstbewußtsein der Naturwissenschaften lebende Bürgertum des 19.Jahrhunderts hat Goethe so verstanden: »Grau, edler Freund, ist alle Theorie! II Indessen, es gehört zu der eigentümlichen und fast bestürzenden Grenzenlosigkeit des Goetheschen Geistes. daß diese Negation der Philosophie noch nicht einmal als die Hälfte der Wahrheit gelten kann. In allen Epochen seines Lebens hat ihn - wie jeder andere Weltinhalt - auch dieser geistige Stoff der Zum Thema vgl. seit dem Vortrag im Jahre 1942 die Literaturhinweise bei H. Das Goethebild des 20. Jahrhunderts (Wien und Stuttgart 1952). und inzwischen gewiß manches Neuere. 1
K.1NDIiRMANN.
Goethe und die Philosophie
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Welt, die Philosophie, zur Aneignung und antwortenden Gestaltung gereizt. Freilich, philosophische Abhandlungen im engeren Schulsinne finden sich nicht in seinem Werk, sondern stets nur gelegentliche Arbeiten und Stellungnahmen, nur ,biographische< Dokumente. Aber ist das nicht das Eigentümliche des Goetheschen Werkes überhaupt, daß es, wie das keines anderen klassischen Schriftstellers irgendeines Volkes, Gelegenheitswerk ist, in seiner ganzen Weite Ausdruck und Darstellung dieses einen einzigen Menschen Goethe, seines Lebensganges, seiner Erfahrungen und Wirkungen, seiner Wertungen und Wünsche? Mit besonderer Deutlichkeit gilt dies ja für einen großen Teil des lyrischen Werkes. Und hat er nicht selbst seine Dichtungen insgesamt Bruchstücke einer großen Konfession genannt? Aber selbst Goethes Versuche auf dem Gebiet der Naturforschung, mit denen er sich in die namenlose Reihe der Arbeiter am Gesamtbau der Wissenschaft einzugliedern suchte, behalten etwas unnachahmlich Persönliches. Die Darstellung auch solcher Gegenstände hat oft etwas nur Beiläufiges, das mit naiver Selbstverständlichkeit den zufallig-eigenen Weg der Erfahrung und Einsicht in der Darstellung ausspricht, und es ist nur angemessen, daß seine autobiographischen Aufzeichnungen ,Aus meinem Leben - Wahrheit und Dichtung< nicht ein Zusatz oder Anhang zu seinen Werken sind, sondern in ihrer Mitte ihren echtbürtigen Rang besitzen. Es mag mit Goethes Ort im Ganzen der abendländischen Bildungsgeschichte zusammenhängen, mit der großen Verspätung, mit der sich das deutsche Volk nicht nur seine staatliche, sondern auch seine kulturelle Stellung im Kranz der Nationen der Neuzeit erworben hat, daß dieser erste klassische Schriftsteller seines Volkes am Ende eines Zeitalters steht und deshalb in die Einheit seiner Person zusammengezogen enthält, was als ausgebreitete Substanz des geistigen Lebens im Schwinden begriffen war: die Einheit des Abendlandes. Jedenfalls hat im weiten Kreise dieses Lebens die Philosophie eine eigene, nicht nur beiläufige und nicht nur negative Rolle. Den eigenen Standort gegenüber Goethe zu bestimmen, ist daher schon immer ein echtes Anliegen des philosophischen Bewußtseins. Von Anfang an, denn im Grunde beginnt es mit dem unablässigen Bemühen des durch und durch philosophischen und spekulativen Schiller, Goethes Wesen zu begreifen und sich, den reflektierten Dichter, vor ihm, dem naiven Dichter, zu rechtfertigen und zu behaupten. Ja, diese Schillersche Deutung beherrscht noch heute die Auffassung der Nation von Goethe, so tief und ursprünglich ist der Anteil des philosophischen Denkens, das in Schiller spricht, an der Wirkungsgeschichte Goethes. Doch dies greift vor. Schillers Verhältnis zu Goethe ist ja nicht nur Wirkungsgeschichte Goethes, es gehört ganz Goethes eigener Lebensgeschichte an, als eine ihrer entscheidenden Phasen. Aber, weil es sich hier um mehr handelt als um historische Feststellungen einer getreuen Goethephilologie, weil die Wirkung Goethes und die Deutung, die ihm Schiller gab,
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nicht aufhört, Geschichte zu sein und Geschichte zu machen, bleibt auch die philosophische Besinnung auf Goethes Verhältnis zur Philosophie eine stets sich erneuernde Aufgabe. Nun ist es bei der Lage der Dinge. klar, daß jede Neubestimmung dieses Verhältnisses dem Gang der Goetheschen Entwicklung folgen muß. Andererseits kann ein bloßes Abtasten und Aufnehmen der in dieser Entwicklung Goethes anzutreffenden Spuren philosophischer Lektüre und Auseinandersetzung nicht viel erbringen. Denn nicht nur die Außerungen, die Goethe jeweils zur Sache tut, sind gelegentlich und schwankend, so daß sich in dieser Sache fast alles, was sich beweisen läßt, auch widerlegen läßt, auch seine Beschäftigung mit den Werken der großen Philosophen, mit Spinoza oder Kant, mit Fichte oder Hege!, ist fragmentarisch und unmethodisch. Aber was bei anderen ein Zuwenig wäre, das ist bei Goethe Ausdruck seines eigenen reichen Wesens. Er sagt einmal, daß er stets »wie spielend« gelernt habe. Damit ist nicht gemeint, daß ihm alles so leicht fiel und er sich alles so leicht werden ließ, sondern daß sich ihm das Lernen als ein spontanes, eigenes Tätigsein und Bilden vollzog. Spiel ist ja eine äußerste Form solchen Tätigseins, selbstvergessen und im Umgang mit einem widerstandslosen Stoff. Deshalb gerade bedeutet es solchen Auftrieb des Lebensgefühls. Goethes Lernen war ein spielendes Lernen, weil es stets alle Kräfte seines Wesens spielen ließ. Anläßlich der Lektüre von Kants >Anthropologie< schreibt Goethe an Schiller am 19. Dezember 1798: »übrigens ist mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben. « Die beiläufige Art, in der Goethe philosophische Studien trieb, besagt also nichts gegen ihren sachlichen Ernst. In den Begegnungen mit Philosophischem sucht er, was er im Grunde in allen Erfahrungen der Welt überhaupt sucht - Vermehrung seiner Tätigkeit, Seinszuwachs in der Erfahrung der eigenen bildenden und gestaltenden Lebendigkeit. Man könnte zweifeln, ob ihm solcher Seinsgewinn von der Philosophie überhaupt zuteil werden konnte. Antwortet er doch aufdie erste Berührung mit philosophischen Lehren mit der Behauptung, eine abgesonderte Philosophie sei nicht nötig, indem sie schon in der Religion und Poesie vollkommen enthalten sei. Als ihm sein Lehrer zu beweisen sucht, daß diese ja erst durch jene begründet werden müßten, versagt er sich solcher Reflexion offenbar ganz. Die dichterische und religiöse Unmittelbarkeit ist ihm das fraglos Grundlegende gegenüber der Vermittlung des Begriffs. Und die Wirkung seiner ersten philosophischen Erfahrungen (an der »tristen atheistischen Halbnachtee der französischen Aufklärungsphilosophie) war eine Vergrämung gegen alle Philosophie, besonders aber gegen die Metaphysik. Wir werden also fragen müssen, wie dieser Abwehr zum Trotz der Zug zur Philosophie in Goethe seinen Weg findet. Dabei sehen wir ganz davon ab, wie Goethe zum Nachdenken über seine
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Kunst geruhrt wurde. Die philosophische Reflexion auf die Bedingungen poetischer und bildnerischer Technik fmdet sichja auch sonst bei Künstlern, die zu den zentralen Problemen der Philosophie, insbesondere zur Metaphysik, kein Verhältnis besitzen. In Goethe aber lebt ein echter Zug zur Metaphysik. Offenbar ist es der Gegensatz zur Metaphysik der Aufklärung, der sein eigenes Denken anspannt. Die Lehre von den Endursachen, jene vom Zweck her denkende, alles auf die menschliche Nützlichjceit beziehende Naturbehandlung ist es, die ihn beleidigt. Er setzt hier die eigene große Anschauung von der gestaltenden und zerstörenden, um menschliche Zwecke stets unbekümmerten Naturkraft entgegen. »Natur. Wir sind von ihr umgeben und umschlungen - unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen.« Das also ist das Entscheidende in seiner Anschauung: Der Mensch steht nicht als der salbstherrliche Endzweck der Natur, die er auf sich bezieht, gegenüber - er ist von ihr umschlungen, er ist selbst Natur. Auch das ihm innewohnende dichterische Talent betrachtet Goethe ganz als Natur, so wie ihm die Natur in diesem (wahrscheinlich nicht von seiner Hand, aber aus seinem Geiste stammenden) Prosafragment ))die einzige Künstlerin« heißt. In spätester Zeit, im Jahre 1828, als Goethe das Fragment zu Gesicht bekommt und für das seinige hält, charakterisiert er es so: »Man sieht die Neigung zu einer Art von Pantheismus, in dem den Welterscheinungen ein unerforschliches, unbedingtes, humoristisches, sich selbst widersprechendes Wesen zum Grunde gedacht ist.« In der Tat ist es - gegenüber dem Verstandesoptimismus der Schulphilosophie - die Uncrforschlichkeit der Natur für das selber beschränkte, teilhafte Menschenwesen, was Goethe hier als Pantheisten erscheinen läßt. Die Natur und Gott sind ihm das Unerforschliche, und an der Zusammengehörigkeit von Natur und Gott hat er stets festgehalten, im besonderen auch gegen die christliche Glaubensphilosophie seines Freundes Jacobi. Einen Gott, lider nur von außen stieße«, kann er mit seiner Anschauung des inneren Lebens der Natur nicht vereinigen. Dennoch wehrt er sich mit der für ihn charakteristischen Liberalität gegen jede dogmatische Festlegung, auch gegen die auf einen Pantheismus. Goethe findet nun vor allem in Spinoza, den er mit Herders Augen sehen lernt. Bestätigung seines Naturgedankens und im besonderen seiner Abneigung gegen die Endursachen. Aber im Grunde sind die überzeugungen vom Ewigen, Notwendigen, Gesetzlichen der Natur, die er sich am Spinoza entwickelt, der notwendige Gegenhalt, nach dem seine unbändige Lebenskraft und titanische Bildnerlust rufen. Ihm, dessen Kräfte in allen Richtungen des Daseins lebhaft spielend ansetzen und auf jeden Reiz mit intensiver schöpferischer Gegenwirkung antworten, so daß seinem Können schier keine Grenze gesetzt scheint, ist der Ruf zur Entsagung im ganzen, die in der Anerkennung ~es Notwendigen liegt, offenbar urvertraut. Er fühlt sich
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Goethe und die Philosophie
durch Spinoza über das Spiel der Leidenschaften erhoben, in denen sonst der Mensch rür sein Geschick mühsam gebändigt wird. In diesem Sinne deutet der weise gewordene Goethe, der sich selbst zur Erinnerung gewordene, tiefsinnig das Bedürfnis, das ihn damals im Philosophieren leitete. Nun können wir, wenn auch erst aus einem Aufsatz der achtziger Jahre, die Richtigkeit dieser Selbstauslegung bestätigen und dieselbe ergänzen. Es handelt sich um den Aufsatz, den Wilhelm Dilthey zuerst in der Abhandlung lAus der Zeit der Spinozastudien Goethes< interpretiert hat. Bestätigung ist uns, wie dort der Begriff von Dasein und Vollkommenheit, in dem wir das Unendliche denken, das Sein der beschränkten Existenzen mitbestimmt, so daß sie, die Dinge in Gott, doch gerade ihr Dasein in sich selbst haben, als lebendige Wesen durch nichts gemessen werden können, was außer ihnen ist, ein eigenes unzertrennliches Verhältnis von Teilen und Ganzem darstellen, kurz, an der Unendlichkeit des Ungeheuren, Ganzen teilhaben. So denkt hier Goethe, wenn auch mit den Denkmitteln Spinozas, eine ganz eigene Anschauung vom Wesen des Lebendigen und seiner Bildungskraft. die uns an die Entelechie des Aristoteles und an Leibnizens Monadenlehre zurückdenken läßt. Die ganze Idee einer morphologischen Naturforschung ist hier angelegt. Die Bedingtheit alles Lebendigen tut der Urkraft der Natur keinen Abbruch, im Gegenteil: Wie würdig ist es der Natur. ruft Goethe aus, daß sie sich immer derselben Mittel bedienen muß, um ein Geschöpfhervorzubringen und zu ernähren. Nun ergänzt Goethe diesen Aspekt dadurch, daß er das erkennende Wesen in die gleiche Betrachtung einbezieht. Die Seele breitet sich erkennend aus, indem sie beschränkt: »Wir müssen alle Existenz und Vollkommenheit in unserer Seele dergestalt beschränken, daß sie unserer Natur und unserer Art zu denken und zu empfinden angemessen werden, dann sagen wir erst, daß wir eine Sache begreifen oder sie genießen.« Wie Bedingtheit durch spezifische Verhältnisse rur alles Lebendige seine eigentliche Lebensvoraussetzung ist, der Fisch nur im Wasser, der Vogel nur in der Luft lebt, so erkennt Goethe auch fiir das menschliche Leben und seine Natur die Notwendigkeit, die es beschränkt und eben damit erhält. In den ,Sprüchen in Prosa< (261) steht: »Unser ganzes Kunststück besteht darin, daß wir unsere Existenz aufgeben, um zu existieren.« - »Unser physisches sowohl als geselliges Leben, Sitten, Gewohnheiten, Weltklugheit, Philosophie, Religion, ja so manches zufallige Ereignis, alles ruft uns zu, daß wir entsagen sollen. « Diese Sätze des alt und weise gewordenen Goethe sind nur die Entfaltung dessen, was dem jungen Titanen im philosophischen Gedanken der Natur aufging. Es begreift sich nun die Allseitigkeit, mit der Goethe forschend, beobachtend und gestaltend in die Welt ausgreift. Nicht mystisches Aufgehen im Unendlichen, sondern »im Endlichen nach allen Seiten gehen« ist die sehr unspinozistische Lehre, die Goethe aus seinen Spinozastudien zieht. Er fiihlt
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sich - um sein eigenes Wort zu gebrauchen - mit der Physik gesegnet. Sie ist ihm das unendlich-endliche Feld echter Anschauungen, in denen sich, als Wirkung und Gegenwirkung, die Seele des Erkennenden entfaltet. Der vergleichende Naturforscher und der gestaltende Dichter sind also Manifestationen desselben p,oetischen Bildungstriebes, der - wie es in der erwähnten Selbstcharakteristik von 1797 heißt - den Mittelpunkt und die Basis seiner Existenz ausmacht. Zweierlei mußte sonach seinem weiteren philosophischen Schicksal vorgezeichnet sein, zweierlei mußte ihm in seiner Stellung zwischen Dichter und Forscher zum Problem werden: einmal die allgemeine Frage des Verhältnisses von Selbst und Welt, insbesondere des Anteils des subjektiven, gestaltenden Tuns an der Erfahrung der Welt, und dann die besondere Frage des Verhältnisses von Natur und Kunst. Beide Probleme sollten ihm in der damals durchdringenden Kantischen Philosophie begegnen, ohne doch anders in seinem Leben Epoche zu machen als in der leidenschaftlichen Anregung zum Fortschreiten auf seinen eigensten Wegen. Wie er selbst uns schildert, fand, was er sich von der Kantischen Philosophie aus Lektüre und Gespräch zugeeignet hatte, bei den Kantianern wenig Anklang. »Mehr als einmal begegnete es mir, daß einer oder der andere mit lächelnder Verwunderung zugestand, es sei freilich ein Analogon Kantischer Vorstellungsart, aber ein seltsames.« Da war zunächst das Analogon zwischen Goethes »naturgemäßer Methode« allseitiger Beobachtung der Gegenstände und Kants Nachweis, wieviel unser Selbst und wieviel die Außenwelt zu unserem geistigen Dasein beitrage. Goethe war hier bereit, obwohl er selbst beides niemals gesondert habe, »sich auf die Kantische Seite zu stellen, als auf diejenige, welche dem Menschen am meisten Ehre macht«, und glaubte sich in seinem eigenen, bald dichtend-synthetischen, bald beobachtend-analytischen Verfahren auch sonst mit Kants Erkenntnislehre einig. Vollends aber fohlte er sich durch die >Kritik der Urteilskraft( gefördert, weil sie eine Entsprechung und tiefe Verwandtschaft zwischen Natur und Kunst lehrte: innere Zweckmäßigkeit sehen wir in der Natur, innere Zweckmäßigkeit erfahren wir im Geschmackserlebnis des Schönen und in der Produktion des Genies. In einem Brief an Zelter, vom 29.Januar 1830, schreibt Goethe ähnlich: »Es ist ein grenzenloses Verdienst unseres alten Kant um die Welt, und ich darf sagen, auch um mic/l, daß er in seiner Kritik der Urteilskraft Kunst und Natur nebeneinander stellt und beiden das Recht zugesteht, aus großen Prinzipien zwecklos zu handeln ... Natur und Kunst sind zu groß, um auf Zwecke auszugehen, und haben es auch nicht nötig, denn Bezüge gibt's überall, und Bezüge sind das Leben.« Was er in der >Kritik der Urteilskraft< ausgesprochen sah, war mithin das innere Leben der Kunst sowie der Natur, ihr beiderseitiges Wirken von innen heraus. Für
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diese Entsprechung war Goethe bereit, seit er in Italien Kunst und das gesetzliche Vorgehen der Natur und das aus beiden gewebte Leben der menschlichen Gesellschaft studiert hatte. Doch muß es auffallen, wie wenig sich Goethe von dem eigentlich kritischen Gedanken Kants, von der Einschränkung des teleologischen Gedankens auf ein bloßes Verfahren der Urteilskraft, also vom Verzicht auf gegenständliche Geltung des Zweckgedankens beunruhigt zeigt. Es bleibt das ganze Studium der Kantischen Philosophie »auf den Hausgebrauch« beschränkt. Nun tritt aber mit Schiller die Kantische Philosophie in ihrem echten sittlichen Freiheitspathos in Goethes Leben ein und übt damit eine Gewalt, die in ihrer Wirkung wie in der Gegenwirkung Goethes weit in das philosophische Gebiet hineinführt. Goethe hatte anfangs in Schiller das zerstörerisch Wilde und Revolutionäre seines Genies, wie es die Räubertragödie zeigte, gehaßt und sich deshalb von Schiller ferngehalten, als dieser nachjena übergesiedelt war. Dann aber kam die Verständigung, das denkwürdige Gespräch über die Urpflanze, das Goethe selbst erzählt hat; und indem Goethe die Freundschaft und ständige Nähe Schillers annimmt, übergibt er sich. rur ein im übrigen höchst fruchtbares Jahrzehnt seines Lebens, der Deutung. die Schiller für ihn bereitet. Wir stehen damit an der ror unsere Fragestellung entscheidenden Stelle im philosophischen Schicksalswege Goethes: Lernt er sich ganz mit den Augen Schillers und der Philosophie sehen. so muß ihm die Philosophie als die endliche und lang verzögerte Selbstaufklärung seines naiven Weltglaubens erscheinen, und dann enthält der Idealismus der deutschen Philosophie einen legitimen Zugang zu dem Lebensrätsel, das Goethe sich und uns war. Doch bevor wir diese weittragenden Fragen zur Entscheidung stellen, müssen wir uns erst mit der Begegnung Goethes und Schillers Wld mit Schillers Goethedeutung vertraut machen. Schiller war in der Zeit ihrer nachbarlichen Beziehung zueinander in die Kantische Philosophie vertieft und hatte sich ganz mit dem höchsten Gefühl der Freiheit und Selbstbestimmung erfüllt. das in Kants praktischer Philosophie lebt. Das war ein äußerster Gegensatz zu Goethes Streben. die Natur in ihrer gesetzlichen Bildung zu betrachten Und auch noch in sich selber das Naturbedingte zu bejahen. So warf ihm Goethe Undankbarkeit »gegen die große Mutter, die ihn gewiß nicht stiefmütterlich behandelte«. vor, und in seinem Freiheitspathos sah er die ihm widrige Unnatur und Unwirklichkeit eines ethischen Selbstzwanges. Nun aber führte sie der Heimweg nach einer Sitzung der Naturforschenden Gesellschaft in Jena im Jahre 1794 zusammen. Schiller tadelte die Art des Vortrages. den sie soeben gehört hatten. und nannte dies eine zerstückelte Art, die Natur zu behandeln. Da öffnete sich ihm Goethe, der, selbst von einer anderen, einheitlichen Gesamtanschauung der Natur errollt, genau so
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empfunden hatte. Vor Schillers Wohnung reden sie sich fest, schließlich folgt ihm Goethe hinein. mitten in der Nacht, und trägt ihm seine Metamorphose der Pflanze vor, durch die das Pflanzenreich zu einer großen. in seiner Bildung verständlichen Einheit zusammengeschlossen wurde. Schiller - so erzählt Goethe - »vernahm und schaute das alles mit großer Teilnahme, mit entschiedener Fassungskraft; als ich aber geendet, schüttelte er den Kopf und sagte: IDas ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.( Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen: denn der Punkt, der uns trennte, war dadurch aufs strengste bezeichnet; .. Der alte Groll wollte sich regen, ich nahm mich aber zusammen und versetzte: Das kann mir sehr lieh sein, daß ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe. CI - Für den Kenner der Kantischen Philosophie (der Goethe aber nicht war) ist diese Mißhelligkeit leicht als Mißverständnis aufzulösen. Der Kantische Gegensatz von Idee und Erfahrung (bzw. Erscheinung) ist an dem engen Sinne von raum-zeitlich individuieIter Erfahrung gewonnen, den die mathematische Naturwissenschaftvor allem in Gestalt der klassischen Mechanik - darstellt. Idee ist umgekehrt nicht bloß eine subjektive Eingebung, sondern die regelnde Einheit der Erfahrung se1bst, die eben deshalb mit der Erfahrung gar nicht kongruieren kann, weil sie aller Erfahrung die Regel gibt. So ungefähr wird Schiller. der »gebildete Kantianer«, sich geäußert haben. Goethe hält - nach seinem eigenen Bericht - an seinem »hartnäckigen Realismus« fest, aber es hat sich doch 'in diesem Gegensatz ein Gemeinsames gebildet, und so begründet sich der Bund dieser beiden großen Männer. wie Goethe selbst dargestellt hat. auf den »größten. vielleicht nie ganz zu schlichtenden Wettkampf zwischen Objekt und Subjekt«, In ihrem Briefwechsel liegt das gemeinsam gelebte Stück dieses Wettkampfes uns vor Augen. Di~ser Briefwechsel beginnt mit einem großartigen Versuch Schillers, sein und der Philosophie Verhältnis zu Goethes Geist zu bestimmen2 : »In Ihrer richtigen Intuition liegt alles und weit vollständiger. was die Analysis mühsam sucht. und nur weil es als ein Ganzes in Ihnen liegt, ist Ihnen Ihr eigener Reichtum verborgen. denn leider wissen wir nur das. was wir scheiden. Geister Ihrer Art wissen daher selten, wie weit sie gedrungen sind, und wie wenig Ursache sie haben. von der Philosophie zu borgen, die nur von ihnen lernen kann. Diese kann bloß zergliedern. was ihr gegeben wird, aber das Geben selbst ist nicht Sache des Analytikers, sondern des Genies. welches unter dem dunklen aber sicheren Einfluß reiner Vernunft nach objektiven Gesetzen verbindet.« Meinung und Absicht dieser Deutung sind klar: Goethe wisse nur nicht, was er tue. Die Kantische Philosophie sei nichts als die Selbstaufklärung des seinem Wesen nach bewußtlos schaffenden Genies. In der Tat kommt Schiller folgerecht zum Schluß, Goethe die 2
Brief Schillers an Goethe vom 23. August 1794-.
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Kantische Philosophie zu widerraten, »denn die logische Richtung, welche der Geist bei der Reflexion zu nehmen genötigt ist, verträgt sich nicht wohl mit der ästhetischen, durch welche er allein bildet«. Freilich könne Goethedas ist der Sinn seiner Ausführungen - dennoch für seine ästhetische Produktivität nicht die Naivität der Alten in Anspruch nehmen. Denn denen seien eine »auserlesene« Natur und eine »idealisierende« Kunst, die sie umgaben, hilfreich, schon in der ersten Anschauung der Dinge die Form des Notwendigen aufzunehmen und so den großen Stil zu entwickeln. Goethe dagegen, in eine wilde, nordische Schöpfung geworfen, bedürfe doch der leitenden Begriffe, um sich von innen heraus und »auf einem rationalen Wege ein Griechenland zu gebären«. Diese Begriffe dann rückwärts in Intuitionen, Gedanken in Geruhle zu v~rwandeln, sei also eine Arbeit mehr, die ihm, wie überhaupt dem modernen Dichter, obliege. Schiller deutet sich mit diesem Bilde vom Gange des Goetheschen Geistes ihr gegenseitiges Verhältnis und die Begegnungsmöglichkeit zwischen Goethes intuitivem und dem spekulativen Geist, der aus ihm selber spricht. Das entscheidende Resultat aber sieht er in der »schönen übereinstimmung Ihres philosophischen Instinktes mit den reinsten Resultaten der spekulierenden Vernunft«. Er meint nämlich, Goethes natlrlrforschende Allseitigkeit sei so genialisch. daß sein Geist, wie der des antiken Künsders, stets Individuen, aber mit dem Charakter der Gattung erzeuge, und damit komme er mit dem genialen spekulativen Geist überein, der seinerseits nur Gattungen, aber mit der Möglichkeit des Lebens erzeuge. Schiller läßt offenbar das Recht des Goetheschen Geistes gelten, aber, von ihm aus gesehen, bedeutet dies gerade keine Beschränkung der Wahrheit der philosophischen Spekulation, das ist der Kantischen Philosophie. Seine Deutung Goethes durch die praktische Entsprechung spekulativen und intuitiven Geistes ist vielmehr die völlige Rechtfertigung des von der Spekulation Erkannten. Das bewußtlos schaffende Genie bestätigt geradezu die philosophische Wahrheit des Selbstbewußtseins. Kant sagt also auch noch über Goethe - die Wahrheit. ' Die entscheidende Frage ist die: Hat Schiller damit recht? Ist Goethes philosophische Haltung die des Instinktes? Ist seine Philosophie wirklich nichts als bewußtloser Idealismus? Goethe selbst scheint diese Frage zu bejahen. Wenn er auch anfangs noch -in seiner Antwort auf Schillers großen ersten Brief- lIeine Art Dunkelheit und Zaudern« bei sich entdeckt, die der angebotenen denkenden Selbstklärung widerstehen, so ist doch kein Zweifel, daß er sich nach und nach selber mit den Augen Schillers aufKantisch zu sehen bereit findet. Goethe bestätigt dies noch kurz vor seinem Tode, wenn er in einem Brief an den Staatsrat Schultz vom 18. September 1831 schreibt: »Ich danke der kritischen und idealistischen Philosophie, daß sie mich auf mich selbst aufmerksam gemacht hat, das ist ein ungeheurer Gewinn.« - Die neue Epoche. die Schiller rur ihn einleitet, wird durch übergang in einen
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geläuterten, freieren, selbstbewußten Zustand charakterisiert. Der durch Schiller vertretene Standpunkt ist ihm ein »höherer« Standpunkt. Offenbar deshalb, weil es der Standpunkt einer höheren Bewußtheit ist. In der Tat sehen wir Goethe sich mehr und mehr an den Kantisch-Schillerschen Sprachgebrauch gewöhnen und den »steifen Realismus« von sich abtun. Es wird ihm allmählich natürlich, von der Idee als dem Höheren zu sprechen, ja sein »Urphänomen« als Idee zu bezeichnen. Er ist damit ganz auf die Seite Schillers übergetreten, gegen dessen Behauptung: »Das ist eine Idee!« er sich anfangs so gesperrt hatte, und zwei Jahrzehnte später, im Jahre 1817, der einzigen Zeit seines späteren Lebens, für die nochmals eine anhaltendere Beschäftigung mit der Kantischen Philosophie bezeugt ist, spricht er selbst von dem Hiatus, der Kluft zwischen Idee und Erfahrung, die zu überschreiten unsere ganze Kraft sich vergeblich bemüht, und gibt dem Philosophen ausdrücklich recht, welcher behauptet, daß keine Idee mit der Erfahrung völlig kongruiere - und er ist zufrieden, wenn dieser »wohl zugibt, daß Idee und Erfahrung analog sein können, ja müssen«. Auf der anderen Seite bleibt freilich seine Abneigung gegen das trennende Verhalten der Philosophie das beherrschende Motiv in all seinen Äußerungen zur Sache, und man hat deshalb die Metaphysik Goethes als eine dynamisch-ganzheitliche, an der Morphologie orientierte Weltansicht geradezu im Gegensatz gegen die Kantische, von den atomistischen Voraussetzungen der klassischen Mechanik ausgehende Philosophie darstellen können3 • überdies bemerken wir, nachdem der Tod den zehnjährigen Bund Schillers mit Goethe gelöst hat, ein Zurücktreten seines philosophischen Bemühens, ja eine immer stärkere Wendung zu der alten Zurückhaltung. Auch die oben zitierten Äußerungen aus späterer Zeit sind nicht so rückhaltlos, wie sie aus ihrem Zusammenhang gelöst klingen. So lautet die Fortsetzung des Briefes, der die Leistung der Kantischen Philosophie als einen ungeheuren Gewinn bezeichnet hatte: »Sie kommt aber nie zum Objekt, dieses müssen wir so gut wie der gemeine Menschenverstand zugeben, um am unwandelbaren Verhältnis zu ihm die Freude des Lebens zu genießen.« Das klingt gar nicht mehr Kantisch, aber wieder sehr Goethisch. Die Frage ist nun, wenn man diese und ähnliche Äußerungen Goethes aus der späteren Zeit betrachtet (und gerade aus der späteren Zeit stammt manches unwirsche Wort über die Philosophie): Was bedeutet diese Abwendung? Wirklich eine Abkehr von der Philosophie? Eine immer bewußtere Heraushebung der ihm eigentümlichen Betrachtungsart der Dinge, die überall Ganzheiten, Gestalten anschaut? Also die Rückkehr des Künstlers Goethe zu sich selbst? Oder bedeutet sie nur eine selber philosophische Wendung? Denn diese Abkehr von der kri3
Vgl.
FERDINAND WEINHANDL,
Die Metaphysik Goethes. Berlin 1932.
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tischen Philosophie, ist sie nicht die gleiche, die das deutsche idealistische Denken im Zeitalter Goethes seinerseits vollzogen hat? So kann es in der Tat scheinen. Da ist zunächst die Abhandlung über ,Anschauende Urteilskraft<. Sie knüpft an eine Stelle von Kants ,Kritik der Urteilskraft< an, an der Kant die Idee eines anschauenden Verstandes entwirft, der von der Anschauung eines Ganzen als eines solchen zum Besonderen gehe. Kant will an diesem Gegenbild eines göttlichen. urbildlichen Verstandes die Diskursivität, die Bilderbedürftigkeit des menschlichen Verstandes erläutern. Goethe aber meint sein eigenes urbildlich gerichtetes Verfahren darin zu erkennen. Das ist sicher wieder bezeichnend für seine Kantstudien für den Hausgebrauch. Goethe will damit keineswegs für den späteren Idealismus der intellektualen Anschauung eintreten. Immerhin zeigt seine Beziehung und Verwertung Kants eine natürliche Verwandtschaft mit der Lehre Schellings. Auch Goethe gehörte zu denen, die mehr an Natur als an Freiheit glauben. Der Fichteschen Entwicklung der gesamten Wissenschaftslehre aus dem Freiheitsbewußtsein der absoluten Tathandlung vermochte Goethe also gewiß nichts abzugewinnen. Mit einem Denker. dem die Natur nur "Material der Pflichtcc war, konnte er sich nicht vereinigen. er, der auch die Freiheit und uns selbst möglichst als Natur zu traktieren suchte. Für diesen Gegensatz ist bezeichnend, wie Goethe zu Fichtes Wendung: "Die von uns unabhängige Natur (das Nicht-Ich)cc am Rand notiert: "Aber doch mit uns verbunden, deren lebendige Teile wir sind«. Was Goethe so von Fichte trennt, eben das verbindet ihn aber mit den späteren idealistischen Denkern, denn eben dies ist der Einsatzpunkt der von Schelling und Hegel entwickelten Philosophie und der Punkt ihrer härtesten Differenz mit Fichte: das Wesen der Natur als mit dem des Geistes und des freien Selbstbewußtseins einig zu begreifen. Diese Tendenz kommt schon im Namen der Identitätsphilosophie zum Ausdruck. Identität meint nicht tautologische Selbigkeit. sondern untrennbare Zusammengehörigkeit des Realen und des Idealen, wie sie im Prinzip der intellektualen Anschauung gedacht ist. Ihre höchste Weise der Objektivierung aber liegt im Kunstwerk vor. das ebenso reell wie ideell, ebenso objektiv wie subjektiv ist. Und so geht nach Schelling das Philosophieren mit Notwendigkeit in die Genialität der Kunst über. Schon das ist Goethe nahe, der ja auch nie Subjekt und Objekt voneinander trennen wollte und mit Natur stets die Subjektives und Objektives übergreifende Lebenseinheit meinte. Ja, selbst der große Lebensplan der allseitigen Goetheschen Naturforschung, den Schiller beschreibt: "Von der einfachen Organisation steigen Sie. Schritt vor Schritt, zu der mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauencc. selbst dieser Goethesche Leitgedanke hat seine Entsprechung in der Schelling wie Hegelleitenden Aufgabe, aus
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dem Realen der Natur das Ideale des Geistes und der Freiheit hervorgehen zu lassen. Schelling nannte das seinen I)physikalischen Beweis des Idealismus«, wie die bildende Natur sich von Potenz zu Potenz steigert. bis schließlich in ihrer höchsten Potenz der Blitzschlag der Freiheit einschlägt und damit diese höchste Ersteigerung der Natur aus ihr heraustritt, so daß im Lichte dieser Freiheit das Selbstbewußtsein alles Seiende sich gegenüber hat. Damit versöhnt sich der Standpunkt der Freiheit mit dem Standpunkt der Natur, der objektive mit dem subjektiven Standpunkt, Goethe mit der kritischen Philosophie. Während der unruhige Schelling über dieses Ergebnis hinaus in die theo~ sophischen Hintergrunde des Freiheitsproblems sich verliert (wohin ihm Goethe nicht mehr folgt), vermag Goethe in Hegels Philosophie die gediegene Ausarbeitung der ihm so verwandten Identität von Realem und Idealem zu finden. »Wo Objekt und Subjekt sich beruhren, da ist Leben; wenn Hegel seine Identitätsphilosophie mitten zwischen Objekt und Subjekt hineinstellt und diesen Platz behauptet. so wollen wir ihn loben.« Hegel selbst hat es als seine Aufgabe formuliert, diese Vermittlung zu vollziehen. die Substanz zum Subjekt zu erheben und so das Subjekt substantiell zu machen. Insbesondere hat er es unternommen, die ganze substantieKe Breite des geschichtlichen Lebens in das Subjekt aufzunehmen. Es ist bezeichnend. daß ihm auf dem Wege zu diesem Ziel, in der Erhebung des WeItbewußtseins zum Selbstbewußtsein, Goethes Art der Naturforschung als höchste Weise dieses Weltbewußtseins erschien. Sie überragt die mathematische Gesetzeswissenschaft der Physik an innerer Konkretion, denn sie erfaßt »die Gestalt, die lebend sich entwickelt«. Ober das Reich des Unwandelbaren, die Gesetze der mechanischen Natur hinaus geht hier die echte Unendlichkeit des Lebens auf. Indem sich diese zum Selbstbewußtsein erhebt, »schreitet der Geist in das einheimische Reich der Wahrheit ein«. So hat Hegel in der Tat Goethe philosophisch in sich aufgehoben, und es besagt nichts dagegen. wenn Goethe sich seinerseits im ganzen auf Hegels Philosophie nicht einläßt: »Ich mag nichts Näheres von der Hegeischen Philosophie wissen ... «, auch wohl gelegentlich ungeduldige Mißverständnisse begeht, wie seine Empörung über die Hegeische Formulierung in der ,Phänomenologie des Geistes(, daß die Blüte die Knospe und die Frucht die Blüte "widerlege«. Die radikale Beweisenergie der Hegeischen Dialektik mußte ihm verdächtig sein. Aber das kann lediglich die Zurückhaltung seines philosophischen Instinktes sein, in dem Sinne, in dem Schiller ihn sich selbst gedeutet hat. In der Tat hat Hegel es so gesehen. d. h. aber, er hat Schillers Goethedeutung wiederholt, wenn er an Goethe schreibt (am 24. April 1825): "Denn wenn ich den Gang meiner geistigen Entwicklung übersehe, sehe ich Sie überall darein verflochten und mag mich einen Ihrer Söhne nennen; mein Inneres hat gegen die Abstraktion Nahrung zu wider-
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haltender Stärke von Ihnen erhalten und an Ihren Gebilden wie an Fanalen seinen Lauf zurechtgerichtet.« Goethes dynamisch-ganzheitliche Betrachtungsweise ist genauso über das trennende Verstandesdenken hinaus wie Hegels spekulatives Denken und sein konkreter Begriff. So kann Hegel in dem bildnerischen Gestalten Goethes die echte Konkretion des Geistes erblicken, die philosophisch, d. h. in Begriffen auszulegen, die Aufgabe seines Lebens war. Auch er behauptet damit seine eigene Wahrheit des spekulativ Vernünftigen und stellt über die Unmittelbarkeit des lebendigen Anschauens die unendliche Vermittlung des Begriffes, über Dichtung und Religion, als die höchste Welse des Geistes, die sich selbst begreifende Philosophie. Das also scheint das Ergebnis unseres biographischen Mitgehens rp,it Goethes geistigem Gange. Goethes oft und oft betonte und betätigte Zurückhaltung gegen die Philosophie erwies sich noch nicht einmal als die halbe Wahrheit. Im Gegenteil erscheint seine philosophische Geschichte wie das dichterische Vorbild dessen, was die Denker seines Zeitalters, was erst Schiller, später Schelling und Hegel dachten. Haben wir also - so müssen wir fragen - in dieser Philosophie des deutschen Idealismus, insbesondere in der Erhebung vom subjektiven zum objektiven und absoluten Idealismus, die wahre Philosophie Goethes? Mit dieser entscheidenden Frage gewinnt unsere Betrachtung nochmals eine ganz neue Richtung, die wir abschließend anzuzeigen haben. Wir trennen uns nicht nur von dem Bestreben, das unseren Vätern so wichtig war, Goethe und Kant in übereinstimmung zu setzen; wir halten es auch nicht rur genug, Goethes Philosophie in ihrer tatsächlichen Verwandtschaft mit dem objektiven Idealismus Schellings und Hegels zu erkennen; wir fragen jetzt vielmehr, ob es wirklich ein zufälliges und äußerliches Faktum ist, daß Goethe, der doch aller übereinstimmung so gerne froh war, dennoch mit der philosophischen Spekulation seiner Zeitgenossen nicht recht mitg~ng. Ist das wirklich nichts als der Ausdruck seiner eigenen dichterisch bestimmten Art, die aus Liebe zur sinnlichen Anschauung den Gang der Begriffe scheute - oder liegt vielleicht in dieser seiner eigenen Art eine philosophische Wahrheit, die über den Kreis des idealistischen Denkens, nicht nur über das Kantische, sondern auch über das Hegeische Denken, hinausragt? Ist Goethe vielleicht nicht nur der Zeitgenosse und das dichterische Vorbild des Idealismus - ist er vielleicht ihr erster Kritiker? Für diese Frage sind wir durch ein ganzes Jahrhundert der Kritik am Idealismus vorbereitet, und insbesondere, seit Nietzsches Angriff auf den Platonismus, d. h. aber auf das Ganze des griechisch-christlichen Ideendenkens und der Metaphysik, in das das allgemeine philosophische Bewußtsein eingedrungen ist. Wir sind dadurch in den Stand gesetzt, Goethes Abkehr von der Metaphysik, ja seine ganze Zurückhaltung gegen die spekulative· Philosophie mit anderen Augen anzusehen. Wir sehen darin nicht mehr den
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um die Unschuld seiner bildnerischeri Kräfte besorgten Künstler, der sich die Reflexion vom Leibe hält. Wir sehen in dem, was ihn zurückhält, vielmehr geradezu die volle andere Hälfte der Wahrheit. Wir erkennen in ihm -lange vor Nietzsehe - einen Kritiker des Begriffs der philosophischen bzw. metaphysischen Wahrheit. Die erste Einsicht, die uns dahin leitet, ist die, daß Goethe selbst in seinem bildnerischen Grundverhalten zur Welt nicht die Besonderheit seiner dichterischen Individualität sah, sondern das Allgemeine des menschlichen Daseins überhaupt. Der Künstler ist nur die gesteigerte Erscheinung des Menschen. Der Mensch ist. was er ist, in beständiger Wirkung auf die ,Welt und im beständigen Erfahren der Gegenwirkung der Welt auf ihn. Nicht in der abgelösten Freiheit des Gegenüberseins, sondern im täglichen Bezug auf die Welt, im Sicheinlassen in ihre Bedingnisse gewinnt der Mensch sich selbst. ~r gewinnt damit auch erst die rechte Stellung des Erkennens. Es ist der Schüler Herders. der unser Erkennen der Welt nicht als ein Haben und Wissen, sondern als ein Erfahren und Genießen sieht, d. h. aber als eine produktive Antwort des Menschen auf die Welt aus der Totalität der menschlichen Natur. Damit hängt ein Zweites zusammen. Wenn sich Goethe vor den Gewagtheiten der philosophischen Spekulation bewahre, so folgt er damit nicht nur einem Instinkt für das seiner eigenen Art Angemessene - er sieht darin das menschlich Richtige und dem Menschen Gebotene schlechthin. Darin aber liegt, daß er einen eigenen Anspruch auf Wahrheit dem Ganzen der philosophischen Tradition und ihrem Begriff der Wahrheit entgegenstellt. In einer seltsam gelassenen Vorläuferschaft weist Goethe hier wiederum in die Richtung, in der Nietzsehe die Kritik des Platonismus gesteigert hat, und gerät in die gleiche Nähe zu den Anfängen der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, die Nietzsche empfand. Auch er sah, was Nietzsehe sah, daß die plastische Natur der alten Denker. ihre geschlossene übereinstimmung von Leben und Lehre, im modernen Zeitalter unbekannt ist, und er begründet darauf seine eigene bewußte Stellung zur Philosophie. In einem von Falk berichteten Gespräche sagt er: »Die Philosophen können uns ihrerseits nichts als Lebensformen darbieten. Wie diese nun für uns passen, ob wir, unserer Natur und unseren Anlagen nach, ihnen den erforderlichen Gehalt zu geben imstande sind, das ist unsere Sache. Wir müssen uns prüfen und alles, was wir von außen in uns hereinnehmen, wie Nahrungsmittel, auf das sorgsamste untersuchen; sonst gehen entweder wir an der Philosophie oder die Philosophie geht an uns zugrunde. " Diese Außerung ist sehr aufschlußreich. Sie zeigt, nlit welcher Bewußtheit Goethe sich gegenüber der einseitigen Verstandesbildung der neueren Jahrhunderte verhält. Es sind ja eben die protestantischen Jahrhunderte der Sorge um den rechten Glauben und die rechte Lehre, die auch der philo-
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sophischen Spekulation der Neuzeit ihre abstrakte Zuspitzung gegeben haben. Vor solchem war Goethe von Jugend an auf seiner Hut. Er wehrte sich stets gegen jede dogmatische Festlegung. Ob man ihn Pantheist, Christ oder Atheist nennen wolle, gelte ihm gleichviel, »weil niemand recht wisse, was das alles eigentlich heißen solle«. Mit dieser Haltung gerät er aber, ohne es zu wissen, in die Nähe des Ursprungs der Philosophie bei den Griechen. Jedenfalls ist es kein bloßer Zufall, sondern eine Verwandtschaft im Grunde. die bei der oben wiedergegebenen Außerung an den platonischen Sokrates zurückdenken läßt. Wie nämlich Goethe der neuzeitlichen Philosophie, so stand Plato der von den Sophisten gepflegten ,Paideia( gegenüber. Plato sah das wahre Erzieheramt des Sokrates darin, von der unverbindlichen Allseitigkeit des sophistischen Bildungswissens zur rechten Sorge um die Seele zu fUhren. In dem wunderbaren Gespräch, das Sokrates (im platonischen >Protagoras() mit dem bildungssüchtigen Jüngling führt, der zu Protagoras geruhrt werden möchte, weckt Sokrates in dem jungen Manne das Bewußtsein der Gefahr, die in der ungeprüften Hineinnahme der sophistischen Lehre in die Seele liege. Hier nun gebraucht er dafür das gleiche Bild, das Goethe oben verwendet: die Nahrung des Körpers werde nicht ohne gehörige Prüfung ausgewählt, wieviel mehr bedürfe die der Seele einer gleichen Vorsicht und Prüfung. Die Aufgabe der Philosophie, die diese Prüfung zu leisten hat, gleicht der des Arztes, der gegenüber den Verführungen der Kochkunst das dem Körper Zuträgliche zu bestimmen hat. In diesem Sinne ist Sokrates der wahre Arzt der Seele und der einzige philosophische Erzieher, indem er durch seine Kunst der GesprächsfUhrung die Vormeinungen der Bildung dialektisch zu zersetzen versteht. Plato hat auf diese Anschauung des Dialektikers Sokrates die dialektische Verfahrensweise der Philosophie überhaupt begründet: nur in solcher Abwehr des sophistischen Bildungsgeredes komme Philosophie zu sich selbst. Goethe nun übt die gleiche Abwehr gegen die abstrakte Spekulation seines Zeitalters, und eben diese freie Sicherheit vor dem Dogmatismus der Moderne gibt ih~ etwas Antikes. Im Sinne der Antike ist auch er Philosoph und ist den Ursprüngen näher als seine großen philosophischen Zeitgenossen. Denn er teilt nicht den Glauben seines Zeitalters an die Autonomie der Vernunft - er sieht ihre menschliche Bedingtheit. Entscheidend aber ist, daß er diese Bedingtheit nicht als eine Schranke der Wahrheit, sondern als den menschlichen Weg zur Weisheit begreift. Damit liegt in seiner Abwehr der Philosophie eine eigene philosophische Erkenntnis verhüllt, die sich am deutlichsten in dem verrät, was er unter Wahrheit verstand. Hier steht er in einer grundsätzlichen Abkehr von dem traditionellen Begriff der gegenständlichen Wahrheit und ordnet sich damit in eine Bewegung ein, die von Herder über Nietzsche bis in die Gegenwart hinein-
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reicht und deren antikes Vorbild die konkrete Dialektik des Sokrates ist. Es ist nämlich nicht jene von der Feindseligkeit gegen den Dogmatismus der Schul philosophie seit alters genährte Gegenbewegung der Skepsis, die aus Goethe spricht, sondern der Wille zur Bewahrung eines eigenen Bodens der Wahrheit. Das stets und ständig Produktive, dessen sich Goethe als der Mitgift seiner genialen Natur bewußt war, ist auch für das allgemeine Weltverhältnis des Menschen charakteristisch. Nur rur den Wirkenden und Gegenwirkung Erleidenden ist die Welt da. Wahrheit beruht auf einem Lebensverhältnis. Daher ist sie in einer innerlich notwendigen Weise mit dem Irrtum verknüpft, in dem sich das gleiche Verhältnis des Lebens auswirkt. Belebung der eigenen Tätigkeit, Auslösung und Steigerung der Lebenskraft, Produktivsein im Beleben wie im Vernichten, das ist der Maßstab. an dem sich die Wahrheit bemißt. »Was fruchtbar ist allein ist wahr« - dieses bekannte Wort Goethes löst indes nicht die Wahrheit in die Nützlichkeit auf, wie es der moderne Pragmatismus tut; denn die Fruchtbarkeit ist eben die Steigerung der Lebendigkeit selbst, in der sich das menschliche Weltverhältnis gestaltet. Sie ist nur die andere Seite der von Goethe als sein eigener Wesenszug anerkannten Gegenständlichkeit. Denn Ist nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen?
6. Goethe und die sittliche Welt (1949)
Wer Goethe liebt, der liebt auch die deutsche Sprache. Und wem ist Goethe nicht gleichwohl der Inbegriff einer Menschheitskultur, die inmitten einer Welt heillosrr Entzweiungen ihren geheimen Gang geht! Indessen, wer ist es, der Goethe liebt und in Goethe etwas alle Einendes? Wir können uns nicht verbergen, daß die selbstverständliche Anteilnahme an Goethe, alles Echte und Wahrhafte, was in ihr laut wird, von der älteren Generation der heute Lebenden getragen wird. Die Jugend, sowie sie über die bildungs mäßige Beflissenheit ihres noch unselbständigen Daseins hinauswachsend ihre Sterne wählt, wendet sich anderen Vorbildern zu und geht an Goethe mit zunehmender Gleichgültigkeit vorbei. ~ugend ohne Goethe<, so hieß der Titel einer bedeutenden Rede, die der so früh dahingegangene Max Kommerell1930 veröffentlichte. Diese Formel ist heute genauso gültig wie vor Jahrzehnten, wenn auch ihr positiver Inhalt sich gewandelt hat. Nicht mehr eine ausschließliche Hingabe an die Dichtung Stefan Georges, wie sie Kommerell damals - und schon damals kaum noch mit vollem Recht - zu erkennen meinte, ja nicht einmal die Hingabe an die Dichtung Hölderlins und Rilkes scheint inzwischen das Herz der dichterisch empfänglichen Jugend zu erfüllen. Selbst diese äußerste Inständigkeit des dichterischen Menschentums ist wie unter Fluchtverdacht geraten. Alles .Poetische< erscheint vor der Wucht der Realitäten, die uns in unserer vom Geiste des technischen Könnens inspirierten Gesellschaft umringen, nur noch als eine edle Ohnmacht. Goethe vollends kommt der suchenden Jugend von heute wie der Urheber und Kronzeuge einer kunstvollen Ver. schleierung der Entscheidungen vor, um die es wahrhaft geht. Es ist nicht das erste Mal, daß Goethe so mit Leidenschaft bestritten wird. Schon die Zeitgenossen und dann das Junge Deutschland, jene literarische Bewegung, die nach der französischen Juli-Revolution von 1830 den sozialen und ästhetischen Tendenzen des beginnenden Liberalismus ihre Stimme lieh, haben mit dem Angriff auf den .Olympier< Goethe das Stichwort gegeben, das seither mehrfach wiederholt wurde. Es war viel unproduktiv~s Ressentiment in dieser feindseligen Haltung zu Goethe. Die Kritiker Wolfgang Mentzel und Ludwig Börne, die Wortfdhrer des Streites, sahen in der
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anscheinenden Unberührtheit, mit der der alternde Geheimrat Goethe auf den stürmischen Radikalismus der Jugend herabsah, Blindheit gegen die echten und zukunftsvollen Kräfte der Zeit. Der Kult, den die höhere Gesellschaft mit ihrem Abgott trieb, reizte sie zu maßloser Ungerechtigkeit. Und am Ende war es nicht nur ein revolutionärer Elan, der gegen die selbstzufriedene Sicherheit der bestehenden Ordnung, mit der Goethe sich eingelassen hatte, gerichtet war, sondern ein echter Haß gegen die mühelose Gelassenheit dieser genialen Produktivität, d. h. aber unerfullte Liebe, die etwa das zwiespältige Verhältnis Heinrich Heines zu Weimar und zu Goethe bestimmte. Was Goethe ehedem schon gegen den revolutionären Radikalismus des jungen Schiller eingenommen hatte. was ihn gegen den Anspruch so genialer Naturen wie Kleist und Hölderlin taub machte, erschien nun als eine wirkliche Grenze in dem Riesenmaß seiner Persönlichkeit. Sein ausgewogenes Gleichmaß war den radikalen Forderungen einer jungen Generation ein zu billiger Friede mit den Mächten des Bestehenden und zuletzt ein Mangel an Radikalität und Entscheidungskraft. Seither hat eine drängende jugend diesen Angriff mehrfach wiederholt. Mit der Saturierung des Besitzbürgertums im industriellen Anstieg Preußens und des deutschen Reichs war das erste Kampfgeschrei verstummt und einem neuen Bildungskult gewichen. Der Anprall des sozialen Pathos der naturalistischen Bewegung der 80er jahre gab ihm neue Nahrung, und vollends der Zusammenbruch des Bildungsidealismus in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges rief die revolutionären Kräfte der Literatur und der Politik erneut in die gleiche Front. Inzwischen aber nimmt ,die innere Auseinandersetzung mit Goethe eine immer schweigendere und dadurch immer ernstere Form an. Sie hat nicht mehr die militante Gestalt einer literarischen und politischen Fehde, nicht mehr den heißen Atem einer anderswolIenden Ungerechtigkeit, die angreift und verwirft, um dem eigenen Stil des künstlerischen oder politischen HandeIns den Weg zu bahnen. Sie läßt es nicht einmal mehr an gerechter Anerkennung fehlen - und eben dami t bekundet sie ihren gesteigerten Ernst. Sie fragt jetzt nach Goethes Legitimation, weil sie an der Legitimität des Poetischen in unserer Welt überhaupt zweifelt. Und sie fragt grundsätzlich. mit der Gewissenhaftigkeit, die sich von Goethes Persönlichkeit und Werk halb versucht und bewogen fiihlt, nach Goethes Stellung zur sittlichen Welt. Sie spielt nicht mehr den jungen Goethe oder sonst eine Phase seines Schaffens gegen den älteren aus, sondern sucht ihn als Ganzen und richtet ihre Gewissensfrage an das Ganze seiner Existenz und seiner geistigen Wirklichkeit. Kar! jaspers hat in seiner Rede anläßlich der Verleihung des GoethePreises der Stadt Frankfurt 1947 die beunruhigende Frage gestellt, was es bedeute, daß Goethe uns nahe ist und unserem Leben unentbehrlich und
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doch kein Vorbild mehr für unsere eigene Existenz. Er hat insbesondere die Kritik ins Licht gestellt, die Kierkegaard an Goethe geübt hat, daß ihm die Existenz selber zur Dichtung geworden sei. Goethes Mangel sei, daß er kein Pathos habe. Aus allen Situationen, in denen ein unbedingter Anspruch an ihn ergehe, so oft ihm ein Lebensverhältnis übermächtig werde - bekannt ist das ja vor allem von seinen Liebesedebnissen -, dichte er sich davon frei. )Dichtung und Wahrheit<, diese großartigste Selbstbiographie der deutschen Sprache, verschleiere mit ihrer Poetisierung seines Lebens gerade die Verbindlichkeit der Existenz. Man ist versucht, zu fragen: Muß etwa von Goethe selbst gelten, was er einst gegen eine falsche Werthemachfolge gesagt hat: »Sei ein Mann und folge mir nicht nach!«? Es genügt nicht, die Berechtigung dieser Kritik zu prüfen, sie anzunehmen oder zu verwerfen, und daneben das dichterische Werk Goethes unbeschädigt festhalten zu wollen. Denn die Poetisierung seines Lebens, die ihm diese Kritik vorwirft, ist ja selbst das Lebensgesetz seiner Poesie. Sein dichterisches Werk ist der reinste Ausdruck dessen, was man )Erlebnisdichtung( nennt. Nicht als ob sein )wertes Ich< der Schlüssel aller seiner Dichtungen sei und nur von seiner Lebensgeschichte her seine Dichtungen Leben und Bedeutung hätten. Was sich in seinen Werken, diesen »Bruchstücken einer großen Konfession«, wie er selbst sie genannt hat, ausspricht, ist nicht das einmalig historische Ich ihres Schöpfers. Vielmehr macht es gerade das sittliche Problem so brennend, daß er sein Leben )gedichtet< hat, d. h. aber sein faktisch gelebtes Leben wie einen Stoff behandelt, der wie aller Stoff der Kunst für sich nichts ist, sondern ganz in das Gebilde eingegangen ist, das uns allgemein und bedeutend anspricht. Ist selbst das größte Ich, ein Ich von reichster Welthaltigkeit, überhaupt stoffbedeutend genug für den Auftrag der Poesie? Das ist die andere Frage. die sich mit der ethischen zugleich ergibt, die Frage an Goethes Kunst und Dichtertum. Calderon oder Dante oder die griechischen Tragiker, die wie namenlose Mittler einer allumfassenden Weltschau schier ohne Persönlichkeit scheinen, geben dieser Frage kein geringes Gewicht. Sie steht neben der anderen, die die Unbedingtheit der sittlichen Existenz an Goethe vermißt. Ja. sie hat vor jener den Vorrang. Denn nicht Goethes Existenz ist uns gegeben und zugänglich, wohl aber der vielfache Zauber seines dichterischen Werkes. »Wie es in Goethes Existenz war, wird niemals jemand ergründen«. sagt Jaspers angesichts der Kierkegaardschen Kritik mit Recht. Aber was seine Dichtung in unserer Existenz ist, können und müssen wir ergründen. Es ist etwas Gewaltiges geschehen, als Goethe den Mund auftat und die deutsche Dichtung zum Range der Weltliteratur erhob. Die gewaltige Sprachgebärde Schillers, die blockhafte Inständigkeit Hölderlins. auch Klopstocks stammelnde Kraft und Herders grenzenlos entfesselte Sprachfülle, und wen immer man nennen will unter den Künstlern der deutschen
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Sprache, die in die Weltliteratur eingegangen sind - sie alle übertrifft Goethe um ein ganz Eigenes: die vollkommene Natürlichkeit seiner Sprache'. Sie wirkt auf uns fast nur deshalb als ein eigener Stil, weil uns dieser freie Gebrauch des Eigenen in den Formen der dichterischen Aussage vor Goethe nicht gegeben war und nachher nicht ohne ihn. Es ist nicht nur die unbefangene Frische seiner frühen dramatischen und epischen Prosaschöpfungen, denen ein Erdhauch von Mundart anhaftet, es ist gerade auch seine Verskunst, die von den schlichten Anfängen seiner Liedpoesie bis in die allegorisch beladenen Strophen seiner spätesten Dichtungen, von der )Pandora( über den )West-östlichen Divan( bis zum zweiten Teil der Faustdichtung ihr rhythmisches Gefüge wie von der Natur selbst empfängt. Aufleichten Füßen eilt noch der ausdrucksschwerste, metrisch kunstvollste Vers daher. Der alte Bann, der auf der durch die antike Metrik gebundenen deutschen (und nicht nur der deutschen) Verskunst liegen schien, ist wie gelöst und entmachtet. Und selbst die spätere Prosa Goethes, die gewiß etwas von einem zeremoniösen Kanzleistil an sich hat, erscheint nicht als geformt und gewollt, sondern als der selbstverständliche Ausdruck einer dem Dichter und seinem Weltverhältnis notwendig gewordenen Umständlichkeit. Goethe selbst hat aus seiner produktiven Frühzeit berichtet. daß ihm seine Verse wie von selbst kamen, oft des Nachts, bei halber Dunkelheit auf Zettel geschrieben wurden, mehr einer Eingebung gehorchend als aus einem künstlerischen Wollen entspringend. Man spürt es seiner Verskunst an und wird nicht verkennen, daß diese vollkommene Natürlichkeit seiner Sprache nichts Äußerliches und Zufälliges ist, sondern aufs genaueste der Art entspricht. wie er überhaupt der Welt begegnet und auf sie antwortet. Es ist wie ein Spiel, und gerado das Spielerische seiner Poesie ist es, was manchem an der bis zum Prophetenhaften angespannten Sprachgebärde Hölderlins oder Rilkes Erzogenen wie der Mißbrauch eines heiligen Gefäßes erscheinen kann. Man wird den künstlerischen Reiz dieser Sprachbehandlung - die nichts so wenig ist als eine Behandlung der Sprache - nicht leugnen. man wird sogar erkennen, daß Goethe in seinem Verhältnis zur Sprache-und vielleicht auch zur Welt -, in dieser freien Natürlichkeit seines Sichdarlebens. wahrhaft ein Grieche ist, wie seit den Tagen der Griechen keiner. - und man wird sich doch fragen. woher Goethe das Recht zu der selbstverständlichen Poetisierung seines ganzen Lebensstoffes nimmt und ob dies produktive Vermögen. bildend und gestaltend auf jeden Reiz zu antworten, nicht gerade jene Unverbindlichkeit bewirkt, die das Reich der dichterischen Einbildungskraft aus dem Zusammenhang des durch sittliche Normen gebundenen Lebens löst und die Dichtung in eine Welt der ästhetischen Bildung verweist, die sich in sich selbst genießt.
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I
Siehe dazu in diesem Band >Die Natürlichkeit von Goethes Sprache •• S. \28ff.
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Goethes eigene Lebensführung kann diese Frage nur verschärfen. Zwar ist er keineswegs ein Mann gewesen, der sich der Einordnung in die gesellschaftliche Wirklichkeit entzog und ein isoliertes Bildungsdasein pflegte. Als der junge Goethe vonKarl August von Weimar an seinen Hofberufen wurde, trat er aktiv in das politische Leben des Weimarer Staates ein. Er war nicht nur Minister, sondern über seine amtliche Stellung hinaus die maßgebliche und entscheidende Persönlichkeit, weil er der Mentor des genialisch-ungebärdigen Herzogs war. Mit größter Gewissenhaftigkeit hat er sich in seine Verwaltungsaufgaben eingearbeitet und dem kleinen Staatsgebilde unschätzbare Dienste geleistet. Darüber hinaus nahm er sich viele mit Mühe und Ärger überhäufte Jahre lang des Weimarer Theaters an. Und doch konnte diese Situation des Frankfurter Patriziersohnes am Weimarer Hof manchem wie ein Verrat an der Aufgabe scheinen, die dem revolutionären bürgerlichen Elemente injener Zeit des niedergehenden Absolutismus gestellt war. Dann, in demjahrzehnt der napoleonischen Fremdherrschaft über Europa, hielt sich Goethe, ein persönlicher Bewunderer des großen Korsen, abseits von dem nationalen Widerstand, der in den Freiheitskriegen triumphierte. Und vollends in denjahren der Restauration stand er ganz auf der Seite der herrschenden Gesellschaftsschicht, die ihn aufgenommen hatte. Ein anderer Zug in Goethes Leben, der viel Kritik und Ablehnung hervorrief, war seine Ehe mit Christiane Vulpius. Zwar hat er sich mit der Eheschließung äußerlich in die gesellschaftliche Welt eingefligt, aber wer konnte in der unbedeutenden Frau die Lebenskameradin erblicken, die der großen Persönlichkeit des Dichters die rechte Ergänzung bot und den sittlichen Bindungen von Ehe und Familie die hohe Würde verlieh, die man gerade diesem Liebling hochstehender Frauen und bedeutender Männer wünschen mußte? Die wahrhaft königliche Stellung, die sich der alternde Goethe in der gesamten Kulturwelt erworben und die er mit Behagen gepflegt hat, war doch auch eine Abseitsstellung, die durch die steigende Autorität seiner Person von Jahr zu Jahr noch verstärkt wurde. So ist denn auch Goethe selbst sich nicht darüber im unklaren gewesen, daß das zeitgenössische Publikum seinem Werk und vor allem seiner sittlichen Persönlichkeit fremd gegenüberstand. Gegen Eckermann äußert er im März 1830 zu dem Vorwurf, daß er in jener großen Zeit der Befreiungskriege abseits gestanden sei: »Es versteckt sich hinter jenem Gerede mehr böser Willen gegen mich, als Sie wissen. Ich flihle darin eine neue Form des alten Hasses, mit dem man mich seit Jahren verfolgt und mir im stillen beizukommen sucht. Ich weiß recht gut, ich bin vielen ein Dorn im Auge, sie wären mich alle sehr gerne los; und da man nun an meinem Talent nicht rühren kann, so will man an meinen Charakter. Bald soll ich stolz sein, bald egoistisch, bald voller Neid gegen junge Talente, bald in Sinnenlust versunken, bald ohne Christentum, und nun endlich gar ohne Liebe zu meinem Vateflande und meinen lieben Deutschen.«
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Die Zeit hat inzwischen ihr Urteil gesprochen, und Goethe steht heute über der Parteien Haß und Gunst, die sein Charakterbild in der Geschichte so lange schwanken ließen. Und vollends ist die Kritik verstummt, die an sein Werk zu rühren wagt, ihm das echte poetische Genie (wie mancher märchenselige Romantiker meinte) oder auch nur das wahre dramatische Talent absprach. Sein Werk gehört der Wdtliteratur an, mit einer sdtenen, umfassenden Vollständigkeit. Aber freilich ist diese Schätzung Goethes von Maß.stäben literarischer Bildung bestimmt, die rur den Zweifel an seiner sittlichen Wertbeständigkeit und menschlichen Bedeutung immer wieder Raum lassen. Was die ,Iphigenie< ist, diese so gar nicht ,griechische< und um so unmittelbarer menschlich anrührende Umsetzung eines hohen Sagenstoffes der Antike in das sittliche Empfinden der neueren Zeiten, ist niemandem mehr zweifelhaft. Aber die problematischen Gestalten Clavigos oder Tassos, Wilhelm Meisters oder Fausts (wie manche andere seiner weiblichgefährdeten Heldengestalten) entsprechen dem Idealbedürfnis der Menschen wenig. Immer wieder wird der sittliche Enthusiasmus Schillers stärkere Resonanz finden als Goethes zwiespältige und von den Abgründen menschlicher Schwäche und Verwirrbarkeit umwitterte Figuren. Vor allem aber bleibt ein Zweifel, der nicht zur Ruhe kommen will: Was ist es mit dieser dichterischen Selbsterlösung, die er in seinem Leben und in seinem Verhältnis zu seinem Dichten in Anspruch nimmt? Ist sie nicht eine Blasphemie, die religiöse Formeln wahnhaft usurpiert? Ist sie nicht eine gefährliche Verführung für den auf sittliche Bewährung gewiesenen Willen? Es sind wundervolle Verse, in denen die tiefe Leidensfähigkeit des Dichters sich ergreifend ausspricht: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.« Aber ist das nicht der Egozentrismus eines isolierten Künstlertums, der sich den lexistentiellen Ernst< des menschlichen Lebens verbirgt? Im wiegenden Takt des IWest-östlichen Divan< formuliert Goethe sein Lebensgefühl einmal in den Versen: Worauf kommt es überall an, Daß der Mensch gesundet? Jeder höret gern den Schall an, Der zum Ton sich rundet. Alles weg, was deinen Lauf stört! Nur kein düster Streben! Eh' er singt und eh' er aufhört, Muß der Dichter leben. Und so mag des Lebens Erzklang Durch die Seele dröhnen! Fühlt der Dichter sich das Herz bang, Wird sich selbst versöhnen.
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Was ist das für ein Verhältnis zur sittlichen Welt, das sich hier aussprich"? Rührt es nicht an die Grundlage unserer durch die christliche Religion gelehrten und weit über die lebendige Wirklichkeit des Christentums fortgeltenden menschlichen Sei bsteinschätzung ? Sich-selbst-Versöhnen - ist das nicht die entschlossenste Zurückweisung des Heiles, das uns durch die christliche Kirche und ihre Verkündigung geboten ist? Der Titanismus des jungen Goethe, dessen Bezwingung in den Augen seiner Verteidiger und Verehrer die große sittliche Leistung seines Lebens ist, scheint insofern noch immer sein letztes Wort. Denn Titanismus ist das trotzige Auf-sich-selbstBestehen des Menschen gegenüber dem Göttlichen, wie es in Goethes Vorliebe fur die Gestalt des Prometheus in seiner Jugend revolutionären Ausdruck fand. Titanismus scheint aber nicht minder die dichterische· Selbsthilfe, der Goethe sich beständig und bis zuletzt anvertraut. Sind es nicht die Grenzen der ästhetischen Lebenshaltung überhaupt, an denen dieser große Künstler zum Scheitern kommt? Man darf diese Frage nicht leicht nehmen. Man darf ihr auch nicht ihre Grundlage zu entziehen suchen, etwa, indem man einem Schriftbeweis einen anderen Schriftbeweis entgegenstellt. Gewiß kann man aus Goethe alles beweisen und deshalb schließen, daß ein Künstler mit keiner der Gestalten, in denen er lebt, identisch ist, und daß kein wahres Kunstwerk eine eindeutige Moral abzuleiten gestattet. So argumentieren hieße aber Goethe verkleinern. Sein Dichtertum geht allerorten in eine Form von Weisheit über, die unmittelbar anspricht und unmittelbar ihm zuzurechnen ist. Selbst die >Divan<-Verse, die wir eben zitierten, sind zwar nicht einfache Lehrpoesie, sondern echte poetische Figur, aber die Figur, die sie sind, ist die des Poeten - und das Poetische war, daran ist kein Zweifel erlaubt, die Basis von Goethes Existenz. Jene Verse zeigen indes, daß Goethe einen Gegensatz zwischen der ästhetischen Existenz des Dichters und der allgemeinen Existenzform des Menschen nicht gelten lassen will. Was für den Dichter gilt, ist nichts anderes, als was für den Menschen gilt. Die Gesundung des Menschen ist die Gestaltung. »Jeder höret gern den Schall an, der zum Ton sich rundet.« Das ist keine ästhetische Lebensanschauung, die sich zu einer ethischen Lebensanschauung in Gegensatz rucken ließe. Der Dichter stellt dar, was des Menschen ist. Produktiv antworten auf den Anspruch der Dinge ist nicht sein Sondervorrecht und seine Sondermöglichkeit, die ihn abhebt und in eine geschonte Unverbindlichkeit freistellt. Es ist eines jeden Seele, durch die der »Erzklang« des Lebens dröhnt. »Düster Streben« ist nicht ein Zustand, der nur dem Dichter widerraten werden soll, sondern der Dichter meint, daß solcher Zustand menschlich unrichtig ist. Er ist darin mit dem strengsten Moralisten, mit dem >Rigoristen< Kant, in Wahrheit einig. Denn auch. Kant sagt: »Fragt man nun: welcherlei ist die ästhetische Beschaffenheit, gleichsam
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das Temperament der Tugend: Mutig, mithin fröhlich oder ängstlich gebeugt und niedergeschlagen? so ist kaum eine Antwort nötig. Die letztere sklavische Gemütsstimmung kann nie ohne einen verborgenen HqJJ des Gesetzes stattfinden und das fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht ... ist ein Zeichen der Echtheit tugendhafter Gesinnung.« Goethes Parole der dichterischen Selbstversöhnung ist nicht der Ausdruck einer ästhetischen Lebensanschauung, der der sittliche Ernst fehlt, sie ist eine sittliche Wahrheit, die vielleicht nicht einmal über das religiöse Problem der Angewiesenheit des Menschen auf göttliche Gnade etwas präjudiziert, geschweige denn dem politischen Eskapismus das Wort redet. Es ist eine Wahrheit, der insbesondere Hegels Kiitik an der Unmoral des Sollens und der Unwahrheit des abstrakten Räsonnierens Anerkennung verschafft hat. Hegel selbst hatte ein Bewußtsein davon. daß die spekulative Lehre vom Begriffals dem wahrhaft Konkreten (Enz. § 164) in Goethes Künstlertum und Persönlichkeit ihre anschauliche Erfüllung hatte2. Das mit der Wirklichkeit entzweite Bewußtsein ist das unglückliche Bewußtsein schlechthin. Der Jugend, deren abstrakter Enthusiasmus alle Bedingtheiten überfliegt, mag diese sittliche Wahrheit nicht leicht eingehen. Aber es gibt nicht die Jugend schlechthin. Sie ist ein Durchgang. wie alles Menschliche. Der Weg der deutschenjugend zu Goethe ist nicht der mühsame und zweifelhafte Weg zu etwas Fremdem es ist der Weg ihrer eigenen Lebensbewegung und einer jeden Jugend Zukunft.
2 Vgl. den BriefHegels an Goethe vom 24. April 1825. Dazu auch im Vorhergehenden .Goethe und die Philosophie<, S. 67 f.
7. Vom geistigen Lauf des Menschen Studien zu unvollendeten Dichtungen Goethes (1949)
Einleitung Die folgenden Studien haben zu ihrem Gegenstand unvollendete dramatische Dichtungen Goethes, die dennoch von Goethe selbst in die Ausgabe seiner Gesammelten Werke aufgenommen worden sind und dadurch ein besonderes Gewicht erhalten. Alles Unvollendete weist hinaus auf das Ausstehende, das erst den Sinn des Ganzen zu enthüllen vermöchte. Und doch haben diese dramatischen Fragmente eine innere Abrundung. die ihnen das Ganze eines Sinnes verleiht. Goethes Abrundung des 1773 entstandenen Prometheusfragments durch die späte Anfiigung der Prometheus-Ode mag einigermaßen künstlich und fragwürdig sein. Aber wer vermöchte der ,Pandora( oder der Goetheschen ,Zauberflöte( zu bestreiten. daß sie auf ihre Weise ein Ganzes sind? Die Entwürfe der Fortsetzungen sind für d1e Leser dieser Dichtungen durchaus entbehrlich, wenn sie auch fiir den Forscher den hohen Reiz des Vermutlichen haben und auf der andern Seite fast als Kommentar zu dem Ausgefiihrten dienen. Was ist das Geheimnis dieser Fragmente? - Ich meine nicht, daß sie unvollendet blieben, sondern daß sie vollendet sind. Welcher dichterische Antrieb hat sich in ihnen dergestalt erfiillt, daß sie ihrer eigenen Fortfiihrung zuvorkamen? Es sind zufällige Studien, die sich in dieser Frage zusammenfassen. Das Prometheusproblem, dem Verfasser seit langem Gegenstand eingehender Forschung, nimmt in Goethes Dichtung allerdings eine bevorzugte Stellung ein, und die beiden Dichtungen, die wir ihm - aus den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts und dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts - verdanken, deuten aufeinander hin. ,Der Zauberflöte anderer Teil( dagegen lockte zur Deutung im Blick auf die Mozartsche Oper. Und doch ist es überraschend, wie einheitlich sich diese Werke so verschiedener Entstehungszeit und so verschiedenen Gewichts zueinanderfügen. Sie handeln alle drei von dem Weg der menschlichen Gesittung, die mythologischen Dramen von der titanischen Vorwelt und ihrer überwindung, die märchenhafte Oper vom
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Streit elementarer und geistiger Gewalten um den werdenden Menschen. Element und Geist, ihr Gegeneinander und ihr Zueinander, beherrschen den ,geistigen Lauf< der Menschheit im ganzen, den Weg zur Kultur wie den Weg der Erziehung des einzelnen. Darum ging es Goethe: den ständigen Untergrund des TItanischen, die ständige Bedrohung des Geistigen durch das nächtlich-Elementare als die menschliche Schicksalslage schlechthin zu gestalten. Es ist kein gerader Weg der Aufklärung, der die Menschen zu ihrer höheren Bestimmung heraufführt. Wovon sie sich los ringen, sind noch sie selbst. Die mannigfachen dichterischen Versuche Goethes, die das darstellen wollen, sind so sehr sein Eigenes, daß er sie jederzeit zurückholen kann - wie diese dramatischen Fragmente. So verschieden die Gestaltung im einzelnen ist, die Kulturschöpfungen der Menschheit sind so wenig eine menschliche ,Leistung< wie das jeweilige ,Gelingen< der Erziehung. In ihnen sind Leiden und Wagen, Sorge und Gnade ineinander verwebt. Die Selbstrnacht der Vernunft ist eine der Illusionen des modernen Denkens. Es kann an Goethe ermessen, wo seine Grenze gesetzt ist.
Die Grenze des Titanischen Prometheus . Pandora Die mythische Figur· des Titanen Prometheus, des großen Menschenfreundes, der durch den Diebstahl des Feuers zum Ahnherrn der menschlichen Kulturarbeit wird und um seiner Liebe zu den Menschen willen von der Rache des Zeus getroffen in heroischem Duldertum, täglich aufs neue vom Adler des Zeus zerfleischt, unbequem auf sich selbst besteht, ist von der griechischen Dichtung, von Hesiod und Aischylos, zur dauernden und gültigen Gestalt geprägt worden. Sie hat in stetigem Sinnwandel das antike Denken bis über die Schwelle des Christentums hinaus begleitet'. Denn selbst das hellenistische Christentum noch konnte in der Tat und den Leiden des Prometheus eine Präformation der eigenen religiösen Botschaft von der Erlösung der Menschheit durch stellvertretendes Leiden erkennen, indem es nach antiker Art den überlieferten Mythos auf sich bezog. Der eigentliche religiöse Gehalt des von Hesiod und Aischylos gestalteten Mythos freilich war mit den christlichen Anschauungen von der Ewigkeit und Allmacht Gottes unvereinbar. Daher ist das besondere Interesse, das seit dem Beginn der Neuzeit dem antiken Mythos zugewendet wird, ein Zeichen dafür, daß die Verbindlichkeit des Christentums nachläßt. Der Prometheus-Mythos wird nun in einer Variante aufgegriffen, die bereits in der späteren Antike 1
Vgl. meinen Aufsatz ,Prometheus und die Tragödie der Kultur •. in diesem Band,
S. 150ff.
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zur Herrschaft gekommen war. Im Anschluß an ältere Kulturtradition wird Prometheus als der Menschenschöpfer gesehen, als der geistreiche Töpferdämon, dessen kunstfertiges Genie aus Ton die Menschenwesen formt und mit Minervas Hilfe zum Leben erweckt. Diese Geschichte war im späteren Altertum ein religiös im Grunde indifferentes Motiv allegorisch-literarischer Prägung - jetzt, in der Renaissancephilosophie, bei Boccaccio und Bovillusz, steigt es zum Rang eines echten Symbols auf, das ein neues Lebensgefuhl und Menschenbild, das des schöpferischen Menschen, gegenüber der christlichen überlieferung anmeldet. Aber erst im 18. Jahrhundert findet das neue Symbol seine militante Prägung in Goethes berühmter Ode. Man weiß, daß die Veröffentlichung dieses 1774 entstandenen Goetheschen Gedichts, dieJacobi gegen den Willen des Dichters im Jahre 1785 vornahm, in der Geschichte der modernen Aufklärung und der Kritik des Christentums Epoche gemacht hat. Jacobi berichtete von dem Eindruck, den dasselbe auf Lessing gemacht habe, und daß dieser darin eine Bestätigung seiner eigenen pantheistischen Gottesvorstellung erblickte. Wie Prometheus hier in trotziger Selbstherrlichkeit die Herrschaft der Götter anficht und deren Abhängigkeit VOn der »allmächtigen Zeit« und dem »ewigen Schicksal« gegen ihren Herrschaftsanspruch wendet, wirkte in dem Jahrhundert der Aufklärung und der Religionskritik wie ein )Fanal(. Goethe selbst spielt in der Darstellung, die er aus späterer Rückschau von der Geschichte dieses Gedichtes gibt, auf den )Pantheismusstreitc an, der sich an die Veröffentlichung knüpfte: »Es diente zum Zündkraut einer Explosion, welche die geheimsten Verhältnisse würdiger Männer entdeckte und zur Sprache brachte: Verhältnisse, die ihnen seibst unbewußt, in einer sonst höchst aufgeklärten Gesellschaft schlummerten«,· und er verweist auf den Tod Mendelssohns, der sich im Verfolg dieses Streites ereignete. Ohne Zweifel meint Goethe hier nicht die Aufdeckung des geheimen Pantheismus Lessings als solche, die in dem Gespräch mit Jacobi nach der Lektüre der Prometheus-Ode erfolgte - von Lessing, der von sich selbst sagte, er habe dies alles aus erster Hand, würde gewiß nicht gesagt werden können, daß seine religiöse Stellung ihm selbst vordem unbewußt gewesen sei. Was Goethe meint, ist vielmehr die Entfesselungjenes leidenschaftlichen Streites über Lessings Pantheismus bzw. Atheismus, die Männer wie Jacobi und Mendelssohn in eine erbitterte Gegnerschaft drängte. Die Wirkung der Prometheus-Ode ist also keineswegs nur die, daß ein revolutionär-an tichristliches Pathos zum machtvollen Ausdruck kam und die Gemüter hinriß; sie hat im Gegenteil religiösen Widerspruch geweckt und damit innerhalb der modernen Aufklärung die Gegenkräfte gestärkt. Ähnlich doppelZ Vgl. E. CASSIRER, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Berlin 1927, S.98ff.
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sinnig war ja auch die Wirkung des ,Werther< - und auch hier gebraucht Goethe in der Rückschau von ,Dichtung und Wahrheit< das gleiche Bild von dem Zündkraut und der Explosion, die das Buch bewirkte. In beiden Fällen setzt sich Goethe selbst von diesen Wirkungen ab, indem er den poetischen Sinn der )Darstellung< dieser Stoffe von ihrer stofflichen Wertung und dogmatischen Benutzung unterscheidet. So hat das Prometheus-Gedicht. wenn man aufseine Wirkungen sieht. zweifellos seinen Ort in der Religionsgeschichte. Was es aber für Goethe und in seinem dichterischen Werk bedeutet. kann nur vom Dichterischen her gefragt werden. Fr~ilich. die Prometheusfigur hat Goethe nicht nur dies eine Mal beschäftigt. sondern es war ihm. wie er selbst bekennt, »der mythologische Punkt, wo Prometheus auftritt. immer gegenwärtig und zur belebten Fixidee geworden«. Darin liegt. daß die Prometheusfigur rur Goethe nicht ein dichterisches Motiv unter anderen darstellt, sondern eine besondere Identifikation, deren Tragweite zu bestimmen ist. Wie wir durch Jacobi wissen, hieß der junge Goethe im Kreise seiner Freunde geradezu Prometheus. Was dieser Namengebung zugrunde lag, geht aus Goethes Bericht hervor, daß sein produktives Dichtertalent damals die »sicherste Base« seines Lebensgeruhis darstellte und sich in der produktiven Selbständigkeit. die Prometheus als der Bildner der Menschen betätigt. erkannte. Goethe folgt damit jener seit der Renaissance ins Selbstbewußtsein der Menschheit eindringenden Vorstellung, im Künstler einen )zweiten Gott< (alter deus. Scaliger), einen zweiten Schöpfer zu erkennen, eine Vorstellung, die Shaftesbury unter dem Symbol des Prometheus dem 18. Jahrhundert vermittelt hatte'. Diese Gedankenlinie ist in den modernen Begriff des Schöpferischen eingegangen und lebt seit dem )Sturm und Drang< in der Form des Kults der Persönlichkeit und des Genies im allgemeinen Bewußtsein. Indessen wäre es voreilig. das Prometheusmotiv im Blick auf diese Dinge lediglich in seiner ästhetischen und kunsttheoretischen Bedeutung für Goethe in Anspruch zu nehmen. wie das für die humanistischen Theoretiker des Geniebegriffs gilt. Vielmehr ist Goethes dichterische und gedankliche Auseinandersetzung mit der Prometheusfigur deshalb von einer viel weiter reichenden Bedeutung, weil ihm das Bewußtsein seines dichterischen Talents - nach seiner eigenen Darstellung in >Dichtung und Wahrheitl - aus der Erfahrung des »gemeinen<1 (d. h. allgemeinen) Menschenschicksals erwuchs. »an weIchem wir alle zu tragen haben«. Die Einsamkeit des Dichters. der nur in der Isolierung produktiv zu sein vermag. macht nur in ausgezeichneter Weise sichtbar. was fur alle Menschen gilt: »daß der Mensch auf sich zurückgewiesen wird« und an der Gottheit keine Stütze in der Not habe. Wenn es also auch die bildnerische Selbstgenügsamkeit des Titanen 3
Vgl. O. WA1ZEL, Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe. Leipzig 1910.
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ist, die Goethe an der alten mythologischen Figur des Prometheus auffiel. als er sein eigenes Dasein in Gedanken auf sein Dichtertum zu gründen suchte. so verschlingt sich dieses Selbstbewußtsein des Künstlers Goethe doch tief mit einem religiösen Grundgefuhl, das die Stellung des Menschlichen zum Göttlichen betrifft. Goethe sonderte sich nach prometheischer Weise nicht nur von den Menschen, sondern auch von den Göttern ab, aber nicht in der Weise einer n~iven Selbstvergottung, wie sie in dem modemen Kult des Schöpferischen ahnungslos geschieht. sondern im vollen Bewußtsein unserer unaufhebbaren Menschlichkeit gegenüber dem Göttlichen. Daher vermochte die ganze Fabel von Prometheus in ihm lebendig zu werden, »das Mißverhältnis, in welches Prometheus zu dem Zeus und den neuen Göttern gerät, indem er auf eigene Hand Menschen bildet, sie durch Gunst der Minerva belebt, und eine dritte Dynastie stiftet«. Die näheren Ausfuhrungen, die Goethe in IDichtung und Wahrheit( zur Erläuterung der Entstehungsgeschichte der Ode macht, betonen zwar den poetischen Charakter des Mythos und wollen sich auf philosophische und religiöse Betrachtungen nicht einlassen. Aber es wird doch deutlich, daß gerade die mittlere Stellung des Titanen, Abkömmling der ältesten Dynastie und doch nicht Mitinhaber des Weltenregiments zu sein, ihn für seine Rolle als Menschenschöpfer bedeutsam geeignet macht - bedeutsam, sofern das Menschengeschlecht auf diese Weise einen dem obersten Weltherrscher gegenüber selbständigen Ursprung erhält, ein sprechendes Symbol CUr seine tatsächliche Schicksalslage, »aufsichzurückgewiesen« und doch gänzlich untergeordnet zu sein. Und so betont denn Goethe ausdrücklich, daß I>der titanischgigantische, himmelstürmende Sinn« seiner Dichtungsart keinen Stoff verliehen habe. »Eher ziem te sich mir, darzustellen jenes friedliche, plastische, allenfalls duldende Widerstreben, das die Obergewalt anerkannt, aber sich ihr gleichsetzen möchte. « All das sind freilich späte Selbstdeutungen Goethes, die nicht allein die Ode im Auge haben, sondern ebensosehr das im Jahre 1820 wiederaufgefundene zweiaktige Dramenfragment. Und wie fern Goethe damals seinen 11Jünglingsgrillen« stand, geht schon daraus hervor, daß er die Ode fälschlich fUt die Einleitung zum dritten Akt des Dramas hielt und in den Ausgaben an dieser Stelle drucken ließ. Es erhebt sich die Frage, ob Goethes Selbstdeutung ebenso unzutreffend ist. Die Antwor,t ist insofern schwierig. als das Drama ein unabgeschlossenes Bruchstück ist. überdies dürfte Goethe recht haben. wenn er erzählt, daß er damals ohne fertigen Plan des Ganzen einfach los gedichtet habe. Es ist also müßig, sich eine genaue Vorstellung von dem Fortgang der Handlung machen zu wollen. Nur eines dürfte feststehen: daß Goethe damals wirklich (wie er es später in der Druckredaktion angibt) eine Vermittlung zwischen Prometheus und Zeus geplant hatte - und damit eine Sanktionierung des
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Menschengeschlechts durch die Götter. Dafür spricht nicht nur die literarische Tradition des Stoffes (die antike wie die neuere), auch die von Goethe ausgeführten Szenen lassen das erwarten, die überlegene Sicherheit, mit der Zeus die Schöpfung der Menschen hinnimmt (224f): Das Wurm geschlecht vermehrt Die Anzahl meiner Knechte, und sich geduldet, die Anerkennung seiner Herrschaft später herbeigeführt zu sehen. Hier wird der Rahmen der dramatischen Handlung deutlich genug abgesteckt. Mit der Anerkennung der Götterherrschaft seitens der Menschen und des Prometheus wird die Handlung schließen, und nicht ohne Bedeutung für die dann statthabende Weltverfassung dürfte das Angebot sein, mit dem Zeus am Anfang des Dramas an Prometheus herantritt, Prometheus solle auf dem Olympos wohnen und "der Erde herrschen«. Denn diese Weltverfassung ist ja eben die von Goethe erkannte: Selbsthilfe durch Arbeit und Tätigkeit ist es, die das menschliche Los auf Erden bestimmt. Diese prometheische Wahrheit wird am Ende gelten, auch wenn die Oberherrschaft der Götter bei den Menschen zur Anerkennung gelangt sein wird. Selbständigkeit, aber eine begrenzte, abhängige Selbständigkeit ist des Menschen Teil. Das ist der Rahmen, der um das Ganze sichtbar gespannt ist. Aber wie sollte er ausgefullt werden? Welche Erfahrung des Lebens wird die Menschen zur Anerkennung der Gottesherrschaft bringen? Wann werden sie der Götter bedürfen? Wenn man sich des antiken Mythos erinnert und insbesondere an das, was Plato im ,Protagoras( vortragen läßt, so wäre es die gesellschaftliche Existenz des Menschen, seine Fähigkeit zum staatlichen Leben, die ihm allein durch Zeus und seine Austeilung von Recht (Ö(,<'T\) und Ehrfurcht (CLLÖWt;) zuteil wird. [n der Tat ist Zeus bei den Griechen, auch bei Aischylos, der Genius des Gesetzes, und Goethe war diese Vorstellung, daß erst das Gesetz den Menschen zum Menschen macht. gewiß nicht fremd. (Tagebuchnotiz von 1797: »Das Gesetz macht den Menschen, nicht der Mensch das Gesetz«.) Allein. wenn wir das AusgefUhrte danach befragen, ob Zeus wohl als Friedensstifter der sich zerfleischenden Menschheit die Versöhnung bringen sollte. so findet sich dafür keinerlei Stütze. [m Gegenteil. Goethe schildert die Erfahrungen, die Prometheus mit seinen Geschöpfen macht, durchaus nicht so, als wären Zwietracht und Selbstzerstörung die ihnen drohende Gefahr. Der Naturzustand der Menschheit ist vielmehr mit freundlichen Farben gemalt. Der Einfluß Rousseaus und von Wielands ,Beiträgen zur geheimen Geschichte der Menschlichen Vernunft( (1770) sind darin spürbar. Der Begriff des Eigentums wird als ein Naturrecht aus dem tätigen Erwerb hergeleitet und seine Verletzung als etwas nicht minder Natürliches, das durch die im menschlichen Zusammenleben wirksame Vernunft niederge-
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halten wird. Als dem einen seine Ziege geraubt wird, tröstet ihn Prometheus: Laß ihn! Ist seine Hand wider jedermann, Wird jedermanns Hand sein wider ihn.
(308ff.)
Und im ganzen stellt er fest: Thr seid nicht ausgeartet, meine Kinder, Seid arbeitsam und faul, Und grausam mild, Freigebig geizig, Gleichet a11 euren Schicksalsbrudern, Gleichet den Tieren und den Göttern.
(311 ff.)
Etwas anderes also muß es sein, das nach Goethes Absicht - und daß er auch ohne einen genauen Plan von der Vorstellung von einem Ganzen geleitet war, darf man voraussetzen - die Menschen und Prometheus zur Anerkennung der Götter fUhren sollte. Ein Eingreifen des Zeus, etwa durch die Gabe der Pandora, wie bei Wieland in seinem )Traumgespräch mit Prometheus( oder in seiner >Pandora(, würde schlecht zu Zeus' sicher abwartenden Worten am Anfang des zweiten Aktes passen, ganz davon abgesehen, daß Pandora nach Goethe j a ein Geschöpf des Prometheus ist. So bleibt die Frage, ob es eine andere, im Wesen dieser menschlichen Geschöpfe und ihres Schöpfers gelegene Schranke ist, die sie zur Anerkennung der Götter bekehren sollte. Einen ersten Hinweis mag man in Zeus' Worten erkennen: In neugeborner Jugendwonne Wähnt ihre Seele sich göttergleich.
(236f.)
Daß sie keine Götter sind, muß ihnen also am Mysterium des Todes aufgehen. Auch mag beachtet werden, daß es in dem Gespräch zwischen Zeus und Merkur heißt: »Sie werden dich nicht hören, bis sie dein bedürfen.« Also nicht des Zeus, sondern des Merkur, des Sendboten und Dolmetschen, werden sie eines Tages bedürfen. In der Tat sind es nach Goethe (v. 201) nicht die Götter, die den Tod (und das Leben) zuteilen, sondern das Schicksal. Das aber ist es: die neugeschaffenen Menschen wissen nicht vom Tode. Pandora fragt, als Prometheus das Wort Tod ausspricht, »Was ist das?« und ob Prometheus wahrhaft weiß, was für die Menschen der Tod ist? Es könnte sein, daß sie eines höheren, göttlichen Zuspruchs, den Merkur bringt, bedürfen, um sich mit ihrer Sterblichkeit zu versöhnen. Doch sehen wir selbst zu, ob nicht schon in dieser Jugenddichtung eine Grenze sichtbar wird, die der prornetheischen Welt und damit auch seinen Geschöpfen, den Menschen, gesetzt ist. Man hat schon öfters bemerkt (z. B.
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O. Pniower im Nachwort der Jubiläumsausgabe), daß Epimetheus diese Grenze bezeichnet, wenn er dem Prometheus entgegenhält: Du stehst allein! Dein Eigensinn verkennt die Wonne, Wenn die Götter, du, Die Deinigen und Welt und Himmel, all Sich a11 ein innig Ganzes fühlten. (82ff.) In der Tat schilden der erste Akt - in formaler Anlehnung an den Prometheus des Aischylos - den "Eigensinn« des Titanen, das ihm aus seinem Schöpfertum erwachsende Selbstgefühl, das Bewußtsein einer völligen Selbständigkeit gegenüber den Göttern: Vermögt ihr zu scheiden Mich von mir selbst? (41 f.) Es ist ein unbedingter Selbstbesitz, auf den er pocht: Das, was ich habe, können sie nicht rauben.
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Denn es ist ganz seine eigene Welt, ein »All«, der »Kreis, den meine Wirksamkeit erfüllt«, in bewußter Absonderung von den Göttern. Es ist offenkundig, wie richtig sich Goethe in IDichtung und Wahrheit( selbst deutet, wenn er das Selbstgefühl seines poetischen Talents darin erkennt. Hier ist freilich keine Grenze der prometheischen Welt sichtbar. Das Selbstgefühl dieser eigenen produktiven Kraft und Souveränität ist so beherrschend, daß selbst der Einwand, daß die Schöpfungen, mit denen er seine Welt füllt, von Leblosigkeit gebunden seien, nicht trägt. Das Geruhl ihres Schöpfers ist so sehr die einzige und ganze Welt, daß sie in ihm ihre Freiheit haben. So werden sie denn auch von ihm selbst zum vollen Leben erweckt, indem die Welt des Geistigen, von Minerva repräsentiert, hier anders als in früheren Formungen des Stoffes keine fremde Macht ist: Und du bist meinem Geist, Was er sich selbst ist. (100f.) Es ist also keine Grenze seines Schöpfertums, die ihn begrenzt, kein Widerspruch zwischen Innenwelt und Welt. Dagegen ist die Schlußszene zwischen Prometheus und Pandora, seiner Tochter, die an einer Gespielin zum Zeugen der unheimlichen Macht des Eros wird und sich von ihrem Vater dies ungekannte Geheimnis erklären läßt, von einer dichterischen Intensität, die es verbietet, in dieser Szene nur wie in den zwei vorhergehenden ein weiteres Beispiel von Prometheus ' Erziehertum zu erblicken. Und wenn das Prometheusfragment auch mehr als manche andere unvollendete Dichtung Goethes ein echtes Bruchstück ohne volle Rundung ist, so ist es doch ein wirklicher Höhepunkt, an dem die
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Dichtung abbricht. Wir werden annehmen dürfen, daß hier, wenn irgendwo, der lebendige Nerv des Dramas berührt wird. Wie Prometheus hier das Mysterium der Liebe und des Todes miteinander verschlingt, kann nicht ohne entscheidende Bedeutung fiir das Ganze sein. Die Erfahrung des Todes ist die eigentliche Grenze der menschlichen Selbständigkeit und damit, wir vennuteten es schon, die Grenze der prometheischen Welt. Wie sie hier anklingt, kaum als sie selbst, verwoben in die Erfahrung der äußersten Liebesleidenschaft, ist dennoch bedeutsam und nicht einfach eine pädagogische Verhüllungjener dem Mädchen unheimlichen Macht, eines Unheimlichen durch ein anderes. Was sie verschmilzt, ist die Erfahrung der Grenze. In ungeheuren Versen beschreibt sie Prometheus: . Wenn aus dem innerst tiefsten Grunde Du ganz erschauert alles fiihlst, Was Freud und Schmerzen jemals dir ergossen, Im Stmm dein Herz erschwillt, In Tränen sich erleichtern will Und seine Glut vermehrt, Und alles klingt an dir und bebt und zittert, Und all die Sinne dir vergehn Und du dir zu vergehen scheinst Und sinkst, Und alles um dich her versinkt in Nacht, Und du, in inner eigenem Gefiihle, Umfassest eine Welt: Dann stirbt der Mensch. (395 Er.) Die Liebe ist hier als ganze Selbstaufgabe des Menschen und zugleich als die äußerste Steigerung seines Selbstgefiihls beschrieben. In 11 inner eigenem GefUhle« umfaßt er eine Welt. So wie Prometheus sich zur Welt erweitert, die er mit seinen Geschöpfen bevölkert, so ist auch die Liebeserfiillung "im stürmenden Genuß« ein höchster Augenblick des Selbstbesitzes. Man wird sich fragen dürfen, ob so, wie hier die Todeserfahrung mit der Liebeserfahrung verschmolzen ist, beide Erfahrungen am Ende in einer charakteristischen Begrenzung erscheinen. Als »inner eigenes« Gefiihl. wiederkehrend im natürlichen Rhythmus von Schlaf und Selbstverjüngung. wie sie hier begegnen, fehlt ihnen beiden ein Wesentliches. Dem Tod das Unwiderrufliche und damit das dunkle Geheimnis des Danach. der Liebe das Du, der Tausch mit ihm. die Geburt des Wir. Sollte das Drama an diesen Grenzsituationen des menschlichen Selbstbesitzes die Schranken der prometheischen Welt bezeichnen und die Überwindung seines »Eigensinns«. die Einordnung dieser Welt in eine größere, von götdichen Ordnungsgedanken beherrschte vollziehen? Wir wissen es nicht. Aber wir wissen, daß Goethes ,Fixierung< an die
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mythische Gestalt des Prometheus, von der auch der Plan einer Befreiung des Prometheus vom Jahre 1795 zeugt, später tatsächlich in dieser Richtung zu weiterer Entwicklung geführt hat. ImJahre 1807 entwarf er ein Drama, )Pandorens Wiederkunft< sollte es heißen, von dem dann zwei Akte ausgeführt wurden und unter dem Titel IPandora( an bevorzugter Stelle den Abschluß der Gesammelten Werke bilden. Goethe selbst hat diese Dichtung »absichtlich« genannt und ihre Bedeutungsschwere durch das Wort »ineinandergekeilt« bezeichnet. In der Tat gibt das AusgefUhrte zusammen mit dem Schema der Fortsetzung vollkommenen Aufschluß über die »Idee« der Dichtung, der hier, ganz anders als in dem Jugenddrama, ein fester Plan zugrunde lag. Epimetheus ist ein alter Mann geworden. Pandora, die einst die Seine war, hat ihm, als sie ihn verließ, eine Tochter zurückgelassen, Epimeleia. Er selbst kann die entschwundene Pandora nicht vergessen. Seine Tochter Epimeleia ist die Geliebte des Sohnes des Prometheus, Phileros, der sie eifersüchtig verfolgt, und als er gegen die vermeintlich Treulose andringt, von seinem Vater im letzten Augenblicke gehindert und weggewiesen wird. Er stürzt sich ins Meer, aber auf wunderbare Weise gerettet steigt er wie der jugendliche Gott Dionysos bejubelt ans Land. Da erscheint (abermals) ein wunderbarer Kasten, eine K ypsele, und die Fortsetzung sollte schildern, wie sich abermals zwischen Prometheus und Epimetheus der Streit entspinnt, ob sie aufzunehmen oder zu zerstören sei. Erst durch Pandoras Erscheinen wird der Streit schließlich entschieden. Die K ypsele schlägt sich auf, und in ihrem Innern erblickt man einen Tempel, in dem Dämonen sitzen: Wissenschaft und Kunst. Ihre feierliche Aufnahme unter den Menschen sollte den Schluß des Dramas einleiten, an dem Epimetheus in verjüngter Gestalt mit Pandora emporsteigt. Die Fabel knüpft also an die ältere Tradition der bei Hesiod überlieferten Prometheusgeschichte an und nicht, wie das ]ugetlddrama, an die spätere von dem Menschenschöpfer. Sie dichtet, wie öfters bei Goethe, die Fabel in die nächste Generation weiter. Die Idee ist offenkundig die, daß die höhere Kultur auf die überwindung des Gegensatzes zwischen Prometheus und Epimetheus gegründet sei. Kein Zweifel, der Held dieses Dramas sollte nicht Prometheus, sondern Epimetheus sein, und es mag nicht ohne Bedeutung sein, daß dem alternden Dichter nur den in die Erinnerung an die entschwundene Pandora gewandten Epimetheus auszufuhren gegeben war und nicht seine Verjüngung durch ihre Wiederkehr. Gleichwohl wäre es töricht, hier biographisch deuten zu wollen. Nicht nur, daß Goethe auch damals nach seinem eigenen Wort ebenso Prometheus wie Epimetheus war - er war auch ehedem nicht nur Prometheus, sondern ebenso das ihn Begrenzende gewesen. Wenn es auch eine ganz andere Fabel ist, in der Prometheus jetzt auftritt, so bleibt die Frage doch sinnvoll, wie sich die neue
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Gestaltung an die ältere anschließt. Goethe sagte 1830 im Blick auf seine jugendlichen Fragmente - und das gilt gewiß besonders für das Prometheusfragment und dessen Bedeutung für seine eigene Selbstklärung -, sie enthielten »das Wahre, aber unentwickelt, so daß man es als Irrtum ansprechen könnte«. So dürfen wir die >Entwicklung( der Prometheusfigur im ausgefuhrten Stück des Pandora-Dramas auch rur den Sinn des Jugendentwurfs mitgelten lassen, dessen ausgeführter Teil freilich nur verborgene Sinnbezüge zu dem geplanten Ganzen erraten ließ. Deutlich genug ist der eingetretene Wandel. Der Hintergrund neuplatonischer Theologie, den Flitner4 herausgearbeitet hat, ist verschwunden. Prometheus ist nicht mehr der universale Schöpfer, dessen bildnerische Selbstgenügsamkeit eine innere Welt besitzt und bevölkert, sondern der rastlos Tätige, der aller rüstig Arbeitenden Vorstand ist. Aber gerade als der Vertreter eines von vornherein begrenzten Prinzips bleibt er im Entscheidenden der, der er war, der Genius der Selbsthilfe, der entschlossenen Abkehr von allem göttlichen und dämonischen Wesen. Der veränderten Fabel entsprechend ist er es, der sich gegen die Wiederkehr der göttlichen Gabe abermals sperrt, so wie er ehedem Pandora von sich gewiesen hatte. Er ist der Patron der Schmiede, die er zu morgendlichem Fleiße ruft. Sie sind sein Anhang, die Tätigen, die er einst vor der Verführung durch Pandora bewahrt hat (223). In dramatischen Szenen tritt sein Bereich ins vollste Licht. Dem unbändig leidenschaftlichen Sohne tritt er als Anwalt und Wahrer des Gesetzes entgegen, er, der Vollbewußte« (237), verbannt die Macht der leidenschaft, das »Element« (445), aus seinem Kreise. Dem Bruder gegenüber vertritt er ein sich überlegen dünkendes Prinzip: Glück und Schönheit verführen ihn nicht, denn »Auf Gipfeln weilt so eines wie das andre nicht« (680). »Dämonen, gottgesendete«, wie sie seinen Bruder in Schmerzen stürzten (731), nimmt er nicht au( Zufall ist ihm verhaßt (828), aber ebenso der Rausch des Festes (1043). So ist seine ehemalige wie seine jetzige Abweisung der Gaben der Pandora der eigentliche Kern seines Wesens. Er will nicht beschenkt sein: l)
Neues freut mich nicht, und ausgestattet Ist genugsam das Geschlecht zur Erde,
(1061 f.)
sondern in bewußter Tätigkeit selbst für sich sorgen. Goethe hat mit der unendlichen Kunst, die er gerade auf die >Pandora( gewendet hat - es ist in seinem Formenreichtum wie in seiner Gedankenfülle wohl das dichteste aller seiner Werke -, verstanden, dies nüchterne Ideal poetisch so zu steigern und zu verklären, daß seine bleibende Wahrheit und echte Größe stets sichtbar bleibt. Aber sichtbarer noch ist die Begrenztheit dieses Wesens. 4
W. FUTNER, Goethe im Spätwerk.
Hamburg 1947, S. 46f.
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Die ganze Handlung ist offenbar darauf angelegt, die alte Fabel der griechischen Mythologie im Entscheidenden umzuwerten. Nicht die überlegene Vorschau und beherrschte Vorsicht des Prometheus. wie bei Hesiod, ist das wahre Ideal des menschlichen Lebens, - die Schmerzen, die ihm die Leidenschaft bringt, gehören zu seinem wahren Wesen. In Epimetheus und seinem leidvollen Geschick hat die Menschheit trotz allem den Weg zu sich selbst begonnen. Goethe überbietet die alte griechische Mythenweisheit, indem er die Geschichte in die nächste Generation weiterdichtet. Der eigene Sohn des Prometheus offenbart die Schranke der prometheischen Welt. Er erfährt die Dämonie der Leidenschaft, Liebe und Eifersucht, mit tödlicher Gewalt und weist dem Vater ihre überlegene Macht: So glaubest du, Vater, nun sei es getan? Mit starrer Gesetzlichkeit stürmst du mich an, Und achtest für nichts die unendliche Macht, Die mich, den C1ücksel'gen, ins Elend gebracht.
(449ff.)
An ihn richtet er die Frage, auf die Prometheus keine Antwort hat: Nun sage mir, Vater, wer gab der Gestalt Die einzige furchtbar entschied'ne Gewalt?
So wird an dem Sohn des Vaters Grenze sichtbar. Und wenn der Jüngling, der sich vom Vater verflucht ins Meer stürzt, wie durch ein Wunder gerettet, ein' anderer Dionysos, unter dem Jubel der ganzen Natur ans Land zurücksteigt. so war es nicht des Vaters tätige Energie. die ihn rettete, sondern ein Höheres, der Götter Wille, eine unser menschliches Wollen und Wähnen übersteigende Macht, die in ihm wie in allen Wesen siegreiche »Lust zu leben«: Deine Klugheit, dein Bestreben Bringt ihn diesmal nicht zurück: Diesmal bringt der Götter Wille, Bringt des Lebens eignes, reines, Unverwüstliches Bestteben Neugeboren ihn zurück. (99Off.)
Es ist die Stunde eines neuen festlichen Einklangs aller Dinge. Der Prometheus des Jugenddramas hatte solche Wonne. Wenn die Götter. du.
r· .. J
Sich a1\ ein innig Ganzes fühlten,
über dem stolzen Selbstbesitz seiner eigenen Schöpferwelt mißachtet. Der Prometheus der )Pandora< verschließt sich unwillig. als die alles daransetzen-
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de Leidenschaft, die in Phileros Gestalt gewann, die hohe Stunde herbeiführt und was dem unaufhebbaren Gegensatz des Prometheus und Epimetheus versagt blieb, in der Vermählung mit Epimeleia erreicht: die volle Wirklichkeit des Humanen. Phileros selbst hatte, als er die dämonische Macht der Schönheit erfuhr, geklagt: Sie zog mir mein Leben ins ihre hinein: Ich habe nichts mehr, um lebendig zu sein.
(487f.)
Jetzt aber tauscht sich dieser Selbstverlust in Erfüllung: Sie begegnen sich, und eins im andem Fühlt sich ganz und fiihlet ganz das andre. So, vereint in Liebe, doppelt herrlich, Nehmen sie die Welt auf. (1055 ff.)
Über Vorsifht und Sehnsucht, Selbstbesitz und Selbstverlust der Alteren (Prometheus zu Epimetheus: »und leider so auf ewig dir entriß sie dich«) erhebt sich die neue Generation, in der sich der Leidenschaftliche und ,die Sinnende( vermählen, zur höheren Gesittung. Symbol dessen ist, daß in dieser »gottgewählten« Stunde die Wundergabe der Kypsele unter den Menschen erscheint, deren Inneres die Geister der menschlichen Kultur, Wissenschaft und Kunst, birgt. Die Fortsetzung sollte den Kampf um die Aufnahme dieser göttlichen Gabe bringen. Es ist nur wenig davon zu erraten, auf welche Weise der Widerstand des Prometheus und der Seinen überwunden werden sollte. Die göttliche Fülle, die Pandorens Wiederkehr bringt, überzeugt durch ihre überlegene Wirklichkeit. »Jeder eignet sich's zu.« Das ist das Wesen der neuen geistigen Kultur, die Wissenschaft und Kunst verbreiten. Eos hatte es schon enthüllt: Nieder senkt sich Würdiges und Schönes, Erst verborgen, offenbar zu werden, Offenbar um wieder sich zu bergen. (1050ff.)
Wissenschaft und Kunst sind es, deren Erwerb und Offenbarung die Menschen aus dem Rohen ihrer titanischen Vorzeit erheben. Aber nicht dadurch, daß sie ein Geheimnis offenbar machen - sie selbst sind das Geheime, worin sich alle Wahrheit birgt. Sollte auch Prometheus die überlegene Wirklichkeit anerkennen lernen? Mußte sie nicht geradezu weit über sein Begreifen die Erfüllung dessen sein, was er dem Menschengeschlechte gewünscht hatte: Möchten sie Vergangenes mehr beherz'gen, Gegenwllrt'ges, formend, mehr sich eignen, WIlr' es gut fiir alle; solches wünscht' ich.
(1074ff.)
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Solchen »höh'ren Nutzen« bringen Wissenschaft und Kunst dem menschlichen Geschlechte, freilich nicht durch die Unrast des prometheischen Fleißes, sondern in der Erhebung zu Feier und Fest. »Vergangenes in ein Bild verwandeln. Poetische Reue, Gerechtigkeit« heißen die Stichworte, die sich Goethe rur die Auslegung der Kypsele notiert hat. Sollte der Dichter nicht in dieser Auslegung des Dichtertums Prometheus und Epimetheus in sich und für alle Menschen versöhnt gefunden haben? Die schönen Schlußverse des ausgeführten Teiles, die das unvollendete Festspiel der menschlichen Kultur krönen. enthalten die Antwort des Ganzen: Was zu wünschen ist, ihr unten fühlt es; Was zu geben sei. die wissen's droben. Groß beginnet ihr Titanen; aber leiten Zu dem ewig Guten, ewig Schönen, Ist der Götter Werk; die laßt gewähren.
(1082ff.)
Die Bildung zum Menschen Der Zauberflöte anderer Teil Mozarts Zauberflöte hat auf Goethe einen so tiefen und nachhaltigen Eindruck gemacht, als er sie im Jahre 1795 kennenlernte, daß er eine Fortsetzung derselben entwarf, ein Textbuch, für das Goethe freilich vergeblich einen Komponisten suchte und das deshalb unvollendet blieb. aber in seiner fragmentarischen Gestalt. eine geschlossene, bis auf wenige Szenen ausgefiihrte Handlung umfassend, erstmalig 1802 erschien und dann endgültig 1807/08 in seine Gesammelten Werke aufgenommen wurde. Es gehört die kleine Dichtung also in die Reihe der Versuche, die Goethe während seiner Weimarer Theatertätigkeit zur Hebung des deutschen Theaters unternommen hat. Offenkundig lehnte sich Goethe mit vollem Bewußtsein an das Szenarium, die Charaktere und die wirksamen Motive der Mozartschen Oper an. aus cheatertedmischen Gründen, indem er den Bühnen eine erneute Benützung der rur die Mozartsche Oper geschaffenen Requisiten und die Wiederverwendung der gleichen Sänger ermöglichen und auf der anderen Seite das durch den großen Erfolg der Mozartschen Oper enthusiasmierte Publikum durch eine erneute Begegnung mit der Motivwelt der Mozartsehen Oper erfreuen wollte - ein Versuch, wie er in der Welt des Theaters ebenso häufig wie in seinem künstlerischen Erfolge fragwürdig zu sein pflegt. Auch Goethes Versuch ist gescheitert - es fand sich kein Komponist, der den Wettbewerb mit dem überragenden und ausschließenden Genius Mozarts gewagt hätte, und so blieb Goethes Dichtung ein Fragment - eines der Dokumente, die den Zusammenbruch von Goethes Hoffnungen auf das
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deutsche Theater und seine in der späteren Zeit seines Lebens, nach Schillers Tode, erfolgende Abwendung vom Theater bezeugen. Gleichwohl hat Goethe seine Dichtung für würdig befunden, einen Platz in der Ausgabe seiner Gesammelten Werke einzunehmen, und in der Tat kann man angesichts der Anmut und des Tiefsinns des Goetheschen Fragmentes nicht anders urteilen, als daß es eine des großen Dichters würdige produktive Antwort auf das Erlebnis der Mozartschen Oper ist. Diese Dichtung ist so dichterisch, sie erfüllt den ganzen Sinnraum, den sie entwirft, so völlig mit der sinnlichen Dichtigkeit ihrer sprachlichen Gestaltung. daß sie von sich aus der musikalischen Weitergestaltung gar keinen Raum gibt. Goethes ständiger Blick auf den Komponisten, die genialen szenischen und musikalischen Winke, die er einstreut, können nichts daran ändern, daß die geschlossene Sinnwelt seiner dichterischen Gestaltung sich ihrer musikalischen Umschmelzung widersetzt. Um so mehr aber ist der dichterische Sinn des Fragmentes und seines Bezugs auf die Mozartsche Oper einer bisher noch nicht versuchten - Deutung bedürftigS. Mozarts herrlicher Oper liegt ein Textbuch zugrunde, das von einem mittelmäßigen Theaterdichter namens Schikaneder stammt. Dieses Textbuch ist in neuerer Zeit vielfach der schärfsten Kritik begegnet, und wenn es nicht durch den Genius der Mozartschen Musik verklärt wäre, würde es niemandes Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Denn in der Tat ist es ein ganz in der herkömmlichen Tradition der Zauberoper auf wirksame Effekte hin zusammengestücktes, aus mancherlei Quellen gespeistes Machwerk, nach dessen selbständigem Sinn auch nur zu fragen abwegig scheinen könnte. Mozart allerdings hat einen Sinn darin erkannt und den ganzen Reichtum seiner musikalischen Erfindung darüber ausgegossen, die menschlichen Situationen von Haß und Liebe, Angst und Mut, Trieb und Geist, Adel und Komik zum Hohen Lied der Humanität entfaltend. Doch das war Mozarts eigene - eine neue - Schöpfung. Allein auch Goethe vermochte offenbar dem Textbuch einen eigenen tieferen Sinn abzugewinnen. Er spricht es einmal so aus, daß man darauf vertrauen könne, daß den Eingeweihten der höhere Sinn der Dichtung aufgehen werde. Man hat diesen Hinweis Goethes zu deuten versucht, indem man von der S Unabhängig von meiner eigenen Studie sind ungefähr zur gleichen Zeit zwei weitere Arbeiten der Goetheschen ,Zauberflöte. gewidmet worden: OSKAR SEJDLlN. in: Monatshefte 35 (1943), S. 49-61, inzwischen zugänglich in den ,Essays in German and Comparative Literature. (Chapel Hili 1%1), S. 45ff., und in ,Von GoethezuThornas Mann. Zwölf Versuche. (Göttingen 21%9), S. 38-55, sowie ARTHUR HENKEL. in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 71 (1951/52), S.64-69. Die Arbeit von Seidlin ordnet Goeches Werkchen in sein Gesamtwerk ein und verfolgt besonders die Beziehung zu ,Faust 11<. Henkels' kleiner Beitrag (erweitert jetzt in 'Goethe-Erfahrungen: Studien und Vorträge .. Stuttgart. . 1982, S. 147-161) unterstreicht den antimagischen, sittlich-humanen Zug, den auch ich in,' Goethes Aufnahme und Fortführung der Schikanederschen Fabel herausgehoben habe.
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Bedeutung ausging. die unzweifelhaft die Freimaurerei in Mozarts Oper und Schikaneders Textbuch besitzt. Wenn Goethe hier von den )Eingeweihten( spreche, so rede er selbst als Maurer und erkenne in der Oper eine geheime politische Spitze, eine Kritik der dunkelmännerischen Atmosphäre des Habsburgischen Kulturlebens jener Zeit oder auch eine Rechtfertigung des idealen Sinnes der Freimaurerei. Ja, man ist so weit gegangen, in der ,Königin der Nacht( die Kaiserin Maria Theresia, in Tamino den jungen König zu erkennen, auf den sich die Hoffuungen der freiheitlich gesinnten Menschen in Österreich richteten. Nun ist es richtig: Zeiten einer despotisch untetdrückten Redefreiheit, wie sie auch für das HabsburgjenerTage gegeben waren, lassen das Theater oft in der unerwartetsten Weise zum politischen forum werden, wie überhaupt der Stauungsdruck, den eine strenge Zensur erzeugt, einen eigenen Scharfsinn und eine unberechenbare Resonanzfreudigkeit des Publikums herausbildet. Man wird daher nicht völlig in Abrede stellen. daß ein Lobgesang der in politischer Verfolgung befmdlichen Freimaurerei politische Untertöne zum Klingen brachte und daß etwa Sarastros Schlußworten: Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht Zernichten der Heuchler erschlichene Macht
eine politische Spitze beigelegt werden konnte. Aber daß Schikaneder es auf solche Wirkungen angelegt habe, ist angesichts des gesamten Tenors seiner Dichtung nicht glaublich. Wie hätte er sonst der finsteren Gegenwelt der Königin der Nacht die solchen politischen Bezug verunklärende Wendung in den Mund legen können: Die Frömmler tilgen von der Erd' Mit Feuersglut und mächtgem Schwert.
Die freimaurerischen Interpreten der ,Zauberflöte( legen nicht aus, sondern ein. Der höhere Sinn der Erscheinungen, den Goethe in der ,Zauberflöte( erkannt hat, ist gewiß nicht in diesem engen Sinne eines politischen Pamphlets oder einer politischen Apologie der Freimaurerei zu deuten. Vielmehr ist es ein allgemeineres Motiv, wie es auch den Ideen der Freimaurerei zugrunde liegt, das das eigentliche Thema des Textbuches bildet: die rechte Aufklärung, d. h. die siegreiche Erhebung des Lichtes über die Nacht. Daß Goethe darüber hinaus die theatergerechte Ausführung des Schikanederschen Librettos geschätzt hat, den Reichtum an dramatischen Effekten, an Kontrastsituationen, an sinnenfreudiger Ausschmückung der Handlung. wird nicht nur durch seine ausdrückliche Anerkennung derselben erwiesen, sondern mehr noch durch die Art. wie er in seiner eigenen Fortsetzung der ,Zauberflöte< den dramatischen Grundriß derselben übernimmt und weiterbildet. Daß seine eigene Dichtung gleichwohl mehr ist als
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eine äußerliche Dublette oder Variation der originalen IZauberflöte(, daß sie ein echtes Werk seiner eigenen dichterischen Welt ist, bedeutsam in sich und das Ganze seines dichterischen Werkes, insbesondere der bedeutsam späteren Vollendung der Faustdichtung, ist längst bemerkt worden6 . Welche Beziehung aber zwischen der Goetheschen Fortsetzung und jenem »höheren Sinn der Erscheinungen«, den Goethe in Schikaneders Textbuch gewahrte, besteht, bedarf der Untersuchung'. Was ist die besondere Gestaltung, die der Kampf von Bösem und Gutem, Nacht und Licht, in Schikaneders Dichtung erfahren hat? Ist es wirklich erlaubt, von einem einheitlichen Gesamtsinn dieses in äußeren Effekten schwelgenden Librettos zu sprechen? Die Handlung der Oper darf wohl als bekannt vorausgesetzt werden: jener märchenhafte Anfang, an dem der flüchtendeJÜDgling Tamino durch die Befreiung von der ihn verfolgenden Schlange in den Kreis der Königin der Nacht gezogen wird, das Bild ihrer wunderbar schönen Tochter zu sehen bekommt und nun von der Königin der Nacht als Befreier ihrer Tochter zu Sarastro, dem Räuber derselben, entsandt wird, und wie dann in unerwarteter und verwirrender Weise das Bild sich völlig ändert. Als Tamino in das Reich des bösen Räubers Sarastro eindringt, sind plötzlich alle Werte umgekehrt. Sarascco ist nicht ein boshafter und gewalttätiger Räuber, sondern ein edler Mann, der in einer tiefe Vorsehung spiegelnden Weisheit die Tochter der Mutter geraubt hat und der nun den jungen Königssohn Tamino in seine Weisheit, wie sie in einem priesterlichen Bunde gepflegt wird, durch eine Reihe von Unterweisungen und Prüfungen einführt. Die märchenhafte Handlung der Oper läßt das Liebespaar - auf komische Weise kontrastiert durch die Figuren Papagenos und Papagenas - durch allerlei Prüfungen hindurchgehen und ruhrt nach dem Bestehen derselben die gewaltsam Getrennten einer glücklichen Vereinigung zu. Die textkritische und genetische Analyse hat uns seit langem gelehrt, wie der seltsame Umbruch der Werte zwischen dem Anfang und Fortgang der Handlung zustande kam: daß hier aus ganz äußerlichen Theatergründen der Textdichter Schikaneder den ursprünglichen Entwurf, in dem er einer anderen Quelle gefolgt war, vom zweiten Akt an gänzlich umwandelt und plötzlich in der feindlichen Gegenmacht Sarastros die tiefe Bedeutung eines
rur
Vgl. MAX MORRIS, Goethe-Studien 21. Berlin 1902, S. 310ff. Das Textbuch Schikaneders ist inzwischen auch seitens der Mozart-Forschung in einem positiveren Lichte gesehen worden. Die Theorie, daß Schikaneder während der Arbeit an dem Libretto aus reiner Dubletten-Scheu seinen Plan geändert hätte und daß darauf der Bruch in den Charakteren der Königin.der Nacht und Sarastros zurückgeht, ist jetzt preisgegeben. Vgl. E. v. KOMORZYNSKI, Die Zauberflöte. Entstehung und Bedeutung des Kunstwerkes (in: Neues Mozart-Jahrbuch I, 1941, S. 147ff.) und Fa. SCHNAPP, Die Fabel von der Zauberflöte (Musica I, 1947, S. 171 Er.); so kommen die Resultate der neueren Quellenkritik der obigen Deutung entgegen. 6
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symbolischen Bundes erkennt, so daß das anfängliche Gefüge der Handlung und der Charaktere vollkommen ins Wanken kommt: aus der beraubten, Gerechtigkeit heischenden Mutter wird das Prinzip der nächtlichen Gegenmacht, die den Kreis des Sarastro, den Vertreter des guten Prinzips und des Lichtes, mit erbitterter Wut verfolgt. Wir wissen, daß diese Wandlung auf äußerliche Weise in das Textbuch eingedrungen ist, durch Hereinziehung eines alten, längst verschollenen Romans ,Sethos( des Abbe Terrasson. Neue Forschung hat uns gelehrt, daß vor allem aus diesem von hellenistischen Quellen gespeisten Roman das ägyptische Kolorit der Oper und das religionsgeschichdiche Ritual der Einweihung in die Mysterien von Isis und Osiris stammt8 • Im Lichte dieser religionsgeschichtlichen Hintergrunde der Oper stellt sich nun die Frage, ob wirklich der >Bruch( in der Handlung der )Zauberflöte( ein äußerlicher, eine bloße Nahtspur der Verarbeitung verschiedener Vorlagen ist. Denn daß die Einweihung in einen Geheimkult die Form haben kann, daß das Fremde und Böse sich dem Eingeweihten mit plötzlicher Deutlichkeit als das Prinzip einer neuen und höheren Wahrheit enthüllt, ist seit alters in der Topik der )Bekehrung( (schon im Dionysoskult) gegeben. Nun wird man gewiß Schikaneder nicht mit der bewußten Einsicht in dieses religiöse Motiv belasten dürfen. Aber es scheint mir überhaupt nicht richtig, eine künstlerische Schöpfung, die als Einheit zur wirksamen Erfahrung kommt - und das geschieht hier durch die Formkraft der Mozartschen Musik, die über jedes mögliche Räsonnement hinaushebt -, auf die bewußte Absicht des Schöpfers derselben zu beziehen. Daß der verständnisvolle Hörer der IZauberflötec den Umbruch, den der zweite Akt bringt, nicht als albern und sinnlos empfmdet, sondern wirklich annimmt, das allein berechtigt den Ausleger, nach dem Sinne dieses ,Umbruchs( zu fragen, statt sich von der philologischen Analyse einen reinen Unsinn vordemonstrieren zu lassen. Obendrein könnte man fragen, ob dieser Umbruch nicht genauso zu verstehen ist, wie in jedem Märchen Verwandlung geschieht. Verwandlung ist zwar Zauberei und überraschende Veränderung der Dinge. Aber in ihr ist dennoch keine reine Beliebigkeit. Sie zeigt Verwandtschaft des Gegensätzlichen an. So mag es richtig sein, daß der verwandelte Räuber, der zum rettenden Weisen wird, hier so etwas wie eine Bekehrung voraussetzt. Aber 8 Vgl. SIEGFRIED MORENZ, Die .Zauberflötec im Lichte der Altertumswissenschaft (in: Forschungen und Fortschritte 21-23, 1947, S. 232-34). Die religionsgeschichtliche Analyse, die Siegfried Morenz in dem Aufsatt angekündigt hat, ist mittlerweile als Heft V der Münsterschcn Forschungen erschienen (Die Zauberflöte. Eine Studie zum Lebenszusammenhang von Ägypten ~ Antike - Abendland. Münster/Köln 1952), eine gelehrte und instruktive Einordnung der Freimaurerei der ,Zauberflötec in die seit dem Hellenismus im Schwange befmdliche Agyptomanie. Das wertvolle Material zur Einze1erklärung betrifft vor allem die Einweihung. Auf Goethes Fortsetzung wird kein Bezug genommen.
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ist nicht vielleicht umgekehrt alle Bekehrung eine solche Verwandlung, die eine geheimnisvolle Identität verbirgt? Nun ist gewiß das religions geschichtliche Moment in der ,Zauberflöte< nicht in seiner religiösen Bedeutung wahrhaft lebendig. Aber es fragt sich, ob nicht dennoch der Bruch im Textbuch Schikaneders einen tiefen Sinn hat entstehen lassen, der vom Hörer der Oper - wie wenig explizit immer angenommen wird, und welches dieser Sinn ist. Ist es wirklich etwas nur Äußerliches und im Grunde Sinnloses, daß sich das Verhältnis zwischen den Personen dieser Operndichtung so grundlegend wandelt, daß sich scheinbar auch die Charaktere in ihr Gegenteil verkehren? Mutter und Tochter werden durch den gewaltsamen Vorgang eines Raubes voneinander getrennt - und nun gewinnt der Räuber und die Welt dieses Räubers in der Dichtung eine ständig steigende Bedeutung. Der Räuber Sarastro wird zum Beschützer, zum Vollzieher einer positiven, geistigen, einer lichten Notwendigkeit. Liegt in diesem Umbruch, so wie ihn die Dichtung gibt, kein eigener und wesentlicher Sinn? Offenbar wird von jetzt an der Gegensatz der beiden Welten ins Licht einer gültigen Bedeutung gerückt. Es ist der Gegensatz zwischen der weiblichen Elementarwelt und der zur männlichen Welt gehörenden Geistverfassung des Lebens. Ist solcher Wechsel der Wertung wirklich ein willkürlicher? Spiegelt er nicht ein Wesentliches? Jede Form der Ablösung der Tochter von der Mutter, jede Auflösung der naturhaft-elementaren Bindung der Tochter an die Mutter hat doch, wie das Leben lehrt, eine ihr eigentümliche Härte und Gewaltsamkeit. Sie ist ein Raub. Und dennoch gehört zur eigentlichen Bestimmung der Frau und zur Struktur der männlich bestimmten Gesellschaft das Ertragen dieser Härte der Lösung und Trennung. Das erst begründet das Fundament der neuen Lebenseinheit der Liebenden, der Ehe und der Familie: die Einführung in die durch die männliche Welt gefügte Ordnung der Gesellschaft. Ist es nicht vielleicht dies, was der Hörer der Oper als das eigentliche und beherrschende Motiv in der Wandlung der Akzente des Textbuches versteht und wodurch sich der Sinn des Ganzen auf eine vollkommen einheitliche Weise artikuliert? Wenn wir versuchen, das Schikanedersehe Textbuch auf diese Beobachtung hin zu prüfen, so zeigt sich als ein ständiges Motiv der Dichtung die Einschätzung der Frau auf der einen Seite und die Hervorhebung der männlichen Gegentugenden auf der anderen Seite. Man vergleiche etwa die besonderen Forderungen. die an Tamino gestellt werden, als er in den Bund der Männer um Sarastro eingeführt und der Prüfung unterworfen wird. Die drei Knaben reden ihn an: Zum Ziele fUhrt dich diese Bahn. Doch mußt du, Jüngling, männlich siegen. Drum höre unsere Lehre an: Sei standhaft. duldsam und verschwiegen.
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Demgegenüber fmden wir eine ganze Reihe von Außerungen, in denen gerade von den Weibern gesagt wird, daß sie schwatzhaft und lügnerisch seien. Man vergleiche da die Stelle. in der Tamino während seiner Prüfung zu sich sagt: Ein Meister prüft und achtet nicht. Was der gemeine Pöbel spricht, und als die drei Damen ihm zusetzen, antwortet er: Geschwätz. von Weibern nachgesagt, Von Heuchlern aber ausgedacht-, und weiter, als sich Papageno auf die Königin der Nacht beruft: Sie ist ein Weib, hat Weibersinn. Sei still, mein Wort sei dir genug! Noch deutlicher wird der grundsätzliche Gegensatz zwischen der weiblichen und männlichen Welt in der eigentlich grundlegenden Szene ausgesprochen, in der die Königin der Nacht ihrer Tochter gegenüber von dem Vermächtnis ihres Gatten und der dadurch entstandenen Entzweiung spricht. Dort heißt es: .Dein Vater übergab freiwillig den siebenfachen Sonnenkreis den Eingeweihten. Diesen mächtigen Sonnenkreis trägt Sarastro auf seiner Brust. Als ich ihn darüber beredete, so sprach er mit gefalteter Stirne: •Weib, meine letzte Stunde ist da - alle Schätze, so ich allein besaß, sind dein und deiner Tochter.' - Der alles verzehrende Sonnenkreis - fiel ich hastig ihm in die Rede - .ist den Geweihten bestimmt', antwortete er, ,Sarastro wird ihn so männlich verwalten wie ich bisher. Und nun kein Wort weiter. Forsche nicht nach Wesen. die dem weiblichen Geist unbegreiflich sind. Deine Pflicht ist, dich und deine Tochter der Führung weiser Männer zu überlassen.,u - Und an einer anderen Stelle, als Pamina zu ihrer Mutter zurückzukehren die Kindespflicht fühlt, entgegnet ihr Sarastro: Du würdest um dein Glück gebracht, Wenn ich dich ihren Händen ließe. und nennt die Mutter »ein stolzes Weib«: Ein Mann muß eure Herzen leiten, Denn ohne ihn pflegt jedes Weib Aus seinem Wirkungskreis zu schreiten. Es ist also ein im Wesen der menschlichen Dinge gelegener Gegensatz, der sich in kosmische Symbole kleidet, der Gegensatz zwischen der geistigen Ordnung der Männer und ihrer Gefährdung durch das elementare Prinzip des
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Weiblichen, den Sarastro mit überlegenem Wissen ausspricht. »Das Weib dünkt sich groß zu sein, hofft durch Blendwerk und Aberglauben das Volk zu berücken und unsern festen Tempelbau zu zerstören. Allein das soll sie nicht.« Das Weib gilt ihm als der Feind der männlichen Gemeinschaft, sofern sie sich dem Manne nicht in Liebe unterwirft. Bewahret euch vor Weibertücken: Dies ist des Bundes erste Pflicht! Taminos Gewinnung für den Kreis der Eingeweihten bedeutet den Sieg des männlich geistigen Prinzips in ihm. »Dieser Jüngling will seinen nächtlichen Schleier von sich reißen und ins Heiligtum des größten Lichtes blikken. CI Und famina besteht auf ihre Weise die gleiche Prüfung und erfährt mit ihm die Einweihung, weil sie der Liebe sich selbst zu opfern bereit ist (im verzweifelten Liebesselbstmord): Zwei Herzen, die von Liebe brennen, Kann Menschenohnmacht niemals trennen,
Verloren ist der Feinde Müh', Die Götter selbst beschützen sie. Es ist also der Gegensatz zweier Welten, durch den die Handlung bestimmt ist - die weibliche und die männliche, das Elementarische und das Geistige, das Naturhafte und das Staatsbildende - der sich in die kosmischen Symbole einer alten astroreligiösen Vorstellungswelt kleidet: das nächtliche Mondsymbol (die Königin der Nacht ist mit der Sichel auf dem Haupt dargestellt) und die Sonne (Sarastro als Repräsentant der Lichtwelt des Tages trägt den Sonnenkreis auf seiner Brust). Die Forderungen, die an Tamino bei der Einruhrung in den Kreis der Eingeweihten gestellt werden, sind insbesondere Verschwiegenheitstorderungen. Man erinnere sich der entzückenden Szenen der Oper, in denen Tamino im komischen Kontrast zu dem schwatzhaften Papageno die Schweigepflicht, die ihm auferlegt ist, standhaft wahrt und dies bis zujener grausamen Härte der Szene durchhält, in der die liebende Pamina ihn anfleht, ihr ein Wort der Liebe und Neigung zu sagen, und wie er gleichwohl auf seiner Härte beharrt und damit dem Gebot des Bundes genügt. Hier ist etwas von dem Wesen der männlichen Welt getroffen, etwas von jener Forderung, die die Welt des Männlichen und damit, wie sich versteht, die durch die männliche Welt bestimmte Ordnung von Staat und Gesellschaft entscheidend trägt. Verschlossenheit und Schweigsamkeit sind hier nicht religiöse Pflichten eines in einen Geheimkult Aufzunehmenden, sondern werden unmittelbar zum Symbol rur die Zugehörigkeit zu einer überpersönlichen verpflichtenden Ordnung, vor der das elementarische Prinzip des Daseins, das auch über den Mann Gewalt hat, zurücktritt.
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Das sind keine künstlichen Deutungen, sondern hier spricht sich, wenn auch in einer künstlichen und sekundär tradierten Form, eine Weisheit aus, die weit in die Urzeit des Menschengeschlechtes und in die Anfänge ihrer religiösen Schöpfungen zurückreicht und den geheimnisvollen Zauber einer mutterrechtlichen Gesellschaftsordnung am Rande unserer geschichtlichen Überlieferung aufleuchten läßt. Es ist ein Spätling der deutschen Romantik, Bachofen, gewesen, der das Problem des Mutterrechts in einer die gesamte Vorwelt der Antike beherrschenden Bedeutung entwickelt hat - vielleicht in einer gewaltigen übertreibung der Universalität dieses frühen Prinzips. Aber unleugbar ist, daß zur Genüge überzeugende Zeugnisse dafür sprechen, daß es eine solche mutterrechtliche Ordnung überhaupt gegeben hat, eine Ordnung, in der die Thronfolge und grundsätzlich die eigentliche Rechtsperson der Familie im Gegensatz zu der uns gewohnten vaterrechtlichen Ordnung durch die Frau repräsentiert war. Es sind in vereinzelten mythologischen Nachklängen, die Bachofen gesammelt hat, Züge eines prähistorischen Hetärismus nachweisbar, der diese frühe Rechtsordnung geschaffen hat. Es ist auch kein Zweifel, daß es zu der Begründung unserer geschichtlich überlieferten Kulturwelt gehört, daß solche mutterrechtlichen Ordnungen durch das Patriarchat überall, wo sie bestanden haben, verdrängt worden sind. Es soll nun nicht behauptet werden, daß die Dichtung der ,Zauberflöte< zu den Zeugnissen einer solchen prähistorischen Matriarchatsordnung Bezug hat, wohl aber, daß in ihr - vielleicht auf dem Traditionswege der hellenistischen Religionsgeschichte, die in Schikaneders Quelle eingegangen war die ganze Schärfe des vaterrechtlichen Gedankens und damit auch dessen Gegenwelt lebendig ist und in die aufgeklärte Geistreligion des freimaurerischen Männerbundes mit echtem sittlichem Problembewußtsein umgeformt worden ist. Man beachte, daß in der ,Zauberflöte< die Mutter wie in alten mutterrechtlich beeinflußten Sagen das Mädchen zum Mord gegen den Repräsentanten der Männerwelt (wenn auch nicht gegen den Geliebten) anstiftet, und daß die siegreiche Abwehr des Anschlages nicht einer überlegenen männlichen Gewalt gelingt, sondern der überlegenheit des eigenen Prinzips, das in Pamina und Tamino siegt. Sarastro kennt keine Rache: .Allein du sollst sehen, wie ich mich an deiner Mutter räche. Der Himmel schenke nur dem holdenjüngling Mut und Standhaftigkeit in seinem frommen Vorsatz. dann bist du mit ihm glücklich. und deine Mutter soll beschämt nach ihrer Burg zurückkehren. « Es gibt keine andere Rache. Der Sieg der Liebe, die Einführung in die Welt der Eingeweihten. ist selbst die Ohnmacht der Elementarwelt. Die Analyse des Schikanederschen Textbuches hat die wahrhaft bedeuten-
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den Hintergründe aufgezeigt, die sich hinter dem Märchenzauber der Oper auftun. Nicht die Freimaurerei als solche, sondern das allgemeinere Problem der vom Geist bestimmten menschlichen Sittlichkeit ist der höhere Sinn der Erscheinungen, den Goethe in der Oper erkannt haben wird. Es fragt sich nun, wie Goethes Fortsetzung zu diesem Sinn der )Zauberflöte( in Beziehung steht, welch eigenen, seinem eigenen dichterischen Wesen angehörigen Sinn er aus ihm entwickelt. Denn die bloße Wiederholung und Steigerung der Situationen und Charaktere der Oper, die offen zutage liegt, ist keine Antwort auf diese den dichterischen Sinn des Ganzen angehende Frage. Auch scheint es mir nicht möglich, Schwieriges durch Schwierigeres erklären zu wollen und etwa eine andere Goethesche Dichtung, die vom Eindruck der )Zauberflöte( mitbestimmt ist. das Märchen aus den )Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten(, zur Hilfe heranzuziehen. Die Deutung der Goetheschen Dichtung ist aber ungleich schwieriger als die des Schikanederschen Textbuches, schon deswegen. weil Schikaneder kein wirklicher Dichter war und deswegen die gedanklichen Motive. die dem Werk (oder seinen Quellen) zugrunde liegen. oft in reflektierender Form ausspricht, so daß sie für den nachforschenden Betrachter als solche deutlich abhebbar werden. Goethes Dichtung dagegen ist durchaus poetisch. Hier ist alles in Handlung und Gebärde umgesetzt. alles in Vorgängen gestaltetes. kaum je sich selbst gedanklich auslegendes Sinnbild. Bedeutsam genug - gerade für den späteren Dichter des zweiten Teiles des )Faust( bedeutsam genug -, daß diese Dichtung ein Opern plan ist. Sinnlinien zu dem opernhaften Spektakel der ersten Akte der Faustfortsetzung sind deutlich erkennbar. Aber es ist nur ein Fragment. Die erhaltenen Pläne der Fortsetzung geben nur einen ungefähren Rahmen, und am Ende wird man den Bruchstückcharakter des Ganzen positiv nehmen müssen: Goethe selbst hat dieses Bruchstück als ein Ganzes in seine Ausgaben aufgenommen. Was macht es zum Ganzen? Zum Ganzen eines Sinnes? Die Handlung versetzt uns in den Zeitpunkt. da aus der Ehe zwischen Tamino und Pamina eben ein Kind geboren worden ist. und beginnt mit der Erneuerung des Kampfes zwischen der Königin der Nacht und dem von Sarastros Weisheit geleiteten, von Tamino mit königlicher Hand regierten Lande. Die sittliche Ordnung, deren Sieg die )Zauberflöte( gefeiert hatte, wird mit der Geburt des Kindes aufs neue von der Gegenwelt des elementaren nächtlichen Wesens angefallen. Monostatos. der abtrünnige Mohr Sarastros, Helfer der Königin der Nacht. kommt mit seinen Dienern zurück, um der Königin über einen vollzogenen Auftrag Bericht zu erstatten. Sie hatten das Kind, sowie es auf die Welt kam, rauben sollen - eine Rache der Königin der Nacht an Sarastro und seinen Schützlingen.
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Erhebet und preiset, Gef'ährten, unser Glück! Wir kommen im Triumphe Zur Göttin zurück. Wir wirkten verstohlen, Wir schlichen hinan; Doch was sie uns befohlen, Halb ist es getan. Der Raub des Kindes ist ihnen nur halb gelungen - sie haben das Kind im Augenblick der Geburt, da der Zauber der Nacht Dunkelheit und Verwirrung verbreitete, in den von ihnen mitgebrachten goldenen Sarg gelegt, aber als sie nun mit diesem Kästchen davonschleichen wollten, wurde es auf wunderbare Weise so schwer, daß sie es nicht von der Stelle bewegen konnten. So blieb ihnen nur übrig, das Kästchen durch einen Zauberbann zu verschließen und sich davonzumachen. Die Rache ist halb gelungen. Noch ist das Kind nicht geraubt, aber der böse Zauber hat es dennoch den Eltern entrissen - sie können das Kästchen nicht öffuen, und der Zauber bewirkt weiterhin, daß die unglücklichen Eltern, sowie sie einander erblicken, von Wahnsinn gefaßt werden - und daß das Kind von der Parze weggerissen würde, wenn die Eltern es je erblickten. So weit reicht der Fluch der Königin der Nacht, die von Goethe in großartiger Weise als die »allgegenwärtige Macht« der Finsternis, des Schweigens und des Todes gestaltet ist, in die »heiligen Bezirke« hinein. Die zweite Szene schildert den Königshof, an dem Tamino inzwischen die Herrschaft angetreten hat. Frauen tragen unter klagenden Gesängen den goldenen Sarg, in dem das Kind eingeschlossen liegt, unausges~tzt dahin: So wandelt fort und stehet niemals stille, Das ist der weisen Männer Wille; Vertraut auf sie, gehorchet blind; So lang ihr wandelt, lebt das Kind. Tamino und die Frauen vereinigen sich in ihren Klagen über das Unheil, in das sich das Glück der Geburt des Sohnes gewandelt hat, aber die Hoffnung vereinigt sie, daß der Fluch gebannt werden wird: Bald rettet uns mit heil ger Weihe Sarastros lösend Götterwort und daß das ersehnte Glück der Vereinigung des Kindes mit seinen Eltern eintreten wird. Die Szene ist von hoher poetischer Kraft, Plage, Sorge und Zuversicht wunderbar verschlingend. Dann folgt eine Szene zwischen Papageno und Papagena, die in komischem Kontrast die beiden inmitten ihres märchenhaften Idylls unglücklich
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zeigt, weil ihnen bisher Kinder versagt sind, und froh getröstet, als ihnen Kinder verheißen werden - eine reizende Variation der berühmten Papagenoszenen der Mozartschen Oper. Die vierte Szene führt in das Heiligtum des Tempels und in das Leben der Eingeweihten. Goethe fügt hier dem Bild dieses Ordens einen neuen, für ihn überaus charakteristischen Zug ein: die Bestimmung des Ordens erfüllt sich nicht in der bloßen Absonderung ihres Lebens von der Welt. Alljährlich muß - durch das Los bestimmt - einer aus dem Orden als Pilger durch die Welt wandern: die Erforschung des Innersten muß durch die Wanderung »auf den weiten Gefilden der Erde« ergänzt werden. Nur so, als Wanderer, lernt der Mensch »die erhabene Sprache der Natur, die Töne der bedürftigen Menschheit« kennen - ein Zug, der ganz der Welt des ,Wilhelm Meister( entspricht. Auch hier ist die Pilgerschaft zugleich als eine Prüfung gemeint, ob die reine Gesinnung des Bundes den Anfechtungen der Welt gegenüber sich bewährt und rein erhalten hat. Der Augenblick ist gerade gekommen. Der zurückkehrende Pilger erweist sich an dem Prüfstein des Kristalls als rein und wird in den Kreis wieder aufgenommen. Die Neuwahl des Pilgers trifft Sarastro selbst. Er muß aus dem Kreise seiner Getreuen scheiden, gerade in dem Augenblick, in dem der Kampf mit dem nächtlich bösen Reich der Königin der Nacht aufs neue entbrannt ist. So ist es diesmal eine Prüfung besonderer Art, da nun der weise Schirmherr des ganzen Bundes fehlen wird und der Kampf zwischen Nacht und Licht ohne ihn bestanden werden muß. Dann folgen zwei unausgefiihrte Szenen: ein abermaliger Anschlag der Königin der Nacht läßt den im Sonnentempel dargebrachten Sarg des Kindes vor Paminas Augen in das Dunkel der Erde versinken. Und eine weitere Szene: aus goldenen Eiern, die Papageno und Papagena in ihrer Hütte fanden, erstehen drei Kinder. Sarastro kommt zu ihnen, »Einige Worte über Erziehung«, und berichtet dann über das erneute große Unglück am Königshofe. Zur Erheiterung des unseligen Königspaares entsendet er Papageno mit der Flöte an den Hof. Die nächste Szene ist wieder ausgeführt und schildert das Eintreffen Papagenos am Hofe. Der leichtfertige Optimismus und der hohle Eigennutz der höfischen Welt werden sichtbar: wie sich der Hof mit Gerüchten von der baldigen Rückkehr Sarastros (der doch in Wahrheit seine lange Pilgerfahrt angetreten hat) tröstet und mit der falschen Nachricht, daß das Kind gefunden sei und bald alles in Glück und Frieden sein werde. Papageno wird auf Grund der Kunde von den goldenen Eiern, die er in seiner Hütte fand, von den besitzgierigen Höflingen umschmeichelt, bis er schließlich zur Enttäuschung der Weltleute seine goldenen Eier vorzeigt, die er in Gestalt der aus ihnen ausgekrochenen bunten Vögel mitführt. Das Ganze eine Kritik des höfischen Lebens aus der großen Seelenkenntnis des Dichters.
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Dann eine der reizvollsten, des dramatischen Genius des Dichters besonders würdige Szene: das Königspaar ist durch den Zauberfluch in periodischen Schlaf versenkt - wenn sie erwachen und einander erblicken, überfällt sie Wahnsinn und Verzweiflung. Papageno bläst die Flöte, und solange er bläst, weichen Wahnsinn und Verzweiflung. Sie sehen alles hell und freudig. Aber sobald er mit Blasen aussetzt, kehrt die alte Pein und Verzweiflung zurück. Die Beschwörungskraft der Töne und die Grenze ihrer Macht, sobald Papageno der Atem ausgeht - eine unvergeßliche, opern gerechte und zugleich unmittelbar bedeutende Szene, Macht und Ohnmacht der künstlerischen Verzauberung des Lebens symbolisierend. Dann kommt eine Botschaft. Die Priester haben das Versteck, wo der Knabe, in seinem Sarg vom Verschmachten bedroht, liegt, gefunden. Die Szene verwandelt sich in das unterirdische Gewölbe, in dessen Mitte der versunkene Altar mit dem Sarg steht, von geharnischten und angeketteten Löwen bewacht. Ein geheimnisvoll tiefsinniger Zwiegesang der Wächter folgt, und dann dringen Tamino und Pamina - ganz wie im Schlußakt der lZauberflöte< - durch Wassers- und Feuersgefahren siegreich hindurch, um ihr Kind zu retten. Die Königin der Nacht feuert die Wächter zum Widerstand an - umsonst, und als sie nun durch die Löwen den Sarg verschlingen lassen will, begibt sich das Wunder: das Kind im Sarge erwacht beim Klang der elterlichen Stimmen und entsteigt als Genius dem goldenen Kasten. Als die Wächter das Königspaar zurückdrängen und das Kind mit ihren Spießen bedrohen, fliegt der Genius davon - eine Szene, die auf die Euphorion-Szene im lFaust 11< vordeutet. Damit schließt das Fragment, der Handlung nach eine echte Zauberoper, fraglos und unbekümmert wie ein Märchen - und doch die Frage nach einem Sinn bergend, der die Einzelmotive verknüpft und in ein Sinnganzes schließt. Wir können uns fragen, was die geplante Fortsetzung, die Goethe in Stichworten notiert hat, über das ausgeführte Stück hinaus lehren kann. Es ist nicht eben viel: eine Szene »Sarastro und Kinder« mag die» Worte über Erziehung« der ersten Kinderszene fortgesetzt haben, eine Szene »Genius Pamina Tamino« scheint, wenn wir die als >Paralipomenon 3< abgedruckten Verse hier einsetzen dürfen, den flüchtig vorübereilenden Genius seinen Eltern begegnend gezeigt zu haben. Die Verse lauten: Von Osten nach Westen Von Ästen zu Ästen Von Westen nach Osten Von allen zu kosten Von Früchten zu Früchten Gefällt es mir nur So komm ich und flieh ich Und wechsle die Flur
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Und wer mich verfolget Verlieret die Spur. Da bin ich recht zu Hause Das ist der schönste Baum Genügen mir zum Schmause Die vielen Früchte kaum Es machen brave Kinder Die Eltern brav und gut.
Weiter läßt sich aus dem Szenarium erraten, daß der Genius sich den Kindern Papagenos und Papagenas gesellt und dort durch Monostatos gefangen wird. Eine große Schlacht in einer »Nachtszene mit Meteoren«, offenbar unter Eingreifen Sarastros, bringt Tamino den Sieg (eine Kontrastszene: IIPapageno gerüstet'" zu der die Verse Paralip. 4 passen, gehört dazu). Dann folgt eine große Siegesfeier, die nochmals durch Monostatos' Brandstiftung gestört wird. Als Schluß ist notiert: "Zeughaus. Die überwundenen Priester« (was mit Recht verbessert worden ist in: »Die überwundenen. Priester«). Der Fortgang der Handlung hat also den Kampf der beiden Welten von Licht und Nacht in großartiger Steigerung bis zu dem endgültigen Siege des Lichtes und der Wiedervereinigung der Eltern mit dem Sohne darstellen sollen. Es muß nun versucht werden, den Sinnfaden, der die einzelnen Glieder der Handlung zusammenhält und das Ganze zu einheitlicher Bedeutung zusammenschließt, freizulegen, so wieja auch die Handlung der >Zauberflöte< ein bedeutsames Sinnganzes darstellte. Denn gerade auch der l>höhere Sinn der Erscheinungen«, den Goethe in der IZauberflöte< erkannte, hat ihn zu seiner Fortsetzung derselben inspiriert. Das heißt natürlich nicht, daß seiner eigenen Dichtung der gleiche Sinn zugrunde läge, den er in der Oper fand. Der Gegensatz von Mutterrecht und Männerbund, der in der Oper den Sinn des Kampfes von Nacht und Licht ausmachte, kann in der veränderten Situation der Fortsetzung, die den Liebesbund von Tamino und Pamina voraussetzt und das Glück und den Segen der Familie zum Gegenstand hat, nicht mehr bestimmend sein. Das neue Aufbegehren des nächtlichen Elementes, sein vorübergehender Triumph und seine endliche überwindung müssen aus dieser veränderten Thematik der Goetheschen Dichtung verstanden werden. Bevor wir uns der eigentlichen Handlung zuwenden, wird daher zu untersuchen sein, wieweit sich das Verhältnis der beiden feindlichen Welten in Goethes Dichtung neu gestaltet hat und dadurch der Kampf des Lichtes mit der Finsternis einen veränderten Sinn empfing. In der Tat ist das Grundschema der sittlichen Aufklärung, das die freimaurerischen Klänge der Oper bestimmt, nicht das Goethesche. Kein geradliniger Aufstieg von der Nacht zum Licht, vom elementaren Triebdasein zur geistigen Ordnung der Weis-
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heit ist hier da, und die Bahn des Menschen ist nicht durch diesen Aufstieg eindeutig vorgezeichnet. Die Grundsituation alles Menschlichen. auch der im heiligen Bunde zum freudigen Genuß des Lichtes Zusammengeschlossenen, ist die Bedrohung. Der Kampf des Guten mit dem Bösen ist ein niemals endender. Auch der heilige Orden - in der Pilgerschaft, aber sel bst in seinem eigenen Bestande - ist der Prüfung ausgesetzt und muß sich im Kampf mit dem Bösen bewähren. Die Stimme der Finsternis, verkörpert in dem geheimnisvoll unbeweglichen Wächterpaar in der Grotte, spricht es selbst aus, was d::s eigentliche Geheimnis des Lebens ist: die Zeit. Wird es Tag? Vielleicht ja. Kommt die Nacht? Sie ist da. Die Zeit vergeht. Aber wie? Schlägt die Stunde wohl? Uns nie.
Und nun folgt - von diesem ewigen Wissen um die Zeit und ihren unauflösbaren Wechsel her gesehen - die tiefsinnige Charakteristik des menschlichen Strebens: Vergebens bemühet Ihr euch da droben so viel. Es rennt der Mensch. es f1iehet Vor ihm das bewegliche Ziel. Er zieht und zerrt vergebens Am Vorhang. der schwer auf des Lebens Geheimnis. auf Tagen und Nächten ruht.
In der ersten Fassung dieser Stelle ist es geradezu »das Geheimnis der Tage und Nächte« - also das Geheimnis des Wechsels von Tag und Nacht. das alles menschliche Streben ins Helle zum Wahne werden läßt. So unvermeidlich wie Tag und Nacht miteinander wechseln. ist auch das menschliche Streben. indem es den Wechsel nicht wahrhaben will. in Wahn verstrickt. Dies Mitdasein der nächtlichen Gegenmächte mit dem »geistigen Laufe« des menschlichen Daseins ist offenbar die neue Prägung. die der gnostisch-aufklärerische Gegensatz von Nacht und Licht in Goethes Dichtung erfährt. Was sich so im Munde der Wächter ausspricht. ist auch dem weisen Sarastro nicht verborgen. In seiner Abschiedsrede vor seinen Freunden sagt er, daß die Kräfte feindseliger Mächte geradejetzt wirksamer werden. Und in der ursprünglichen Fassung dieser Stelle, die Goethe später gestrichen hat, offenbar. weil sie ihm schon zu sehr Reflexionsform hatte. den Sinn des Ganzen zu unmittelbar angab, hieß es gar: nWir aber sind dem Schicksal
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unterworfen, und das Schicksal, die ewige Weisheit selbst darf den Tag nicht zur Nacht verwandeln, die Nacht nicht in den Tag. Doch den Wechsel von beiden zu bestimmen, das vermag sie. Der Augenblick ist da, in welchem das Licht der Weisheit sich einen Augenblick verbergen und die feindlichen Mächte ihren Einfluß ausüben sollen. Der Vorteil ist unser. Denn wir werden geprüft.« Wenn eine wahrhaft Goethesche Grundvorstellung hier sichtbar wird, so ist es diese, daß es selbst der höchsten Weisheit unmöglich ist, eine Welt des dauernden Tages zu begründen. So wie im Walten der Natur der ständige Wechsel von Tag und Nacht beiden in gleicher Weise bestimmt ist, so ist auch das menschliche Leben nicht von der Bedrohung durch das »in sich selbst verschlossene« Element der Finsternis, durch die dämonische Macht des Abgrundes, des Schweigens, des Todes je ganz abzulösen. Es gibt keine Welt des Geistes und des Guten, die ungefahrdet und unbewegt in sich selbst bestünde. Die Prüfung, die den Mitgliedern des >Heiligen Bundes< in Goethes Dichtung auferlegt wird: das Hinausgehen in die Welt, die Reinheit des Herzens in ihr zu bewähren, bedeutet nicht eine gelegendiche oder vorsorgliche Einschränkung eines an sich himmlischen Glücks durch ein mißgünstiges Schicksal: »Der Vorteil ist unser. Denn wir werden geprüft.« Leiden und Prüfung sind nicht nur die unabdingbare Mitgift des menschlichen Lebens - sie bewähren erst seine Wahrheit. So ist selbst die Form, in der das Leiden der Trennung vom Bundesleben und die Prüfung des Wanderjahres den Eingeweihten auferlegt wird, die Form des Loses nämlich, von symbolhafter Bedeutung für das menschliche Leben insgemein. Der tiefsinnige Eingangschor, der nach dem Vorbild der Mozartschen Oper die Versammlung der Priester eröffnet, begründet die Zufallsbefragung, die den zum Leiden der Wanderschaft bestimmten Pilger erliest, aus der Begrenztheit des menschlichen Wissens und Wahlvermögens. Es ist die bedrohliche Schwebe des menschlichen Wesens, die im Bundesritual ihren angemessenen Ausdruck findet: Schauen kann der Mann und wählen! Doch was hilft ihm oft die Wahl. Kluge schwanken, Weise fehlen, Doppelt ist dann ihre Qual. Recht zu handeln, Grad zu wandeln, Sei des edlen Mannes Wahl. Soll er leiden, Nicht entscheiden, Spreche Zufall auch einmal.
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Die höchste Weisheit, die mit dem Schicksal einig ist, vermag den Wechsel zu bestimmen, d. h. anzunehmen - das abstrakte »düstere Streben« dagegen führt von Wahn zu Wahn, d. h. ist selbst ein unweises Verfallen an die Macht der Irre und der Dunkelheit. Es entspricht dieser anderen Artikulation des aus Mozarts Oper bekannten Gegensatzes von Nacht und Licht, Bösem und Gutem, daß in Goethes Dichtung das weibliche Prinzip in einem neuen Lichte erscheint. Die Königin der N acht, der Repräsentant der feindlichen Gegenrnacht, die kosmische Potenz des elementaren, in sich verschlossenen Dunkelwesens, hat keinen der die Oper beherrschenden Züge der beleidigten Mutter und des herrschgierigen Weibes mehr. Dagegen ist es jetzt die Mutterliebe. die in Pamina den siegreichen Gegenzauber darstellt. Wie Tamino die Prüfungen. die ihm Sarastro und die Priester auferlegen, durch das standhafte Festhalten an dem Geheiß des Bundes besteht und die Geliebte, die sich ihm unterwirft, durch die Wassers- und Feuersgefahren unangefochten hindurchführt. so ist es in Goethes Dichtung, wie ausdrücklich gesagt wird, die Mutterliebe. die durch den feindlichen Widerstand der Elemente und der Gegengewalten der nächtlichen Wesen hindurchgeleitet und das Kind, den Genius. befreit. Auch hier bieten die Paralipomena einige Verdeutlichungen, die die tragende Bedeutung dieses sittlichen Prinzips betonen: Und Menschenlieb und Menschenkräfte Sind mehr als alle Zauberei. Und ferner: Nein, durch keine Zaubereien Darf die Liebe sich entweihen. Und mein Talismann ist hier. Wir wissen nicht. wie diese Verse in die Handlung gehören, aber daß Goethe hier mit Bewußtsein das Zauberwesen - auch die wunderbare Bannkraft der Zauberflöte - durch ein höheres, sittliches Wesen, den in der menschlichen Liebe gelegenen Zauber, überbietet. ist zweifellos eine jener >Steigerungen< des in der Mozartschen Oper Angelegten, von denen Goethe im Blick auf seine Dichtung spricht. Hier wird die Mutterliebe als ein neues, sittliches Moment sichtbar, das die elementarische Sphäre des Weiblichen hinter sich läßt. Stellen wir nun VOn diesen Feststellungen aus die Frage nach dem Sinn der ~anzen Handlung. Was bedeutet die Verzauberung des Kindes. das merkwürdige Herumtragen des goldenen Sarges. schließlich die Befreiung durch die elterliche Liebe und das Entweichen des Kindes als Genius? Wir dürfen aus der weiteren Handlung hinzufügen, daß dieser Genius an den Eltern wie ein flüchtiges Vögelchen vorbeieilt. daß er bei Kindern verweilt und. aber-
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mals entrissen, schließlich nach einer endgültigen Auseinandersetzung der feindlichen Lebensgewalten in den Schoß seiner Familie siegreich und freudig zurückkehrt. Was soll das alles und was meint es? Gewiß wäre es verfehlt, dies poetische Märchen wie eine frostige Allegorie zu erklären. Nur was dichterisch da ist, d. h. aber, nicht das Märchenhafte der Ereignisse, sondern das Menschliche, wie es in diesen Ereignissen begegnet, kann uns leitend sein. Zunächst, was bedeutet es, daß gerade im Augenblick der Geburt des Kindes das elementare Wesen der Nacht bis in die »heiligen Bezirke« mit bannender Gewalt eindringt und daß das Kind in einen Sarg verschlossen wird? Ich meine, es zeigt die Verschlossenheit des neuen Lebens gegenüber der vorausschauenden Sorge und der planenden Hoffnung, die die Eltern auf ihr Kind setzen. Jedes neue Leben ist für seine Eltern ein noch im Elementaren verschlossenes Geheimnis. Es ist ihr Fleisch und Blut - und dennoch ein anderes, eigenes, ihnen nicht organisch angehöriges Dasein. Und wenn nun Goethe den Sarg - nach dem Geheiß der weisen Männer - unermüdliCh hin- und hertragen läßt, damit das Kind am Leben bleibt -, sollte damit nicht darauf gedeutet sein, daß trotz dieser Verschlossenheit und der Verwehrtheit aller sichernden Verrichtung die Wartung, Pflege und Erziehung für das neue Wesen nicht sinnlos ist, daß vielmehr trotz dieser unaufhebbaren Verschlossenheit in der liebenden Sorge und hoffenden Fürsorge der Eltern ein wesentliches Lebenselement für das Kind gegeben ist? Und sollte es nicht von Bedeutung sein, daß die Befreiung des Kindes, sein Entsteigen aus dem Kästchen, in dem Augenblick erfolgt, da das Kind die Stimme der Eltern vernimmt und mit dem eigenen >ersten Ton< beantwortet? Ist nicht wirklich der Wechseltausch der Stimmen und die aus ihm sich bildende Kommunikation der Sprache, diese erste >Äußerung<, eine Öffnung des verschlossenen, schlafenden Lebensgeheimnisses, das im Kinde waltet? Nun erhebt es sich unangefochten über die Spieße der Wächter und die Rachen der Löwen - das versinnlicht doch wohl die Unzerstörbarkeit des neuen Lebenskeimes, sein Sichhinausringen aus dem Elementaren in seine eigene geistige Helligkeit. Und dieser >geistige Lauf< des Kindes, sein Davonfliegen als Genius, in dem es zugleich auch den Eltern entrückt wird, auch das hat seine unmittelbare Wahrheit. Das neue Geistwesen, zu dem das Kind sich erhebt, tritt unter sein eigenes neues Lebensgesetz, indem es die Warnungen und Hoffnungen, Befürchtungen und Angste und alle Fürsorge der Eltern überspringt. Man denkt hier unwillkürlich an die Euphorion-Szene von >Faust 11<, wo auch aus einer Ehe des Schönen und des Weisen eine neue Geburt sich erhebt, der zauberhafte Genius Euphorions, der als ein Schein gebilde. gleich einer Traumerscheinung. die Ehe Fausts und Helenas, der modernen und der antiken Welt, schmückt - und widerlegt. Aber gegenüber dem späteren, in allegorische Symbolik gespannten Euphorion-Motiv bedeutet die ausge-
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führte Schlußszene der zweiten )Zauberflöte< etwas wesentlich anderes. Der hier aufsteigende Genius wird zwar dem Kreis des elterlichen Geistes entrückt, aber er kehrt in ihn zur neuen, geistigeren Gemeinschaft zurück. Denn wenn man zum Sinn der geplanten Fortsetzung noch Vermutungen äußern darf: daß jene schönen Verse, in denen der Genius »von Früchten zu Früchten« nach seinem Gefallen hin- und hereilt, die unbegreiflich geniale Weise bezeichnen, mit der das spielende Kind die Welt kostet; und daß er sich zu Kindern gesellt, um aus ihrer Mitte entrissen zu werden in eine neue Verschlossenheit - bis am Ende »Sarastros lösend Götterwort« die geistige Ordnung, das sittliche Element der Familie herstellt: ist es zu kühn, zu meinen, daß es das problematische Geschehen der menschlichen Erziehung, der Bildung zum Menschen ist, um das der Kampf der elementaren und der geistigen Lebensmächte in dieser Opernhandlung geht? Goethe hat von der Begreiflichkeit einer poetischen Produktion fiir den Verstand nicht viel gehalten: »Je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser« (zu Eckermann, 6. Mai 1827). Und doch besteht das Geschäft des Interpreten darin, die inkommensurable Sinnfülle der Dichtung so auszulegen, daß die Empfänglichkeit fiir das unauflöslich Bedeutende der Dichtung sich weitet und belebt. Nur eine Richtungsweisung dieser Empfänglichkeit kann es darstellen, wenn wir dem Bezug der kostbaren kleinen Dichtung aufihren schöpferischen Anlaß, die Mozartsche Oper und das Schikanedersche Textbuch, nachgingen. Der abstrakte Gegensatz des naturhaften und des geistig-sittlichen Lebenseiements, den Mozarts Oper zu einem triumphalen Lichtgesang verklärt hat, verwandelt sich im Medium der dichterischen Welt Goethes, die das ständige Mitdasein der Elementarmächte mit der geistigen Gestaltungskraft des Lebens tiefsinnig umspielt, und rückt Goethes leichthingesetztes, von Schiller beispielsweise als unbedeutend verschmähtes kleines Werk erst in die rechten Bezüge, die auch die großartigsten und bedeutendsten Dichtungen Goethes, insbesondere seine Faustdichtung, umfassen.
8. Goethe und Mozart - das Problem Oper (1991)
Aus bestimmtem Anlaß habe ich einmal eine ,Zauberflöten<-Aufflihrung in Dresden kurz nach dem Zweiten Wdtkrieg gehört. Dresden lag damals ganz in Schutt und Asche. Ich war Professor an der Universität Leipzig und nach dem Kriege dort zum Rektor gewählt worden. So mußte ich öfters nach Dresden reisen, und einmal fuhr ich mit dem Oberbürgermeister dorthin, und da hörten wir zusammen die IZauberflöte<. Die Aufführung fand in einer Turnhalle statt, alles andere war zerstört. Was nicht zerstört war, war jedoch die hervorragende Musikkultur der Dresdener Oper, die mit so berühmten Dirigentennamen wie Fritz Busch und Karl Böhm verbunden ist. Sie hatte dem Regime wie den Bomben und der Tragödie von Dresden standgehalten. Das wurde fiir mich eine sdtene Erfahrung, wie ein Vorklang des Wiederaufbaus der verwüsteten Wdt und eine Hoffnung für die Kultur der Menschheit. Mir fiel da ein, daß es auch eine Fortsetzung von Goethe zur IZauberflöte< gab, mit der ich mich bald beschäftigen sollte. Ich hatte eigentlich kein besonderes Interesse am Textbuch von Mozarts Oper. Als ich zwölfJahre alt war, sagte uns ein sehr eindrucksvoller Deutschlehrer einmal: »Ja, die IZauberflöte<, das ist nichts als .gesungener Unsinn. « Mir schien es nun beim Hören dieser Aufführung anders, wie eine Botschaft voller Sinn. Es war eine stimmlich und instrumental meisterliche Darbietung, die gar nicht erst den Versuch unternahm, mit der großen Maschinenund Lichtkunst des Barockzeitalters zu wetteifern. Es gab ja nur das Podium der Turnhalle, zu dessen Füßen das Orchester und auf dem Podium die Sängerinnen und Sänger. Gleichwohl übertraf diese Aufführung für mich alle Darbietungen der IZauberflöte<, die ich vorher gesehen hatte. Mozarts Musik, die !eigene Einbildungskraft und das erschütterte Gemüt waren stärker als die technische Kultur unserer Epoche mit ihren Illusionsmitteln. So sah ich mich vor die Frage gestellt, wie die Musik es vermag, von sich aus Sinn zu vermitteln und ohne Hilfe der Bühne Bilder zu erzeugen, so daß man nichts vermißte. Es waren die schönsten Märchenbilder, die schönste Feuerprobe, die ich da vor meinen Augen hatte, und doch tat ich nichts, als der Musik und den Stimmen zu lauschen. Was ist die Oper? Zunächst ist sie ein Versuch, die griechische Tragödie in
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die moderne christliche und humanistische Welt hinüberzuretten und zu neuem Leben zu erwecken. So hat Monteverdi mit seinem monodischen Stil der Tonkunst einen neuen Raum eröffnet. Und von der italienischen Oper aus hat sich dann in vielen Abzweigungen das entwickelt. was wir Opernkultur nennen. In der Folge von Vorlesungen. die wir hier in den letzten Wochen gehört haben, wurde es sehr anschaulich. wie sich diese Kultur der Oper aus dem Festbedürfnis des Barockzeitalters und der Fürstenhöfe entfaltete und sich dann im 19. Jahrhundert unter den Bedingungen des bürgerlichen Wettbewerbs fortsetzte. Mozart nimmt in dieser Geschichte eine Ausnahmestellung ein, als Vollendung und zugleich als übergang. Ich darf hier an meinen verstorbenen Freund Thrasyboulos Georgiades erinnern, dessen Formel vom »musikalischen Theater« lautete. Mozart hat nach Georgiades das spezifisch musikalische Theater erst geschaffen und darin eine eigene Vollendung erreicht. Gewiß hat er die spätere Opernentwicklung und auch das Musikdrama vorbereitet, aber seine Form des musikalischen Theaters ist doch etwas Unüberholbares geblieben. das wir jungen Leute im Zeitalter der Jugendbewegung, also wir, die wir Oper sonst verschmähten, von unserem negativen Urteil immer ausnahmen. Mozart war nicht nur Oper, er war mehr. Sein Theater war nicht länger das bloße Nummernspiel des italienischen Operntheaters. diese Folge von Rezitativen. Arien und Chören. Es richtete sich nicht mehr gänzlich auf die Art des Zuhörens ein. wie sie in den großen Opernhäusern des 18. Jahrhunderts selbstverständlich war. (Da öffnete man etwa den Vorhang der Loge erst dann, wenn der berühmte Sänger seine Arie sang, und dann schloß man ihn eben wieder.) Freilich. wenn wir das Textbuch der ,Zauberflöte< aufschlagen, finden wir, daß auch sie in Nummern eingeteilt ist. Ja. Mourt berichtet von dem Erfolg der .Zauberflöte< auf dem Wiener Vorstadttheater. daß etliche Wiederholungen einzelner Nummern verlangt wurden! Niemand wird doch behaupten wollen. daß dieses Publikum, das sich an den verschiedenen Nummern ergötzte. den Sinn der Handlung verstand. so wie wir sonst die Handlung eines Theaterstücks verstehen. über diesen Sinn der Handlung der .Zauberflöte< möchte ich nachdenken und mich dafür der Augen Goethes bedienen. Er hat eine Fortsetzung der .Zauberflöte< geschrieben und veröffentlicht. obwohl sie nur Bruchstück blieb. Was in der Opernhandlung Schikaneders und dann bei Goethe in seinem Textbuch geschieht. ist gewiß in beiden Fällen nicht Drama. Gleichwohl ist zwischen dem Libretto des erfahrenen Theaterdichters Schikaneder und Goethes Fortsetzung ein wesentlicher Unterschied. Das zeigt sich im Erfolg. Goethe hat seinen Versuch nicht vollendet. Es ist ihm nicht gelungen. einen Komponisten für sein vorbereitetes Textbuch zu finden. Keiner hat es wohl gewagt, mit Mozart den Wettkampf aufzunehmen. Oder hat
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vielleicht ein jeder etwas von dem sprachlichen überschuß empfunden, den die dichterischen Worte Goethes enthalten und der sich der Musik entzieht? Goethe wollte zwar ein Libretto schreiben, aber konnte er den Dichter in sich dieser Aufgabe unterordnen? Was ist ein Libretto im Vergleich mit einem rein dichterischen Text? Das eine ist eben ein Textbuch ror Musik, das durch diese seinen Sinn erhält, und das andere ist ein Text, der seine Aufgabe in sich selber als Dichtung erfiillt. Hier darf ich eine semantische Bemerkung einfügen. Das Wort >Dichtung, heißt eigentlich >Diktatl, es ist von )dicerel, von >dictarel abgeleitet, und das meint, daß damit etwas unverbrüchlich festgelegt ist, woran man nichts ändern soll, weder Silbe noch Ton. Daher können lyrische Gedichte in fremde Sprachen nicht übersetzt werden, wie wir alle wissen. Es kann sich nur um mehr oder minder gute Nachdichtungen handeln. Wenn die übersetzer aber wahre Dichter sind, dann sind die Nachdichtungen ihrerseits originale Werke des nachdichtenden Dichters. Der Sprachklang einer dichterischen Schöpfung muß aus dem Sprachklang der Muttersprache kommen, wenn er dichterischen Anspruch erheben will. Als Hölderlin SophokIes zu übertragen unternahm, entstand Dichtung - aber ein Werk Hölderlins und kaum noch ein Werk des Sophokles. Die von uns allen gesprochene Sprache gewinnt im Akt des Sprechens so etwas wie Leibhaftigkeit. Erst als dichterische Sprache erhält diese Leibhaftigkeit aber Bestand. Sonst sind wir im Sprechen immer schon über den Sprachklang hinaus, bei dem, was wir dem anderen mitteilen wollen oder was uns von dem anderen mitgeteilt wird. Wie kommt es, daß in der dichterischen Sprache die Sprache selber )Leibl gewinnt und zu eigenem Gewicht gelangt? Das ist ein Thema, das vor allem den Philosophen angeht, der es mit der Hermeneutik zu tun hat. Die Bedeutungshaftigkeit der Worte und die Klangmusik der Sprache sind im dichterischen Wort so eng ineinandergefUgt, daß, wer das Gedicht haben will, die Einheit von beidem haben muß. Er muß die Musik der Sprache hören und gleichzeitig die Bedeutungen und den Redesinn des Ganzen mitvollziehen. Ein Libretto dagegen will gar nicht in der gleichen Weise als Sprache wahrgenommen werden. Sein Sinn läßt sich erst im Hören der gesungenen und gespielten Musik vollziehen. Es sind ja Texte, die auf eine Vertonung, das heißt auf Erfüllung ihrer Aufgabe jenseits ihrer selbst, warten. Gewiß warteten auch die Texte der griechischen Tragödien auf ihre Aufführung auf der Bühne, und auch das mit den Mitteln der Musik. Aber in der Oper ist die Verteilung der Gewichte zwischen Wortkunst und Tonkunst doch eine ganz andere als in der griechischen Tragödie. Georgiades hat in seinem Nachlaßwerk über Nennen und Erklingen die beiden Seiten, die Nennkraft der Worte und das Erklingen der Sprache, zu analysieren unternommen und im besonderen untersucht, wie
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beide in der Tonkunst zusammenwirken 1. Das sind schwierige Fragen, und sie bedürfen immer weiterer Untersuchungen, zumal im Fane von Schikaneder, Mozart und Goethe, wo so verschiedene Probleme illeinandergeschlungen sind. Was offenbar der Musik der Neuzeit ganz eigen geworden ist, das sind ihre eigentümlichen Wiederholungsgesetze, die immer neuen Variationen der Wiederaufnahme oder Umkehrung, kraft derer die klassische Satztechnik alles Einzelne zu einem großen Einheitsgebilde zusammenschließt. Das gilt natürlich auch für die Oper, wie ja gerade im Gesang von jeher Wiederholungskräfte wirksam sind. Sie sind aber auch für den Text, der Vorlage für die Musik sein will, von form prägender Bedeutung. Bei Shakespeare wird ein Charakter, ein Schicksal und eine uns zum bebenden Mitgehen zwingende Handlung in Worten hingezaubert, und es bedurfte seinerzeit des Kulissenwerks auf der Bühne nicht wesentlich mehr, als ich es etwa in der Turnhalle Dresdens bei der 'Zauberflötec antraf. In der Oper, und vollends in der ,Zauberflötec, ist die Handlung nur in vagen Verknüpfungen formbestimmend. Die Psychologie ist verschwendet, wenn man überall nach eindeutigen und einleuchtenden Motivationen sucht, welche die Rollenträger zu ihren Arien und Melodien, zu ihren Duettantworten oder zu ihrem Einstimmen in das Ensemble bringen. Allein der Grad des Verständnisses der Texte dürfte in jeder normalen Aufführung unvergleichbar viel niedriger sein als etwa im Shakespeareschen Theater und auf dem Sprechtheater sonst. Der Oper und ihrem Textbuch liegen ganz andere Bildungsgesetze zugrunde als dem Charakterdrama. Die psychologische Motivation und die durch sie gesteuerte Form des Mitgehens mit der Handlung ist eben nicht das einzige einheitsbildende Prinzip des Theaters. Auch die antike Tragödie mit ihrem - der Psychologie abholden - Maskenspiel warnt uns davor, alles von dem seelischen Mitgehen mit Handlungsmotivationen zu erwarten, statt sich der neuen Deutung des allen bekannten Mythos hinzugeben. Auch die antike Komödie arbeitet ja mit typischen Motiven wie Verwandtschaft, Verwechslung, Vertauschung - und mit Charaktertypen, die in der Opera buffa weiterleben. In dieser Beziehung besteht durchaus eine gewisse Analogie zwischen dem antiken Theater und der Oper mit ihrer Abfolge von Nummern. Wir müssen uns an die große Tradition der Rhetorik erinnern und an ihre Fähigkeit, für.vorgefaßte Ziele zu gewinnen und durch Redekunst Emotionen zu wecken. Das wird auch die Aufgabe der Oper: eine im Textbuch vorgebildete Handlung nicht so sehr glaubhaft zu machen als sie zu nutzen, I THRASYBOULOS G. GEORGJADES, Nennen und Erklingen: die Zeit als Logos. Aus d. Nachlaß hrsg. v. IRMGARD BENGEN. Mit e. Geleitwort v. H.-G. GADAMER. Göttingen
1985.
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die Affekte und Leidenschaften als solche, die uns Menschen bewegen, zu einer zwingenden Präsenz und Wirkung zu fUhren. Im Sprechtheater gelten andere Gesetze. So sehr etwa auch die Schauspiele Calderons vom Formprinzip der Rhetorik bestimmt sind - bei Shakespeare muß sich das Drama doch aus den Charakteren der auftretenden Personen der Handlung entwikkeln. Da geht es nicht so sehr um die Emotionen, die in dem Handlungsgeschehen zum Ausbruch kommen, als um das Sein dieser Menschen, ihren Charakter, der ihnen zum Schicksal wird. Ein Charakter ist ein sich in allen Emotionen äußernder Habitus, eine ,Hexis<, eine sich durchhaltende Identität, die sich in den wechselnden ,Pathemata<, den Passionen, zur Darstellung bringt. Der Darsteller im Drama Shakespeares ist ein Menschengestalter, der gewiß nicht mehr eine starre Maske tragen kann. Dagegen sind es die der Rolle zugewiesenen und durch die Musik gestalteten 'Pathemata<, die Leidenschaften, welche das Formgesetz der Oper bilden. Deswegen hat die Arie in ihr eine bevorzugte Stellung und ist nicht - wie meist der Monolog im Drama - eine Art Zwischenspiel. Es ist die Meisterschaft von Mozart gewesen, den hergebrachten Opernformen doch so viel innere musik;llische Kohärenz zu verleihen, daß die verschiedenen Nummern durch Mozarts Ensemble-Kunst zu einem einheitlichen Seelengeschehen zusammenklingen. Man geht daher auch bei ihm fehl, wenn man Charakterentwicklungen sucht, wo die Spielfreude der Bühne ihr Reich hat. Wir werden sehen. wie etwa die Rolle des Sarastro den Psychologen da in die Irre lockt. In der ,Zauberflöte< haben wir es mit einem Märchenspiel zu tun. Die eigentümlich kontrastreiche, von Goethe gerade wegen dieser Kontraste gerühmte Handlung ist eine Zauberposse des volkstümlichen Genres, die doch in hoch spirituelle Sphären gehoben wird - bis zur Einweihung ~es hohen Paares in den Tempel der Weisheit -, aber zugleich in Kontrastbegleitung durch das volkstümliche Element. Ich möchte später zeigen,· wie Goethe dieses Textbuch, das Schikaneder in Zusammenarbeit mit Mozart verfaßt hat, in seinem eigenen Fragment weitergedacht hat. Zunächst aber wollen wir auf den Text der klassischen Mozartschen Oper blicken. Der Mozart-Forscher Otto Jahn, ein bedeutender klassischer Philologe um die Mitte des 19. Jahrhunderts, meinte nachweisen zu können, daß das Textbuch der ,Zauberflöte< aus äußeren Gründen, die wir hier nicht noch einmal wiedergeben wollen, einen Bruch aufweise. daß sich also zwischen dem ersten und zweiten Akt eine totale Programmänderung ereigne. Diese kühne und natürlich gut durchgearbeitete Beweisführung fand damals überall Anerkennung. Sie entsprach einer Tendenz der Philologie jener Zeit. in Texten überall Oberschichtungen. Spätredaktionen und Montagen zu sehen. wie man sie in der Tat in Textbüchern fürs Theater. aber auch im Schrifttum der Spiltantike oft entdecken kann. Er nahm also an, daß auch das Textbuch Schikaneders mit diesen Mitteln fabriziert wurde. Heute ist man
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von dieser einstmals herrschenden Meinung abgerückt. Auch ich habe sie schon in meinem Aufsatz zur )Zauberflöte< aus dem Jahre 1947 bezweifelt. 2 Die Handlung beginnt bekanntlich damit, daß der junge Fürstensohn Tamino sich auf der jagd verirrt, von einer Schlange verfolgt und durch drei Damen gerettet wird, weiche die Schlange töten. Es stellt sich heraus, daß es die Königin der Nacht ist, welche ihn beschützt hat. Mir scheint - auch wenn es mir bisher nie in Auffuhrungsinterpretationen begegnet ist -, daß es der Einbruch der Nacht selber ist, der als das Rettende in mythischer Gestalt erscheint, und daß die drei Damen mit ihren silbernen Pfeilen das erste Funkeln der Sterne sind, die dem Bedrängten den rettenden Schutz der Nacht anzeigen. Ich könnte mir denken, daß sich das auch szenisch verwirklichen ließe: durch Verdunkelung, Erscheinenlassen der ersten Sterne und schließlich des ganzen Sternenhimmels. (Die Inszenierung von Johannes Schaaf in Salzburg ist dem sehr eindrucksvoll nahegekommen, wenn er die Königin der Nacht in einem geradezu gleißenden Mondlichte erscheinen läßt.) Die Handlung ist in Wahrheit eine Abfolge von Unwahrscheinlichkeiten. Im ersten Akt erscheint die Königin der Nacht als die durch eine fremde GegenII).acht erbitterte Frau. Ihr Gegner Sarastro hat ihre Tochter Pamina geraubt. Der böse Räuber erscheint später jedoch als der edle väterliche Beschützer Paminas, und er ist der Führer der Eingeweihten in den Tempel der Weisheit. Dieser Wechsel in der Wertung Sarastros innerhalb der Handlung hat die sonderbarsten Konstruktionen von seiten der Interpreten heraufbeschworen. Sarastro wird da als der abgewiesene Liebhaber Paminas ausgegeben, der schließlich zum Verzicht reift und das junge Paar in seinen geheimen Kreis der Eingeweihten einführt. Pamina wird in anderer Sicht als ein um seine Befreiung kämpfendes junges Mädchen gedeutet, das durch eben diesen bösen Sarastro und seinen )Schutz< an der wirklichen Befreiung des Weiblichen vom Druck der männlichen Welt gehindert wird und am Ende klein beigibt. Wie sind die Widersprüche des Librettos zusammenzubringen? Es handelt sich eben um ein Märchenspiel. Die Logik des Märchens aber ist die Verwandlung. Und da scheinen doch einige recht verständliche Verwandlungen ineinanderzugreifen. In der Mitte der Handlung wird deutlich, daß die Königin der Nacht eine Art Erbstreitigkeit mit dem sterbenden König der Sonnenwelt hatte. Sie hatte über das Ganze der Welt herrschen wollen, während der König seine Tochter und die Herrschaft über die Sonnenwelt, den )Sonnenkreis<, Sarastro und seinen Freunden durch letzten Willen übergeben hat. Also kein Raub eigentlich, sondern Ausführung eines Vermächtnisses. 2
Siehe .vom geistigen Laufdes Menschen<, Teil 2, in diesem Band. S. 80ff.
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Zweifelhafter ist, ob hinter dem )Raube Sarastros noch ein anderes Motiv lauert - daß er hoffte, die Liebe Paminas zu erringen; als er dabei scheitert, scheint er freiwillig zu verzichten. Es gibt eine Stelle im Textbuch, die sich so deuten läßt ("Zur Liebe will ich dich nicht zwingenee). Sicher lag esjedoch nicht im Interesse des Textdichters und des Komponisten, Prozesse des Reifens an einzelnen Personen zu schildern. Es sind vielmehr die Stufen der Liebe selbst, es ist die menschliche Passionsgeschichte, die den eigentlichen Faden der Handlung bildet. Und so steht am Anfang die Mutterliebe und die elementare Liebe der Tochter zur Mutter. Sodann wird uns sowohl die Verwandlung und Umkehr Paminas als auch die Taminos geschildert. Beiden werden gleichsam die Augen geöffuet, und offenbar ist es die keimende Liebe zwischen den bei den, die mit der berühmten Porträt-Arie des Anfangs einsetzt und sich schließlich mit der Prüfung und Aufnahme in den Kreis der Eingeweihten vollenden wird. Stufen der Liebe, Erwachen der Liebe, Verwandlung der Welt durch das Wissen, geliebt zu sein. Gewiß sind es Märchenmittel, mit denen sich diese Logik darstellt. Schließlich versteht man die Prüfung der Verschwiegenheit als Vorbereitung für die Aufgaben des Mannes in der Gesellschaft, und man bewundert Paminas unbeirrte Treue als Beweis der sittlichen Bindungskraft der Liebe, die zur Gründung der Familie führt - wir werden sehen, daß genau an diesem Punkte Goethe weitergedacht hat. Wie alle Märchen in der Häufung ihrer Unwamscheinlichkeiten eine verborgene Sprache der Weisheit reden, so ist es auch in der )Zauberflötee. Wenn wir die nicht eben kunstvoll, aber sehr theatergerecht geführte Handlung verfolgen, dann sehen wir doch, wie die Zeichen für die Liebesgeschichte der beiden oder besser für die Geschichte der Liebe gesetzt sind. Wir sehen, wie das junge Mädchen zunächst durchaus noch elementar zur Mutter zurückstrebt. Sie ist offenbar noch nicht wirklich von dem verwandelnden Funken der Liebe erleuchtet. Aber als das geschehen ist, da zeigt sich plötzlich alles in einem neuen Licht. Sarastro, als Repräsentant der Geistesordnung gegenüber der elementaren Mutterbindung, erscheint nun in seiner beschützenden und führenden Rolle und in überlegener Würde. Er wird das Liebespaar durch alle Prüfungen führen und in den Kreis der Eingeweihten erheben. Elementare Zuneigung muß sich zu sittlicher Bindung erheben, das ist der Sinn der Prüfungen des jungen Paars. So versteht man Paminas Szene mit dem Dolch und der letzten überwindung des nur Elementaren in der Todesbereitschaft. Pamina wird geprüft, ob sie entschlossen ist, lieber nicht zu leben, als sich trennen zu lassen von dem, den sie liebt. Auch das dürfte nicht nur in Märchen vorkommen. Ahnliches gilt für die Prüfungen von Tamino, in denen sich männliche Entschlossenheit als staatserhaltende Kraft bewähren soll.
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Goethe hat den in der ,Zauberflöte< dargestellten Stufen weg der Liebe um eine neue Phase weitergedacht. Auch in seiner Fortsetzung erscheint die Königin der Nacht als eine der Grundpotenzen im seelischen Erfahrungsbereich der Menschheit: das Dunkel, sein Geheimnis, seine Gefahr und sein Reichtum, und auf der anderen Seite die durch Sarastro verkörperte Helligkeit des Gedankens und des Geistes. Goethe wollte diese beiden Potenzen noch einmal im Kam pfsich zeigen lassen, in dem Moment, da die Familie ihr Dasein begonnen hat. Die Königin der Nacht will das Kind rauben, das aus der Ehe hervorgegangen ist. Zwar bleibt es den Eltern erhalten, aber es ist in einem Kasten verschlossen, den man nicht öffnen kann. Der Kasten muß immer bewegt werden, damit das Kind am Leben bleibt: .. Solang ihr wandelt,lebt das Kind.« Nun wahrlich, jedes neue Lebewesen, das plötzlich zum Ziel aller Sorge und Fürsorge durch seine Eltern wird, ist ein in sich verschlossenes Geheimnis. Das so pflanzenhaft verschlossene Kleinkind ist eine ganz neue, andere Sorge, als was in den Schwingungen der Liebe zwischen den Liebenden hin und her webt ... Solang ihr wandelt, lebt das Kind«. Goeth'e schildert, wie am Ende des langen Kampfes zwischen Dunkelheit und Helle die elementare Macht, welche die menschliche Natur beherrscht, im Wunder der Sprache und im Tausch der Worte zu einer neuen Freiheit aufsteigt. Das Kind hebt beim ersten Wechsel der Worte mit seinen Eltern alle Feme auf-und steht zu neuen Fernen auf. Am Ende erhebt sich aus dem Dunkel des Naturseins die Offnung des Geistes, ähnlich wie in Goethes ,Faust 11< Euphorion gen Himmel fliegt. Ein neuer Kampf setzt ein, nochmals trennt sich in den Stufen der Liebe das geliebte Kind von den liebenden Eltern. So hat in grober Linie Goethe die Handlung weitergedacht. Nochmals wird in Goethes Erfindung das Wesen der Prüfungen deutlich, wenn Sarastro selbst einer neuen Prüfung ausgesetzt wird. Leben heißt geprüft werden, das hat Goethe als den eigentlichen Ansatz von Schikaneders Textbuch verstanden. Er hat es als Dichter gelesen und weitergedacht. Dieses Weiterdenken zeigt freilich erneut den Unterschied zwischen Dichter und Librettist, von Wortkunst und Tonkunst, und den Unterschied zwischen den Musen. Um das zu verdeutlichen, lege ich zum Vergleich zwei Stellen aus Mozarts ,Zauberflöte< und aus Goethes Fortsetzung vor. In Schikaneders Textbuch findet sich, was Goethe auf seine Weise aufgenommen hat. Es sind die Geharnischten, die als Wächter für die gefangene Pamina aufgestellt sind, und die Goethe in seiner Fortsetzung den Kasten mit dem Kind Taminos und Paminas bewachen läßt. An dieser Übernahme eines Motivs mÖchte ich den Unterschied zwischen dem Text eines Librettos und einem dichterischen Text noch einmal konkret illustrieren. Man kennt die Verse der zwei Geharnischten: »Der, welcher wandert diese Straße voll Beschwerden,lWird rein durch Feuer, Wasser, Luft und Erden;/Wenn er des Todes Schrecken über-
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winden kann,lSchwingt er sich aus der Erde himmelan.lErieuchtet wird er dann im Stande sein,/sich den Mysterien der Isis ganz zu weihn. « Zweifellos sind es ganz gute Verse, denen aber kaum daran liegt, rein dichterisch zu überzeugen. Die Verse Schikaneders sollen nur darauf hinweisen, daß jetzt die feindliche Welt abgewehrt ist und die Liebe über die Gegenwelt der Nacht und Finsternis siegt. - Bei Goethe spielt das Ganze eine Generation später, und die Geharnischten tauschen sich so aus: »Wird es Tag?/Vielleicht ja./Kommt die Nacht?lSie ist da./Die Zeit vergeht./Aber wie?/Schlägt die Stunde wohl?/Uns nie.« So lautet das Zwiegespräch der Geharnischten. Darin stellen sich diese dämonischen Figuren vor, wie sie, die vom menschlichen Leben Ausgeschlossenen, nichts von der Zeit erwarten und erhoffen können. Und sie fahren fort: "Vergebens bemühetlIhr euch da droben so viel./Es rennt der Mensch, es fliehet/Vor ihm das bewegliche Ziel.lEr zieht und zerrt vergebens/Am Vorhang, der schwer auf des Lebens/Geheimnis, auf Tagen und Nächten ruht. « Diese Verse sind voll von Klang und Sinn. Für die Wächter da unten ist es ein Geheimnis: der Wechsel von Tag und Nacht, das Geheimnis des Lebens in seiner wechselhaften Unbeständigkeit und seinem Fortbestand zwischen Wachsein und Schlafen, und vielleicht - als tiefstes Geheimnis - zwischen Leben und Tod. All das deutet Goethe an, und all das ist in diesen Versen Klang geworden. Es erhebt sich damit zu neuer Bewußtheit, was in dem mythischen Kampf der ,Zauberflöte< zwischen der Königin der Nacht und dem Sonnenreich liegt. "Er zieht und zerrt vergebens am Vorhang [... ] des Lebens ... « Wie dieses »vergebens« im Vers steht und in seinem Reimwort wiederkehrt - da wird nicht etwas gesagt, sondern da wird wirklich gezogen. Das Ziehen und Zerren und seine Vergeblichkeit - in den Augen der zeitlosen Wächter - ist leibhaftig da. Das ist Dichtung: es wird nicht nur etwas gemeint, sondern das, was man meint, ist da im Vollzug - es zeigt , sich. Goethe konnte gar nicht so dichten, daß etwas nur gemeint ist. Deshalb hat die Musik hier keinen Raum, in dem sie mit den Wortklängen ganz verschmelzen könnte. Dazu müßte es gewaltige Umformungen geben, wie sie Schubert den Goetheschen Gedichten hat angedeihen lassen, und selten sind die Fälle einer inneren Verschmelzung von dichterischer Sprache und musikalischer. Daß Musik kann, was Dichtung allein nicht kann, schließt nicht aus, daß auch der Musik der Ausdruck versagt ist, wo Dichtung ihre eigene Macht entfaltet. Meine heutige Rückkehr zu Mozarts ,Zauberflöte< und Goethes Fortsetzung in diesem Mozartjahr mag meine ältere Arbeit von 1947/49 ergänzen. Ich habe mich von neueren Diskussionen über das Werk belehren lassen, nicht zuletzt durch das abermalige Dabeisein bei einer meisterhaften Aufführung der ,Zauberflöte< anläßlich der diesjährigen Salzburger Festspiele. Was zieht
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uns nur immer wieder zu dieser Oper zurück? Gewiß hat gerade zu ihrem Welterfolg durch die Jahrhunderte beigetragen, daß sie dem Humanitätsdenken des sich ankündigenden bürgerlichenjahrhunderts entsprach, und es mag in diesem Sinne etwas bedeuten, daß ohne jede psychologische Motivierung das große Liebesduett der .Zauberflöte< nicht dem Liebespaar, sondern den Ungleichen, Pamina und Papageno, in den Mund gelegt ist: einer zur Liebe erwachenden Seele und einem sinnenfrohen Naturmenschen. Der Höhenflug der Haupthandlung wird an die Natur zurückgewiesen. Doch aufbeiden Ebenen läßt sich das Hohe Lied vernehmen: .. Mann und Weib und Weib und Mann/Reichen an die Gottheit an.«
9. Das Türmerlied in Goethes >Faust< (1982)
Die Generation, der ich selber angehöre und die mit dem Zusammenbruch des Wilhelminischen Kaiserreiches die Kinderschuhe auszog, stand nicht im Zeichen Goethes. Der wohltemperierte Bildungsstolz des Besitzbürgerturns, das Goethe im zweiten Kaiserreich auf den Schild gehoben hatte, war einem Krisenbewußtsein gewichen, das neuen Maßlosigkeiten zustrebte und sich in der gepreßten Inständigkeit des späten Hölderlin, der damals erst eigentlich zu sprechen begann, weit eher wiedererkannte als in der Gelassenheit des Olympiers. Das mag an ein paar bezeichnenden Anekdoten verdeutlicht werden. Von Heidegger, der damals durch das revolutionäre Pathos seiner Denkenergie in seinen Bann zog, wurde berichtet, daß er eines Tages in der Vorlesung ein Hölderlin-Gedicht vorlas und am Schluß sagte: »Das ist doch ein Gedicht! Etwas anderes als das Reimgeklingel des alten Goethe.« (Später hat auch er anders gesprochen.) Es mag in der gleichen Zeit, um 1930, als wir alle in Hölderlin, George, Trakl lebten, gewesen sein, daß mir Bultmann, der Marburger Theologe, einmal sagen mußte: »Wenn Sie erst älter sind, werden Sie eines Tages Goethe entdecken.« Und so war es. Das Dritte Reich kam dem zu Hilfe. Die Leichtigkeit und Natürlichkeit der Goetheschen Sprache gewann, angesichts des Gebrülls der Bewegung, eine neue, stille Macht. übrigens war sogar die Goethe-Gesellschaft nicht einmal richtig gleichgeschaltet. So sollte Bultmann auch für mich mehr und mehr recht bekommen.
Rückkehr In Wahrheit war es eine Rückkehr, ein Wiederfinden. Ich war wohl gerade 18 Jahre und kaum aus den Entwicklungsjahren heraus - man schrieb das Jahr 1918. Mit Goethe war ich bereits durch die Schule bekannt gemacht worden, auch mit seinem >Faust<, wesentlich im Stile des Spätklassizismus unserer Schulkultur, als ich eines Tages - es war in Breslau - den großen Reinhardt-Schauspieler Alexander Moissi ein mir wohlbekanntes Gedicht
Das Türrnerlied 'in Goethes .Faust,
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vortragen hörte, und ich war wie verzaubert. Es war das Türmerlied aus Goethes .Fauste 11. Teil, das die dramatischen Schlußszenen mit der Philemon-und-Baucis-Tragödie einleitet: Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt, Dem Turme geschworen, gefallt mir die Welt. Ich blick' in die Feme, ich seh' in der Näh' Den Mond und die Sterne, den Wald und das Reh. So seh' ich in allen die ewige Zier Und wie mir's gefallen, gefall' ich auch mir. [hr glücklichen Augen, was je ihr gesehn, Es sei wie es wolle, es war doch so schön! Ich bin einigermaßen ratlos, wie man diese Verse heute lesen soll. Pathos ist im Zeitalter technologischer Unterkühlung nicht mehr am Platze, und Verse sind es überhaupt auch nicht mehr. Aber selbst damals hatte der vom zeitgenössischen Naturalismus und von der allgemeinen Psychologisierung beherrschte Theaterstil die Verskunst und ihren Vortrag bis zur Unkenntlichkeit zersetzt - und da kam Moissi und )sange dies Türmerlied so, daß die Süße dieses Melos einen ganz gefangennahm. Nun soll esja wirklich ein Lied sein, und niemand, der diesen Eingang der dramatischen Szenen im 5. Akt von .Faust He liest, kann sich darüber täuschen. Die Weise, wie der Türmer Lynkeus plötzlich die Feuersbrunst gewahrt, die das idyllische Glück der beiden Alten Philemon und Baueis zerstören wird, und wie er in jagenden Versen das schreckliche Geschehen schildert, geben dem Lied selber einen einzigartigen Nachklang, den Ton eines unwiederbringlichen Verlustes, eines unwiderruflich gestörten Friedens - und doch bleiben diese Verse zugleich eine überwältigende und gültige Preisung des Glücks des Schauens und der Schönheit der Welt. Es sind Verse, die nie ganz verklingen. Wie können Verse so zaubern? So sein und so zeigen, so sagen und so verneinen? So singen? "Gesang ist Dasein.« Aber wie ist dieser Gesang da? Allein durch das Wort. Diese Verse als einen Text lesen, zu dem es eine Melodie gibt oder verschiedene mögliche Vertonungen, ist schon ein Mißverständnis. Sie sind bereits Ton. sind selber Gesang. und das war es. was mein unerfahrenes Ohr an Alexander Moissis Vortrag derselben erfaßte. Da bleibt keine Wahl möglicher Vertonung oder Betonung - es ist. als ob die Sprache von sich aus sänge. nach ihrer eignen Melodie. Nun sprechen wir von Sprachmelodie auch dort, wo die Sprache nicht singt. wo sie nicht liedhaft ist. und so fragt man sich. welche besonderen Züge die Sprache des Liedes auszeichnen, das nicht einen Liedtext darstellt, sondern selber schon Lied ist. Es ist nicht nur das Gewebe aus Klang und Sinn als solches, nicht Metrum und Reim und Binnenlautung, die auch sonst
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Das Türmeclied in Goethes .Faust.
die lyrische Grammatik gegenüber der logischen Grammatik auszeichnen. Das ist zwar alles da, überall, wo es sich um Vers und Dichtung handelt aber wie wird es zum Liede? Und gar zu einem Liede, das das schon ist, auch wenn kein Tonsetzer sich daran versucht? Es gibt ja genug Goethesche Gedichte, die Liedform haben und obendrein Liedtext geworden sind: )Gretchen am Spinnrad< zum Beispiel oder .Sah ein Knab' ein Röslein stehn<. Die Vertonung Goethescher Lieder und Gedichte ist ohnehin ein merkwürdiges Kapitel, wenn man bedenkt, daß Schuberts Vertonungen, die die ganze Welt als unsterbliche Meisterwerke bewundert, von Goethe selbst etwa den Zelterschen und Reichardtschen Vertonungen nachgesetzt wurden. Und gewiß hat Georgiades, der unvergessene Münchner Musikhistoriker, recht, wenn er in seinem Schubert-Buch1 sagt, daß gerade Schuberts Liedkompositionen eine Art besonderer Unterordnung unter die dichterische Sprache zeigen, die seine Vertonungen auszeichnet und etwa· von denen Beethovens unterscheidet. Trotzdem ist die Umsetzung der Sprache in Musik, ihren Rhythmus, ihre Intervallgesetze, die ihr wesenhaft zugehörige Möglichkeit der Polyphonie, immer etwas anderes als das Klingen des Liedgedichts in seiner eigenen Melodie.
Lied aus Sprache Auch das Türmerlied ist ein Lied aus Sprache und nicht aus Tönen, liedhafte Sprachbewegung und kein Singen. In dem Theaterstück - der Faust-Tragödie - ist es ja selbst ein gespieltes Singen, das Gespieltsein eines Singenden mit seinem Gesang. Als Moissi diese Verse )sang<, war er freilich nicht auf der Bühne, sondern auf dem Podium, und so war es nur der Gesang, was da erklang. Aber so lesen wir ja auch heute noch das Gedicht als den Text ebenso wie der Schauspieler Moissi den Text, auch wenn er fast sang, doch sprach. Das aber heißt, er gehorchte den Worten des Textes, wie wir alle tun, wenn wir die Worte hören. Auch wir horchen auf sie, wie sie von selber erklingen. Der wirklich Singende spricht überhaupt nicht, sondern ftihrt den ihm vorgegebenen, vielleicht sogar im Notentext fixierten Gesang zum Erklingen. Was tut der, der ein Lied spricht, das heißt liest und sich selber vorspricht oder vor anderen vorträgt? Woraufhorcht er? Wem gehorcht er? Gewiß dem Metrum, gewiß auch den Reimen. Beides sind gleichsam die Taktschläge dieser Musik der Worte. Aber die Worte selbst, ihr Ineinander von Bedeutung und Klang, die Sprache selbst, ihr Ineinander von SinnAussage und Klangmelodie - wie füllen sie diese Takte? Was ist die Kunst, die unerlembare Harmonielehre, die den Dichter macht? Nun, auch hier sind Intervalle - nicht nur in der wirklichen Musik - freilich, sie sind nicht 1 THRASYBOULOS G. GEORGJAD2S,
Schuben: Musik und Lyrik. Göttingen 21979.
Das Türmcrlicd·in Goclhcs .FausI'
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kalkulierbar. Es sind Intervalle - und solche von fühl barer Genauigkeit: vom Sehen zum Schauen, von der Naturhaftigkeit des Geborenen zum bestellten Beruf, von der Strenge der Pflicht, die den Türmer an den einsamen Platz auf dem Turme bindet, zur Freude am Ganzen der Welt. Das sind Tonschritte, Denkschritte, Tanzschritte des Seins, die einen einzigen Einklang bilden. Das Bauprinzip ist auch weiterhin das der Polarität - zwischen Ferne und Nähe, zwischen den Gestirnen und dem nächsten Umblick, zwischen der immer nahen, schweigenden Schattenwand des Waldes und dem seltenen Anblick friedlich äsenden Wildes, das aus ihm hervortrat - ein Ganzes von Sein, das auch in der Stimmftihrung der Wortklänge das Weite und die Nähe wie in einer Kantilene vereinigt. Wie »Ferne« und »Sterne« ins Unbestimmte der Weite verklingen, wie »Näh'« und •• Reh« das fast schreckhafte Jetzt eines s9lchen flüchtigen Anblicks Klang werden lassen - und dann folgt wie ein großer choralartiger Abgesang die gedankliche Anwendung, die wie in einem Sinnspruch endet: •• Es sei wie es wolle, es war doch so schön!« Die »ewige Zier« läßt unmittelbar die protestantische Choralsprache anklingen. Man wird wie Gerhart Hauptmanns Hannele •• die Zinnen der ewigen Stadt« mithören. Das Ganze nimmt damit eine Wendung in die Allgemeinheit einer Reflexion, die die beiden Schlußstrophen ausfüllt. Dazu stimmt, daß in die ruhige Symmetrie dieses Metrums eine leichte, immer wieder auf den Leser überspringende Unruhe kommt. Der Sinn-Akzent folgt nicht mehr völlig der metrischen Vorzeichnung. Denn wie man es auch wenden mag, der Gedanke ist doch der, daß, indem die Dinge mir gefallen, ich mir selber gefalle. Es ist ein echt Goethescher Gedanke einer fast heidni·schen Selbstbejahung und Selbstversöhnung - aber gewiß gegen das Metrum: »Wie mir's gefallen, gefall' ich auch mir.« Weder das •• und wie mir's gefallen« noch das »gefall' ich« tragen den Ton, sondern das »mir« in .. wie mir's gefallen« und das »ich« in •• gefall' ich auch mir«. Gewiß, es ist keine harte Zumutung. Irgendwie hält sich das Metrum im Hintergrunde durch, aber die gedankliche Umkehr, die man Reflexion nennt, bildet sich in dieser Verschiebung des Bedeutungstones auf die Worte »mir« und .. ich« unüberhörbar ab. Nimmt die Schlußstrophe wieder alles ins Schwebende des Gesangestextes zurück? Es scheint fast so, wenn man das wunderbare Ansteigen der Kantilene aufnimmt: »Ihr glücklichen Augen, was je ihr gese/zn, es sei wie es wolle -«. Hier sind die metrischen Vorzeichnungen mit der Sinnbewegung in vollem Einklang und tönen im Ohre so nach. Aber zum Schluß meldet sich erneut das Hin und Her des Gedankens. Denn da heißt es nicht nur, daß am Ende, im Rückblick auf alles, waS war, es schön war. Diesem IIwar« , diesem Wort •• war«, das dem Metrum wie seiner syntaktischen Funktion gewiß seinen starken Ton verdankt. folgt vielmehr ein .. doch«: es war doch so schön! Ein Wort, das alles Gegen-Schöne anklingen läßt, bevor der
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Das Türmerlied in Goethes ,Faust.
Sänger sich nach diesem »doch« und mit diesem »doch« zu seiner eigenen Bejahung - wie in einem Schwur - bekennt. Es ist ein gewiß recht leichter Gegenakzent, der die freudige Dauerhaftigkeit des »war« nur ganz leise zu beunruhigen vermag. Der Ausgleich ist am Ende erreicht, das »Ja« scheint unbedingt und siegreich. Unbedingt? Siegreich? Die dramatisch-tragische Zerstörung dieses Ja und dieses Friedens bricht mit grausiger Deutlichkeit herein und läßt - am Ende der ganzen Faust-Tragödie - nur einem Erblindeten seine Illusionen. Wenn er dem Klirren der Spaten lauscht, die sein Grab ausheben - was er für Deicharbeit hält, die neues Land gewinnen soll-, träumt er davon, »auf freiem Grund ein freies Volk« zu sehen. Mit der Selbsterlösung scheint es am Ende nicht zum besten zu stehen. Ganze Chöre müssen aufgeboten werden, um den seligen Büßer zu empfangen und zu geleiten.
Am Ende Wissen wir es nun? Steht am Ende fromme Ergebung oder umgekehrt der Sieg eines unerschütterlichen Glaubens an die Versöhnungskraft des Geistes, an die Selbstversöhnung? Oder soll man gar verstehen, daß auch ein blindes, bis zur Verblendung unwirkliches Bemühen immer Erlösung verdient, insbesondere, wenn es sich der Selbstlosigkeit einer sozialen Tätigkeit rühmen kann? Wissen wir es? Nein, wir wissen es nicht. Das Rätsel, das Goethe sich und uns mit seinem )Faust< aufgab, ist nicht so einfach zu lösen. Am Ende lassen uns aber auch die Verse des Türmerliedes nicht ganz ohne Antwort. Dies »Ja« zu allem und dieses »Doch« sind vielleicht nicht die ganze Wahrheit, aber ohne sie ist auch anderes nicht seiner eigenen Wahrheit fähig. Es ist wahrlich kein Ratschlag, was hier gegeben wird, den ja doch keiner zu befolgen wüßte. Für wen gilt es nicht, daß er an seinen Platz gestellt ist und daß er sich und alles, das Ganze, das da ist und das da geschieht, annehmen muß - wie dieser Türmer? Wenn dessen Lobgesang auf das Dasein erschallt, heißt das gewiß nicht, daß er noch nie zuvor Zeuge von Schlimmem, von »greulichem Entsetzen«, geworden war. Und auf der anderen Seite bleibt zu bemerken: Auch nachdem er Zeuge der Katastrophe geworden ist, drängt selbst dieser Jammer ins Lied. Auch da wird ausgesprochen, was immer geschieht. Der Türmer singt es (wie es ausdrücklich heißt): Was sich sonst dem Blick empfohlen, Mit Jahrhunderten ist hin.
Das Tünnerlied in Goethes .Fauste
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Dies »Jammerlied« - wie Faust es nennt - ist so wahr wie das, was des Türmers Lobgesang pries. Und so lernen wir: Im Liede erklingt. was ist. Da gilt kein Widerruf. Und so mag des Lebens Erzklang Durch die Seele dröhnen! Fühlt der Dichter sich das Herz bang, Wird sich selbst versöhnen.
Im Jahre 1947 hielt KarlJaspers eine. von moralischer Radikalität getragene, sehr kritische Goethe-Rede. Er folgte damit der vehementen, aus selbstquälerischer Gewissensprüfung erwachsenen Kritik des dänischen Denkers Sören Kierkegaard, der Hegel und überhaupt den Idealismus der Goethezeit vom christlichen Standpunkt aus angriff und der in unserem Jahrhundert in Gestalt der ,Existenzphilosophie< Epoche gemacht hat. Auchjaspers, einer der Repräsentanten dieser ,Existenzphilosophie<, sah in Goethes 'Selbstversöhnung< einen Mangel an existentieller Entschiedenheit. Ihm trat der große Humanist Ernst Robert Curtius öffentlich mit erbitterten Worten entgegen und warnte vor der Selbstgerechtigkeit, in die die Gebärde moralischen Richtertums so leicht umschlägt. Wer hatte recht? Für mich bildete sich an diesem Konflikt etwas von dem Rätsel ab, das Dichtung ist: wahr zu sein über alle Einrede hinaus, und doch nichts zu sein, auf das man sich berufen darf.
10. Die Natürlichkeit von Goethes Sprache Ein Kongreßbeitrag (1985)
Für uns alle gibt es einen Zugang zu Goethe, den wir nicht zu wählen haben, sondern der alle unsere Begegnung mit ihm schon vorbestimmt. Wir haben uns desselben nur bewußt zu werden. Er beruht darauf, daß· die Gestalt und das Werk Goethes im Laufe der Jahrzehnte und nun bald Jahrhunderte seit seinem Tod eine Prägung gewonnen haben, die ihrerseits Maßstäbe gesetzt hat. Da müssen wir uns als erstes klarmachen, daß wir heute, im Jahre 1982, ebensogut eine Jahrhundertfeier feiern könnten. Denn es war erst das Jahr 1882, das die dauerhaft bestimmende Wirkung Goethes eröffilete. Die politische Entwicklung Deutschlands, wie die politische Entwicklung der anderen Staaten Europas, führte ,vom Weltbürgertum zum Nationalstaat(, um mit Friedrich Meinecke zu reden. Das hob Schiller heraus, war aber dem Weltbürger (boethe zunächst gar nicht günstig. Die letzten 15 Jahre seines Lebens war Goethe zwar eine europäische Berühmtheit, jedoch alles andere als ein deutscher Nationalhe1d. Sein Verhältnis zu seinen lieben Deutschen war, wie man weiß, recht gespannt. Bezeichnend ist auch, daß der' Westöstliche Divan(, eines der Meisterwerke deutscher lyrischer Poesie, imJahre 1882 in erster Auflage noch nicht ausverkauft war. Erst damals, nachdem die Gründung des Deutschen Reiches im kleindeutschen Sinne gelungen war und sich konsolidiert hatte, trat die Bildungsfigur Goethe überhaupt ins allgemeine Bewußtsein. Es war die Wiederaufuahme des Weimarer Erbes durch die ganze junge Nation. Die große Goethe-Ausgabe, die sogenannte Sophienausgabe, die damals begonnen wurde, gab der steigenden Entfaltung des Goetheschen Ruhmes im deutschen Kulturleben und in der Weltkultur großen Auftrieb. Gleichwohl war auch in unserem Jahrhundert Goethes Werk und Goethes Persönlichkeit durchaus nicht unbestritten. So ist es nicht ohne Inten:sse, daß sich die Frankfurter Universität erst seit 1932 'Goethe-Universität( nennt. So wurde 1932 auch der Goethe-Preis gestiftet, dessen erster Preisträger der Dichter Stefan George wurdel. Die politische Konstellation war I
Zu den Hintergründen der Verleihung des Goethe-Preises an Stefan George siehe
Die Natürlichkeit von Goethes Sprache
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klar: Der Dichter Stefan George verkörperte damals das Empfinden der Edelkonservativen, die der Weimarer Republik, ihren Fragwürdigkeiten und politischen Schwächen, mit Skepsis und Ablehnung gegenüberstanden und die später mit ihrer Sympathie für das nationale Erbe in schrecklicher Weise durch die Revolution des Nihilismus überrannt wurden. Stauffenberg gehörte dem Kreise um George an und hat die gewaltige Täuschung der Männer, die damals von einer Revolution von rechts träumten, mit seinem Leben besiegelt. Daß nach 1933 Goethes Erbe von der nun zur Ohnmacht verurteilten bürgerlichen Intelligenz allein getragen wurde, versteht sich von selbst. Als wir 1949 hier in Frankfurt, wo ich als Professor tätig war, den ersten Schritt zu einer Wiederaufnahme internationaler Beziehungen versuchten, haben wir das Goethe-Jubiläum dieses Jahres dazu benutzt und .Goethe und die Wissenschaft( als Thema gewählt. Das Thema •Wissenschaft( erlaubte eine über die Sprachschranken hinweghebende Form der leichteren Wiederanknüpfung an die internationale Kultur. Wir hoben damit die morphologische Tendenz, die in den Naturwissenschaften selbst ihre Bedeutung besitzt, hervor und brachten Goethe als einen ihrer großen Pioniere zur Geltung. Die Wirkungsgeschichte Goethes ist immer eine Art Dokumentation der jeweiligen Gegenwart, und so war es nicht zufällig, wie mir scheint, daß der erste Vortrag des diesjährigen Kongresses - also wiederum 1982 - dem Thema .Goethe und die Aufklärung( gewidmet war, injenem weiten Sinne, den Herr Vierhaus uns gestern geschildert hat. Wiederum machte das eine Grundströmung im eigenen gesellschaftlichen Bewußtsein unserer Tage namhaft. Sie läßt sich vielleicht in der Erkenntnis zusammenfassen: Die Epoche der "deutschen Bewegung« (Dilthey), in der von Goethe, von dem deutschen Idealismus und von der Romantik aus die besondere Gestalt der deutschen Geistesgeschichte ihr Gepräge erfuhr, war, wie Ernst Troeltsch einmal gesagt hat, im großen Geschehen der neuzeitlichen Aufklärung letzten Endes nur eine .Episode(. Wenn ich für heute das Thema .Die Natürlichkeit von Goethes Sprache( in Vorschlag brachte - gewiß nicht als ein Philologe, der ich auf diesem Gebiete nie gewesen bin, sondern als ein denkender Leser Goethes -, so glaube ich damit eine andere, wie ich meine, auch wirksame Grundströmung unseres gegenwärtigen gesellschaftlichen Bewußtseins ins Licht zu rücken. Das Globale der Aufklärung, in der wir heute stehen, weckt neue Rückwirkungen - es ist nicht mehr die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die gegen den Druck der Kirchen und der Höfe gerichtet war, die uns heute bewegt. - Die jetzt ERW1N WALTER PALM, Spuren in Frankfurt. In: H.-J. ZIMMERMANN (Hrsg.), Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium. Heidelberg 1985 (Supplemente zu den Sitzungsberichten der Heidelb. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Klasse, Jg. 1984. BelA), S. 73-76.
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Die Natiirlichkeit von Goethcs Sprache
Aufklärung ist in dieser Richtung durchgedrungen. Heute ist es eine neue Welle der Aufklärung, deren technische Auswirkung die Umgestaltung unseres Planeten zu einer gesellschaftlichen Fabrik betreibt und die Grenzen dieses Unternehmens bedrohlich sichtbar werden Ilßt. Was kann ihr Goethe bedeuten? Wenn wir heute die Buchhändler fragen: Sie sind von der Nachfrage nach Goethes Werken völlig überrannt, obwohl eine Fülle von Ausgaben zu diesem Anlaß auf den Markt gekommen sind. Nun wird der Markt gewiß manipuliert, das wissen wir; wir Autoren machen uns da nicht allzu viele Illusionen. Aber selbst um Geschäfte zu machen, muß man Grundtendenzen des gesellschaftlichen Lebens richtig voraussehen. Und so scheint es mir etwas zu bedeuten, daß Goethe heute, offenbar vor allem von einer jüngeren Generation, wieder gesucht wird. Warum? Das ist gewiß, wie alles gesellschaftliche Geschehen solcher Art, ein komplexer Vorgang. Aber eine der Ursachen desselben ist, glaube ich, daß viele dieses Beinahe-Deutsch nicht mehr aushalten, das heute in so vielen Bereichen der Wissenschaft und des Journalismus gang und gäbe ist. Die natürliche Gelassenheit Goetheschen Sprechens hat aus solchem Kontrast heraus eine neue Einschlagskraft gewonnen. Für mich jedenfalls war es der Grund, mir heute die Frage zu stellen, auf die ich keine Antwort geben will, aber die ich in einigen Richtungen artikulieren möchte: Worauf beruht es, daß wir Goethes Sprache so ausgesprochen natürlich fmden? Um an diese Frage heranzukommen, müssen wir uns zunächst an den großen Wandel erinnern, der im Laufe der letztenjahrzehnte in der Einschätzung bestimmter Werte des Künstlichen und des Kunstvollen eingetreten ist. Denken wir zunächst an einen länger zurückliegenden Vorgang: an die Entdeckung des Barock. >Barock! - das war einmal ein Schimpfwort! So habe ich es noch in der Schule gelernt, und noch beim Studium der Literaturwissenschaft hieß es etwa von der schlesischen Barockpoesie, daß sie ein unerträglicher Schwulst sei. Heute ist sowohl der englische wie der schlesische dichterische Barock neben manchen anderen Formen der Barockkunst in hohem Ansehen, und selbst noch für die Goethe-Forschung ist der Barock zum führenden Forschungsthema geworden. Dasselbe lesen wir auf dem Antiquitätenmarkt ab: Bescheidene Beamte können sich bestenfalls noch in Biedermeier-Möbeln equipieren, aber nicht in BarockmäbeIn, die einfach nicht mehr bezahlbar sind! Das waren und sind Wandlungen im Geschmack und Stilempfinden, und solche Wandlungen spielen sich auch heute im gesellschaftlichen Verhalten ab und markieren neue, nicht nur poetische, sondern auch antipoetische Wendungen. Wie schnell ist etwa die ungeheure Wirkung Hölderlins verklungen! Gewiß, er bleibt eine führende dichterische Figur. Man kann ihn geradezu den großen Klassiker des 20. Jahrhunderts nennen. Denn erst durch das 20. Jahrhundert, erst durch die Hellingrath-Ausgabe, erst durch die Entzifferung der späten Hymnen ist Hölder-
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lin aus einer Randfigur zwischen Klassik und Romantik zu einem der großen Gestirnc unserer Literatur geworden2 • Trotzdem wird heute zweifellos Hölderlins Emphase - oder etwa dic Hcideggers oder Georges oder Rilkes nicht mehr so leicht akzeptiert. Ehcr schon kommen die leisen T6ne Hofmannsthals wieder an, eher schon entsprechen selbst gegenüber der kunstvollen Manieristik Thomas Manns die unmerklichen Biegungen Musilscher Prosa dem Zeitgeschmack, der sich heute ankündigt. Es ist etwas, was tiefer liegt, was sich hier vollzieht. Eine Art Abkehr von einer bestimmten Form von Künstlichkeit scheint sich anzubahnen, ein instinktiver Widerstand - es müssen nicht die Grünen sein, aber die Grünen sind ein Symptom. Sie deuten ein tieferes Empfinden rur die Engen und Verwicklungen an, aus denen herauszufinden unsere Lebensaufgabe und Oberlebensaufgabe sein wird. So möchte ich über die Natürlichkeit von Goethes Sprache ein paar Gedanken vortragen und ein paar Fragen formulieren. Natürlichkeit und Künstlichkeit: Ich darf mit einer sprachlichen Frage beginnen. Schon das Wort )Natürlichkeit( gibt zu denken. Wer hat eigentlich noch das rechte Ohr dafür, daß )Natur( ein lateinisches Wort ist? So natürlich ist uns das Wort geworden. Aber )Natürlichkeit( klingt verhältnismäßig spät; jedenfalls steht es im Gestirne Rousseaus, durch den zuerst )die Natur( als ein Gegenwort gegen den Rationalismus einer kahl gewordenen Aufklärung zu einem Wert- und Leitwort geworden ist. So war es nicht ohne Rousseaus Einfluß, daß auch die deutsche Entwicklung in der Epoche Goethes ihre neuen, dem Barock gegenüber neuartigen Wege ging. Wieder läßt sich an etwas erinnern, was im allgemeinen Bewußtsein ist. Ich meine die Abkehr vom französischen Gartenstil und die Wendung zum englischen Garten. Es ist die Entdeckung der Natur in der Kunst der Gartengestaltung, die sich in dieser Wendung abbildet. Damit haben wir uns der entscheidenden Figur genähert, die im Positiven wie im Negativen Goethes unvergleichliche Natürlichkeit der Sprache entbunden hat. Ich meine Herder und die Entdeckung des Volksliedes. Daß das plötzlich eine neue, große Wertfigur wurde, die Sangesweise der Völker, die )Stimmen der Völker in Liedern(, daß die Kunst dieser Natürlichkeit etwa der schottischen Ballade oder in all dem anderen sonst, was Herder zusammengetragen hat, für Goethe zu einer Art Vorbild und zungenlösender Begegnung wurde, hat etwas Einleuchtendes. Aber es ist gewiß nicht alles. Denn Herder selbst, dieser Entdecker der )Stimmen der Völker in Liedern., war im Grunde kein sanghafter, kein liedhafter Dichter überhaupt. Er war im Grunde überhaupt kein Dichter, wohl aber der größte Redner der deutschen Klassik - selbst noch im Vergleich zu Schiller, dessen dichterische 2
Vgl. dazu .Die Gegenwärtigkeit Hölderlinsc. in diesem Band. S.39«'
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Kraft dem Redner in ihm so viel verdankt. In Herder hat sich noch einmal, in einer geradezu elementaren Weise, die Rhetorik in ihrer ganzen Wucht und Weite, in dem Pathos der Kanzel und mit dem Atem eines sich im Unendlichen verströmenden Seelentums, vor uns ergossen. Das ist nun genau der Punkt, von dem aus wir die Natürlichkeit der Goetheschen Sprache umreißen können. In ihr scheint das Rhetorische bis zur Unmerklichkeit abgedämpft. Man muß nur neben einem Wiederlesen von Goethe ein paar Seiten Schiller lesen, um sich sofort dieser Besonderheit in der Dichtweise Goethes bewußt zu werden. Schiller hat es gewiß nicht ohne Seitenblick aufsich selbst in meisterhafter Begrifflichkeit als den Unterschied der naiven und sentimentalen Dichtung formuliert. Damit wollte Schiller selbstverständlich nicht eine platte Zuordnung Goethes zur naiven Dichtung vornehmen; gewiß meinte er im Blick auf Goethe eher die Möglichkeit einer Synthese des Naiven und Sentimentalen, die ihm selber verwehrt war.. Das ist in erster Annährung ein Hinweis auf die Natürlichkeit der Goetheschen Sprache. Ihre Auszeichnung ist, das Sangbare und das Sagbare in Reinheit darzustellen. Goethe hat sogar gelegentlich zu sagen gewagt: Schriftlichkeit ist immer schon eine Minderung von Wahrhaftigkeit. Ä.hnlich hat er, auch in späteren Jahren und gewiß durch den Blick auf Schiller sehr temperiert, von den »forcierten Talenten« gesprochen, die durch Nachdenken erzwingen wollen, was einem in Wahrheit nur aus einer gesteigerten Form der poetischen Imagination und der Leidenschaftlichkeit der Rede von selber zuströmen muß. Hier drängt sich die Frage auf, wie es eigentlich mit der Augusteischen Dichtung und Goethe steht, wie mit Horaz? Daß Goethe die Meisterschaft Horazens erkannt und ihn bewundert hat, ist kein Zweifel. Daß er die Anakreontik zu schätzen wußte, ist zumindest in der Jugendzeit sehr deutlich. Wir haben gestern ein Lied gehört, das aus seiner späteren Zeit das gleiche bezeugt. Trotzdem scheint mir in allen Reflexionen Goethes eine eingehendere Würdigung von Horaz eigentlich zu fehlen, und ich meine, das ist sehr zu verstehen. Wer Horaz liest, der muß sich - wie soll ich das nennenin einer Art von höchster literarischer Puzzlekunst einüben. Die Ordnung der Worte im Horazischen Vers ist von einer so bewußten und eleganten Künstlichkeit, daß es bei aller Unmittelbarkeit Horazischer Sprachgewalt und bei aller Magie der sprachlichen Melodik immer eine Ordnung von kunstvollen Kontraposten ist, in denen sich die ,Rede< eines Horazischen Gedichtes zum Gedicht gestaltet. Mir scheint das Liedhafte, das Sanghafte, das Goethes Gedicht auszeichnet, von diesem Ideal der Horazischen Dichtung sehr weit entfernt. Das soll nicht etwa dem einen vor dem anderen den Vorzug geben, aber es macht ein anderes Kunst-Ideal sichtbar: das Kunstvolle, das etwa im Zeitalter des Naturalismus einen Stefan George in Horaz ein großes Vorbild sehen ließ - es war eine ähnliche Goldschmiedehandwerkskunst, die er in der Formung seiner dichterischen Verse bewies.
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Um die Natürlichkeit von Goethes Sprache zu verstehen, hilft es, sich der begrifflichen Hintergründe zu versichern, die im Wort >Natur' anklingen. Die Konturen eines Begriffs zeichnen sich an seinen Gegenbegriffen ab. Denn Begreifen ist Unterscheiden. So drängen sich mir Natürlichkeit und Natur in zwei Gegensätzen auf, die hier bei Goethe dem Begriff der Natur seinen Kontur geben: >Natur und Kunst, und >Natur und, - kann man es überhaupt auf deutsch sagen? - >Geschichte< oder >Gesellschaft< oder gar >Geist,? Ich will lieber die Karten aufdecken und griechisch reden: Dann heißt es >Physis, und >Techne< (für Natur und Kunst); >Physis, und >Ethose (für Natur und Gesellschaft). Beide Komponenten können uns etwas tiefer in das Begreifen der Kunst der Natürlichkeit hineinführen, die das Goethesche Werk und Wesen auszeichnet, und zwar nicht nur das Gedicht, auch seine Prosa. Ich nannte nicht umsonst neben dem Sangbaren das Sagbare. Gerade auch an den Erzähler Goethe sollten wir in diesem Zusammenhang denken - und an sein geselliges Talent, das von seinen Jugendtagen an seine Zeitgenossen faszinierte. Die Unterscheidung von Natur und Kunst spielt gewiß hier die wichtigste Rolle. Goethe selbst hat zwar, insbesondere nachdem er durch Schiller in eine gewisse Begriffssprache eingewöhnt worden war, die von der Kantisch-Fichteschen Philosophie ausging, gelegentlich über das Verhältnis VOn Natur und Kunst reflektiert, aber das ist meistens in späteren Jahren. Dagegen gibt es ein Zeugnis für die ursprüngliche Form, in der Goethe seine elementare Sangfähigkeit zu formulieren suchte, das aus früherer Zeit stammt: Kad Philipp Moritzens >Bildende Nachahmung des Schönen'. Goethe hat ja daraus einen wesentlichen Auszug in seine ,Italienische Reise, aufgenommen und ausdrücklich bestätigt, daß es in der Tat auch seine Gedanken gewesen seien. Was ist der Grundgedanke, von dem aus sich hier das Verhältnis von Natur und Kunst darstellt? Wovon spricht die >Bildende Nachahmung des Schönen,? Offenbar vom schaffenwollenden Bildungstrieb. Dieser damals viel gebrauchte Ausdruck stammt aus der Naturkunde. Von hier aus soll er für Karl Philipp Moritz und Goethe zum Ausdruck bringen, wie ein Gefühl der tätigen Kraft, die das Kunstwerk hervorbringt, das eigentliche Wesen des Schönen ausmacht. Das ist bei Karl Philipp Moritz ganz deutlich; da heißt es geradezu, daß »das Werk, als schon vollendet, durch alle Grade seines allmählichen Werdens, in dunkler Ahndung, auf einmal vor die Seele tritt, und in diesem Moment der ersten Erzeugung gleichsam vor seinem wirklichen Dasein da ist; [... ] das Schöne hat daher seinen höchsten Zweck in seiner Entstehung, in seinem Werden schon erreicht: unser Nachgenuß desselben ist nur eine Folge seines Daseins«. Daß das Werk keine erstarrte Form ist, sondern die Formwerdung des Augenblicks und gestalterischen Entwurfs selber, das hat offenbar dem jungen Goethe durchaus als eine angemessene Form seiner eigenen dichterischen
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Erfahrung eingeleuchtet. Selbstverständlich steht die anhebende Genie-Asthetik dahinter, und Kant hat später das Verhältnis von Natur und Kunst in der .Kritik der Urteilskraft( als das Verhältnis zwischen dem Naturschönen und der Kunst des Genies formuliert. Gerade diese dritte )Kritik< Kants hat Goethe besonders überzeugt3 • Das Genie erscheint da als der »Günstling der Natuf«, dem es gegeben ist, ohne Regeln und ohne Muster zu haben, Regelgebendes und Musterhaftes zu gestalten. Die Kantische Wendung vom »Günstling der Natur« ist nun in gewissem Umfange in den Gedanken von Karl Philipp Moritz schon enthalten. Das schaffende Genie - der Ausdruck fällt auch hier in diesem Zusammenhang - ist von der Art, daß eigentlich nur die schöpferische Neubildung von Sprache das Eigentliche der Dichtkunst darstellt: »Natur, in eine höhere Existenz gehoben«. Der Leser ist gleichsam vor das Vorbild des Schaffenden gestellt. Seine Emp6ndungsfähigkeit - so nennt es Karl Philipp Moritz - muß der Gestaltungsfähigkeit so nahekommen (und das ist eine tiefe Einsicht), daß ein Gedicht erst eigentlich da ist, wenn man es - wie wir so schön sagen - in- und auswendig kennt, oder - um Goethe zu zitieren - daß man »in dem Kunstwerk wohnen, es wiederholt anschauen und sich selbst dadurch eine höhere Existenz geben müsse«. Darin liegt, daß die Zeitlichkeit des dichterischen Sagens trotz ihrem Charakter der Sukzessivität, den wir aus den bekannten LaokoonProblemen Lessings kennen, trotzdem zu etwas wie einer Simultaneität, einer wahren Präsenz geworden ist - so wie etwa eine Tanz6gur sich im Nacheinander zur Präsenz ihrer Figur erst artikuliert. In der späten Reflexion, aus der ich eben zitierte, wird es geradezu als eine Einrede formuliert, die abgewiesen werden muß, daß der Künstler danach streben sollte, daß sein Werk eigentlich als ein Naturwerk erscheine. Gewiß wirkt es wie Natur, aber weil es übernatürlich, nicht außernatürlich ist und in eine höhere Existenz hineinweist. So ist das Verhältnis von Kunst und Natur für Goethe zweifellos ambivalent: Die Natürlichkeit der Kunst bleibt ein höchster Wertbegriff, aber gerade für die Kunst in der Kunst. Wir werden sehen, wie sich das in dem Kunstvollen der Goetheschen Sprache und in der Natürlichkeit seines künstlerischen Reichtums niederschlägt. Aber um das zu können, müssen wir vorher die zweite Bedeutungswendung im Begriff der Natur und des Natürlichen genauer entfalten. Dort nämlich liegt, wie ich meine, das eigentliche Zentrum von Goethes N atürlichkeit. Um es mit einem Goetheschen Ausdruck zu sagen, es geht um das Verhältnis von Natur und )Geselligkeit<. Die Sprache Goethes ist eine gesellige Sprache. Auch an diese Tatsache lassen sich einige Fragen knüpfen. Es gibt ein besonders schönes Zeugnis beim späten Goethe, und wir werden noch darüber zu reflektieren haben, warum es gerade der späte 3
Siehe dazu .Goethe und die Philosophie<. in diesem Band. S. 61 ff.
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Goethe ist, der alle diese Dinge formuliert hat. Er verteidigt einmal- wie er sie nennt - die »demütigen Phrasen". Er will damit sagen: Es gehört zur geselligen Tugend, daß man den Leuten die Worte nicht grob an den Kopf wirft, sondern etwa Ausdrücke wie »gewissermaßen" (das ist sein eigenes Beispiel) gebraucht. Das sind Ausdrücke, welche eine Moderation geselliger Art in den Ausdruck der eigenen Meinung bringen und das Rechthaberische und Dogmatische des Behauptens mildem. Hier scheint mir auch ein Zentrum Goethescher Dichtweise berührt. Ebenso fmden wir ihn als Menschen geschildert. Seine seltene Feinfühligkeit für die Empfindung des gegenwärtig Anderen half ihm , die Leute zu bezaubern; seine Art beruhte nicht zuletzt darauf, daß er stets auf die gesellige Situation reagierte, in der er sprach. Wir haben auch Berichte, daß er als junger Mann, wenn er in guter Laune war. im Augenblick ein ganzes neues Drama vorspielen konnte. das nie geschrieben wurde. und daß das einen hinreißenden Eindruck auf alle machte. Selbst seine dichterische Begabung hatte also ihre gesellige Seite. Begriffsgeschichtlieh gedacht steht hinter dieser geselligen Komponente von Sprache und Rede das Verhältnis von >Physis< und >Ethos< - Natur und Sitte. Es ist die Auszeichnung des Menschen. daß er sich nicht wie die Naturwesen sonst in bestimmten formativen Zwängen zu seiner Entelechie. zu seiner Gestalt bildet. sondern daß er sich selber bilden muß. Er hat, um mit Aristoteles zu reden, >Prohairesis<. d. h .• daß er dies jenem vorzieht und sein Lebtag eine lange Reihe solcher Vorzugsakte vollbringt, die ja ebensosehr Zurücksetzungsakte sind (denn kein Vorzugsakt ist ohne eine Zurücksetzung, kein Gewinn ist ohne Verlust). Aber eben dadurch bildet sich der Mensch zu dem, was er ist. Das nannten die Griechen sein >Ethos<. diese aus übung und Gewöhnung aufgebaute zweite Natur. die nicht mit der drohenden Gebärde eines nie erfüllbaren Sollens. sondern mit der Selbstverständlichkeit eines Habitus sich am Menschen ausprägt. die das ausmacht, was er so an sich hat und was sein Charakter ist. Der Gegensatz. um den es hier geht. ist zuerst in der aristotelischen Ethik als das Verhältnis von >Physis< und >Ethos< formuliert worden. Er scheint mir der Begriffshintergrund für die Möglichkeit und Auszeichnung des Menschen. daß er sich kraft seiner Natürlichkeit gerade zur geselligen Lebensform. zur Kunst der Geselligkeit und zur kunstvollen Gestaltung von Sprache. ja sogar bis zur Dichtung zu erheben weiß. und eben darin so etwas wie eine gesteigerte Natürlichkeit zu gewinnen vermag. Wie ist dies allgemeine Verhältnis in Goethes Sprache gespiegelt? Ich möchte versuchen, ein paar Fragen zu stellen. an deren Beantwortung durch Kundige wirklich etwas zu lernen wäre. Die eine ist: Welche Rolle spielt die Muttersprache und. im besonderen. welche Rolle spielt die mundartliche Sonderheit der Muttersprache bei Goethe. also der Frankfurter Dialekt? Man hört ihn ganz gewaltig. »0 neiche. Du Schmerzensreiche" ist ein berühmtes Beispiel. Es gibt Äußerungen von Goethe, nicht so sehr über
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den Dialekt, aber einiges über die Muttersprache. Es begegnet im Zusammenhang von Bemerkungen über die Bedeutung des Lernens fremder Sprachen. Da sagt er VOn der Muttersprache, daß für sie nichts anderes als Poesie und leidenschaftliche Rede das Element sind. Hier drängt sich eine andere Frage auf, die Frage nach der Bedeutung des Französischen für Goethe. Daß das Latein für die gesamte Ausgestaltung einer hochdifferenzierten Literatursprache eine besondere Aufgabe der neueren Jahrhunderte war, ist ja allbekannt. So gäbe es gewiß nicht eine deutsche Philosophensprache von wirklich zureichender Ausdrucksfähigkeit ohne Kant. Aber das Latein stellt - bei allen Einflüssen, die es auf die Ausgestaltung der Semantik und Syntax der deutschen Literatursprache ausgeübt hat - für Goethe schon mehr eine allgemeine Voraussetzung der sprachlichen Möglichkeiten des Deutschen dar. Dagegen spielte das Französische im damaligen 18. Jahrhundert in der gebildeten Oberschicht eine besondere und beherrschende Rolle. Man denke nur an Friedrich den Großen. So hat Goethe selbst, vor allem durch seine Straßburger Jahre, in denen er so entscheidende Einflüsse und Formungen erfuhr, eine hervorragende Beherrschung der französischen Sprache erworben. Damit stellt sich die Frage, ob nicht an der Natürlichkeit und Geselligkeit der Goetheschen Dichtersprache und Sprachhaltung überhaupt die starke Gesellschaftlichkeit eine Rolle gespielt hat, die der französischen Sprache nachgesagt werden darf. Wir empfinden dieses gesellschaftliche Element am Französischen immer und besonders, wenn wir etwa französische übersetzungen griechischer oder lateinischer, deutscher oder gar spanischer Texte lesen. Da ist plötzlich alles umstilisiert in eine Art von gesellschaftlichem Zeremoniell. Ich frage mich, ob nicht das auffällige gesellschaftliche Timbre von Goethes Natürlichkeit, das in seinen späteren Jahren geradezu etwas Zeremonielles zeigt, den Einfluß der französischen Sprache verrät. Aber wichtiger ist die zuerst gestellte Frage, die Frage des Dialekts. Ist nicht auch der Frankfurter Dialekt, den Goethe im Alltag durchaus zu sprechen liebte, von besonderer Qualität, und hat er in dieser Richtung auf Goethes dichterische Ausdrucksxahigkeit gewirkt? Das schließt natürlich die allgemeine Frage des Verhältnisses von Dialekt und Dichtersprache ein, wie sie sich überall stellt. Wenn auch die Dialektsprachen im Vergleich zu der entwickelten Literatursprache an Beweglichkeit und Differenziertheit weit zurückstehen, ist die Frage doch die, wie jemand, der noch über seine Mundart verfUgt, eben dadurch flir seinen Gebrauch der Hochsprache eine höhere Beweglichkeit behalten mag, und zwar gerade durch die Spannung, die zwischen den beiden ihn einnehmenden Sprechweisen besteht. Kann man sich Luther vorstellen, ohne daß er lidern Volke aufs Maul sah«? Ich selbst habe es stets als eine große Verarmung empfunden, daß ich den Dialekt meiner schlesischen Heimat nie wirklich gesprochen habe, weil im
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damaligen gesellschaftlichen Leben und dem entsprechenden Schulsystem der Gebrauch des schlesischen Dialekts ganz und gar verpönt war. In Mittelund Süddeutschland war das gewiß etwas anders, und ebenso waren die Rückwirkungen andere. Meine Frage geht nun auf die besondere Art der Rückwirkung, die das Frankfurtische auf Goethe gehabt haben mag. Sicher finden sich viele schwäbische Ausdrücke bei Schiller oder bei Hölderlin. Aber hat es nicht etwas zu bedeuten, daß es Dialekte gibt, wo der leichteste Austausch zur Hochsprache gegeben ist, und das ist gewiß im Mitteldeutschen, im Sächsischen, aber auch im gewissen Umfange im Hessischen der Fall. Darf man nicht vermuten, daß dort die Natürlichkeit des sprachlichen Ausdrucks und damit auch die Beweglichkeit in der Ausdrucksgestaltung eine besonders günstige Vorbedingung findet? Wie gezwungen wirkt doch noch heute derjenige, der das ihm natürliche Sächseln in seiner Sprechweise vermeidet. Von der Beweglichkeit und dem produktiven Reichtum der so natürlich wirkenden Goetheschen Sprache beginnen wir jedenfalls auch durch eine besondere Veranstaltung gen aue Kenntnis zu gewinnen; ich meine durch das Goethe-Wörterbuch, das seinerzeit durch Wolfgang Schadewaldt angeregt wurde. Das war tatsächlich eine geniale Idee, die in unserem gelehrten Alexandrinismus mehr als eine vornehme Ausnahme erscheint. Hier wird nachweisbar, daß ein Dichter von einer besonderen Sprachfreiheit eine Biegsamkeit im Gebrauch der deutschen Sprache gewonnen hat, die tatsächlich einzigartig ist. Die enorme Vielfältigkeit von Bildungen, Umbildungen, leichten Verwandlungen, neuen Zusammensetzungen, überraschenden Vereinfachungen von Wörtern, die er geschaffen und in dichterische Zusammenhänge eingebaut hat, gehört doch wohl gerade auch zu diesem Flüssigkeitsideal, diesem Im-Werden-Sein, das wir in seinen poetologischen, mit Moritz geteilten Grundüberzeugungen antrafen. Hier wirkt nichts wie ein Neologismus. Neologismen, Neuschöpfungen von Worten, sind im allgemeinen von der Art, daß ihr Erfinder sie zwar unentbehrlich findet, aber niemand sie ihm abnehmen will. Die Goetheschen Bildungen wirken durchaus nicht so. Nicht, daß man sie nachahmen könnte, aber sie wirken in ihrer geradezu unnachahmlichen Einfachheit wie von den Wogen der Sprache selber an den Strand geworfen. Hier würde mich interessieren: Was bedeutet der Frankfurter Dialekt für die Beweglichkeit und Natürlichkeit der Goetheschen Sprache? Ist sie im höheren Grade integrierbar in die Hochsprache der Literatur? Ich füge eine weitere Frage an: sie betrifft die unreinen Reime bei Goethe. Sie spielen eine sehr große Rolle, und es scheint mir durchaus fraglich, ob man recht tut, das wie eine Art Mangel zu sehen und nicht vielmehr als die reinste Erftillung der Reim wirkung. Erleichtert nicht gerade dieses Moderieren der genauen Entsprechungen die Einbindung des Reims in den Sprachleib eines Verses, die für das dichterische Ganze die zwischen Gleich-
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klang der Reimworte und Assonanz der Binnenvokalisation entscheidende Vermittlung leistet? Die Leichtigkeit, die in die Goethesche Kantilene kommt, beruht sehr oft auf der Unreinheit des Reimes, auf dem leichten Hera bstimmen, das das andere Reim wort zeigt. Nur in seltenen Fällen wird man das so frankfurtisch herleiten und so aussprechen dürfen, wie ich das karikierend bei »neiche« und »Schmerzensreiche« vorhin tat. überhaupt ist ja die Vokalisation immer in einem großen Spielraum angesetzt, der reiche Variation erlaubt. So stellt auch der unreine Reim, wie mir scheint, sehr oft gerade eine Öffnung ins Weite des Singens dar, in dem die Klanggestalt des Verses sozusagen nachhallt4 • Die gesellige Haltung des Menschen und des Dichters Goethe reicht noch in weit wesentlichere Tiefen. Viele Forscher, zuletzt auch Emil Staiger, haben viel über die Unstimmigkeiten in Goethes Werken gesprochen. Sie haben mit Recht darauf hingewiesen. daß Goethe es eigentlich nicht liebte. einen fertigen Plan zu machen und dann denselben sozusagen fahrplanmäßig auszuführen. Das ist unzweifelhaft wahr, aber ist es eigentlich richtig und nicht vielmehr von unserem Regeldenken her suggeriert. daß das der Grund ist, warum Goethe in der Gestaltung seiner Charaktere oder in der Komposition seiner Handlung so oft Änderungen vollzogen zu haben scheint? Ist das der richtige Zugang zum Phänomen? Um ein Beispiel zu geben: Staiger hat einmal die Figur des Mittlers aus den) Wahlverwandtschaften( rur diese These herangezogen. Dieser Mann erscheint am Anfang als ein Meister seelischer Vermittlungen, ein wahrer Mittler, der überall, wo seelische Konflikte sind, mit seiner natürlichen Seelenkenntnis und suggestiven Begabung schlichtend und vermittelnd auftritt - und dann scheitert er mit seiner Kunst an den komplizierten Tragödien, die sich in den >Wahlverwandtschaften( abspielen. Heißt das wirklich, daß sich Goethes Konzeption dieses Charakters geändert hat? Ich glaube eher, daß Menschen eben unter besonderen Umständen wirklichen Veränderungen ausgesetzt sind und sich ganz anders benehmen und ausnehmen. als man von ihnen gewohnt ist. Stößt nicht vielleicht auch hier in den )Wahlverwandtschaften< die hohe menschliche Kunst des Vermitteins, die dieser Mittler hat, angesichts elementarer Leidenschaftsstauungen an Grenzen und wirkt deswegen so platt und hilflos? Man muß in der Wirklichkeit mit solchen Dingen rechnen. Aber selbst wo die Unstimmigkeit als solche undeutbar scheint, darf man, meine ich, mit dem Gesellig-Verbindlichen in Goethes Wesen rechnen. Man denke an die Art, wie Goethe Reflexionen in sein erzählerisches Werk einbaut. Man hat mir erzählt, daß vor wenigen Tagen hier an dieser Stelle Wolfgang Hildesheimer bekannt hat, daß ihm die )Wahlverwandtschaften( unerträg4 Zum Melos Goethescher Verse vgl. auch meinen Beitrag über das Türmerlied in Goethes ,Faust<, in diesem Band, S. 122ff.
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lieh seien, weil Ottilie dort wie Goethe reflektiere. Gewiß, so ist es. Das ist Goethe, daß er mit eigentümlicher Sorglosigkeit in den Erzählfluß seine eigenen Reflexionen einflicht, manchmal den Charakteren glaubhaft angepaßt, aber durchaus nicht immer. Selbst wo es paßt, ist es immer wieder so, daß wir im Lesen durchaus vergessen, daß es nicht Goethe selbst ist, sondern eine seiner Figuren, die da reflektiert. Das entspricht dem Gelegentlichen, Aper{:uhaften, Beiläufigen, das Goethe überhaupt als eine Grundattitüde kultiviert. So hat es ihn offenkundig keinerlei Bedenken gekostet, Gedichte aus dem )Wilhelm Meistere, die Mignon-Lieder, die Harfner-Lieder und dergleichen, die im Romanganzen gewiß ihren besonderen Ort haben, zugleich in die Reihe seiner Gesammelten Gedichte aufzunehmen. Es scheint mir, daß etwas von der geselligen Natur Goethes sich überall auswirkt. Er vermeidet nicht das Beiläufige und Gelegentliche. Er setzt den guten Willen des Lesers voraus und die freie Zustimmung des Interesses des anderen, und sie ist ihm wichtiger als die gestalthafte Geschlossenheit des Werkes. Es ist eine Komponente des Offenlassens in ihm, die in die Tiefenerfahrungen des Lebens hineinreicht. So mag es mit vielen der sogenannten Unstimmigkeiten in Goethes Werk stehen. Es geht mir dabei nicht um eine GoetheApologie, sondern um eine Beschreibung dessen, was uns an Goethe merkwürdig ist, ob wir wollen oder nicht, ob wir uns fern oder nah fühlen. Wie vieles läßt er offen, wie vieles läßt er sich offen! Das hat seine moralischen Kritiker herausgefordert - etwa im Stile von Kierkegaard oder ]aspers -, aber verleiht dies viele Offenlassen nicht auch Goethes Dichtungen etwas von ihrer geheimnisvollen Lebendigkeit und Tiefe? Viele der Goetheschen Planwidrigkeiten scheinen mir dieser Haltung zu entspringen, die zwischen den verschiedensten Sphären schweben läßt. Wenn wir mitten im Roman eine Novelle eingebaut finden, dann nehmen wir das Ineinander-sieh-Spiegeln der Romanhandlung und der im Roman begegnenden Erzählung, wir nehmen all diese vielen Spiegelungen und Widerspiegelungen, die sich da ereignen, als etwas mehr oder minder Natürliches. Ich gehe noch weiter. Ich habe immer ein leises Mitleid mit denen, welche Goethes )Fauste in dem Sinne verstehen wollen, daß sie sich fragen, wie sich eigentlich Goethe selbst seine Umdichtung der Volkssage von Faust und wie er sich Fausts Erlösung am Schlusse denkt. Mir scheint die Frage falsch gestellt. Die Frage setzt voraus, daß Goethe jedenfalls irgendwann einmal doch endgültig eine einheitliche und vernünftige Auffassung davon gehabt haben müsse, ob Faust erlöst werden soll oder nicht und mit welchem Recht. Auch was mit Mephisto geschehen soll oder nicht geschehen soll. Ich halte viele der zur Faustdeutung vorgetragenen Vermutungen rur sehr interessant, etwa auch Henkels Beitrag über die )Apokatastasise, die Wiederherstellung aller Dinge, die auch Mephisto als den gefallenen Engel noch in die große Enderlösung
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mit einbezieht5 . Ich halte auch andere scharfsinnige Faustinterpretationen für fruchtbar, aber hat Goethe das, wonach hier gefragt wird, überhaupt gewußt? Gerade das scheint mir Goethe, daß er die vielf'altigen Möglichkeiten des Deutens und des Verstehens nur eben antönt. Wir wissen, daß sich Goethe entsprechend verhalten hat, und wenn man ihm über seine Gedichte Fragen stellte, sich sehr gern geheimnisvoll und rätselhaft ausweichend zeigte. Es steckt in Wahrheit noch mehr in diesem Offenhalten als nur die Weisheit eines sich dichterisch sozusagen ständig selbst entdogmatisierenden Dichters. Eines der tiefsten Motive, die immer wieder in Goethe anklingen, ist seine rätselhafte Ineinanderflechtung von Liebe und Tod. Wir kennen sie aus der großen Szene des ]ugenddramas ,Prometheusc, in der die Tochter des Prometheus ihre Freundin in einer Liebesszene beobachtet und ganz entsetzt zu ihrem Vater gestürzt kommt, was das denn war, was ihre Freundin so gänzlich verändert hat. Nun antwortet Prometheus mit einer wunderbaren Rede über dieses Sich-Erheben und Auflösen aller Dinge in der Ekstase, und wenn man erwartet, er werde sagen: ,Das ist die Liebe<, sagt er: ,Das ist der ToM5. Und ein anderes Beispiel aus dem Gedicht ,Der Bräutigamc, ein rätselhaftes Gedicht des späten Goethe, das er seiner Schwiegertochter gegeben hat. Es ist in den späteren Ausgaben überall aufgenommen. Es führt den Bräutigam als Sprecher ein, der »um Mitternacht« - ist es im Traum oder ist es in der traumgleichen Erwartung der kommenden Hochzeitsnacht? - in herrlichen Versen sich aussagt. Aber wie endet das Ganze? Um Mitternacht! Der Sterne Glanz geleitet In holdem Traum zur Schwelle, wo sie ruht. sei auch mir dort auszuruhn bereitet, Wie es auch sei, das Leben, es ist gut!
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Die Erwartung des Liebesglücks und der friedvolle Vorblick auf das Lebensende klingen hier im eigentümlichen Ineinander höchster Erhebung menschlichen Daseinsgefühls zusammen. Es ist das gleiche Ineinander von ,Stirb und Werdec, das Goethe auf seine Weise immer wieder dem Alter und dem Nahen des Todes wie eine ewige Auferstehung entgegengesetzt hat. Ist nicht auch das natürlich? Ich breche meine Fragen ab - es sind wirklich alles Fragen, die in die eine Frage zusammengehen: Ist das nicht gerade die Natürlichkeit Goethes, daß 5 ARmUR HENKEL, Das Ärgernis Faust. In: V. DORR I G. V. MOLNAR (Hrsg.), Versuche zu Goethe (FS Erlch Heller). Heidelberg 1976, S. 282-304. Jetzt revidiert in: A. HENKEL, Goethe-Erfahrungen. Studien und Vorträge (Kl. Schriften 1). Stuttgart 1982, S. 163-179; 203-206. e Vg!. .Vom geistigen Laufdes Menschen., Teil 1, in diesem Band, S. 87f.
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er immer auch ein Geselliger ist und daß sich selbst seine Dichtung immer wieder in die gesellschaftliche Wirklichkeit zurückstellt, in der sie ihre mitteilsame Präsenz hat? Es ist mir aufgefallen, daß, wenn Goethe, dieser große Könner im Dichthandwerk, über andere Dichter und Dichtungen spricht, er als sein Lieblingswort das Wort »tüchtig« gebraucht. Das Wort bezeichnet eine Bürgertugend allererster Art. Sie wird von Goethe an allen Menschen, die sie besitzen, nicht nur am Handwerker, auch am Dichter hoch geschätzt. Ich meine, man spürt darin etwas von dem gesellschaftlichen Selbstbewußtsein des Bürgersohnes einer freien Stadt. Wenn man Goethe mit seinen großen Parmern im klassischen Zeitraum unserer Literatur vergleicht, so zeigt er am wenigsten die Züge eines Fürstendieners, obwohl er am meisten ein Diener eines Fürsten, ja ein Minister, gewesen ist. Die bürgerlichen Tugenden der Tüchtigkeit, der Sorgfalt, der Verläßlichkeit des Könnens haben selbst die dichterische Inspiration, die in Goethe so reichlich strömte, immer wieder diszipliniert. Seine eigene Lebensbilanz ist, wie mir scheint, mit der Natürlichkeit seiner Sprache in engster Entsprechung. Das zeigt die gleichsam beiläufige Rolle, die für ihn das Dichterische in seinem Lebenswerk darstellt. Hier hat, wie ich meine, Staiger richtig gesehen, wenn er in Goethes >Tasso< nicht allein in der Figur des Tasso das dichterisch-tragische Selbstbildnis des leidenden Empfindsamen - der gewiß auch Goethe war - gesehen hat, dem das Privileg war, »zu sagen, wie ich leide«, sondern daß auch Antonio dies Selbstbildnis ist. Beide, der große Gegenspieler des realen Lebens und der dichterische Träumer, der an der Wirklichkeit zerbricht, beschreiben erst den vollen Umkreis Goethescher Lebenserfahrung. Zur Natürlichkeit der Sprache Goethes gehört auch Maß und Mitte, mit denen er gesellschaftliche Bedingtheiten.und inneren Aufschwung miteinander zu versöhnen wußte.
11. Bach und Weimar1 (1946)
Johann Sebastian Bach ist ein Kind des Thüringischen Landes, kein Rätsel einer Schickung, die so oft das Genie unerwartet und unbegreiflich erwachsen läßt inmitten einer gleichgültigen Welt und aus einem gleichgültigen Geschlecht. Johann Sebastian Bach ist in einem musikfrohen und frommen Lande aufgewachsen, als Sohn einer Familie, in der sich seit Generationen ein gediegenes Erbe musikalischer Gaben angereichert hatte, und noch seine Söhne haben einen reichen Teil von dieser Mitgift ihres Geschlechtes bewiesen. Es war auch nicht eine Folge besonderer Fügung, daß Johann Sebastian Bach in seinem schaffensfrohen Leben eine bedeutende Zeit in Thüringens Hauptstadt Weimar tätig war - er kam im Jahre 1708 als Dreiundzwanzigjähriger an den Weimarer Hof als Organist und Konzertmeister und hat dort neun Jahre gewirkt-, sondern frühe Bewährung in seinem Organistenberuf und alte Heimatverbundenheit seiner Familie mit den Thüringischen Landen und ihren Fürsten führten ihn auf die natürlichste und selbstverständlichste Weise in diese Stellung. So hat denn Thüringen und seine Landeshauptstadt ein unbestrittenes Recht, ihn als ihren treuen Sohn zu ehren und zu lieben - auch wenn ihn auf nicht minder verständlichen Wegen sein Genie über Köthen schließlich nach Leipzig führte und ihn dort zu der fast sagenhaften Gestalt des Thomaskantors prägte, als der er in der Geschichte der deutschen Kultur lebt. In unseren Tagen, in denen sich so viele ehemals helle Sterne nationalen Lebens in ein von uns selbst verschuldetes und zu tragendes Dunkel verhüllt haben, ist uns jedes Erinnern an unser eigenes lebendiges Wesen, wie es die größten Söhne unseres Volkes gültig darstellen, besonders not, »daß in der zaudernden Weile, daß im Finstern für uns einiges Haltbare sei«. Es lag nahe, bei einem Johann Sebastian Bach gewidmeten Weimarer Musikfest insbesondere Bachs Weimarer Jahre in die Erinnerung zu rufen - sind doch diese Weimarer Jahre seines Schaffens die entscheidende Epoche, in der er die riesige Spannweite seiner Talente in die dichte Prägung seines eigensten Stiles zusammenfassen lernte und damit die 1 Die Rede regte KARL STRAUBE zu einem langen Brief an den Verfasser an, der in dem Archiv für MusikWissenschaft. 14.Jg. 1957, S.138-144erschienen ist.
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ganze unermeßliche Fülle und Tiefe seines späteren Schaffens im Ansatz vorentschied. Und wer hätte berufener sein können, durch das deutende und darstellende Wort das Fruchtbar-Entschiedene dieser Jahre aufzuwecken, als der Altmeister der deutschen Bachforschung und Bachpflege, Karl Straube? Es ist für uns alle eine schmerzliche Enttäuschung, daß Karl Straube von dem Vorhaben, diesen Beitrag zum gemeinsamen Gedenken an Bachs Weimarer Jahre zu leisten, aus Gesundheitsgründen zurücktreten mußte. An die Stelle dieses einzigen Kenners tritt nun ein Beliebiger aus dem großen Kreise der Liebhaber Bachscher Musik. Wir gehen damit alle der Belehrung verlustig, die uns Straube zu dem Thema )Bach und Weimar< hätte geben können. Er hätte uns zeigen können, wie in den Weimarer Jahren Bach die Verschmelzung der Tradition niederdeutscher Orgelkultur mit dem effektreichen Zauber der italienisch-französischen Opernkunst gelang, wie das gewaltige Architekturwerk der Fuge mit den neuen Mitteln der Monodie, dem Rezitativ und der Arie, eine Verbindung einging, die dem Zeitalter eine völlig neue Dimension religiösen und künstlerischen Ausdrucks öffnete. Er hätte darüber hinaus die künstlerischen und religiösen Kräfte aufzuzeigen vermocht, aus denen Bach diese schöpferische Einung und Steigerung verschiedenartiger musikalischer Traditionen gelang. Er wäre uns gewiß auch nicht schuldig geblieben, die Ansätze der ins überlebensgroße ansteigenden Werke der späteren Zeit Bachschen Schaffens in diesen Weimarer Jahren nachzuweisen. Aufall das müssen wir hier verzichten, denn ich kann weder als Musiker noch als Musikforscher sprechen, sondern allein als ein gedenkender Liebhaber, der bei den Kennern auf alle Nachsicht, bei den Liebhabern auf freundliche Mithilfe rechnen muß. Dem gedenkenden Liebhaber aber muß sich das Thema )Bach und Weimar< in seinem Sinne wandeln. Bach und Weimar, bezieht sich das nicht noch in einem anderen Sinne aufeinander als in dem der Bachbiographie und der Bachforschung? Benennen diese beiden Namen nicht zwei tragende Pfeiler unseres ganzen geistigen Seins? Weimar, das Weimar Schillers und Goethes, das einst auch das Weimar Johann Sebastian Bachs gewesen ist, trägt es nicht wahrhaft allein noch die Trümmer dessen. was wir sind? Mit ihm hebt unsere dichterische Gegenwart an; was dahinter liegt. ist fast ausschließlich Vergangenheit. Die Spannweite der geistigen Gegenwart eines Volkes aber entscheidet über die Möglichkeit seiner Zukunft. Bedenkt man dies mit sorgendem und hoffendem Sinne, so beginnt einem sogleich auch das ungeheure GestimJohann Sebastian Bachs aufzustrahlen. Denn seine Musik bezeichnet nicht minder scharf und entschieden eine Grenze unserer geistigen Gegenwart. Wie im Dichtel"ischen selten etwas hinter die großen Weimarer Dichter zurückreicht - Luther und Lessing selbst sind uns kaum anders vernehmlich denn durch die Sprachwelt unserer klassischen Dichtung -, so ist unser musikalischer Vergangenheitshorizont durch das gewaltige Massiv der Bachschen Musik
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förmlich begrenzt, und nur wenige Kenner haben das rechte Ohr für Heinrich Schütz oder gar die großen niederländischen Zeitgenossen Martin Luthers. ]ohann Sebastian Bach ist der erste der großen Klassiker der deutschen Musik. Das ist nicht als eine stilgeschichtliche Aussage zu verstehen. Der Begriff der Klassik hat noch einen anderen, tieferen Sinn als den eines Stilbegriffs (dessen Anwendung außerhalb seines geschichtlichen Ursprungsbodens im sogenannten klassischen Altertum ohnehin voller methodischer Fragwürdigkeit ist). Nach einem selbst klassisch zu nennenden Wort Hegels ist klassisch »das sich selbst Bedeutende und damit auch sich selber Deutende«. Dies Wort ist, sofort überzeugend, wenn man ihm eine geschichtliche Dimension unterlegt. Denn es kann ja nicht meinen, daß solche Selbstbedeutung ein Wesenszug von Werken in der Art wäre, daß sie in geschichtsloser Ewigkeit beharrlich sich selber aussagten. Es ist vielmehr ein Urteil über die unerschöpfte Mächtigkeit, mit der ein Werk oder ein Meister in allen geschichtlichen Wandel eingeht. Einer jeden Gegenwart will es freilich so scheinen, als sei es ein Allgemein-Menschliches, das in Homer und Sophokles, in Dante, in Shakespeare und in Goethe, in Bach und in Beethoven zu uns spricht. Aber was ist das Allgemein-Menschliche? Was uns allen menschlich dünkt, wird selbst erst bestimmt durch das gesammelte und in unserem Bewußtsein zusammengehaltene Wort dieser großen Menschheitsdichter. Wir selbst reinigen sie gleichsam von der geschichtlichen Einmaligkeit und Vergänglichkeit ihrer Erscheinung, bis wir ihr reines Wesen als unser eigenes, als das menschliche Wesen überhaupt gewahren. Klassisch ist also nicht etwas von sich selbst her Bleibendes, sondern ein immer aufs neue Belebtes, das immer neue Gegenwart fUr uns gewinnt. Wie Goethe und Schiller, wie Beethoven und wie Bach. Denn auch die Musik des großen Thomaskantors ist von einer für uns unerschöpflichen Gegenwärtigkeit, so sehr sie auch Ausdruck eines fUrstlichen Zeitalters ist, das uns fremd wurde, das die Sprache einer Glaubensfestigkeit spricht, von der uns eine Welt des Zweifels oder der entschlossenen Eigenmächtigkeit trennt. Daß das für Bach gilt, ist aber um vieles wunderbarer, als daß es fUr Beethoven oder fUr Goethe und Schiller gilt. Denn diese genialen Individualitäten, Manifestationen des schöpferischen Genies der Neuzeit, haben mit sich selber eine Kette unablässiger Wirkung, Schätzung und Nachfolge eröffnet, die uns in die Gliederfolge ihres Fortlebens förmlich eingeschmiedet hält, ja, sie selbst sind mit dem Bewußtsein tätig gewesen, ein neues Bleibendes in ihren Werken und mit ihrem Wirken zu schaffen. Sie beseelte ein Stifrungsbewußtsein von monumentaler Selbstgewißheit. Johann Sebastian Bach dagegen, bei allem Ansehen und Ruhm, die er erwarb,· wurde von seinen Zeitgenossen und Nachfahren schnell vergessen, schneller noch vergaß er sich selbst, indem er mit sorgloser Verschwendung immer neue
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Werke schuf, zu Gehör brachte und beiseite tat, wie ein redlicher Handwerker, dem jedes Stück ersetzbar scheint durch neuen fleiß und neues Gelingen. Und dennoch ist auch er in einem schöpferischen und bis heute unabgeschlossenen Vorgang des Wiederfindens in jene Reihe der bleibenden. der klassischen Meister der deutschen Musik eingerückt und gewinnt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt an innerer Mächtigkeit in aller Welt. So wandelt sich uns das Thema )Bach und Weimar< in eine Frage, die ebenso sehr auf die Gestalt des großen Meisters der Töne zielt wie auf uns selbst. Wie geschah es. oder besser: wie konnte es geschehen. daß auch er zum Klassiker wurde. zu einer verbindlichen Gegenwart unserer Tage und einem Unterpfand der Zukunft unserer Kultur? Dabei will es ein Zufall- oder ist auch das mehr als ein Zufall? -. daß die Geschichte seiner neu auferstandenen Wirklichkeit mit dem klassischen Weimar verknüpft ist in ihrem Beginn. Forkel. der erste große Biograph Bachs. dessen Werk 1802 erschien, bemühte sich, die »patriotischen Verehrer echter musikalischer Kunst« rür das unschätzbare nationale Erbgut der Bachsehen Musik zu gewinnen: Wie wäre solch ein Unternehmen auch nur denkbar ohne das ansteigende Selbstbewußtsein der deutschen Art und Kunst. das Goethe so machtvoll gegründet und durch sein eigenes Werk befestigt hat? Und Goethes Musikfreund Zelter hat Goethe für Bachs Musik zu derselben Zeit gewonnen, in der Mendelssohn die Matthäus-Passion neu aufführte und damit die große Auferstehung Bachs eröffnete. die nun schon über ein Jahrhundert wirkt. Daß es eine romantische Musikanschauung war. die diese Bewegung trug, ist bis heute für die Bachpflege bestimmend geblieben. Seelenvoller Ausdruck und machtvolle Dynamik. klangvolles Aufrausehen eines sich selbst geheimnisvollen Lebensstromes: die Grundzüge romantischen Musikerlebens sind zwar nicht der gültige Maßstab, mit demJohann Sebastian Bachs Musik heute zu messen ist. aber sie bleiben das Gegenmaß, an dem sich das abzeichnet, was Bach innerhalb der Klassiker der deutschen Musik so einzigartig und so über alles hinaus gegenwärtig macht. Was ist es, woraus Bachs Musik heute so lebendig ist - was ist es, woraus wir heute leben? Längst ist es nicht mehr die Herkunft aus schlichter lutherischer Frömmigkeit, die hier als Antwort genügen kann. Wahr ist es freilich, daß Johann Sebastian Bachs Musik in ihren weltlichen und geistlichen, vokalen. und instrumentalen Formen aus dem gleichen reinen und klaren Metall ist und überall Gottes Ehre meine. Wahr ist es auch, daß diese Musik eine Musik der Innerlichkeit ist, wie sie nur auf dem Boden des Christentums und seiner reformatorischen Erneuerung erwachsen konnte. Aber ihre Gültigkeit reicht ebensoweit über diese ihre Ursprünge hinaus, wie auch sonst die Geschichte der menschlichen Innerlichkeit über ihren christlichen Ursprung hinausgeht. Es ist weit von der sich im Tonraum des
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gregorianischen Chorals aufbauenden Vielstimmigkeit der Niederländer bis zu Bachs den Affekt der Worte in die Ordnung der Fornl fUgendem Aufbau - weiter aber, als wir heute glauben, ist es noch von diesen baumeisterlichen Werken des Thomaskantors zu den mächtigen Konfessionen Beethovens oder Bruckners. Der Innenweg der modemen Seele hat manche Kehre, kaum eine, die uns so an eine Umkehr mahnt wie das WerkJohann Sebastian Bachs. Es ist eine Kunst von unerschöpflichem Reichtum des Ausdrucks, die von der Innigkeit des sich mit sich unterredenden Gemüts bis zur Äußerlichkeit tonmalerischer Nachahmung reicht. Aber weder das Ausdrucksstreben einer sich in sich vertiefenden Innerlichkeit gibt ihr ihr Gesetz noch gar das Reizwerk klang bildnerischer Effekte. Diese Musik steht an Stimmungskraft keiner anderen nach, und doch ist sie in ihrem Wesen verkannt, wenn man sie als Ausdruck von Stimmungen oder Gefühlen auffaßt und auslegt. Auch wo sie sich bis zum dramatischen Gespräch agierender Menschen erhebt, wie etwa in der Passionsmusik, oder zur Zwiesprache der trostsuchenden Seele mit dem Wort der Verkündigung und der Zuversicht der Gemeinde, ist ihr Gesetz nicht das der Unmittelbarkeit seelischen Ausdrucks. Jede psychologische Interpretation ist daher widrig. Es ist, als ob die sich aussprechende und auslebende Subjektivität, das individuelle Gesetz der Persönlichkeit, hier noch nicht freigegeben würde und keine formbildende Geltung besäße wie in der späteren klassischen und romantischen Musik. Das Gesetz dieser Musik ist vielmehr eine überindividuelle Ordnung. Sie ist eine Musik der Innerlichkeit, aber niemals bloßer Ausdruck eines Innern. Es kann nichts erklären, wohl aber ist es verdeutlichend, wenn man Bachs Bindung an sein göttliches Instrument, die Orgel, bedenkt. Auch ihre Stimmen singen, aber was in ihnen singt, sind nicht Stimmen, in denen ein einzelnes Wesen sich ausdrückt - es sind Instrumente, in denen sich die große Form dieser Musik aufbaut. Auch die Singstimme hat ihre ganze Bestimmung in der gegenständlichen Darstellung der musikalischen Architektur. Das ist es, was uns an dieser Musik so anrührt und mahnt: Sie hat Ausdruck von gewaltiger Intensität, aber sie ist dennoch keine Ausdruckskunst. Im Wesen des subjektiven Ausdrucks liegt ja. daß das, was sich da ausdrückt, gerade nicht ins gegenständlich Äußere übertritt, sondern in sich selbst beschlossen bleibt. Ein jeder Ausdruck macht das Verschlossene als Verschlossenes offenbar. Jede Geste bezeugt ein Geheimnis. Nur was für sich ist und bleibt, kann sich äußern, um sich aus jeder Äußerung zurückzunehmen in sein fortwebendes Fürsichsein. Bachs Musik aber ist stets ganz Ausdruck, ganz Wirklichkeit, ist Ausdruck des Ganzen, ist Wirklichkeit des Ganzen, Gottes, des Menschensohns, aber nicht einer einzelnen Menschenseele. Man hat von jeher mit einem gewissen Erstaunen beachtet, daß Bach sich der pietistischen Frömmigkeit verschlossen hat, in der die Seele mit
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Gott 50 vertraulich und menschlich umgeht. Daß diese pietistische Strömung seiner Zeit dem kunstvollen Musikstreben Bachs keinen äußeren Raum der Betätigung gestattet hätte, ist dafür eine ebenso äußerliche Erklärung wie die biographische Herleitung aus der lutherischen Tradition der Bachschen Familie. Daß dieser fromme Musikus die Ehre Gottes in immer klarerer, immer umfassenderer Steigerung musikalischer Symmetrien und Responsionen, Spannungen und Lösungen suchte und nicht an der schlichten Gefühlsinnigkeit des Chorals allein sich genügte, in der er doch ein unübertroffener Meister war, das deutet auf das ursprüngliche Gesetz seines Geistes und seiner Frömmigkeit: Gott als den wahren Fürsten der Welt mit dem Außersten dessen, was die Kunst vermag, zu ehren. Das Gewaltige und Erhabene seines Genius erscheint uns darin, daß er die weitesten Spannungen in der gewaltigsten Form zusammenzufassen vermochte und in die kunstvolle Orgeltradition seiner Herkunft die neuen Zauber der Monodie und damit die lockende und verführungsstarke Sprache unmittelbaren Seelenausdrucks einzuschmelzen wußte. Die forts pinnende Figuration des Orgelstils gewann durch die Einheit des monodisch phrasierten Themas eine neue architektonische Festigkeit und Größe. Er ist dem allein in sich selbst begegnet, dem die neueren Jahrhunderte erlegen sind bis zum Rande der Auflösung aller bindenden Form. Aber für ihn wurde jede Ausweitung der Sprache der Töne nur Anlaß zu neuem Triumph des Geistes und der Form. Die Seelengeschichte des Abendlandes hat in ihm einen ihrer großen überwinder zu sehen. Die Welt der Gefühle zu formen und zu binden in die Ordnung des Geistes, das ist das Geheimnis seiner steigenden Macht über unsere Seele. Man hat ihn gern mit seinem großen philosophischen Zeitgenossen Leibniz verglichen. Mit Recht - wenngleich der Vergleich seiner alles überwölbenden musikalischen Baumeisterlichkeit mit der Lehre Leibnizens von der prästabilierten Harmonie etwas äußerlich bleibt. Aber Leibniz hat wirklich für uns eine ähnliche exemplarische Bedeutung wie Bach. Sein sinnreiches System der Monadenlehre ist - verwandelt in die romantische Gestalt eines dynamischen Pantheismus - der Keim der ärgsten Gefährdungen des modemen Subjektivismus geworden 2 • Aber auch das Lebensgesetz der Monade - das Gesetz eines Ausdrucks, einer organischen Entfaltung dunkel verschlossener Kraft - ist ein falscher Zeuge der Ansprüche des modemen Ichbewußtseins. Die fensterlose Monade, die immer nur ihre eigenste individuelle Weltvorstellung produziert, ist nicht der Leibnizschen Weisheit letzter Schluß, kein erster Ausdruck der verzweifelten Innerlichkeit des 2 Vgl. dazu meine Rede aus dem gleichen Jahr (1946) zum 300. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz. Jetzt gedruckt in den Studia Leibnitiana, Bd. XXIIIl (1990), 5.1-10. [Erscheint in Ges. WerkeBd.l0)
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modemen Individuums. Sie steht nicht nur in einer vorgefügten Ordnung göttlicher Schöpfung an einem festen Platze, sie vermag sich gerade auch zu der Welt des Verstandes zu erheben, der diese Ordnung in ihren vernünftigen Prinzipien vernünftig erkennt. Die Architektur des großen Weltbaumeisters wird rur die sich zum Verstande erhellende Kraft erkennbar. Nicht die Blindheit des dynamischen Dranges, sondern die Geistigkeit der von ihm getragenen und vollendeten Teleologie ist der organisierende Gedanke des Leibnizschen Systems. Und wie im Reiche des philosophischen Gedankens der modeme Subjektivismus dieser Überlegenheit seines Ursprungs eingedenk werden muß, wenn eine neue Ordnung der Welt und des sozialen Lebens über ihn hinaus entstehen soll, so ist in der bezwingenden Gegenwart der Kunst - und nirgends stärker als in der Bachschen Musik - die ordnende Idealität des Geistes über die Weltverlorenheit der individuellen Seele siegreich gegenwärtig. Auch die Formenwelt der großen Kontrapunktik ist ein Reich der Gnaden. Wir wollen die Probe auf das Exempel, das uns Bachs Musik darstellt, an einem Lichtblitz des greisen Goethe machen und damit das Weimar der deutschen Klassik auf das Weimar Johann Sebastian Bachs antworten lassen. Goethe hat einmal, als er durch Zelter mit Bachs Werk bekannt geworden war, mit seiner grenzenlosen Durchdringungskraft von Bach gesagt: »Als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich's etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschäpfung möchte zugetragen haben. So bewegte sich's auch in meinem Innern, und es war mir als wenn ich weder Ohren, am wenigsten Augen, und weiter keine übrigen Sinne besäße noch brauchteu 3 • Dies Wort will richtig verstanden werden. Es meint nicht, daß diese Musik wie ein wogendes Gedankenmeer ist, in dem sich die festen Formen der Wirklichkeit noch nicht abzeichnen. Das ist eine romantische Auffassung Goethes und eine falsche romantische Interpretation der Bachschen Musik. Goethe variiert hier vielmehr einen Gedanken, den Hegel auf seine Logik, dieses abstrakteste und dennoch am strengsten gebaute Werk des philosophischen Gedankens, angewandt hat. Er nennt den logischen Zusammenhang »das ewige Leben Gottes in sich selbst, gleichsam vor Erschaffung der Weltu 4 • Die reinen Gedanken in ihrem ideellen Gefüge, bevor sie sich in das Anderssein der Natur endassen und zu Wirklichkeiten werden, seien »die Darstellung Gottes, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes istu 5 • Diese Entsprechung zwischen Goethe und Hegel ist sehr vielsagend. Der logische Zusammenhang der Ideen, den Hegels Dialektik darstellt, und die Bachsche Musik Goethe, Briifentwurf an Zelter 1827, W. Ä. Bd. 42, S. 376. Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (ed. Hoffmeister) I, S. 69. . , Wissenschaft der Logik (ed. Lasson) I, S. 31. 3
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treten hier zusammen. Die Bewegung, die Goethe in Bachs Musik sieht und in die er durch sie versetzt wird, ist nicht der Zustand eines produktiven Chaos, aus dem erst Welt werden soll, sondern umgekehrt »die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist« (Hegei). Gerade die reine Genauigkeit der ideellen Strukturen, fiir die unser Ohr und unsere Sinne nicht rein und genau genug sind, vergleicht Goethe mit dem Wesen der Hachschen Kunst. Wie der bei sich selber rechnende Verstand Gottes die Möglichkeit aller Schöpfung vorausdenkt und dadurch zum Schöpfer dieser Welt wird - dum deus calculat, fit mundus -, so ist auch die große Rechenkunst des Thomaskantors im sinnlichen Stoffe der Töne dem Anschein nach nur ein abstraktes Spiel, aber in Wahrheit die Schöpfung einer Ordnungswelt, die keiner romantischen Beseelung oder gefühlshaften Vermenschlichung noch bedarf. Und wenn sie auch eine Welt der Kunst ist und damit ein Besitz und eine Aufgabe unserer Innerlichkeit, so ist doch der Aufbau und die Erbauung dieser innerlichen Welt mehr als eine bloße Abkehr Enterbter von der Verwirrung der wirklichen Welt. Gerade auch solchen, die vor der Aufgabe stehen, aus den Trümmern der Vergangenheit etwas Neues und Haltbares in der materiellen und sittlichen Welt" zu errichten, muß die reine Urgestalt einer tragenden Ordnung, zu der in Bachs Musik vergangenes Leben zusammengegangen ist, etwas bedeuten, und sie werden für ihr eigenes ordnendes Tun mit Rainer Maria Rilke an den Vorteil glauben, daß sie's nun innerlich baun, mit Pfeilern und Statuen, größer!
12. Prometheus und die Tragödie der Kultur (1946)
Mythen sind U rgedanken der Menschheit. So sehr wir danach verlangen, sie zu deuten, ihren ursprünglichen Sinn und Tiefsinn zu erfassen, so sehr bleiben wir doch bei solchem Versuch des Begreifens hinter der undurchlässigen Wirklichkeit der Mythen und ihrem anspruchsvollen Geheimnis zurück. Es ist, als ob wir nur uns selber vernähmen, Sinnbilder oder Verkleidungen unserer gedeuteten Welt - und als ob der wahre Sinn jener urzeitlichen Schöpfungen stumm und deutungslos über uns hinwegreichte. Die modeme historische Mythenforschung ist vorsichtig im Verzicht, indem sie die Frage nach dem Sinn der Mythen abweist und lediglich der Geschichte ihrer Entstehung und Verbreitung nachgeht. Aber auch so wird uns das Geruhl einer hilflosen Ohnmacht vor etwas zu Großem nicht genommen. Und vollends wird uns auch so die Versuchung nicht femgehalten, die aus diesen bedeutungstiefen Stimmen einer Urzeit an uns gelangt, ihnen zuzuhören, d. h. aber, sie verstehen zu lernen. Ein solcher Mythos, dessen stummer Sprache wir uns nicht zu entziehen vermögen, ist der antike Prometheus-Mythos 1 . Sein Ursprung ist für uns ununterscheidbar zusammengegangen mit der Geschichte seiner überlieferung, Umdeutung und Erneuerung, die von den Tagen Hesiods bis in unser Zeitalter hineinreicht. Aber eben deshalb ist er uns nicht so sehr wie andere Mythen ein beunruhiI Die Studie begnügt sich damit, Hesiod und Aischylos auf eine ganz bestimmte Frage zu beziehen: wie sich in ihrer dichterischen Darstellung des Mythos das Selbstbewußtsein der menschlichen Kultur spiegelt. Ein Versuch, die Geschichte des Mythos selbst zu rekonstruieren, wurde nicht unternommen. Zum Stand der Forschung: KAIIL REINHAIIDT, Tradition und Geist. Göttingen 1960, S. 191, Anm. 1 (dort auch reiche Literaturangaben, die zu ergänzen sind durch die umfassende Darstellung, die die Geschichte des Prometheus-Symbols in der Welditeratur bei R. TIIOUSSON gefunden hat: Le theme de Promethee dans la litterature europeenne. Geneve 1964). Kar! Reinhardt zufolge war Aischylos der erste, der den Prometheus zum Titanen gemacht hat und damit seine Beziehung auf das Schicksal des Menschen vertiefte. Die geistreiche Rekonstruktion des >Feuerträger Prometheus" die dort (182-190; 220-226) auf Grund des neu herausgekommenen HeideIberger Papyrusfetzens vorgenommen wird, vermutet, daß in diesem Schlußstück der Trilogie, wie auch oben dargelegt ist, die Versöhnung mit Zeus erfolgte und daß zugleich damit Prometheus als attischer Lokalgott der Schmiede- und Töpferkunst gefeiert wurde.
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gendes Rätsel der Frühe als eine durch Alter und Schicksalsfälle ehrwürdige und gewichtige Stimme im Chor der menschlichen Selbstbesinnung. Denn in diesem Mythos hat sich offensichtlich von früh an die abendländische Menschheit in ihrem eigenen Kulturbewußtsein gedeutet. Er ist wie ein Schicksalsmythos des Abendlandes. Die Geschichte seiner Deutung erzählen heißt daher, die Geschichte der abendländischen Menschheit selbst zu erzählen. Man empfindet leicht, daß dieser Mythos solch eine grundlegende Bedeutung hat, wenn mall etwa Nietzsches Vergleich desselben mit dem semitischen Mythos vom Sündenfall liest. Beide Sagen führen das mühsame Geschick des Lebens auf eine Verschuldung zurück, die semitische Sage (um eine Charakteristik Nietzsches zu verwenden) auf die Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung, die Verführbarkeit, die Lüsternheit, kurz eine Reihe vornehmlich weiblicher Affektionen, die )arische< Vorstellung, die im Prometheus-Mythos sich ausspricht, erteilt dagegen dem Frevel Würde und ist ausgezeichnet durch die »erhabene Ansicht von der aktiven Sünde als der eigentlich prometheischen Tugend«. Eben das aber macht den PrometheusMythos zum wahren Mythos unserer Kultur. Er schaut das Schicksal des menschlichen Lebens nicht als Fluch und Strafe rur einen Sündenfall, sondern als die mit Leiden bezahlte Selbsthilfe des Menschen, der sich in tätiger Arbeit seine Welt baut. Er deutet in mythischer Form die Tragödie der Kultur. Soviel wird man wohl vom alten Mythos annehmen dürfen, daß Prometheus den Feuerdiebstahl zugunsten der Menschen beging. Das scheint uns sinnvoll: Das Feuer, das im Blitz des Gewitters zur Erde fährt, nach dem Willen und Ermessen des Donnerers allein, lernt der Mensch selbst entfachen und unterhalten. Das ist wie ein Frevel, ein Abfall vom Herrn der Wetter, und ist so der Beginn einer freventlichen Umwandlung der Natur in einen Bereich menschlichen Treibens, in eine Welt der eigenen Pflege und Herrschaft. Sinnvoll erscheint auch, daß es ein göttlicher Widersacher des höchsten Gottes ist, der dem Menschengeschlecht diese neue Selbständigkeit erobert, ein Geist der Widergöttlichkeit selbst, ein titanischer Geist, in dem die Menschheit zu sich selbst findet. Und es begreift sich gut, daß Prometheus in späterer Fortbildung des Mythos, im Anschluß an eine attische Lokalsage über den Töpferdämon Prometheus, zum Menschenschöpfer geworden ist. Als solchen kennen wir ihn aus zahlreichen späteren bildlichen Darstellungen. So scheint sich der Ursinn der Sage von selbst zu verstehen. Doch sagen wir vorsichtiger: Was wir als diesen Ursinn bezeichnen, stellt eine letzte Gemeinsamkeit im Ganzen der schicksal vollen Geschichte dieses Mythos und seiner Deutung dar. Dieser Geschichte wenden wir uns nunmehr zu. Unsere älteste überlieferung über Prometheus ist die Darstellung des
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Mythos bei Hesiod. Sowohl in der ,Theogonie< wie in dem bäuerlichen Lehrgedicht der ,Werke und Tage< wird er behandelt. Das eine wirkt wie eine nicht ganz sicher eingepaßte Ergänzung zum anderen. Die Erzählung der ,Theogonie< hat die rur Hesiod charakteristische Form, daß sie, nacpdem sie die Geburt des Prometheus und seiner Brüder erzählt hat, zunächst das Ende seiner Geschichte vor uns hinstellt, den von Gott Gestraften, Gefesselten, dem der Adler des Zeus täglich die Leber frißt, bis Herakies ihn, IIdoch nimmer gegen den Willen des Zeus«, wie der Dichter mit Fleiß betont, befreit. Dann erst wird die Vorgeschichte gegeben: wie Prometheus bei dem Opfervertrag von Mekone zugunsten der Menschen den Zeus betrog. Er bedeckte nämlich den einen Teil, der nur die Knochen barg. mit schimmerndem Fett, den anderen dagegen. der den eigentlich wertvollen Anteil enthielt, machte er unansehnlich, indem er ihn mit dem Magen des Stiers zudeckte. Zeus durchschaute zwar den Betrug. ließ ihn sich aber dennoch gefallen und ging darauf ein, denn er »erdachte Verderben sterblichen Menschen im Geist, das bald vollenden sich sollte«. Er beschloß nämlich, ihnen das Feuer dauernd zu verweigern, womit sie ihres vermeintlichen Vorteils bei der Opferteilung gänzlich verlustig gegangen wären. Doch abermals täuscht ihn Prometheus, indem er das Feuer in der Höhlung einer Narthexstaude stiehlt und den Menschen bringt. Und nun unterläßt es der Erzähler, ausdrücklich zu sagen, daß es die Strafe tur diesen Betrug war, daß Prometheus an den Felsen geschmiedet und der Qual durch den Adler überliefert wird. Statt dessen erzählt er, wie Zeus an Stelle des Feuers den Menschen ein übel bereitete, ein schönes übel, die Mutter aller Weiber. Ihr ja entsprangen das arge Geschlecht und die Stämme der Weiber,
Die zum Unheil wohnen mit sterblichen M:mnern ·zusammen. (592 Cf.) Ausf'ührlicher aber wissen hier die' Werke und Tage< zu berichten, wie Zeus den abermaligen Betrug zugunsten der Menschen mit triumphierendem Hohn zunichte macht, indem er ihnen das Weib, Pandora, verfertigen läßt, ein übel, »darüber jeder im Herzen sich freut, sein eigen Verderben umarmend«. Doch abermals geht die Erzählung ins Mythische über. Es folgt nicht, wie in der ,Theogonie<, ein bitterer Klageruf über das Unheil der Weiber, sondern eine Schilderung, wie alle Götter Pandora ausstatten helfen und Epimetheus sie gegen den Rat das Prometheus aufnimmt. Sie aber öffuet von einem großen Faß den Deckel, so daß viele Übel v~n da unter die Menschen kommen. Einzig die Hoffilung blieb in dem niemals wankenden Hause Unter der Mündung noch im Gefäß und konnte heraus nicht Flattern, da jene zuvor dem Gefäße den Deckel noch aufdrückt. (96 Cf.) Soweit die sich zu einem Ganzen rundende Erzählung des Hesiod.
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Wenn wir sie jetzt näher ins Auge fassen, soll uns die bekannte Außerung des Herodot, Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre Götter erzeugt, den Blick schärfen. Es scheint mir kein Zweifel über den religionsgeschichtlichen Ort, an dem Hesiod steht. Seine mythische Genealogie der Göttergeschlechter ist wirklich, wie die Herodot-Stelle sagen will, eine große Ordnungstat, die aus der lokalen Vielfalt kultischer Überlieferung herausführt und eine gesamthellenische Theologie bietet. Dieser Vorgang theologischer Systembildung ist gleichbedeutend mit dem Aufsteigen der Zeusreligion, deren Sieg das Bild der olympischen Welt vollendet. Es scheint mir nun offenkundig, daß diese Absicht, die wir aus Homer und Hesiod sonst kennen, auch auf die Prometheus-Erzählung eingewirkt hat. Ursprünglich nämlich war Zeus bei dem Opferbetrug von Mekone wirklich der Betrogene und wählte falsch. Dann (554ff.) ergrimmte er schrecklich, "als er die Knochen, die weißen des Stiers mit dem Truge gesehen«. Ursprünglich also war es ein ätiologischer Mythos, bestimmt, den faktischen Gebrauch bei der Darbringung von Tieropfern mythisch zu begründen. Auch verlangt der Fortgang der Geschichte, die Zeus' Rache enthielt, offenbar, daß er der Betrogene war. So ist noch das Bild der Sache, das die , Werke und Tage( (Vers 49) voraussetzen. In der ,Theogonie< dagegen deutet Hesiod den Mythos um und läßt Zeus den Betrug durchschauen. Das Motiv hierfür is~ sichtlich, die Überlegenheit des Zeus zu steigern, seine Weisheit über allen Wettbewerb hinaus zu erhöhen. Das ist dem Dichter so wichtig, daß er dafür in Kauf nimmt, das wissentliche Zulassen des Opferbetruges nun nur schlecht begründen zu können, durch böse Gesinnung des Zeus gegen die Menschen. Der zweite Betrug dagegen, das Gelingen des Feuerdiebstahls, hat offenbar in den Augen des Dichters für Zeus nichts Herabsetzendes. Solches Getäuschtwerden durch heimlichen Frevel mindert nicht die göttliche Größe. Nur in List und Betrug, als Partner in einem Handel übertroffen zu werden, in einem Rechtshandel betrogen zu werden, nur das schien dem Dichter mit der Größe des Zeus unvereinbar. (Man muß sich von dem christlichen Begriff der Allwissenheit freimachen, wenn man die Geschichte verstehen will.) Die dargestellte Umformung der ursprünglichen Geschichte hat also einen theologischen Hintergrund. Aber auch die Schilderung in den ,Werken und Tagen< verrät (durch ihr Ungeschick) bewußte Umdichtung anderer Überlieferung. Die PandoraGeschichte wird mit dem Prometheus-Mythos verbunden. Aber die Einarbeitung ist nicht fugenlos. Der doppelte Betrug des Prometheus hat ein doppeltes Gegenhandeln des Zeus zur Folge, erst die Feuerverweigerung, die den Opferbetrug zunichtt: macht, dann die Schaffung des Weibes, das durch seine Verschwendungssucht allen Gewinn aus dem Feuerbesitz für die Menschen zunichte macht. Eine schöne Steigerung, deren Pointe darin
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liegt, daß dieses Übel, das Weib, die endgültige Plage des Menschen ist, gegen die es keine Abhilfe gibt, weil gar keine gesucht wird, im Gegenteil ein jeder sich freut, »sein eigenes Verderben umarmend«. Von da an ist den Menschen nicht mehr zu helfen. Dieser klare Aufbau wird nun unklar durch die Einknüpfung des Pandora-Motivs. Die Pandora-Geschichte selbst scheint dabei grundlegend verändert worden zu sein. Ursprünglich nämlich muß es so gewesen sein, daß in dem Faß lauter gute Gaben waren. Der Mensch (nach Babrius 58) läßt sie aus Neugier entweichen - bis auf die Hoffnung, die als einziges Gut in diesem beraubten Leben den Menschen bleibt. Man darf als sicher annehmen, daß diese Fabelüberlieferung auf den Pandora-Mythos zurückgeht, derart, daß Pandora ihrem Gatten Epimetheus als einzige Mitgift, die sie nicht verschwendet, die Hoffnung beläßt. die Mitgift derer, die nicht vorzusorgen wissen (die nicht np01',''llJeif; sind). Ein schöner Sinn, mannigfach zu früher überlieferung passend, daß die Hoffnung der einzig sichere Besitz des Menschen ist. Theognis (1135ff.) bedeutet eine Bestätigung dieser Überlieferung. Hesiod dagegen macht aus dem Faß ein Faß mit Übeln. Offenbar. um in die alte Sagenform hineinzunehmen, daß das Weib den Menschen eine Fülle von übeln bringt. Auch machte der Zusammenhang seiner Geschichte die Ausstattung der Pandora mit Übeln nötig, denn sie wirdja zur Strafe. zur Vereitelung der Menschenfreundlichkeit des Prometheus, entsendet. Nun wird aber dadurch der Sinn der Geschichte selber dunkel. Was bedeutet es jetzt, daß die Hoffnung im Faß zurückbleibt? Der Zusammenhang fordert, daß sie hier als ein übel gesehen ist. Diese Einschätzung der Hoffnung paßt auch sonst gut zu Hesiod. Der Landmann solle lieber vorsorgen als auf nichtige Hoffnungen bauen (>Werke und Tage( 496ff.). In den Augen des bäuerlich denkenden Dichters mag also wirklich das Zurückbleiben der Hoffnung im Faß eine Art Milderung des Unheils sein. Wenigstens werden die Männer von der Hoffnung unverführt bleiben und in der bitteren Mühsal ihres entstellten Lebens nicht in Untätigkeit versinken. So mag Hesiod gedacht haben, mit dieser äußeren Bitterkeit, die noch im hoffnungslosen Hintragen des Lebens etwas Besseres sieht als in der Eitelkeit des Hoffens. Und wenn er selbst nicht so gedacht haben sollte, sondern die Folgen seiner Umformung der überlieferung nicht übersah, so hat er doch den Denkenden diesen Sinn gezeigt. Eins aber ist sicher - warum und in welcher Richtung Hesiod den PrometheusMythos umgedichtet hat. Der mit Zeus an Klugheit wetteifernde Titan, der den Menschen Gutes bringt, wenn er selbst auch dafür büßen muß, wird zum immer und völlig Unterlegenen, der die bösen Pläne des Zeus mit den Menschen ohnmächtig fördert. So tritt die Kulturtat des Prometheus, die Bedeutung des Feuerdiebstahls für die Geschichte der menschlichen Zivilisation, gar nicht heraus. Dem Unheil, das Prometheus wie die Menschen trifft, fehlt damit die Sinnschärfe des tragischen Widerspruchs.
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Hier aber setzt der Tiefsinn des Prometheus-Dramas ein, das unter dem Namen des Aischylos auf uns gekommen ist. Die Deutung, die hier dem alten Mythos gegeben wird, zeugt zwar von einem neuen. zum Denken entschlossenen Geiste. Dennoch ist es wohl gerade der alte Geist des Mythos, der in dieser neuen Deutung zu reden beginnt. Ja, fast scheint es, als hätte Aischylos genau dort weiter und in die Tiefe des alten Mythos zurückgedacht, wo Hesiod anhielt. Er hat die Prometheusgestalt ins Licht der Tragödie der Kultur gestellt, indem er mit Bewußtheit ausdeutete, was der Feuerdiebstahl der Sage für die Menschen bedeutete: den Beginn eines ins U na bsehbare hinausstrebenden menschlichen Schaffens. Das Prometheus-Drama nimmt innerhalb der attischen Tragödie eine Sondc:rste1lung ein - es ist als einziges ein reines Götterdrama. Sein religiöser Sinn ist nicht ohne weiteres klar. Die einfache Handlung versetzt uns in die Zeit nach dem Frevel des Prometheus und beginnt mit seiner Anschmiedung an den Fels im fernen Kaukasus. Sie empfängt ihre dramatische Spannung daraus, daß der gefesselte Prometheus im Besitz eines Geheimnisses ist. Er weiß von seiner Mutter, daß Zeus. wenn er sich mit der Meernymphe Thetis vermählt, einen Sohn zeugen wird, der ihn einstmals vom Weltenthrone stürzen soll. Zeus sucht ihm dieses Geheimnis auf alle Weise zu entwinden. Auch seine eigenen Freunde, Okeanos und die Meermädchen, reden ihm zu. Aber er verharrt in unbeugsamem Trotz; im Angesicht der entsetzlichsten Leiden genießt er das triumphierende Bewußtsein, daß sein Gegner den Sturz erleiden wird. Das Drama schließt damit, daß der ergrimmte Zeus den trotzigen Titanen mit seinem Blitz in den Abgrund hinabschmc;ttert. Auch wenn man alle Nachrichten über ein anderes Prometheus-Drama des Aischylos beiseite läßt. wonach nach langem Zeitraum die Erlösung des unter gesteigerten Qualen Gefesselten durch Herakles und seine Versöhnung mit Zeus behandelt worden sei, ist es evident, daß der IGefesselte Prometheus1, den wir kennen, nicht das letzte Wort des Dichters gewesen sein kann. Es mußte auf die schließliche Versöhnung von,Zeus und Prometheus hinauslaufen, denn die Herrschaft des Zeus ist ja am Ende doch ewig und ungefährdet - nach der geltenden griechischen ReligioJll -, und der Titan ist mit ihm versöhnt. Diese religiös-verbindliche mythische Tatsache gilt ohne allen Zweifel auch für den Dichter des IGefesselten Prometheusl. Mit seinem Drama greift er nur in die Vorgeschichte dieses sanktionierten Zustandes der Zeusre1igion zurück, in eine Zeit. zu der der· neue Himme1sherrscher und der Titan einander noch mit unversöhnlicher Härte gegenüberstehen. Der Dichter hat den Titanen mit einem glühenden Rechtsbewußtsein ausgestattet. Prometheus hat danach im großen Kampf der Götter und Titanen die Partei des Zeus ergriffen und ihm Rat und Dienst geleistet. Als
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aber Zeus das Menschengeschlecht vernichten will, stellt sich ihm Prometheus entgegen und leidet nun für seine Menschenliebe die grausame Strafe des Götterkönigs, der alle Pflicht der Dankbarkeit verleugnet. Er selbst freilich ist nicht minder maßlosen Wesens als sein Widersacher. Hermes hat offenbar recht, wenn er sagt: »Nicht auszuhalten wär' es, wenn du glücklich wärst« (979). Sosehr der Dichter die Großartigkeit seines unbeugsamen Trotzes in dem Drama zur Wirkung bringt, Prometheus wie sein Gegner werden beide Maß und Weisheit lernen müssen. Erst dadurch, daß sie beide von ihrer Härte gegeneinander lassen, begründet sich die dauernde Ordnung der olympischen Religion. Das muß der ergänzende Gedanke gewesen sein, mit dem das griechische Theater das Spiel vom Trotz des Titanen aufnahm. überdies ist es ein echt Aischyleischer Gedanke - man erinnere sich der Aufnahme der Eumeniden in die olympische Ordnung, die der Orestie ihren religiösen Abschluß gibt. In diese Geschichte vom Zwist der Götter ist nun bei Aischylos das Schicksal der Menschheit in einer neuen und tiefsinnigen Weise verflochten. Prometheus ist der Menschenfreund, Zeus dagegen, der von seinem Siege trunkene neue Himmelsherrscher, »nahm auf die armen Sterblichen gar keine Rücksicht, sondern wollte ihr ganzes Geschlecht vernichten und ein neues schaffen« (Aisch. Prom. 231-33). Prometheus rettet die Menschen - das ist sein Frevel (if'JUlpret; 260), für den er leidet -, und wenn er sich am Ende mit Zeus versöhnt hat, so bedeutet diese Versöhnung zugleich die Versöhnung des Zeus mit dem menschlichen Geschlecht. Was das aber besagt, wird erst offenbar. wenn man bedenkt. wie Prometheus von den Menschen das Verderben abgewendet und wie er das Leben der Menschen verändert hat. Er sagt es selbst (248): Er machte dem ein Ende. daß die Menschen ihren Tod vorhersahen, indem er »eitle Hoffnungen ihnen eingab« - und außerdem ihnen das Feuer und damit die ganze folgenreiche Fähigkeit zur Erlernung der ITechnai(, die Fähigkeit zur Kultur, verlieh. Wenn dies die Rettung der Menschheit vor dem völligen Verderben sein soll. muß diese Tat des Prometheus bedeuten. daß er den Menschen die Fähigkeit zur Selbsthilfe. gab. Das aber ist ein Vorrecht der Götter. das er damit den Eintagswesqn (den bpr"p.epoz) freventlich verschaffte (945ff.). Die Kultur selbst also ist ein Frevel gegen die Götter. Nun ist es offenbar des Aischylos eigentliche Meinung. daß nicht so sehr der Besitz des Feuers als dessen geistige Voraussetzung für die Kultur das Entscheidende ist: die Hoffnung. Sie ist zwar an sich trügerisch, denn sie läßt immer Zukunft sein. die doch eines Tages nicht mehr ist. Insofern möchte sie ein übel scheinen, wie Hesiod meinte. Aber Aischylos sieht tiefer: Sie ist nicht der Gegensatz zum prometheischen Selbstvertrauen des nicht hoffenden. sondern voraussorgenden Menschen, vielmehr dessen Ermöglichung. Nur weil
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ein jeder ständig hoffend Zukunft hat, hat das Menschengeschlecht als Ganzes seinen Bestand, auch wenn der einzelne stirbt. )Kultur( gibt es nur, wo der einzelne Mensch nicht nur sein Leben fristet, sondern für alle schafft, was dem einzelnen vielleicht heute noch zu genießen versagt wird. In ihrem Wesen liegt ein tragischer Widerspruch - die ständige Selbsttäuschung aller und doch im ganzen Wahrheit zu sein, ein Wissen für alle zu sein und doch für den einzelnen nicht. Das ist der geistige Hintergrund der Feuertechnik, die die menschliche Kultur trägt. Aischylos tut ein Außerstes, diesen geistigen Sinn der Kulturtat des Prometheus einzuschärfen. Prometheus selbst nämlich schildert in längerer Rede sein Verdienst um die Wendung der menschlichen Leiden (442ff.): »Sie sahen und sahen doch nicht, hörten und hörten doch nicht, s,ondern wie Traumwesen ließen sie ihr ganzes langes Leben alles durcheinandergehen« (448-50), lebten schutzlos in Höhlen usw. Er aber gab ihnenund nun folgt eine Liste menschlicher Künste, von der Sternkunde bis zur Seefahrt, von der Heilkunde bis zur Vogelschau und zum Bergbau, »kurz, hör es alles in einem Wort«: Alle Künste stammen dem Menschen von Prometheus. (505-506)
Damit hat Aischylos auf den einen Urfreund der Menschheit alles zusammengehäuft, was mythisches und profanes Kulturbewußtsein der Griechen den verschiedensten Erfindern, Hephaistos und Palamedes und wie sie alle heißen, zuschrieb. Und was das Wichtigste ist: Die eigentlichen Feuerkünste, Bergbau und Schmiedekunst, treten in dieser Selbstrühmung ganz in den Hintergrund. Das ist die bewußte Wendung, die der Dichter hier der überlieferung gibt. Allen Künsten der Kultur aber ist gemeinsam, daß sie zwar insgesamt die Herrschaft des Menschen über die Erde bedeuten, aber das Los der Sterblichkeit nicht aufheben können. Auch Sophokles. in dem großen Chorlied der )Antigone(, das die furchtbare Herrlichkeit des Menschen besingt, weiß um die Unaufhebbarkeit dieser Schranke, die nicht am Ende des menschlichen Kulturstrebens aufgerichtet steht, sondern eines jeden einzelnen furchtbarer Anfang und Antrieb ist. Eben dieser tragische Widerspruch im Herzen der menschlichen Kultur aber ist es, der sich im Schicksal des Menschenfreundes Prometheus spiegelt. Er ist der Arzt, der sich nicht selber zu helfen weiß, der heroische Verschwender seines Geistes und der unbeugsame Frevler. In ihm schaut sich die Menschheit selbst an, für die er leidet. Er ist der tragische Held der Kultur, in der die Menschheit sich will, indem sie sich opfert. In der tragischen Vermessenheit, in der er der Menschheit Selbsthilfe gab, hat sich die Menschheit ständig selbst vermessen. Der Stolz des menschlichen Kulturwillens ist unmäßig und verzweifelt zugleich. Kulturbewußtsein ist immer schon Kulturkritik. Das ist die
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Form. in der Aischylos den mythischen Urgedanken vom Frevel des Feuerbesitzes fur die Tragödie gewonnen hat. Indem sich aber der Zwist des alten titanischen und des neuen olympischen Gottes am Ende auflöst. schließt sich auch über der tragischen Spannung des menschlichen Kulturbewußtseins die zur Dauer befestigte Ordnung des Seins. Mißt man das Leben eines Mythos daran. wie lange er in eine religiöse Ordnung eingefügt bleibt. so wäre hier. mit Aischylos. das Ende der Geschichte dieses Mythos erreicht. Was folgt. antikes wie modemes Sichspiegeln in seiner Gestalt. stellt kein religiöses Verhältnis mehr dar. sondern ist entweder ein Deuten. das nach dem Sinn fragt. der ein anderer ist als die Geschichte selbst. Dann ist es Allegorie. Oder es ist ein neues Bilden der Geschichte und Gestalt selbst - in der dichterischen Phantasie. Beides aber bleiben Metamorphosen des mythischen Urgedankens selbst, Wandlungen eines Symbols. in dem sich die Menschheit erkennt und zu ihrem Schicksal bekennt. Es sei noch mit flüchtigen Strichen gezeichnet. wie diese Geschichte verläuft. Ist Prometheus die mythische Spiegelung der menschlichen Kulturtat. so muß sich jede entscheidende Wendung in der Geschichte des menschlichen Kulturbewußtseins zur Deutung oder Nachgestaltung gereizt gefunden haben. Der antike Teil dieser Geschichte ist rasch erzählt. Da ist das Zeitalter der Sophistik. in dem die neue. aufgeklärte Gestalt des Geistes, die wir Bildung nennen. entstand. In Platos >Protagoras< stellt sie sich ausdrücklich in einer neuen Deutung des Prometheus-Mythos dar. Bei der Ausstattung der Wesen habe Epimetheus für die Menschen nichts Rechtes mehr übriggelassen: schutzlos und schwach. wie ihre Ausstattung war, schienen sie dem Verderben geweiht. Da brachte ihnen Prometheus EVreXVO( oorpia oVv nvpi. den Kunstgeist mit dem Feuer. Aber - und das ist die Weiterbildung der Geschichte unter dem Gedanken der Bildung -: auch so war die Menschheit noch nicht lebensfähig. weil sie ihr neues gewaltiges Können gegen sich selbst kehrte und durch Krieg und Verwüstung sich selbst zu vernichten drohte. Da ließ ihr Zeus Recht und Scheu (öi1t1J xai al8r«) bringen und an alle Menschen gleichmäßig verteilen. Bildung, Paideia. ist nichts als die Weckung dieser in jedem Menschen verborgenen Gaben. die ihn zum staatlichen Dasein befähigen. So erscheint der sophistische Lehrer als der wahre Vollender der Kulturtat des Prometheus. Dem Selbstgefühl der Bildung aber ist stets die Kritik der Bildung verschwistert. Neben der sophistischen steht die kynische Prometheusdeutung. Es wechselt das Vorzeichen. Prometheus ist nun nicht mehr der Retter der Menschheit (den nur noch der Bildungslehrer übertreffen kann). sondern ist ihr Verderber • der mit Recht vom höchsten Gotte gestraft wird. Denn was ist diese Gabe des Feuers und der Künste anderes als eine ständige Verführung der Menschheit zur Verweichlichung und zum Lu-
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xus? Ist nicht gerade die prometheische Gabe der Vorausschau und Vorsorge das Unheil der Kultur, weil ihre Anwendung halt- und ziellos ist? So oder so, Lehrer oder Verführer, in beiden Formen der Bildung ist der mythische Hintergrund der Prometheusgestalt geschwunden, und es begreift sich gut, daß nunmehr aus der Geschichte der Sage ein anderer Zug heraustritt und die ganze Gestalt neu prägt: Prometheus wird zum Anthropoplasten, zum Bildner des Menschen. Das aber bedeutet: der Mensch ist nicht mehr auf eine göttliche Ordnung bezogen, gegen die er freveln und an der er scheitern kann, sondern sich selbst überantwortet und vom Selbstbewußtsein seines Wissens und Könnens geprägt. Das ist die Form, in der das spätere Altertum Prometheus und sich selbst gedacht hat, insbesondere so, daß dem Prometheus die Hilfe der Minerva, d. h. des Geistes, zuteil wurde. Prometheus und Minerva vereint seien die Urheber und Schutzgötter des menschlichen Daseins. Dann aber, am Ausgang des Altertums, erfaßte eine neue religiöse Erregung die Menschheit. In der gnostischen Form der Selbsterlösung der Seele von der Welt oder in der christlichen Form des für die Menschheit leidenden Erlösers wird die Prometheusfigur gelegentlich zum Ansatz für die religiöse Selbstaussprache der Zeit, aber sie erscheint in einer Verkleidung, in der die Figur des alten Mythos unkenntlich wird, etwa in der Gestalt, daß Prometheus das wirkliche Ende der olympischen Herrschaft voraussah. Es ist wie eine neue Geschichte, die mit der neuzeitlichen Wandlung des Prometheussymbols beginnt. Sie schließt sich an die spätantike überlieferung von Prometheus als dem Menschenschöpfer an, aber sie reflektiert diese Überlieferung in dem neuen Selbstbewußtsein des sich aus den christlichen Bindungen lösenden Geistes. Diese Geschichte mußte mit der Renaissance ihren Anfang nehmen - wirksam aber wurde sie zuerst bei Shaftesbury und gewinnt ihre gültige Form in der berühmten Ode Goethes. In dem Menschenbildner Prometheus erkennt sich nun die Menschheit in ihrer eigenen bildnerischen Macht im Reiche der Kunst. Es ist der Mythos des Genies, der allmächtigen Produktivität des Künstlertums, dieser spezifisch moderne Mythos vom Menschen, der sich nun an das alte Symbol anschließt. Der Künstler ist der wahre Mensch, weil er die Manifestation seiner produktiven Kraft ist. Im Schöpferturn der künstlerischen Phantasie ist eine Allmacht gelegen, die durch keine Bindung an Gegebenes eingeschränkt ist. Der schöpferische Mensch ist ein wahrer Gott. Goethes Prometheus-Ode hat in aufsehenmachender Weise die antichristlichen Folgerungen dieses künstlerischen Machtgefühls gezogen: "Dein nicht zu achten wie ich« wird die Bestimmung des titanischen Menschen. In der Nachfolge Goethes haben dann andere, vor allem Shelley und Byron, in eigenen Prometheus-Dichtungen das ästhetische und ethische Selbstbewußtsein des modemen Menschen gegen die christliche Überlieferung und die christli-
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che Kirche gewendet. So wird in einer für die neuzeitliche Geschichte entscheidenden Stunde der antike Mythos bedeutsam. Im Aufstand des Titanen gegen die Olympier entdeckt diese Zeit ihr heldisches Ideal der sittlichen Freiheit. Doch nochmals wandelt sich das Prometheussymbol, indem es die Seelengeschichte des modemen Menschen begleitet. Dem Rausch des Schöpfertums ist das Leiden nahe, das aus dem Widerspruch dieser Allmacht in der Phantasie und der Ohnmacht im Wirklichen erwächst. Auch das aber war Prometheus - nicht nur der heroische Schöpfer einer eigenen Welt, er war auch der ständig vom Adler des Zeus Zerfleischte. Das Leiden des modernen Menschen freilich fühlt sich nicht als Leiden an Gott, sondern an sich selbst. So wird Prometheus zum Symbol dieser Selbstzerfleischung der Menschheit durch ihr Gewissen. zum Symbol der Tragödie des Bewußtseins. Man spürt die Nähe Nietzsches. In der Tat hat Andre Gide in einer frühen Arbeit eine satirische Geschichte vom )Schlechtgefesselten Prometheusc erzählt. die dem Geiste Nietzsches verwandt ist. Hier kommt Prometheus auf die Idee. sich selbst von seinem Adler zu befreien, sich gleichsam von dem eigenen Zwiespalt des moralischen Leidens zu erlösen. indem er seinen Adler verspeist. Die künsderische Berechtigung dieser Satire steht hier nicht zur Diskussion. In jedem Falle erhebt sich' dieser willkürliche Gebrauch des alten Mythos zu einer mehr als willkürlichen Bedeutung. )Jenseits von Gut und Bösec zu sein scheint heute manchem wie eine neue Gesundheit, als die Heilung eines alten Leidens an sich selbst. Indessen, die Geschichte von Prometheus scheint mir so wenig zu Ende, wie die Geschichte des Menschen. Ja, vielleicht beginnt sie erneut in die Nähe des antiken Mythos zu treten. der vom Menschen nur zu sagen wußte, indem er vom Streit der Götter sprach. Auch die Erfahrung der heutigen Menschheit beginnt die Grenzen des modernen menschlichen Selbstbewußtseins zu fühlen. Ich will zum Schluß an eine Figur des Geistes anknüpfen, deren Maße uns alle unendlich übertreffen - ich meine Goethe. Ihn hat das Prometheussymbol nicht das eine Mal nur angerührt, als er der titanischen Kräfte seines bildnerischen Könnens innewurde. Als Schlußstein seiner von ihm selbst veranstalteten Ausgabe letzter Hand lesen wir ein dramatisches Fragment, )Pandorac, dessen Sinn dunkel genug bleibt2. Soviel aber ist klar: Prometheus bleibt hier nicht der titanenhafte Mittelpunkt einer souverän beherrschten Welt. Er ist jetzt der Geist der rasdos unermüdeten Tätigkeit, aber selbst dieses gebändigte Wirken des Titanen begrenzt sich noch am Rechte anderer Geisteswelten. Goethes Fähigkeit, sich selbst zu überwinden und zu beschränken. hat fiir uns fast etwas Unbegreifliches. Wir wagen nicht, der 2 VgI. meinen Deutungsversuch in ,Vom geistigen Lauf des Menschen<, Teilt. in diesem Band. S. 89ft'.
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menschlichen Kultur als ganzer gleiche Kräfte zuzutrauen. Indessen, was die Kraft unseres Wollens übersteigt, bewegt sich vielleicht auf dem Wege des Leidens zu seinem Ziel. Auch die Tragödie der modernen Kultur findet vielleicht irgendwo, wohin wir nicht mehr reichen, ihre Versöhnung.
13. Der Gott des innersten Geflihls (1961)
Daß das Theater mit den Göttern wie mit den Menschen sein eigenes. freies und oft frivoles Spiel treibt, ist uns aus der Antike und aus mancher anderen Kultur wohlbekannt. Es ist irgend etwas überzeugendes darin. daß eine Religion der festen kultischen und rituellen Ordnung sich leisten kann, was etwa die christliche Religion. die eine Religion der Heiligen Schrift ist und Rechtgläubigkeit verlangt, ihren Gläubigen verbieten muß. Wenn innerhalb der christlichen Kulturwelt ein antiker Komödienstoff, wie im Falle des >Amphitryon< die Verwechslung von Göttern und Menschen. dichterisch erneuert wird, etwa von Moliere, dann sind diese Götter bloße Masken. in denen sich der menschliche Gegensatz zwischen den hohen Herren der höfischen Welt und ihrer Dienerschaft verkleidet. Auch Kleists >Amphitryon<, der ja eine bloße überarbeitung Molieres ist, scheint in diese Linie zu gehören, wenngleich hohe dichterische Töne eine Art pantheistischer Gottesvorstellung anklingen lassen. Es ist daher kein Wunder, daß man die Kleistsche Umdichtung überhaupt nicht auf ihre religiöse Bedeutung hin zu befragen pflegt und vielmehr den Tiefsinn und die Abgründigkeit, die das Spiel als solches bei Kleist gewinnt. hervorkehrt. Aber ist das richtig? Ist es auch nur genügend, um den Spielverlauf dieses Spieles wirklich zu vollziehen? Wenn nach Thomas Mann, Max Kommerell. Peter Szondi. Arthur Henkel das Kleistsche Spiel hier nochmals analysiert wird, so geschieht es um dieser Frage willen. Man darf daran denken, daß der IAmphitryon< von den Zeitgenossen, insbesondere von dem enthusiastischen Adam Müller und der christlich-deutschen Tischgesellschaft, der Kleist angehörte. als ein Dokument wahrer Religiosität und gereinigter Gottesvorstellung gefeiert worden ist. Zwar wird man dem im einzelnen nicht folgen können, zum Beispiel nicht der konkreten Ausdeutung der Alkmene-Gestalt auf die unbefleckte Empfängnis Mariens hin. Aber die religiöse Stimmung der Berliner Romantik, in der sich Kleists Leben bewegte, bekundet sich darin auf eine unbezweifelbare Art. So sollte man sich fragen, ob sich die Kleistschen Aussagen ihrer religiösen Verbindlichkeit nach etwa mit Hölderlinschen Gottesaussagen durchaus messen können. Gewiß ist die religiöse Grundstimmung des Zeitalters bei Dichtern wie bei Denkern zu seltsam freien und kühnen Bildungen
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gelangt. Aber wenn man, wie das Guardini mit Recht festgestellt hat, bereit ist, Hölderlin )seine Götter zu glauben<, so scheint mir auch Kleists )Amphitryon< von der Erfahrung der Transzendenz aus und nicht von ihrem Verlust her zu verstehen zu sein. Sein Jupiter ist keine bloße Bildungsfigur des humanistischen Bewußtseins wie der des Moliere, der ohne alle Metaphysik und Transzendenz den Souverain des Dieux darstellt, welcher durch seinen fürstlichen Rang über den Gesetzen der menschlichen Gesellschaft steht. Kleists Jupiter ist im Gegensatz dazu ohne jedes gesellschaftliche ProfIl. Die Grenzen seiner Person gehen in einer unvergleichlichen Weise ständig in die Allheit des Seins über. Er ist der Allumfassende, dernicht nur diese Person ist, sondern alles Seiende. Injeder Gestalt der Natur und der Menschenwelt ist er anwesend. Ist das einfach eine pantheistische Häresie, wie sie auch sonst als eine A.uflösungsform der christlichen Kultur auftritt? Oder ist es eine menschliche Erfahrung, welche Kleist hier in die Dimension der mythischen Realität des Göttlichen hineinreichen läßt, und müssen wir auf das Spiel dieser Verwechslung von Göttern und Menschen so hören. daß wir ihm dahin folgen? Fragen wir zunächst, welche Züge an dem Moliereschen Stück er besonders hervorgehoben und wie er das Ganze umgezeichnet hat. Man darf dabei von der Vorgeschichte des griechischen Mythos ganz absehen, die Kleist sicher aufkeinerlei Weise unmittelbar berührt hat. Ja, man braucht auch nicht einmal aufPlautus und die literarischen Vermittlungen zwischen Plautus und Moliere zurückzugehen, die Kleist ebensowenig gekannt haben wird. Es ist vielmehr die geistreiche Wendung, die Moliere der Fabel des alten Lustspiels gibt, das Motiv der Verwechslung von menschlichem Gatten und göttlichem Liebhaber, was Kleist gefesselt hat: daß die Unterscheidung von Gatte und Geliebtem in der Passion der Liebe selber ein echtes Anliegen wird. Die gesellschaftliche Institution der Ehe, der Pflichtenkreis, den sie umschreibt, die Rechte, die sie dem Manne einräumt, all das scheint einem liebenden Bewußtsein wie eine Verfremdung dessen, was in seinem leidenschaftlichen Herzen lebt. Von da aus gibt Moliere der Fabel ihren Sinn. Der göttliche Souverän, der sich als der beglückende Liebhaber fuhlen möchte, wird die von ihm geliebte Frau zur unbedingten Anerkennung der Passion zu bewegen suchen, das heißt aber, er muß die Täuschung, derer er sich bedient hat, zerstören wollen. Die komische Verwicklung besteht nun bei Moliere darin, daß der wirkliche Amphitryon erscheint und als der gekränkte Ehemann vor aller Welt sein Recht geltend macht. Da bleibt dem Gott fatalerweise nichts anderes übrig, als seinerseits die ihm zugefallene Rolle des Ehemanns weiterzuspielen. Er muß nachträglich den aufgetretenen Riß - als Amphitryon selbst den nächtlichen Besuch bei seiner Gattin abgeleugnet hatte - als einen schlechten Scherz bagatellisieren und die Verzeihung seiner Gattin dafur erflehen. Diese Handlung ist nicht ohne objektive Komik, aber auch nicht
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ganz ohne Würde. An ihrem Ende steht die Theophanie, in der Jupiter der ganzen Gesellschaft klarlegt, daß er der nächtliche Besucher war und daß eine Teilung der Frau mit dem Souverän der Götter nichts Entehrendes habe, zumal der Gott ja nur in der Gestalt des Gatten diese Liebe habe gewinnen können. Es geht also bei Moliere um die Ehre des Amphitryon. Die Hauptfigur des Stückes ist durchaus nicht Alkmene. An keinem Punkte der Handlung wird Alkmene auch nur von einem Schatten des Verdachtes gestreift, es könntejemand anderes als ihr Gatte bei ihr gewesen sein. Kleists )Amphitryon( dagegen ist das Drama der Alkmene, der sich bald der liebende Gott in der Gestalt des Gatten, bald der wirkliche Gatte naht, und deren »unfehlbares Gefiihl« sich in diesen Verwechslungen zu verwirren droht. Kleist führt das Molieresche Motiv, daß der Gott die Unterscheidung von Gatte und Geliebtem betreibt, genau in der gleichen Weise ein (1/4), aber es findet seinen eigentlichen Austrag nicht zwischen den streitenden Herren, sondern in dem weiblichen Gemüte, dem die Unterscheidung von Gatte und Geliebtem nicht fremd und dem doch die Einheit beider wesentlich ist: Nicht, daß es mir entschlüpft In dieser heitern Nacht, wie vor dem Gatten Oft der Geliebte aus sich zeichnen kann; Doch da die Götter eines und das andere In dir mir einigten, verzeih ich diesem Von Herzen gern, was der viel1eicht verbrach.
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Die neue Erfindung, mit der Kleist von seiner Moliereschen Vorlage abweicht, besteht darin, daß Alkmene selbst sich nicht täuschen läßt. Sie entdeckt in dem ihr überreichten Gürtel den falschen Buchstaben und wird nachträglich von den Doppelsinnigkeiten beunruhigt, mit denen der Gott ihr seine Liebe schwur. Ihr »innerstes Gefiihl « freilich kann noch weiterhin in der Erinnerung an die Liebesnachtnur zustimmen. Darin ist sie ihrer selbst sicher. Wie meiner reinen Seele! Meiner Unschuld! Du müßtest d~ die Regung mir mißdeuten, Daß ich ihn schöner niemals fand als heut. Ich hätte rur sein Bild ihn halten können, Für sein Gemälde, sieh, von Künsderhand, Dem Leben treu, ins Götdiche verzeichnet. Er stand, ich weiß nicht, vor mir, wie im Traum, Und ein unsägliches Geflihl. ergriff Mich meines Glücks, wie ich es nie empfunden, Als er mir strahlend, wie in Glorie, gestern Der hohe Sieger von Pharissa nahte. Er war's, Amphitryon, der Göttersohn! Nur schien er selber einer schon mir der Verherrlichten, ich hätt ihn fragen mögen, Ob er mir aus den Sternen niederstiege. (1186ff.)
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Gewiß, das ist das »Gesicht der Liebe«. Aber ist darin vielleicht eine zu erlernende Wahrheit? Und geht es in der ganzen spannungsvollen Szene zwischen Alkmene undJupiter am Ende um diese Wahrheit? Hier setzt Kleists Eigenstes ein. Alkmene verliert angesichts der vertauschten Buchstaben in dem Diadem ihre Sicherheit und glaubt sich betrogen. Die große Vel'söhnungsszene zwischen Alkmene und Amphitryon-Jupiter, die bei Moliere steht, wird zu einem Gespräch zwischen Alkmene und Jupiter, das die ganze Spannweite des weiblichen Gemüts durchmißt. Die Szene gehört zu den größten dichterischen Kostbarkeiten der Weltliteratur. Aber ob der Sinn dieses Gespräches schon ganz erfaßt ist? Gewiß, es blitzt darin beständig wie von Wahrheit. Aber daß es ein Gespräch ist, das zu einem Ziele führt, und was dieses Ziel ist, scheint mir noch nicht erkannt. Wohl spürt man, wie Jupiter hier das Gemüt Alkmenes beunruhigt und verwirrt und schließlich befreit, und daß das von der opemhaften Versöhnungsszene Molieres durch eine Welt, eine Welt voller Abgründe, geschieden ist. Der Sinn dieser Szene wird aber, wie ich glaube, immer wieder ins Unklare gebracht, wenn man in die Jupiter-Figur - in der Nachfolge Molieres - ein dem Vorgang in Alkmene analoges Drama hineinliest und gar noch die Qual des unerlösten Gottes mit Kleists selbstquälerischer Existenz ineins setzt. Ich möchte statt solcher Vermenschlichung des Gottes die Hinflihrung des Menschen zum Göttlichen, ein Zeugnis echter mythischer Erfahrung, in dieser Szene sehen. Gewiß ist es richtig, daß der Gott in seiner Göttlichkeit erkannt und anerkannt sein möchte, und wenn Alkmene ebenso unbeirrbar den sterblichen Gatten vorzuziehen versichert, sieht er sich um seine Selbstbegegnung in der Liebe der Frau betrogen: Verflucht der Wahn, der mich hierhergclockt!
(1512)
Aber was ist das Bittere dieser Erkenntnis? Daß sich der Mann nicht als Mann anerkannt sieht und von Eifersucht geq uäl t wird - oder daß er sich nicht als der Gott bestätigt sieht? Warum begnügt sich Jupiter nicht damit, Alkmene täuschend zu beruhigen? Warum verwirrt er sie auf quälerische Weise immer neu? Der innere Sinn dieses Gesprächs scheint mir darin zu bestehen, daß der Gott sich selber will, wenn er Alkmene lehren will, das untrügliche Gefühl, das in ihr ist, nicht zu verleugnen, und daß sie, wenn sie an sich selbst zweifelt, auch an der Göttlichkeit des Göttlichen zweifelt, und umgekehrt daß, wenn sie zu ihrem eigenen Gefühl steht, sie den Gott in seiner wahren Göttlichkeit sein und erscheinen läßt. Gewiß wird man nicht vergessen dürfen, daß es eine Lustspielhandlung ist, in der dieses Zwiegespräch zwischen dem weiblichen Herzen und dem GOtt seinen Platz hat. Man wird die kontrastierenden Szenen der Diener nicht als das einzig Lustspielhafte in diesem Spiele denken dürfen. Wenn Charis in dem
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vor Wut blitzenden Augedes Sosias Apollo zu erkennen meint, so macht diese Parodie die objektive und metaphysische Komik sichtbar, die überhaupt zwischen der Endlichkeit des Menschlichen und der Unendlichkeit des Göttlichen ihr Spiel treibt. Aberdie eigentliche Wahrheit, um die es in diesem Verhältnis geht, hat einen fast tödlichen Ernst. In der heiteren Feierlichkeit der abschließenden Theophanie kommt etwas heraus, was eine bleibende Wahrheit des menschlichen Herzens ist: daß die irdisch erscheinende und daher tragisch zu nehmende Verwechslung die Verwechslung mit einem Gott und daher keine Verwechslung war. Was bei Moliere in der Sphäre höfischer Etikette die Auflösung bedeutet, das hat hier religiösen Ernst. Alkmenes ))Ach!«, mit dem das Stück schließt, läßt die auseinandergetriebenen Unterschiede des Menschlichen und des Göttlichen, des Gatten und des Geliebten, in einer alles Endliche vollendenden Einheit mit Zustimmung zusammengehen. Der Weg zu dieser schließ lichen Auflösung ist alles andere als komisch. Wenn in hoher Feierlichkeit der allseiende Gott aus Alkmenes Herzen das Bewußtsein eines Frevels zu verbannen sucht: Wer wäre außer mir, Geliebte?
(1268)
so scheitert dieser Versuch zunächst daran, daß Alkmene ihrem innersten Gefuhl nicht mehr vertraut. Sie beruhigt sich auch nicht bei der Auskunft, die bei Moliere am Schluß die Ehre des Gatten befriedigt, daß der Betrüger selber der Betrogene sei und die Überlegenheit des Gatten anerkenne, da er ihn nachahmen müsse, um zu betrügen. Derartiges kann dem weiblichen Gemüt Alkmenes keine Beruhigung gewähren:
o Gott, wir müssen uns auf ewig trennen.
(1299)
So wird sie zur eigentlichen Heldin dieses komisch-tragischen Dramas, weil sie sich nicht beschwichtigen läßt. Es bleibt dem Gott nichts anderes übrig, als sie über die Sphäre menschlicher Konflikte ganz hinauszunötigen, und damit vor eine dem weiblichen Herzen noch ganz anders schwierige Prüfung zu stellen. Er erweckt in Alkmene den Glauben, daß es ein Gott war,]upiter, der sie besucht hat. Damit verstellt sich aber erst ganz, was eigentlich heraustreten soll. Denn indem ]upiter in der Gestalt des Amphitryon Alkmene davon überzeugt, daß es allein ]upiter gewesen sein kann, muß er erfahren, wie wenig das Göttliche ihr bedeutet: Wie gern will ich den Schmerz empfunden haben, DenJupiter mir zugefügt, Bleibt mir nur alles freundlich wie es war. (1412ff.)
So kommt es zu der merkwürdigsten und aufregendsten Szene des Ganzen. Der Gott, der Gott sein will, muß sich dagegen wehren, daß das göttliche Sein
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vom liebenden Herzen der Frau in ein halb widerwillig geleistetes Ritual abgedrängt wird. Es ist nicht ein quilerischer EinfallJ upiters. sondern es trifft ihr Herz, wenn er ihr die Erscheinung des Gottes als Rache damr deutet. daß sie über dem irdischen Geliebten den höchsten Gott selbst im Gebet vergessen habe. Es trifft ihr Herz. aber nicht so, daß sie schon lernt. Alkmene nimm t die Warnung vielmehr so an, daß sie sich in dem Wahne bestärkt mhlt, sie solle den Gott und den Geliebten unterscheiden, und sie könne es auch: Wohlan! Ich schwör's dir heilig zu! Ich weiß Aufjede Miene, wie er ausgesehn, Und werd' ihn nicht mit dir verwechseln.
(1471 ff)
Gewiß entspräche es unseren theologischen Vorstellungen von der Jenseitigkeit Gottes, daß solche Verwechslung des Gatten mit dem Gott der eigentlich religiöse Frevel sei. Was scheint näherliegend, als daß der Gott sich solche Verwechslung verbittet-aber ist das die KleistscheTheologie? Ich glaube, die Kleistsche Theologie - wenn man eine solche konstruieren wollte - würde alles andere enthalten als eine Betonung derJenseitigkeit Gottes. Was wäre der Gott fur Alkmene dann? Gut, gut, du sollst mit mir zufrieden sein. Es soll in jeder ersten Morgenstunde Auch kein Gedanke fürder an dich denken: Jedoch nachher vergeß ichJupiter. (1486ff.)
Soll man glauben, daß der Gott damit zufrieden sein und wirklich »durch soviel Besserung gerührt« sein kann? Eine solche Frömmigkeit bestünde ja gerade in dem Vergessen des Göttlichen. Kleist macht das vollends klar, indem Alkmene sich sogar ausdrücklich wünscht. sie könnte »einen Tag zurück leben« und sich »vor allen Göttern und Heroen [... ] riegelfest verschließen«. Sie will sich zwar nicht geradezu der göttlichen Bestimmung verweigern, die sie getroffen hat, aber Läßt man die Wahl mirso bliebe meine Ehrfurcht ihm, und meine Liebe dir, Amphitryon.
(1537ff.)
So sicher scheint sie in ihrer Unterscheidung von GOtt und Gatte. Diese vermeintliche Sicherheit Alkmenes ist in Wahrheit der Gipfel der Verwirrung, ja der VerIeugnung ihres Gefühls. Das gerade kann sie nicht, was sie hier gelobt. Und um ihr das klarzumachen, und nicht aus irgendeiner quälerischen oder eigensüchtigen und eifersüchtigen Lust, fragtJupiter plötzlich: Wenn ich nun dieser Gott dir wäre - ?
(1540)
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An diesem nochmaligen prüfenden Wort des Gottes wird ihre Verwirrung in ihrer ganzen Tiefe aufgedeckt. Die vermeintliche Sicherheit ihres Unterscheidens bricht zusammen, und sie ist bis in das Innerste ihres Gefühls, dahin, wo sie sich nicht mehr an ein vermeintliches Wissen und Unterscheiden halten kann, zuruckgenötigt. Wenn sie nun vor die Wahl gestellt wäre, ob sie den Gott, den sie in den Armen hielte, oder den Amphitryon, der sich ihr zeigte, vorzöge, bekennt sie endlich: Ja - dann so traurig würd ich sein und wünschen Daß er der Gott mir wäre und daß du Amphitryon mir bliebst, wie du es bist. (1566ff.) Und auf diese Worte Alkmenes hin beendet Jupiter in königlicher Sicherheit das Gespräch: Mein süßes angebetetes Geschöpf! In dem so selig ich mich, selig preise! So urgemliß dem göttlichen Gedanken, In Form und Maß, und Sait' und Klang, Wie's meiner Hand Aonen nicht entschlüpfte! Alkrnene: Amphitryon Seirufrig,rufrig,rulUg! Jupiter: Es wird sich alles dir zum Siege lösen. Es drängt den Gott Begier, sich dir zu zeigen, Und ehe noch des Stemenheeres Reigen Herauf durchs stille Nachtge6lde zieht, Weiß deine Brust auch schon, wem sie erglüht.
(1569ff.)
Man hat die Szene erst verstanden, wenn man hier den notwendigen Schluß des gan2en Seelengespräches erkennt. Hier flillt nicht etwaJupiter aus seiner Rolle, sondern hier ist er am Ende seiner Rolle. Hier hat er - endlich - den Sieg errungen, um den es ihm geht, Gott zu sein. Jetzt endlich bekennt sich Alkmene ganz und unbedingt zu ihrem »innersten Geftihk Sie will den Unterschied nicht mehr festhalten, sie weiß sich dessen sicher, was ist. Nun findet Jupiter sie ),urgemäß dem göttlichen Gedanken« - offenbar deshalb, weil sie Amphitryon nicht mehr, weil er Amphitryon, das heißt ihr Gatte ist, liebt, sondern weil sie den wählt, den sie liebt und als gegenwärtig in ihrem Gefühle hält. Damit erfüllt sie das Maß des göttlichen Gedankens. Indem sie nicht mehr zwischen dem Gatten und dem Geliebten unterscheidet, gibt sie beiden, dem Gatten und dem Gotte, ihr Sein. Der Gott ist der Gott des innersten Gefühls. Es ist nur konsequent, daß Alkmenes Verwirrung von nun an behoben ist und nicht wiederkehrt. War es doch der Sinn der vorausgegangenen Versöhnungsszene, die ,theologische< Auszeichnung Alkmenes mit der Gewißheit ihres innersten Gefiihls zu versöhnen. Der Gott ist nicht mehr ,der Andere<. Er ist es so wenig, daß Alkmene überhaupt nicht auf die Idee
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kommt, der zu ihr Sprechende, den sie fiir ihren Gatten hält, sei der göttliche Besucher. Selbst dann nicht kommt sie auf diese Idee, als er ihr sagt, ein Sterblicher sei da, der behaupte, Amphitryon zu sein. Sie empfmdet nur aufs neue die unauslöschliche Schmach, die ihr widerfahren ist: Entsetzlicher! Ein Sterblicher, sagst du?
(2167)
So sicher ist sie, in aller Verzweiflung, ihrer selbst und ihres Vertrauens zu dem, der gegenwärtig ist, daß sie auch dann nicht wieder schwankend wird, als ihr, wie sie an der Seite Jupiters unter das Volk tritt, dort der wahre Amphitryon gegenübersteht. Sie zögert nicht, den wahren Gatten zu verleugnen und zu verfluchen. Das ist kein Irrtum Alkmenes. Vielmehr ist sie damit Z'.l der Gewißheit ihrer selbst zurückgekehrt, die, wie alle angefochtene und wiedergewonnene Gewißheit, eine höhere Gewißheit ist, als sieje war. Das ist auch der theologische Sinn der ans Pantheistische streifenden Theophanie Jupiters: er preist sich in ihr selig. Das will heißen, die Göttlichkeit der Liebe ist in ihr zur Erscheinung gekommen. Für den Gott bedeutet das die Anerkennung seines eigenen göttlichen Seins. Mit der möglichen Unterscheidung in Gatte und Geliebten ist auch die mögliche Verwechslung des Gatten mit dem Geliebten und mit dem Gotte hinfallig geworden. Wenn auch das Drama des ,Amphitryon( das Drama der Alkmene ist, kurz vor der letzten Offenbarung des Göttlichen, als sich Alkmene flir JupiterAmphitryon, also ,falsch( entscheidet, streift Amphitryon die gleiche Wahrheit, zu der Alkmene sich geläutert hat: Mit der größten Emphase bekennt er sich zu dem »unerschütterlich erfaßten Glauben«, daß der andere »Amphitryon ihrist«. Im Drama zwischen Am phitryon undJ upiter ist dies der gleiche Höhepunkt, der im Drama zwischen Alkmene und Jupiter dort auftritt, wo am Ende des langen, qualvollen Gespräches Jupiter ausruft: Mein süßes, angebetetes Geschöpf! In dem so selig ich mich, selig preise!
(1569{.)
Deshalb macht Jupiter nun der Verwirrung ein Ende und erklärt vor allem Volk: Wohlan! Du bist Amphitryon.
(2291)
Und wenn darauf Amphitryon sagt und fragt: Ich bin's!Und wer bist du, furchtbarer Geist?
(2292)
undJupiter antwortet: Amphitryon. Ich glaubte, daß du's wüßtest.
(2293)
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so ist das nicht eine Steigerung komischer Kontraste allein, sondern spiegelt die Aufhebung aller partikularen Icherfahrung, die sich im Anhauch des Göttlichen ergibt. Amphitryon! Du Tor! Du zweifelst noch? Argatiphontidas und Photidas, Die Kadmusburg und Griechenland, Das Licht, der Äther, und das Flüssige, Das was da war, was ist, und was sein wird.
(2296ff.)
Hier scheint mir der religiöse Keimgedanke der Kleistschen Umdichtung Molieres zu liegen. Bei Moliere hat Jupiter, als er in seiner unsterblichen Glorie erscheint, dennoch nicht im eigenen Namen triumphieren können, und der Seigneur Jupiter weiß damit seinem Lehnsmann Amphitryon .die Pille zu versüßen(. Als Kleists Jupiter aber in seiner eigenen Glorie erscheint, gibt es darin keinen Gegensatz mehr zu dem Triumph des irdischen Mannes: Was du, in mir, dir selbst getan, wird dir Bei mir, dem, was ich ewig bin, nicht schaden.
(2321f.)
Der Triumph des Gottes und des Gatten ist einer, weil der Sterbliche und der Göttliche, der Gatte und der Geliebte im zustimmenden Herzen der Frau einer sind. Die Komödie der Verwechslung hat sich aufgelöst. Das Sein des einen ist das Sein des anderen, nicht nur sofern Jupiter das All des Seienden und damit auch Amphitryon ist, sondern weil auch umgekehrt Amphitryon nicht nur dieser durch die Bürger von Theben bestätigte »hohe Sieger von Pharissa« und der königliche Gatte Alkmenes ist, sondern der einzige, der rur Alkmene existiert, der Geliebte. Dürfte nicht auch Kleist, wie Hölderlin, sagen: Und es waltet ein Gott in uns?
14. Vergänglichkeit (1991)
Das Sich-Halten am Sein Auch in Zeiten. in denen Wohlstand und Gedeihen so etwas wie ein behagliches Glück versprechen. ist in unserem Daseinsgefühl das Wissen um die eigene Endlichkeit immer rege. Es gehört zur Grunderfahrung des Menschen. daß er um seinen Tod weiß und zugleich nicht weiß, wann oder wie bald er abberufen wird. Wissen um den Tod hat die Menschheit schon Jahrtausendelang vor aller bezeugten überlieferung begleitet. Dafür gibt es ein unumstößliches Zeugnis. Die Menschen haben ihre Toten bestattet. und dabei haben sie nicht nur etwas beiseite geräumt und aus dem Bewußtsein verdrängen wollen. Sie haben im Gegenteil den Verstorbenen. den großen Herrn oder den großen Herrscher vor allem. weit über den Tod hinaus festzuhalten gesucht. Das zeigen uns die Gräber. in denen die Fülle der Votivgaben nicht nur von dem Gedächtnis an den Verstorbenen Zeugnis ablegen. sondern weit mehr noch eine kultische Verleugnung des Todes auszudrücken scheinen. Man muß es ja fast wie etwas Unglaubhaftes erst lernen. daß all die kunstvollen Geräte und Gebilde. die die Archäologen den Gräbern entreißen. nicht so sehr. wie es scheint, als überreste die Lebenskultur vergangener Zeiten spiegeln. Sie sind in Wahrheit alles Votivg.aben und sind nicht für den wirklichen Gebrauch bestimmt, sondern für den Gebrauch durch den Toten. Auch wissen wir. daß sich solches nicht etwa auf eine bestimmte Religion beschränkt. etwa auf das klassische Altertum. Griechenland und Rom. Es findet sich vielfach, wo menschliches Leben seine Spuren hinterließ. in frühzeitlichen Gräbern oder an v'orzeitlichen Gräberstätten. Wir müssen es wie eine Ableugnung des Todes oder wie einen Widerstand gegen den Tod verstehen. Es scheint fast widersinnig. daß die Besonderheit des Menschen in seinem Wissen um den Tod besteht. das alle seine Lebensgewißheit begleitet. und daß doch der Mensch die gewaltigsten Befestigungen in seinen Grabdenkmälern gegen den Tod errichtet hat. und diese haben manchmal Riesenausmaße. wie die ägyptischen Pyramiden oder die Königsgräber der Wikinger in Norwegen. - Und so fragt man sich. ob nicht am Ende beides. Wissen
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Vergänglichkeit
um den Tod und Widerstand gegen den Tod, den Menschen überhaupt zum Menschen gemacht hat. Am Ende ist auch die geheimnisvolle Macht der Sprache ein Zeugnis für diesen rätselhaften Zusammenhang. Denn was ist die Sprache anderes als das Stiften von Gedächtnis und das Vorstellig- und Sichgegenwärtig-Machen von Nichtseiendem? »Wenn auch abwesend, im Geiste fest gegenwärtig« - so steht es im Lehrgedicht des Parmenides. Das liegt im Dunkel der Vorzeit verborgen. Aber es bleibt zu spüren - in all dem, was mit dem Grab verbunden ist. Von den Votivgaben bis zur Denkmalskunst reicht eine lange Seelengeschichte. Was hat sie uns zu sagen? Der griechische Tragödiendichter Aischylos hat den attischen Töpfergott Prometheus mit dem alten Mythos vOn Prometheus verbunden, der das Feuer vom Himmel gestohlen und den Menschen gebracht hat. Prometheus war in der alten Sage wohl einer der Titanen, der, selbst ein Unsterblicher, den WiderstandgegenZeus, den Herrscher auf dem Olymp, gewagt hat. Sohater durch den Feuerdiebstahl gegen Zeus den Menschen eine Art Gegenwelt mit eigener Souveränität ermöglichtl. Aischylos' Drama nun zeigt, daß dieser Prometheus als der gute Geist aller menschlichen Kunstfertigkeit gelten darf. Der Name des Titanen, Prometheus (= der Voraus-Seher), sagt, daß ihm der Ausblick in die allen anderen verhüllte Zukunft gegeben ist. Prometheus hat seine Unbotmäßigkeit gegen Zeus mrchterlich zu büßen. An den Kaukasus geschmiedet, kommt täglich der Adler, um seine Leber zu zerhacken. Eine schauerliche!, grausame Sage, die zeigt, wie der Kampfzwischen Unsterblichen aussieht. Zugleich aber ist Prometheus ein Sinnbild unbeugsamen Trotzes, der in ihm verkörpert ist. Sein Vergehen gegen Zeus ist zugleich der Aufbau der ganzen menschlichen Welt, wie sich Prometheus selber rühmt. Aischylos hat den Zusammenhang tiefsinnig gedeutet. Prometheus hat den Menschen das Wissen um ihre Todesstunde genommen. Ihr Wissen um den Tod ist ihnen aber geblieben. Sie wissen, daß sie einmal sterben müssen. Damit ist das Wissen um den Tod zum Wissen einer verhüllten Zukunft geworden und eben damit zur unbegrenzten Öffnung für Mögliches. Es ist eine Gabe von Lebensgewißheit und Zukunft zugleich. Früher hätten die Menschen, ihre Todesstunde kennend, in Höhlen gelebt und träge und traurig dahingedämmert. Mit der Gabe des Feuers ist dem Menschen Kunstfertigkeit und damit alle Kulturfähigkeit durch Prometheus zuteil geworden. Das ist die eigentliche Gabe des Prometheus: Der Voraussehende schenkt die Verhüllung der Zukunft. So wurde in den Menschen Lebenskraft, Erfindungsgabe und Gestaltungsfreude geweckt. All das liegt in der unbeugsamen Lebensgewißheit der Menschen, die im Todeskampfihre einzige Niederlage hinnehmen muß. Sie hat in dem unbeugsamen Trotz des Prometheus ihr wahres Vorbild. 1
Siehe dazu ,Prometheus und die Tragödie der Kultur,. in diesem Band. S. 150f(.
Vergänglichkeit
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Der Weg der Menschheit zur Kultur ist gewiß ein vielfacher gewesen. Was sich hier in der griechischen Mythologie spiegelt, ist nur einer dieser Wege, aber einer, der das gesamte Abendland dauerhaft geprägt hat. Es ist die logische Energie der Griechen, die sich in ihrer mathematischen und dialektischen Begabung entfaltet und so dominierend wird, daß sie die Vergänglichkeit alles Seienden kaum je ins Bewußtsein treten lassen. Einer der größten Denker der griechischen Frühzeit, Parmenides, hat alles Werden und alles Vergehen als ein verirrtes Denken des Nichts abgewiesen. Ebenso hat die älteste griechische Aufklärung in Milet die Ausgleichsordnung, die die Natur beherrscht, von allem zufälligen und willkürlichen Handeln höherer Mächte abgelöst. Und selbst bei Parmenides fmdet sich nur ein einziges Mal ein fast ungewollter Hinweis auf das Nichts, wenn er von dem Vergehen der leuchtenden Farbe spricht, das er, wie alles Anderswerden. als Verirrung verwirft. Nun waren gewiß die Wege der Menschheit zur Kultur sehr verschiedene. Aber daß ihnen allen, wie dem griechischen Wege mit dem Wissen um den Tod, die Bangnis der Vergänglichkeit zugrunde lag und daß alle ihre Antworten, von Mythos und Sage, Antworten auf diese Bangnis darstellen, ist ihnen wohl allen gemeinsam. Auch die Griechen wußten. wie Pindar es singt: »Der Traum eines Schattens ist der Mensch. « Als die griechischen Städte ihre eigene Lebensform fanden und über manche Wirrnisse hinweg am Ende so etwas wie die Selbstverwaltung im Stile der griechischen Demokratie geschaffen haben. war das eine sorgsame Sicherung des Gleichgewichts aller Kräfte. - Dies wurde der Boden. auf dem sich auch die logischen Gaben der Griechen bis zur Redekunst und zur Streitkunst. zur Logik und zur Dialektik. hinentwickeln durften. Das hat das Schrittgesetz der europäischen Kultur bis zum heutigen Tage bestimmt - eine erste Vorbereitung der Aufklärungsbewegung, die dann die beginnende Neuzeit und die heutige Weltkultur geprägt hat. Gleichzeitig blühte aber in Griechenland die Kunst, die griechische Tragödie, die griechische Plastik und die griechische Philosophie, in deren Schöpfungen der Zusammenklang von Mythos und Logos einen einzigartigen Höhepunkt erreicht, der die gesamte Bildungsgeschichte Europas bestimmt. So ergreift uns noch heute wie gegenwärtig der Seelenton von Abschied und Trauer, der uns von den aus platonischer Zeit stammenden Grabreliefs erreicht. Sie beginnen mehr und mehr die kultische Form der Votivgaben zu überstrahlen. Diese Grabreliefs tauchen in den verschiedensten Gauen Griechenlands aus der Erde auf und machen im Bildwerk die Vergänglichkeit auf ergreifende Weise sichtbar. Der wachsende Reichtum dieser Funde bezeugt, wie der leise und zarte Klagelaut uns alle rührt. Sicheriich spricht daraus Gesinnung und Haltung der Oberschicht der damaligen Gesellschaft. Es ist aber vielsagend, daß diese Grabdenkmäler im
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allgemeinen früh Verstorbenen gelten und in der Gedenkfeierlichkeit die Gegenwart der Abgeschiedenen festhalten. ob es sich nun um im Kriege gefallene Jünglinge handelt oder um einen bei einem Jagdunfall zu Tode gekommenen, oder ob ein Reliefeine blühende junge Frau festhält, die wie zum Abschied mit dem Schmuck spielt. der ihr durch die Finger rinnt. In all dem liegt eine uns ganz vertraute Verinnerlichung, etwa wenn wir an das Grabrelief in der Münchner Glyptothek denken. auf dem ein Jüngling mit seinem Hund im Bilde erscheint - zugehörig, unzertrennlich und wie nun vergebens suchend. Oder man denke an das vielfaltig sich wiederholende Nebeneinander zweier würdiger Männergestalten. Da hält der Ältere den Arm des Jüngeren leise umschlossen, mit einer Hand. die >drucklos beruhte. zum Abschied des Vaters von seinem im Kriege gefallenen Helden. [n all diesen Darstellungen stehen wir vor der Gegenwart des Gedächtnisses. So denkt alles Denken über die Gegenwart hinaus, und selbst über das Ende des eigenen Lebens hinaus. Bei allem Wissen um die Flüchtigkeit des Irdischen haben sich Trauernde und Betrauerte in fester Kultordnung zu dauernder Gegenwart erhoben. Der Weg von den Votivgaben zu dem Bildgehalt der Grabszenen setzt ein Festhalten fort. Noch heute bestätigt uns unser Sprachgefühl, daß man jemandes Leben oder das eigene Leben nicht als vergänglich denken kann, weil der Lebendige sich der Endlichkeit seines Daseins immer schon bewußt ist. Vergänglich kann am Ende nur etwas heißen, was dauernden Bestand versprach.
Im Zeichen desjenseits - das Diesseits der Bildenden Kunst So ist es am Ende die Wende des Christentums, das in dem eigenen Leben selber nicht mehr das eigentliche Leben sah. »Christus ist mein Leben und Sterben mein Gewinn«, konnte ein frommer Christ noch in neueren Jahrhunderten singen - und in der Tat war es die Radikalität der christlichen Botschaft von dem stellvertretenden Leiden Christi, durch das der Tod seinen Stachel verlor. Der Glaube an die Auferstehung hat dem Himmel des Wiedersehens eine Wirklichkeit verliehen, an der sich die irdische Welt ihrer Vergänglichkeit erst voll eingeständig wurde. So trägt im christlichen Zeitalter das Motiv der Vergänglichkeit einen eigentümlichen Doppelsinn. Die Vergänglichkeit steht gleichsam vor dem Goldgrund der Ewigkeit. So konnten die christlichen Humanisten und ihre Verkünder im Zeitalter der Romantik die Grenzen der griechischen Antike und ihr Scheitern an dem Widersinn des Todes nicht verkennen. Novalis hat in seinen >Hymnen an die Nacht( darin die Grenze des·Griechischen gesehen, daß erst durch die christliche Botschaft der Tod wirklich überwunden worden sei.
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Hier wußten selbst die Götter keinen Rat. Der die beklommne Brust mit Trost erfüllte. Das gleiche mußten selbst solche Dichter und Denker anerkennen. die ganz von der Göttlichkeit der Welt und der Weltlichkeit der Götter ergriffen waren. So auch Friedrich Hölderlin. Er hat in dem ,Einzigenc immer die Bedrängnis seines Weltglaubens empfunden und in ,Patmosc dem christlichen Vorbehalt Achtung bezeugt2 • Die Verse lauten: Es warten aber Der scheuen Augen viele, Zu schauen das Licht. Nicht wollen Am scharfen Strahle sie blühn, Wiewohl den Mut der goldene Zaum hält. Wenn aber, als Von schwellenden Augenbraunen, Der Welt vergessen, Stilleuchtende Kraft aus heiliger Schrift fallt, mögen, Der Gnade sich freuend, sie Am stillen Blicke sich üben. Das sind Verse, die der Dichter denen widmet. die den Weg der inneren Erleuchtung gehen. sich im Glauben gefestigt fuhlen und sich der Gnade freuen. Für ihn ist es nicht länger oder noch nicht wieder der goldene Zaum des Sonnenlaufs und der Blick auf die Ordnung des Alls, den das Glück des Schauens und die Allgegenwart der antiken Götterwelt gewährte. Vor dem Mahnmal des Kreuzes und des Gekreuzigten. vor dem Ewigkeitsgrund des christlichen Glaubens und der Verheißung der Heiligen Schrift vermochte der Christ »der Welt vergessen zu sein«. Die Welt hat damit an Gewicht verloren. Die christliche Kirche war so sehr auf das Wort gestellt. daß sie nur in der Innerlichkeit des Gedächtnisses, der im Glauben erfahrenen Erlösung und der Erwartung der Wiederkehr des Erlösers. das Göttliche zu denken vermochte. Der Grabspruch. den in der Mitte des 19. Jahrhunderts der dänische Denker Kierkegaard rur sich gewählt hat. spricht das Ganze mit Entschiedenheit aus: Nur eine kurze Frist Dann ist's gewonnen. Dann ist der ganze Streit In Nichts zerronnen. Dann werd ich laben mich An Lebensbächen Und ewig, ewiglich Mit Jesu sprechen. 2
Vgl. ,Hölderlin und die Antike., in diesem Band. S. I ff.
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So war es für das christliche Weltalter, das die überwindung der Welt lehrte, nicht so leicht, den großen Bewahrer allen Gedächtnisses in sich aufzunehmen, und das ist die Kunst. Erst in solchem Gedächtnis kann aber die Bangnis der Vergänglichkeit und ihre Annahme zur Sprache werden. So folgen wir dieser Sprachwerdung, die sich im Bild wie im dichterischen Wort vollzog. Die christliche Kirche hatte einen zweimaligen Bilderstreit zu überstehen. Einmal wirkte das alttestamentliche Bilderverbot nach. Die Bildkunst konnte insbesondere ein wirkliches Bild des Schöpfergottes überhaupt nur in Wolken gehüllt wagen. Auch das Symbol des Kreuzes zeigte in der frühen Christenheit noch nicht den Leib des Gekreuzigten. Ebenso ist die Mutter Gottes und das Jesuskind erst langsam als Kultfigur in die christliche Kirche eingedrungen. Selbst dann noch hat die Bildform etwas von dem Wortcharakter der biblischen Verkündigung festgehalten, wenn die Heiligenlegende das Bildbedürfuis der >Armenl befriedigte und wenn die Madonna, von Heiligengestalten umgeben, das wortlose Gespräch mit ihnen führt, das man die )santa conversazionel genannt hat. Eine zweite Epoche der Bildfeindlichkeit stellte dann die Reformation dar, die ja auf das Wort der Bibel erneut zurückging, die Kirchen von der Heiligenpracht reinigte und das Wort der Predigt in den Vordergrund des Gottesdienstes stellte. So blieben auflange hin auch Bilder, die wir Kunstwerke nennen, im Grunde Kultbilder. Erst langsam dringt dann Weltliches in die Bildwelt ein, ohne den Hauch von Heiligkeit zu verströmen, insbesondere, nachdem mit der Reformation Erfolg im Erwerbsleben, wie Max Weber gezeigt hat, als gutes Zeichen für alle Sündenvergebung galt. Aber gerade damit wird die Welt als Welt in ihrer Vergänglichkeit zum Gegenstand, sie ruht nicht länger in ihrer korporellen Schönheit und ihrer Glaubensverheißung, sondern das ist der Augenblick, in dem die Vergänglichkeit des Irdischen unter dem Stichwort der Vanitas die Grundstimmung bildet: »All~ ist eitek Die neue Innerlichkeit nachreformatorischer Frömmigkeit flihrte zu weltlichen Verewigungen historischer Ereignisse oder repräsentativer Herrscherpersönlichkeiten und schließlich in dem individuellen Porträt dazu, daß das Kunstwerk feSthält, was von der Vergänglichkeit bedroht ist. Deutlicher spricht sich das im Aufkommen des Stillebens, der nature morte aus. Hier ist die Vergänglichkeit selber zum Thema geworden. Die Pracht der irdischen Dinge, die eine sinnenfreudige Weltlichkeit zu genießen beginnt, hat ihre unheimliche Seite. Da sind die reichen Tafeln, die mit erlegtem Wildbret oder mit geangelten Fischen bedeckt sind und schließlich mit einem Überreichtum der Früchte der Erde. Man sieht den Dingen nicht leicht an, daß sie die Vergänglichkeit dieser Welt zum Ausdruck bringen - so groß ist die Pracht dieser Welt. Und doch, die Jagdbeute, die an der Wand hllngt, ein Hase oder ein Pasan, der geangelte Fisch, dessen tote Augen einen
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vom Tisch aus anglotzen, die Fruchte und die Blumen, all das sind sinnliche Gewißheiten und doch auch Mahnmale der Vergänglichkeit. Die Orangenschale, die sich halbgeschält herabringelt, die Nußschale, die tropfende Kerze, die halb heruntergebrannt ist, die flüchtigsten Lebewesen, Schmetterlinge, Insekten, Würmer - und dem Blindesten wird es deutlich, wenn auch ein Totenschädel daneben liegt oder eine Inschrift lehrt: »Das sind die allerschönsten Biom, die den Blick lenken nach oben. « Die alttestamentliche Psalmenweisheit läßt uns sofort verstehen, daß Vanitas, Eitelkeit, für die ganze sinnliche Welt gilt: Es ist eine Art glänzender Leere, ob wir das Wort nun auf einen Menschen anwenden oder auf die Flüchtigkeit der Dinge, in denen kein Bestand ist. Wir stehen alle in der fortdauernden Auseinandersetzung zwischen der christlichen Überlieferung und der sich ausbreitenden Aufklärung. Alle Erkenntnis ist Abschied. Aber im Abschied reift auch Erkenntnis. Die Seelengeschichte des Abendlandes ist davon beherrscht. Die Hinfälligkeit alles Irdischen und die Vergeblichkeit aller hochfliegenden Pläne lehrt die Erfahrung. Aber die ganze Natur wie die Menschenwelt, beide sind von Zerstörung bedroht. Weltuntergangsängste gab es im christlichen Zeitalter schon im Jahre 1000 und wieder um 1830. und überhaupt lebte man in der Erwartung des Jüngsten Gerichts als des Endes dieser irdischen Welt. Das spiegelt sich auch in dem dichterischen WiderscheIn. der zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit wie ein zitterndes Licht hin und her weht. Etwas davon hat jedes Werk der Kunst. dank der flüchtigen und geflihrdeten Vollkommenheit, die an allem Schönen haftet. Wie jeder Schaffende wird auch der Kunstschaffende von heute immer wieder von der Vergänglichkeit aller Dinge angerührt und gewinnt gerade daraus immer neuen Antrieb. der Verzauberung durch die Kunst zu dienen. Zwischen der Vergänglichkeit der Welt und der Erfüllung des Augenblicks verspricht die Kunst uns allen. daß »in der zögernden Weile einiges Haltbare sei«. Auch die Oper. diese ehemalige Stätte gesellschaftlichen Paradierens, will an verborgene Emotionen rühren. Einige Zeugnisse aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts seien dem Leser riahegebracht. Eine Novelle von Kleist, ,Das Erdbeben in Chili<, führt Zerstörung, Hinflilligkeit und Verwüstung vor, und fürchterlicher noch als die entfesselten Naturgewalten, die hier ihre Opfer forderten, ist der mörderische Wahnsinn der verfolgungswütigen Menge, die das Liebespaar, das die Natur verschont hatte, zerschmettert. Es ist ein kurzer Satz am Ende des Unheils, dessen eherne Aussagekraft den erschütterten Leser aufrichtet: überlebende nehmen ein elternlos gewordenes kleines Kind in die eigene neue Familie auf. und das läßt an Aufbau selbst unter schrecklichsten Zerstörungen glauben. Andere Zeugnisse volksnaher Dichtung kommen einem in den Sinn. Der
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alemannische Dichter Johann Peter Hebel hat in einfachen, volkstümlichen Geschichten die HinflHligkeit alles Irdischen zu eindringlicher Darstellung gebracht. Der Dichter durchmißt die einfache Wahrheit von der Verg~ng lichkeit und von der Hinnahme der eigenen Bestimmung in einigen Geschichten, an denen man erfahrt, wie der Besitz eine leere Illusion ist. Da ist die allbekannte Geschichte von dem Handwerksmann, der auf seiner Wanderfahrt nach Amsterdam kommt und über die dortigen Reichtümer staunt. Wenn er sich bei den Vorbeigehenden erkundigt, wem dieser Palast da gehört oder jene reiche Schiffsladung, die am Hafen gerade ausgeschifft wird, regt sich in ihm etwas wie Neid. Er bekommt immer als Antwort »Kannitverstan(( und hält das für den Namen eines so reichen Mannes. Aber dann begegnet ihm auf der Straße plötzlich ein langer, langer Leichenzug mit Kutsche und Trägern und einer großen Trauergemeinde. Wieder glaubt er zu verstehen, daß hier der Herr ))Kannitverstan« zu Grabe getragen werde, und da wird ihm seltsam leicht und dankbar und freudig zumute. Wenn er sein eigenes bescheidenes Leben bedenkt - ihm ist es weiter gegönnt. Das ist der Typus von Geschichten, die Hebel schlicht und kunstlos erz~hlt. Aber in seinen in alemannischer Sprache geschriebenen Gedichten erreicht er wahre Höhen dichterischer Weisheit, die schon Goethe seinerzeit bezaubert haben. Da ist vor allem dieses lange Gespräch zwischen Vater und Sohn über die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge. Man wird die originale Fassung des alemannischen Dialektes nicht ganz leicht verstehen. Aber ein Ton von Treuherzigkeit und Schlichtheit wird einen jeden erreichen, auch wenn er dabei auf die übersetzung blicken muß. Vater und Sohn sprechen über die Hinfälligkeit aller Dinge, und im langsamen Gespräch, in einer wahren Seelenführung, führt der bäuerliche Vater seinen kindlichen Sohn in die Wahrheit von der Hinfalligkeit aller Dinge ein. Zum Schluß erhebt sich die Rede des Vaters ganz ohne Pathos oder Künstlichkeit, beim Anblick des Stadtbildes von Basel, an dem der Weg hier vorbeifUhrt, zu einer wahrhaft kosmischen Vision der Zukunft: wie bei dem Aufstieg zum Himmel durch die Milchstraße die verbrannte Erde der früheren Stadt sichtbar ist und die Schlösser, an denen sie vorbeigekommen waren, da unten zerfallen sind. Beide, Vater und Sohn, nehmen am Ende mit der gleichen Ruhe und stillen Gefaßtheit alles hin, wie es ist:Ja, so ist es mit den Dingen. Das Kind werde dann selber vielleicht schon längst auf einem fremden Stern von allem Ungemach befreit mit der verstorbenen Mutter und mit dem Vater vereint sein, nachdem es längst seinen Erdenweg beschlossen hat. Die schlichte Festigkeit bäuerlich-bürgerlicher Welt und ihre unangefochtenen christlichen Vorstellungen tragen das ganze Gespräch. Am Ende des gleichen Jahrhunderts hat der Dichter Hugo von Hofmannsthai in den Terzinen) über Vergänglichkeit( gedichtet:
Vergänglichkeit
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Dies ist ein Ding, das keiner je voll aussinnt, Und viel zu grauenvoll, als daß man klage: Daß alles gleitet und vorüberrinnt. Die Melancholie des Fin de siec1e hat hier dichterischen Ausdruck gefunden. Und doch heißt es bei Hofmannsthai anderswo: Was frommts, dergleichen viel gesehen haben? Und dennoch sagt der viel, der >Abend< sagt, Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt, Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben. Und wieder gegen Ende eines Jahrhunderts liest man bei dem westfalisehen Dichter Ernst Meister, der noch unser aller Zeitgenosse war3: Die alte Sonne rührt sich nicht von der Stelle. Wir indem dämmrigen Umschwung leben die Furcht oder die schwere Freude. LiebeVerlaß und Verlassen, von ihr haben wir gewußt auf dem Trabanten, eh alles vorbei.
3
Zur Interpretation dieses Gedichts vg!. .Gedicht und Gespräch<, in diesem Band,
S.345f.
15. Karl Immermanns >Chiliastische Sonette
Ich schau' in unsre Nacht und seh' den Stern, Nach dem die Zukunft wird ihr Steuer richten, Bei dessen schönem Glanze sich die Pflichten Besinnen werden auf den rechten Herrn. Einst geht er auf, noch aber ist er fern. Es sollen unsresjetz'gen Tags Geschichten Zu Fabeln erst sich ganz und gar vernichten, Dann wird gepflanzt der neuen Zeiten Kern. Dann wird der König, den ich meine, kommen, Und um den Thron, den ich erblicke, wird, Wonach gestrebt das allgemeine Ringen, Und was die Größten einzeln unternommen, Was wir erkannt, worin wir uns geirrt, Als leichter Arabeskenkranz sich schlingen!
* Er wird als Held nicht kommen, kriegumweht, Dm kümmern weder Franken, weder Slaven, Da nur fiirTröpfe westlich unsrer Strafen Gefiillte Schale oder ösdich steht. Er wird auch nicht erscheinen als Prophet. Er macht sie nicht zu eines Wortes Sklaven. Vorüber gehn, so ihn zuiallig trafen, Er predigt nicht, er lehrt sie kein Gebet. Er gibt den Augen nichts und nichts den Ohren, Sein achten weder Reiche, weder Arme, Ihm schallt ein Fluchen und ein Segnen nie. Doch wie er Speise nimmt und schlummert, wie Er selig atmet in des Weibes Arme, Fühlt alle Welt entzückt sich neugeboren! 1 Immennanns >Chiliastische Sonette. wurden dem Verfasser 1933 durch PAUL FRIEDLÄNDER bekannt, dem der Verfasser seine Ausbildung als klassischer Philologe verdankt. Ihm war die vorliegende Studie gewidmet.
Karllmmermanns .Chiliastische Sonette<
Wie Wahnwitz müssen klingen euch die Worte. Denn nimmer ist der Ding' urmächt'ges Prangen In euren ganz verarmten Sinn gegangen, Ihr rauft von grünen Wiesen das Verdorrte. Ihr sitzt beständig in des Hauses Pforte Und fühlt ein schmerzliches, ein sehnend Bangen, Ins Inn're der Gemächer zu gelangen, Wollt aber euch nicht rühren von dem Orte. Ihr seid so ferne jeglichem Genusse, Daß mir die Zähre kommt, euch zu beweinen. WIewohl ihr mich verlacht, wenn ich euch frage: Ob ihr den Gott genosst im Brot am Tage? Ob Engel mochten eurer Nacht erscheinen? Ob Andacht euch durchschauert hat im Kusse?
* Wenn auf des Königs Einzug harrt die Menge, Und er zu lang' ausbleibt der Neubegier, So treibet in den Gruppen da und hier Zu manchem Possenspiel der Stunden Länge. Dann springt ein Knabe wohl durch das Gedränge Und ruft: • Ich bin's!. in nachgemachter Zier, Die Krone auf dem Haupt von Goldpapier, Und ihn begrüßen lachende Gesänge. Dies Gleichnis setz' ich euch, daß niemand wähne, Als ob mein Sehnen auf dem Flügelrosse In niedre Dienste sich begeben habe. Denn wo der Tand zu Hause, an der Seine, Wirdjetzt gespielet meines Königs Posse, Und Saint-Simon heißt der gezierte Knabe.
* Wenn sich, mein Fürst, vor deiner Sohlen Spangen Dereinst vom Weg empor ein Stäubchen stiehlt Und jubelnd vor dir her im Lichte spielt, So ist's der Staub des Menschen, der vergangen. Und wenn zu deinen schönen Götterwangen Sehnsüchtigwehend sich ein Lüftchen hielt. So ist's mein Seufzer, der nach dir gezielt, Eh' du erschienest, hinter Kerkerstangen. Ich trug mich an der Zeitenjoche matt! Nur das Gemeine lebt und ist beständig, Im Handwerksschmutz verwaltet von den Zünft'gen.
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Kar! Immermanns )Chiliastische Sonette.
Ach, die Verachtung macht so bald uns satt! Ich bin's. Du kommst! DctlnJetzt entronnen, send' ich Des Untertanen Eide dem Zukünft'gen!
Karl Immermanns dichterisches Werk ist nicht im ganzen in den klassischen Bestand der deutschen Literatur aufgenommen worden, sondern nur sein phantastischer Münchhausen-Roman, und auch aus diesem satirischen und zeitkritischen Roman kennt man meist nur die kostbare Episode vom )Oberhof<, in der der Dichter in einer klassisch ausgewogenen Prosa das Leben eines westfälischen Dorfschulzen meisterhaft schildert. Indessen ist es ganz abwegig, in ihm nicht mehr zu sehen als einen Bahnbrecher auf dem Gebiete der Dorfgeschichte. Das ländliche Idyll der >Geschichte vom Oberhof< hat seinen Platz vielmehr im Zusammenhang eines großen Zeitromans, die die pragmatisch-realistische Tendenz des Zeitgeistes dichterisch spiegelt. Immermanns dichterisches Wesen ist sehr weit von ländlich-idyllischer Zeitflucht entfernt. Der Roman war die ihm spezifisch bestimmte Kunstform, mit der er die eigene geschichtliche Situation wissend und gestaltend durchdringt. Er weiß sich einer Generation zugehörig, die in mehr als einer Hinsicht nachgeboren war: weder die große Erschütterung der französischen Revolution und des napoleonischen Zeitalters noch die geistige Geburt der deutschen Literatur, die an die Namen Goethes und Schillers geknüpft ist, hat er mit zeitgenössischem Bewußtsein erlebt und doch die Ursprünge seines eigenen Daseins in diesen großen Geschehnissen erblickt. Schon vor dem >Münchhausen< hat er in einem anderen großen Roman, den >Epigonen<2, der in mancher Hinsicht ein Gegenstück des >Wilhelm Meister< ist, sein eigenes zwiespältiges Zeitgefühl gestaltet und insbesondere den Verfall der feudalen Lebensformen unter dem Andringen der industriellen Revolution und des bürgerlichen Kapitalismus geschildert. Selbst zwischen romantischer Rückwendung und offenem Sinn fur das heraufkommende Neue hin- und hergezogen, hat er mit diesem Roman den Kampf der Kräfte beschrieben, aus denen das bürgerliche Jahrhundert aufstieg und sich mit steigender Saturierung in dem bürgerlichen Roman eines Friedrich Spielhagen und Gustav Freytag ein billiges Denkmal schuf. Es charakterisiert die zwiespältige Natur des Dichters und die innere Unsicherheit seines Lebensgefühls, daß er den Weg des Romans, den Weg seiner bleibenden dichterischen Leistung und seiner echten geschichtlichen Wirkung, nur zögernd betrat - beide Romane, die >Epigonen< wie der >Münchhausen<, fallen in das letzte Jahrzehnt von Immermanns Leben (der Dichter ist 1840 als Vierundvierzigjähriger gestorben). Seine zahlreichen Dramen, seine Versepen und seine lyrischen Gedichte haben sich nicht durchzusetzen vermocht. Doch fmden sich unter seinen Sonetten, die im 2
Vgl. den folgenden Aufsatz.
Karllmmennanns .Chiliastische Sonette<
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ganzen weder an Reinheit der Form noch an dichterischer Geschlossenheit den Vergleich mit der geschmeidigen Sonettenkunst seines großen literarischen Widerparts. des Grafen Platen. auszuhalten vermögen. funfGedichte. die zu den vollendetsten Schöpfungen der deutschen Dichtkunst gehören. Auch sie sind weithin unbekannt geblieben. Es sind die sogenannten .Chiliastischen Sonette<. die er im Jahre 1832 geschrieben hat und dem Sonettenband. den er 1830 veröffentlichte. später hinzufügte. Wer diese Gedichte unbefangen liest. wird wie von einem neuen Ton betroffen innehalten. Die übrigen Sonette Immermanns. denen die .Chiliastischen Sonette< als 17.-21. Stück angefügt sind. enthalten gewiß manches Schöne. aber sie erfüllen nicht das wahre Gesetz dieser Gattung. Die Kunstform des Sonetts ist durch die Symmetrie ihres Versbaues und ihrer Reimverschränkung zu einer besonderen Einheit gebunden. die den Zauber eines in sich ausgewogenen Gefüges auch dann verleiht. wenn die dichterische Kraft von sich aus der organisierenden Einheit ermangelt. Keine zweite Gattung des lyrischen Gedichts übt daher auf die dichterische Neigung des Liebhabers eine solche verführende Gewalt aus. Wir besitzen in vielen Sprachen reizvolle Sonette. die mehr Dokumente des guten Geschmacks als des wahren dichterischen Genies sind. Aber gerade um dieses Formzaubers willen. der dem Sonett einwohnt. ist seine volle dichterische Belebung nur Sache einer höchsten poetischen Dichtigkeit. Auch Immermanns Sonette bleiben hinter dieser höchsten Forderung meist zurück. teils weil sie von zu geringer Bildkraft sind. teils weil sie durch ein okkasionelles Element das kosmische Prinzip ihrer Form durchbrechen. Die .Chiliastischen Sonette< dagegen - bis auf eines. das vierte. das mehr im Meinen verbleibt - sind bis an die äußersten Grenzen ihrer Form voll echten Lebens. Die Entsprechung ihrer Metren und Reime trägt ihren gewaltig zusammengefaßten Sinnrhythmus. ohne je als gesetzter Formzwang hervorzutreten. Der Kenner der deutschen Dichtung fühlt sich unmittelbar an die schönsten Gedichte Stefan Georges erinnert: die gleiche feierliche Glut. der gleiche magische Sprachzauber und vor allem die gleiche Weite der Bogenführung, dies alles aber bei vollkommener Natürlichkeit in Wortwahl und Satzbau. Es wird sich zeigen. daß Immermanns Sonette wie die Dichtungen Georges in einem größeren Zusammenhang gesehen werden müssen, der solche Entsprechungen verstehen läßt. Immermann selbst berichtet in seinem Reisejoumal vom Jahre 1831 von einem Besuch in Frankfurt .•• Selbst chiliastische Ideen. Träume von einem neuen Christus wurden mir vorgetragen, die mit starker Gewalt Punkte meines Innersten trafen. Ich hütete mich aber immer, ihnen Worte zu leihen. weil sie. ausgesponnen. zur Gotteslästerung oder zur entnervendsten Geistesschwelgerei führen. Freilich kann uns in unserem großen Unglück nur ein drittes Wunder helfen; wer das aber recht tief empfindet, der wird auch wissen. daß nur die formlose unendliche Sehnsucht danach das Menschliche
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Kar! Immermanns >Chiliastische Sonette<
ist, und daß dem Gotte wird überlassen bleiben müssen, sich in seiner Erscheinung, wann und wie er will, offenbarend zu setzen.« Die >Chiliastischen Sonette( sind unter solchen Anregungen im Herbst 1832 entstanden. Es ist eine alte religiöse Vorstellungswelt, die hier über den modernen Dichter Gewalt gewinnt. Chiliastische Erwartungen hängen mit dem Mittelpunkt der christlichen Lehre und der christlichen Frömmigkeit aufs engste zusammen. Die Hoffnung auf die verheißene Wiederkehr des Herrn gibt ja allem christlichen Glauben einen adventistischen Zug, und die Geschichte des Christentums ist von Anfang an von Auseinandersetzungen mit einem massiven Verständnis solcher Erwartungen durchflochten. Erweckungsbewegungen, die die bevorstehende Wiederkehr Christi und die Begründung des tausendjährigen Reiches verkünden, sind aber im besonderen in Immermanns Zeit und Umwelt zutage getreten. Vor allem der schwäbische Pietismus des 18. Jahrhunderts hatte in der Exegese der Apokalypse solchen eschatologischen Stimmungen ein theologisches Fundament geschaffen. Der Prälat Bengel berechnete mit Scharfsinn aus den Zahlenangaben der Apokalypse und den Beobachtungsdaten der astronomischen Wissenschaft das nahe bevorstehende Kommen Christi auf das Jahr 1836, und die mächtigen Erschütterungen der Gesellschaftsordung und des staatlichen Gefiiges Europas am Ausgang des 18. Jahrhunderts gaben solchen Erwartungen weitere Nahrung. Denn der Wiederkunft des Herrn sollte ja die Herrschaft des Antichrist vorhergehen, den man auf die Jakobiner oder Napoleon zu deuten liebte. Insbesondere in den Immermanns Wirkungskreis benachbarten Landschaften, im Bergischen Land, in Elberfeld, in Berleburg, lebte auch in seinen Tagen ein solches chiliastisches Sektierertum fort. Der echte religiöse Antrieb, den diese Erweckungsbewegungen aus der Erwartung der Wiederkehr Christi gewannen, galt der Erneuerung der urchristlichen Lebensformen und ihrer caritativ-sozialen Impulse. Indessen war es nicht nur die Vorstellungs welt abseitigen pietistischen Sektierertums, die in Immermanns Phantasie Widerhall fand, als er die Sonette schuf. »Der König, den ich meine« ist nicht der wiederkehrende Herrscher der Apokalypse, sondern ein neuer weltlicher Heiland, der dem allgemeinen Sehnen des Zeitalters nach einer neuen Ordnung der Dinge Erftillung bringen soll. So motiviert sich vor allem das vierte der Sonette, in welchem sich der Dichter gegen die Verwechslung mit dem damals in Paris aufgetretenen Saint-Simonismus - die Lehren Saint-Simons lernte er in der Darstellung von Carove kennen - ausdrücklich verwahrt. Der neue Heiland, der künftige Prophet, von dem er häufig redete, werde ein natürlicher Mensch sein (Tagebucheintragung vom 13. 5. 1832). In der Tat, das Bild dessen, der kommen wird, das die Sonette geben, ist das eines vollkommen natürlichen Menschen, der eben durch die vollkommene Natürlichkeit, mit der er sich darlebt, der Gründer einer neuen Zeit wird. Alle Vorstellungen
Karl Immermanns .Chiliastische Sonette<
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von dem mystischen Kaiser, der die Gottesherrschaft auf Erden bringt, oder dem prophetischen Verkünder einer neuen Heilsbotschaft fUhren in die Irre. Die Gloriole seines Auftrags wird in nichts anderem bestehen als in der überwältigenden Sicherheit, mit der er das Alltägliche lebt. Dies Bild eines neuen Erlösers legt das Leiden der Gegenwart offen, wie es das dritte der Sonette schildert: der verarmte Sinn der Menschen ist blind gegen »der Ding' urmächt'ges Prangen«, sie sind unfähig zum Genuß. Speise, Schlaf und Liebe, diese natürlichsten Akte des Menschseins, sind ihres heilen Sinnes beraubt. Es ist der Zwiespalt zwischen der Weltlichkeit des Daseins und seiner geistigen Sehnsucht, an dem die Menschheit leidet und von dem sie erlöst wird durch den vollkommen natürlichen Menschen. »Nicht in weltertötender Gestalt, sondern in weltverklärender Herrlichkeit« wird er erscheinen. Die Zunft mit ihrem Handwerksschmutz, von der das letzte der Sonette spricht, umfaßt ohne Zweifel auch die irdisch gewordene Kirche3 . Die »Trocknis der Seelenkräfte«, mit der die neue maschinelle Produktionsweise die Menschen bedroht, die Verdüsterung durch Schrift und Schule, von der sich der Dichter zu dem »alten treuen Naturgeist rettet« - alle diese Motive mußten den Dichter mancherlei Verwandtes in den Ideen des SaintSimonismus empfmden lassen. Schon das Motto, das Carove seiner ausgezeichneten, an Hege! geschulten Darstellung derselben vorausschickt, hat ihn offenkundig berührt und klingt in seinen Sonetten an: »Unsere ganze Zeit gleicht einem großen Haufen, der vor einer Kirche versammiet ist. ehe der Gottesdienst begann, - es ist noch keine Andacht in ihm; Alle werden aber bald von einem anderen Geist bewegt werden, dem Keiner widersteht ... « (aus G. H. Schubert, Ahndungen u. allgern. Gesch. des Lebens, I, 130). Er wird Carove zugestimmt haben, wenn dieser an den Saint-Simonisten anerkennt: »Sie deuten mit Recht auf die Notwendigkeit hin, das überwiegend irdische Heidentum und das, fast ausschließlich auf Erwerbung des jenseitigen Himmels gerichtete, mittelalterliche Christentum durch eine Lehre zu ersetzen, welche den ganzen Menschen ergreife und auch dem Leben auf Erden seinen vollen Wert ertheile. Sie haben Recht, wenn sie die Materie den Klauen des Teufels entreißen und in den Gesetzen und Formen derselben Göttliches anerkannt wissen wollen. « Die Verknüpfung religiöser und sozialer Ideen, die er hier fand, mußte seinen eigenen Gedanken entgegenkommen. Erst recht aber wird er Caroves Kritik an der »ungeheuren Frivolität« zugestimmt haben, »mit welcher die Saint-Simonisten sich unterwinden 3 LEO SPITZER hat durch seine .Note on Immermann's Chiliastische Sonette< (The Germanic Review 1950, S. 196f.) die vorsichtige Formulierung. die jetzt im Text steht. nötig gemacht. Er zeigt dort, daß Immermanns Vers eine dichterische Umschreibung dessen ist, was man damals .Banausentum< zu nennen begann. also einen viel weiteren Sinn hat, der die ganze Verhäßlichung des Lebens durch den .Zeitgeist< umfaßt. Vgl. auch im folgenden meinen Aufsatz über die .Epigonen<.
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Karl Immermanns .Chi)iastische Sonette(
konnten. der Menschheit das Leben ihres Lehrers als Ersatz für das Leben Christi anzubieten.« Gerade weil sein Bild des neuen Heilands, das die Sonette entwerfen. mit dem des Christentums wenig gemein hatte. mußte er sich gegen die umgekehrte Verwechslung verwahren. insbesondere angesichts der ungeheuerlichen Verherrlichung des von Saint-Simon versuchten Selbstmordes durch seine Anhänger - sie priesen diesen Selbstmord als ein Selbstopfer. das den Opfertod Jesu darin noch übertreffe. daß Saint-Simon nicht wie Jesus andere an seinem Tode schuldig werden ließ. Aber nicht nur die Apotheose des Meisters, auch der sozialrevolutionäre Affekt der SaintSimonisten und ihre Lehre von der >Heilung der Industrie( mußten ihm zu kurz zielen. So sehr auch er die Selbstentfremdung des Menschen in der modernen industriellen Gesellschaft empfand und die Notwendigkeit einer Neuordnung aller Dinge fühlte. sein »Sehnen auf dem Flügelrosse« meint dennoch nicht ein revolutionäres Gesellschaftsbild, sondern entwirft ein neu es Bild des Menschlich-Göttlichen, das Symbol eines neuen Messias, eine poetische Mythologie. Eine neue Mythologie - dies Wort gibt Immermanns Sonetten nicht nur die weitgezogene Nachbarschaft des romantischen Suchens und Sehnens nach einem neuen - christlichen oder außerchristlichen - Mythos, die von Hölderlin und Novalis über Mörike, Hebbel, Richard Wagner. Nietzsche bis zu Stefan Georges Maximinkult reicht, es weist auch auf die geistigen Wurzeln dieser Sehnsucht im deutschen Idealismus zurück, die sich zuerst in Schellings Systemprogramm vom Jahre 1796 und Hegels Forderung einer .volksreligion( bekunden. Denn tiefer als die Anklänge an den pietistischen oder den sozialistischen Chiliasmus der Zeit reichen die Bezüge zum idealistischen Denken in Immermanns eigene Welt hinein. Das bezeugt nicht nur seine ausdrückliche Auseinandersetzung mit Fichtes >Anweisung zum seligen Leben<, die ihn in die Nähe der spekulativen Religionsphilosophie Schellings und Hegels führt, indem sie den Gegensatz von Einheit und Mannigfaltigkeit im Wesen Gottes selber sucht - auch der Dichter Immermann hat in seiner tiefsten Schöpfung, dem >Merlin<, soIche Gedanken zu gestalten versucht; in den Gedankenkreis seiner Merlin-Dichtung gehören aber auch die >Chiliastischen Sonette(, die ihre reife Nachfrucht sind. Immermann hat in seinem >Merlin( das Drama des Widerspruchs schaffen wollen. Die germanisch-keltische Sagenfigur vom Zauberer Merlin, dem geheimnisvollen Träger des seiner selbst kundigen Naturgeistes, verschmolzen mit gnostischen Lehren von dem widergöttlichen Demiurgen. der die Welt erschaffen habe. wird ihm zum Symbol des Zwiespaltes, der sein eigenes Daseinsgefühl beherrscht. Uechtritz erzählt in seinen >Erinnerungen<, daß damals. als Immermann seinen >Merlin< dichtete, der Zwiespalt zwischen den heidnischen und christlichen Bestandteilen seines Wesens, das Gefühl ihrer Unvereinbarkeit, auf seinen Gipfelpunkt gediehen
Karllmmcrmanns 'Chiliastische Sonettc.
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war. »Man hörte ihn zuweilen von der Notwendigkeit eines neuen Messias träumen. der Gott und Welt (nach Art seines Merlin) zu versöhnen kommen werde.« Der Dichter selbst hat in Briefen an Ludwig Tieck seine Ansichten in ähnlicher Weise dargestellt. Das theologische Fundament derselben ist an sich nicht neu: mit dem christlichen Spiritualismus. der ja auch der Vorliebe Fichtes und Hegels für das Johannes-Evangelium und der spekulativen Deutung der christlichen Inkarnationslehre durch den Idealismus des absoluten Geistes entspricht, sieht Immermann die Geschichte des Christentums als die beständige Auseinandersetzung zwischen dem »einfachen und eigentlichen Geist desselben. der das Menschengeschlecht aus den Fesseln des äußeren Naturgesetzes befreite«. und der »Herrschaft des Irdischen« über die Gemüter der Menschen. Die Kirchengeschichte ist der beständige »Kampf der beiden, wenigstens auf Erden unvereinbaren Dinge in Volk und Individuo«. Die Rückkehr zu der Schlichtheit und Einfalt des Urchristentums, die die Reformation sucht, ist ihm nur ein schöner Traum, der nicht lange dauert. »Bald tritt die Doppelheit und der nie zu schlichtende Zwiespalt immer größer und gewaltiger auf, treibt auf dieser Seite zu neuen Heiden, die denn doch nichts wären ohne das Christentum, auf jener Seite zu Christen, welche ohne die Ausstattung durch Natur und Altertum auch zusammenschrumpfen würden, und erscheint endlich in seiner Spitze da, wo nun selbst die heißeste Andacht. die tiefste, unmittelbare Sehnsucht nach dem Göttlichen. so von ihrer eigenen irdischen Fülle durchdrungen, verdichtet und verkörpert wird. daß die Gnade von diesem Drange sich abwendet. und das Heilige vor dem Gebete erschrickt.« Es ist die Richtung des modernen Pantheismus, die Immermann hier beschreibt, und er zitiert Spinoza. Aber das Eigene des Dichters liegt gerade darin. daß er den »Schritt weiter« zur pantheistischen Naturvergötterung, den er in Spinoza sieht, nicht zu tun vermag und eben deshalb den Widerspruch zwischen Gott und Welt zum tragisch-unseligen Konflikt zuspitzt. Merlin wird ihm der eminente Repräsentant jenes »modernen. unbeschreiblichen, in seinem Reichtum unseligen Geistes«, vor dem er »manchen Schauder« verspürt habe. Die dramatische Gestaltung desselben mußte alle Vorstellungen von Schuld und Buße hinter sich lassen. Die eigentliche Tragödie besteht ja gerade darin, daß die Göttlichkeit der Welt. die »lebensvolle, energische Durchdringung .mit der Herrlichkeit, Fülle und Schönheit des Irdischen und Weltlichen« zu einer Vorstellung führt. die Gott »als einen dem Weltlichen fremden, ja feindlichen auffaßt« (Uechtritz). Merlins Frevel ist, wie der Dichter betont, nicht »psychologische Unwissenheit«, sondern im Gegenteil ,~die Andacht ohne Gott« - sie ist das »Elend an sich«. Die Tragödie dieses modernen Pantheismus konnte nur als ein kosmisches Drama gedichtet werden, und Immermann mußte zum Dichter die-
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Kar! Immennanns .Chiliastische Sonette(
ser Tragödie werden, wenn er die Not des modemen, an seiner Vereinzelung leidenden Individuums in religiöse Formen reflektierte. Die ideologische Reflexion dieses WlSeres »großen Unglücks« fUhrte den Dichter zu gnostischen Gedanken. Der »Fürst dieser Welt«· konnte nicht der christliche Teufel sein, nicht das» Ungeheuer mit Klauen und Schweif« oder Goethes »listiger Kammerdiener, der seinem Herrn die Dime schafft«, denn er ist ja das Prinzip jener Weltlichkeit, die selbst als göttliche Fülle erfahren wird. So ist der Schluß gegeben, daß der Teufel mit Notwendigkeit aus Gottes Wesen hervorgeht, wie die Welt - oder vielmehr: als die Welt, als .. der in den Mannigfaltigkeit geoffenbarte Gott, der durch diesen Akt sich selbst in seiner Einheit verloren hatte.« Immermann hat auf diese innere Selbstentzweiung Gottes, die zugleich - eodem momento - auch sein Zusammenschluß mit sich sei, in seinen >Memorabilien( eine kritische Auseinandersetzung mit dem »toten« Gottesgedanken Spinozas und Fichtes gegründet und sich damit - offenbar, ohne es zu wissen - in den spekulativen Bahnen Schellings und Hegels bewegt. Und wenn er sich auch wie diese seiner Christlichkeit dabei sicher glaubt - »denn das Christentum entwickelte ja eben an Armuth, Schmach, Schmerz und Tod nicht die Nichtigkeit, sondern die reale und korporelle Schönheit des Daseins« -, so ist der >Merlin( doch keineswegs ein christliches Schuld- und Bußdrama. Nicht nur, daß es in ihm recht »heidnischfrech« zugeht und Merlins tragischer Versuch einer neuen Welterlösung sich auf dem Hintergrunde einer gnostisch-widerchristlichen Satanologie vollzieht. Zwar gewinnt das Drama so gut wie die Sonette seine dichterische Substanz daraus, daß sie das Mysterium der menschlichen Beschränkung und »das Rätsel, wie ein Rest des Dumpfen in der Welt gesetzt sein könne, wenn sie eine Seite der göttlichen Liebe ist«, unaufgelöst lassen. Merlin, der sich vermißt, die Identität Gottes und des Demiurgen zu enthüllen, und sich selbst als den Parakleten, den Bringer des dritten Wunders bezeichnet, stürzt ins Nichts. Die unbegreifliche Majestät Gottes wendet ihre Gnade von ihm - nicht weil er falsch dachte, Schuld auf sich lud und nun büßen muß, sondern weil seine unmittelbare Vereinigung mit Gott an seiner menschlichen Beschränktheit zuschanden wird. Nur im Gebet ist dem Menschen die Vereinigung mit Gott beschieden - an ihr festhaltend, das Vaterunser auf den Lippen, stirbt Merlin und läßt damit den widergöttlichen Versuch Satans, durch die vollkommene Weltlichkeit die Menschheit von der christlichen Weltvemeinung zu erlösen, scheitern. Aber auch dieses SchIußmotiv des .Merlin( ist trotz seinem christlichen Klang gnostischer Herkunft und Art. Die valentinianische Gnosis, die Immermann aus Neanders Kirchengeschichte kannte, sah im >Horos(, der >Beschränkung(, geradezu eine der kosmischen Potenzen, und Merlins Untergang ist wie eine AustUhrung des bei Neander stehenden Satzes: »Sobald irgend etwas über diese Schranken hinauswill, sobald irgend ein Wesen, statt
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Gott in seiner Offenbarung, wie er sich ihm selbst auf seinem besonderen Standpunkte darstellt, zu erkennen, in dessen verborgenes Wesen eindringen zu wollen sich erkühnt, geräth es in Gefahr, ins Nichts zu versinken. Statt das Reelle zu erfassen, verliert es sich ins Wesenlose.« Ja, der Dichter hat in einem Brief an Tieck sogar gestanden, daß er ursprünglich einen anderen Schluß geplant hat: »Im Nachspiele sollten aus dem Hades herauf die Gesänge der Schatten der Tafelrunde erschallen, deren Inhalt eine Art wehmütigen Glückes war, Merlin selbst sollte als Geisterstimme das Ganze epilogisieren, sich zum weltlichen Heiland erklären und aussprechen, daß, weil nun einmal alle Freude und aller Schmerz der Erde in einem Individuo durchgefühlt worden sei, der Fluch sich erschöpft habe und jeder Künstler in der Grotte des Dulders Trost finden könne. (e Dieser geplante Schluß habe dann einem einfacheren und mehr .populären( weichen müssen, aber nicht um der christlichen Ergebung das letzte Wort zu überlassen, sondern "ein vollerer, metaphysischerer Klang hätte vielleicht das Ganze in die Metaphysik und Philosophie getrieben. Die Kräfte des Himmels und der Hölle haben sich bewegt, das übermenschliche hervorzubringen, eine Figur, die die beiden Pole zusammenknüpft, und es kommt doch in letzter Instanz nur zu einem Beschränkten, Anthropologischen. Mich dünkt, der Künstler mußte sich auf diese Sphäre resignieren.« Dieser Bericht ist rur Immermanns messianistische Gedanken und damit auch für die .Sonette( von der höchsten Wichtigkeit. Was hier als Abschluß der gnostischen Tragödie geplant war, ist allerdings das äußerste Gegenteil des christlichen Bußgedankens: eine neue weltliche Christologie. Die bei den Pole des Geistigen und des Weltlichen, deren Zwiespalt das immer schärfer sich zuspitzende Leiden der Menschlichkeit ausmacht, sollten in dem neuen stellvertretenden Duldertum Merlins zusammengeknüpft werden, sein Untergang sollte die Bedeutung eines erlösenden Märtyrertums haben, und nur um nicht in Dogmatik und Philosophie zu verfallen - nicht etwa um Christi willen -, mußte sich der Künstler bescheiden. Ja, Immermann hat sich anscheinend sogar mit Plänen für einen .Erlösten Merlin( getragen. Indessen behielt doch der ausgeführte Schluß der Merlin-Mythe für ihn eine dauerhaftere Geltung, wie das lyrische Gegenstück .Merlin im tiefen Grabe< beweist: die Erlösung der Kreatur »von Harren und von Ängsten«, das Freiwerden des Naturgeistes wird nicht sein: Doch das wird nimmer glücken. Das Reich. die Macht ist sein. Merlin wird unvernommen Und unerlöst sein. Der Widerstreit, in dem hier Immermanns theologische Spekulation und sein Künstlertum zu liegen scheinen, geht aber nicht in einem bloßen Zu-
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Karl Immermanns ,Chiliastische Sonette.
rückweichen der dichterischen Gestalt\111g vor der Forderung des Gedankens auf. Das beweisen gerade die >Chiliastischen Sonette<, die das Thema neu aufnehmen. Vielmehr ist auch an diese dichterische Beschwörung eines neuen weltlichen Heilands die Frage zu stellen, was eigentlich ihr Geltungsanspruch ist und aus welcher Wahrheit er sich herleitet. Dafür gibt der obige Bericht einen Hinweis, wonach »jeder Künstler in der Grotte des Dulders Trost finden könne«. Wenn so die Erlösung des Künstlers das letzte Ziel jener Mythe sein soll, so ist es auch das Leiden des Künstlers an dem Zwiespalt von Gott und Welt, das den eigentlichen organisierenden Punkt der ganzen Gedankenbildung darstellt. Das aber ist in der Tat die schmerzhafte Erfahrung des Künstlerturns in der modemen Welt, daß er den im christlichen Weltalter aufgebrochenen Widerspruch zwischen GottesJenseitigkeit und der Weltlichkeit seines eigenen bildnerischen Auftrags als unauflöslich erfährt. Die gesamte Theorie vom klassischen Altertum, die dem ästhetischen Humanismus von Winckelmann bis Goethe, aber auch der von Friedrich Schlegel zuerst entwickelten romantischen Kunsttheorie zugrunde lag, beruht auf der Vorbildlichkeit und Unwiederbringlichkeit der .schönen Kunst< der Griechen, in der jener Gegensatz aufgehoben war. Das Fazit dieser Entwicklung hat dann Hegel mit der berühmten These vom Vergangenheitscharakter der Kunst gezogen. Dante verdankt dem die besondere Verehrung der Romantiker, daß er in seiner >Göttlichen Komödie< diese gewaltige Scheidung des Geistigen vom Körperlichen überwand. Der Kunsthistoriker Schnaase, dessen teilnehmende Freundschaft Immermann gerade beim Entstehen der Merlin-Dichtung begleitete, schreibt in den .Niederländischen Briefen<: »Man könnte die ganze geistige Geschichte des Mittelalters als die Entwicklung dieses Gefühls betrachten. In Dante trat es zuerst in völlig belebter, geistiger Kunstgestalt auf ... nach scheinbarer Vereinigung trennten sich die geistige und die sinnliche Natur aufs neue.« Hölderlins Leiden an der Unvereinbarkeit seiner Liebe zu der griechischen Götterwelt und seiner Vorliebe für den >Einzigen< ist das ergreifendste, weil in die äußerste Eindringlichkeit getriebene Dokument dieser Not: »Die Dichter müssen auch, die geistigen, weltlich sein. «4 Die christliche Paradoxie der Menschwerdung Gottes, die im christlichen Weltalter ihre universelle Formkraft auch über die bildende Kunst behauptet hatte, bricht im modernen Künstlertum des .isolierten Egoisten< (F. Schlegel) zum vollen Konflikte auf und treibt das Kunstwerk zu dem metaphysischen Anspruch einer - wenn auch immer nur einmaligen und im künstlerischen .Erlebnis< unverweilend genossenen - .Versöhnung des Verderbens< herauf. Seitdem haftet der Kunst und ihrem Voll bringer, dem Künstler, eine neue Art religiöser Würde an. Man ist versucht, um dies zu bezeichnen, dem Begriff der 4
Vgl. in diesem Bande meinen Aufsatz über ,Hölderlin und die Antike., S. 1 ff.
Karllmmermanns .Chiliastische Sonette.
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Kunstreligion, den Hegel für die griechische Kunst gebraucht hatte, eine ins Subjektive gewandte Bedeutung zu geben. Der Künstler des neunzehnten Jahrhunderts ist in der Tat so etwas wie ein >weltlicher Heiland<, und wenn er religiöse Symbole zur Aussage seiner letzten Daseinserfahrung gebraucht, schweben diese in einer ungewissen Mitte zwischen religiösem Ernst und ästhetischem Spiel. Auch Immermanns·>Chiliastische Sonette< erheben nicht den Anspruch, das Leiden der Gegenwart durch religiöse Prophetie aufzulösen, sondern wollen es dichterisch verklären. Es ist nicht so, daß ihn sein Künstlertum von den kühneren Ansprüchen seiner gnostischen Metaphysik zurückhält und die geplante Absolution durch den Dulder Merlin verwerfen heißt - es ist im Gegenteil sein Künstlertum, das ihn überhaupt erst an die zweideutige Grenze seines chiliastischen Traumes heraustreibt. Die echte dichterische Kraft seiner Sonette beruht gerade auf ihrem Einklang mit seinem Denken und Wissen, das ihm sagt, »daß nur die formlose unendliche Sehnsucht danach das Menschliche ist, und daß dem Gotte wird überlassen bleiben müssen, sich in seiner Erscheinung, wann und wie er will, offenbarend ·zu setzen«. Andere haben aus dem »nie zu schlichtenden Zwiespalt .. gewaltsam auszubrechen gewagt. Man denke an Nietzsches Selbstapotheose als Dionysos oder an Stefan Georges Maximin-Erlebnis. Und doch hat Nietzsche in seiner Selbstapotheose sich selbst verloren und Stefan Georges kultstiftende Herrscherlichkeit gelangte nicht zur Verbindlichkeit eines gemeinsamen Mythos. Aber noch eine andere Wahrheit wird hinter der Tragödie des modernen Künstlertums sichtbar. Es ist kein Zufall, daß in Immermanns Abgrenzung gegen den realen politischen Anspruch der Saint-Simonisten die matte Wendung von dem »Sehnen auf dem Flügelrosse« begegnet. Auch die politischen Heilslehren des 19. Jahrhunderts tragen etwas von der religiösen Weihe der Eschatologie an sich. Der Dichter, der eine ihrer Erscheinungen abweist, möchte sich in die unverbindliche Weite seiner geflügelten Freiheit zurückziehen. Er gesteht damit etwas, das er nicht verleugnen kann, ein allgemeines Schicksal der Moderne, das in ihrer künstlerischen Welterfahrung nur prototypisch begriffen ist. Die Kunst ist nicht, wie sie es im Griechentum war, die bildnerische Darstellung der mythisch erfahrenen Wirklichkeit - sie ist auch nicht das weltliche Widerspiel der christlichen Jenseitsgewißheit, sie ist nicht von dieser und nicht von jener Welt, sondern das >innere Reich<, das sich die weltlose Subjektivität des modernen Menschen erschafft. Sie ist die Dokumentation seiner Weltanschauung, gerade weil er die Welt nicht als geschöpfliche Ordnung anschaut, sondern seinen eigenen Entwurf darin dargestellt sucht. So ist sie Ausdruck seiner Innerlichkeit. Der Künstler ist der Souverän in diesem Reich der Innerlichkeit, das dem modernen Menschen seine verlorene Heimat, seine geistliche wie seine weltliche, ersetzen soll und nicht ersetzen kann. Er lebt - zumeist auch als
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)Religiöser< - ästhetisch, d. h., er sucht die Auflösung des Zwiespalts zwischen Geistigem und Körperlichem in der Tröstung der Kunst. Er verbirgt sich damit nicht nur die Not seiner Einsamkeit - er weicht damit auch seiner unausweichbaren Aufgabe aus, sich Dasein zu geben. »Eine Kirche gibt es kaum noch, der Feudalismus hat ganz aufgehört, und etwas Analoges wie den Staat des Altertums erblicken wir nur erst in der Zukunft in dämmernden Umrissen.«
16. Zu Immermanns ~pigonen-Romanl (1964)
Die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts ist nicht reich an Romanen, die sich neben den großen Leistungen der Engländer, der Franzosen und der Russen behaupten können. Stendhal, Balzac, Flaubert. Zola, Proust: jeder dieser Namen bezeichnet nicht nur eine wesentliche Etappe in der Entwicklung dieser dichterischen Gattung, sondern auch in der Gesellschaftsgeschichte des bürgerlichen Jahrhunderts , die in ihren großen Romanen ihren bedeutendsten geistigen Niederschlag fand. Ahnliches ließe sich von dem englischen Roman von Dickens bis Joyce oder von dem russischen Roman sagen, der von Gogol über Turgenjew, Dostojewskij, Tolstoi, Leskow und Gorki den wahrsten Spiegel des russischen Lebens und die wirksamste Ausstrahlung des russischen Geistes auf die Gesamtkultur Europas darstellt. Es wäre schwer, ja, es wäre unmöglich, die großen Erzähler deutscher Zunge, die in diesem Zeitraum aufgetreten sind, in gleicher Weise als die Repräsentanten unseres geschichtlichen Lebens zu deuten. Gewiß erlauben auch die großen Romankunstwerke der deutschen Literatur, den Zeitenwandel und die gesellschaftlichen Veränderungen im deutschen Leben zu erkennen. Goethe, Stifter, Gottfried Keller (wenn man ihn als Deutschschweizer in dieser Reihe nennen darf), Theodor Fontane, Thomas Mann behaupten einen ehrenvollen Platz in der Weltliteratur. Sie sind auch ohne Zweifel wichtige Dokumente der deutschen Gesellschaftsgeschichte der Zeit. Das liegt ja im Wesen des Romans, daß er stärker als irgendeine andere I Die Studie wurde MARGARETE SUSMAN in dankbarer Erinnerung an frühe Anregung durch die Schrift .Das Wesen der modemen deutschen Lyrik. (Stuttgart 1910) zum 90. Geburtstag gewidmet. Inzwischen ist die genau dokumentierte Untersuchung von MANFRED WINDFUHR, Immermanns erzählerisches Werk (Gießen 1957) erschienen. Aus ihr geht hervor, daß die Wendung zum Zeitroman nicht etwa durch die Juli-Revolution ausgelöst wurde, sondern daß im Gegenteil die Arbeit an dem Roman durch dieses Ereignis eine Weile ins Stocken geriet. In diesem Punkte ist die Darstellung bei HANS MAYER, Studien zur Deutschen Literaturgeschichte, Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 2, S. 123ff. zu berichtigen. Auch die .Chiliastischen Soneue •• die 1832 entstanden, bezeugen das, sofern sich dort das empfindliche ZeitgefUhl des Dichters ausdrücklich gegen falsche politische Aktualitäten (Saint-Simonismus) wehrt. AusfLihrlicher dazu im Vorhergehenden, S. 184 ff.
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Zu Immermanns Epigonen-Roman
dichterische Gattung die Prosa des wirklich gelebten Lebens abbildet. Aber schon die oben getroffene Auswahl der Namen hat nichts Zwingendes. Man wird z. B. schwanken, ob nichtJean Paul am Anfang dieser Reihe erscheinen müßte, und man wird das epische Genie Fritz Reuters in diese Reihe stellen wollen, das doch auch wieder keinen Platz in ihr findet. Ist solche Unsicherheit nur rur uns vorhanden, die wir unserer eigenen Dichtung so nahe verbunden sind, daß jede Auswahl uns willkürlich erscheint? Oder zeigt sich darin ein objektiver Unterschied zu den anderen Literaturen? Die Antwort muß sein: es liegt in der Sache, nicht in unserer besonderen Perspektive. Das wird aus vielem deutlich. Die deutschen Dichter, deren Romanschöpfungen sich in der Weltliteratur einen Platz erobert haben, sind offenkundig nicht in dem gleichen Sinne Romanciers, in dem es die großen französischen oder russischen Romanschriftsteller sind. Der Romarrist eine ihrer Ausdrucksformen unter anderen, nicht minder gewichtigen. Gewiß haben auch die französischen oder russischen Erzähler neben ihren Romanen glänzende Erzählungen im Novellenstil geschaffen. Aber das innere Schwergewicht ihrer Romanschöpfungen wird dadurch nicht beschränkt. Ihre Romane haben einen universalistischen Zug, der die comedie humaine in der ganzen Ausbreitung ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit zur umfassenden Darstellung bringt. Die wenigen Romane der deutschen Literatur dagegen, die einen gleichen künstlerischen Rang besitzen, sind ganz anderen Wesens. Ihr Reichtum ist nicht der einer ausgebreiteten Weltfülle, sondern der der Sammlung und Verdichtung der Welt in die innere Bildungsgeschichte ihrer Helden. Allerdings hat die Form des Bildungsromans, die Wieland, Goethe, Jean Paul, Stifter, Gottfried Keller in so bedeutender Weise repräsentieren, auch in anderen Literaturen ihre Vertreter. Aber es ist doch mehr als ein Zufall, daß Goethes ,Wilhe1m Meister<, der in der deutschen Literatur gleichsam an der Eingangspforte des Jahrhunderts des Romans steht, mit einer besonderen Ausschließlichkeit dieser Gattung angehört. Gewiß ist auch der ,Wilhelm Meistere ein echter Roman, d. h., er bringt in den Vorgängen, die das Schicksal seines Helden ausmachen, bedeutenden Weltstoff zur Darstellung. Aber wie unbestimmt bleibt diese Welt, die der Seelengeschichte Wilhelm Meisters, einem der genauesten und lebendigsten Seelengemälde der Erzählungskunst aller Zeiten, den Schauplatz bietet. Es sind Kulissen von andeutender Allgemeinheit, ohne konkrete Bestimmtheit von Stadt und Landschaft. Und die Personen sind bei aller lebendigen Charakteristik ihres WeSens gleichfalls in ihren gesellschaftlichen Bezügen wie verschwimmend. Schon ihre Namen sind mehr nur Symbole ihrer Individualität als ihrer konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zwar sind die Grundelemente der Gesellschaftsordnung, in der die Geschichte spielt, erkennbar und aufbedeutende Weise wirksam: Bürgertum, Adel und die gleißende Zwischenwelt der ,fahrenden Leute<, in die der Held verwickelt
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wird, um aus ihr den Weg zu verbindlicher Wirklichkeit des Lebens zu finden. Aber wie wenig sind diese seine Lehrjahre ein Erfahren der ausgebreiteten Weltfülle, wie sehr, wie ganz sind sie ein innerlicher Vorgang von absichtsvoll-zufälliger Bedeutung. Die Menschen, mit denen der Held zusammengeführt wird, sind nicht Menschen, wie man ihnen begegnet, Glieder einer unendlichen Melodie, sondern, wie Friedrich Schlegel sie genannt hat, eine "Suite von Bildungsstücken«, die im Grunde auch noch über den Helden dieser Bildungsgeschichte hinausreichen .•• Nicht dieser oder jener Mensch sollte erzogen, sondern die Natur, die Bildung selbst sollte in mannigfachen Beispielen dargestellt und in einfache Grundsätze zusammengedrängt werden« (F. Schlegel in der klassischen Rezension des .Wilhelm Meister( im Athenäum, 1798). Selbst die .Wanderjahre(, in denen Staat und Gesellschaft zum eigentlichen Thema werden und Goethes bewundernswe~tes Empfinden für den Wandel des Zeitgeistes zujenem Neuen hin dokumentieren, dem das dritte Jahrzehnt des neuenJahrhunderts entgegeneilte, sind ein Buch voll Weltweisheit, abstrakter Phantasie und sozialer und pädagogischer Erkenntnis, aber kein Bild dieser gewandelten Zeit und Gesellschaft selbst. In der Tat sind es erst die dreißigerJahre des 19. Jahrhunderts, in denen sich die realistischeTendenz des Zeitalters literarischen Ausdruck verleiht und den gewaltigen Vorgang der Industrialisierung Europas in seinen gesellschaftlichen Konsequenzen zur Darstellung bringt. Scendhal und Balzac, später Flaubert und Zola. in England Dickens und Thackeray prägen die Kunstform des modernen Gesellschaftsromans, der seither die herrschende Literaturgattung des bürgerlichen Zeitalters ist. Ihr Gegenstand ist der .moderne Mensch(, d. h. der Mensch in der Gesellschaft, für den .die Gesellschaft( zum eigentlichen Schicksal wird. Jene >Gesellschaft(. die aus der Emanzipation des Bürgertums erwachsend ein eigenes Gefugevon Klassen und Rängen entwikkelt, das die höfischen und aristokratischen Formen nachbildet und das neue Zusammenleben von Adel und Bürgertum in einer von Besitz und Bildung beherrschten Ordnung gestaltet. Hier nun ist es für die Entwicklung der Lebensverhältnisse in Deutschland bezeichnend. daß der gesellschaftliche Roman großen Stiles ausbleibt und an seiner Stelle der Bildungsroman in der Nachfolge des> Wilhelm Meister( die eigentliche Kunstform des deutschen Erzählertums bleibt. Denn man wird nicht im Ernst die pathetisch-sentimentalen Schwarz-WeiB-Malereien in den Romanen Friedrich Spielhagens oder Gustav Freytags neben den groBen Kunstschöpfungen des französischen und englischen Gesellschaftsromans nennen wollen. Die groBen Meisterwerke der deutschen Romankunst des 19. Jahrhunderts, man denke an Stifter oder Keller. suchen ihre Helden in einer Welt der innerlichen Bildung und dokumentieren damit die verhängnisvolle Entwicklung des deutschen Bildungsbewußtseins. das sich der Wirklichkeit von Staat und Gesellschaft entfremdet.
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Bedenkt man diese Zusammenhänge, dann gewinnt der große ~oman Karl Immermanns, )Die Epigonen(, der 1836 in drei Büchern erschien, eine besondere und unveraltete Bedeutung. Mehr als irgendein anderer Roman des 19. Jahrhunderts stehen )Die Epigonen( in der Nachfolge von Goethes )Wilhelm Meister(, und doch sind sie alles andere als der Roman einer der gesellschaftlichen Wirklichkeit entfremdeten Innerlichkeit. Sie verfolgen den Lebensweg ihres Helden, einen symbolisch-bedeutsamen Weg freilich, durch die Spannungen einer Gesellschaft, die von dem Kampf der aufstrebenden Industrie und des Kapitals gegen die überalterten Lebensformen des Feudalismus beherrscht ist. Es ist der klassische Roman des Restaurationszeitalters. Immermann selbst spricht sich über die Zeit seines Romans in einer der zahlreichen Spiegelungen, die die Figuren seines Romans über das Ganze werfen, aus: liDer Zeitabschnitt, in welchen unsere Entwicklungskrankheiten fielendenn so möchte ich die Geschicke, welche uns betrafen, nennen -, war vor vielen geeignet, ein deutsches Sitten- und Charakterbild hervorzubringen. Es war Friede im Lande geworden; die alten Verhältnisse schienen hergestellt, das Neue war auch in seinen Rechten anerkannt; alle Bestrebungen hatten eine feste, naive Färbung, während die neu esten Weltereignissejegliche Richtung an sich selbst irre gemacht und in das Unsichere getrieben haben. Die Geflihle und Stimmungen jener Periode - der letzten acht oder neun Jahre vor der Julirevolution -liegen fast schon als mythische Vergangenheit hinter uns. Der Adel suchte sich mittelalterlich zu restaurieren; das Geld glaubte treuherzig, wenn es nur den privilegierten Ständen den Garaus machte, so werde die Welt den harten Talern gehören; der Demagogismus wollte ·studentenhaft die Festung stürmen, die Staatsmänner meinten nach Ideen regieren zu können; es gab Schriftsteller, welche mit großer Macht die Einbildungskraft beherrschten; ein Denker [Hegel] stand unter seiner weit sich breitenden Schule und katastrierte den Geist. Was ist von allem dem übrig geblieben? Die französische Thronveränderung hat abermals das Antlitz der Welt verändert, und so wenig ich in weichliche Klagen über dieses Ereignis und seine Folgen auszubrechen geneigt bin, so muß ich doch sagen, daß die Jahre, welche ihr vorangingen, an geistigem Gehalt und an einer gewissen Dichtigkeit des Daseins die Gegenwart übertrafen.« Diese Worte, die einem Arzt in den Mund gelegt sind, charakterisieren nicht nur den zeitgeschichtlichen Gehalt des Werkes, sondern auch die eigentümlich zwiespältige Haltung des Dichters zu seiner Zeit. Zweifellos ist Immermann eine Dichterpersönlichkeit von reichem Talent und einer wahrhaft umfassenden Bildung. Wilhelm Dilthey hat recht, wenn er ihn den Gebildetsten aus der ganzen Generation der in der GoetheNachfolge stehenden Schriftsteller nennt. Seine IMemorabilien( und Reise-
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tagebücher sind gleich ausgezeichnet durch die Anmut ihres Stiles wie den Reichtum an Gedanken und an dichterischer Anschauungskraft. Sie vermögen sich neben ihrem klassischen Vorbild, Goethes )Dichtung und Wahrheite, mit Ehren zu behaupten. Kein anderer seiner Zeitgenossen, auch Heinrich Heine nicht, mit dem ihn gute persönliche Beziehungen verbanden und dessen geistreiche Prosaschriften längst nach Gebühr geschätzt sind, kommt ihm gleich. Und dennoch hat diese reiche Natur, in der dichterische Unmittelbarkeit und gedankliche Kraft so glücklich gemischt waren, kein dichterisches Gesamtwerk hinterlassen. das diesen Anlagen entspräche. Einzig sein Münchhausen-Roman hat sich in der deutschen Literatur einen Platz von bleibendem Rang erworben, und selbst dieses originelle satirische Kunstwerk verdankt seinen Erfolg weniger der ihm vom Dichter gegebenen Gestaltung im ganzen als der köstlichen Episode vom )Oberhofe, in der er Land und Leute der )roten Erdee mit einer frischen Beobachtungskraft geschildert hat, die ihr in der Gattung der Dorfgeschichte klassische Bedeutung verlieh. Seine übrigen dichterischen Werke dagegen sind heute so gut wie vergessen. Nur der Gelehrte weiß, daß er eine Fülle von Dramen, einige V;ersepen, einige andel,"e Romane und Novellen und einen Band Gedichte geschrieben hat. Wer sich heute in sein dichterisches Gesamtwerk vertieft, wird überraschende Entdeckungen machen. Eine Novelle wie )Der 1leue Pygmalione, ein dramatisches Gedicht wie der )Merline und die )Chiliastischen Sonettee, aber auch der große Vorläufer des ,Münchhausene, )Die :fpigonene, sind voll Tiefsinn und dichterischer Schönheit. Woran liegt es, ~aß gleichwohlImmermanns Werk so wenig bekannt und geschätzt ist? Ist ~s der Schatten des Größeren, den Goethes beherrschende Gestalt wirft, so daß wir das geringere Kostbare nicht gewahren? Wenn man bedenkt, daß manche romantische Dichtung, daß Grillparzer und Stifter, Heine und Hebbel sich dennoch unter den gleichen Bedingungen durchsetzen, so erkennt man, daß es mit Immermann seine eigene Bewandtnis hat: sein eigenes dichterisches Lebensgefühl ist zwiespältig, hin- und hergezogen zwischen dem in Goethe repräsentierten ästhetischen Bildungsideal und den realistischen Tendenzen des eigenen Zeitalters, zwischen romantisch-konservativer Wehmut und frischer Bejahung der Gegenwart. Seine dichterischen Arbeiten sind treue Spiegelbilder seines zwiespältigen Wesens - vieles versuchend, oft überraschend gelungen in einzelnen Teilen und als Ganzes doch selten rein und zwingend. Weder in der Abwehr noch in der Hingabe dem Zeitgeist gegenüber eindeutig, ist ihm der eine wie der andere Weg verschlossen, der ihn zur allseitigen Ausprägung im dichterischen Werk fUhren konnte. Gerade dieses empfindliche Zeitgefühl aber weist ihn auf den Weg des Romans, den er schließlich mit bleibendem Erfolg ging. Ist doch die Kunstform des Romans selber die Sprachwerdung eines entzweiten gesellschaftlichen Bewußtseins, in dem sich untergehende Welten brechen -
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von Cervantes' großartiger Spiegelung des untergehenden ritterlichen Zeitalters bis zu Prousts mitleidloser Analyse der Bildungskultur des Fin de siede. Der Plan eines großen Zeitromans hat Immermann über einjahrzehnt beschäftigt, und es scheint bezeichnend, wie die Findung des endgültigen Titels )Die Epigonen< das Ganze in seine Form bringt. Es ist ein Familienroman, der Fiktion nach die Herausgabe von Familienpapieren durch den Dichter. Der Held der Geschichte ähnelt in vielem seinem Vorbild, dem Wilhelm Meister. Auch er gerät in jungen Jahren in schicksalsvolle Verstrikkungen, aus denen er sich schließlich erhebt und ein an der Welt gebildetes Selbstbewußtsein gewinnt. Aber )Die Epigonen< sind nicht, wie der) Wilhelm Meister<, eine Darstellung des Gedankens der Bildung selbst, sondern Zeitbild, das in der Geschichte seines Helden das gebrochene Generationsbewußtsein des Epigonen, das seinen Dichter ausfüllt, spiegelt. )) Wir sind, um in einem Worte das ganze Elend auszusprechen, Epigonen und tragen an der Last, die jeder Erb- und Nachgeborenenschaft anzukleben pflegt. « Dieses Wort, das in dem Roman unter Zustimmung seitens des Helden gesprochen wird, will zunächst eine geistige Verfassung beschreiben: die durch die große geistige Bewegung der deutschen Dichtung und Philosophie hervorgerufene leichte Zugänglichkeit aller geistigen Dinge, die zu einer Art moralischer Seekrankheit fuhrte. Die Vorgeformtheit aller eigenen Empfindungen und Gedanken, das leichte Bereitliegen der ))geistreichen, gehaltvollsten, kräftigsten Redensarten« entfremdet von der Eigentümlichkeit der überzeugung. Man bewegt sich ständig in »Ansichten«. Solche» Verderbnis des Wortes« ist aber weit mehr, als was sie scheint. Sie macht alle Lebensverhältnisse zweideutig und haltlos. Sie fUhrt zu einer allgemeinen Heuchelei als dem eigentlichen KerulZeichen unserer Zeit: der Heuchelei der Bildung. Immermann bezeichnet es in einem Briefe an seinen Bruder Ferdinand (April 1830) als die Aufgabe seines Romans, »das dadurch entstandene eigentümliche Siechtum durch alle Verhältnisse hindurch darzustellen. « In der Tat ist der Enthüllung der Hohlheit des allgemeinen Bildungstreibens in den )Epigonen< ein breiter Raum gegeben. Insbesondere Berlin, das Zentrum dieser kulturfreudigen Bestrebungen, ist dem Dichter stets zuwider gewesen, und das Sigel, unter dem die Berliner Gesellschaft in dem Roman auftaucht. ist bezeichnend genug: Byzanz - nicht ein Byzanz der Despotenverehrung und Anbetung der geheiligten Macht, sondern ein Byzanz der unwahrhaftigen Umschmeichelung des Geistes, der selbst der Repräsentant des königlichen Hauses seinen Tribut zu zahlen hat. Doch das ist nur die äußerliche. gesellschaftliche Seite einer viel tieferen Verderbnis. die auch die ernsthaften Geister bedroht. Immermann spricht gelegentlich von der Schwelgerei des Geistes. Der schwelgerische Geist ist die eigeptliche Gefahr in dem modernen Elend. Die leichte Erwerbbarkeit der geistigen Güter, das unwirklich bleibende Schweifen in sich selbst fuhrt zum Schwiir-
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mertum - nicht nur im engeren Sinne des Worts zu religiöser Sekten bildung, sondern ebensosehr zu den mannigfachen Formen der Bildungsschwärmerei, von denen der Dichter manches Ergötzliche vor allem in seinen »byzantinischen Händeln« zu berichten weiß. Auch die Schloßbewohner des Münchhausen-Romans leisten darin das Erheiterndste. Immermann entwickelt einmal die Idee eines neuen Mönchtums. das. anders als das Mönchtum der christlichen Jahrhunderte, nicht in der asketischen Abtötung des Fleisches und der Abkehr von der Welt bestünde, sondern im Gegenteil sich den Gang in die Welt auferlegte: »Gerade umgekehrt wie de~ Mönch, der sich aus der Welt zurückzog und in geistlichen übungen den Rest der Fleischlichkeit abtötete, müssen wir aus unserer Stille uns in die Welt begeben und an ihrem Wesen das übermaß des schwelgenden Geistes in uns abtöten. In diesem Mönchtum leben bewußt oder unbewußt schon alle denkenden und sinnenden Menschen.« Das gleiche wird an Immermanns Stellung zu Goethe sichtbar, den er ganz dem 18. Jahrhundert zurechnet, eben weil seine Poesie so ganz Ausdruck seiner Individualität war: »Die Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts ist die individuell-interessante, und man verfällt in den größten Irrtum. wenn man ihr Haupt deshalb das objektive Genie nennt, weil ein höchst vielseitiges und bewegliches Subjekt seine wechselnden Stimmungen zum Objekt der Behandlung gemacht hat.« Die neue Wendung der Zeit aber gehe .gerade auf die »Entäußerung von der Selbstigkeit«, auf eine Poesie, »die von den großen Lebensgestaltungen an und für sich trunken ist«. Solche Ideen sind charakteristisch für die inneren Spannungen, die insbesondere innerhalb der von Hegels gewaltigem Geist beherrschten Schule zur Spaltung führten. Es ist der Umschlag der Philosophie in die Politik, den Feuerbach, Ruge und in radikaler Form Marx zur Parole erheben. Auch Immermann sieht diese Konsequenz - bis zu der Möglichkeit, daß die kommende Weltepoche nicht mehr im alten Sinne Philosophie kennen wird. Das Auseinandertreten von Theorie und Praxis, das die Auflösung des Alten charakterisiert, ist eine andere Form dieses Zustandes der Welt, die Immermann selbst erfahren hat als die Kluft »zwischen dem Schulwissen und dem innerlichen Wachsen durch das Gewußte«. Darin aber lag wiederum die gleiche Gefahr. Denn das führte dazu, daß »der innigeren Natur alles Wissen zu einem Erleben wird. Das Allgemeine, Universellgültige wird ganz in die zweideutige Wandelbarkeit des Individuums hineingerissen. Jede Kenntnis löst sich in ein Ereignis auf.« Es ist das feuilletonistische Zeitalter, das sich aus diesem Zwiespalt gebiert und seine kurzatmige Regsamkeit über alles breitet. Im Münchhausen-Roman, im 5. Kapitel des ersten Buches, wird der krankhafte Fortschrittsoptimismus. der sich aus Journalen nährt. prächtig geschildert: »Man muß nur Mitglied unseres Journal-Lesezirkels geworden sein. um zu erfahren. daß nichts so wunderbar ist, was nicht jetzo vorfällt;
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die Menschen und die Sachen und die Erfindungen sind in einem erschrecklichen Fortschritte.« An einer späteren Stelle fUhrt Hermann diesen llDoppel- und Nichtzustand«, an dem ein Werther des 19. Jahrhunderts sehr wohl zugrunde gehen könne, auf den Widerspruch der politischen Verhältnisse zurück. Die schwärmerische Innigkeit, in der ehedem das Leben in Familie und Freundschaft gelebt wurde, ist dem Streben nach weiteren und höheren Zwecken gewichen. »Das wäre nun recht schön, wenn wir nur schon ein Vaterland oder große öffentliche Einrichtungen hätten.« Aber» trotz alles Redens von der praktischen Richtung des Zeitalters laufen die Vorstellungen und Dinge weit auseinander, und der Wahn hat eine furchtbare Macht gewonnen. Es ließe sich der Fall denken, daß jemand unter der Last eines eingebildeten Schicksals sein Leben hinkeuchte und stürbe, ohne das Antlitz der Wahrheit geschaut zu haben. « . In der Tat ist die Handlung der )Epigonen< ein vielfältiges Beispiel dieser Macht des Wahns. Der Herzog, auf dessen Besitztum der Held seine ersten Erfahrungen macht, lebt in dem Wahn, einem Geschlecht von unverfälschtem adligem Blute zu entstammen, und geht an der Enthüllung der Wahrheit zugrunde; der große Gegenspieler des Herzogs, der bürgerliche Handelsherr und Industrielle, lebt in einem nicht minder wahnhaften Bewußtsein, gegenüber der verfallenden Adelswelt einen Hort bürgerlicher Familientugend in seinem Hause zu bilden, und der Held der Geschichte selber gerät in eine Wahnverstrickung nach der anderen, weil ihm das Augenmaß fiir die Wirklichkeit noch fehlt, und verfällt über dem Wahne, unwissend eine furchtbare Inzestschuld auf sich geladen zu haben, fast dem Wahnsinn. Die ganze künstliche und seltsame Fabel des Romans findet hierin ihre Begründung. Am Ende bekennt der Held: »Wie mich der Wahn in wechselnden Gestalten, lächerlichen und schrecklichen verfolgt! Als Zwanziger meinte ich fertig zu sein, und muß mich nun in den Dreißigen als Anfänger und jungen Schüler bekennen. « Und sein Freund antwortet ihm: »Du bist hierin nur der Sohn deiner Zeit. Sie duldet kein langsames. unmittelbar zur Frucht fiihrendes Reifen, sondern wilde. unnütze Schößlinge werden anfangs von der Treibhaushitze, welche jetzt herrscht, hervorgedrängt, und diese müssen erst wieder verdorrt sein, um einem zweiten. gesünderen Nachwuchs an Wurzel und Schaft Platz zu machen.« Auch )Die Epigonen< sind somit ein Bildungsroman und bekunden in ihrer Durchfiihrung das beherrschende Vorbild des) Wilhelm Meister<. Freilich ist es nicht mehr das ästhetische Bildungserlebnis, das den Helden in seinen Bann zieht, und nicht die gesellschaftliche Zwischenwelt des Theaters. in der sich die gesellschaftlichen Unterschiede von Adel und Bürgertum vermitteln, sondern im Eintreten in die gesellschaftliche Wirklichkeit selber bildet sich die Lebensanschauung des jungen Mannes zu ihrer resi-
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gnierten Bestimmtheit. So zufällig seine Bekanntschaft mit dem herzoglichen Hause, an dem er eine erste Tätigkeit und dauerhafte Freundschaft findet, geschlossen wird, so romanhaft und seltsam auch die Fügung ist, die ihn am Ende in den Besitz des großen Vermögens seines Oheims bringt und seine verwandtschaftliche Beziehung zu dem fUrstlichen Hause aufdeckt, so ist es doch der Weltstoff in der ganzen Breite seines realen Daseins, der sich ihm auf diesen Wegen aufschließt. Ein wenig blaß und unbestimmt tritt Hermann uns freilich entgegen, wie überladen und erdrückt von den kräftiger profilierten Gestalten, die in sein beginnendes Leben eintreten. Darin wirkt die alte Form des Bildungsromans nach, die ja den Träger der Handlung gleichsam mit dem Ganzen der Welt belädt, die ihm zu bewältigen aufgegeben ist, und seine Person durch ihre repräsentative Bewußtheit oder Bewußtwerdung aus allem heraushebt. Auch Hermann ist ein wenig tabula rasa, in die sich die Welt erst nach und nach einzeichnet, ein Nullpunkt, der sich im Fortgang erst zu einer artikulierten Weltformel bestimmt. Auch ist es etwas zu viel, was ihn überhäuft: die romantische Mentorrolle, die ihm dem exzentrischen Naturwesen Flämmchens gegenüber zufällt, das kindische Duell, das ihn in einer falschen Heldenrolle zeigt, die unreife Schwärmerei für die edle Herzogin, die enthusiastische Freundschaft mit dem kernigen Archivar Wilhelmi, einem weicher geformten Schoppe, die geistreiche weltanschauliche Auseinandersetzung mit dem Arzte, die wie von unsichtbaren Mächten gelenkte und gedämpfte Liebe zu Cornelia, die halbgeschwisterliche Leidenschaft ftlr Johanna, das schwierige Spannungsverhältnis zu seinem Oheim, und schließlich der furchtbare Inzestwahn, aus dem ihn eine späte Aufklärung noch eben rettet - es ist kein Wunder, daß die Buntheit dieser Beziehungsfälle, untermalt von dem Grau einer beständig begleitenden Reflexion, der Plastik dieser Gestalt Abbruch tut. Auch die Handlung selbst darf nicht an den Maßstäben gemessen werden, die dem Wirklichkeitspathos des modernen Gesellschaftsromans entstammen: Waldzauber und Zigeunerwesen, Schloßleben und Kleinstadtidyll, barocke Zierlandschaft und romantische Naturgewalten wechseln mit kritisch-satirischen Schilderungen von Studentenkonventikeln und Großstadtzirkeln all das nicht so sehr Wirklichkeit als kunstvolle Staffagen, wie wir sie von der zeitgenössischen klassizistischen und romantischen Bildkunst kennen. Kein ungestörter Fluß der Erzählung trägt das Ganze in epischen Bahnen dahin, sondern Briefwechsel, Papiere, Korrespondenzen mit dem >Herausgeber< tragen zu der ironischen Unwirklichkeit des Ganzen ebenso bei wie die naiven Unwahrscheinlichlceiten der eigentlichen >Intrige<. Es bezeugt die dichterische Kraft Immermanns, daß gleichwohl das Schicksal des Helden die erschütterte Teilnahme des Lesers findet, und daß ein Zeitbild entsteht, das diesem Roman überdies einen dokumentarischen Wert besonderer Art verleiht.
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In einem sehr aufschlußreichen Brief, den Immennann an einen seiner Kritiker schreibt, rechtfertigt sich der Dichter ausdrücklich gegen den Vorwurf. dies Zeitbild, das sein Roman gab, sei ein einseitig verzerrender Spiegel. Ich setze den Hauptteil des Briefes her: "Wenn Sie im allgemeinen von einem Werke der modemen Zeit den Eindruck verlangen. den Ihnen die Poesie des Homer. des Sophokles oder Shakespeare erregt. so empfinden Sie ein Begehren, welches Ihnen die Gegenwart und die Dichter der Gegenwart nicht erfüllen können. welches Sie aber auch gar nicht empfinden sollten, da man von jeder Zeit nur fordern darf. was ihr gehört. Das Altertum hatte seine geschlossenen Grenzen, die Ihnen, dem Gelehrten und Philosophen. gewiß noch anschaulicher sein werden, als sie es mir sind. Innerhalb derselben entwickelten sich jene Dichtungen mit unglaublicher Schönheit, die aber neben sich noch viele Entfaltungen zugelassen hat und zulassen wird. Das Individuum, wollte es überhaupt existieren. fiel zusammen mit dem Staat, dem Volksglauben. der Sitte: aus dieser Identität entsprang nun das charakteristische Merkmal der alten Poesie, da die Dichtung immer nur der geistige Reflex der Zeit ist; ihr Planes, Faßliches, Symbolisches. aber auch ihr Enges, und wenn Sie das Wort nicht zu schwer nehmen wollen, ihre Armut. Mit dem Christentum tritt die Persönlichkeit, das Individuum in seine eigentlichen, weit greifenden Berechtigungen ein; der Mensch ist nur für sich da. der beste Teil seiner Existenz beginnt erst mit der Loslösung seines Selbst von dem allgemeinen, irdischen Substrate; das Gemeinsame war eigentlich nur die Kirche, ein Staatsleben gab es kaum, der Feudalismus, das einzige politische Institut, spiegelte das besonderste Verhältnis ab. Die Dichtungen jener Zeiten waren wie die Zeit, psychologisch, scheinbar willkür~ lich, phantastisch; ihre glänzendste Erscheinung. Shakespeare, stand an det äußersten Grenze desselben, in ihr resümierte sich gewissermaßen noch einmal das Mittelalter mit allem Reichtum und allen Geheimnissen der Individualität. - Alte Poesie und Shakespeare geben daher die beiden Extreme einfacher Weltstellung und Weltbetrachtung. Sie müssen, wie alles Einfache, eine höchst wohltätige Wirkung hervorbringen. Was ist nun das Charakteristische der modemen Zeit? Das Individuum hat sich mit seinen Ansprüchen bis zur eigensinnigsten, ja krankhaftesten Spitze heraufgetrieben, aber eben darum ist es auch über den Punkt der Befriedigung in sich selbst schon hinweg. Alle Menschen empfinden jetzt ein Bedürfnis nach allgemein gültigen Unterlagen das Daseins. nach organischen, objektiven Lebensformen, ohne gleichwohl zur Ergreifung derselben schon geschickt zu sein, weil es dabei immer auf eine starke Entäußerung des Egoistischen, Individuellen ankommt. Eine Kirche gibt es kaum noch, der Feudalismus hat ganz aufgehört und etwas Analoges, wie den Staat des Altertums. erblicken wir nur erst in der Zukunft in dämmernden Umrissen.
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Dieser noch nicht geschlichtete Zwiespalt gibt allen Charakteren der Gegenwart etwas Halbes und Doppeltes zugleich, allen Ereignissen etwas Zweideutiges, aber freilich auch um so Magischeres, die Schicksale schweben mitten inne zwischen Zufall und Vorsehung. - Ein Werk nun, wie die Epigonen, welches das Leben der Gegenwart darstellt, muß also in Anlage, Führung, Gestaltung und Gliederung etwas Ähnliches von diesem Doppelund Vieldeutigen sein. Hierin wird seine Wahrheit bestehen, ul'\d die Wahrheit ist, wie und wo sie erscheine, immer göttlicher Natur. Freilich wäre jene Zweideutigkeit der Zeit, jene Unbekanntheit der Schicksale mit einseitiger Vorliebe in das Grelle ausgemalt, die Epigonen auch nur streckenweise ein ins Widerliche verzerrender Spiegel, wie Sie sagen, so würde es schlimm um das Buch stehen; allein Sie erlauben mir zu bemerken, daß außer Ihnen noch niemand, der mit mir darüber sprach, dies fand. Ich wüßte auch nicht, wie dergleichen in das Buch gekommen sein sollte, da meine Seele, wenn ich daran schrieb, frei war von Haß und Schärfe, und mit Liebe die Gestalten, die mir vorschwebten, umfaßte. Mich dünkt, alle Figuren, die darin vorkommen, sind, so seltsam und närrisch sie sich auch hin und wieder gebärden mögen, als Menschen gedacht und gezeichnet, und wo es irgendwie künstlerisch motiviert war, ist zum Troste auf den unendlichen Reichtum der Zeit, der eben aus dem geschilderten Kampfe entspringt, hingewiesen. - Wäre ich aber weiter gegangen, hätte ich einen Charakter, wie Sie ihn zu wünschen scheinen, hingestellt, an dem sich die Anderen festgehalten und auferbaut hätten, oder irgendeinem Dogma, philosophischen oder christlichen, einen durchgreifenden Einfluß aufgetragen, so würde ich in meinem poetischen Gewissen mir selber unwahr und unfromm vorgekommen sein, denn es gibt dergleichen Charaktere, Verhältnisse und Einflüsse nicht. - So viel im allgemeinen konnte ich nur anfUhren und mußte, um meine Deduktion zu rechtfertigen, an manches Bekannte hier erinnern. Können Sie sich diesem Gesichtspunkte überhaupt vertraut machen, so wird auch manches Einzelne in anderem Lichte erscheinen.« Man wird diese Selbstverteidigung nicht in allen Stücken fUr die künstlerischen Schwächen des Werkes gelten lassen wollen, aber man muß anerkennen, daß der Dichter sich des gewaltigen Unterschiedes seiner Schöpfung von den künstlerischen Möglichkeiten vergangener, klassischer Zeiten schmerzhaft bewußt war und einen Gesichtspunkt angibt, der für die rechte Würdigung derselben von höchster Bedeutung ist. Die zwiespältige Haltung des Dichters zu den bestimmenden gesellschaftlichen Mächten der Zeit erwächst danach nicht aus einer schwankenden Halbheit seines Wesens, sondern entspricht dem zweideutigen Zustand der Dinge selbst. Daß Immermann kein Freund des Adels ist, ist aus der klassischen Stelle im Münchhausen-Roman (11, 10) bekannt: »Leider sind unsere
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höheren Stände hinter dem Volke zurückgeblieben. um es kurz und deutlich auszusprechen. Daß es viele höchst ehrenwerte Ausnahmen von dieser Regel gebe, wer wollte es leugnen? Sie befestigen aber eben nur die Regel. Der Stand als Stand hat sich nicht in die Wogen der Bewegung. die mit Lessing begann und eine grenzenlose Erweiterung des gesamten deutschen Denkens. Wissens und Dichtens herbeiführte. getaucht. « Entsprechend heißt es in den ,Epigonen<: »Auch der Adel ist so eine Ruine« - er hält die Prätentionen seiner Kaste über ihre wahre Wirklichkeit hinaus fest und krankt daher an einem tödlichen Widerspruche. Mit kunstvoller Buntheit schildert der Dichter einen tragikomisch scheiternden Versuch zur Restauration alter ritterlicher Sitten in dem ,Das Karussell< genannten Abschnitt. So imposant dieser verfallenden Welt gegenüber der harte und entschlossene Wirklichkeitssinn des modemen Industrieherrn und der großartige Zug seiner Schöpfungen geschildert wird - es ist nicht der Weg des Heils. den es voll Mut und Vertrauen zu betreten gilt, sondern der Weg einer unaufhaltsamen Notwendigkeit, dessen menschliche Folgen düster und bedrohlich sind. Damit ist das Grundmotiv des Romans angeschlagen, das die Handlung in den ,Epigonen< immer wieder anklingen läßt: der Kampf des Geldes gegen den Adel wird seitens des Handelsherrn mit überlegener Sicherheit geführt, jener Sicherheit. die das siegreich vordringende Prinzip ausstrahlt und dem Bürgertum im Gegensatz zu den unwägbaren Illusionen eines untergehenden Prinzips eine wirkliche Überlegenheit verleiht. Der Dichter hat es sich nicht leicht gemacht und einem hervorragenden Vertreter des modemen Unternehmergeistes die Anwaltschaft des Neuen übertragen. Aber das aufmerksame Auge des Helden, der die Vorausschau und Klugheit, die in dem ganzen weitverzweigten Unternehmen regiert. sehr wohl erkennt. vermag dennoch die Einbuße nicht zu übersehen. die mit diesem Weg der Industrialisierung verbunden ist: er vermißt in den Gestalten der modemen Industriearbeiterschaft und in ihrem ganzen zweckhaft geordneten Lebensrhythmus alle Schönheit und Gesundheit - was hätte er erst empfunden. wenn er die zeitgenössischen Verhältnisse in den englischen Industrierevieren gesehen hätte. die Dickens und Friedrich Engels so tief erschütterten! Aber er sieht das alles nicht mit der Leidenschaft eines pragmatisch gerichteten Willens, sondern mit der nachdenklichen Empfindlichkeit eines dichterischen Menschen. auf den die Schönheit der von der adligen Gesellschaft gepflegten Formen und Sitten gewirkt hat. Als ihn die verschlungenen Schicksale seines Lebens am Ende zum Besitzer des großen Unternehmens werden lassen. tritt der Zwiespalt seiner Haltung unverhüllt hervor: Recht und erblich erworbener Anspruch - dies in die kapitalistische Ordnung der neuen Zeit übergehende Prinzip der untergehenden feudalen Ordnung - sind für ihn ohne Faszination. Er ruhlt die ganze Zweideutigkeit seiner Lage. das Erbe
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des Feudalismus und der Industrie antreten zu müssen als einer. »der beiden Ständen angehört und keinem«, und will daher nur als >Depositar< dieses rechtmäßig-unrechtmäßigen Erwerbs angesehen werden. Und doch ist er so wenig von dem verpflichtenden Inhalt dieser Vorstellung durchdrungen. daß er die Stillegung des gesamten Fabrikbetriebes beschließt, um die naturhaften Formen eines ländlichen Lebens wiederherzustellen. »Die Erde gchört dem Pflug, dem Sonnenschein und Regen, welcher das Samenkorn entfaltet. der fleißigen. einfach arbeitenden Hand. Mit Sturmesschnelligkeit eilt die Gegenwart einem trockenen Mechanismus zu; wir können ihren Lauf nicht hemmen, sind aber nicht zu schelten. wenn wir für uns und die Unsrigen ein grünes Plätzchen abzäunen und diese Insel so lange als möglich gegen den Sturz dervorbeirauschenden industriellen Wogen befestigen.« Der Dichter hat sich diesen Widerspruch im Verhalten seines Helden gewiß nicht verborgen: »Diese Handlungen dürften doch die Befugnisse eines Depositars übersteigen« - antwortet dem Helden sein Freund. und nun beruft sich Hermann auf sein Gefiihl. das ein unendliches sei. und auf die allgemeine Aufgabe. die er sich gestellt sieht. die Gegensätze. welche auf seine Schultern geladen sind. würdig zu schlichten - eine Lösung. die keine Lösung ist. sondern eine in sich unbestimmte Wiederholung der Aufgabe. Die Konzeption des Münchhausen-Romans. der Kontrast zwischen dem satirischen Zeitbilde der von dem Genius der Windbeutelei genasführten Schloßbewohner und der unverfälschten Bodenständigkeit des westfälischen Bauernlebens. ist die dichterisch meisterhaft gelungene Ausführung des gleichen Glaubens. »daß die schrecklichsten Zerstörungen die in der Zeit schlummernden Heilungskräfte nicht vernichten können«. Immermann hat sich gegen den angeblichen Pessimismus. der aus seinen >Epigonen< spreche. mit diesen Worten in seinen >Memorabilien< verwahrt, und in der Tat lebt in dem Dichter ein Glaube an die Zukunft, die sich aus den abgelebten Gestalten der Vergangenheit und insbesondere aus der Reinigung von den Abstraktionen. in denen sich das erhitzte Zeitbewußtsein herumtreibt. zu einer lebensvollen Wirklichkeit erheben werde. So sind >Die Epigonen< ein breit ausgeführtes Kulturgemälde, das Adel und Geld, großstädtisches Bildungstreiben und politisches Demagogenturn, religiöse und pädagogische Tendenzen des Zeitalters zu schildern unternimmt. Daß der Dichter gleichwohl nicht Geschichte schreiben wollte, sondern das Schicksal einzelner Personen durch die wirren Läufte der Zeit begleitet. entspricht seiner grundlegenden überzeugung von der Bedeutung des Individuums in dieser Zeit: »Nie sind die Individuen bedeutender gewesen als gerade in unseren Tagen; auch der Letzte fühlt das Flußbette seines Innern von großen Einflüssen gespeist. «Jeder Mensch, in der intimen Innerlichkeit seines persönlichen Lebens. wird ihm so eine »historische Natur«. d. h .• er zieht die Ereignisse an sich und ist deshalb rur den Dichter.
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dem das Menschliche des Charakters vorgängig vertraut und allein heimatlich ist, der Zugang zu den Ereignissen und dem Leben der Geschichte. Es ist bewußte Abwehr gegen Hegels philosophischen Glauben an die Notwendigkeit in der geschichtlichen Entwicklung. Aber trotz aller auch ihn anrührenden Bewunderung fur den historischen Roman eines Walter Scott ist Immermann ihm auf diesem Wege der poetisierenden Distanzsuche zur Gegenwart nicht gefolgt, sondern hat die realen Tendenzen seines eigenen Zeitalters in den menschlichen Gestalten seiner dichterischen Phantasie gesammelt, gespiegelt und gedeutet. Er hat damit die innere Verbindung mit dem ästhetisch-humanistischen Ideal der klassischen Epoche festgehalten, ohne doch in eine romantische Innenwelt auszuwandern: »Mein Sinn, in welchem etwas Dichterisches sich nicht austilgen lassen will, neigt sich mit Wehmut und Trauer dem Verfallenden zu, denn die Musen sind Töchter der Erinnerung; aber eine Tatsache läßt sich nicht ableugnen, nicht verschweigen. « Die Tatsachen, denen er sich so unterwirft, sind freilich nicht die realen Tendenzen der Entwicklung selber, so sehr er diese in ihrem Recht erkennt, sondern ihr menschlich-moralischer Reflex: die schrankenlose Entbindung der Individualität und die aus ihr folgende Zweideutigkeit aller Verhältnisse. Das wunderbare Schlußbild seines Romans, in dessen statuenhafter Monumentalität die oft krause und künstlich verzerrte Schicksalsbewegung der Romanhandlung zur verklärten Ruhe zusammengeht, ist eher vom GeisteJean Pauls als ein Symbol des neuen, in aller Unseligkeit reichen Zeitalters und seines pragmatischen Realismus. Um dieser dichterischen Rückwendung willen ist Immermann zumeist der Romantik zugerechnet worden. Aber gerade die wahrhaft dichterischen Begabungen in der jüngeren Generation seiner Zeitgenossen haben ihn nicht verkannt. Davon legt die Gedenkschrift ein schönes Zeugnis ab, die Ferdinand Freiligrath, einer seiner glühendsten Verehrer, im Jahre 1842 herausgab.
17. Gesang Weylas (1989)
Du bist Orplid, mein Land! Das ferne leuchtet; Vom Meere dampfet dein besonnter Strand Den Nebel, so der Götter Wange feuchtet. Uralte Wasser steigen Verjüngt um deine Hüften, Kind! Vor deiner Gottheit beugen Sich Könige, die deine Wärter sind.
Die wunderbaren Verse Mörikes aus dem Jahre 1831, deren Vertonung durch Hugo Wolf den seltenen Fall einer völligen musikalischen und lyrischen Übereinstimmung darstellt, um nicht zu sagen, eine nicht mehr auflösbare Verschmelzung musikalischer und dichterischer Kunstgestaltung, sind in dem schönen Bande .Augenblicke deutscher Lyrikl von Gerhard Kaiser erstmals einer eindringlichen Analyse unterworfen und in voller Ausdehnung interpretiert worden l • Das fordert mich wahrlich nicht zum Wettbewerb mit dem Gelehrten heraus. aber es lockt mich zu einer nachdenklichen Verteidigung der Rechte des Liebhabers, den diese Verse bezaubern und immer wieder bezaubern. In solcher Bezauberung liegt selbst schon etwas von Verstehen. Da liegt das Problem. Es ist wie bei der antiken Tragödie, an der sich die moderne Forschung seit Jahrhunderten die Zähne ausbeißt - und doch gewann das attische Publikum. das sehr gemischter Art war, ein mehr oder minder genaues Verständnis von eindeutiger Evidenz, und selbst heute, auf der Bühne wie beim Lesen, geht es jedem Empfänglichen bei diesen Texten so. Nun ist ein explizites Verständnis gewiß noch etwas anderes als der Eindruck, den ein Kunstwerk auf uns macht. Das hat aber seine zwei Seiten. Jeder Versuch. einzelnes ausdrücklich zu machen, führt mit Notwendigkeit zur Auflösung solcher eindeutiger Evidenz, die einen im Anfang eingenommen hat. Auf der anderen Seite bleibt es das entfernte Ziel aller Interpreta-
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GElIHAlID KAISEIl: 0 Lied mein Land. Eduard Mörike: .Gesang Weylasc. In: Augenblicke deutscher Lyrik. Gedichte von Manin Luther bis Paul Celan, interpretiert durch Gerhard Kaiser. Frankfurt 1987. S. 269-282. 1
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tion, zu der ersten Evidenz zurückzufinden. So würde ich die Aufgabe der Hermeneutik sehen, literaturwissenschaftliche Forschung immer wieder in die Unmittelbarkeit des Verstehens zu integrieren. Nun steht jeder Leser vor einer solchen Aufgabe. Sowie er sich der Fülle der Interpretationsmöglichkeiten, historischer wie ästhetischer Art, bewußt wird, die die Wissenschaft bietet, muß er versuchen, seinen eigenen Lesergewinn dabei zu erzielen. Es geht nicht um eine einfache Wiedergewinnung erster vager Evidenz. wenn man versucht, sich darüber Rechenschaft zu geben, wie man versteht und warum man so versteht. Da verwickelt sich ein jeder aufs neue in die Vielfalt der Gesichtspunkte, durch die sich die scheinbare Eindeutigkeit des leitenden Verständnisses auflöst. Man wird sich selbst eingestehen, daß man manches, auch wenn man nicht erst von der Wissenschaft belehrt wurde, so und auch anders lesen kann, und man wird vielleicht auch erfahren, daß man den gleichen Text zu verschiedenen Malen auf verschiedene Weise liest. In gewissen Fällen wird man sogar immer wieder hin und her schwanken, wie der Text zu lesen ist. Das heißt aber in meinen Augen, daß man eben noch nicht weiß. wie er zu lesen ist. Kann es wirklich etwas anderes heißen? Stellt ein Gedicht wirklich frei. es so oder anders zu lesen? So frage ich mich im gegebenen Falle, ob die überschrift »Gesang Weylasc< wirklich etwas anderes sein kann als ein Genitivus subiectivus. Das heißt also: Weyla singt. Rein von ~er Grammatik aus kann man dies gewiß auch als einen Genitivus obiectivus lesen, so daß Weyla dann der Gegenstand des Gesanges wäre. Aber das wäre eine Zumutung. Das auch nur als Möglichkeit überzeugend zu machen, bedürfte der ganzen gelehrten und subtilen Erörterung der Mörikeschen Privat theologie und ihrer allegorischen Tendenzen. Der Liebhaber des Gedichtes wird sich dazu kaum bereitfinden, wenn er den Gesang Weylas und die Verse hört. Der Gesang feiert das in der Ferne sagenhaft leuchtende Eiland wie das aus den uralten Wassern des Meeres aufsteigende göttliche Kind. Das hat einen großen einheitlichen Zug, und dem wohnt eine solche Evokationskraft inne, daß man nicht zu wissen braucht, wer Weyla ist, noch all das, was sich damals die jungen Tübinger Theologen als ein Südsee-Inselparadies erträumt haben oder wie Mörike selber seine Träume geträumt hat. Da weiß man aus dem Schattenspiel, das Mörike in den )Maler Nolten( eingefügt hat, daß Weyla dort die Inselgöttin selber ist. Gleichwohl wird man nicht im Ernste die Verse so verstehen wollen, als singe Weyla vom Boden der Insel aus ihren Gesang und preise »Orplid, mein Land«. Man wird die Göttin nicht so verstehen, als ob es nur für die anderen so erscheint. daß die Insel »feme leuchtet«. Die Göttin sieht und singt ihr Land, wie sie über ihm aus Götterfeme, aus Gätternähc waltet. Gerhard Kaiser bietet in seiner schönen Studie zu Mörikes Gedicht eine
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höchst subtile und aufschlußreiche Analyse der metrisch-rhythmischen, vokalen, klanglichen und bedeutungshaften Elemente. Da werden Worte und Wendungen - und nicht nur die überschrift ))Gesang Weylas« - auf die Mannigfaltigkeit von Assoziationen und Konnotationen abgehorcht. die sich an die vielen Elemente des Textes anschließen. Unleugbar ruht das Volumen dichterischer Sprache auf solcher Vielfalt von Ober-. Neben- und Untertönen, die das melodische Ganze eines Sprachkunstwerkes ausmachen. Das ist allerdings ein nie vollendbares Unternehmen, und es wäre schlimm, wenn das Verständnis und das Hören eines Gedichtes von der expliziten Annahme der Resultate einer solchen Analyse abhinge. Die romantische Lehre vom hermeneutischen Zirkel hat das bereits mit aller Klarheit gesehen. Jedenfalls ist es nur ein Gedicht, wenn es ein Ganzes ist, das alle mittönenden Saiten unter die Sinn- und Klangmelodie des Ganzen ordnet. Dadurch entsteht erst die dichterische Eindeutigkeit, die den Sinngewinn des Ganzen tl'ägt und einem nicht nur erlaubt, sondern einen auch nötigt. so zu lesen. wie man lesen muß, und nicht, wie man auch lesen kann. So ergibt es sich hier. Unbestimmt, unbestimmbar, von dampfenden Nebeln halb verhüllt und halb verklärt, ist dies Orplid wie die Erscheinung einer veljüngten Welt oder die Theophanie eines göttlichen Kindes. Hier sind unüberhörbare christologische Anklänge. Es beirrt einen gar nicht, daß es sich um mehr als drei Könige handeln mag. Im Grunde weiß ich gar nicht, was hier schwer verständlich sein soll. Nun hat der Interpret gewiß das Recht, überall den verschiedenen Anklängen nachzugehen und sich die verschiedenen Elemente, die darin auftauchen, bewußt zu machen. Wer das Gedicht in voller Unschuld anhört. wird aber bei diesen Königen, die seine Wärter sind, gar nichts von einem Volk wissen wollen, das auf dieser Insel lebt. Er wird auch in den Wärtern wahrlich nichts von Gefangenenwärtern mithören. Er wird auch kaum an einen angeblichen Kreislauf der Wasser denken oder gar eine detaillierte Mythologie rekonstruieren wollen. Man wird Weyla als eine mütterliche Stimme hören, die eine wirkliche Insel feiert, freilich aus der Ferne, wie eine Offenbarung. Daß es diese Insel nicht gibt und daß es sie nur im Gedichte gibt, ist einem ebenso selbstverständlich. Aber das heißt noch lange nicht. daß das Gedicht diese Insel ist. Ist dieser ganze Weltgehalt, die Insel im Meer, Sonne und steigende Nebel, eine sich verjüngende Gottheit, alles nur Kulisse für das Lied, das sich selber meint? »Lied, mein Land! I - Ich will nicht leugnen, die Unverbindlichkeit, die in solchen mythologischen Schattenspielen zum Ausdruck kommt, ist einem wahrlich bewußt. Man versteht auch, wie anders das war, wenn in der humanistisch-christlichen Epoche der Klassik und Romantik Mythen neu gedeutet wurden. Man hat nicht Mythen erdacht wie dieses Orplid. So darf man gewiß, mit Gerhard Kaiser, in dem Orplid-Traum Mörikes wie in der Beschwörung Merlins durch Immer-
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mann - und man könnte diese Reihe gewiß gewaltig verlängern - das Zeugnis eines Verlustes sehen. Eine gemeinsame mythische Sprachwelt ist jetzt zerbrochen. Soll man dann dieses wunderbare Gedicht mythologisch durchkonstruieren wollen? Zwar klingt in einem klangvollen Namen wie Weyla oder Orplid allerhand an, das Sinn und Gemüt bewegt. Ähnlich wird es etwa sein wie in Hölderlins Fragment )Der Mutter Erde<, wenn man den Figuren Hom und Tello begegnet. Soll man da wirklich mehr tun als die Anklänge an Mensch und Erde klingen und verklingen lassen? Ein lyrisches Gedicht steht doch auf sich selbst. Es ist ein Text, dessen Sinn man versteht, und eine Klangfolge, die man als Melodie hört - beides, wie etwas, was man mitsingen kann. Da kann einem keine Mythologie helfen, die man von woanders herholen muß, auch wenn es der Dichter Mörike selbst ist, der in seinen >Maler Nohen( ein ganzes Spiel eingefiigt hat, in dem sogar einige Winke zur Deutung des Mythos begegnen. Aber das ist nicht in diesem Gedicht. Ein dichterisches Intermezzo in einem Roman ist etwas von Grund auf anderes als dieser Gesang Weylas. In dem Gedicht hat der Dichter offenbar von seiner Privatmythologie Distanz genommen und ein Lied geschaffen, dessen Seelenmelodie das tiefe Bedürfnis der Menschheit nach Verjüngung und nach einer heilen Welt traumgleich heraufbeschwört. Das heißt nicht, daß das ferne Land das Gedicht meint - wohl aber, daß alle Gedichte das ferne Land meinen, die nirgendwo seiende heile Welt.
18. Der Dichter Stefan George (1968)
Der Dichter Stefan George ist innerhalb der deutschen Literatur eine einzigartige Erscheinung - nicht durch sein dichterisches Werk allein, sondern vor allem durch die bannende Macht seiner Persönlichkeit, die seine Freunde und Verehrer nicht als eine anonyme Gemeinde, wie sie jeder Künstler sammelt, sondern als einen engen Bund von Menschen zusammenschloß, denen er der Meister war. Selbst in dem Abstand der Jahrzehnte - George ist bereits 1933 gestorben - sind diese Menschen bis zum heutigen Tag an ihn gebunden geblieben. Er gewinnt immer neue Verehrer von gleicher Unbedingtheit - allein durch sein dichterisches Werk. Was ist die Eigenart dieses dichterischen Werkes? Welche Kunstmittel und welche aus ihnen strömende Seelenmacht ist es, die die ungewöhnliche, fremdartige, ebensosehr zu unbedingter Ablehnung wie zu unbedingter Hingabe reizende Wirkung des Dichters ausmachen? Es gehört wohl zu der Gleichzeitigkeit großer Dichtung, daß man so leicht vergißt, daß George seine bedeutenden ersten Gedichtwerke noch im vorigen Jahrhundert publiziert hat. Er war ein Zeitgenosse des jungen HofmannsthaI, er war wenig älter als Rilke und begann seine dichterische Wirksamkeit in einem ausgesprochen polemischen Affekt gegen die damals herrschende Kunstgesinnung des Naturalismus. Sein Leben hatte seine besondere Geheimhaltung und seine besondere Öffentlichkeit. Sein frühes Reisen, sein Aufenthalt in Paris, sein häufiges Verweilen in München, vor allem aber das unstete und doch beständige Hin- und Herziehen eines Freundes zwischen den Wohnsitzen seiner Freunde, bilden eine höchst ungewöhnliche Figur des Lebens. Er hielt sich mit Betonung von den gesellschaftlichen Bindungen fern, vermied die Einordnung in das gesellschaftliche Gefüge, die einemjeden aufgegeben ist, und war stolz auf seine Abseitigkeit und die Unabhängigkeit, die er sich gewiß nicht ohne Verzicht und durch Strenge gegen sich selbst aufgebaut hatte. Was ihn in der Öffentlichkeit bekannt gemacht hat, entsprang insofern seinem eigenen Bestreben, als er, schon als junger Dichter, die Initiative zur Sammlung Gleichgesinnter ergriff und eine literarische Bewegung begründete. Es waren die )Blätter für die Kunst(, für die er in jungen Jahren seine
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Bundesgenossen suchte und fand und in deren Rahmen damals auch Hugo von Hofmannsthal seine Beiträge leistete. Im Ausgang von dieser literarischen Bewegung sammelte er mehr und mehr seine Freunde. Das Unternehmen existierte zunächst aufSubskriptionsbasis. Man konnte sich als Dichter nicht einfach um die Aufnahme in diese Blätter bewerben, sondern wurde zur Mitarbeit eingeladen, ja, man mußte sich sogar als bloßer Leser um die Ehre bemühen, die im Kreise der >Blätter für die Kunst< entstehenden Publikationen erwerben zu dürfen. Auf diese Weise sammelte George seine Freunde und lebte außer in München an manchem anderen Ort, in Berlin, in Darmstadt, in Heidelberg. Alles, was wir von ihm wissen und was von ihm berichtet wird, zeigt einen neuen Stil des Meister-Schüler-Verhältnisses, der auch in dem ursprünglichen Vorbild, das Mallarme für George darstellte, keinen Vorläufer hat. Gundolf, der große Lehrer der Literaturwissenschaft an der Heidelberger Universität, war einer von denen, die von dem Meister der Menschenfiihrung, der dieser Dichter war, zu einem ihr Leben lang währenden Jünger-Verhältnis bestimmt wurden. Die Unlösbarkeit seiner inneren Bindung bewährte sich auch noch, als George mit ihm gebrochen hatte. Was in solchem Verhältnis zwischen Meister und Jüngern herangebildet wurde, war fiir jeden, der das auch nur von feme beobachten konnte Qder von feme davon angerührt wurde, deshalb besonders eindrucksvoll, weil es dem allgemeinen Zeitbewußtsein und seinen Werten entschieden widersprach. Denn hier stand der Wert der Nachahmung, der >imitatio<, im Vordergrund. Es war Georges bewußtes Streben, sein Anspruch und die Auffassung von seiner eigenen Sendung, daß er sein dichterisches Wollen, seinen Sinn fiir die Möglichkeiten von Dichtung und Sprache, einer jüngeren Gefolgschaft gleichsam anlernte. Jeder, der zum ersten Male einen Band aus den Folgen der >Blätter fiir die Kunst< in die Hand bekommt, ist von der Gleichförmigkeit und der Familienähnlichkeit der literarischen Produkte überrascht, die dort - bezeichnenderweise ohne daß die Autorennamen mitgeteilt wurden - gesammelt waren. Mit den Jahren verwandelte sich dieser literarische Kreis Gleichstrebender mehr und mehr in einen Lebenskreis, in dem George nicht nur der fiihrende Dichter war, sondern der große Erzieher und Menschenbildner, der als der Meister im vollen Sinne des Wortes die Mitte bildete. Dann kam das für uns heute, aber auch für viele von damals schwer vollziehbare Erlebnis, das George mit einem heranwachsenden Jüngling in München hatte, dessen früher Tod dem Dichter wie eine Art Berufung und Weihung seines eigenen Lebens und Wirkens erschien. Das Gedächtnis an Maximin war wie eine Kultstiftung, die das dichterische Werk Georges veränderte, und brachte eine Scheidung der Geister in di~ienigen, die diesen kultischen Zug annahmen, und diejenigen, die sich ihm verschlossen. Selbst
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große Bewunderer Georges vermochten ihm bei dieser religiösen KultstiftUng - wenn es eine solche sein sollte - nicht wirklich zu folgen. Damals begann der George-Kreis sich in einer neuen Richtung zu entfalten. Das lebendige Schüler-Meister-Verhältnis, das den )Kreis< trug, erfuhr einen Formwandel, der vor allem durch das politische Ingenium von Friedrich Wolters vorangetrieben wurde. Wolters war ein Wirtschaftshistoriker aus der Schule Gustav Schmollers und gehörte zu den engsten Freunden Georges. Er erblickte im Heranwachsen einer jungen Generation, die nach dem Vorbild und dem Willen ihres Meisters geprägt war, den Ansatz zu einer volkhaft-staatlichen Erneuerung im ganzen. In einer kleinen Schrift, die Epoche gemacht hat, deutete er das lebendige Verhältnis zwischen Meister und Jünger als die Keimzelle einer neuen politischen, staatbildenden Ordnung. Sein Buch hieß )Herrschaft und Dienst<. Er suchte die Ehre des Dienens und die Weihe des Herr-Seins in einem neuen Lichte zu zeigen, indem es auf die gestuften Lebensformen des mittelalterlichen Reiches und der römischen Kirche verwies. Damit kam etwas wie eine Institutionalisierung in das lebendige Fluten des von dem Dichter George und seiner Dichtung inspirierten Lebens des Kreises. Der Anspruch auf eine gesellschaftliche Erneuerung des Volkes im ganzen war ein provozierender und für viele den Zugang erschwerender Anspruch, wie das etwa die scharfe Kritik Max Webers in seiner Problematik dargestellt hat. Indessen läßt sich im Rückblick sehr wohl begreifen, was die Stärke dieser Gesinnung war. Im weltlichen Raume einer Massengesellschaft, innerhalb eines diffusen Kulturbetriebs, bildete diese Gemeinschaft so etwas wie eine Kirche, die von dem Wahlspruch geprägt war: >Extra ecclesiam nulla salus<. Daß in diesem Satz, den die römische Kirche als den Anspruch ihrer eigenen Heilsverkündigung bis zum heutigen Tage festhält, auch eine weltliche Wahrheit steckte, daß es nicht sinnlos und nicht beleidigend war, wenn reiche Talente, die außerhalb des Kreises hervortraten, dennoch vor dem Anspruch geringerer Geister, die dem Freundeskreis Georges angehörten, zurückgesetzt wurden, das wurde damals von den Jüngern dieses Kreises auf eine eindrucksvolle Weise vorgelebt (und gew.iß nicht durch die so viel verlästerten äußerlichen Moden, mit denen sich mancher wichtig machte). Ein eigenes Erlebnis mag das Sendungs bewußtsein, das in dem Kreis lebte, verdeutlichen. Friedrich Wolters, den ich als Student und als junger Doktor in seinen Vorlesungen und Übungen gehört hatte und mit dem ich häufigeren Umgang hatte, schenkte mir 1922 ein gerade erschienenes Buch von Wolff und Petersen über )Das Schicksal der Musik. und schrieb darein folgende Widmung, die, so privat sie ist, ein allgemeines Interesse hat: Narr ist der, der so verwegen ist, daß er den Geist aus dem Kreise heraussendet.
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Und noch mehr Narr ist der, der sich grämt und grübelt, seinen Ursprung zu wissen. Und ohnejeglichen SilUl ist, wer seine tiefsten Gedanken wissen will. Novelle Antiche, 29. Stück
Offenbar war es eine von Friedrich Wolters selbst angefertigte übersetzung des italienischen Textes. Hier sprach sich nicht nur das innere Heilsbewußtsein derer aus, die dem Kreise angehörten. Es war klar, daß diese Widmung jemandem galt, der in den Augen von Wolters zu sehr auf das Denken - denn das war mit dem Wissen seines Ursprungs gemeint - gerichtet war. Die Form des gedanklichen Lebens, die ich damals als Schüler von Paul Natorp verfolgte, galt als verderblich und unfruchtbar. Das Nietzsche-Gedicht des >Siebenten Ringes( gibt dem einen epigrammatischen Ausdruck: sie hätte singen nicht reden sollen diese neue seele! Hier klingen in dichterischer Form die Antithesen an, die damals von Gundolfund anderen auch begrifflich in dem >Jahrbuch für geistige Bewegung( formuliert worden sind, die Gegensätze von Sein und Wissen, von Substanz und Funktion, VOn Gestalt und Begriff. Was mir an diesen mehr mit schriftstellerischer Kunst als mit gedanklicher Schärfe vorgetragenen Antithesen aufging, war freilich doch eine Wahrheit, nämlich, daß jedes Denken VOr die Prüfung gestellt ist, ob es das Gedachte durch lebendige Erfahrung einlösen kann. In einer Zeit vielfach versuchter und suchender Jugendlichkeit war das keine bequeme Forderung, und sie widersprach überdies der allgemeinen Hochwertung der Originalität, des Neuen, der schweifenden Vielseitigkeit des Interesses, wie sie im literarischen und wissenschaftlichen Leben galten. In den zwanziger Jahren wirkten sich die politü;chen Ambitionen des Kreises darin aus, daß seine Anhänger vielerorts in die Universitäten eindrangen. Ich nenne als die wichtigsten Universitäten, an denen sich der Kreis um Stefan George Wirkung verschaffte: Heidelberg, Marburg, Gießen, Kiel, Berlin, Bonn, Frankfurt. Basel und Hamburg. Sicherlich fehlen dabei manche andere. Damals begannen Anhänger und Freunde Georges, wissenschaftliche Positionen zu erwerben: Gundolf und Wolters. Bergstraesser. Bertram. Salin,' Boehringer, Schefold. von den Steinen, Hildebrandt, Singer. von Blumenthai. Andreae. von Uxkull. Landmann. Petersen. Stauffenberg u. a. Das waren nicht immer Namen von erstem Rang in der Wissenschaft. aber das eine Beispiel von Ernst Kantorowicz zeigt durch sein großes Werk über Friedrich II .• daß die Maßstäbe, die durch die Erfahrung und das
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Vorbild Georges gesetzt waren. auch zu echter geschichtlicher Erkenntnis ermächtigten 1• Dazu kam das Eindringen des George-Kreises in manche anderen Berufsschichten. Unter dem Antrieb des politischen Ehrgeizes von Wolters wur-den damals. nach dem Ersten Weltkriege, Beziehungen zu den nationalen Jugendverbänden aufgenommen und sowohl innerhalb des Heeres wie in der Verwaltung und der Diplomatie eine personelle Politik der Ausbreitung des neuen inneren Staates verfolgt. Darüber ist die Weltgeschichte hinweggegangen. Wolters starb früh, Max Kommerell fiel von seinem Meister ab, und es gab dergleichen Ereignisse mehr, die dann in dem Jahre 1933 ihre letzte Zuspitzung erfuhren, in dem die fortschreitende Tendenz zur politischen Wirkung des ,Kreises< zum Scheitern kam. Aber wie groß und dauerhaft auch während des Dritten Reiches der Glaube an das Igeheime Deutschland< war, bezeugt die Zugehörigkeit des Attentäters GrafStauffenberg zu diesem Kreis. George selbst verließ Deutschland schon 1933. Viele seiner Freunde waren durch die Nürnberger Rassengesetze betroffen und verließen Deutschland ebenfalls. Das Jahr 1933 bedeutete im Grunde weniger den Höhepunkt als den letzten Endpunkt der großen öffentlichen Wirkung Georges. Als Max Kommerell im Jahre 1930 seine Frankfurter Antrittsvorlesung über )Jugend ohne Goethe< hielt und veröffentlichte, erinnere ich mich meines Erstaunens beim Lesen dieser Rede. Kommerell sagte dort, daß die Jugend keinen Zugang zu Goethe habe. weil sie allzu ausschließlich von der Dichtung Stefan Georges eingenommen sei. Das war schon damals nicht richtig. 'Jugend ohne Georgel wäre fUr die damalige Generation ein noch richtigerer Titel gewesen. Denn es bestand die erstaunliche Tatsache. daß nach einem Aufstieg von zwanzig. fUnfundzwanzig Jahren der Vorbereitung und einer Blütezeit in den zwanziger Jahren die öffentliche Wirkung Georges und seine dichterische Präsenz ganz rasch verblaßten. Das mag viele Gründe haben. am Ende aber auch den. daß die große dichtungspolitische Entschiedenheit, die von George und seinem Kreis ausging, gegen einen anderen großen Dichter der deutschen Sprache ein Verdikt gesprochen hatte. das ihn beschattete, so daß er mit einer Art von angestauter innerer Strahlkraft nun in das allgemeine Bewußtsein zu treten begann: Rainer Maria Rilke, dessen Spätwerk, die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus, sich damals durchsetzte. Die ganzen jahre des Dritten Reichs wirkte Rilke fast wie ein Dichter der Resistance, nicht zuletzt dadurch, daß der hochgetriebene Manierismus seines dichterischen Stils zu der sich uniformierenden Öffentlichkeit von damals einen extremen Kontrast bildete. 1 Vgl. zu diesem Aspekt auch ,Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft•• in diesem Band. S. 258ff.
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Das soll gewiß nicht heißen, daß nicht die dichterische Meisterschaft Georges, vor allem die epigrammatische Kraft seiner Sprache, beständig
weiterwirkte. wie man etwa an Gottfried Benn und Paul Celan beobachten kann. Aber die Zeit der großen Öffentlichkeit Georges war vorbei. Wenn wir uns heute besinnen. was uns George bedeutet, so erschwert die eigenartige und ungewöhnliche Wirkung, die von ihm ausging, dies Unternehmen. Es sind ebenso die positiven Vorurteile der bedingungslosen Verehrer wie die negativen der entschlossenen Gegner, die der Besinn,ung im Wege stehen. Die Vorurteile gegen George haben dabei im heutigen Zeitbewußtsein durchaus den Vorrang. Man ordnet George in die Kritiker der technischen Zivilisation des Jahrhunderts ein, denen mit Recht vorgehalten werden kann, daß sie von dem leben, was sie bestreiten. Man kritisiert Georges aristokratische Femstellung von dem Leben der arbeitenden Massen - man denke an den provozierenden Vers »Schon eure zahl ist frevel«, der freilich mehr die Krämer als die Arbeitenden meint. Es gibt das Vorurteil der Wissenschaft, das sich darauf gründet, daß George der Wissenschaft seinerseits mit Kritik und 'Skepsis gegenüberstand und mehr die geistige Wirkung als die Objektivität wissenschaftlicher Wahrheits forschung suchte. Es gibt das Vorurteil, das gegenüber dem Einformungsanspruch, der von George ausging, die individuelle Differenzierung vermißt. 'Es gibt die Despotie des Erziehers George, die von einer Härte des Ansichreißens wie von einer Härte' des Verwerfens war, die viele verletzt hat und verletzt, und es gibt schließlich und vor allem die Ablehnung der Selbststilisierung, die Georges Figur umgibt und die er selber etwa in einem Brief an Sabine Lepsius bekennt, in dem es heißt: »Ich kann mein Leben nicht leben es sei denn in der vollkommenen geistigen Oberherrlichkeit. Was ich darum streite und leide und blute dient keinem zu wissen. Aber alles geschieht ja auch für die Freunde. Mich so zu sehen wie sie mich sahen ist ihr stärkster Lebenstrost. So streit und duld und schweig ich für sie mit. Ich gehe immer und immer an den äußersten Rändern - was ich hergebe ist das letzte mögliche ... auch wo keiner es ahnt.« Die Selbststilisierung, die auch aus Georges Dichtungen spricht, ist es wohl vor allem, die für viele den Zugang zu seinem dichterischen Werk erschwert. Auf der anderen Seite stehen die Vorurteile zur George, die nicht minder hinderlich sind. Wohl jeder, der ihm begegnet ist, bezeugt die bezwingende Macht seiner Person. Es scheint nicht zuviel gesagt, daß es damals kaum jemand anderen gab, von dem eine solche bannende Kraft ausging. Wir können noch heute beobachten, wie groß die Macht war, die von diesem dämonischen Menschen sowohl auf Altere wie aufJüngere ausgeübt wurde. wenn wir sehen, wie diese Männer bis zu ihrer letzten Stunde nie ga.t:Iz von
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dem Bewußtsein der Abhängigkeit, der Unterordnung, der freiwilligen Unterwerfung unter den überlegenen Willen und die überlegene Weisheit des Meisters freigeworden sind. Es ist der Erfolg des Menschenbildners George, der unsere Besinnung auf eigentümliche Weise erschwert. Jeder Menschenformer erzeugt gerade dadurch, daß er die >imitatio<, die produktive Nachahmung, auf sich zieht, eine Art Echoeffekt, und damit verunklärt sich die eigene Stimme dessen, von dem dies Echo ausgelöst wird. Das ist ein notwendiges Gesetz geistiger Wirkung, und jeder Lehrer und Erzieher weiß etwas von der Macht und dem Elend dieses Echoeffekts. Das wird noch verstärkt durch die hohe Bewußtheit, mit der George seine eigene Wirkung plante und lenkte. Es ist eine Art selbstgeschaffener Dogmatik, die alle Biographien des George-Kreises durchzieht. Ob man nun das Buch Gundolfs von 1920 oder das Buch von Wolters über George von 1928 in die Hand nimmt, oder eine der großen Gestaltbiographien, die aus dem George-Kreis hervorgegangen sind, immer begegnet hinter den geschichtlichen Figuren ein auf eine in sich konsistente Werttafel gegründetes Urbild, das ihnen allen ein gewisse Familienähnlichkeit verleiht und geschichtliche Unterschiede verdeckt. Das ist nicht immer ein Erkenntnisgewinn. Wenn es etwa bei Gundolfheißt, daß George der einzige antike Mensch unserer Tage war, so ist eine solche Außerung so sehr aus der Selbstauffassung Georges und seiner Freunde heraus gedacht, daß mit ihr nicht wirklich etwas gesagt ist. So möchte ich Stefan George nicht in der ganzen Beziehungsftille, die sein Name und seine Person bedeuten, sondern als den Dichter behandeln, in dessen dichterischem Werk das Bleibende und das Geschichte-Machende der großen Persönlichkeit beschlossen ist. Es gilt, seine Dichtung zu befragen, als was sie bleibt und besteht. Georges dichterischer Ton hat eine eigentümliche Erweckungskraft. Zwar waren es immer nur wenige, die davon erweckt wurden, aber bis heute gibt es immer wieder solche wenigen, dichterisch empfanglichen Menschen, die davon erreicht werden. Wieder gebe ich ein Beispiel aus der eigenen Erfahrung. Ich war noch Gymnasiast, als ich, nicht durch ein Elternhaus geleitet, weil dessen Interessen ganz woanders, in den Naturwissenschaften lagen, an Lyrik heranzukommen versuchte. Ich kaufte mir eines Tages, von niemandem beraten, eine Anthologie der modernen Lyrik, die bei Redam erschienen war. In der Einleitung derselben fand ich eine Klage des Herausgebers Hans Benzmann, daß der Dichter Stefan George leider den Abdruck von Gedichten nicht genehmigt habe. Der Herausgeber bedauerte das, und in der typischen Weise, in der nun einmal rechtliche Schwierigkeiten umgangen zu werden pflegen, benutzte er die Einleitung, um zwei Gedichte von George in vollem Wortlaut Zu zitieren. Diese beiden Gedichte wirkten auf mich wie die Berührung von einem elektrischen Schlage. Ich
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hatte keine Ahnung, wer das war, Der Dtuck war eine gräßliche Fraktur, so wie die Reclamhefte der Zeit eben waren, Doch war der Kleindruck immerhin beibehalten - soviel Treue gegenüber dem Text hatte sich der Herausgeber bewahrt. Wie ich noch immer weiß, waren es zwei Gedichte aus dem ITeppich des Lebens< (»Blaue Stunde« und »Juli-Schwermut«). Sie hatten einen so eigenen Ton und waren etwas so Unverwechselbares, daß man innerlich auf die Suche ging, wo der Ton dieses Dichters noch zu hören sein möge. Ich beschreibe diese eigene Erfahrung, weil ich weiß, daß das bis heute so sein kann und immer wieder so ist. Es scheint mir nun der Gegenstand einer vernünftigen Selbstbesinnung, sich zu fragen. worauf das beruht. Soviel ist klar: George ist in einem solchen Grade vom Willen zur Kunst beherrscht. daß auch sein dichterischer Stil und seine Sprechhaltung sich durch ihre Ungewöhnlichkeit gegen alles Zeitgenössische abhoben. Dem entspricht. daß er mit der sogenannten IStilbewegung< gleich'l.eitig war, demjugendstil, dessen lange verkannte Bedeutung darin lag, daß er dem historisierenden Wust des späten 19.Jahrhunderts einen reinigenden, auf einfache Formen zurückführenden Stilwillen entgegensetzte. Es ist bemerkenswert, daß man dieser neuen Stilbewegung, die schließlich IJugendstil< hieß, heute auf der Seite der bildenden Kunst wieder steigendes Interesse entgegenbringt, während das beständige Fortleben des dichterischen Wortes Georges den Stilwiderstand des öffentlichen Zeitgeschmacks noch nicht zu überwinden vermag. Zeitgeschmack ist eine eigene Macht, die darüber bestimmt, was einen überhaupt zu erreichen und zu berühren vermag. Geschmack hat dadurch seine bestimmende Gewalt. daß er Erwartungen und Auffassungsschemata vorbereitet, gegen die nicht verstoßen werden darf. wenn nicht selbst die größte künstlerische Qualität unkenntlich werden soll. Man denke et\\'a daran. wie erst der ISturm und Drang( im 1B.Jahrhundert einen solchen Einbruch in die Geschmackserwartung der Zeit darstellte, daß er Shakespeare entdeckte. Der Geschmack ist eben eine Art Oberflächensinn und reagiert wie eine empfindliche Haut aufjede Berührung. Er erschöpft aber durchaus nicht das, was an der Kunst Kunst ist. Das muß man sich heute auch im Falle Georges klarmachen. Der Abstand zu den Geschmackserwartungen der eigenen Gegenwart, ihre Wendung zum Unpathetischen, zum Reportagehaften. zur provokativen Desillusionierung, zur Zersprengung der hergebrachten dichterischen Formen ist groß. All das steht offenbar in schärfstem Kontrast zu dem, was die Georgesche Dichtung von uns verlangt. Da ist zunächst Georges bewußte Betonung der Kunst und der Künstlichkeit des dichterischen Wortes. Sie spricht sich schon in dem Titel der IBlätter für die Kunst< aus. Nur von hier aus gibt es einen Zugang zu dem, was Georges Dichtung ist. Man spürt an dem Worte IKunst<, wie George und
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seine Freunde es gebrauchen, die Nähe der Augusteischen Kunst, der großen Dichter Roms um die Zeitenwende, vor allem Vergil und Horaz, die den Anspruch erhoben, eine eigene, der griechischen ebenbünige Dichtung zu schaffen. Diese Nähe spüren bedeutet die Ferne ermessen, die rur das Verständnis der Georgeschen Kunst heute zu überwinden ist. Georges römische Willens strenge, die imperatorische Knappheit und Bestimmtheit seiner Sprache, das bewußte Hervorkehren des Kunstvollen an der Kunst, wie es in seiner Dichtung zutage tritt, ist dem Ideal der natürlichen Liedhaftigkeit, wie es seit der Goetheschen und der Nach-Goetheschen Lyrik den Maßstab bildet, denkbar fern. Hier ist eine Goldschmiedekunst des Wortes am Werke, die das Köstliche, das Kostbare und Seltene sprachlicher Preziosen mit Bewußtsein zumutet. Es ist nicht zuletzt das Vorbild von Mallarme gewesen, den George alsjunger Mann in Paris kennenlernte, dem er seinerseits folgte. Anfangs mag er sich geradezu so verstanden haben, daß er diese poesie pure, die neue Musikalität des lyrischen Gedichtes, wie er sie an Mallarme bewunderte, im deutschen Sprachstoff nachbilden ynd sein Vorbild im deutschen literarischen Leben wiederholen wollte. Was hier Musikalität der Sprache heißt, meint die vollständige innere Zusammenfügung von Klang und Bedeutung, von Meinen und Sein des Wortes. Sie stellt eine höchste Steigerung der Möglichkeiten des dichterischen Wortes überhaupt dar, das immer zwischen Klang und Bedeutung vielfache Möglichkeiten des Gleichgewichts hält. Die äußerste Steigerung der dichterischen Musikalität bedeutete folgerichtig die Abkehr von der Musik, sofern dieselbe sich von dem Wort und der Bedeutung löst und als freigesetzte Musikalität autonom wird. Der George-Kreis sah in der labsoluten< Musik eine auflösende Seelenmacht. Dagegen verbindet die lyrische Musikalität mit dem Klang den Sinnrhythmus. Sie schaltet den gegenständlichen Sinn des sprachlich Gesagten nicht aus, indessen bindet sie ihn vollständig in die dichterische Klangbewegung ein. Der Grad der verständnisvollen Bewußtheit, mit der solche klangvollen Verse in ihrem Sinn erfaßt werden, ist daher sehr großer Steigerung bzw. Abdämpfung fähig, ohne daß der dichterische Gesamteindruck entschwindet. Das rechtfertigt die Anwendbarkeit des Begriffes des Magischen auf den dichterischen Wortgebrauch Georges. Im magischen Gebrauch des Wortes ist das Verständnis der Worte offenkundig nicht ganz ferngehalten, aber es ist sekundär gegenüber den eigentlichen Wirkungsfaktoren. Im magischen Sprechen liegt eine ungewöhnliche Konzentration von Wille, und in der Tat ist auch Georgein seinem Werk ganz Wille. Das magische Wort ist ferner ein Wort, das verwandelt, das nicht nur gehört und verstanden wird, ja das überhaupt nicht primär verstanden wird, sondern das im Hören ergreift wie die Beschwörung von Geistern. Etwas, das vorher nicht war, ist da, und durch keinen natürlichen Vorgang, nicht herbeigeführt durch spezifische
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Mittel wie im handwerklichen Tun, sondern gerade durch das Unspezifische der Mittel wie beim Zaubern. Daher hat die magische Wirkung, auch die Georges, etwas Unbegreifliches und etwas, dem man sich nicht durch den Einspruch rationaler Kritik entziehen kann. In der späten, reifen Form seines Werkes verlangt George darüber hinaus, ähnlich wie im religiösen und kultischen Formelgebrauch, eine Auffüllung dessen, was durch die Sprache präsent gemacht wird - wie man eine Verfluchung spricht und doch die >Annahme< des Spruches seitens des Härenden den Fluch erst vollstreckt. Je mehr das dichterische Werk Georges sich mit dem Anspruch kultischen Sinnes durchdringt - das erreicht seine Höhe im >Stern des Bundes< -, desto mehr verlangt es solche Auffüllung. Dem entspricht auch die eigene Form des Hersagens von Gedichten, die George gepflegt und auf die hin er seine Jünger geschult hat. Zwar dürfte es wiederum so sein, daß der gute Sprecher, d. h. der, der auf seine eigene Weise dem rhythmischen Gesetz des Gedichtes gehorchte, auch in Georges Augen der beste gewesen ist und nicht der, der gleichsam ein monotones Ritual vorführte. Aber auch dann blieb das Sprechen, wie es in diesem Kreise gepflegt wurde und wie es zu Georges eigener Dichtung durchaus gehört, ein Hersagen. Man vermied im George-Kreis Fremdworte, wenn man konnte. Und so hieß das Sprechen von Gedichten (nicht erst bei Robert Boehringer, sondern schon in den frühen Folgen fmdet es sich so) »Hersagen «. Hersagen bedeutet Heraussagen fiir andere, rur die Hörenden. Es ist nicht, wie ich etwa als Gegenwendung, vor allem im Blick auf den damals ins Bewußtsein tretenden dichterischen Ton Hölderlins, sagen würde, ein >Hinsagen(. Der Hölderlinsche Vers ist ein hingesagter Vers, ein Vers, den man vor sich hin spricht, wie in einer meditativen Versenkung. Der Georgesche Vers will mit Bewußtsein vor anderen gesprochen werden. Es gilt, das in seiner künstlerischen Berechtigung zu erkennen und nicht die herrschenden Sprechgewohnheiten oder den Zeitgeschmack der Gegenwart über die Legitimität eines solchen Hersagens richten zu lassen. So glaube ich, daß Gundolf recht hat, wenn er von George sagt, daß er die deutsche Sprache des katholischen Zaubers mächtig gemacht habe. Darin liegt sein Einzigartiges. Denn unsere deutsche Dichtungsgeschichte ist selbst dort, wo es sich um katholische Dichter handelt, wie Eichendorff oder Hofmannsthai, von der Inständigkeit des Hinsagens bestimmt, das heißt aber von der protestantischen Wendung der christlichen Innerlichkeit, die in Luthers Bibeldeutsch ihren festen Grund hat. Georges Werk bricht in diese Tradition wie etwas Fremdartiges ein, weil es den liturgischen Zauber des Sinnlich-Klangvollen und des Zeremonienhaften zu seinem Grundgesetz hat. Fragen wir uns, welche Kunstmittel George gebraucht, um der deutschen Sprache, die auch bei ihm die Sprache Luthers und des Bauern ist, diesen
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einzigartigen neuen Ton abzugewinnen. Da ist zunächst sein Spracharchaismus. Es ist bezeichnend, daß ausländische Freunde Georges, die ihm als Person begegnet waren und ihn verehrten, dennoch große Schwierigkeiten hatten, Georgesche Verse zu verstehen. Es sind zu viele ftir den Ausländer unbekannte Ausdrücke darin. Damit ist nicht eine Erfindung neuer Worte gemeint. Das ist nicht Georges Art, auch nicht die gewaltsame Umdeutung überkommener Wortbedeutungen. Sein Spracharchaismus beruht vielmehr darauf, daß er frühe Wortformen der deutschen Sprachgeschichte neu erweckt und aus der Sprache des Bauern und Handwerkers seiner Heimat die eigene Sprache bereichert. Ein wesentliches Moment dieses Archaismus ist, daß George die Macht des Simplex, der einfachen Form, entdeckt hat. Was das einfache im Gegensatz zum zusammengesetzten Wort, das einfache Verbum, das einfache Nomen im Gegensatz zum Kompositum leistet, ist, scheint mir, daß es die nach vorn und hinten verweisenden Bezüge des Wortes beschneidet. Wenn etwa George statt Ankunft »Kunft« sagt, so ist mit diesem Worte »Kunft« das Kommen selbst gegenwärtig gehalten und wird nicht weg bezogen auf ein Woher und Wohin. Das einfache, unzusammengesetzte Wort drängt also den Bezugscharakter des Wortes zugunsten seiner Kraft, Gegenwärtiges zu evozieren, zurück. In Begriffen Gundolfs gesprochen: Die Substanz der Worte tritt vor ihre Funktion, so wie auch sonst nach Georges Lehre über dem Funktionalismus des modernen Lebens die Substanz verkannt und wiederzuentdecken ist. Mit der Bevorzugung des Simplex gelingt die Nennung dessen, was ist. Die weitere Folge ist, daß das, was wir in der Grammatik die Syntax nennen, d. h. die sprachlichen Mittel der Zusammenfügung von Worten, hier durch etwas anderes ersetzt wird, das weniger geläufig, härter im Anspruch und nicht so sehr von einem zum anderen hinleitend ist. Es ist das, was schon Hellingrath (für Hölderlin und von Pindar her) die .harte Fügung< genannt hat. Die dichterischen Bindemittel, die es auch hier geben muß, damit wir nicht Worte, sondern Sätze lesen, sind nur zum kleinsten Teil die unserer grammatischen Syntax. Es sind recht verschiedenartige Bindemittel, die George verwendet, um aus den Wortblöcken des Genannten durch sprachliche Klangmittel Einheit der Rede und Gegenwart des Gemeinten hervorgehen zu lassen. Das erste dieser Mittel möchte ich die Entmachtung des Endreims nennen. Das Schwergewicht, das in der deutschen Literatur, vor allem in der Entwicklung der romantischen und nachromantischen Poesie, auf den Endreim fiel, verliert im Versbau Georges sein Gewicht. Das Mittel, durch das George die Entmachtung des Endreims herbeiführt, ist die Spannungsdichte, die er dem Versinneren verleiht. Es ist das Mittel der Assonanz und der Binnenvokalisation, das wir hier mit einzigartiger Bewußtheit eingesetzt
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finden und das das Formniveau der deutschen Dichtungssprache mächtig gesteigert hat. Die Vokalisation, die innere Klangkomposition des Versganzen, verleiht durch ihre Assonanzen und Symmetrien, ihre Antithesen und Reduplikationen, durch ihr Spiel von Höhe und Tiefe dem Endklang des Reimwortes ein leichteres Schweben. Dadurch wird - das ist das dritte - das Versende, weil die Reim-Schwere gemildert ist, für das Halten des Tones freigegeben. Wer einmal GeorgeVerse hat lesen hören, wie George selber und seine Jünger sie lasen, weiß, daß das Endwort nicht wie sonst die Stimme sinken läßt, sondern daß die Stimme in der Höhe gehalten wird. Das ist nur möglich, wenn das Gewicht der Binnenvokalisation eines Verses den ausklingenden Verston gleichsam verschweben lassen kann. Das aber verstärkt die Einheit des dichterischen Tones im ganzen. Hier vor allem scheint mir zu entspringen, was die eigentümliche und unverwechselbare Wirkung Georgescher Gedichte ausmacht. Denn es kommt eine Art Bogenführung in das Gedicht, die in dieser Weise nirgends in der deutschen Dichtung da ist. Georges Bogenführung ist sehr anderer Art als etwa die Bogenführung einer Hölderlinschen Hymne, die wie eine große Architektur wirkt. Dort wird auf einen ferngesetzten Markstein hin ein weitausholender Wurf gewagt, der sich am Ziele erfüllt und löst, ein inniges Gestammel der Fülle und Überfülle. Hier, bei George, beruht der große Bogen, der seine Verse zu höheren Einheiten zusammenfaßt, auf ganz anderen Mitteln. Es ist vor allem die Wiederholungsform und die Steigerung in der Wiederholung, durch die seine Bogenführung zustande kommt, ein Sichüberlagern und ein Aufschwung bis zu einer höchsten Erhebung des dichterischen Tones. Wieder sind es die gleichen Mittel einer inneren Komposition des Lautgebildes, des Klangleibes der Worte, die hier verwendet werden. Aber dazu kommt die Kurzform Georgescher Sätze. Sie läßt die rhythmische Einheit zugleich Sinneinheit sein und macht dadurch Wiederholung und Steigerung auf einfache Weise möglich. Das ist in der deutschen Verskunst etwas Einzigartiges. Es ist die melodische Substanz des gregorianischen Chorals, der Georges >Ton< dichterisches Leben verliehen hat. In einem lebendig gewachsenen dichterischen Werk wie dem Georges sind die Kunstmittel natürlich nicht überall die gleichen. Die Art, wie dieselben in seinen frühesten Dichtungen verwendet werden. ist noch recht anders. In ihnen ist eine gewisse Überdeutlichkeit. die das Kunstvolle der Arbeit unterstreicht, aber zugleich auch, im Vergleich zu der Tiefendimension, die dem späteren Werk einen sonoren Klang verleiht, etwas Flächiges behält. Die innigste Verbindung aller sprachlichen Mittel zu einer Kunstwirkung, die fast etwas von einer zweiten Natur an sich hat, zeigen die mittleren Bücher, insbesondere das >Jahr der Seele< und der >Teppich des Lebens<, die eben deshalb leichter eingehen als das künstlich verfeinerte Frühwerk und
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der hohe Ton kultisch-stilisierter Rede in den späteren Bänden. Aber es ist methodisch richtiger. nicht mit dem größten Einklang der von mir beschriehenen Vers- und Sprachmittel einzusetzen, sondern mit Vorklängen und Nachgestalten dieses Einklangs, weil diese die Mittel als solche deutlicher zur Abhebung bringen. Ich beginne mit einem frühen Gedicht, um zu zeigen. wie George seine Sprechhaltung aufbaut. In lAlgabale, einem der ersten Gedichtbände. klingen die Assonanzen im Vers und alles, was die Binnenvokalisation trägt. noch überdeutlich heraus. und dem entspricht, daß die Entmachtung des Endreims ihrerseits noch nicht auf der vollen Höhe der Unmerklichkeit ist. die das mittlere Werk Georges erreicht. In dem Schlußgedicht von ,Algabal(. 11 Vogelschau«, heißt es: Weisse schwalben sah ich fliegen· Schwalben schnee- und silberweiss· Sah sie sich im winde wiegen· In dem winde hell und heiss. Das ist eine fast stabreimhafte Dichte der Assonanzen und eine Form der Wiederholung von Worten, die ihnen nahezu den Charakter einer magischen Zauberformel verleiht. Das Gedicht wiederholt die Einleitungsstrophe beinahe wörtlich am Schluß und unterstreicht dadurch noch, indem es eine Refrainwirkung erzielt. die magische Funktion. An einem zweiten Beispiel, das ich aus den ,Hängenden Gärten( wähle. möchte ich zeigen, wie sich mit den beschriehenen Mitteln die Steigerung und der Aufschwung ergeben, die ich als das Unvergleichliche des Georgesehen Tones charakterisiert hahe: Als durch die dämmerung jähe Breite röte sich wies· Balsamduft mich umblies· Kannt ich die freundliche nähe: Stammes boden und mauern. Stolz und mit glücklichem schauern Wandel der seele geschah Als ich die üppig und edel Zu mir sich neigenden wedel Erster palmen wiedersah. Hier werden die drei letzten Verse zu einer höheren rhythmischen Einheit zusammengeschlossen. Dazu verhilft einmal die Sinneinheit des durch lIals« eingeleiteten Satzes, die ein Reimgefüge von der Form a b b a hinter a sprengt. Aber die rhythmische Wirkung dieses Zusammenschlusses wird ihrerseits durch die Sinnzäsur vorbereitet, die in der Mitte des Gedichtes das einzige einfache Reimpaar, von der Form a a, zerspaltet und seine heiden
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Teile je nach vorn und hinten verspannt. So steigert die erste Zäsur hinter »mauern« die zweite hinter »geschah«, die die chiastische Folge a b b a zerteilt. Das ist das rhythmische Gerüst, über dem sich der Bogen des Schlusses erhebt, Klang und Bedeutung zu einer großartigen Einheit verschmelzend: Der Gebärde breiten Ausladens von sich wie ein Teppich entrollenden Palmenblättern, die durch das Reimpaar »edel« - »wedel« gebildet wird, folgt das schlanke und steile Aufsteigen zur Höhe von Sinn und Klang, in der sich die Heimkehr der Seele vollendet. Zwei Proben aus dem mittleren Werk mögen zeigen, wie sich die Kunstmittel in eine fast liedhafte Einfachheit der Wirkung zurückziehen. Das erste aus den »Traurigen Tänzen« im >Jahr der Seele< möchte zugleich deutlich machen, mit welchem Rechte Gundolf von dem »katholischen« Zauber spricht, den George der deutschen Sprache gewonnen habe: Wie in der gruft die alte Lebendige ampel glüht! Wie ihr karfunkel sprüht Um schauernde basalte! Vom runden fenster droben Endliesst der ganze glanz· Von feuriger monstranz Mit goldumreiften globen Und einem weissen lammeUnd wenn die ampel glüht Und wenn ihr kleinod sprüht Ist eS von eigner flamme?
Wieder ist der Aufbau voll kunstvoller Symmetrie und Asymmetrie. Die Reimfolge a b b a hält sich zwar durch alle drei Strophen durch, aber die Sinnzäsur, die die drei letzten Verse von den vorausgehenden trennt, bildet, rhythmisch gesehen,·einen deutlichen Hiat, der von unglaublicher Wirkung ist: Die drei Schlußzeilen werden eine einheitliche Bewegung, verstärkt noch durch die refrainhafte Aufnahme eines Reimpaares aus der ersten Strophe, und leiten ein sursum corda ein, das in dem fragenden Auftaut des Endwortes über sich hinausschwingt. Das ist die Bogenführung des gregorianischen Chorals. Ein Beispiel aus dem >Teppich des Lebens(, das durch seine Einfachheit ausgezeichnet ist, »Nacht-Gesang I«, möge die Sprachkunst, die solche Bogenfiihrung bildet, weiter verdeutlichen: Mild Wld trüb Ist mir fern Saum und fahrt Mein geschick.
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Sturm und herbst Mit dem tod Glanz und mai Mit dem glück. Was ich tat Was ich litt Was ich sann Was ich bin: Wie ein brand Der verraucht Wie ein sang Der verklingt. Auch hier sind Dissonanzen von Klang- und Bedeutungseinheit bewußt eingesetzte dichterische Mittel. Der dritte Vers der ersten Strophe hat hinter "Saum« eine Sinnzäsur, die die rhythmische Symmetrie des Versmaßes verletzt. Zwar vergiBt man die Wunde fast über der wohlabgewogenen Antithese der beiden folgenden Verspaare, in denen »herbst« und »mai«, »tod« und »glück« einander entsprechen. Dazu kommt, daß der Vers »Mein geschick«, der die neue Sinneinheit anheben läßt, durch den einzigen Reim, der im Gedichte vorkommt, auf das folgende hin gebunden ist (»geschick«' »glück«). Dennoch soll die Dissonanz gehört werden. Denn nur dank ihrer gewinnt die zweite Hälfte des Gedichtes ihre volle harmonische Wirkung. Tun und Leiden, Singen und Sein schweben in einem gelösten Gleichgewicht, das etwas von der Leichtigkeit des Tanzes hat; das Verrauchen eines Feuers und Verklingen eines Liedes sind nicht nur in dem rhythmischen Verklingen der Verse selber gegenwärtig - in ihnen ist mit gegenwärtig, daß es ein Lebenslied ist, das dergestalt verklingt. So ist der volle Einklang von Klang und Bedeutung erreicht. Die oben geschilderte innere Verlagerung des eigenen Lebensbewußtseins des Dichters, wie sie durch das Maximin-Erlebnis und die Stiftung des Gedenkkultes an Maximin Georges späteres Schaffen und seine Lebensgestaltung beherrschte, zeigt sich im Spätwerk Georges auch auf stilistische Weise. Hier vor allem wird die Auffullungsbedürftigkeit seiner Verse zu einer bewußten Forderung. Solche Auffullungsbedürftigkeit ist in religiösen Urkunden nichts Ungewöhnliches. Wir halten es etwa für ganz selbstverständlich, daß die großen Texte des Neuen Testamentes, am literarischen Maßstab von Wortkunst gemessen, weit unter dem sind, was sie als religiöse Urkunden bedeuten. Das heißt nichts anderes, als daß die Auffullung, die durch den Verkündigungssinn der Texte gefordert wird, vom Glauben geleistet wird. Nun handelt es sich im )Stern des Bundes<, wie ich meine, nicht um eine religiöse Bewegung oder einen echten religiösen Kult, der sich neben oder gegen den Anspruch der christlichen Kirche stellen möchte. Was
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George fUr die dichterische Deutung des Maximin-Erlebnisses aufbietet, sind vielmehr Inkarnationsmetaphern. Wenn man das Maximin-Buch des >Siebenten Ringes( genauer analysieren wollte. lieBe sich zeigen, wie George sein Maximin-Denkmal im ständigen Blick auf die religiösen Urkunden des Christentums metaphorisch-poetisch errichtet hat. Gleichwohl sind auch solche Verse, und deutlicher noch die im )Stern des Bundes(. der Auffüllung bedürftig. Wenn es da heißt: Den leib vergottet und den gott verleibt so ist das mehr eine Formel von der Art von Glaubensformeln. als daß das Gemeinte hier im Worte dichterisch präsent wäre. Eher ist es hier die kunstvoll geordnete Folge von Gedichten. die das Formelhafte bundstiftender Parolen dichterisch trägt. Das Beispiel allS dem >Stern des Bundes(, das ich gebe, mag in einem doppelten Sinne repräsentativ sein: für die Bedeutung. die das Maximin-Erlebnis als Unterpfand ror die Hoffnung auf Erneuerung des ganzen vaterländischen Lebens fUr George besaß, als allch dafUr. wie sich sein Stil ins Didaktische, ins Lehrhaft-Fordernde steigert, so daß die innere Präsenz des Gemeinten dem Worte dllrch die Auffüllung seitens des Hörers zuwachsen soll: Nun wachs ich mit dir rückwärts in die jahre Vertrauter dir in heimlicherem bund. Du strahlst mir aus erlauchter ahnen werke Entzückten fehden und berauschten fahrten Und wesest wach wie schamvoll auch verhüllt Im weisesten im frömmsten seher-spruch. Was über noch so stolze nachbam fürstetIm blut ein uralt unerschöpftes erbe: Du wirfst in fristen fruchtend in das all Ein zuckend lohen eine goldne flut. Wie muss der tag erst sein· gewähr und hoffen' Wo du erschienen bist als schleierIoser Als herz der runde als geburt als bild Du geist der heiligen jugend unsres volks! Auch diese Verse sind Zeugnis hoher Kunstübung: Das großartige Proömium der ersten zwei Verse, der Aufschwung der letzten vier Verse. die Pracht gebärde des Mittelstücks. Dennoch trägt das alles nur, wenn vom Leser oder Hörer die liturgische Haltung eingenommen wird, die dem einzelnen Gedicht seine Funktion im Ganzen leiht. Das durch das dichterische Wort zu bewirken, ist der Sinn der Kompositionsstrenge, mit der dieser Gedichtband aufgebaut ist. Der Schlußchor des Bandes ist nur wie ein Siegel auf das Ganze. Daß solche steile Selbststilisierung mehr fordert, als die Lesererwartung zu lei-
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sten bereit ist. muß man zugestehen. Hier beginnen die Grenzen sich zu verwischen, die zwischen der dichterischen Wirkung Georges und der Macht seiner menschenbildnerischen Leidenschaft bestehen. Indessen zeigt der letzte Gedichtband .Das neue Reich<. der offenbar eine Sammlung in das strenge Gefiige des vorigen Bandes sich nicht einfügender Gedichte mit neueren Gedichten vereinigt. die ganze Schwingungsweite des Georgeschen Tones. von der prägnanten dramatischen Wechselrede über den hochstilisierten Seherspruch bis zum fast volksliedhaften schlichten Sang. Hier finden sich Gedichte, in denen sich die Willensspannung lockert. die der Selbststilisierung Georges zugrunde liegt. Die Spannung zwischen dem Für-andere-Sein, zu dem sich George in seiner Lebensführung wie in seinem dichterischen Werk bekennt, und dem Für-sich-Sein des großen Einzelnen, der von eh und je ein Einsamer ist, wird in der Intensität der Georgeschen Sprachkunst überall spürbar, und der Ton des Verzichts. der Bescheidung, des Nichtwissens und des Leidens ist in seinem ganzen Werke ein beständiger Unterton, von den Schwermuts- und Trauergebärden der frühen Bände bis in das späte, immer härtere, immer sparsamere Schaffen hinein. Aber jetzt findet das Schicksalsgefühl des Dichters unmittelbaren dichterischen Ausdruck. So mag eines der schönsten Gedichte aus dem )Neuen Reich<, dessen geheimnisvoll-dunkler Liedklang solchen Bekenntniston hat. am Schlusse stehen: Horch was die dumpfe erde spricht: Du frei wie vogel oder fisch Worin du hängst· das weisst du nicht. Vielleicht entdeckt ein spätrer mund: Du sassest mit an unsrem tisch Du zehrtest mit von unsrem pfund. Dir kam ein schön und neu gesicht Doch zeit ward alt· heut lebt kein mann Ob er je kommt das weisst du nicht Der dies gesicht noch sehen kann. Das Gedicht gilt als schwierig, obwohl sein Thema durch seinen Rhythmus klar und zwingend angegeben ist: Der Spruch der Erde, die alles weiß und alles in sich zurücknimmt, läßt den Angeredeten die Grenze und die Abhängigkeit aller seiner Oberherrlichkeit erkennen:Z. Aber wer hier angeredet ist, ist der Dichter. jeder Dichter. der dichterische Mensch. jeder Mensch. Er hat ein Gesicht. und was er sieht, bleibt von allen anderen ungesehen. Das nötigt den Verzicht auf, wie ihn George vielfach. z. B. im Motiv des »Spiegels« im )Siebenten Ring<: l Zum Hölderlin-Bezug dieses Gedichts siehe im folgenden ,Hölderlin und George., S.2..?I)ff.
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.wir sind es nicht! wir sind es nicht!c
und im Motiv des" Wortes« im ,Neuen Reiche: Kein ding sei wo das wort gebricht
bekannt hat. Was sich der Dichter hier wie einen Spruch der Erde vorsagt, ist eben dies, daß keiner dessen Herr ist, sich auszusagen. Ein Späterer mag es wissen. Er wird erkennen, was einmal als große Möglichkeit des Lebens unerkannt gegenwärtig war. Gewiß hat das seine sakralen Töne, wie das unerkannte Dabeisein des auferstandenen Gottessohnes unter den erwartenden und nicht sehenden Jüngern. Aber der Dichter stilisiert sich damit keineswegs in die Rolle eines unerkannten Heilands, der das von sich weiß. Er weiß sich nicht. Denn er weiß - und dieses Wissen verleiht dem Lehrer Stefan George seine letzte Glaubwürdigkeit -, daß nur das ins Wort Gebannte, nur das Gesehene und Cllr alle Sichtbare, wirklich da ist und daß bloßes Gemeintes nicht gilt. Was so da ist, ist in Stefan Georges dichterischem Werk da.
19. Hälderlin und George (1971)
Das Thema )Hölderlin und George( ist nicht ein beliebiger Vergleich, durch den sich die Eigenart des einen und des anderen Dichters gegeneinander abheben soll, sondern ein echtes geschichtliches Thema. Auf eine erstaunliche Weise haben Hölderlin und George in unserem Jahrhundert eine echte Gleichzeitigkeit gewonnen. Gewiß war Hölderlins dichterisches Werk schon ein Jahrhundert früher von der Generation der romantischen Dichter erkannt und geschätzt worden. Aber gerade die romantische Rezeption seiner Dichtungen ordnete ihn in einen Zusammenhang ein, der auch die Auffassung seines Werks durch die Maßstäbe der romantischen Dichtergesinnung festlegte. Als nun am Anfang unseres Jahrhunderts das Interesse an Hälderlins dichterischem Werk sich zu beleben begann - wie immer war auch in diesem Falle eine Konstellation der literarischen Gegenwart dafür maßgebend, nämlich das Bedürfnis, dem herrschenden Naturalismus eine neue Stilgesinnung entgegenzusetzen -, wurde es ein wahrhaftes Ereignis. als das Spätwerk des Dichters durch eine neue kritische Ausgabe erstmals zugänglich wurde. Es kam einer Wiederentdeckung eines verschollenen Werkes, nein, der Entdeckung eines unbekannten Dichters gleich, als Norben von Hellingrath, der an der Münchner Universität eine Dissertation über Hälderlins Pindar-übersetzungen vorbereitete, die in München, Stuttgart und Homburg liegenden Handschriftenbestände untersuchte und das große Hymnenwerk aus Hälderlins SpätZeit, von dem bisher nur einiges bekannt war, aus den Handschriften in vollem Umfange hers~ellte. Der besondere Zugang, den der klassische Philologe Norbert von Hellingrath zu dem Dichter fand, war dabei von Bedeutung. Es war der Weg über Pindar. Denn die dichterische Form seiner Siegeslieder , die damals durch die Arbeit der klassischen Philologie in neues Licht getreten war, öffnete auch für die dichterische Arbeitsweise des späten Hölderlin die Augen. Pindar hatte seit langem als ein bedeutendes Exempel dichterischer Freiheit gegolten, insbesondere nachdem ihn Goethe unter Herders Einfluß zu seinem Vorbild wählte und die Form der freien Rhythmen durch eigene großartige poetische Schöpfungen ausfüllte. Es entsprach der ästhetischen Theorie des Genies, die damals Shakespeare gegen die Regelästhetik des französischen
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HölderIin und George
Klassizismus auf den Schild erhob. daß man in Pindar den ekstatischen Dichter einer ungemessenen Hymnik sah1 • Was dagegen Hellingrath als Erbe einer langen philologischen Forschungsarbeit. die insbesondere die Pindarische Metrik aufgeklärt hatte. an ihm bewunderte. war gerade sein großer Kunstverstand und die strenge Gemessenheit seiner dichterischen Kompositionen2 • Das eröffnete ihm einen völlig neuen Zugang zum Spätwerk Hölderlins. das sich nun selbst in seinem fragmentarischen Zustand als Zeugnis eines ähnlich strengen Kunstverstandes erwies. Was man früher in diesen späten Schöpfungen Hölderlins als Zeichen des Zerfalls. der geistigen Zersetzung und der zerrinnenden Verständlichkeit angesehen hatte, enthüllte sich mit einem Male als ein strenger kompositorischer Aufbau, der in seinen vollendeten Stücken VOn einer verbindlichen Strenge des Strophenbaus und der Responsionen war, die nichts mit dem Strom freier Rhythmen zu tun hat, den Klopstock, Herder und Goethe gepflegt hatten. Hellingrath hatte aus dem Formgeftihl seiner eigenen Zeit den Blick flir das, was er mit Dionys von Halikarnass die »harte Fügung« nannte und was ihm ebensosehr in Pindars Dichtung wie in der Hölderlins entgegentrat. Aber es begegnete ihm auch in einem zeitgenössischen Dichter, in Stefan George, dessen letzte Werke, insbesondere die Gedichte des ,Siebenten Rings<, dem gleichen Stilideal entsprachen. So näherte sich der Philologe und Hölderlin-Herausgeber innerlich mehr und mehr dem dichterischen Werk Stefan Georges und wurde auch von der persönlichen Macht, die von Stefan George ausging, tief ergriffen. In seinem Briefwechsel mit seinem Lehrer Friedrich von der Leyen spricht sich das deutlich aus. Hatte er noch im Jahre 1907 in einem Seminarreferat in George vor allem den Techniker bewundert, der deshai b der ideale übersetzer sei, weil er ein großer Künstler der Worte und doch kein Dichter sei, hatte er mit einer Art kalter Bewunderung an George die große Gebärde, die Maske und den Kothurn hervorgehoben und ihn selbst kalt und unbewegt genannt, so schrieb er schon wenige Jahre später, am 7. 5. 1910, an Friedrich von der Leyen3 : »Und so verbinde ich gegenwärtig allerdings meine nächsten Hoffnungen von der Zukunft der Welt mit dem Namen Stefan Georges.« Er berichtet selbst, wie er von dem späteren Werk Georges her seine Abneigung gegen die frühen Werke überwinden und die wunderbare Entwicklung Georges »von der Vornehmheit und Dekadenz und dem Artistentum der Mallarmes und seiner Sicherheit nicht ohne Pose zu der heutigen fast unbehülflichen Größe Pindarisch herber Schlichtheit« zu bejahen gelernt habe4 • Ohne Zweifel ist dieses Bekenntnis zu Stefan George, das nicht eigentlich die Zugehörigkeit zu dem ,Kreis<
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O. REGENBOGEN. Kleine Schriften. München 1961, S. 520ff. F. BElSSNER, Hölderiins Übersetzungen aus dem Griechischen. Stuttgart 21961. N. v. HELLINGRATH. HölderIin-Vennächtnis. München 21944, S. 226.
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A.a.O., S. 229.
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Hölderlin und George
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bedeutet, auch für seine Hölderlin-Auffassung und Hölderlin-Begeisterung bestimmend. nicht im Sinne eines Einflusses Georges auf seine HölderlinEntdeckung. wohl aber im Sinne der Bestätigung dessen, was er in Hölderlin sah, durch den zeitgenössischen Dichter und im Sinne der Ermutigung, Hölderlins dichterisches Sehertum in seiner religiösen Bedeutung anzuerkennen. Hier stellt sich die entscheidende Frage. Die Briefzeugnisse Hellingraths lehren mit voller Deutlichkeit, daß er auch den Maximin-Kult bejahte, der im Kreis um Stefan George dem verstorbenen jungen Freunde gewidmet wurde. Er schreibt: "Die fundamentale Tatsache entscheidet, daß es sich nicht um eine literarische etc., sondern religiöse Bewegung handelt.« Und er sieht eine protestantische Enge darin, wenn man sich weigert. die Sache »iiber literarisches Gebiet hinauszutragen«. So folgt Hellingrath scheinbar ganz der religiösen Deutung, die Stefan George in seinem Prosahymnus auf Friedrich Hölderlin programmatisch festgelegt hatte. Es ist ein kurzer Aufsatz, der unmittelbar nach dem Ersten Weltkriege durch die Veröffentlichung in der 11.112. Folge der >Blätter für die Kunst( weiteren Kreisen bekannt wurde. George sieht dort in Hölderlin den großen Seher für sein Volk, der, einem Wunder gleich. plötzlich vor uns steht, und preist ihn als den Rufer des neuen Gottes. Was George in diesem Hymnus hervorhob. war vor allem die Unvergleichbarkeit Hölderlins. und insbesondere. daß er nicht mit der romantischen Bewegung der deutschen Dichtung verwechselt werden dürfe. Vielmehr sah er in Hölderlin eine Art Vorwegnahme von Nietzsches Entdeckung des dionysischen Untergrundes der apollinischen Kultur der Griechen und ebenso des Stromes geheimreligiöser orphischer überlieferung im Hintergrunde der homerischen Religion. »Er allein war der Entdecken. heißt es da. und das will sagen: nicht der in Wahnsinn und Verzweiflung rasende Nietzsche, sondern der große Dichter, der die Wiederkehr der Götter in seinen vaterländischen Ges:ingen beschwor, hat den religiösen Dunkelgrund hinter der apollinischen Helligkeit gesehen und damit das klassizistische Griechenbild überwunden. So strittig die Frage des religiösen Anspruchs bei Hölderlin. wie übrigens auch bei Stefan George selbst, sein und bleiben mag - was George damals programmatisch verkündete. ist heute in einem Punkte völlig durchgedrungen: Hölderlin ist neben die ganz großen Dichter der deutschen Sprache getreten. Niemand würde ihn mehr der romantischen Schule zurechnen. Was George seinem Aufsatz vorausschickt, sind ein paar ausgewählte Stücke aus HölderHnschen Gedichten, immer nur wenige Verse aus den verschiedensten Hymnen. Auch diese Auswahl bekundet den Gesichtspunkt. unter dem George Hölderlin feiert: es ist die eschatologische Stimmung. die Parusie-Erwartung und das Leiden an dem Noch-nicht-Erschienensein der Götter. was aus allen diesen Versen spricht. Es ist deutlich genug. daß George Hölderlins
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Dichtung damit als eine Art Vorläuferschaft zu der Verkündigung des neuen Gottes in Anspruch nimmt, den er selber in dem »geist der heiligenjugend«
seines Volkes verehrt. Der entscheidende Band von Hellingraths Ausgabe, der das Spätwerk brachte, erschien kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Die Vorrede aus dem Jahre 1914 zeigt die Perspektive, unter der Hellingrath Hölderlins Werk sieht. Sie ist merkwürdig vorsichtig, wenn man sie mit den Briefbekenntnissen aus dem Jalue 1910 vergleicht, und es wird berichtet, daß George sie wegen ihrer Halbheit verwarf5 • Zwar gibt er, im gleichen Tone wie George in seineIll Hymnus, in seiner Vorrede eine religiöse Deutung: ))Die großen Hymnen darin empfand der Dichter selbst als Wort Gottes.« Aber die vaterländische Wendung, die Hölderlins Spätwerk bringt, grenzt er nicht nur gegen die VaterIänderei der romantischen Abkehr vom antiken Vorbild ab, sondern ehensosehr von den »neuheidnischen Bestrebungen, welche wesentlich eine bloße Verleugnung unsrer christlichen Vergangenheit sind«. Der Anspruch auf religiöse Verkündigung wird also hier begrenzt. HelIingrath schreibt: »Und auch hier ist das Verkünden selbst Unterpfand des Verkündeten. Die dröhnenden und innigen Worte von Leben und Einkehr der Himmlischen bringen den Beweis fiir das fast Unglaubhafte: daß noch in unserer Zeit kindlich wahrer Glaube die Götter herabrufen kann ... « Hier gilt es, genau zu prüfen, was Hellingrath damit eigentlich sagt - und vielleicht auch, was Stefan George mit seinem Maximin-Kult eigentlich tat. Was bedeutet hier das Religiöse? Es scheint, daß Hellingrath sehr wohl wußte, was den Dichter von dem eigentlichen Kultstifter unaufhebbar trennt. Aber er weiß es, indem er nichts davon wissen will und ganz auf die innere Affinität des Künstlers zu der religiösen Bewegung den Ton legt. Er schreibt: »Da aber wohl das Kultische oder die Tendenz dazu integrierender Bestandteil der Religion ist, glaube ich doch, daß der Künstler, der ausgestaltet und Form wird, minder mittelbar Träger der religiösen Bewegung in ihrer ganzen Erfiillung sein dürfte: Klopstock, H6lderlin, Marees. George." Eine höchst lehrreiche Reihe. Zunächst ist klar. was der Maler in dieser Reihe bedeutet. Es ist der Maler, den Hellingrath durch die schönen Beispiele seiner Kunst in der damaligen Münchner Staatsgalerie kannte: Hans von Marees. der Freund aus dem Kreise Konrad Fiedlers und Adolf von Hildebrands. dessen Werk eine kühnere und glühendere Klassizität atmete und der eine heroische Welt klassisch-hellenischer oder auch christlicher Gestalten und Szenen in monumentalen Kompositionen. zum Teil in der Form von Triptychen, auf der Leinwand beschwor. Man wird sich fragen. ob man den 5
Vgl. E.
S.um. Um StefanGeorge. München 1954. S.19. S. 27. H.
Hölderlin. KölnlGraz 1957, S. 34.
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SINCER.
Rilkeund
Hölderlin und George
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Maler der >Neapler Ruderer< oder der >Abendlichen Waldszene< wirklich als Träger einer religiösen Bewegung sehen darf. Aber ein Gleiches gilt, wie mir scheint, von den übrigen Namen der Reihe: Klopstock., Hölderlin und sogar George. Ist es wirklich, wie der Zusammenhang bei HeIlingrath suggeriert, der Weg oder die Weisung auf das Kultische, was sich in der dichterischen Formgebung anbahnt? Stimmt das für Klopstock.? Stimme es für Hölderlin? Stimmt es für George? Was diesen Dichtern gemeinsam ist, scheint mir das Pindarische Erbe, das Hymnische. Nun ist die literarische Gatttung des Hymnus ein Gebilde eigener Art. Der Hymnus dient ausschließlich dem Preis von Göttern und Heroen (wobei >Heros< im griechischen Sinne als ein vergöttlichter Mensch verstanden werden muß). Ein Hymnus ist nicht ein Lobgedicht. Die Griechen haben sehr genau zwischen Lob und Preisung (>Makarismos<) unterschieden und ebenso zwischen dem Lobgedicht und dem Hymnus. Und mit Recht. Loben setzt Gleichheit mit dem Gelobten in einem letzten Sinn voraus. Nicht jedem ist es gestattet, jeden zu loben. Denn wer lobt, kann nicht vermeiden, sich gleichzusetzen. Dagegen setzt die Preisung und ebenso der Hymnus, der ihre Kunstform ist, die Anerkennung von etwas schlechthin Höherem voraus, das einen selbst übersteigt und dessen Gegenwart einen erfüllt. Hier zeichnet sich eine Skala von Haltungen ab, die von der Anerkennung und Bewunderung über die Verehrung (ein bei uns ganz abgegriffenes Wort) bis zur Anbetung von etwas Göttlichem führen kann. Das ist griechische Religion .. Ihr folgt die Kunstform des Hymnus. Wenn wir nun sehen, wie diese dichterische Form im Spätwerk Hölderlins eine unvergleichliche Erfüllung findet, so ist deutlich, was damit impliziert ist, nämlich daß hier nicht nur eine literarische Form, die dem griechischen religiösen Leben unmittelbar angemessen bleibt, auf eine großartige Weise von einem modernen Dichter verwendet und verwandelt wird, sondern daß es auch hier die Erfahrung von etwas Höherem war, was diese literarische Form möglich und nötig machte. Was war dieses Höhere? Stellen wir diese Frage in bezug auf HölderIin. um daraus die entsprechende Frage rur George zu beantworten. Für Hölder!in war das, woran ihm das Höhere begegnete, der Abschied von Diotima, Trennung, die ein lebendiges Glück zerstörte. Es war die Erfahrung des Göttlichen, die es gerade in seinem eigenen Entzuge bietet, was den neuen Ton in Hölderlins Dichtung brachte. Vor dem unser Jahrhundert wie vor etwas vÖllig Neuem stand. Es ist wichtig, daß es die Erfahrung des Abschieds war, die den Dichter des Seins des Göttlichen gewiß macht. Von der >Göttlichkeit< der Liebe aus, die ihm zur Erfahrung wurde, verwandelt sich Hölderlins dichterischer Ton von Grund aus. Es ist nun der Ton der Nennung, und das heißt der Anrufung dessen, was ist, und nicht mehr der rhetorisch-allegorische Ornatus dichterischer Rede,
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wie ihn Hölderlin in der Nachfolge Schillers·gebraucht hatte. HölderIin hat zahlreiche Gedichte nach der Trennung von Diotima geschrieben. in denen er ausspricht, wie dem Heimat- und Ortlosen der Gesang zum »Asyl« wurde, zur eigentlichen Zuflucht aus der Leere und Kälte einer lieblosen Welt6 • Was er in seinem dichterischen Werk aufbaut, ist nun nicht eine neue religiöse Verkündigung. die sich aus einer göttlichen Offenbarung legitimierte, sondern die Deutung des Seienden und der Welt im Wissen um den Entzug der Götter. Dies Seiende sind die »Engel des Vaterlands((, denen das hymnische Spätwerk gilt. Auch diese Hymnen sind Preisungen von Höherem, Anrufvon Zeugen und Deutung von Winken und Botschaften, die das Sein des Göttlichen verbürgen. »Des Göttlichen aber empfiengen wir doch viel. (( 7 Der neue große Ton, den HölderIin findet. läßt ihn dem Pindarischen Ton, der jeweils sicher Bekanntes. im Kult Lebendiges nennt, nahekommen. Es ist harte Fügung in der Tat auch hier. aber darüber hinaus ein inniges und inständiges Stammeln. das seines eigenen Ungenügens in ergreifendem Verzicht inne ist. Hellingrath hat recht, und darin ist an sich gar keine Zweideutigkeit. wenn er "das Verkünden selbst Unterpfand des Verkündeten(( nennt. Sprache - und was dem Dichter in seiner Sprache gelingt - bezeugt eine gemeinsame Wirklichkeit, die keiner anderen Legitimierung bedarf. Sieht man genauer zu, so sieht man allerdings, daß Hellingrath die Anerkennung des Dichterischen in seiner Vorrede wie in seinen Briefen und letzten Vorträgen nur als eine Art Mindestforderung behandelt, der sich auch ein Skeptiker Hölderlin gegenüber nicht entziehen könne. Er selbst aber folgt Georges Deutung, wenn er das Unterpfand des Werkes als eine Verheißung für das "geheime Deutschland« interpretiert, wie sie ihm in der patriotisch erregten Stunde des großen Weltkrieges eine innere Erfullung war. Auch ist eS unüberhörbar. daß ihn eine Art heils geschichtlicher Gewißheit erfüllt. In seinen letzten Vorträgen spielt er auf den größten Lebenden, und das ist offenkundig Stefan George. wie auf einen an, dessen Gegenwart und Zukunft Erfüllung und Heil bedeute und dem das Wort des Dichters Hölderlin eine aus dem Zeitabstand geSChöpfte Legitimation biete. So muß man die Akzente setzen, wenn man den Satz liest: "Nur Verkünder, nicht - auch nicht in seinen geheimsten Gedanken - Bringer der Erfüllung. so steht Hölderlin unbekannt verborgen in seinem Volke. ((8 Das entspricht Georges Deutung der Hölderlinschen Sendung. Georges >Lobrede(, die wir schon würdigten, wird nämlich ergänzt durch das Dreigedicht des >Neuen Reichs(, das »Hyperion(( überschrieben ist. Dort sind Hyperion, Hölderlin und St.A. I, S. 307 (Große Stuttg. Ausgabe). St.A. H. S. 136. HEUINGRATH, Hölderlin-Vermächtnis, S. 139.
6 HÖLDERUN, 7 HÖWERLIN, 8
N.
V.
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George selbst ZU einer einheitlichen dichterischen Spiegelung ineinandergeflossen. Dabei soll gewiß nicht verkannt werden. daß der I)Meister« sich selber stets als den Dichter und Seher und nicht als eine Art Heiland gesehen hat. Sosehr er sich selbst »darstellte«. seine eigentliche Prägung gewann seine Gestalt durch eine ähnliche Erfahrung von etwas Höherem, wie die, die Hölderlin an Diotima erfuhr: seine Begegnung mit Maximin. Die Zeugnisse lehren es deutlich, daß nicht so sehr die Verzauberung durch die Gegenwart des Jünglings als die Trennung und die Trauer. die sein früher Tod brachte. dem Ganzen die religiöse Tönung verlieh. Insofern ist das Maximin-Erlebnis eine Entsprechung zu Hölderlins Diotima-Erlebnis. Die Analogien liegen auf der Hand: Wie den zwischen Gedanke und Gesang zerrissenen. von ungestilltem Ehrgeiz verzehrten Magister Hölderlin die Liebe zu der schönen Frau seines Frankfurter Brotherrn verwandelte und wie aus dem Schmerz der Trennung die atemberaubende Inständigkeit seines hymnischen Werks aufstieg, so hat auch Stefan George in der Begegnung mit Maximin eine neue Begründung seiner ganzen gefährdeten Existenz erfahren. Sein Werk, insbesondere die härtere Fügung des ISiebenten Rings( und des >Sterns des Bundes(, geben dem dichterischen Ausdruck. Wie sehr das Ganze des Maximin-Kults aus dem Abschied von Maximin konzipiert ist. lehren die eigenen Verse Georges. Der frühe Tod des Jünglings, der George tief getroffen hat - man ahnt. wie die ungeheure Steigerung. zu der der Dichter den heranwachsenden Knaben emporriß. dem Dichter selber wie eine Schuld erschienen sein mochte -. inspirierte ihn dazu, sein eigenes Leben im Gedenken desjungen Freundes neu zu sammeln und auch dem Leben seiner Freunde eine neue Prägung zu verleihen. indem er sie zu einer Art von Gemeinschaft des Gedächtnisses zusammenschloß. Das sprechen etwa die Verse aus dem >Stern des Bundes( aus: Der sich und allen sich zum opfer gibt Und dann die tat mit seinem tod gebiert. Die tiefste wurzel ruht in ewiger nacht.. Die ihr mir folgt und fragend mich umringt Mehr deutet nicht! ihr habt nur mich durch ihn! Ich war verfallen als ich neu gedieh.. Denkt man an Hölderlins Diotima-Gedichte, so tritt innerhalb der Analogie das Unterscheidende deutlich hervor. Zunächst wird man bemerken dürfen. daß sich Hölderlin durch das Diotima-Erlebnis in eine ganz neue Dimension dichterischen Sagens steigerte. die erst seinen hohen dichterischen Rang voll begründet hat. In Georges Dichten ist das Maximin-Erlebnis und seine dichterische Gestaltung dagegen mehr eine Konsequenz. auf die sein Leben und sein Dichten hinwies. und der einzigartige Ton seines Dichtens. der von
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früh an sein Werk von allem Zeitgenössischen abhob, erhielt hier nur einen neuen Akzent. Man gewahrt ferner, wie sich Hölderlins neue Gewißheit von der Gegenwart des Göttlichen in einer überfülle neuer Gesichte gleichsam verlor. Er geht ganz in der Deutung der ihn umgebenden Natur und der in der Natur gegenwärtigen Geschichte auf, die ihm das Göttliche sind, und wird so selbst fast unhörbar in »seligem Verstummen«. Dagegen macht sich George selber zum Gegenstand der neuen dichterischen Selbstaussage und für den Kreis seiner Freunde, die um ihn sind. Der Gedächtniskult für Maximin, den George für sich und seine Freunde stiftet, ist das dichterische Vermächtnis der eigenen Erfahrung. Es ist seine Person, die er in ihrer eigenen Erscheinung und Gestalt als Lebensmittelpunkt seines Freundesbundes darstellt. Seine Dichtung erhebt sich bis zur Form religiöser Selbstinterpretation und steigert sich bis zu der Wendung: Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme. Das bestimmt zutiefst die Weise des Sprechens, in der sich der Ton Georges von der hymnischen Poesie Hölderlins unterscheidet, indem er sich immer stärker in der Richtung auf das Liturgische und Chorische hinbewegt. Man kann den Unterschied in der Antithese zweier Wörter formulieren. Bekanntlich hat George, der Fremdworte vermied und obendrein die fremde Sache verwarf, die man Rezitation nennt, für das Sprechen von Gedichten den Ausdruck »Hersagen« gebraucht. Ohne Zweifel hat seine gewaltige Kraft der Menschenbildung gerade in der übung des Hersagens Von Gedichten eine wesentliche Vollzugsform besessen. Hölderlin bildet dazu eine volle Antithese. Man kann Hölderlin nicht hersagen. Hölderlin kann man nur hinsagen. Er sagt sich selbst vor sich hin - es ist ein meditativer Zug in Hölderlins dichterischer Spätsprache. So kann man zweifeln, ob man Hölderlins Hymnen überhaupt vor einem größeren Kreise laut vorlesen kann. Wer es tut, verkennt vielleicht am Ende doch den protestantisch-meditativen Zug in dieser lyrischen Form. Dagegen scheint mir Georges Ton ganz vom gregorianischen Choral geprägt. Es ist das Melos des Chorals, das der Georgeschen Sprachgebärde den Charakter eines liturgischen Tuns gibt. Das sind gewaltige Unterschiede, die der Aneignung Hölderlins durch George eine eigene Spannung verleihen mußten. Dabei bedeutet der große Einbruch, den der Tod Maximins und seine dichterische Verarbeitung rur George darstellt, weniger eine Veränderung in seinem dichterischen Ton als in der gesamten Gestaltung seiner dichterischen Exist!enz. Das eigene Leben, das er neu aufbaute, und das seines Kreises nahm neue Züge an. Es war die Wendung zum inneren Staat, die sich damals anbahnte. Man kann das auch die immer stärkere Verlagerung des eigenen Lebensgewichts des Dichters auf die Erziehung seiner jungen Freun-
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de nennen, die sein dichterisches Schaffen mehr und mehr zurücktreten ließ. Der geistige Ausdruck dieser Verlagerung, den Friedrich Wolters gefunden hat, faßt sich in der Formel ,Herrschaft und Dienst< zusammen. Die Ehre des Dienens und die Weihe des Herrschens beschwor Friedrich Wolters aus den Überlieferungen des christlichen Mittelalters, und so erhielt der )Kreis< mehr und mehr institutionellen Charakter, nicht in der leeren Äußerlichkeit von Zeremonien oder zur Schau getragenen Besonderheiten, etwa der Kleidung, sondern in dem Bewußtsein der Berufung, das die Glieder des Kreises erfüllte und das ihnen ein Heilsbewußtsein verlieh, das einer kirchlichen Ordnung von Gnadenmitteln gleichkam. Man muß dies mit sehen, wenn man den neuen dichterischen Ton in Georges Sprechen richtig erfassen will. Es ist ein Sprechen, das die Auffüllung durch den Angesprochenen verlangt. Das ist jedoch nicht in dem Sinne gemeint, in dem eine echte religiöse Urkunde Auffullung durch die gläubige Gemeinde fordert und findet. So hat etwa die Sprachgestalt des Neuen Testaments, das seiner Gemeinde gewiß war, nicht den Rang hoher Sprachgestaltung, wie ihn sonst große dichterische Prosa besitzt. Georges Spätwerk dagegen ist ohne Zweifel von erlesener sprachlicher Gestaltung. Gleichwohl ist auch in Georges )Stern des Bundes< nicht nur ein AufTlillungsbedürfnis vorhanden, sondern eine AuffUllungsmacht wirksam, die sich zwar von der dichterischen Sprachgestaltung her aufbaut, sich aber nicht in ihr erfUllt. Man würde George nicht gerecht, wenn man die Veränderung seines Tones in diesem Sinne auf seine religiöse Selbstinterpretation gründen wollte, in der er sich als Stifter eines neuen Kults darstellt. Zwar ist nicht zu leugnen, daß vor allem der )Stern des Bundes< durch seine Hochstilisierung kühler und krampfhafter wirkt als die früheren Gedichtbände und daß viele Liebhaber seines Werkes das )Jahr der Seele< oder den )Teppich des Lebens< fur den Höhepunkt seines dichterischen Werkes halten. Aber auch in den späteren, den kultischen Ton suchenden Gedichtbänden ist ein enormer Kunstverstand am Werke. Wenn die Verkündergeste und das Zeremoniöse des hohen Kothurns manchen abstößt, so ist das nicht, weil es sich hier um eine religiöse Esoterik handelt, die keine dichterische Gültigkeit erreicht. Es ist in diesen Gedichtbänden nichts von dem, was wir aus Sektenstiftern, die durch ihre rednerische Faszination eine Gemeinde um sich sammeln, kennen, nämlich daß die literarische Fassung ihrer Schriften - ich denke etwa an Rudolf Steiner - einen den Kopf schütteln läßt, daß es möglich sein soll, durch solche literarischen Texte eine Gemeinde zusammenzuhalten. Georges dichterisches Spätwerk gründet sich nicht wie solche Texte auf ein vorgegebenes Gemeinde-Ritual. Vielmehr sind es dichterische Mitte!, die ihm ,kultische< Wirkung verleihen und die eine ähnliche Bereitschaft zur Auffüllung erzeugen, wie sie eine religiöse Gemeinde nicht aus dem Wort gewinnt, sondern dem Wort von sich aus zubringt.
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Wir können hier nicht verfolgen, was die verschiedenartigen Mittel sind, die in Georges dichterischer Sprache solche gemeindebildende Wirkung tun9 • Wir begnügen uns mit einer Gegenüberstellung der Sprachhaltungen, in denen Hölderlin und George die Gattung des Hymnus erfullen, d. h. das Höhere besingen. Da gilt es vor allem zu sehen, wie verschieden die Voraussetzungen sind, die Hölderlin wie George als Künstler der Sprache vorfinden. Hölderlin begann sein dichterisches Werk, als die deutsche Dichtersprache gewissermaßen ganz frisch und blankgeputzt war, vor allem dank der einzigartigen Geschmeidigkeit und Natürlichkeit, mit der Goethe die deutsche Sprache zu handhaben wußte10 • So konnte Hölderlin diesem schmiegsamen und wie in natürlichen Tropfen fallenden Stoff deutscher Sprache die kunstvollsten Kaskaden zumuten, ohne daß der innige und liedhafte Ton derselben verlorenging. Er vermochte die großen Freiheiten, die die deutsche Sprache läßt, fur eine Kompositionskunst fruchtbar zu machen, die alle Nachahmung der Antike hinter sich ließ, so sehr sie auch nach ihrem metrischen und literarischen Vorbild gestaltet wurde. Dagegen herrschte in Georges Zeit eine der eigentlichen Sprachkunst ferne Kunstgesinnung. Denn der damals herrschende Naturalismus war ganz auf die Möglichkeit gerichtet. Worte als Ausdruck des Charakters und der seelischen Regung des Sprechers einzusetzen. Und ihn erfüllte überdies und konsequenterweise eine solche Versfeindlichkeit. daß er den Vers nur noch als beiläufige, möglichst unmerküche Stütze des intensiven sprachlichen Ausdrucks gelten ließ. So mußte Georges Formwille und Stilwille zu einer willenshaften Sprachhaltung führen, der man ihr Gewolltsein durchaus anmerken sollte und die nicht mit dem Goetheschen oder romantischen Liedideal sanghafter Natürlichkeit zu messen ist. Es wäre ein Irrtum, in der Erlesenheit des Georgeschen Vokabulars, in der Gesuchtheit seiner Bildersprache eine nachträgliche Poetisierung und poetische Verfremdung zu sehen. Die Gewaltsamkeit seiner Sprachgebärde ist vielmehr dichterisch gefordert und drückt die herausfordernde Abseitsstellung aus, die der Dichter gegenüber dem herrschenden poetischen Realismus und seiner Lebensgesinnung einhält. Bei ihm gewinnt der 'Klangleib<, ein charakteristischer Ausdruck der Zeit, in der Nachfolge der französischen Symbolisten eine neue Präsenz. Es werden von ihm die mannigfaltigsten sprachlichen Mittel eingesetzt, das Gleichgewicht von Sinn und Klang, das alle Lyrik zu halten hat, recht weit in die Richtung der Klangkomposition hin zu verschieben. So ist keine Gestalt der Weltliteratur, nicht einmal die 9 J. ALER, Im Spiegel der Form. Stilkritische Wege zur Deutung von St. Georges Maximindichtung. Amsterdam 1947. 10 Vgl. dazu IDie Natürlichkeit von Goethes Sprache<, in diesem Band, S. 128ff.
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von George so sehr bewunderte und nachgeformte Kunst Dantes, seinem eigenen Ton so nahe wie die Augusteische Dichtung. Vor allem Horaz steht hinter der ,harten Fügung( seiner späten Gedichtbücher. Die Mittel der Horazischen Verskunst, insbesondere auch sein Gebrauch der Binncnvokalisation und der Inversion gewohnter Wortstellungen, sind fiir George ein Vorbild, das Spannungsgefüge des Verses zu steigern und den Leierklang des Endreims zu entmachten. Indem die Vokale nach dem Vorbild der poesie pure eine Art Eigenleben entfalten und sich mit kunstvoll komponierten Assonanzen durchmischen, wird eine neuartige rhythmische und musikalische Gesetzlichkeit freigesetzt. Die harte Fügung. die Hellingrath im Anschluß an Dionys von Halikamass zur Charakteristik des Pindarischen und des Hölderlinschen Stiles gebraucht, gilt tUr George zwar nicht ganz in dem gleichen Sinne, aber sie beherrscht in Wahrheit doch die Kunst seiner Komposition ll . Das Prinzip der Inversion. das die Horazische Wortstellung beherrscht, fmdet sich in der Georgeschen Klangstellung wieder und erzeugt dort eine ähnliche Spannungseinheit, die ebenfalls durchaus nicht unmerklich sein will. sondern wie bei Horaz mit steigender Bewußtheit in den Vordergrund drängt. Die reife Kunst Georges vermeidet dabei die unmittelbare Alliteration und sucht statt derer eine sorgfältig ausbalancierte Form, Anklänge der Konsonantik und der Vokalik ineinander zu verschränken. Für die Musikalität des Georgeschen Versbaus ist aber auch die Satzform von besonderer Bedeutung. Er vermeidet den Nebensatz zweiter Ordnung und bevorzugt überhaupt den kurzen Hauptsatz und das einfache Satzglied. Dadurch flillt Verseinheit und Sinneinheit so oft zusammen. daß das seltene Auseinanderklaffen eine besondere Ausdrucksintensität erzeugt. Daraufberuht das, was ich die Georgesche Bogenführung nennen mächte. Denn der Sinnhiat ist es, der das Gleichmaß der metrischen Abläufe skandiert und Versfolgen zu größeren Einheiten zusammenschließt. So entstehen gleichgebaute. analoge oder analog klingende Verse, die sich übereinanderstufen und dadurch einen Wiederholungseffekt erzeugen, der sich mit einem Steigerungseffekt verbindet. Das ergibt den unvergleichlichen, oft rauschhaft klingenden Aufschwung, zu dem sich Georges Verse erheben. Bei aller Gemeinsamkeit, die der Hintergrund Pindarischer Verskunst für George und Hälderlin bedeutet, läßt sich gerade hier zeigen, daß die Entdekkung Hölderlins durch den Dichter George und die von ihm inspirierten Zeitgenossen eine Einseitigkeit war. Wenn Hellingrath die Stimme Hölderlins »die dröhnende und innige Stimme« nennt. so ist das für HölderIin kaum eine zutreffende Charakteristik. Die Innigkeit zugestanden, aber dröhnend? Was ist Dröhnen? Doch wohl eine Lautgestaltung. die alle Artikulationen zugunsten der Identifikation vitalen Einklangs herabmindert. 11
Siehe dazu auch )Der Dichter Stefan George., in diesem Band, S. 221 ff.
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Wir wissen alle etwas von der Vitalwirkung des großen Dröhnens, das Blasinstrumenten eigen sein kann, die ja auch in religiösen Kulten eine entsprechende Rolle spielen, und wir kennen es insbesondere auch als Bezeichnung rur die Stimme und das Mitreißende, das ein dröhnender Stimmklang hat. Davon ist wenig in der großen Bogenführung Hölderlinscher Dichtung. Sie behält immer etwas von Meditation, von steigender Versenkung und Beengung der Stimme bis ans Verstummen heran. Jetzt aber endiget. seeligweinend. Wie eine Sage der Liebe, Mir der Gesang, und so auch ist er Mir, im Erröthen, Erblassen, Von Anfang her gegangen. Doch Alles geht so. Für Georges Verskunst dagegen ist die Charakteristik des Dröhnens, wenn man es nur nicht falsch versteht, durchaus zutreffend. Sein Vers ist natürlich wie jeder dichterische Vers auf das Spiel von Sinn und Klang gebaut. Aber innerhalb der Spiel weite, die das Gleichgewicht dieser dichterischen Sprachrnächte gestattet, steht sein Vers unter dem Vorrang der Klangesmacht. Daher haben seine Verse etwas Einhämmerndes, etwas von der Wiederholung des Gleichen, die mit dem Worte Dröhnen mitgegeben ist. In Dröhnen liegt aber auch und vor allem die Unmittelbarkeit des Mitreißens, die nicht aus dem geistigen Gehalt der sprachlichen Fügung entsteht, sondern mehr wie eine übertragung von Wille zu Wille, und mehr ein Durchtöntwerden als ein Sprechen ist. So kann George selbst von sich sagen Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme, Hier mußte der eigene Charakter Georgescher Dichtung auch die Rezeption der Hölderlinschen Dichtung beeinflussen und ihn in eine Sprechlage einstilisieren, die ihm, wie wir heute sehen, nicht ganz angemessen ist. Gleichwohl müssen wir die religiöse Selbstauffassung, wie sie sich'etwa in Hellingraths oben zitierten Außerungen, aber insgesamt in dem Vokabular des George-Kreises findet, selber tUr fragwürdig halten und eine tiefere Gemeinsamkeit zwischen dem innigen Gestammel Hölderlinscher Hymnenkunst und der zuchtvollen Strenge Georgescher Verskompositionen anerkennen. Sie liegt, wenn ich richtig sehe, in der Auffassung, die der Dichter von sich selbst hat. Trotz allem Unterschiede zwischen der pompösen Selbstdarstellung, die sich George in seinen Gedichten gibt, und dem bescheidenen Verzicht, den der >Dichter in dürftiger Zeit< aufzubringen bereit ist, bildet doch die Auffassung vom Dichtertum und vom Menschsein den gemeinsamen Hintergrund beider . Sie ordnen sich damit in einen Motivzusammenhang des neuzeitlichen Denkens ein, der mit der RenaissancePoetik anhebt. Es war die Erneuerung der Prometheus-Figur und ihre
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Anwendung auf den Künstler als den zweiten Schöpfer, den alter deus, die sich damals, bei Bovillus zuerst, ausspricht 12 und dann bekanntlich über Shaftesbury bis zu Goethes großartiger Verwandlung des PrometheusSymbols gefiihrt hat t3 . Das Wesentliche an diesem Symbol liegt darin, daß der Dichter, sosehr er auch der Ausgesetzte und der Außerordentliche ist, in seinem schöpferischen Tun dennoch zugleich den Menschen vertritt. Das dichterische Ich ist weit weniger, als man meist wahrnimmt, das Ich des Dichters, und fast immer jenes allgemeine Ich, das ein jeder ist. Es scheint, daß selbst die Interpreten Georges, von denen Hölderlins oder Rilkes ganz zu schweigen, die Ambivalenz im Ichsagen des Dichters nicht genügend beachten. Sie sollten besser auf George selbst hören: .. Selten sind sosehr wie in diesem buch ich und du die seI be seele«14. Das ist gewiß eine besondere Auszeichnung des .Jahrs der Seele., daß nirgends so sehr, wie in diesem Buch, Ich und Du dieselbe Seele sind. Aber man soUte daraus auch entnehmen, daß das filr den Dichter heißt, daß in allen seinen Büchern Ich und Du dieselbe Seele sind. Das sollte gerade auch für die Gedichte beachtet werden, in denen der Dichter vom Dichter spricht. Ein Gedicht Hölderlins, das für George von besonderer Bedeutung gewesen zu sein scheint, möge als Hintergrund dafür dienen. Es ist das fragmentarische Gedicht .Der Mutter Erde
.. E. CASSIRER, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Berlin
1927. S. 299ff. 13 14 1~
O. WALZEL, Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe. Leipzig 31932. S. GEORGE, Vorrede zur zweiten Ausgabe vom .Jahr der Seele<. HÖLDERLlN, St.A. II, S. 123.
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Doch wie der Fels erst ward, Und geschmiedet wurden in schattiger Werkstatt, Die ehernen Vesten der Erde, Noch ehe Bäche rauschten von den Bergen Und Hain' und Städte blüheten an den Strömen, So hat er donnernd schon Geschaffen ein reines Gesetz, Und reine Laute gegründet.
Daß hier von der Sprache die Rede ist, ließe sich durch manche Parallele bei Hölderlin bestätigen 16 • Der Dichter und das Volk habe in einem, sozusagen in einer Vorschöpfung vor der Schöpfung, durch den Donner des Höchsten die reinen Laute erhalten. Die Sprache ist die Antwort, die die Sterblichen finden. Sie ist aber auch das Unterpfand, das eigentliche und einzige, das in unserem Besitz ist, auch wenn die Götter fern sind und kein gemeinsamer Geist sich zum gemeinsamen Gesang erhebt. Der Gesang Horns malt dieses Fehlen und die stellvertretende Funktion des Dichters aus. Es sind müßige Zeiten, in denen das Gedächtnis einer Heldenzeit bewahrt wird, und die großen Ordnungen der Tempel »stehn verlassen in Tagen der Noth«. Wenn wir uns nun dem dritten Gesang, dem Gesang Tellos, der nur als Fragment erhalten ist, zuwenden, so wird, wie ich hoffe, deutlich, warum ich dieses Gedicht mit Georges dichterischem Selbstbewußtsein zusammen sehe. Konnte man bei den ersten beiden Strophen noch ganz auf den Unterschied blicken, der zwischen der bewußten Einsamkeit des Dichters bei Hälderlin und der Hinordnung des Dichters auf die ihn umgebende Gemeinde bei George besteht, so macht die dritte Strophe eine innerste Nähe zwischen George und Hälderlin fUhlbar, wie sie in der gemeinsamen Erfahrung des Dichterturns gelegen ist. Wer will auch danken, eh' er empfängt, Und Antwort geben, eh' er gehört hat? Ni[ cht ist es gut,] indeß ein Höherer spricht, Zu fallen in die tönende Rede. Viel hat er zu sagen und anders Recht, Und Einer ist, der endet in Stunden nicht, Und die Zeiten des Schaffenden sind, Wie Gebirg Das hochaufwoogend von Meer zu Meer Hinziehet über die Erde, Es sagen der Wanderer viele davon, Und das Wild irrt in den Klüften, Und die Horde schweifet über die Höhen, Im heiligen Schatten aber,
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16 HÖLDERLlN,
St.A. 11, vgl. S. 92 (.Brot und Wein<).
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Am grünen Abhang wohnet Der Hirt und schauet die Gipfel. Das Fragment bricht ab. Daß der Prosa-Entwurf, der mit »0 Mutter Erde« beginnt, auf die Fortsetzung verweisen soll, ist nicht glaubhaft. Das Dreiergespräch ist trotz des fragmentarischen Zustandes weitgehend durchkomponiert, und es ist nicht zu sehen, wie der Inhalt von ,,0 Mutter Erde« hier hätte eingebaut werden sollen. Vom Inhalt her scheint es mir im höchsten Grade zweifelhaft, ob die beiden Stücke überhaupt etwas miteinander zu tun haben 17 • Ist das Thema überhaupt das gleiche? Im Prosa-Entwurf ist »Mutter Erde« angeredet, und sie soll der Gegenstand aller kommenden Preisgesänge sein. Hier ist sie nicht angeredet. Hier ist von ihr die Rede, als den "Vesten der Erde«. Sie sind das reine Gesetz der Sprache, aus dem der Dich~er singt und aus dem auch der Gesang der Gemeinde allein kommen kann. Erde und Sprache sind hier ineinandergespiegelt, um zu sagen: die Zeiten des Schaffenden sind nicht in der Gewalt und Verfügung des Dichters, so wenig wie die Gebirge, auf deren Gipfel, auf das, was über ihm ist, der Hirt schaut. Doch wie dem auch sein mag - George hat jedenfalls nicht den ProsaEntWurf abgeschrieben, sondern unser dichterisches Fragment. Er hat sein eigenes Lebensbewußtsein als Dichter darin erkannt. Das möge das GeorgeGedicht aus der 11./12. Folge bestätigen: Horch was die dumpfe erde spricht: Du frei wie vogel oder fischWorin du hängst· das weisst du nicht. Vielleicht endeckt ein spätrer mund: Du sassest mit an unsrem tisch Du zehrtest mit von unsrem pfund. Dir kam ein schön und neu gesicht Doch zeit ward alt· heut lebt kein mann Ob er je kommt das weisst du nicht Der dies gesicht noch sehen kann. Der Hintergrund dieses Gedichtes ist das aus Georges Werk wohlbekannte Motiv des Verzichts. So beugt sich im ,Siebenten Ring< der Dichter über den Spiegel des Quells, wenn er nach einer großen Erfahrung, für die er die dichterische Form gefunden zu haben glaubte, Zustimmung sucht und ihm die Gestalten immer antworten: "wir sind es nicht! wir sind es nicht!« Und nichts anderes bekennt das Gedicht aus dem >Neuen Reich<: "Kein ding sei wo das wort gebricht.« Man muß unser Gedicht auf dem Hintergrunde 17 Daß sie nicht als zwei Phasen eines einheidichen Schaffensentwurfs miteinander vereinbart werden können, bemerkt BEISSNER (St.A. " 2, S. 685), meine ich, zu Recht.
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dieser Motivkonstanz lesen. Sein Schlüssel ist (und ich meine, damit ist seine Deutung nicht mehr schwierig) die Ambivalenz zwischen Dichtersein und Menschsein. Denn was das Gedicht sagt, und so, daß es uns etwas sagt, ist am Ende dies, daß der Dichter nicht über seine Eingebung und Schöpfung Herr ist, sondern wie alle anderen auch auf eine unaufhebbare und undurchschaubare Weise abhängig bleibt. Den Ton möchte ich auf das )wie alle anderen auch< legen. Das singt sich durch das» Worin du hängst ... das weißt du nicht« in unser Ohr ein, insbesondere weil es in der vorletzten Strophe wieder aufgenommen wird und dem ganzen Gedicht seinen Takt verleiht. Es ist die dumpfe Erde, etwas, was man auf keine Weise aufhellen kann und woher ein jeder von uns stammt, was uns diese wesenhafte Unwissenheit um uns selber verkündet. Nicht nur der Dichter,jeder von uns kann sich die folgenden Worte gesagt sein lassen. Denn immer wird ein späterer Mund wissen, was wir nicht wissen. Gewiß sind es Parusie-Formen der christlichen Überlieferung, an die diese Verse anklingen. Nicht. daß Christus gemeint wäre, der unerkannt unter den Seinen weilt und erst am Brechen des Brotes erkannt wird - aber es ist von dem Dasein dessen die Rede, der das heilende Wort zu sagen hätte und der doch unerkannt bleibt. Nun ist es das eigentliche Thema dieses Gedichtes und ist in diesen Versen gegenwärtig, daß der Dichter sich unter die Nichtwissenden einrechnet. Auch er weiß nicht. Doch er weiß, daß er nicht wissen kann, ob ein Gesicht, das er hat, je sichtbar werden wird, je für aUe da sein wird. Das heißt aber, daß er nicht weiß, ob ein Wort sein wird. Das tiefe Beben, das durch diese Verse geht, ist nicht auf die anderen beschränkt, denen das Ich des Dichters gegenüberstünde. Kehren wir von hier zu der dritten Strophe von )Der Mutter Erde< zurück, so erkennen wir die Gemeinsamkeit des Themas. Man soll nicht fallen in die tönende Rede, man darf nichts übereilen, nicht mit frevelnder Hand nach dem Feuer greifen. Das ist bei Hölderlin ein zentrales Motiv l8 • So muß der Dichter auch hier aushalten, daß er Vorsänger einer noch nicht antwortenden Gemeinde ist l9 • Die Zeiten des Schaffenden, die ihren eigenen, durch nichts umzulenkenden, durch nichts zu beeinflussenden Gang gehen wie der Zug des Gc!birges von Meer zu Meer, sagen das gleiche »Das weißt du nicht« wie Georges Gedicht. Es ist die innere Gemeinsamkeit, die die Stellung des Dichters zu Zeit und Welt ausmacht, was zwei sehr voneinander verschiedene Dichter verbindet, und es scheint mir ein Zeichen für die Größe Georges zu sein, daß seine eigene dichterische Stimme gleichwohl so ganz anders und ~~gen erklingt und in seinen Versen keine Spur von Nachahmung oder Ubernahme des Hölderlinschen Tones aufweist. 18
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HÖLDBRLIN, St.A. ll, S. 120, S. 141, S. 155. Siehe dazu ,Hölderlin und das Zukünftige., in diesem Band, S. 20ff.
20. Ich und du die selbe seele (1977)
Ihr ahnt die linien unsrer hellen welten· Die bunten halden mit den rebenkronen· Den zefir der durch grade pappeln flüstert Und Tiburs wasser weich wie liebesflöten ? Da hebt sich euer blondes haupt: kennt IHR Der nebel tanz im moore grenzenlos· Im dünenried der stürme orgelton· Und das geräusch der ungeheuren see?
Man kann sich fragen, ob das erklärende Wort dort überhaupt am Platze ist, wo dichterische Rede unmittelbar und unaufgehalten durch Verborgenheiten von Wort und Sinn den Leser und inneren Hörer erreicht. Gewiß gehören diese aus Georges 'Jahr der Seele< entnommenen Verse bei aller epigrammatischen Gedrungenheit ihres Baues nicht zu den dichterischen Gebilden, die den verstehenden Vollzug immer hinter sich zurücklassen, weil sie ihm in dunkler Dichte voraus sind. Diese Verse stellen im einfachen Bau einer Frage und einer Antwort zwei Landschaften bedeutungsvoll einander gegenüber, und niemand bedarf irgendeiner Hilfe, um in ihnen Seelenlandschaften und in der gespannten Weite dieser Fernen sich selber zu erkennen. Und doch - das auslegende Wort fühlt sich auch hier angerufen. Da ist der Platz, an dem die Verse stehen; in einer Abteilung des 'Jahrs der Seele<, deren Gedichte vom Dichter selber als flüchtig geschnittene Schatten bezeichnet sind. Zwei Initialen (A. V.) lassen einen bestimmten Mann aus dem Freundeskreise des Dichters erraten, und man könnte versucht sein, diesen vom Dichter selbst gegebenen Winken nachzugehen und in der Begegnung zweier Dichter, eines nordländischen mit dem rheinisch-römischen Dichter des 'Jahrs der Seele<, den Lebensgrund dieses Widmungsgedichtes zu erkennen. Allein, da liest man die Vorrede zu der zweiten Auflage dieses Buches, in der der Dichter aller Aufklärung aus Lebensgeschichtlichem und Gelegen\1eitlichem die Warnung entgegenhält: "Und selten sind sosehr wie in diesem buch ich und du die selbe seele. « Gewiß, im Ganzen dieses Gedichtbandes gehört dieses Gedicht zu der Gruppe, die durchweg Initialen zeigt und
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Anrede ist. Insofern mag die Warnung des Dichters dieser Gedichtgruppe gegenüber am wenigsten bedeuten. Aber sie bedeutet genug. Es sind eben selbst diese persönlich bezogenen Widmungen Gedichte. die nicht diesem oder jenem als Geste und Gabe zugesungen sind. sondern Werkteile. die ein wählerischer Goldschmied des Wortes gearbeitet und geziert und angeordnet hat. Sie gehören einer anderen Ordnung an als der des einmalig gelebten Lebens. nicht anders als die Siegeslieder. die Pindar an sizilischen Höfen aufführen lieB und die dennoch Kostbarkeiten griechischer Literatur sind. nicht anders als die von tönender Anrede eröffneten Oden des Horaz. Was macht sie zu einem Imonumentum aere perennius(? Welche Kunst. welche Fügung. welche Sagkraft des Wortes? Das zitierte Gedicht hat in der Reihe dieser Schattenschnitte. sosehr seine formale Struktur des aus zwei vierzeiligen Strophen gebildeten Ganzen ihm mit den anderen Gedichten der Gruppe gemeinsam ist. das Besondere einer zweistimmigen Komposition. Frage und - in anderer Stimme tönende Antwort. Und wie jedes Verhältnis von Frage und Antwort hat auch dieses eine genau gefügte Entsprechung - den Auflaut. der sich in der Schwebe des Versuchens hält. und die Entschiedenheit des Gegenwortes. das das Ganze zum Ganzen siegelt. Denn allerdings ist auch dieses Frage-Antwort-Gedicht ein Ganzes. und die fragende wie die antwortende Stimme sind weit eher die Stimmen einer musikalischen Komposition als die der Abbildung eines Gesprächs zweier einzelner. Die fragende Stimme hat etwas Forderndes. überlegenheit und Sicherheit geht VOn ihr aus - und sie weiß. was sie sagt. Sie weiß. wogegen sie redet. Indem sie sich auf ihre hellen Welten beruft, sind die düsteren Welten des anderen mit da. Und wenn der Angeredete die hellen Welten »ahnt«. so scheint das zu suggerieren. daß er sie wie ein höheres. fernes Ziel oder ein gelobtes Land erkennen soll. Das wird insbesondere dadurch deutlich. daß diese »hellen welten« als Linien - wie helle Berglinien eines fernen Zielserscheinen. Oder meint dies zugleich die klare Linienführung in diesen hellen Welten. ihre geistige Architektur? Es ist wohl beides - ein klares Vorbild und ein Vorbild von Klarheit: Landschaft. die ganz von Menschen gestaltet und von der hellen Geistigkeit menschlicher Durchformung beseelt ist. »Die bunten halden mit den rebenkronen« evoziert die rheinischen Weinberge. eine königliche Landschaft. streng und planvoll gebaut. und vom herbstlichen Gold der Reben wie gekrönt. Das Element mit seiner vormenschlichen Gewalt ist nur per contrarium. in der gebändigten Klarheit dieser Landschaft da. Die künstliche Flüsterstimme des Zephir läßt es ungerufen. Das gleiche gilt für die geraden Pappeln. Diese im 18. Jahrhundert nach Europa verpflanzte Baumart. die mit dem geometrischen Geist der Zeit. mit der geregelten. gezirkelten. geplanten Straßenlandschaft des 18. Jahrhunderts zusammengeht. ist wie ein Symbol menschlich geordneter.
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menschlich beherrschter Natur - und vollends klingt der ganze Zau ber einer in Kunst verwandelten Natur in der vierten Zeile auf. Mit der Anrufung Tiburs, des berühmten Landsitzes Augusteischer Zeit, den jeder Humanist aus Horaz kennt, mag in die erregte Landschaftsvision des Lesenden, Hörenden ein Zweifel kommen. ob hier der reine Süden, Italien. dem reinen Norden entgegengesetzt sei - bis man die stärkere Evidenz des Symbolwortes (Ti bur ist Tivoli) erkennt und mit Bewunderung realisiert, daß die berühmten Wasserspiele dieses gesegneten Platzes mehr meinen als das Sinnbild deutschen Romfahrertums, daß sie die Anmut und den Lebensgenuß römisch-rheinischer Humanität als eine Lage der menschlichen Seele beschwören. Woher weiß man eigentlich, daß »Tiburs wasser« ein Plural sind? Gewiß nicht aus klassisch-archäologischer Bildung, wohl auch nicht nur aus den umgebenden Pluralformen der Pappeln und der Flöten - die mächtige Gebärde des vorangestellten Genitivs» Tiburs« ist es Vor allem, die die volle Weite dieser künstlichen Paradiese heraufruft. Und doch ist etwas Schwereloses. etwas Unwirkliches in dieser dem Ahnenden verheißenen Landschaft - die Antwort, das Gegenwort. das die zweite Strophe sagt, ist in der Frage schon da. Diese Antwort ist die ganze andere Seite der Seele, ist erst das Ganze der Seele. Das kann kein Leser des >Jahrs der Seele( verkennen. daß das blonde Haupt des Antwortenden keine fremde Botschaft sagt, sondern wahrhaft erinnert. ein innerstes Wissen um die elementaren Gewalten ausspricht, die allem Seelentum und Geisteswesen erst volles Leben, Wahrheit und Wirklichkeit verleihen. Es ist nicht umsonst, daß die drei letzten Verse bis in die Vokalisation hinein die Macht des Elementaren entgegenhalten - dieser Stolz ist nicht nur der des blondhäuptigen Nordländers auf seine Heimat, sondern mehr noch der Anruf der großen Natur- und Seelenmacht des Erhabenen, dessen dynamische Unendlichkeit Kant der >intelligiblen Bestimmung der Menschheit( gewiß sein ließ. Ein anderer, nicht auf die Humanisierung, geschweige denn auf die Bändigung der Natur gegründeter Stolz, sondern ein Stolz, der die Natur besteht und geistig ermißt. ist es, der den Menschen das Haupt heben läßt. Man kann sich fragen. ob das ausgewogene Gleichgewicht dieser Frage und dieser Antwort, ob das innere Gleichgewicht der Seele, die beide Welten liebt, oder gar, ob der Rest lebensgeschichtlicher Anspielung, die den rheinischen und den holländischen Dichter konfrontiert. durch solche Deutung nicht am Ende verschoben wird. Ist wirklich die Gegenstrophe mehr als eine Entgegnung? Ist sie wirklich Einklagung eines übergangenen Rechts? Dichtungsauslegung kann nie vermeiden, einseitig zu werden. und hat daher andere Seiten offenzulassen. Gewiß war der Dichter dieser Verse immer auf der Seite des Gestalteten, Klaren, Beherrschten. und den zerlösenden Weiten des Unbestimmten, Unmäßigen abhold. Aber dies 'Jahr der Seele( spricht allzu deutlich aus dem nächtlichen Grunde der Seele, als daß man die großen
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Bilder des Sturmes. des Moores. des alles begleitenden. alles bestreitenden Atems der See ihm nicht als Eigen lassen müßte. Gewiß hat sich das auch dem Text gegenüber zu rechtfertigen. Diese Rechtfertigung soll hier nicht durch Ausgreifen über den gewählten Text auf Seelenlage und Stimmungsmacht des ganzen Buches oder gar auf die Topik von Sturm und Meer im Gesamtwerk des Dichters gegründet werden. sondern auf die Bewußtmachung der Klangbewegung dieser Verse selbst. Zwar. die Antithese ist wie bloße Gegensetzung. Aber wie ist das vorbereitet - so daß es gar nicht ausbleiben kann. Die Tonlage der beiden letzten Verse der ersten Strophe. das sanfte Säuseln des Windes. das leichte Plätschern der Wasserspiele Tivolis. alles in hohen. hellen. heischenden Tönen gehalten. fordert das machtvolle Bekenntnis zum Grunde geradezu heraus. Und so sind es weithallende Klang- und Sinngebilde. die diese andere Strophe fUllen. wie vom basso continuo eines unendlichen Chorals skandiert. Es ist ein menschenloses Dahinfahren des Elements. Kein Macbeth. kein Hamlet ist beschworen. und doch ist es wie ein Dröhnen in der Luft. das sich zu Shakespeareschen Vers-Visionen erheben möchte. Aber wie wird das alles hineingenommen in den letzten Vers. in dem sich Geheiz;nnis und Offenbarung dichterischer Kunst auf wunderbare Weise die Waage halten. Es sind einfache Worte - IGeräusch<. lungeheuere. ISee( -, die hier zur unauflöslichen Einheit eines Gebildes zusammengehen - und so, daß sie in der neuen Fassung wie seltene. erlesene Steine blitzen. Was ist nicht alles IGeräusch(! Aber dieses Geräusch ist das Rauschen der Brandung selbst. ist dies Ganze unaufhörlichen Schlagens und Verrinnens - die unendliche Melodie. vor der alle menschlichen Laute und Gestaltungen zufallig-flüchtig werden. Warum hört man das alles? Gewiß. da ist die Wiederaufnahme der Laute. Ir< zu Ire. des Volkals zum Vokal- und irgendwie mag der Chiasmus von Ir-äu-eu-r< den Grundlaut des lau( in IRauschen< freisetzen. Aber es ist dann ja auch die kollektive Formung, die das Rauschen zum »Geräusch « werden läßt und die Übermacht des allen menschlichen G~staltungskräften femen. ihnen gleichmütig überlegenen Elementes evoziert. Die See. dies mütterlich all-umfassende Wasser. heißt »ungeheuer«. Fast klingt es trivial: wie ,riesig< oder 'grenzenlos< - und dann doch nicht. Dann doch wie ein letztes. ein endgültiges Wort. Nein. ein vorletztes. Denn die »ungeheure See«. gewiß. sie ist das Weltmeer, in das alles zurückgeht und aus dem alles kam. Aber es ist doch ldie See(! - vor der einen Staunen und Jauchzen befallt. Denn sie ist nicht ein um weniges. sondern ein unendlich Größeres als alles, was Menschenhand zur Ordnung einer hellen Welt fUgte, was menschliches Schaffen ins Licht heraufgebar - sie läßt uns »der ungeheuren Weite Segen ahnen«.
21. Der Vers und das Ganze (1979)
Fassen wir das 19. Jahrhundert bis auf unsere Tage, mit denen wir im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts stehen, ins Auge und betrachten die wechselnden Konstellationen, die etwa Schiller und Goethe aufweisen: wie Schiller voranging, indem er dem vaterländischen Empfinden des sich formierenden deutschen Nationalstaates die Stimme lieh; wie Goethe erst dem Ende des 19. Jahrhunderts und dessen liberalen Idealen seine breitere und umfassendere Wirkung verdankte; oder wie Hölderlin von einem Poeta minor des romantischen Zeitalters in unserem Jahrhundert zu einem wahren Klassiker aufstieg. Umgekehrt sehen wir zahllose Figuren von einer zentralen und alle erfüllenden Bedeutung zu einer umstrittenen oder zurücktretenden Größe werden. Und selbst unter den Größten wandeln sich die Bevorzugungen. Denken wir etwa an Richard Wagner gegenüber Verdi oder an Beethoven gegenüber Bach. Es sind lebendige Spannungen, die sich in solchen Zusammenordnungen ausdrücken. Oder - um damit unserem Thema noch näherzukommen - denken wir an die überraschende Wiederkehr des Jugendstils in unseren Tagen. An ihm hatte der junge Stefan George selber teil, als er seinem eigenen Stilwillen Form und Gestalt gab. Stefan George selber und sein Werk hat freilich im öffentlichen Bewußtsein unserer Zeit noch nicht eine entsprechende neue Beleuchtung erfahren wie der 'Jugendstik Die Gelegenheit, die uns hier zusammenfUhrt, ist nicht ohne ein Bewußtsein dieses Umstandes geschaffen worden. Man muß erwarten, daß die altgewohnte Provokation, die der Dichter Stefan George gegen die Massengesellschaft schleudert, in uns heute neue Resonanzen weckt - in uns allen ohne Unterschied des Alters oder der Gesinnung oder der politischen Willensrichtung. Denn in uns allen beginnt das Bewußtsein zu erwachen, daß Natur und Umwelt mehr sind als ein Feld der Ausbeutung und der Umgestaltung zu einem einzigen riesigen Industrie-Betrieb; daß Unsere menschlich - gesellschaftliche Arbeitswelt sich vielmehr um die Wiedereinfügung in das größere Ganze sorgen muß, das uns trägt und uns nährt. So könnte es sein, daß die Sehersprüche eines Dichters wie Stefan George sich langsam von den kurzschlüssigen Anwendungen lösen, die ihnen in den letzten Jahrzehnten zugewandt geworden
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sind, und daß sie ihren wahren Maßstab zeigen, der mit Maßen mißt, die für die Zukunft so gut wie flir Gewesenes gelten. Das Thema .Der Vers und das Ganze( möchte in diesem weiten und radikalen Sinne verstanden werden. Es deutet auf eine Frage, die im Grunde drei Fragen umfaßt, die ich nacheinander behandeln und ins Licht stellen möchte. Es "geht um die Fragen: 1. Wie ist der Weg vom Vers zum Ganzen? 2. Wie ist die Trennung des Verses vom Ganzen? 3. Wie ist am Ende das Ganze im Vers zu .begreifen?
Die erste dieser Fragen ist jedem Kenner des dichterischen Werkes und der Lebensleistung Stefan Georges wohl vertraut: »Der Weg vom Vers zum Ganzen«. Als Stefan George mit der Folge der IBlätter flir die Kunst( zum ersten Male in eine beschränkte Öffentlichkeit trat, hat er im Vorwort die richtungsweisenden Sätze gesagt, daß diese Blätter der Kunst, besonders der Dichtung und dem Schrifttum, dienen wollen, »alles Staatliche und Gesellschaftliche ausscheidend«. Er nannte das ausdrücklich eine geistige Kunst, eine Kunst für die Kunst. Nun ist das Wesen der Dichtung freilich immer nicht nur der Schonbezirk einer Gesellschaft, der kultureller Selbstbefriedigung dienen soll. Das Wesen der Dichtung steigt immer irgend wie aus der gesprochenen Sprache auf und findet Widerhall in den Ohren und Seelen aller, die hören können. So mag ein anderes Wort des Dichters bereits vorzeichnen, wie der Anfang mit der Dichtung zum Ganzen hinzuführen vermag. Das Wort lautet: »Das wesen der dichtung wie des traumes: dass Ich und Du· Hier und Dort· Einst undJezt nebeneinander bestehen und eins und dasselbe werden.« Dies Wort spricht aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, es spricht in den Beginn dieses Jahrhunderts hinein, in die Zeit vor dem Ersten Weltkriege. Plötzlich rücken auch für uns Einst und Jetzt ganz nahe zusammen, diese Zeit vor dem Ersten Weltkriege und unsere Zeit, die - wie wir hoffen - nicht eines Tages die vor dem dritten Weltkrieg heißen wird. Zeit rückt zusammen, und in dieser geeinten Zeit stehen dann etwa die Gedichte des .Sterns des Bundes( mit ihrer prophetenhaften Intensität. Da begegnet ein Gedicht wie dies, aus dem ich nur ein paar Verse zitiere: Und an der weisheit end ruft ihr zum himmel: .Was tun eh wir im eignen schutt ersticken Eh eignes spukgebild das him uns zehrt?( Der lacht: zu spät für stillstand und arznei!
Und dann kommen die berühmten drei Verse:
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Zehntausend muss der heilige wahnsinn schlagen Zehntausend muss die heilige seuche raffen Zehntausende der heilige krieg. Welch eine Spanne von dem »Alles-Staatliche-und-Gesellschaftliche-Ausscheiden« zu diesen Versen! George hat sich selber die Frage vorgelegt, wie diese Spanne überbrückt wird und wie Rechtfertigung des eigenen Tuns aus ihr erwächst. Im ,Stern des Bundes< heißt es in dem großen Gedicht, das das eigentliche Thema dieser Erörterung aufruft: DA DEIN GEWITTER 0 DONNRER DIE WOLKEN ZERREISST
Dein sturmwind unheil weht und die vesten erschüttert Ist da nicht nach klängen zu suchen ein frevles bemühn? .Die hehre harfe und selbst die geschmeidige leier Sagt meinen willen durch steigend und stürzende zeit Sagt was unwandelbar ist in der ordnung der sterne. Und diesen spruch verschliesse für dich: dass auf erden Kein herzog kein heiland wird der mit erstem hauch Nicht saugt eine luft erfüllt mit profeten-mus\k Dem um die wiege nicht zittert ein heldengesang. Die Frage drängt sich von selbst auf: Konnte der Dichter - der so sehr darauf bestand, immer der Dichter zu bleiben, und der, auch wenn er für so viele der Meister war, es immer als der Dichter sein wollte - das, was dieser Zeit so fehlte, wie der Heldengesang, vom Dichten her wieder erwecken wollen? George hat immer, selbst in seinen Freunden, selbst in Männem von der großen wissenschaftlichen Begabung eines Friedrich Gundolf, mit Entschiedenheit vor allem den Dichter gesehen und sie so angeredet. Erziehen war ihm Erziehen zum Dichten. Die viel angegriffene Einformung und Anlernung jüngerer Freunde an und in den Ton seines eigenen meisterlichen Verse-Könnens sollte Erziehung durch Dichtung und durch Lesen von Dichtung sein und diente dem Ziel- um ein Wort Georges zu zitieren -, die »Traumfähigkeit« neu zu wecken und zu stärken. Der Weckung der Traumfähigkeit sollte am Ende auch der Maximin-Kult dienen, der neue Mythos des George-Kreises, der als Gedächtniskult und durch Leben im Gedächtnis an eine fUr den Dichter bedeutende menschliche Erfahrung eine Gruppe von Menschen vereinigen und mit einem neuen LebensgefUhl erfüllen sollte. Fragen wir uns: wie kann dieser Weg eines Dichters als ein Weg zum Ganzen gegangen werden, wenn das Ganze vom Vers so verschieden, dem Vers so entfremdet ist, wie das in Georges eigener Jugend der Fall war und erst recht in unserer Zeit der Fall ist. Fragen wir zuerst: Wie kam es zur Trennung des Verses vom Ganzen? Kann Poesie etwas anderesjsagen als des gemeinsamen Geistes Gedanken? Poesie ist Weitersage des Mythos. Mythos ist die keiner Beglaubigung bedürftige ,Sage<. Aber wo ist eine solche,
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keiner Beglaubigung bedürftige Sage in unserer unromantischen Welt? Ich nenne unsere Welt lunromantisch< und gebrauche damit bereits einen Ausdruck, der selber einen besonderen Akzent trägt, seit die deutsche Romantik zwischen dem Klassischen und dem Romantischen unterschied. Hier muß ich an Hegel erinnern, jenen großen Denker der romantischen Periode, der heute für jeden, auch wenn er es nicht weiß, einen der Einschläge in dem geistigen und sprachlichen Gewebe seiner denkenden Rechenschaft bildet. Es geht um die berühmte Lehre, die weniger eine Lehre als eine Feststellung ist, die Hegel über den I Vergangenheitscharakter der Kunst< formuliert hat l . Die Formel meint, daß die Kunst nicht mehr die höchste Form des Geistes sei, sondern als Ganzes der Vergangenheit angehöre. Damit ist ganz eindeutig gemeint, daß in der klassischen Kultur der Griechen die Einheit der sinnenhaften Erscheinung und der Wirklichkeit des Göttlichen unbestritten da war. Wir aber beugen nicht mehr das Knie vor diesen gewaltigen Skulpturen griechischer Götter, auch wenn wir sie als höchste Gestaltungen menschlicher Schöpferkraft bewundern und verehren. Sie sind flir uns mit unserem eigenen Sein und Sehnen nicht mehr eins. Das gleiche gilt, neben der Skulptur, in der es am anschaulichsten ist, auch von den Beschwörungen des Göttlichen in der Dichtung, dem Epos, der Tragödie, und am Ende auch noch von dem platonischen Seelenmythos und selbst von dem aristotelischen oder stoischen Weltengott. Sie sind selbst noch wie letzte sinnliche Erscheinungen von Unsinnlichem. Mit Hölderlins IBrot und Wein< denken wir in diesem Sinne Christus selber als den letzten Gott, der in der sinnlicherfahrbaren Welt und Wirklichkeit Gegenwart war, und sehen in ihm den Abschied des letzten Gottes, den scheidenden Gott2. Das Christentum aber hat die Entmythologisierung dieser Welt heraufgeführt. Es hat das welthafte Erscheinen des Göttlichen durch eine andere Botschaft vom Göttlichen ersetzt. Sein Wesen ist die Transzendenz, im Geist und in der Wahrheit anbeten wurde die neue, christliche Haltung gegenüber dem Göttlichen. Alles, was dann im christlichen Weltalter an Kunst, etwa an christlicher Dichtung, erscheint - um an das große christliche Epos Dantes oder Miltons zu erinnern -, alles, was in die großartige humanistisch-christliche Einung, die wir die abendländische Tradition unserer Kultur nennen, zusammengegangen ist, stellt, gemessen an der bezeichneten Einheit des Klassischen, eine Art erster Vergangenheit dar. Aber was vergangen ist, ist nicht die Kunst, sondern ihre religiöse Unmittelbarkeit. Sie wird gerade dadurch als IKunst( erfahren, daß sie ihre religiöse Unmittelbarkeit verlor und daß sich der Anspruch des geistigen Begreifens, den die christliche Botschaft erhoben 1 Siehe dazu in Ges. Werke Bd. 8 lEnde der Kunst? und IDie Stellung der Poesie im System der Hegeischen Asthetik und die Frage nach dem Vergangenheitscharakter der Kunst<. 2 Vg!. dazu IH61deriin und die Antike" in diesem Band, S. 1
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hatte, nun auch gegenüber der Anschaulichkeit aller künstlerischen Gestaltung erhob. Hegel meint das ganze christliche Weltalter. Aber gleichzeitig spüren wir. daß Hegel mit seiner Lehre noch etwas anderes, sehr Bestimmtes, in unser Bewußtsein hebt, das wir nicht ableugnen können: Mit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts beginnt eine zweite Vergangenheit der Kunst. Was sich damals ereignete, war der Abbruch der griechisch-christlich gebundenen mythischen Tradition, in der die Kunst lebte. Was nun folgt, ist wie ein freier Nachhall dieser mythischen Tradition. Wenn Goethe im IWest-östlichen Divan< sich in östlichen Gestalten wiegt; wenn Hölderlin uns die heimatlichen Chiffren unserer Landschaft mit der unerhörten Intensität seines Seherauges als die Gegenwart des Göttlichen sehen lehrt; wenn Kleist den Gott des innersten Gefühls anruft; wenn Immermann in einer verwirrten und materialistischen Welt chiliastische Erwartungen auf das Heil besingt; wenn Mörike seinen Jugendmythos von .Orplid. mein Land< spielt, dessen Lied uns als IGesang Weylas< in Hugo Wolfs Vertonung im Ohr ist; und wenn dann - immer zweifelhafter deutsches Mittelalter, deutsche Vorzeit, etwa im Nibelungendrama Hebbels oder in Richard Wagners gewaltiger musikalischer Theaterphantasie, wiederkehrt; wenn fernste Figuren heraufgerufen werden wie Zarathustra in Nietzsches Denken, und wenn schließlich Stefan George im Maximin-Kult den Klang des Mythischen beschwört, um im Gedächtnis zu halten und die Seinen im Gedächtnis zu vereinen - was sich auf solche Beschwörungen des Mythischen beruft, ist nicht mehr das Ganze, ist nicht mehr Kirche, nicht mehr das Wissen eines ganzen Volkes. Es ist eine Art von spielendem Variieren des ehedem Verbindlichen. Das religiöse Vokabular vermittelt auch weiterhin die eschatologische Stimmung und eine Erwartung, die bis tief ins Politische und Gesellschaftliche hinein die Tönung gibt - aber das alles ist offenbar nur noch - wie positiv immer man es werten mag - das Auffangen und Bewahren eines Nachhalles. Und doch bleibt Poesie noch immer Weitersage der Wahrheit. Das scheint mir die Kehrseite der von mir beschriebenen Entwicklung. Die Trennung der Einheit von Vers und dem Ganzen schließt nicht aus, daß es als ein Traditionsgeschehen, als ein Geschehen der beständigen Erweckung und Wiederaneignung unsere eigene geistige und menschliche Ganzheit durchdringt. Es handelt sich dabei nicht, wie man im Zeitalter des dogmatischen Wissenschaftsglaubens zu denken gewohnt ist, um eine Frage des ästhetischen Unernstes oder des historischen Relativierens. Es ist vielmehr, wie Georges Eingangswort es sagt, das Wesen der Dichtung wie das des Traumes, daß »Ich und Du· Hier und Dort· Einst und Jezt« eins und dasselbe werden. Was sich im überlieferungsgeschehen menschlichen Daseins vollzieht, ist ein beständiger Wiedererwerb. Das ist nicht jene Zerstreuung und Distanzierung durch ständig wechselndes Licht, in dem das Wertbewußt-
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sein einer Kultur sich aufsplittert, wie Nietzsche den Historismus seiner Zeit empfand. Hier ist anderes im Spiel. Damit komme ich auf die größte Legitimation, die wir f"ür uns, in unserer späten Zeit, in Anspruch nehmen dürfen. Plato hat es im >Symposion( geschildertl. Dort belehrt Diotima den Sokrates darüber, daß Eros, die hinreißende Weltmacht der Liebe, nicht als ein Inbegriff des Schönen gefeiert werden sollte, sondern als das dämonische Wesen, das überall auf Zeugung im Schönen aus ist. Dies Außer-sieh-Sein sind wir selbst. Plato sagt uns auf diese Weise mit einer - bis heute, wie mir scheint - immer wieder vergessenen Entschiedenheit. daß menschliches Wesen und Wissen sich nur durch Üben ~W'II) verwirklicht: 'nur durch immer neue Zeugung. durch ständigen Wiedererwerb, ständige Wiedererneuerung. ständiges Wiederschaffen kommt Bleiben zustande. Der griechische Ausdruck rur das Behalten des Gedächtnisses (}I/vIZP"l) hatte vielleicht fur das griechische Ohr etwas vom pivew, vom Bleiben. vom Bleibend-werden in sich. Jedenfalls hat >memorial fur uns den großen Sinn der inneren Schatzhäuser unserer Seele. von denen Augustin zuerst zu reden wußte. Nun sagt Plato: dieses Verfahren des Wiedererwerbs. diese immer neue Zeugung, sei die Weise (P7JX01'1l), wie das Sterbliche am Unsterblichen teilhat. Alles Lebendige, und so auch das Menschengeschlecht. erhält sich nur so, durch physische Fortzeugung. Aber es gibt auch Menschen. die in den Seelen zeugen. Unter ihnen fuhrt Diotima als erste die Dichter an und alle anderen Menschen, die wir >schöpferisch( nennen, einschließlich der großen Gesetzgeber: sie fuhrt Homer. Hesiod, Lykurg und Solon an. Sie alle erneuern das Ganze. Es sollte deutlich geworden sein, wieso das, was als ein bloßer Nachhall einer ehedem unmittelbaren, religiös durchformten Kultur erscheinen konnte, in Wahrheit eine bleibende menschliche Grundaufgabe. eine Grundmöglichkeit des Menschen wahrnimmt. so daß am Ende die Trennung des Verses vom Ganzen sich aufhebt und gerade auch das Ganze im Verse zu erkennen möglich wird. >Mnemosyne( waltet über allem: Im Gedächtnis halten heißt Mensch sein. Das lehrt uns nicht zuletzt die religiöse überlieferung aller Völker und all die zahllosen Gräberfelder und Gräberfunde, die aus der Frühzeit der Menschheit zu uns zurückkehren. Mnemosyne waltet vor allem in der Dichtung. Mnemosyne ist die Grundlage aller epischen Poesie, uns allen durch das Tun der Rhapsoden-Geschlechter überliefert. die unsere älteste epische Literatur vermittelten. und wir·wissen gerade heute. dank den neueren amerikanischen Forschungen in den dreißiger Jahren auf dem Balkan, daß es selbst in unseren Zivilisationen noch mündliche, lediglich auf Memoria, auf Gedächtnis, gestützte epische Tradition gegeben hat und vielleicht noch heute gibt. 3
Ausführlicher dazu ,Unterwegs zur Schrift?, in Ges. Werke Bd. 7, S. 264ff.
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Gleichwohl gilt: Diese große Möglichkeit des selbstverständlichen Lebens im Gedächtnis der eigenen Tradition geht mit der zweiten Vergangenheit von der ich im Anschluß an Hegel sprach - zu Ende. Kein Epos, kein Drama, das wir zur )Literatur< zählen, ist mehr eine wirkliche Anspielung, fortgehendes Weiterspielen des mythischen Klanges, von dem eine überlieferung widertönt. Es ist vielfältig gebrochener Nachhall, was uns erreicht. Das Epos der Neuzeit, der Gesellschaftsroman, drückt schon im Namen aus, wer sein Held ist und daß da keiner mehr ein Held ist, und soweit Schauspiel und Oper nicht bloßer Nachhall sind, gilt für sie das gleiche. Gleichwohl ordnen sich auch diese literarischen Formen erzählender oder dramatischer Prosa in die Geschichte der literarischen Gattungen ein. Die Auflösung der gebundenen Redeform entspricht der neuen Stofflichkeit, die zur Darstellung kommt. Es muß aber doch wohl als Konsequenz angesehen werden, daß auch die lyrische Poesie alle erzählenden Inhalte mehr und mehr reduziert. Am Ende beweist sie ihre reine lyrische Kraft dadurch, daß sie kein mythisches Erbe mehr weiterträgt, sondern eigene mythopoietische Beschwörung vollbringt". Man nennt das wohl Symbolismus. Die lyrische Poesie erfüllt damit erst das volle Gesetz ihrer Gattung, ein Ganzes von Klang und Sinnklang zu sein, das uns keine Sage sagt und das uns doch sagt, was es mit uns ist. Das lyrische Wort ist seine eigene Sage. Es hallt von sich selber wider und wird so in unserer mythosfernen Zeit die bevorzugte Form des Dichterischen. So finden wir auch in dem Dichter Stefan George - bei allem Drängen zu chorischen Formen des dichterischen Sagens - das Lyrische im Vordergrund. Diese Möglichkeit, im dichterischen Wort das Ganze zu enthalten und festzuhalten: möchte ich mit einigen philosophischen überlegungen stützen, die jedem von uns naheliegen: Man sollte bei dem Wort )Philosophie< nicht zu sehr erschrecken. Es meint jene denkende Rechenschaft, die jeder einzelne von uns von sich verlangt. Es ist nur die Schwierigkeit, kommunikativ wirksame Worte zu finden, die unser aller Rechenschaftsgabe aussprechen, was die Philosophen in ihre Not und in Verruf bringt. Was also ist es, das uns etwas so bedeutsam macht, was nichts als ein sprachliches Gebilde, ein Gedicht, ist? Was ist Sprache? Nach Aristoteles, dem großen Lehrer, der er war und den auch George so genannt hat, ist es die Auszeichnung des Menschen, daß er Sprache hat. Sprache und Werkzeuggebrauch unterscheiden den Menschen von den anderen tierischen Lebewesen. Sprache aber ist rur ihn mehr als ein bloßes Werkzeug oder ein bloßes Zeichensystem zum Zwecke der Kommunikation. Wir wissen inzwischen einiges über )Tiersprachen<, wie wir das zu nennen pflegen. Wir beobachten, 4
Vgl. >MythopoiC"tische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien •• in diesem Band.
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ohne es zu verstehen, daß die Delphine eigene Mittel der Kommunikation haben. Wir wissen etwas über die Sprache der Bienen. Auch der Morsetelegraph ist ein Kommunikationsmittel und sonst nichts. Aber die Möglichkeit, die die Sprache rur uns Menschen darstellt und die wir alle wahrnehmen, geht über die eines Werkzeugs und eines Gebrauchs von We::kzeugen hinaus. Sprache bedeutet Gedächtnis. Mnemosyne aber ist die Mutter aller Musen, die Spenderin der Kunst. Kunst. ob Bild. ob Wort, ob Klang, ob Sang, was immer ihr Ursprung war oder ihre heutige gesellschaftliche Funktion sein mag, bedeutet letzten Endes eine Weise der Selbstbegegnung. in der wir unser selbst eingedenk werden. Im Wort wie im Bild, in der Felszeichnung wie im frühesten Gesang, und ebenso noch in der verfeinerten und vermittelten Gestaltung später Literatur, ist die Welt als ganze, ist das Ganze unserer Welterfahrung präsent geworden. Noch die stummsten Gestaltungen unserer ein brütendes Schweigen ausströmenden modemen Bilder rufen das »Das bist du!« in uns herauf. Solche Erfahrung des Ganzen, in der wir uns selbst begegnen, bewegt sich auf dem Wege über ständige Neuerweckung des Widerhalls der Kunst. In ihr liegt unsere eigentliche menschliche Auszeichnung. Philosophen reden, indem sie die alte platonische Weisheit von menschlicher >Unsterblichkeit<, an die ich erinnerte, in Begriffe umsetzen, von der menschlichen Grundsituation der Endlichkeit. Diese Endlichkeit durchformt uns so ganz, weil es unsere Auszeichnung ist. darum zu wissen. Sie macht unsere wesenhafte Zukünftigkeit ,aus. Wir leben, indem wir uns auf unsere Zukunft richten, in Erwartung und Hoffnung. In unserem täglichen Tun und Lassen und vor allem in unserer Arbeit vollbringen wir einen beständigen Triebverzicht. Wir suchen nicht unmittelbare Triebbefriedigung, sondern wir arbeiten. Aber auf der anderen Seite b.edeutet dieses Herausgedrängtsein des Menschen aus der durch die Naturzüge gebundenen lebendigen Schöpfung eine beständige Aufgabe der Rückkehr und Einkehr. Rückkehr zu uns selber ist aber stets Rückkehr zu dem uns Zugeteilten. Rückkehr zu dem Ganzen, in dem wir sind und das wir uns sind. Das tiefste Symbolwort fur diese menschliche Uraufgabe ist vielleicht >Nomos<. Es muß einer im Fortschrittsglauben sich verlierenden Generation immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden. Nomos ist nicht nur Gesetz und durch uns gesetzte Ordnung. Nomos ist das ,Zugeteilte<, das Maß. Und es zu wissen. ist menschlich. Es anzunehmen, lehrt nicht zuletzt das Gedicht. So hat der Dichter Verwey, von George in den >Blättern< zitiert, einmal gesagt: »Nur wenn die Lebensbewegung in Worten maßvoll wird, kommt sie zu ihrer höchsten Kraft.« Von daher versteht sich - wie ich meine -, daß das dichterische ,Lesen< und Sprechen die eigentliche Erziehungsform des Meisters Stefan George im Umgang mit seinen jüngern war. Dichterisches Lesen ist mehr als ein Können oder eine Kunst. Es ist ein Lernen, sich in das Maß zu fugen,
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das Freiheit gibt. Es ist der »Christ im Tanz«. Die selbstverständliche Durchrhythmisierung, die das Lesen eines dichterischen Gebildes verlangt und vermittelt, artikuliert und ordnet nicht nur den Vortrag, den Atem des Sprechers. Es ist eine Erfahrung des Ganzen und unser selbst im Ganzen, die so erworben wird. Denn im Vers, in dem schwebenden, und wenn ich so sagen darf, in Tanzleichtigkeit sich dahin bewegenden Vers, waltet ein Insich-Ruhen. Aus allen Bezügen ist Rückkehr geschehen. Der Vers hat teil an dem Gerundeten allen Gebildes und ist wie der Kreis, jene gute Unendlichkeit, von der Hege! spricht und die er der schlechten Unendlichkeit des grenzenlosen Fortgangs und des beständigen Sich-seIbst-Überschreitens entgegenstellt. Sie ist das Ganze. Indem der Vers und die Kunst ihrerseits solch Ganzes sind, nehmen sie uns in sich auf. Sie sind, wiederum philosophisch gesagt, Reflexion in sich. Wir seIbst sind von dem Ganzen, das wir sind und das in uns ist, umfangen, aber nicht so umfangen, daß es als das Ganze auch filr uns da wäre. Uns begegnet es vielmehr als das Ganze und das Große, worin alles ist, lediglich in der Einhaltung des uns Zugeteilten, des ,Nomos(, was immer er sei. Unsere Zivilisation wird das wieder lernen müssen. Aber ein Schritt auf dem Wege dieses Lernens ist das Leben im Gedicht. Es ist mehr als eine Art von Entspannungsübung in der Hast und dem Gedränge des Leistungslebens. Das Leben im Gedicht ist vielmehr eine der Weisen, in der wir das Bewegtsein in uns selbst erfahren, in dem allein ,Menschen ihre Selbsterfüllung zu finden vermögen. Unsere Erziehung wird wieder dazu kommen müssen, anzuerkennen, was innerer Besitz ist und was das Leben im Gedicht - gewiß auch, was dem Frommen das Leben im Gebet - und was für uns alle das Leben im unaussprechlichen Wort bedeutet. Es ist die Wiederentdeckung des Reichtums, den Memoria dem menschlichen Leben zu gewähren vermag. Memoria ist Bewahren - nicht äußerer Ordnungen oder Einrichtungen, sondern alles dessen, was wir sind. Bewahren ist nicht fragloses Festhalten von Bestehendem. Wir haben es am Ende doch von Plato zu lernen, daß wir ständig erneuern müssen, was uns als wahr gilt. Das Gedicht des Dichters gestattet uns keine überlegen-kritische Beurteilung. Kritik heißt gegenüber einem Gedicht, es als ein solches erkennen, es als wahr gelten lassen. Es liegt an uns, es zu bewahren. Das Bewahren ist doch wohl immer und zuletzt die eigentliche Weise, in der uns Menschen das Wahre sein kann.
22. Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft (1983)
Wer in der Wirkungsgeschichte des Dichters Stefan George steht oder gestanden hat, kann davon erzählen, wie das geistige Klima, innerhalb dessen er seine Ausbildung erhielt und zur wissenschaftlichen Arbeit heranwuchs, durch die Werke dieses Dichters mitbestimmt worden ist. Es geht also sozusagen darum, Zeugenaussagen zu sammeln. Zur Pflicht des Zeugen gehört: sagen, was er weiß, und nichts verschweigen. Wenn ich mich dieser Aufgabe widme, so frage ich als erstes, wofUr wir hier und heute Zeugnis ablegen sollen. Sicherlich nicht fUr den Dichter als Person. Ich darf sagen, daß uns das gar nicht zusteht. Wenn ich den Ausdruck des großen Antipoden von Stefan George, des berühmten Soziologen Max Weber, gebrauchen darf, würde ich sagen: Das war eine charismatische Persönlichkeit - und dann wird nur der Zeugnis ablegen können, der selber unter der persönlichen Ausstrahlung dieses Charisma gestanden hat. Unser Thema ist Stefan Georges Wirkung auf die Wissenschaft. Das ist als solches keiner Rechtfertigung bedürftig. Daß hier ein Dichter auf die Wissenschaft bestimmenden Einfluß gewann, ist eine unleugbare Tatsache und eine seltene. Das gleiche werden wir vielleicht von Goethe sagen dürfen, vielleicht auch von Rousseau, falls wir ihn hier im weiteren Sinne als einen Dichter auffassen wollen. Vor allen anderen aber ist es Homer, für den das wahrhaft gilt. Er hat ein Werk der Dichtung geschaffen, dessen Sprache das Denken und die Wissenschaft inspiriert hat. Er stellt innerhalb unserer abendländischen Geschichte einen unwiederholbaren Vorgang dar, der höchstens mit den Bibelübersetzungen, der Vulgata und der Luther-Bibel, verglichen werden kann. Etwas davon scheint mir nun auch für den Dichter Stefan George zu gelten, der in der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert ein schmales dichterisches Werk geschaffen hat. Sein Wort und dessen Sprache hat im Leben der Wissenschaft eine unverkennbare Spur hinterlassen. Das ist mein heutiges Thema. Damit ist zugleich gesagt, daß es sich in meiner Darstellung nicht um die Einwirkung des Kreises um Stefan George durch seinen Eintritt in das Universitätsleben handelt. Das wäre gewiß auch ein sehr interessantes Thema. Es sind zahlreiche Namen, die da zu nennen wären. Da wäre zunächst daran zu erinnern, daß es in Heidelberg mit
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Gundolf begann, dem dann Bertram und zahlreiche andere Freunde Stefan Georges folgten, indem sie Universitätsprofessoren wurden. Aber man sollte das nicht als ein Bekenntnis zur Wissenschaft verstehen. Man sollte sich vielmehr erinnern, was George selber darüber gedacht und gesagt hat. Er hat ausdrücklich davor gewarnt, daß ein Dichter sich von dem Erfolg seiner dichterischen Arbeiten abhängig mache - statt sich eine Existenzgrundlage zu schaffen. Wenn zahlreiche unter den Freunden Georges den Weg zur Universität gefunden haben, haben sie damit mehr oder weniger den Weisungen des Dichters selber gehorcht. Ein Bekenntnis Georges zur Wissenschaft war das nicht. Wir wollen es nicht beschönigen, daß der Eintritt in die Universität mehr oder weniger als Broterwerb gemeint war. Das ist mit allem Respekt vor diesem Verhalten gesagt. Ich darf vielleicht ein äußeres Zeichen anführen. In dem veröffentlichten Briefwechsd zwischen George und Gundolf fällt auf. daß George seinen jungen Freund, auch als er längst Professor war, »lieber Dichter« anzureden pflegte. So entschieden bestand er sdbst gegenüber dem Forscher und akademischen Lehrer darauf. daß das, was sie eigentlich verbinde, nicht die Wissenschaft sei, sondern die Kunst. Es kann kein Zweifel sein, das Thema ,Stefan George und die Wissenschaft< hat etwas Paradoxes. George pflegte das Wort »Analyse« polemisch zu gebrauchen. Wenn man das Fremdwort vermeiden wollte, könnte man, wie Dilthey das tat, »Zergliederung« dafür sagen. George aber übersetzte es als »Auflösung«. Das, was da aufgelöst wird, ist die lebendige Substanz, d. h. aber das, was über das Wissen des einzdnen hinaus alle, ein Volk und die Menschen, verbindet. Ich will also den Einfluß und die Wirkung, die Stefan George auf die Wissenschaft gehabt hat, nicht in dem Sinne zum Thema machen, daß man die bedeutenden Beiträge würdigte, die die engeren Freunde Georges innerhalb der Wissenschaft geleistet haben und die später zum Teil in einer Schriftenreihe zusammengefaßt wurden. die den bezeichnenden Titel trug: ,Bücher der Schau und Forschung<. Um die Frage, die ich im Auge habe, anschaulich zu machen, möchte ich wie ein Zeuge schildern, wie Stefan George in meiner Studienzeit wirksam geworden ist. Ein Zeuge hat zu sagen, was er selbst gesehen hat, und so darf ich kurz berichten. wie ich zu diesem Dichter kam und wie sich das im Laufe der eigenen wissenschaftlichen Entwicklung auswirkte. Es handelte sich dabei um eine indirekte Zugehörigkeit zu Werk und Wirken des Dichters. und das scheint mir in meiner Generation und erst recht auch bei weit· jüngeren sehr verbreitet. Als Sohn eines Naturforschers fand ich in meinem Elternhause nicht sehr viele Anregungen für solche Dinge. Weil ich mich für Lyrik interessierte, wovon mein Vater nichts hielt, der eigentlich aus mir einen Naturforscher zu machen hoffte. kaufte ich mir eines Tages als Gymnasiast von meinem
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Taschengeld eine Anthologie der neueren deutschen Lyrik von Benzmann, die bei Rec1am herausgekommen war. Dort fand ich in der Einleitung mit Bedauern ausgesprochen, daß der Dichter Stefan George die Aufnahme in diese Anthologie verweigert habe - und wie man das so macht (die Juristen wissen davon ein Lied zu singen), brachte daraufhin die Einleitung des Herausgebers zwei Gedichte Stefan Georges als Zitat. Sie sind mir beide unvergeßlich. Ich wurde wie von einem Schlage gerührt und wußte nicht, wie mir geschah. Jedenfalls war es etwas ganz anderes, als ich bisher in meinem Umgang und mit meiner Liebe zu Gedichten erfahren hatte. Als ich' dann nach Marburg kam, geriet ich in Kreise, die mich weiter einfUhren konnten. Da war mein engster Freund, Oskar Schürer. der selbst zu der Aufbruchsgeneration der expressionistischen Lyrik im Kurt-WolffVerlag gehört hatte und unter dem Eindruck des Spätwerks Georges eine neue Formstrenge in seine dichterischen Versuche brachte. (Er wurde später Kunsthistoriker und ist bereits 1949 gestorben.) Dazu kam die Begegnung mit Ernst Robert Curtius, der mir zum ersten Male George-Gedichte in der Art vortrug, in der man sie mit dem Dichter zu lesen pflegte - ich selber hatte sie etwas verhaltener gelesen. aber. wie ich hoffe, rhythmisch richtig. Vor. allem aber war Friedrich Wolters als Professor der Wirtschaftsgeschichte nach Marburg gekommen. Wolters war ein Mann, dessen Bedeutung für die Organisation des Kreises nach dem Muster eines Staates im Staate kaum zu überschätzen ist - und der deshalb auch im Kreise selbst seine entschiedenen Gegner hatte. Er war ein Lieblingsschüler von Gustav Schmoll er gewesen, aber er war kein überzeugender wissenschaftlicher Lehrer. Ich habe eine wirtschaftsgeschichtliehe Vorlesung gehört, die mit einem etwas unangemessenen rhetorischen Pathos sehr nüchterne Dinge ohne überzeugende Suggestion vortrug. Anders war schon die Art. wie er sein Seminar leitete. Da spürte man etwas von der Erzieherhand und dem Blick für junge Leute und die Weise, wie man sie anzuleiten hat. Dagegen war eine öffentliche Vorlesung über den deutschen Menschen des 19. Jahrhunderts eine enorme Provokation. In ihr trug er mit starkem rhetorischem Pathos eine Summe der Kulturkritik vor, die im George-Kreis und vor allem auch durch George selbst mit Radikalität vertreten wurde. Die Vorlesung reizte uns durch die einseitige Haltung, in der hier geurteilt und verurteilt wurde. Das dogmatische Auftreten des Mannes übertrug sich auch auf seine Anhänger und bewirkte zwischen mir und denen, mit denen ich freundschaftlich umging, allerhand Spannungen. Trotzdem ist es nicht so gewesen, daß diese aufreizende Herausforderung nicht auch in ihrer Substanz etwas spüren ließ, das man nicht ignorieren konnte. Irgend etwas von dem )Extra ecc1esiam nulla salus( sprach daraus, und bei aller kritischen Zurückhaltung gegenüber solcher Esoterik mußte man sich doch fragen, ob da nicht etwas Wahres daran war - und etwas, was
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uns anderen abging. War es nicht im Grunde wahr, daß man nicht als einzelner, sondern nur von einem gemeinsamen Geiste getragen die Antworten des gemeinsamen Geistes vernehmen kann? Es sollte gerade diese »Lehre« sein, deren Bedeutung für die Arbeit in den Geisteswissenschaften sich von meinen eigenen Erfahrungen aus zur Geltung brachte. Wie überall in diesen Jahren war damals auch in Marburg ein Wandel deutlich zu spüren, der insbesondere die Wissenschafts gesinnung betraf und ein reflektierteres Verhältnis zur Wissenschaft heraufführte. Insofern erschien uns die Philippika eines Wolters manchmal geradezu trivial: Wir standen schon ganz woanders. Ein besonders deutliches Symptom war das veränderte Verhältnis zu den Griechen, deren ureigenste Schöpfung, die Polis, in diesen Jahren zerbrochener Staatsgesinnung wie ein Vorbild gemeinsamen Geistes wirkte. Die junge Generation der klassischen Philologen, die sich damals gegen ihren überlegenen Meister Wilamowitz zu profilieren begann, berief sich im allgemeinen auf den Einfluß, den Nietzsche auf sie gewann - wohl weniger wegen seiner Kritik am klassizistischen Stil des degenerierenden SchulHumanismus. Darüber hätten sie in dem robusten Realismus eines Wilamowitz kaum ein Beispiel sehen können. Wohl aber vollzogen sie selber eine neue Wiederzuwendung zu den großen griechischen Klassikern, weil »die Philologie über der Mikroskopie des Einzelnen und dem Aufsuchen von Beziehungen (beides sind gewiß wichtige Dinge) arg versäumt hat, nach dem Ganzen eines )Werkes<, einer )Gestalt< zu fragen«. Ich zitiere hier aus einem 1980 erstmals publizierten Brief von Paul Friedländer an Wilamowitz vom 4. Juli 1921 aus Marburg. Hier werden Namen genannt, die die neue Wendung brachten: »Nietzsche, der seit meiner Jugend allmählich in mich eindringend meinen Gesamtblick auf das Leben bestimmte, dann im besonderen meine Ansicht vom ,Historischen< formen half. Dann Wölfflin und hinter ihm Burckhardt, die eine ganz neue in der Philologie mir nicht gebotene Forderung an das Begreifen eines ,Werkes< stellten und in der bildenden Kunst die Erfüllung wiesen. Es sind noch andere verwandelnde Kräfte zu nennen, im allgemeinen die ,Philosophie< und in den letztenjahren ist es George, der die größte Erschütterung und die stärkste Umlagerung aller Kräfte gebracht hat.« Friedländer erarbeitete sich damals einen neuen Zugang zu Plato. Ihm folgten Friedrich Klingner, der damals bei ihm promoviert wurde, und Georg Rohde, beides Assistenten am Marburger Seminar. Ich selber bin ganz von der Peripherie aus auch bei diesem Meister der szenisch-dialogischen Plato-Interpretation in die Schule gegangen. - Nicht weit von Marburg war auch Frankfurt. Dort waren Kar! Reinhardt und Walter F. Otto, dort war Kurt Riezler, der Kurator der Frankfurter Universität, der zugleich ein leidenschaftlicher Platoniker war und mit dem man deswegen auch vom
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eigenen Fachinteresse aus einen unmittelbaren und freundschaftlichen Kontakt hatte. Daß damals die Dichtung Stefan Georges überall in einer jungen Generation in steigendem Maße aufgenommen wurde. zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß Stefan Geor~e als erster Preisträger den GoethePreis der Stadt Frankfurt erhielt 1 • Ja, und dann kam Max KommereIl nach Frankfurt und sammelte um sich seine Freunde2. Immerhin soIlte ich zweierlei von mir aus bemerken: Das eine ist die Vorbereitung, die wir alle durch die Wiederentdeckung des Spät werkes von Hölderlin erfahren hatten. Das hatten wir alle HeIlingrath zu verdanken, aber das ging auch auf Georges Teilnahme an He1lingraths Forschung zurück3 - und auf die dichterische Erweckung des Sinnes frlr die harten Fügungen Pindars im späten Hölderlin. Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ist wesentlich dadurch mitbestimmt worden, daß sich neben die Großen Goethe und Schiller damals in der Werttafe1 der deutschen Klassik Friedrich Hölderlin als Ebenbürtiger seinen Platz erwarb. Schließlich gehört in diesen Zusammenhang noch ein Hinweis, nämlich daß - wohl VOr allem über Max KommereIl - schließlich auch mein eigener Lehrer, Martin Heidegger, mit Georges Dichtup.g immer stärker vertraut wurde. Hier möchte ich sogar eine gewisse Priorität in Anspruch nehmen. Schon im Jahre 1923, als ich auf Einladung von Heidegger auf seiner Hütte in Todtnauberg den Herbst der Inflation überlebte, habe ich in sein Gästebuch geschrieben: »Der wind der weiten zärtlich um uns braust. « Die Wende des Stils der geisteswissenschaftlichen Forschung war in diesem Jahrzehnt aIlgemein, und die Wirkung Stefan Georges und seiller Freunde wurde immer deutlicher, auch wenn und gerade wenn sie zJm Widerstand herausforderte. Das hat sich gewiß nicht auf die Geisteswissenschaften beschränkt. Es gab auch Naturforscher, und vor allem unter den Jüngeren solche, die am Werk des Dichters tiefen Anteil nahmen. auch wenn sie nicht alle außer ihrem persönlichen Gewinn auch noch etwas rur ihre eigene Arbeitsweise von da empfingen. Es ist etwas Ahnliches wie im Falle Goethes. Auch bei George fand die morphologische Betrachtungsweise so etwas wie eine neue Legitimation. Das wirkte sich sowohl in der Chemie, Mineralogie und Geologie, aber auch in der Biologie und Medizin deutlich aus. Der Begriff des »mechanistischen Den1 Vgl. dazu den Beitrag von ERWIN WALTER PALM auf dem George-Kolloquium der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, vom 3. Dezember 1983. Gedruckt in: H.-]. ZIMMERMANN (Hrsg.), Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Heidelberg 1985, S. 73-76. 2 Dazu ARTIlUR HENKEL in seinem Vortrag ,Max Kommerell (1902-1944)(. Ebenfalls jetzt in: H.-]. ZIMMERMANN (Hrsg.), a.a. 0., S. 51-59. 3 Siehe dazu auch 'Hölderlin und George(, in diesem Band, S. 230ff.
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kens« wurde damals gerade Mode. Ihm stand das gestalthafte Sehen entgegen, das innerhalb des George-Kreises besonders gepflegt wurde. Mit dem Wort »Gestalt« ist das Stichwort gefallen, unter dem sich ein neuer Stil der Forschung durchsetzte und in der Wissenschaftsgeschichte unter dem Namen der »Gestaltbiographie« Eingang fand. Von Freunden Georges entstanden Bücher über Nietzsehe und Goethe, über Raffael und Winckelmann usw. Daß Werk und Wirken solcher Männer nicht als eine Folge von Erlebnissen und aus einer Summe geschichtlicher Einflüsse erklärt werden darf, sondern vor allem als eine in sich beruhende und zu bleibender Einheit geschlossene Gestalt gesehen werden muß, war allen gemeinsam. Daß dabei die Maßstäbe kritischer Methode und wissenschaftlicher Vorsicht in den Hintergrund traten und wohl auch öfters geradezu verle"tzt wurden, liegt auf der Hand. Der Anspruch war ein anderer. Man denke an den Begriff des Mythos, der durch Bertram und manche andere in die Wissenschaft eingefiihrt wurde und dort einen neuen Sinn gewann. Mythos ist ja etwas, auf das man zu hören hat und dem man nicht mit erklärenden Mitteln gerecht wird, sondern nur als ein Horchender und gehorchend4 • All daß hinterließ im Stil der Forschung seine Spuren. Das zweite Wort, das George selber ganz in den Vordergrund gestellt hat, war »die Kunst« - in jenem doppelten Sinne der Dichtung und einer über das Dichterische noch hinausgehenden weiteren Bedeutung von .Kunstc. Hier wäre eine Bemerkung zu machen, die ich innerhalb der George-Deutungen immer ungenügend berücksichtigt fmde. Man spricht dort sehr viel von dem Visuellen, von der Gesichtigkeit der Anschauung, die das Eigentliche an Georges Dichtung sei, und es ist gewiß wahr, daß die neue Formgesinnung dieser Dichtung in vielen Bereichen - so in der Archäologie und in der Kunstgeschichte - zu produktiver Wirkung kam. Trotzdem beruht nach meiner Überzeugung die Georgesche Dichtung nicht primär auf der Kraft ihrer Anschaulichkeit, sondern ganz im Gegenteil auf dem sprachlich-musikalischen Aspekt einer neuen Klangwirklichkeit von geradezu magischer Ausstrahlung. Das wird in meinen Überlegungen noch eine Rolle spielen. Schließlich ist der Begriff des» Vorbildes« und der Vorbilder von George neu zu Ehren gebracht und einer fortschritts trunkenen Epoche entgegengestellt worden. Fragen wir nun nach den Gründen, aus denen eine Haltung. die der bisherigen Wissenschaftsgesinnung so herausfordernd entgegentrat, einer Generationjunger Forscher nicht nur Anregung und Förderung bedeutete, sondern ihr geradezu eine dauernde Prägung verliehen hat. Da ist zunächst die Sonderart der Georgeschen Dichtung. Daß sie etwas 4
Ausflihrlicher zum Begriff des Mythos siehe in Bd.8 der Ges. Werke die dorr
ges3~me1ten Beiträge zum Thema .M ythos und Logos. und .Mythos und Vernunft.,
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anderes war als der gewohnte Empfindungsausdruck, den ein, lyrisches Gemüt im Zeitalter der Psychologisierung von Gedichten kannte, war, wie ich beschrieb, von der ersten Begegnung an flihlbar. Diese Kunst stand der Kunstgesinnung jener »Wirklichkeits kunst«, wie George den Realismus polemisch nannte, ebenso fremd gegenüber wie der »Eindruckskunst« (dem Impressionismus) und sprach irgendwie das Empfinden und das Verlangen einer Generation aus, die nach einer neuen Gemeinsamkeit suchte, die über die Vereinzelung hinausfUhren konnte. Heute würde ich von der Dichtung Georges sagen, daß hier das Ich, das »ich« sagt, nicht mehr das Ich ist, das den unmittelbaren Ausdruck seines Erlebens zur Sprache bringt, weder das des Dichters noch das des einzelnen Lesers. Es hat mich daher erstaunt - und ich sage das mit einigem Nachdruck -, daß manche der Freunde Georges die Ferne vergessen zu haben scheinen, in der sich George selber zu aller solchen Kunstauffassung befand, die in ihren Deutungen immer wieder aufPersönliches und Biographisches zuging. Dabei hat George selber in seiner Vorrede zum >Jahr der Seele< es deutlich ausgesprochen. Er warnt ausdrücklich davor zu fragen, was da alles an biographischen Anregungen und realen Gelegenheiten dahinterstand: »Und selten sind sosehr wie in diesem buch ich und du die selbe seele.« Er mag Anlaß zur Warnung gehabt haben. Der mächtige Lebenseindruck, den seine Person auf die Menschen, die ihm nahestanden, machte, scheint so gewaltig gewesen zu sein, daß die Deuter seines Werkes in ihren Erläuterungen gegen ihr eigenes besseres Wissen handelten. Mancher mag auch sagen, daß mindestens .Der Stern des Bundes< nicht mehr so gelesen werden könne wie die früheren Bände. Er scheint mehr wie eine Grundungsurkunde eines Bundes konzipiert zu sein. Doch ist auch dort und überall eine Präsenz des Dichterischen, die keiner Hinterfragung bedarf und sie im Grunde nicht einmal zuläßt. Gewiß bedeutet das nicht, daß die Wissenschaft etwa kein Recht dazu hätte, solche Fragen biographisch-historischer Art an diese Dichtung zu richten. Aber die Erfahrung der Dichtung selber hüllt alles wieder in ihre eigene Gegenwart ein. Wer hier »ich« sagt, ist nicht dieser einzelne. Hier wird ein Zusammenhang sichtbar, der der gesamten Entwicklung der Geisteswissenschaften von einer anderen Seite her eine bestimmende Prägung gegeben hat. Ich meine Wilhelm Dilthey und seine kritische Haltung gegenüber der reinen Auflösung historischer Forschung in Ursachenforschung. Wilhelm Dilthey war der Mann, der das Erbe des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik neu umsetzte und den Begriff des Strukturzusammenhangs und Wirkungszusammenhangs in die Theorie der Geisteswissenschaften eingeflihrt hat. Er brachte damit eine neue Kategorie oder Kategorienlehre gegenüber der reinen Ursachenforschung zur Geltung. Es scheint mir kein Zufall, daß George eine freundschaftliche und bewundernde Beziehung zu Dilthey gepflegt hat. Dilthey hat in seinem
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Alter den jungen Dichter gelegentlich zu sich gebeten und sich von ihm seine Gedichte vorlesen lassen. Offenbar hatte er das Ohr für diesen neuen Klang. Es entsprach das gewiß seinem in diesen Jahren steigenden Interesse an Hegel und an den Objektivationen des Lebens, daß der Autor von >Das Erlebnis und die Dichtung< für diesen neuen Klang empfänglich war. Er hat selbst den Zusammenhang von Erlebnis und Dichtung nicht im Sinne der Dokumentation biographischer und historischer Fakten verstanden, sondern als wirkliche Verwandlung in - Kunst. In voller Ausdrücklichkeit hatte diesen neuen Ton der Georgeschen Dichtung Georg Simmel bereits in den neunziger Jahren begriffen, als >Das Jahr der. Seele< und >Der Teppich des Lebens< erschienen, und hat an diese Wende einsichtsvolle kunstphilosophische Betrachtungen geknüpft. Simmel hat in diesen Studien gezeigt, daß das Kunstwerk ein idealer Brennpunkt ist, und näher ausgeführt, wieso es sich um ein objektives Ich handelt. Darin sind ihm auch andere gefolgt, so insbesondere Margarete Susman, und ebenso scheint mir der Heidelberger Lukäcs von da inspiriert. Man bewundert Simmels Scharfblick: »Obgleich nun in Wirklichkeit die Lyrik aller großen Dichter sich mindestens auf dem Wege von dem primären, sozusagen naturalistischen Gefühl zu dem objektiven, von der Vergewaltigung durch den primitiven Impuls erlösten befindet, so scheint mir, seit dem späteren Goethe. doch erst in der Lyrik Stefan Georges diese Fundamentierung auf das Ober-Subjektive des Gefühls ... zum unzweideutigen Prinzip der Kunst geworden.« Das ist kein schönes Deutsch, gewiß. Aber Simmel hat an dieser Dichtweise begriffen, daß die Form bei George selbst der Inhalt ist. Simmel hat die Dinge freilich bis zum Extrem zugespitzt, wenn er sagt: »Nicht irgendein Inhalt soll in poetischer Form vorgetragen werden, sondern ein poetisches Kunstwerk soll geschaffen werden, für das der Inhalt keine andere Bedeutung hat, als der Marmor für die Statue.« Was er meint. ist, daß so, wie das Material im fertigen Werk nur gegenwärtig bleibt, um die Dichte der Form wirklich möglich zu machen, so auch der Inhalt der Dichtung gegenüber der Form keine selbständige Bedeutung für sich beansprucht. Das ist wahr. Aber es bedeutet auch umgekehrt, daß durch die Form der >Inhalt< so etwas wie eine neue Legitimation empfängt. Ich habe selber in späteren Arbeiten in dieser Richtung Weiteres herauszuarbeiten versucht, als ich über das Thema >Der Vers und das Ganze< eine Gedenkrede auf George gehalten habes, und seit langem beschäftigt mich das sachliche Problem, daß in der Dichtung die Sprache nicht nur Sinnträger ist, so daß man aus ihr etwas entnimmt wie eine Information, sondern auch das ist, worein man eingeht und worin man sozusagen wohnt. Sprache kann wie ein Ritual sein, und ganz gewiß ist es die Dichtung. Da wird nichts zur 5
Jetzt in diesem Band. S. 249ff.
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Kenntnis genommen, sondern die Dichtung nimmt einen ganz ein. Man darf auch an die Sprache der Religion denken und an das falsche protestantische Vorurteil, wenn etwa katholische Gebetsriten deshalb kritisiert werden, weil, etwa beim Rosenkranzbeten. das gar nicht gedacht und verstanden werde. was in der Sprache gesagt ist. Nicht nur um George zu verstehen. sondern um die Sache zu verstehen. die in dem Rätsel der Sprache liegt, muß man erkennen, daß die Sprache noch eine andere Funktion hat als nur die übermittlung von Gedanken. Das Wort ist noch anders ein Sinnträger. Und doch soll es etwas sagen und kann sich versagen. Ge.orge hat selbst dem Geheimnis des Wortes in seinen Gedichten wiederhoit Sprache verliehen, das auch für den Dichter unbeherrschbar bleibt. Das Wort gewährt sich und das Wort versagt sich. Das Wort. das immer nur ein Gemeinsames sein kann, fuhrt das Regiment. Georges meisterliche Oberherrlichkeit hat sich - anders als manche seiner Deuter - die schicksalhafte Grenze eingestanden. die das Amt des Dichters zu einem Leiden macht. »Kein ding sei wo das wort gebricht. II Den tiefsten Ausdruck solcher Grenzerfahrung hat der Dichter in einem Gedicht gefunden. das leider von den Interpreten immer weggedeutet wird. weil es in ihr Bild von dem »Meister« nicht paßt6 : Horch was die dumpfe erde spricht: Du frei wie vogel oder fisch Worin du hängst· das weisst du nicht. [... ]
Man wird hinter die Philosophie der Neuzeit und die Sprache der Metaphysik, die ganz auf Bewußtsein und Sdbstbewußtsein gegründet sind, zurückgehen müssen, wenn man diese Erfahrung als eine fundamentale menschliche Erfahrung einsehen will und der Aussage gerecht werden will, die das Werk der Dichtung für uns darstellt. Wir haben nicht nur in der Philosophie, sondern in vielen Wissenschaften etwas davon gele01t, daß Sprache weit über die jeweiligen subjektiven Möglichkeiten ihres Sinnvollzuges hinaus ragt und etwas von der Gemeinsamkeit eines Atems hat, der uns alle beseelt. Der zweite Punkt, den ich erörtern möchte, betrifft die Warnungen, die Nietzsche in der zweiten der >Unzeitgemäßen Betrachtungen< ausgesprochen bat. als er über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben reflektierte. Da war es vor allem die Rolle. die die monumentale Historie für die Kritik an einem abgeblaßten und sekundären Begriff der Objektivität spielt. die in George und seinen Freunden eine neue Aufnahme fand. 6 Vgl. die Interpretation dieses Gedichts aus dem >Neuen Reich. (.Das Lied«) in den ersten beiden George-Aufsätzen dieses Bandes, S. 227f. u. 243f.
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Es sind zwei Begriffe, die wir hier genauer ins Auge fassen müssen. Das eine ist der Begriff des historischen Sinnes und das zweite der Begriff des Vorbildes. . Der Begriff des historischen Sinnes wird in unserer Sprache und in unserem Denken in einem doppelten' Sinne gebraucht. Im George-Kreis wie auch bei Nietzsche bedeutet der Ausdruck zunächst das, was wir heute mit dem Begriff )Historismus< verbinden, und schließt die vollständige Einebnung aller Geltungsansprüche der Vergangenheit und der Überlieferung ein. )Historischer Sinn< bedeutet in dieser Richtung eine bloße Entgrenzung des eigenen Lebens und der Gegenwart, in der wir selbst stehen, in. die grenzenlos sich öffnende Dimension der Vergangenheit hinein. Im SichEinlassen auf ihre wechselnden Werttafeln kommt damit die Ausweitung des Lebens seiner Auflösung nahe. - Historischer Sinn ist eben vor allem der Blick für das Einmalige in aller Überlieferung. Diesen Blick zu schärfen und der eilfertigen Anpassung an das Erwartete und selbstverständlich Scheinende zu widerstehen, das verlangt historischen Sinn. Dadurch wird das Vergangene sprechend, daß es als die jeweilige Gegenstimme gehört wird, ob diese nun ein Text oder ein Monument oder was immer ist. Historischer Sinn ist dann eine Art von innerer Sensibilität für das, was über unseren eigenen Horizont hinausgeht und was gerade dadurch als eine eigene Stimme in unser Gespräch mit uns seIbst hineinspricht. Ich habe für diese Wirksamkeit des historischen Sinnes in der Aneignung der überlieferung den Begriff der Horizontverschmelzung eingeführt. Aufs engste hängt damit der Begriff des Vorbildes zusammen. Nietzsche hat breit ausgeführt, welcher Gewinn und welche Gefahr im Suchen und Wählen von Vorbildern liegt. Jeder wird das an den Werken der Forscher innerhalb des Kreises um Stefan George empfinden. Man kann da von einer seltsamen Familienähnlichkeit reden, die die großen Gestalten aufweisen, denen diese Forschung gewidmet ist, ob es sich da um Plato oder Dante handelt, um Winckelmann oder Raffael, um Napoleon oder Friedrich Il. und wie die ganze Reihe der Vorbilder lauten mag. Hier besteht ohne Zweifel die Gefahr gewaltsamer Anpassung und Unterordnung unter ein paradigmatisches Vorbild, das für alle diese Männer der Dichter Stefan George selbst war. Das Positive sollte man hier nicht verkennen, daß gerade auch. echte Erkenntnis auf diese Weise möglich wird und die solideste Quellenarbeit durchaus nicht ausgeschlossen ist. So ist ein Fall bekannt, die Biographie Friedrichs II. durch Kantorov.-icz. Da hat man die Kompetenz des Forschers angezweifelt, der diesen Stauferkaiser mit antiken Zügen im Sinne Stefan Georges ausgestattet hatte. Man hat die Belege aus der Überlieferung vermißt, und da hat der Verfasser einen zweiten Band - man kann nur sageri: nachgeschmettert -, an dem sich zeigte, wie solide und substantiell die Basis für seine Aussagen gewesen war. Vielleicht kann man sogar sagen,
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daß die ungewöhnliche Figur des Staufers dem geheimen Vorbild des Historikers in diesem Falle wirklich besonders ähnlich war. Im Falle Platos etwa konnte mir die Stilisierung auf den fast priesterlichen Meister und Kultstifter weniger einleuchten. Injedem Fall aber steckt ein tieferes philosophisches Problem in der Rolle des Vorqildes für die Geschichtsschreibung: das dialektische Verhältnis des Allgemeinen und des Einzelnen. Immer geht es darum, wie das Allgemeine im Einzelnen erscheint und wie sehr sich das Allgemeine dadurch bestimmt, daß es nur im Einzelnen oder in einer Vielzahl von Einzelnem seine wahre Wirklichkeit hat. Das nennt man eine Aufgabe der Urteilskraft, das Allgemeine im Konkreten zu erkennen und von da aus seine Bedeutung selbst zu ermessen. Hier muß man auch an Gundolfs Reflexionen über den Begriff der Auswahl denken. Von der Arbeit des Historikers ist das Recht der Auswahl und die Verantwortung rur die Auswahl unabtrennbar, auch wenn dieses Prinzip nicht immer mit vollem methodischen Bewußtsein gehandhabt wird. Nicht das große Gedächtnis allein macht den Historiker, sondern ebenso die Kraft des Auswählens, durch die erst das» Wie es eigentlich gewesen ist«, vielsagend wird. Die Gestaltbiographien des George-Kreises zeichnen sich durch bewußte Annalune des Prinzips der Vorbildnahme aus. Dabei wird man die jeweilige Annäherung an das geltende Vorbild verschieden bewerten müssen und wird vielleicht sagen dürfen:Je schwerer es sich einer macht, das ihn leitende Vorbild in der überlieferung wiederzuerkennen, desto reicher wird der Erkenntnisertrag. Als letzten Punkt möchte ich einen Fall beleuchten, ft.ir den ich wohl selbst am meisten Sacheinsicht habe: das neue Plato-Bild (was man damals so nannte). Es ist kein Zweifel, daß der George-Kreis in der Plato-Forschung eine sichtbare Spur hinterlassen hat. Das Plato-Werk Paul Friedländers, von Rede war, oder Karl Reinhardts hinreißendes kleines Buch dem schon über Platos Mythen 7 zeigen das deutlich. Aber es ist erstaunlich, daß selbst Männer, die gar keine Philologen waren, wie Friedemann, Singer und Hildebrandt, hier gutes Neues zur Geltung gebracht haben. Stefan George selbst scheint erst am Ende seiner großen dichterischen Schaffens periode, also erst um 1910, in das Werk Platos tiefer eingedrungen zu sein. Kurt Hildebrandt hat damals eine übersetzung des >Symposion( herausgebracht und in intensiver Zusammenarbeit mit George selbst ein großes Plato-Werk vorbereitet, das 1932 vollendet wurde und Anfang 1933 erschien8 • Es ver-
die
7 KAn RmNHARDT, Platons Mythen. Bonn 1927. Jetzt auch in: Vermächtnis der Antike. Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung, hrsg. v. eARL BECKER. Göttingen 1960, S. 219-295. 8 KURT HlLDURANDT, Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht. Ber/in 1933. Vgl. dazu meine Rezension inder DLZ von 1935 (jetzt in Bd. 5 der Ges. Werke, S. 331-338).
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leugnet die Schwächen seiner Zugangsweise nicht, zeigt aber auch die Stärke. Die eigene Erfahrung im Verhältnis von Meister und Jünger und die Teilhabe an der bildenden Wirksamkeit des Dichters an seinen jungen Freunden hat ihm eine Wiedererkennung von vielem ermöglicht, das in den Platonischen Dialogen bedeutsam ist. Hildebrandt hat mir einmal erzählt, wie er im Freundeskreis ein Kapitel seines Buches vortrug und jemand skeptisch sagte: "Ja, ob's aber auch wahr ist«, und daß George darauf gesagt habe: »Ob's wahr ist? - Ihr sollt es halt wahrscheinlich machen. « Diese Bemerkung wurde von Hildebrandt und seinen Freunden ganz positiv aufgefaßt, und gewiß wollte George damit nicht sagen, daß man Beliebiges wahrscheinlich machen darf, wenn es nur den eigenen Zielen und Interessen und Wertungen el;1tspricht. Er meinte vielmehr, daß man über das, was sich durch rein kritisch-methodische Feststellungen sichern läßt, immer hinausgehen muß. Das scheint mir nun fürjede geisteswissenschaftliche Forschung ein richtiges Prinzip. Vermutlich gilt es in dem gesamten Bereich dessen, was wir aus der Rhetorik als das Kapitel )De inventione. kennen. Daß man auf etwas kommt, ist nie etwas, was schon gesichert ist, und selten so, daß man es unbezweifelbar beweisen kann. Gewiß brachten George und seine Freunde - aber auch ein Forscher wie Friedländer - den rechten Sinn fur das auf, was in den Erziehungsgesprächen des Sokrates mit seinen Partnern geschieht. Das ist kein Asthetizismus, dieser Seite der Dialoge Aufmerksamkeit zu schenken. Es ist eine Bedingung für das rechte Verständnis der Gedanken selbst. Denn es besteht ein innerer Zusammenhang zwischen dem. was einer denkt, und dem, was einer ist. Die sokratisch-platonische Dialog-Logik ist auf dieser dorischen Harmonie. dieser Harmonie zwischen Logos und Ergon, aufgebaut. Sie bedeutet negativ, daß nicht jeder zu jeder Einsicht fähig ist und wer einen wahren Satz bloß wiederholt, ohne ihn ganz von sich aus zu erfiillen, seine Einsichtslosigkeit dadurch beweist, daß er ihn nicht verteidigen kann. Darauf beruht die sokratische Dialektik. Sie ist eine Prüfung nicht nur von Sätzen, sondern auch von Seelen. Im Bereich der Philosophie haben wir diese Einsichten in den letzten Jahrzehnten in der sogenannten Hermeneutik und ihrer Umbildung weitgehend fruchtbar zu machen '/ersucht. Daß die wissenschaftlichen Methoden und damit die kritische Histode unentbehrlich bleiben. wußte auch Nietzsche und ist überhaupt unleugbar. Aber die Fruchtbarkeit der Forschung geht noch von etwas anderem aus, das aller Methodik vorausliegt: daß wir lernen, richtig zu fragen und von richtigen Fragen bewegt an die Quellen heranzutreten. Stets sind es Spuren von Wirklichkeiten, die uns auf das rechte Fragen kOl11men lassen. Eine Spur solcher Wirklichkeiten habe ich an dem einheitlichen Werden aufzuzeigen gesucht, das von Georges Lebensbahn bis in unsere Tage reicht. Diese Spur hat uns gezeichnet, mögen wir wie immer unsere Abstände zu den bei den Extremen bestimmen, von denen das eine etwa durch den
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großen Soziologen Max Weber gebildet wird und das andere durch den großen Dichter Stefan George, aufder einen Seite durch das Forscherideal der innerweltlichen Askese, auf der anderen Seite durch den Dichterberuf des Ivates<. Vergegenständlichung, auch wenn man es auflateinsich ausdruckt und von Objektivität redet, ist nicht der einzige Maßstab unserer Realitätserfahrung und in gewissem Sinne sogar dem nachgeordnet, was ich mit Plato ITeilhabe< nenne. Teilhabe scheint mir das Wesen der Geisteswissenschaften im besonderen auszumachen. Doch gilt es vermutlich für alles menschliche Wissen. Wir sind als endliche Wesen nie in der Lage dessen. der seine Erfahrung der Realität so besitzt, daß er seinen Gegenstand la principio<, vom Anfang an, konstruieren und seiner ganz Herr werden könnte.
23. Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins Zu dem Buch von Romano Guardini
(1955)
Daß die Dichtung Rilkes nicht nur ein Gegenstand der Literaturwissenschaft ist, sondern den heute Lebenden ein wahrhaft philosophischer Gegenstand, das heißt ein Anlaß der Selbstbesinnung und der Auseinandersetzung mit der Weltdeutung des Dichters, bedarf keiner Begründung. Ein Blick in die unübersehbare, Rilke-Literatur beweist es. Denn was aus diesen zahllosen Büchern spricht, ist kein bloßes ästhetisch-literarisches Interesse mehr. Davon macht auch das Buch von Romano Guardini keine Ausnahme l • Insofern stößt sein Anspruch, daß es Rilke erstmals ernst nehme, ins Leere. Es übertrifft allerdings an Sinn für das Dichterische und an Kunst der Auslegung das allermeiste. Aber nicht das ist der Grund, warum es eine besondere philosophische Beachtung verdient. Vielmehr nimmt es dadurch einen besonderen Rang ein, daß sein Ernstnehmen Rilkes keine stillschweigende I Obwohl es sich hier um die Kritik eines Buches handelt, ist meine Auseinandersetzung mit GUAR01NlS Rilke-Deutung alles andere als eine Gelegenheitsarbeit. In sie ist eine lange Bemühung um die Deutung der Duineser Elegien eingegangen, die bereits um 1930 einsetzte. Herausgefordert durch die Sachfeme der damals aufkommenden Interpretationen von protestantisch-theologischer Seite und immer wieder bestürzt über die Ungenauigkeit des Lcsens, von der die Rilkc-Literatur zeugte, plante ich damals einen ausführlichen Kommentar, der im akademischen Unterricht wiederholt vorgetragen wurde. In denjahren der zunehmenden Verdüsterung nach 1933 gewann neben dem späten Hölder!in der späte Rilke eine immer größere Bedeutung für die Verteidigung der inneren Freiheit. Das Gedrängte und Bedrängte seiner in freien Maßen sich auftürmenden Invokationen fand überall bereiteste Aufnahme, und langsam wuchs das Ve:ständnis dieser hermetischen Dichtung, das zugleich dem Gedanken der Philosophie diente. Es war in dieser Zeit, daß auch GUAROINIS erste Rilkc-Deutungen erschienen, eigenen Deutungen, die nicht über den Kreis des Hörsaals hinausdrangen, begegnend. Nach dem Kriege schwoll dann die Flut der philosophischen Rilkc-Deutungen immer weiter an. Aber erst Guardinis dichterisch feinfühlige und positions bewußte Gesamtdeutung der Elegien reizte mich zu zeigen, daß man immer noch genauer lesen muß und daß Guardinis theologische Kritik - im Vergleich zu der theologischen Assimilation der frühen drcißiger und der wahllosen philosophischen Assimilation der vierziger Jahre gewiß ein bedeutender Fortschritt - am Anspruch des dichterischen Werks Rilkes vorbeihört. Inzwischen haben sich die Konstellationen des Geistes deutlich geändert und Rilke wird nicht mehr wie damals gelesen, sondern ist Objekt der Literaturwissenschaft.
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Identifikation der Meinung des Interpreten mit der Meinung des Dichters voraussetzt, sondern im Gegenteil einen bewußten kritischen Abstand. Trotzdem bleibt es eine gemeinsame Voraussetzung, die Guardini mit fast aller Rilke-Interpretation teilt: daß die Rilkesche Dichtung nicht bloß ästhetisch, das heißt als ein auf Echtheit bewertbares Ausdrucksphänomen, sondern als Aussage, die etwas Wahres sagt, verstanden wird. Aber durch Guardini stellt sich das grundsätzliche Problem: Was ist Kritik an einem Dichter, die nicht das dichterische Gelingen, sondern seine Wahrheit meint? Allerdings macht Guardini diese gemeinsame und überzeugende Voraussetzung auch seiner Interpretation sogleich in der Einleitung zweideutig. Unter Berufung aufRilkes Selbstaussagen sieht er seine Dichtungen als eine religiöse Botschaft an - und will deren Legitimation daran prüfen, ob ihre Aussagen wahr seien. Beides vereinigt sich nicht einfach. Es sind doch zwei ganz verschiedene Instanzen, auf die sich Guardini beruft: der natürliche Anspruchjedes RilkeLesers, Wahrheit gesagt zu bekommen, und der besondere angebliche Anspruch Rilkes, eine religiöse Botschaft zu übermitteln. In der Tat gebraucht Rilke Beschreibungsformen seiner dichterischen Inspiration, die fast wie ein Anspruch auf religiöse Offenbarung klingen, und im Zusammenhang der Entstehung der Sonette an Orpheus sagt er sogar einmal, daß diese nicht Aufklärung forderten, sondern Unterwerfung. Für Guardini heißt das, daß sie Glauben fordern. Mir scheint es aber kein Zweifel, daß der allgemeine Wahrheitsanspruch, den Guardini auch bei Rilke mit Recht voraussetzt, nicht wirklich religiöse Autorität in Anspruch nimmt. Es ist eine Unterstellung, daß Rilkes dichterische Aussagen mit religiösem Ernst verstanden werden müßten, wenn man nicht annehmen wolle, daß Rilke zu »solchem existentiellen Ernst nicht mehr fahig gewesen sei«. Tertium non datur: religiöse Botschaft oder ästhetische Spielerei (20 ff.). Wer in Rilkes wie in aller großen Dichtung Wahrheit sucht, ohne deshalb etwa die griechische Tragödie als ein frommer Grieche und das Calder6nsche Schauspiel als ein katholischer Spanier in naiver Unmittelbarkeit erfahren zu können, wer also dichterische und nicht mit religiöser Autorität auftretende Wahrheitsaussagen sucht, sieht sich um alle Legitimation gebracht. Er wird von Guardini dem ))Relativismus der ausgehenden Neuzeit« zugerechnt:t (21). Man kann diese seltsame Überspannung des Wahrheitsinteresses bei Guardini begreifen, wenn man sich in seine Einzelinterpretationen vertieft. Denn Guardini prüft in der Tat nicht eine dichterische Aussage, wie sie als das treffende und betroffen machende Dichterwort erfahren wird, auf ihre Wahrheit, sondern er konstruiert aus der vielschichtigen Gleichnisrede des Dichters ein einheitliches System der Daseinsdeutung und >Religion<. Da Guardini als katholischer Christ dieses System an den Wahrheiten der
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christlichen Religion mißt. springt eine wichtige geschichtliche Einsicht dabei heraus. Rilke wird in den allgemeinen Säkularisationsprozeß der N euzeit eingeordnet, sofern er die religiöse Welt des Christentums und die Stoffe der Bibel nur noch als Material zu ganz eigenen Aussagen gebraucht. Man wird dem christlichen Interpreten die Frage gern zubilligen, ob die Sag kraft solcher dichterischer Aussage sich nicht auch dann noch aus den christlichen Wahrheiten nährt, wenn sie sie bis zur Verunstaltung umgestaltet. Man denke etwa an die Geschichte vom verlorenen Sohn, die nach Rilke die Geschichte dessen ist, der nicht geliebt sein wollte. Aber solche historische Feststellung scheint mir über die Wahrheit der dichterischen Aussagen Rilkes nichts zu entscheiden. Niemand wird bestreiten, was Guardini auch ganz mit Recht feststellt. daß Rilke aus einer katholischen Umwelt und Herkunft die entscheidenden Möglichkeiten für seine dichterischen Aussagen gewinnt. Aber wenn man nun Guardini bei der Interpretation der ersten Elegie an Rilkes )Liebeslehre< Kritik üben sieht, weil Rilke die Liebe ohne die Entsprechung des Du des Geliebten über alles stelle (49 ff.). so fragt man sich doch, ob nicht ein mehr )relativistisches( Verstehen gerade die Wahrheit des hier Vernehmlichen besser erkennt. Guardini bedenkt hier offenbar nicht, daß Rilkes Liebeslehre eine Lehre vom Lernen der Liebe ist. "Nicht ist die Liebe erlernt.« So ruft er als Lernender sich Vorbilder auf, deren Liebenkönnen über alle Entsprechung hinaus sich bewährt. Das sind die verlassenen Liebenden. Wie kann man verkennen. daß die wahrhaft Liebenden, das heißt die Qunendlich« sich hingebenden. einander die gleiche Weite gäben. wie sie die verlassenen Liebenden leisten und durch sie vorbildlich sind. Ich wüßte nicht, was daran nicht wahr - und übrigens auch mit der christlichen Ethik im vollsten Einklang - wäre. Es ist keine ästhetische Unverbindlichkeit, wenn man sich die schwebende Freiheit eingesteht, mit der der Dichter. wie Pindar so schön sagt. aus allen Blüten Honig saugt. Gerade wem an der Wahrheit dichterischer Aussagen liegt. darf sich die Vielschichtigkeit der gegenständlichen Motive nicht verbergen. deren sich eine Dichtung bedient. Was mit ihrer Hilfe zur Aussage kommt, soll verstanden und als wahr genommen werden. Das aber mißlingt, wenn man statt dessen die stoffiich-gegenständlichen Mittel dieser Aussagen als die Sache selbst behandelt. Was Guardini zum Beispiel in der zweiten Elegie vom Engel sagt, ist im Sinne der Stoffgeschichte sicher richtig (77 ff.). Aber was Rilke uns sagt, wenn er solche uns im Fühlen unendlich übertreffenden Wesen, in denen wir, wir Schwindendsten, uns also selber verstehen, dichtet. wird durch die Frage. ob sie christliche oder heidnische oder sonstige numinose Gestalten seien, zu denen man sich religiös verhalten kann. nur verdeckt. Ich sehe nicht ein, warum man dadurch, daß man nicht religiös versteht, was ein Dichter sagt, ihm und sich
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selbst »den existentiellen Ernst« abspricht (89). Was in der zweiten Eleg~e gemeint ist, und warum die Engel Engel sind, ist doch ganz eindeutig. In uns Menschen ist unser Fühlen ein Schwindendes. Wesen, deren Fühlen sich nicht verflüchtigt, sind nicht mehr Menschen. So scheint es mir ganz abwegig, die Erfahrung der Griechen vom Göttlichen mit der Nennung der Engel, die überhaupt keine Götter sind, zusammenzubringen (99). Nicht Erscheinung des Unsichtbaren, sondern Garant des Seinsanspruchs des Unsichtbaren nennt sie Rilke in dem bekannten Brief an Witold Hulewicz. Hier kann freilich Kritik einsetzen. Ist dieser Maßstab des reinen Fühlens, der auch den Liebenden nur im Zauber des Beginns erfUllbar ist, ausreichend, um das menschliche Dasein recht zu sehen? Schon Rudolf Kassner hat auf die Grenze der Rilkeschen Welt aufmerksam gemacht: sie sei nur im )Reich des Vaters<, nicht >im Reich des Sohnes< daheim. Ihr fehle die Wahrheit der Inkarnation. Guardinis Kritik ist sicher ähnlich motiviert. Denn auch er vermißt an Rilke das Kernhafte der Person und sieht gerade in dieser Entselbstung das fragwürdig Gegenwärtige, das Rilke mit der Moderne verbinde. Der Verlust der Person und das der Totalität Anheimfallen, das die gegenwärtige Welt kennzeichnet, gehören nach Guardini zusammen. Das ist vielleicht aufs Ganze gesehen richtig. Wir werden darauf zurückkommen. Aber ist das, was die Dichtungen sagen, deshalb nicht wahr? Hat es nicht für jeden Menschen Wahrheit, wenn das dichterische Ich sich hier als den Lernenden und Unbelehrbaren sieht, dem die Selbstlosigkeit des wahren Fühlens und damit das wahre Lieben nicht gelingt? Ist dieser Maßstab wirklich falsch? Gerade die dritte Elegie, die Guardini als eine gnostische Irrlehre, in der das Dunkle und das Böse als die seiende Gegenmacht des Hellen und des Guten gesehen werde, bezeichnet (104f.), gewinnt von da erst ihren Ort. Es ist schwer, ein Selbst zu sein, schwer, gerade in der Liebe sein Selbstsein nicht zu verlieren an das Namenlose des Triebes. Wo liegt hier der Irrtum? Ist es denn vielleicht nicht wahr, daß dem liebendenJüngling vor dem »reinen Gesicht« des Mädchens der »Flußgott des Blutes« schuldig heißen muß? ; Ich meine, es ist ein richtiges Prinzip, ja eine notwendige hermeneutische Forderung fUr alle Interpretation von Dichtung, sich vom Wort des Dichters treffen zu lassen. Nur der Betroffene versteht, was gesagt wird. Und vollends bei einer Dichtung wie den Rilkeschen Elegien, die überhaupt niemanden anreden, so sehr ist der Dichter schon jeder andereZ, gilt es, eine jede Elegie als die Einheit eines meditativen Ganges zu vollziehen. Die feinfühligen Auslegungen Guardinis, so hilfreich sie in vielen Einzelheiten sind (daß 2 Das .Du« der 1. Elegie (v. 23) versteht Guardini falsch, wenn er darin nicht die Intensivierung der Selbstanrede erkennt (37).
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ich manche der Einzelerklärungen für verkehrt halte, mindert nicht das Gesagte), lassen die Einheit des dichterischen Anliegens meist nicht genug zur Geltung kommen. Am fühlbarsten wird dieser Mangel dort. wo das Anliegen verkannt wird. Das scheint mir besonders bei der' vierten und fünften Elegie, und etwas auch bei der zehnten. Das einheitliche Thema der vierten Elegie, in das sich das Generalthema des Lernens des wahren Fühlens und Liebens hier konkretisiert, ist die aus übereilung entstehende Falschheit, die in die menschlichen Beziehungen unheilvoll eindringt. Auch hier bedarf es nicht biographischer Ausdeutung. »Wer saß nicht bang vor seines Herzens Vorhang?« Guardini glaubt (155 ff.), daß es zum Verständnis hilft, wenn man hier einiges aus der Biographie Rilkes hinzunimmt: daß der Vater, als Berufsoffizier gescheitert, nun seinen Sohn für diese Laufbahn bestimmte und dabei eine neue Enttäuschung erfuhr. »[ ... ] So ist die Weise, wie Rilke den Vater anredet, verständlich: .der um mich so bitter das Leben schmeckte. meines kostend (... ), den ersten trüben Aufguß meines Müssens, da ich heranwuchs.< [... ] Hier scheint das Zentrum des Verhältnisses zwischen beiden zu liegen: in der Angst, die der Vater um den Sohn hat; andererseits im Berührtsein des Sohnes durch die Angst - welches Berührtsein sowohl Dankbarkeit, wie Mitleid, vielleicht sogar Gereiztheit ist. Wenn der Sohn hofft. dann ist in dieser Hoffnung der Vater und hat Angst. Der Sohn fühlt also: Der Vater hat kein rechtes Zutrauen zu mir, sonst würde er sich nicht ängsten. Das bedrückt ihn, reizt ihn vielleicht auch. Andererseits sagt er sich: Wie arm war der Vater, daß er, der fiir sich selbst nichts mehr erhoffte, nicht einmal mit Zuversicht auf mich hoffen konnte. Und das ist noch immer so. Noch immer kann er nicht auf mich vertrauen; noch immer hat er mich nicht in die Zuversicht meines eigenen Weges freigegeben« (15517). Mir scheint das ganz in die Irre zu führen. Davon ist in des Dichters reifem Rückblick auf seinen Vater gar nichts geblieben. Er spricht von nichts als von der Liebe des Vaters. Die volle Verzeichnung des Ganzen gipfelt in dem Mißverständnis der Worte »prüftest mein beschlagnes Aufschaun«: Rilke ist viel genauer, viel weniger impressionistisch, als sein Interpret annimmt. Er beschreibt mit wunderbarer Präzision, was zwischen einem Vater und einem Sohn vorgeht, wenn der Sohn bei der sorgenden Prüfung, mit der ihn der Vater zu ermessen sucht, im Bewußtsein, wohlbeschlagen zu sein, seinen Vater voll Eifer, sicher und unsicher zugleich ansieht. Ähnlich verfehlt sind auch die an die Wendung »mein bißchen Schicksal« geknüpften Betrachtungen über Rilkes Leben: »Wer hätte reicheren Lebensinhalt gehabt als er? Er war ein Dichter, wohl der größte seit Mörike. Unzählige Menschen haben mit ihm in Beziehung gestanden, darunter sehr bedeutende und lebensvolle. Ihm ist von allen Seiten Liebe zugetragen worden. Er hat Europa bewohnt und ist von einer Schönheit zur anderen
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gegangen. Orte, die andere nur von außen sehen dürfen, haben ihn aufgenommen. Und dennoch das Gefühl: >mein bißchen SchicksalLebensinhalt<, sondern darum, was gegenüber der Einfachheit und Größe von Leben und Tod Schicksal überhaupt bedeuten kann3 • Bleiben wir lieber beim Text der vierten Elegie: »Wer saß nicht bang vor seines Herzens Vorhang?« Das Tier und das Kind, auch der Sterbende stellen für den der Falschheit seiner Gefühle Eingeständigen etwas Nachdenkliches dar. Guardini trifft hier den Punkt ganz und gar nicht. Und doch, was könnte anschaulicher sein als diese Schilderung des Falschen zwischen Liebenden? Wie sie miteinander im Gutsein überdeutlich sind, weil sie einander wie Feinde begrenzen, so daß das Lieben - der Kontur des Fühlens - gar nie zur vollen Abzeichnung kommt, so zweideutig und voller Vorwand ist jeder für den anderen. Der Dichter gibt genau an, daß die Bühne, von der im folgenden die Rede ist, die des eigenen Herzens ist. Guardini sieht darin unbegreiflicherweise ein Ausweichen vom »Herzwerk« ins bloße Anschauen (170 f.). Dabei sind wir doch gar nicht nur die Schauenden, sondern selbst ebensosehr das, was gespielt wird. Die Auftritte auf der Bühne des Herzens sind die Gefühle. Das sich prüfende Herz erfährt, daß sie alle falsch, bemüht, nur scheinbar sind (wie schlechte Schauspieler). Und doch waz:tet man immer aufs neue auf das Auftreten eines reinen Gefühls, wartet unbeirrbar, denn es gibt keine absolute Erstorbenheit des Herzens: »Es giebt immer Zuschaun.« Kaum glaublich, daß dieser schöne Ausdruck für die niemals wirkliche Winterlichkeit des Herzens von Guardini so mißverstanden wird, daß er auch den Anruf der Zeugen, des liebenden Vaters und der geliebten Frauen, überhaupt nicht als solchen erkennt. Wer nun sich nichts mehr vormacht und wirklich zu warten wüßte, dem muß der Engel den reinen Auftritt des Fühlens heraufführen, indem er die Puppe (das von sich aus nichts Vormachende) hochreißt: »Dann kommt zusammen, was wir immerfort entzwein, indem wir da sind.« Guardini findet diesen Satz ungeheuerlich (163). Aber hat er ihn richtig verstanden? Ist nicht diese Klage Rilkes, daß wir in unserm Dasein die heile Ganzheit des vorbehaltlosen, selbstlosen Fühlens nicht aufbringen, wahr? Und ist es nicht wahr, daß wirklich nur der über das Dasein schon fast Hinausseiende - der Sterbende - und das noch davorstehende Kind das reine, unverstellt eingeständige Fühlen kennen und die Liebenden es zu lernen suchen? Der Engel ist da, sobald sie es können. Man ahnt, daß der Tod, dies Furchtbare und Gefürchtete unserer Endlichkeit, der wahre Grund all unserer übereilungen und Vorwandhaftigkeiten 3 Vgl. dazu ,Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge., SämtI. Werke (ed. Zinn) Bd. 6, S. 898 f.
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ist. leh kann nicht finden, daß Guardinis Interpretation der fünften Elegie diesen Zusammenhang richtig erfaßt. Hier ist die künstliche Metaphorik Rilkes freilich besonders skurril und die Klage des Interpreten (204) begreiflich. Es kommt offenbar darauf an, die Fahrenden mit ihrem ruhelosen Oben und seltenen sinnlosen Gelingen in ihrem Symbolsinn zu erfassen: ein wenig Flüchtigere noch als wir selbst, die wir, vom Tode in die Muster unseres Geschicks geschlungen, die unwahren Vorwände und die kurzfristigen Verdeckungen des nahenden Winters ruhelos versuchen. Es scheint mir bezeichnend, daß Guardini (200) das "anprallt ans Grab« auf den möglichen Artistenunfall einschränkt, statt darin die Transparenz des Symbols der Fahrenden zu gewahren und seine Anwendung auf unser aller Schicksal darin vorbereitet zu sehen. Alles menschliche Mißlingen prallt an das Grab. So steht am Ende der Elegie das wahre Schauspiel unser selbst und des Glückes, das im Können der Liebe läge - auch dies ein Schauspiel, weil ein Vorbild und die jenseitige Erfüllung eines hier stets gescheiterten Traums. Auch hier vermag ich nicht zu verstehen, was Guardini da falsch und verhängnisvoll findet (222): daß das menschliche Herz unendlich vieles Scheitern und seltenes Gelingen bei seinem Herzwerk erfährt; daß das Sichmühen in alles Herzwerk etwas Falsches bringt und das wahrhafte Können auch ein wahrhaftes Lächeln möglich macht, wieso hebt dies das Personsein auf? Nebenbei: daß das »reine Zuwenig [... ] umspringt injenes leere Zuviel .. (Vers 82 bis 84) ist ein reines Bild des Könnens, der Balance. Was wie ein Zuwenig an Anstrengung schien, erweist sich nachträglich, seit man die Balance kann, als ein leeres Zuviel. Die Rechnung geht ohne Rest, "zahlenlos« auf. Guardini (213) verkennt das. Guardini vergißt hier, wie mir scheint, was eine Elegie ist: Klage um die Eingeschränktheit unseres Daseins, Erfahrung seiner Mangelhaftigkeit an Vorbildern des Heilen und des Ganzen. Daß ein christlicher Elegiker von dieser Endlichkeit unseres Daseins anders sprechen könnte, aus einem anderen Wissen, ist gewiß richtig. Aber daß Rilke aus dem, was er weiß, spricht, daran tut er recht; und man tut ihm unrecht, wenn man die Wahrheit seiner Aussagen nicht an den Erfahrungen mißt, die ihnen zugrunde liegen. So scheint es mir sinnlos, etwa in der siebenten Elegie Rilkes Anspruch, die Dinge im Anschaun des Engels gerettet zu sehen, mit der christlichen Errettung aller Dinge in Gott zu konfrontieren (282). Hier meint Errettung nichts anderes als »die Bewahrung der noch erkannten Gestalt«, ihre Aufbewahrung im fühlenden Herzen. Darin übertrifft uns der Engel, weil sein Fühlen nicht bedingt und begrenzt und so oft getrübt ist wie unseres. Es scheint nichts Rühmliches zu geben, das diese fühlenden Wesen nicht längst besäßen. Aber die neunte Elegie - die. in Guardinis Augen schönste - findet doch
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etwas, das gerade dem so zuruckgewandten Wesen, das der Mensch ist, vorbehalten bleibt: das Irdische, das Einfache, in dem menschliches Fühlen Ges talt geworden ist, zu etwas» Säglichem « wurde. Man hätte erwartet, daß Guardini hier abermals die Säkularisation eines christlichen Gedankens aufwiese. Es ist die Inkarnation, die Rilke hier dem Menschen zuspricht. Darin sind wir Irdischen dem reinen Fühlwesen des Engels überlegen, daß unser Fühlen nicht das Unbedingte kennt und daher das Bedingte, die Dinge, in ihr wahres Sein erweckt, und wir können das, weill1nd soweit wir das rechte Verhältnis zu unserer eigenen Bedingtheit, das heißt aber zum Tode, gewinnen. Es sind sehr gewichtige Dinge, die Guardini der ITodeslehre( Rilkes entgegensetzt (414 ff.). Er sieht im Protest gegen den Tod die» ontologische Ehre« des Menschen und im Fehlen dieses Protestes die Kapitulation des Menschen. Das ist gewiß richtig, aber hat es auch gegen Rilke recht? Glaubt er wirklich, daß es Rilke an ontologischer Ehrenhaftigkeit fehlt? Bedürfte es für Rilke der inständigen Bemühung um die Bejahung des Todes, wenn er diesen Protest nicht bewußter als irgendein Mensch in sich truge? Eine Wahrheit scheint mir gerade auch diese >Lehre( Rilkes zu enthalten. Es gibt ein falsches und ein richtiges Verhalten des Menschen zu seiner Endlichkeit: das Weglügen (durch die Illusionen des »behübschten Glücks«) und das Wahrhaben, das dem Endlich-Einmaligen die ganze Kraft des eigenen Fühlens zuwendet. Ich vermisse bei Guardini, daß er erklärt, warum Rilke den »vertraulichen Tod« einen Ilheiligen Einfall der Erde« nennen kann. Daß das menschliche Herz das Seiende in Dinge von echter Dauer verwandeln kann, indem es sein menschliches Fühlen in ihnen Gestalt und Geist werden läßt, verdankt es doch wirklich der eigenen Erfahrung seiner Endlichkeit. Das hat schon Aischylos gewußt. Bleibt dies nicht eine richtige Beschreibung des irdischen Seins - auch wenn sie dem Christen unvollständig ist, sofern dieser Einfall der Erde, die Erde selbst und der Mensch göttliche Schöpfung und Bestimmung sind? Man mag zweifeln, ob es dem Menschen möglich ist, solche Bejahung des Todes von sich aus existentiell zu vollziehen - aber daß es eine Wahrheit ist, was Rilke hier aus der Sinnfülle des Weltalters, an dessen Ende wir stehen, bewahrt, sollte man nicht leugnen. Ist es nicht gerade der ihm von seinem Interpreten zu Unrecht vorenthaltene Freibrief des Dichters, kein vollständiges philosophisches oder theologisches System haben zu müssen, sondern in sich wahre Aussagen zu machen. deren begriffliche Verifikation in einem Ganzen von Sinn nicht mehr seine Sache ist? Rilkes interpretierende Briefe sind gewiß wertvolle Winke für das, was er meinte. aber die Systematisierung, die in ihnen anklingt, behält etwas Dilettantisches, und Guardini ordnet sich ihr viel zu sehr unter. Hier steckt ein unverlierbarer Wahrheitskern des von Guardini so verpönten ästhetischen Relativismus (keineswegs eine bloß neuzeitliche Erscheinung:
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man denke an die Behandlung der antiken Mythologie in der attischen Tragödie und Komödie und an Platos Kritik an den Dichtem). Dieser Wahrheitskern enthlilt. daß die Wahrheit der Kunst und damit der Sinn ihrer Aussagen erst im Interpreten die Bestimmtheit und Begrenztheit erfährt, die unmittelbare Kritik möglich macht. Alle Kritik an Dichtung - soweit sie nicht sagt, daß die angebliche Dichtung keine Dichtung ist, weil ihr die ,Realisierung< fehlt - ist also immer Selbstkritik der Interpretation. Die Aufgabe des Interpreten, gerade sofern er Wahrheit sucht, ist, den Ort der so realisierten Wahrheit zu ermitteln, und damit zugleich ihre Grenze, ihre Bedingtheit durch Gegeninstanzen in sich aufzusuchen. Er muß das Gültige in Selbstkritik gelten lassen. Es ist sehr irreführend, das als ästhetischen Relativismus zu kritisieren, was gerade den Wahrheitsanspruch von Dichtung allererst möglich macht. Auch wenn ich die besonderen Voraussetzungen der Guardinischen Rilke-Interpretation einrechne. bleibt es mir doch erstaunlich. daß sich seiner hervorragenden Em pfänglichkeit für das Dichterische die überlegene Dichte der zehnten Elegie nicht aufgedrängt hat. Rilkes dichterische Rede ist nur zu sehr mit Reflexion durchsetzt. seine Metaphorik oft ein Äußerstes an Gesuchtheit. Aber innerhalb seines Stiles stellt die zehnte Elegie - darin hat sein eigenes Urteil wohl recht - ein Höchstes an dichterischer Verwandlung dar. Man muß nur entschlossen die Wahrheiten ermitteln. von denen da in Form einer Handlung erzlihlt wird. Es ist die Geschichte des Herausgedrängtseins aller wahren Gefühle und vor allem des Leids aus der heutigen Welt. Wo gibt es noch das Leid? Wo gesteht es sich ein? In der Klage! Der weltschmerzliche Jüngling weiß etwas von der wesentlichen Zugehörigkeit des Schmerzes zum Sein - er folgt einer Klage ein Stück aus dem Jahrmarkt der Welt heraus. bis er 'gereift< in die nüchterne Wirklichkeit zurückkehrt. Klage ist weiter da mit dem jungen Toten. Hier gelingt es der vernünftig organisierten Totenverehrung der modernen .. Leid-Stadt« nicht mehr. das Dasein der Klage auf die Seite zu bringen. Sie empfangt ihn als junge. Später. nach einiger Zeit. nimmt eine ältere ihn auf. Sie weist bereits aus der Einzelheit dieses Trauerfalles in das ganze weite Reich der Klagen und des Leides und führt schließlich zur Einsicht in die erhabene Majestät des Todes und die Zugehörigkeit dieses Leides zu einem ganzen Sternenhimmel von Leid. Bis schließlich die ältere Klage ihn auch verläßt - nur das stumme Leid ist noch bei ihm. aus dem schließlich die »Quelle der Freude« wieder entspringen wird. Man kann das Prinzip der dichterischen Mythopoiie Rilkes wohl nirgends klarer sehen als I hier4 • 4 AusfUhrlieher zu diesem Prinzip siehe >Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien<, in diesem Band. S. 289ff.
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Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins
Das Sein des Toten ist von Klage begleitet, bis er unendlich tot ist, das heißt, daß keine Klage, kein letztes Weinen mehr bei ihm ist, ja, daß das bis zu Ende durchschrittene Leid sich in Freude löst. Die Zustimmung zum Totsein der »unendlich Toten« ist das Ja zur Endlichkeit, mit dem die Elegie und das Ganze der Elegien schließt. Das wahre Glück des menschlichen Daseins ist nicht »steigendes Glück«, das heißt, es liegt nicht im Meinen von Zukunft und Dauer. Man kann die Resignation, die in dieser Einsicht liegt, fiir den gottverlassenen Menschen unerträglich finden. Aber man wird nicht sagen dürfen, daß es keine Einsicht ist, wenn auch die Wahrheit dieser Einsicht für den nur von eingeschränkter Geltung sein wird, der die christliche Hoffu.ung auf ein Jenseits mit solcher Heilung im Hiesigen vereinigt. Aber auch fiir ihn wird sie nicht falsch. Aus diesen Darlegungen folgt, daß eine legitime philosophische Dichtungs-Kritik nicht bei dem ansetzen darf, was eine Dichtung sagt, sondern bei dem, was in ihr nicht gesagt wird. Die Grenze ihrer Wahrheit gilt es zu sehen. Der Wert des Guardinischen Buches liegt gewiß - außer der reichen Fülle interpretatorischer Einzelbelehrung - darin, daß es diese Frage an Rilkes Dichtung fördert, auch wenn es selbst mit seiner Kritik zu unmittelbar bei den Aussagen der Dichtung selbst einsetzt. Die Frage nach der Grenze von Rilkes Wahrheit versteht sich aber nur richtig, wenn sie die Grenze meint, die Rilkes Wahrheit in uns zukommt. Alle Dichterkritik, die die Betroffenheit durch das Dichterwort voraussetzt, ist und bleibt Selbstkritik der Interpreten. Zu einer solchen, der Dichtung selbst verdankten Selbstkritik sei angedeutet: Rilkes beherrschendes Thema ist Liebe und Tod. Man sieht den Zusammenhang dieser Thematik am klarsten, wenn man von Rilkes Satz über die Liebenden ausgeht: »Feindschaft ist uns das Nächste.« Wie wir Menschen uns selber meinen, indem wir leben, ist uns das Du die feindlich erfahrene' Grenze unseres Seins - und der Tod erst recht. Lernen der Liebe und Lernen des Ja zum Tode hängen so zusammen. Man vermißt freilich bei Rilke - und das ist das Trostlose seiner Welt -, daß aus dem einen das andere erworben wird. Es sieht zwar so aus, sofern die »Fühlung zu allen Dingen
Rainer Maria Rilkcs Deutung des Daseins
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Person ganz zur Person. Rilkes Dichtung weiß von dieser Erflillung fast nur in der Weise der Klage. Aber auch das ist ein wahres Wissen. Guardini hat nicht recht, wenn er diese Bedeutung des Du (das freilich kein ,Gegenstand. der Liebe ist) flir das wahre Selbst der Person immer wieder gegen Rilke kehrt. Der Lehrer des Christentums wird mit Recht hinzufligen, daß auch das Ja zum Tode ein solches Ja der Versöhnung und damit erst die eigentliche Errettung der Personalität ist - nur daß das Christentum lehrt, daß dies Ja von keinem menschlichen Ich und keinem menschlichen Du gesprochen werden kann. Daß Rilke dem »einzelnen Herzen« dies Ja zumutet, in der Bejahung der Endlichkeit, wird dem Christen als die dem Dichter selbst verborgene christliche Wahrheit, die auch ihn noch trägt, erscheinen. Und vielleicht wird, wer nicht als Christ denkt, zugestehen müssen, daß die Wahrheit der Versöhnung der uneingestandene Grund ist, auf dem auch die unendliche Mühsal von Rilkes Lernen des Ja allein möglich war. - Das würde - und nicht nur rur Rilkes Verhältnis zum Christlichen - bedeuten, daß Rilke philosophisch gesehen noch immer in den Umkreis Hegels gehört.
24. Poesie und Interpunktion (1961)
Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende? Wann, auf dem ruhenden Berg, zerbricht sie die Burg? Dieses Herz, das unendlich den Göttern gehärende, wann vergewaltigts der Demiurg? Sind wir wirklich so ängsdich Zerbrechliche, wie das Schicksal uns wahr machen will? Ist die Kindheit, die tiefe, versprechliche, in den Wurzeln - später - still? Ach, das Gespenst des Vergänglichen, durch den arglos Empfanglichen geht es, als wär es ein Rauch. Als die, die wir sind, als die Treibenden,
gelten wir doch bei bleibenden Kräften als götdicher Brauch. (Rilke, Sonette an Orpheus. 2. Teil, XXVII)
Die Interpunktion gehört wie die Orthographie zu den Konventionen der Schriftlichkeit. Jeder Autor erfahrt es als einen Schock, wenn ihm eine von ihm gewählte Schreibweise oder Interpunktion unter Berufung auf den Duden verwehrt wird. Auf dem Gebiete dieser Konventionen triumphieren die Regeln. Nicht einmal das bescheidene Differenzierungsbedürfnis, das sich in der Abweichung von den Regeln zeigen könnte, scheint zulässig. Und doch, welche Verkehrung liegt darin! Als ob die Rechtschreibung und mehr noch die Zeichensetzung zur Rede und ihrem Sinn wirklich gehörten, als ob sie das Primäre wären, das es einzuhalten gilt, und nicht vielmehr das Sekundäre, zur Schriftlichkeit Gehörige, ein Hilfsmittel, das die Sinnartikulation der Rede erleichtern sollte. Bekanntlich haben Zeiten, in denen das laute Lesen noch eine feste Gewohnheit war, das Mittel der Zeichensetzung überhaupt nicht benutzt oder erst in einer späteren Entwicklungsphase, sozusagen auf dem Wege zu dem stillen Lesen, einzuführen begonnen. Selbst in literarischen Zeiten, in denen das stille Lesen zur herrschenden Gewohnheit wird, bedeutet Lesen mehr als bloße Deutung von Zeichen, nämlich die Wiedererzeugung von Rede vor dem inneren
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Ohre des Lesenden. Das schließt aber ein, daß die Artikulation der Rede unendlich viel differenzierter ist, als die spärlichen Zeichen der Schrift andeuten. Man muß aus dieser Erkenntnis die Konsequenzen für die Poetik ziehen. Denn es steht fest: Nur ganz von feme gehört das Schriftbild oder Satzbild zu der Erscheinung der Poesie hinzu. In das schwebende Verhältnis von Klang und Sinn, das ein Gedicht ausmacht, darf sich das Schriftzeichen nicht als gleichberechtigter Partner eindrängen. Was nicht im inneren Ohre des Lesers zu hören ist, was nicht der rhythmischen Gliederung der Lautund Sinngestalt des Gedichtes zu dienen vermag, hat kein' eigentliches poetisches Dasein. So gehört es schon zu der Fragwürdigkeit eines hochentwickelten Manierismus, wenn überhaupt die Sphäre des Schriftlichen mit der ursprünglichen Sphäre des Sprachlichen in ein Partnerschaftsverhältnis versetzt wird, wie zum Beispiel in einigen Formen des Barockgedichtes. Oder nehmen wir ein Beispiel aus der Gegenwart: In der fünften Duineser Elegie wagt Rilke eine ähnliche Vermischung der Dimensionen: Engel! 0 nimms, pflücks, das kleinblütige Heilkraut. Schaff eine Vase, verwahrs! Stells unter jene, uns noch nicht Offenen Freuden; in lieblicher Urne rühms mit blumiger schwungiger Aufschrift: ,Subrisio SaltatI.
Das »kleinblütige Heilkraut« des Artistenlächelns, das in einem Apothekergefaß verwahrt werden soll, trägt die Aufschrift IISubrisio Saltato «. Das Schriftbild belehrt uns, daß hier die Abkürzung »Saltat.« aufzulösen ist in ISaltatorisl, das heißt >des Tanzersl. Aber diese Abkürzung ist nicht zu hören, sie ist nicht für das Ohr da, und verlangt daher von dem Leser zu viel: Umsetzung des Gelesenen in ein innerlich zu Hörendes, Aufbau des zu Hörenden zur vollen Sichtbarkeit des Gemeinten, Entdeckung von Inschrift und Schrift innerhalb desselben - und nun noch die entscheidende Zumutung, daß das vor unseren Augen stehende Schriftzeichen, der Abkürzungspunkt, keine bloße Lesehilfe, sondern die bildhafte Gegenwart jener »blumige[n] schwungige[n] Aufschrift« selber sei. Wie alle Extreme macht auch solches manieristisches Extrem die Norm sichtbar. Sie besteht darin, daß das Lesen von Dichtungen in eine von den Konventionen der Schriftlichkeit freie Sprachlichkeit zurückversetzt. So gibt es fur den Dichter ganz andere Gebote der Interpunktion als für den Geschäftsverkehr des täglichen Lebens. Sie sind wesentlich vom Rhythmus bedingt. Man denke etwa an die Atemlosigkeit der Kleistschen Periode, die durch reichliche Verwendung von Kommata in ihrer atemlosen Hast symbolisiert wird. Umgekehrt sehen wir, daß die konventionelle Zeichensetzung unter Umständen vom Dichter ganz verschmäht wird, dann nämlich,
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Poesie und Interpunktion
. wenn es sich um Verse handelt und das Versverständnis durch das Stilideal eines psychologisierenden Naturalismus ohnehin bedroht ist. So hat Stefan George eine eigene, sehr sparsam verwendete, teils sinnakzentuierend, teils rein rhythmisch gemeinte Zeichensetzung eingeruhrt, durch die er der im Schwange befindlichen Verwechslung von Sprachgebärde und Seelengemälde Einhalt tat. In jedem Falle gehört Interpunktion nicht zur Substanz des dichterischen Wortes. Sie ist ,eine Lesehilfe und als solche ein Teil der Interpretation. Das bedeutet etwas Grundsätzliches rur die Frage ihrer Authentizität. Es soll hier gar nicht zu dem schwierigen Problem Stellung genommen werden, wie weit eine Modernisierung der Interpunktion bei klassischen Texten gestattet oder gar geboten ist. Aber wenn es richtig ist, daß die Interpunktion immer schon ein Teil der Interpretation ist, dann steht es für alle Interpretationsfragen von Dichtung grundsätzlich nicht gut mit. der Authentizität von Zeichensetzung. Es stellt einen schwer zu ermittelnden Kompromiß dar, wenn der Dichter dann und wann zwischen den Interpunktionsgewohnheiten des Lesers und dem eigenen Ausdrucksbedürfnis einen Ausgleich sucht und sich gegenüber den Regeln der Interpunktion Freiheiten herausnimmt. Aber noch viel grundsätzlicher trifft eine andere Einwendung die Verbindlichkeit der authentischen Zeichensetzung. Denn grundsätzlich sind gerade solche Freiheiten, die sich der Dichter nimmt, eine Art Selbstinterpretation. Der Dichter sucht zu verdeutlichen, wie er sein Gedicht versteht - falls er überhaupt das Mittel der Zeichensetzung, dessen Wert gegenüber dem in seinem inneren ühre für ihn Hörbaren er nicht allzu hoch einschätzen wird, bewußt anwendet. Selbstinterpretation ist gewiß von hohem Interesse tur einen jeden, aber eine wirkliche Verbindlichkeit kann sie nicht beanspruchen. Das kann hier nicht näher begründet werden 1. Es sind solche Vorerwägungen, die, wie mir scheint, eine Legitimation dafiir darstellen, daß man sich unter Umständen auch gegenüber einer überlieferten Zeichensetzung auf die rhythmische Evidenz eines Verses berufen darf. Wenn man die beiden ersten Verse in dem oben abgedruckten Sonett rhythmisch analysiert, so wird man sich kaum dem Eindruck entziehen können, daß hier bei aller Parallelität der zwei gestellten Fragen zugleich ein entschiedener Kontrast in der Sprachgebärde hörbar ist. Die erste Frage scheint von weither zu kommen, wie eine Antwort auf unendliche Zweifel, die sich noch nicht ganz abzustreiten getraut, daß es die Zeit, die zerstörende. gibt. Rhythmisch gesehen, ist diese Frage: •• Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?« eine breit verströmende Bewegung, von 1 Vgl. ,Wahrheit und Methode! (Ges. Werke Bd. 1), wo ich eine nähere Begründung auch fllr diese These zu geben versucht habe.
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Unvordenklichem her und in eine unbestimmte Ferne hin auslaufend. Der zweite Vers dagegen, der schon durch seine Unverbundenheit mit dem ersten wie eine Wiederholung der ersten Frage erscheint, hat eine ganz andere Bewegung. Er ist durch zwei Kommata des Dichters, die »auf dem ruhenden Berg« einschließen und logisch gesehen gewiß nicht nötig wären, bis zur Atemlosigkeit skandiert. Und hier nun drängt sich die Frage auf: Sollte gar noch ein Komma fehlen? Ist das rhythmische Gefüge der beiden Verse auf eine nochmalige Skandierung angelegt: "zerbricht sie, die Burg«? Das starke Ritardando, das durch das Komma nach" Wann« und nach IlBerg« gegeben ist, schlösse sich erst ganz zu der Einsicht eines stakkatohaften Rhythmus, wenn das "sie« der zweiten Vershälfte sich nicht zurück, sondern auf das Folgende, "die Burg«, vorbezöge. Ich muß gestehen, daß ich, noch bevor ich irgendwelche Konsequenzen zog, beim inneren Hören dieses Verses niemals ohne eine dritte Atempause hinter »zerbricht sie« ausgekommen bin. Zieht man die Konsequenz, die ich durch die Setzung des Kommas andeute, so heißt das, daß "die Burg« ein appositi.onell gestelltes Subjekt ist und daß »zerbricht« intransitiv 'gemeint( ist. Ist das richtig? Ist das so gemeint? Die Frage meint nicht, was der Dichter 'gemeint( hat. Denn was der Dichter gemeint hat, kann und darf hier nicht binden. Wer ein Gedicht verstehen will, will verstehen, was das Gedicht ,meint<, das heißt aber, wozu es sich gefiigt hat, in weIche Gestalt und in welche Bedeutung es einrückte. als die Sprachbewegung aus ihrem Schwanken und Schweben zu Form und Fixierung gelangte, fiir den Dichter vielleicht genauso überraschend wie für uns, als eine fremde Fügung. Könnte etwa Folgendes 'gemeint< sein? Wie erfahren wir endlichen Menschen die Vergänglichkeit? Wie sollen wir sie erfahren? Angstlich? Sich wehrend gegen die Zerstörung, die droht, in der hochgelegenen Burg, die so viele Belagerungen und Bestürmungen im Laufe der Zeit bestand? Sich wehrend gegen die Zeit selbst, diesen beständig anstürmenden Belagerer? Oder gibt es diesen Angreifer gar nicht, ist er unwirklich? Ist unsere Vergänglichkeit am Ende ganz anderer Art, keine Zerstörung, die eintritt, wenn ein ermattender Widerstand zum Erliegen kommt, sondern ein Vergehen. das >richtig< ist, fast mehr wie ein »Brauch«, das heißt etwas Gepflogenes und Gepflegtes, jedenfalls etwas, was keinen Urheber oder gar Schuldigen hat, auch nicht »die Zeit«? Wenn das die Meinung des Gedichtes sein sollte, dann schiene es sachlich richtiger, den Parallelklang des ersten Verspaares des Gedichtes auch als einen logischen Einklang zu verstehen, indem man in beiden dort gestellten Fragen den gleichen Zweifel an der Richtigkeit der landläufigen Einstellung zu Zeit und Vergänglichkeit vernimmt. Gibt es die zerstörende Zeit? Ist unsere beständige Angst davor richtig, daß unser auf dem ruhenden Berge verteidigtes Sein doch eines Tages der
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Zerstörung anheimfallt? Das wäre eine echte Fragenverdoppelung. Die übliche, durch das fehlende Komma der Phantasie nahegelegte Auffassung ließe dagegen auf den generellen Zweifel der ersten Frage bereits eine neue Frage folgen, die scheinbar die erste Frage als positiv entschieden voraussetzte, indem sie nicht mehr )Ob<, sondern» Wann?« fragt. Oder soll etwa auf diese zweite Frage: »Wann?« auch eine negative Antwort provoziert werden, ein )Nie Das ist doch kaum möglich. Das Bangen der endlichen Kreatur ist nicht einfach grundlos. Wohl aber könnte es, auch wenn die Gewißheit des eigenen Endes zu unserer Daseinsgewißheit dazugehört, dennoch im Sinne der ersten Frage falsch sein, sich gegen das Verhängnis unserer Endlichkeit wie gegen einen Feind wehren zu wollen. Eines Tages werden wir nicht mehr sein. Aber ist es die feindliche Zeit, die hier zerstörend handelt? Ist es überhaupt eine Zerstörung, was uns droht? »Zerbricht« könnte intransitiv gemeint sein, als Deutung jener geheimnisvollen Lebensbewegung des Vergehens, die nur von dem Selbstverteidigungswillen des Burgherrn her - und das heißt im Grunde: unrichtig - als Zerbrechen beschrieben würde. Durch eine solche Skandierung erhielte das Versende, ))die Burg«, den Nachdruck, den diese kühne Metapher - die ja auch die falsche Meinung eines Sichwehrens ausspricht - im Grunde gebieterisch verlangt, indem sie zur nachgestellten Apposition würde. Was drückt wohl die angstvolle Erwartung des Irdischen besser aus; der gelassene Ausklang einer zäsurlosen Frage, die die Wortstellung einer Alltagsfrage hätte - oder das sich wiederholende Anhalten im Hinzielen auf das Ungewisse des ausstehenden Endes, das durch gehäufte Zäsuren und die ungeduldige Vorwegnahme des Subjektes »sie«, das heißt l)die Burg«, im Vers nachgebildet wäre2 ? Es lassen sich noch einige Beobachtungen hinzufügen, die diese Skandierung nahelegen; so etwa diese, daß das nächste Verspaar einen einzigen Satz - also unbestreitbar eine einzige Sinnmeinung - enthält. Das legt nahe, daß auch das erste Verspaar so gebaut ist, das heißt, daß mit der Wann-Frage nicht etwa ein neuer Gedanke eingeführt, sondern der des ersten Verses varüert wird. Wenn das zweite Verspaar die Zweifelsfrage des Beginns seinerseits in aktiver Form, das heißt in transitiver Wendung, wiederholt, so spricht das nicht gegen unsere Auffassung des ersten Verspaares, denn jetzt ist ja auch nicht mehr in abstrakter Weise von der Zeit die Rede, sondern an die Stelle des abstrakten Rätsels der Zeit ist eine mythologische Person getreten, der gnostische Begriff des Demiurgen. Das ist nicht nur Ich verdanke W. BRÖCKER inzwischen den Hinweis aufRilkes Verse: Wann ist die Zeit, die diese Dinge mindert? Ich wartete: doch nie zerbrach der Stein. (Im Angesicht einer südfranzösischen Burgruine, Les Baux 1909. SämtI. Werke [ed. Zinn] Bd. 2, S.374). 2
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eine Variation des Ausdrucks, sondern ein Fortschritt im Gedanken, die Anspielung auf ein ganzes religiöses System, das die Schöpfung dieser mangelhaften Welt nicht den allvermögenden Göttern, sondern einem mythischen Gegenwesen zuschreibt. Auch auf diese zweite Wann-Frage soll ohne Zweifel die Antwort am Ende negativ lauten - weil es die Widermacht gegen das Sein der Götter, vor der wir so in Angst sind, in Wahrheit gar nicht gibt. Es ist eine gnostische Irrlehre, die unser Menschenschicksal so vom Kampf der Mächte her deutet. Die zweite Strophe scheint mir ebenfalls die gemachte Beobachtung zu bestätigen. Hier wird ganz unzweideutig von uns als den Zerbrechlichen in intransitiver Wendung gesprochen. Das emphatische •• wirklich« , das die erste Frage aufnimmt, zeigt deutlich an, daß diese herrschende Meinung falsch ist. Es ist offenbar ein trügerischer Anschein, den »das Schicksal«, dieses Wahngebilde eines zwischen Gunst und Ungunst torkelnden Wesens, in uns erzeugt, die wir ständig voller Wünschen und voll von Hoffnung auf das Günstige sind. Es ist dieser Wahn, der die falsche Vorstellung von der zerstörenden Zeit in uns erweckt .•• Das Schicksal liebt es, Muster und Figuren zu erfinden ... Das Leben selbst aber ist schwer aus Einfachheit« ...; dieser Satz aus dem IMalte( ist wie ein Leitwort überall dort mitzuhören, wo der Dichter von Schicksal spricht. Wenn hier, wie so oft bei Rilke, an die Kindheit erinnert wird und an das tiefe Versprechen, das in ihr liegt, so ist der entscheidende Punkt darin gerade dies, daß das Kind kein Schicksal kennt. Es lebt ohne Zeitsinn. so daß ftir es das »Hiersein« herrlich ist (7. Elegie). In seiner Einfachheit und seinem Einklang mit sich selbst stellt es eine Wahrheit dar, die die Unwahrheit der Zeitangst, in der wir leben, offenbart. Und nun folgt das abschließende Strophenpaar als Antwort auf die Frage des Anfangs: Wie sollen wir die Zeit erfahren? Diese Frage wird auf eine unnachahmliche Weise dichterisch beantwortet, durch ein elegisches »Ach«. ein /lAch«, das die gewohnte Klage über die Vergänglichkeit antönt - und doch diese Klage von ihrem Grund her gerade zur Aufhebung bringt, in Versen, deren fallender Rhythmus zugleich einen zauberhaften Einklang stiftet. Die Klage wird zur Rühmung. Für den, der /larglos empfänglich« ist, das heißt. der wie das Kind nimmt, was kommt, und sich nicht hoffend und ftirchtend auf sich selbst versteift, ist das Vergängliche nichts wirklich zu Fürchtendes. Gerade die Vergänglichkeit ist dann ein »Gespenst« - das heißt: ist selbst unwirklich. vergänglich wie ein Rauch. Wir dagegen gelten als ein Brauch. das heißt als etwas, das zu dem Bereich des »Göttlichen«( gehört und in allem Vergehen ein Bleibendes ist. Es gibt sie nicht. die Zeit, die zerstört. Das Unnachahmliche dieser Verse ist, daß sie wie eine Klage klingen und dennoch ein Trost sind. daß in ihnen die Zustimmung zur Vergänglichkeit
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poesie und Interpunktion
eine neue, bleibende Gültigkeit erhält. Es ist Rilkes eigenster Klang, der auch am Ende seiner Duineser Elegien lang nachhallend verklingt: Und wir. die an steigendes Glück denken. empfanden die Rührung. die uns beinah bestürzt, wenn ein GIÜcklichesfiillt.
25. Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien (1967)
Alle Interpretation ist einseitig. Sie zielt auf einen Scopus, einen Gesichtspunkt. der nicht Einzigkeit beanspruchen kann. Vollends. wer Dichtung interpretiert, kann dies unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten tun. Er kann gattungsgeschichtlich vorgehen, indem er das vorliegende Gedicht in eine Tradition von Vorbildern der gleichen literarischen Gattung einreiht, er kann motivgeschichtlich vorgehen, indem er die Aufnahme und Abwandlung bestimmter tradierter Motive verfolgt, er kann die Kunstmittel rhetorisch-poetischer Art und ihre Bindung zum Ganzen einer >Struktur( herausarbeiten usw. - Er kann aber auch die ursprüngliche hermeneutische Aufgabe. Unverständliches zu erklären, übernehmen. Und wieder kann er dabei okkasionell vorgehen (wie das die protestantische Hermeneutik des Neuen Testamentes und die Philologie bis ins ausgehende 18. Jahrhundert hinein getan haben) und die Einzelschwierigkeiten, die unverständliche Stellen bereiten, durch Analyse des Zusammenhangs, Heranziehung von Parallelen usw. zu beheben suchen. oder er wird von der Einheit des Gesagten ausgehen und auszulegen suchen, was das Gedicht sagen will, letzteres vorzugsweise bei Dichtungen. die ein hohes Reflexionsniveau besitzen und daher im ganzen als dunkel und schwer verständlich gelten1. Rilkes Duineser Elegien gehören zu dieser Art Dichtung und verlangen in erster Linie nach einer Interpretation dieser Art. Sie ist denn auch reichlich auf sie gewendet worden, zuerst seitens der Theologen, dann der Philosophen und vieler weltanschaulich engagierter Autoren. - Sie alle folgten dem Bestreben. das, was die Dichtung sagt, in die Prosa ihrer Gedanken und 1 Der vorliegende Aufsatz verdankt seine Entstehung der Enttäuschung über den in dem fleißigen Kommentar vonJACOB STElNER (Rilkes Duineser Elegien. Bem/München 1962) vertanen großen Aufwand. Nur schwer habe ich der Versuchung widerstanden. wo ich es könnte. die detaillierten Einzelerklärungen zu berichtigen. die dort aufgehäuft sind. Der vorliegende Aufsatz deckt sich mit vielem. was ich in meiner Kritik an GUARD1Nl bereits vor 12Jahren dargelegt habe (vgl. jetzt in diesem Band, S. 271 ff.). Doch schien mir das theoretische Interesse an dem hermeneutischen Prinzip eine ausdrücklichere Behandlung und die Erprobung am Bei.piel zu erfordern.
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Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien
die verbindliche Wahrheit ihrer Begriffe umzusetzen. Vom Text und seiner genauen Einlösung war dabei meist nicht viel die Rede. Engagement des Interpreten ist zwar aus keiner Interpretation von Dichtung ganz wegzudenken (oder sollte es wenigstens nicht sein). Aber es stellt zugleich eine beständige VerfUhrung dar, aus dem Text das herauszulesen und herauszuhören, was den eigenen Vorbegriffen am willigsten entgegenkommt, auch wenn dabei gegen den Kanon des Verstehens verstoßen wird, der durch die Sinnkohärenz des Ganzen gegeben ist. ln jüngster Zeit beginnt die Literaturwissenschaft, die Elegien zu ihrem Gegenstand zu machen und genau auf den Text zu senen, der ihr freilich leicht in Wörter zerfällt. So ist der fleißig und gewissenhaft gearbeitete Kommentar von Jacob Steiner mehr ein Kommentar zu den Wörtern, der insbesondere mit Parallelen sehr verschwenderisch umgeht. Es ist aber ein heikles Problem, was bei der Interpretation von Dichtung Parallelen überhaupt zu leisten vermögen. Zwar haben sie immer einen gewissen Richtwert für Feststellung des Sprachgebrauchs, Deutung einzelner Motive usw. Aber wenn es schon sonst in der Philologie sehr schwer und selten ist, Parallelen zu finden, welche wirklich stimmen, so ist es im Falle der Interpretation von Dichtung um vieles schlimmer, indem auch die Parallelen, welche stimmen, die Gefahr mit sich bringen, die durch die Einheit der dichterischen Rede geweckte Resonanz zu verstimmen. Wenn man heute, in einer Epoche, die durch die Welle einer neuen Aufklärung hochgetragen wird und der poetischen Aussage einen immer beengteren Raum läßt, so daß sie mit Entschiedenheit das Pathos der Nüchternheit, der Untertreibung, der epigrammatischen Andeutung und des reportagehaften Streiflichtes hervorkehrt, auf Rilke zurückkommt, der in den dreißiger und frühen vierziger Jahren der Dichter war, der das Zeitbewußtsein, VOr allem das der )Gleichschaltung! widerstehende Bewußtsein, durch den extremen Manierismus seiner Sprachgebärde am tiefsten zu bestätigen vermochte. ist es eine Bewußtheit anderer Art, die von einem verlangt wird. Zwar ist es ein allgemeines Bedürfnis, das wir aller Dichtung gegenüber empfinden, »zu begreifen, was uns ergreift« (E. Staiger), aber im Vergleich zu den engagierten Umsetzungen, die hinter uns liegen, hat dieses Bedürfnis eine andere Gestalt angenommen. Nicht im Sinne der literatutwissenschaftlichen Analyse und Kommentierung, aber auch nicht im Sinne jener vorengagierten Applikationen, sondern so, daß über allen Abstand eines gewaltig veränderten Lebensgefühls hinweg das dichterische Wort Rilkes, das noch immer von der unstreitigen Präsenz großer Dichtung ist, nach der Klärung des Horizontes verlangt, der es umschließt. Endlich scheint es an der Zeit, in ausdrücklicher Entfaltung des hermeneutischen Horizonts das Reflexionsniveau zu erreichen, auf dem Rilkes Dichtung sich bewegt, und aus dem herauszubewegen, in unmittelbare Verkündigung von
MydlOpoietischc Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien
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Wahrheit theologischer oder philosophischer Art. das Anliegen der Ausleger ehedem war2. Wer das Reflexionsniveau gewinnen will. auf dem die Duineser Elegien zu Hause sind. muß sich zunächst VOn allen theologischen und pseudoreligiösen Vorgriffen freimachen. als ob auf dem diskreten Umweg über den Engel hier von Gott die Rede wäre. Wovon die Elegien reden. läßt sich vielmehr auf einem sehr einfachen. hermeneutisch gebotenen Wege ausma.chen, und es ist erstaunlich. daß die bisherige Rilke-Literatur diesen Weg .noch nicht beschritten hat. Ich meine die Tatsache. daß noch zu dem Zeitpunkt, als die in ihrer Entstehung sich über ein Jahrzehnt hinziehenden Elegien vom Dichter zum Zyklus geordnet und rur die Publikation bereit gemacht wurden, die damals flinfte Elegie gegen eine neu entstandene ausgetauscht wurde. Wir lesen das Gedicht, das der neuen Elegie weichen mußte, unter dem Titel ,Gegen-Strophen<. Daß es dem neuen Gedicht. das wir als die Elegie der Fahrenden kennen, weichen mußte. erklärt sich leicht. Die heutige fünfte Elegie 1/ildet mit den anderen neun eine weit bessere stilistische Einheit - die gleiche weit hinrollende Versbildung, die gleiche weit ausholende Sinngebärde, die gleiche kunstvoll-indirekte Bilderwelt. Dagegen gehen die ,Gegen-Strophen< ihr Thema, wenn auch auf kunstvolle Weise, unmittelbar an und fallen durch ihre fast strophisch wirkende Responsionsform auch formal ganz heraus. Um so wichtiger ist es aber, daß dies Gedicht einmal die Stelle der fiinften unter diesen zehn Elegien einnehmen konnte. Die direkte, unverschlüsselte Aussage, die es macht, empfangt damit echte Verbindlichkeit für das Ganze. Sie gibt ein zentrales Thema der Elegien an: Oh, daß ihr hier, Frauen, einhergeht, hier unter uns, leidvoll, nicht geschonter als wir und dennoch imstande, selig zu machen wie Selige.
Es ist das Thema, das in den Sonetten an Orpheus so heißt: Nicht ist die Liebe gelernt. Auch die fünfte' Elegie klingt in dieses Thema aus, wenn sie den scheinhaften Aufbau der Artistengruppe auf das Sehnsuchtsbild hin wendet, das die wahrhaft glückliche Vereinigung der Liebenden darstellen würde. Wie alle Elegien sind auch Rilkes Duineser Elegien Klagegesänge. Was geklagt wird, ist die Unerreichbarkeit des wahren Glücks für die Liebenden, oder besser: die Unfähigkeit der Liebenden. und vor allem des liebenden Mannes, so zu lieben, daß wahrhafte Errullung möglich würde. Damit aber Z Die Hinweise. die ich in meiner obigen GUARDlNI-Kritik vor 12 Jahren zu geben suchte. sind. wie das Beispiel STEINERS lehrt. überhaupt nicht vermerkt worden.
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MythopOictische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien
weitet sich das Thema der Elegien ins Allgemeinere. Es geht um die Unkraft des menschlichen Herzens, sein Versagen vor der Aufgabe, sich ganz seinem Fühlen hinzugeben. Die )Gegen-Strophen< wissen davon zu klagen, daß die liebende Frau dem Manne darin voraus ist. AhnIich setzt mit den »unendlich« Liebenden, den Verlassenen und dennoch Liebenden, das Elegienwerk ein. Aber der Raum, den es ausschreitet, reicht weiter. Mit der Erfahrung der Liebe ist die Erfahrung des Todes verknüpft, beides offenbar Erfahrungen, deren Forderung zu groß ist, als daß das menschliche Herz an ihnen seines Versagens nicht inne würde. Insbesondere sind es die junge~ Toten, an denen der Klagende der Unkraft seines Herzens sich bewußt wird. Was er nicht vermag, ist offenbar, es hinzunehmen, wie es ist, trauernd und klagend, aber ohne in Anklage gegen die Grausamkeit solchen Geschickes zu verfallen, wie es der Tod von Kindern und Jugendlichen ist: lIdes Unrechts Anschein« gilt es abzutun. So etwa läßt sich die Ausgangserfahrung und der ganze Umfang dessen umschreiben, wovon die Elegien sprechen. Von diesem Vorverständnis dessen, wovon hier die Rede ist, das einem die Dichtung sdber aufnötigt, muß ausgegangen werden, wenn man zu verstehen sucht, wie davon die Rede ist, das heißt, es muß der Verständnis- und Auslegungshorizont gewonnen werden, innerhalb dessen die dichterische Aussage in Genauigkeit vollziehbar wird. An der Spitze steht die Frage, 'Was der Engel der Elegien bedeutet. Es bedürfte gar nicht der Selbstinterpretation, die Rilke gegeben hat und die von ihm ohnehin allzuweit in eine spiritualistische Dogmatik hinein ausgefolgert wird, um diese Frage zu beantworten. Der Engel ist zwar ein übermenschliches Wesen und wird als das uns im Fühlen unendlich übertreffende Wesen angerufen, aber in keiner Weise erscheint er als ein Bote oder Stellvertreter Gottes und bezeugt überhaupt keine Transzendenz im religiösen Sinne. Wenn Rilke ihn einmal den Garanten des Unsichtbaren nennt, so ist auch diese Kennzeichnung alles andere als theologisch. Das Unsichtbare ist das, was sich nicht sehen Und greifen läßt, und das dennoch Wirklichkeit hat. Im menschlichen Herzen ist es die Wirklichkeit seines Fühlens, das eine solche unstreitige Gewißheit beansprucht, ohne sich ausweisen zu können. Sie hat sich daher gegen die utilitaristische Skepsis eines massiven Realismus zu behaupten, der den Luxus der Geflihle verachtet. Wenn nun das Bestehen auf der Wirklichkeit dessen, was wir fiihlen, von dem Engel bestätigt wird, so heißt das, daß die Bedingtheit und Halbheit unserer Geftihle, die an ihrer Wirklichkeit Zweifel erwecken könnte, im Engel über alle Bezweiflung hinausgehoben ist. Sein Fühlen ist so unbedingt und unzweideutig, ,vie das menschliche Herz es nur in seltenen Augenblicken zu empfinden vermag. Es ist also eine höchste Möglichkeit des menschlichen Herzens selber, die hier als Engel angerufen wird - eine Möglichkeit, vor der es versagt, die es
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nicht zu leisten vermag, weil den Menschen vieles bedingt und zur Eindeutigkeit und uneingeschränkten Hingabe an sein Fühlen unfähig macht. Die dichterischen Situationen, in denen von uns und dem Engel in den Elegien die Rede ist, bestätigen das: »Ich verginge von seinem stärkeren Dasein«, »hochaufschlagend erschlüg uns das eigene Herz«, »wir. wo wir fühlen. verflüchtigen«, der Engel der vierten Elegie, der »über uns hinüberspielt«. und dann immer der Engel, dem etwas gezeigt wird: das mühsame Lächeln des Artistenkindes, die Mühsal des Artistenschicksals, aber auch die großen Werke menschlicher Kunst, in die Gefühl eingegangen ist, und - diesseits aller hohen Gefühle - die Welt der Dinge: immer ist es etwas, vor dem das menschliche Herz zu versagen pflegt, indem es achtlos darüber hinsieht. Immer ist es die Macht und Ohnmacht des menschlichen Fühlens, die an den Engel denken läßt als den, dessen Fühlen nicht dUrch das Fühlen von anderem begrenzt ist, sondern ihn so einnimmt, daß sein Gefühl mit ihm ganz und gar identisch ist. Ein Gefuhl, das sich nicht verflüchtigt. sondern in sich steht, das heißt bei Rilke »Engel«, weil solches Fühlen den Menschen übertrifft. Die Frauen, wie sie in der ersten der >Gegen-Strophen< angesprochen werden, gelten dem Dichter als dem Engel ein klein wenig näher. Sicherlich hat Rilke die Engel-Theologie des christlichen Mittelalters überhaupt nicht gekannt. Gegen die Verbindung mit der Engel-Vorstellung des Christentums hat er sich bekanntlich sogar ausdrücklich gewehrt. Trotzdem liegt in der Idee >Engel< ein ontologisches Problem, das offenbar überall durchschlägt: Daß der Engel mit seinem Auftrag identisch ist und daher keine >Zeit< im Sinne des menschlichen Zeitbewußtseins, weder Zeit noch Ewigkeit besitzen kann, hat das mittelalterliche Denken sehr beschäftigt3 . Auch der Engel der Elegien ist weder eine menschliche noch eine göttliche Erscheinung - er erscheint überhaupt nicht, sofern das menschliche Herz die Eindeutigkeit nicht aufbringt, die ihn herbeirufen könnte (» Wider so starke Strömung kannst du nicht schreiten«). Der Anruf des dichterischen Ich an den Engel ist kein Rufen, das jemanden herbeiriefe. Eher schon ist es die Anrufung und der Aufruf eines Zeugen, der das, was man selber weiß, bestätigen soll. Was man selber weiß, wessen man so inne und innerlich gewiß ist, daß es von einem selbst untrennbar ist - das ist es, was hier (mit Rilke) Fühlen und Gefuhl genannt wird. Ansicht und Anblick können sich ändern, können aufgegeben werden, verschwinden usw. - das Gefühl, dies Allerflüchtigste, das halten zu wollen, das überhaupt zu wollen unsinnig ist, behält eine unzweideutige Wirklichkeit, in der überhaupt nichts anderes ist als es selbst, das einen, wie wir sagen, vollkommen einnimmt und erflillt. Was bedeutet es aber, wenn dieser Grenzbegriff unseres eigenen Seins als Engel, das heißt als eine handelnde Person, angerufen wird? Hier muß eine 3
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TaOMAS.
De instantibus (Baeumker. lmpossibilia des Siger von Brabant 160ff.).
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hermeneutische Besinnung darüber eirtsetzen, wie überhaupt dichterische Rede verstanden wird. Alle dichterische Rede ist Mythos, das heißt, sie beglaubigt sich selbst durch nichts als ihr Gesagtsein. Sie erzählt oder spricht von Taten und Ereignissen und fmdet doch nur Glauben - aber sie findet ihn -, sofern wir selbst es sind, die sich in diesen Taten und Leiden von Göttern und Großen begegnen. So reizt die Mythenwelt der Antike bis zum heutigen Tage die Dichter immer aufs neue, sie zu gegenwärtiger Selbstbegegnung zu erwecken. Darin ist oft die raffinierteste Bewußtheit am Werk, sofern der Dichter die eigenen dichterischen Vorfahren auch im Leser mitgegenwärtig weiß. Überhaupt ist der Verständnishorizont, in den der Dichter hineinspricht, hier auf eine verläßliche Weise vorbereitet. Freilich heißt es auch dann nicht, daß der antike Mythos noch eine religiöse Wahrheit hätte, und doch bleibt er verständlich, auf eine Weise, die zum Begriff zu erheben freilich immer nur über die Interpretation gelungener dichterischer Erweckungen möglich ist. Als Walter F. Otto vor Jahrzehnten mit dem leise schwärmerischen Ton des Eingeweihten von den homerischen Göttern so zu reden wußte, daß man etwas verstand, d. h. nicht nur religiöse Fremdheiten zur Kenntnis nahm, sondern aus menschlichen Erfahrungen zu diesen Göttern Zugang gewann, trug ihn Homer (und als er Dionysos, nicht ohne Tiefsinn und Feinheit, aufzuschließen unternahm, kam er, weil ihm die erweckende Dichtung fehlte, nicht über Nietzsche hinaus)4. Das Prinzip des Verstehens ist in all solchen Fällen auf eine Umkehrung gegründet: Was sich als das Handeln und Leiden von anderen darstellt, wird als das eigene leidende Erfahren verstanden. Auch der in der heutigen Theologie so vielumstrittene Begriff der »Entmythologisierung« impliziert insofern das Prinzip dieser Umkehrung, als der Sinnkreis der religiösen Verkündigung des Neuen Testamentes sich von dieser Umkehrbarkeit in ein menschliches Glaubensverständnis her begrenzts. Man muß sich dieser hermeneutischen Voraussetzung vergewissern, um die besondere dichterische Verfahrensweise Rilkes zu begreifen. Hier wird nicht mehr die mythische Überlieferung der Antike und ihre christliche Durchdringung, die noch das Zeitalter des Barock zu einer allegor'enfreudigen Dichtung vermochte, weitergetragen, auch nicht in der Form bewußter Neuerweckung, wie das etwa für Hölderlins dichterisches Spätwerk gilt. Hier ist keine mythische Welt mehr, aber was geblieben ist, ist das Prinzip der dichterischen Umkehrung. Bei Rilke wird es zur mythopoietischen WALTER F. OTTO, Die Götter Griechenlands (Bonn 1929); Dionysos (Frankfurt 1933). Freilich definiert R. BULTMANN ,Mythos< und ,mythisches Weltbild< gerade als das Gegenteil des Kerygmas, das im Glauben ,verstanden< wird. Aber das ist eine fragwürdige Abhängigkeit von dem Weltbild der' WISsenschaft •• die das hermeneutische Prinzip nicht einschränken kann. Vgl. ,Zur Problematik des Selbstverständnisses< in Ges. Werke Bd. 2, S.121-132. 4
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Umkehrung: Die Welt des eigenen Herzens wird in der dichterischen Sage als eine mythische Welt, das heißt eine Welt aus handelnden Wesen, uns entgegengestellt. Was die Reichweite des menschlichen Fühlens übertrifft, erscheint als Engel. die Erschütterung über den Tod junger Menschen als der junge Tote, die Klage, die das menschliche Herz erfiillt und die dem Toten folgt. als ein Wesen. dem derjungeTote folgt, kurz, die ganze Erfahrungsdimension des menschlichen Herzens ist es, die in die Selbsttätigkeit freien personalen Daseins poetisch freigesetzt ist. Es ist die Selbstvergessenheit des mythischen Bewußtseins, die Rilke leitet. Durch seine hohe manieristische Kunst gelingt es ihm, in einer mythenlosen Gegenwart die Erfahrungswelt des menschlichen Herzens ins Mythisch-Dichterische zu erheben. Die hermeneutische Folgerung ist klar. Das mythologische Phänomen verlangt seinerseits eine Art hermeneutischer Umkehrung. Man muß die dichterische Aussage zurückübersetzen. Die methodische Schwierigkeit besteht hier aber darin, daß das Zurückzuübersetzende selber schon ein Zurückübersetztes war. Wenn sonst die große mythische überlieferung in neuer dichterischer Erweckung gleichsam angestrahlt wird und von diesem Licht her ins Unausdeutbare verdämmert, hat die mythische Wirklichkeit, die in Rilkes dichterischer Rede unversehens begegnet. jeweils die genauen Konturen einer bloßen Rückspiegelung einer diesseitigen Erfahrung. Sie umzuspiegeln und als lesbare Schrift in unser Verständnis zurückzuübertragen darf nicht so geschehen, wie etwa in Zeiten gebundener allegorischer Dichtungsform eine Zuruckübersetzung in die Prosa des Gedankens das dichterische Verständnis ständig begleitet. Hier ist keinein sich stimmige Welt mythischer Gestalten oder ausdrücklich vorbereiteter Vergleiche, die unserem heutigen Verständnis aufzuschließen die hermeneutische Aufgabe wäre. Es ist vielmehr ein plötzliches und unvermutetes Anklingen von Stimmigkeiten. von denen aus sich ein fast hermetisch scheinendes dichterisches Gebilde in unser Verständnis hinein ausbreitet. Es bleibt immer etwas von Unstimmigkeit in solchem Verstehen. Aber gerade die Unstimmigkeit im Anklingen solcher Stimmigkeiten ist es, die die dichterischen Ränder bewegt sein läßt. An zwei Elegien soll im folgenden die konkrete Durchfiihrung des Prinzips der mythopoietischen Umkehrung vorgelegt werden. Beginnen wir mit der vierten Elegie. Gleich ihr Einsatz gibt Anbiß, unser Prinzip zu erproben. Der Anruf» 0 Bäume Lebens« meint uns. Es ist falsch, den zweiten Vers mit einer Betonung auf »wir« zu lesen. Der Ton liegtaufdem Nichteinigsein: »Wir sind nicht einig«. weil wir nicht wissen. wann unser Winter ist. wie Lebensbäume. die immer grün sind. Aber das klingt nur an, denn selbstverständlich sind »Bäume Lebens « nicht Lebensbäume. Die großartige Fügung des Eingangsverses beruht vielmehr auf der Unverkennbarkeit der Selbstanrede: von uns ist die Rede. klagend. Wir gleichen nicht den Zugvögeln. die ihre Zeit kennen. und nicht den Löwen. die so sehr mit ihrem königlichen Gange eines sind. daß
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Ohnmacht. das heißt Wollen von etwas. was man nicht kann. sie nicht erreicht. An diesen Gegenbildern einer Einigkeit wird die Entzweitheit und Gewaltsamkeit jedes menschlichen Verhaltens klagend bewußt. und aus dem vorbereiteten Vorverständnis heraus ist klar, daß es vor allem die Liebenden sind, die das menschliche Verhalten hier repräsentieren. Die Halbheit unseres Herzens und die Begrenztheit, mit der es sich auf seine Getuhle einläßt, so daß wir »den Kontur des Fühlens(e überhaupt nicht kennen, läßt uns immer wieder zurückfallen aus unserer Hingabe. Der Dichter nennt dies übermächtige Auf-uns-selbst-Bestehen, das die Hingabe tur den anderen begrenzt, geradezu »Feindschaft«. Die wirkliche Hingabe wird dem Gegenteil, eben dem Auf-sich-Bestehen, nur »rur eines Augenblickes Zeichnung« abgewonnen. Das will sagen: dieses Auf-sieh-Bestehen ist in uns so beständig und allhin ausgebreitet wie der Grund. von dem sich eine Zeichnung abhebt. »Man ist sehr deutlich mit uns(e - die Erklärer haben sich gefragt, wer dieses »man« ist. Es ist ein einfacher Fall mythopoietischer Umkehrung: Wir sind es, die miteinander so deutlich sind, indem wir die Augenblicke wirklichen Einklangs durch soviel Widerstand, Vorbeihören, Aufsichbestehen vorbereiten, als ob wir das mit Absicht täten, damit die Hingabe auch als solche bemerkt werde. Natürlich heißt »manee nicht »wir«, sondern es meint uns, wie wir nicht anders können, wie es mit uns geschieht, als wären wir gar nicht wir. Eben diese Erfahrung, daß es mit uns geschieht, liegt der Metaphorik des ganzen Folgenden zugrunde, der Vorstellung, vor seinem eigenen Herzen wie vor einer Bühne zu sitzen, in banger Erwartung dessen, was sich auf ihr abspielen wird, als wären wir gar nicht wir. Die Bangigkeit, mit der wir dem Auftritt entgegensehen, beruht darauf. daß wir wissen, niemals ganz in dem Gefühl aufgehen zu können, das uns erfllllt, das Einssein mit unserem Gefühl nicht so festhalten zu können, wie der Engel es kann, dieser» Tumult entzückten Gefühls«, d. h. der sich ständig steigernden Erfiilltheit des Fühlens. Deshalb ist die Szenerie auf dieser Bühne des Herzens »immer Abschied«. Damit sind nicht die zu Ende gehenden Liebeseriebnisse gemeint, sondern das vorgängige Wissen darum, daß wir der Aufgabe nie ganz gewachsen sind, mit unserem Fühlen ganz einig zu sein. In mythopoietischer Umkehrung gewinnt das die Fonn, daß »der Tänzene auftritt, der auf einer kulissenhaft schwankenden Bühne ein falsches Schauspiel gibt. Der Garten, der uns das Entgegenblühen verspricht, ist falsch, die Einl).eit von Mensch und Tanz ist nur vorgetäuscht. Man vergißt des Tänzers Privatexistenz nicht, die des »Bürgers«, der sich anstrengt, wenn er seine Rolle spielt, und der sich gehen läßt, wenn er nach Hause kommt. Der Tänzer repräsentiert auf diese Weise die Halbheit - und das heißt: die Angestrengtheit, Gewolltheit des menschlichen Fühlens.
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Und doch sitzt vor der Bühne des eigenen Herzens der Dichter in der Erwartung des vollen ungebrochenen Auftritts eines wahren Geftihls. In dieser Erwartung seines Herzens, das stets die eigendiche Liebe, die alles auslöschende Hingabe erwartet, läßt er sich nicht beirren. Er ruft Zeugen daftir an, daß es Sinn hat, vor der Bühne des eigenen Herzens das wahre und ganze Fühlen zu erwarte!"!: vor allem den Vater. Wieder hilft uns die mythopoietische Umkehrung, genau zu verstehen. Von dem Vater, der längst tot ist, wird gesagt, er habe "Gleichmut, wie ihn Tote haben« - und er gebe diesen Gleichmut fur uns auf. Man versteht, daß umgekehrt der Tote für uns so da ist, daß wir seinen Verlust mit Gleichmütigkeit zu verschmerzen gelernt haben. Doch wird dieser Gleichmut in gewissen Lebenssituationen gestört. Es gibt ausgezeichnete Lebensaugenblicke, in denen das Vor-Ich, der Vater, einen Augenblick aus seiner gleichmütigen Verborgenheit heraustritt. Man denkt an ihn dort, wo man ernste Entscheidungen wagen muß. Und wenn am Ende der Engel kommen muß, die Puppenfiguren an Drähten zu ziehen, so ist auch damit wieder eine Wahrheit des Selbstverständnisses beschrieben, nämlich daß es Erfahrungen und Entscheidungen unseres Herzens gibt, in denen keine Willkür, kein freies Belieben mehr ist und überhaupt kein Auseinandertreten von Wollen und WoIlen, kein Entzweitsein im eigenen Herzen mehr. Es ist dann wirklich so, als wäre es ein uns übertreffendes Wesen, das uns einnimmt. Daß es überhaupt möglich ist, so unzweideutig zu sich selber und zu seinem eigenen Fühlen zu stehen, dafür gibt der Dichter im folgenden zwei Zeugnisse: die Sterbenden und das Kind. Der Sterbende, der mit sich selbst schon abgeschlossen hat, durchschaut das Vorwandhafte aller Dinge um ihn her mit ungetrübter Klarheit. Man denke an den Tod des Iwan Iljitsch von Tolstoi: die Verwandtenbesuche, die Kollegenbesuche, die falsche Munterkeit und den Krampf einer scheinbaren Zuversicht - mit einem fast mitleidigen Blick verfolgt der Sterbende die falschen Anstrengungen der Lebenden, ihm sein Sterbenmüssen zu verbergen. Soviel mehr ist er schon mit sich einig. Und dann das Kind. Dieser Zeuge des richtigen Einsseins mit sich selbst bleibt bis zum Schluß des Gedichtes gegenwärtig. Das Kind kennt ein vollständiges Aufgehen im Augenblick, von dem her selbst noch sein Spielzeug etwas von der gleichen Unbedingtheit erhält. Denn für das Kind ist das Spielzeug im einen Augenblick alles 1:lnd im nächsten Augenblick nichts. Wie da so gar keine Kontinuität in Anspruch genommen wird, kommt heraus, was die Existenz des Kindes ausmacht,. volle Präsenz. vollständiger Mangel an Vergangenheit und Zukunft. So ist in dem Kind die Ganzheit des Fühlens repräsentiert, das ungeteilte Einverständnis mit sich selbst. Es währt bis in die äußerste Zumutung des Todes hinein. Es ist eine Kette rhetorischer Fragen: »Wer zeigt ... «, nWer stellt ...
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das Unbeschreibliche explizieren. Denn niemand kann das. So unbeschreiblich ist es, wie ein Kind dastehen kann, ganz in sein eigenes gegenwärtiges Sein aufgegangen, ein unerreichbares Vorbild ungeteilter und gesammelter Zuwendung. Auch das Kind hat sein Schicksal (es ist ))ins Gestirn« gestellt), aber es hat dabei )) das Maß des Abstands«. Was ihm widerfährt, ist alles nicht von der Art, daß es ihm nachhängt, grollend oder vermissend oder sehnend, sondern es ist »mit Dauerndem vergnügt«, - eine wunderbare Prägung des Wortes )vergnügt(, in der das Genügende und das Vergnügte zur Einheit geworden sind. Das Kind hängt nicht ab von dem, was ihm widerfährt: Wenn ihm ein Spielzeug zerbricht, ein Spiel zerstört wird, wenn es weggerufen wird oder sonst irgendeinen Kummer hat - wie bekommt es das Kind eigentlich fertig, aus dem äußersten Kummer so leicht in das seligste Lächeln überzugehen, und woher hat es diesen Abstand zu allem, was ihm widerfahrt? Seine letzte Probe und eigentliche Bewährung findet dieses große Beispiel des Kindes im sterbenden Kind. Die Weise, wie das Kind nicht nur sein Spielzeug und alles, woran es im Leben hängt, zu lassen versteht und schnell getröstet ist, reicht noch bis dahin, wo das Kind das Leben läßt, wenn es stirbt. Ein Kind, das sterben muß, ist so, wie wenn graues Brot hart wird, so natürlich und bruchlos ist der Vorgang. - Es mag auch ein folkloristisches Element in der Wendung »Wer macht den Kindertod« stecken, denn ein soiches plastisches Verfahren, aus Brot Figuren zu bilden, die durch das Verhärten ihren eigentlichen Ausdruck gewinnen, soll in bäuerlichen Gegenden Böhmens bestanden haben. Aber es scheint mir ganz unwichtig, ob Rilke wirklich an solchen Volksbrauch denkt. Daß die Sinnrichtung dieses Bildes richtig von uns bezeichnet wird, bestätigt sich durch das »oder«. Das Bild springt: Erst wird der Tod gemacht, und nun läßt man den Tod im runden Mund des Kindes, ))wie den Gröps von einem schönen Apfek Was der Dichter nun evoziert, ist der eigentümlich bange Ausdruck, den das kleine Kind annimmt, wenn es beim Essen etwas nicht durch die Kehle herunterbekommt. Die Pointe dabei ist das Festhalten daran. Das Kind will das nicht hergeben, woran es doch würgt. So sehr gehört ihm das Süße und das Bittere zusammen. Beide Metaphern wollen offenbar das für uns unvorstellbare Verhältnis von Einigkeit ausdrücken, in dem ein Kind den Tod willig hinnimmt. Uns scheint der Tod nur als das feindlich Gewaltsame vorstellbar, dem man nicht zustimmen kann. Daher: »Mörder«. Wenn uns die einhei tlich durchgehaltene Thematik der vierten Elegie, wie sie die Eingangsfrage stellte: Wann ist unser Fühlenje unentzweit? - immer wieder durch das Prinzip der mythopoietischen Umkehrung den Zugang zum Verständnis im einzelnen eröffnet hat, so ist die zehnte Elegie, die Rilke selbst für die am meisten gelungene gehalten hat, in ihrem ganzen Aufbau von diesem Prinzip beherrscht. Hier kann man die Interpretation besonders
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weit in die Rückübersetzung hineinfUhren. Doch soll im folgenden nur summarisch verfahren werden. Das Thema, das sofort mit der ersten Anrufung gestellt wird, ist die Bedeutung des Schmerzes fiir das menschliche Leben und die Verkehrtheit, die in unserem Verhalten zum Schmerz liegt. Schon in dieser Anrufung des Proömiums begegnet eine wunderbaremytbopoietische Umkehrung: Die Nächte werden als »untröstliche Schwestern« bezeichnet, das heißt, sie werden mit dem sprechenden Ich brüderlich-schwesterlich zusammengeschlossen, als ob sie sich nicht trösten ließen, sondern sich ganz dem Schmerz hingäben. Natürlich ist es der Mensch, der sich in der Nacht ganz seinem Schmerze hingibt, weil er in nichts mehr flüchten kann, das ihn ablenken könnte. Die Angst vor der Nacht, die der von Kummer oder Schmerzen Verfolgte hat, ist ein Grundmotiv Rilkes vor allem auch in den >Aufzeichnungen des Malte Laurids Briggec, dem ersten Werk Rilkes, das die Höhenlage des Spätwerkes erreicht. Rilke nennt uns »Vergeuder der Schmerzen«, das heißt, wir halten mit dem nicht haus, was wir doch ständig brauchen und was uns unentbehrlich ist. - Es ist nicht der Ort, das Thema des Schmerzes und seines Unterschiedes von der Freude hier in sich zu betrachten. Aber jedermann weiß, daß Schmerz nach innen treibt und eben deshalb vertieft. Ein von Freude verklärtes Gesicht ist gewiß etwas Wunderbares, aber nur der Schmerz zeichnet ein Gesicht. Das weist auf die innere Zugehörigkeit des Schmerzes zum Leben. zum Bewußtsein. zum Wissen um uns selbst. Die beständige Gegenwart des Schmerzes wird bis in die Vokalisation hinein laut in der Zeile »Stelle. Siedelung. Lager, Boden. Wohnort«. die eine immer tiefer sich eintönende und damit immer bestandhaftere Präsenz ausspricht. Statt dessen sehen wir, wie wenig der Schmerz in unserem menschlichen Dasein noch Raum hat. An der ganzen Falschheit des Friedhofs am Rande der Stadt wird das sichtbar gemacht. und wieder ist es der Engel. das Wesen. das keine halben Gefühle. keine Entzweitheit im Fühlen kennt, vor dem von all diesem angeblichen Leid nichts bliebe (er zerträte es »spurlos«). Und daher die bittere Formel vom »Trostmarktcc, wo man durch das Beerdigungsinstitut sozusagen die Leidsymbolik durch Geld ablöst. Man braucht nur an die antiken griechischen Grabstelen zu denken. die »attischen Stelen« der zweiten Elegie, um am Kontrast zu wissen. daß die Grabdenkmäler unserer Friedhöfe wirklich »aus der Gußform des Leeren der Ausguß« sind. Wie das Leid hier nur eine falsche. weggedrängte Randstellung hat. ist das wirkliche Leben für die Menschen eine Art ständiger Jahrmarkt. die Jagd nach einem Glücke und nach der Illusion von Freiheit, die allen Gedanken an das Leid übertönen. Ohne im einzelnen auf die Schilderung dieses »Jahrmarkts« des Lebens einzugehen, ist doch deutlich. was in diesem falschen Leben die eigentliche Geltung hat: Erfolg und Geld. Dort, wo es sich ums
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Geld handelt, fangt es bei den Menschen an, ernst zu werden. Das wird hier durch die Wendung »flir Erwachsene(! evoziert: Das Geld ist etwas, worüber man eigentlich nicht redet (wie über das Geschlechtliche) und das doch gerade das ist, worauf alle aus sind. Dieser Jahrmarkt ist eingezäunt, und an den Planken des Zaunes hängen Plakate des Bieres »Todlos«. So wird uns noch einmal eingeschärft, daß es der Sinn des ganzenjahrmarktes ist, zu tun, als gäbe es den Tod nicht. Wenn man zu diesem Bier »frische Zerstreuungen« kaut, heißt das also: Man betäubt den Gedanken an den Tod, indem man sich in Zerstreuungen stürzt. Hinter dem Jahrmarkt des Lebens, in dem alles falscher Flitter ist, sind erst die wahren Gefühle anzutreffen: spielende Kinder, inein~der ganz versunkene Liebespaare, Hunde. die endlich einmal aus ihrer beständigen menschlichen Gefangenschaft freigelassen sind - und hier nun zieht es den Jüngling weiter. Der Ton liegt auf »Jüngling«. Jünglinge sind. so will das Gedicht sagen. noch nicht gleich so vernünftig wie die Erwachsenen. Sie sind noch verschwenderisch mit ihren Geflihlen. sind noch fähig, über etwas nicht hinwegzukommen. sich einzugestehen. daß etwas nicht richtig ist und daß man sich damit nicht abfInden soll. wie es ist. Für sie hat das Geld noch nicht eine solche Faszination, und deshalb gibt es rur sie noch die Klage. Wieder ist es mythopoietische Umkehr, wenn derjüngling der Klage folgt, von ihr wie angezogen - er geht ihr nach, von etwas angerührt, das ihn bezaubert, bis er am Ende in den Ernst und die Wirklichkeit des Lebens sich zurückwendet. Er mag nicht länger wehmütig und fruchtlos dem Gedanken über die Verkehrtheit der Wirklichkeit nachhängen, und so läßt er das Klagen. Dann aber ist - als wäre das nur ein Weiteres in einer einheitlichen Erzählung - von den »jungen Toten« die Rede, bei denen es anders ist. Sie kehren nicht wieder um, sondern folgen der Klage. Man versteht hier nichts, wenn man nicht versteht, daß nicht die Toten der Klage folgen, sondern daß die Klage der Hinterbliebenen den Toten nachgeht, und vor allem den jungen Toten. Hier ist die Klage gleichsam noch legitim, so daß es einem niemand verdenkt, wenn man sich zur Klage bekennt. Nun wird die mythische Welt der Klagen, in die der Tote eingeht, aufgebaut, und gewiß soll man fortan nicht in eine frostige Allegorie umWsehen, was nicht im einzelnen verglichen, sondern im ganzen verzaubert ist. Aber es bleibt klar, daß hier von der Klage geredet wird, die dem Toten gilt, und zwar so, daß der Tote wie ein Subjekt des Vorganges erscheint, indem er mit der Klage ist, die ihm gilt. Wenn sich die Klage Mädchen gegenüber anders verhält als Jünglingen, so darf man auch darin wieder etwas von dem Wesensunterschied spüren, den Mann und Frau im Verhältnis zur Klage haben. Wenn die Klage mitJÜDglingen »schweigend« geht, dann liegt darin etwas davon, daß der Jüngling sich der Klage nicht so frei hingibt wie das Mädchen. So soll man es sehen.
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Der Dichter folgt dem jungen Toten in das Reich der Klagen. Was der Dichter zunächst zeigt, ist, daß die Klage ihren Ort in unserer Welt verloren hat. Die Klagen sind verarmt. »Einst waren wir reich.« Es ist eine ältere Klage, die davon weiß. Auch das hat seine menschliche Dimension. Die junge Klage wird abgelöst von der älteren, und diese zeigt weiter hinauf ins Gebirge, aus dem sie stammt, und dies Gebirge ist nicht mehr ein Gebirge der Klagen, sondern des Leides, das heißt der verstummten Klage, ausgeschliffen oder wie Zorn, der »schlackig versteinert« ist. Was dahinter steht, ist sozusagen die ganze innere Dimension der Schmerzen, die von der Äußerlichkeit der laut werdenden Klage bis zu der innersten Wirklichkeit eines Leides fUhrt, das mit dem Menschen ganz eins geworden ist. Die ältere Klage, die noch etwas Von der Legitimität des Schmerzes und der Klage im menschlichen Dasein weiß, führt nun den jungen Toten gleichsam durch die Archäologie des Leidlandes. Sie zeigt ihm die verfallenen Reste einer großartigen Herrschaftsordnung des Leides und der Klage. Ethnologie und Religionsgeschichte ertauben uns, das sofort mit Inhalt aufzufüllen, und noch bis in unsere Tage gibt es in bäuerlich gebundenen Gegenden die Herrschaft der Klage: Klageweiber und all die Klageriten. die zum Bestattungskult gehören. Die hohe poetische Kraft dieser Verse zaubert uns eine Landschaft der Klagen hervor. in der die Tränen zu hohen Tränenbäumen erhöht sind und ganze Felder von Wehmut in Blüte stehen, die bei uns »nur als sanftes Blattwerk« irgendwo die Fensterbretter zieren, d. h. unser Dasein nur gelegentlich und am Rande streifen. Und wenn die weidenden Tiere der Trauer dem jungen Toten gezeigt werden, so ist auch hier keine allegorisierende Einzeldeutung am Platze. Wohl aber muß man spüren, wie der Umriß einer abendlich weidenden Herde nach unten zieht und Trauer verbreitet. Schließlich kommt die Nacht, und was nun geschildert wird, hat etwas Ägyptisches. Aber selbstverständlich soll man nicht meinen, diese Klagelandschaft sei Ägypten. Was hier gezeigt wird, ist nicht am Nil. Ägypten klingt hier an, weil dies die Kultur ist, in der der Tote die größte Präsenz hat. Was sollen wir aber verstehen, wenn hier ein anderer erhabener Sphinx im Mondlicht aufsteigt, den der junge Tote bestaunt, wie Rilke einst in einem wunderbaren BriefII sein Erlebnis der ägyptischen Sphinx beschrieben hat? »Der verschwiegenen Kammer Antlitz(( meint gewiß das Pharaonengrab, über das der Riesenleib erbaut ist mit dem menschlichen Antlitz. Wir können mit dem Dichter das Atemberaubende mitfühlen, das von dem Riesigen dieses steingewordenen Gesichtes ausgeht, wenn dieses bewegliche und immer wechselnde uns so lebendig Bekannte des Menschengesichtes nun in das Licht der Ewigkeit getaucht vor dem Beschauer aufragt. Atemberau6
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STEINER,
im Kommentar zu Vers 77ff.
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bend, daß dieses flüchtige menschliche Dasein überhaupt etwas wiegen soll, »auf die Waage der Sterne gelegt«. Aber was ist mit all dem gemeint? Hier hilft die Aufbau-Ordnung des Ganzen. Eine klare Steigerung filhrt uns bis zu diesem Grabmal: ein »krönliches Haupt«. Es ist die Majestät des Todes, der hier das über alles Herr Seiende, den größten aller Schmerzen und den größten aller Verluste, darstellt und daher der Todesklage ihren Rang gibt. Hier hat Klage ihren eigentlichen Ursprung. So ist auch die poetische Beschreibung der Begegnung des jungen Toten mit dem Tode durch die Unfaßlichkeit des Todes bestimmt. Wieder müssen wir umkehren: DerjungeTote, der »im Friihtod schwindelnd« das majestätische Grabmal nicht zu fassen vermag, steht für das Unfaßliche, das ein früher Tod für uns, die überleben, ist. Wir wissen es nicht zu fassen. In der mythischen Selbstvergessenheit, die der Dichter hier bis zu einer ganzen Beschreibung einer weiten Wanderung durch das Land der Klagen durchhält, wird nichts davon explizit. Denn es bleibt alles Beschreibung von Geschautem. Die auffliegende Eule macht die Größe dieses königlichen Antlitzes des Sphinx erst ganz bewußt, es bedarf eines aus unserem gewohnten Quart durch doppeltes Aufschlagen ins Folio vergrößerten, "doppelt aufgeschlagenen(( Blattes, um den ganzen Umriß des Unfaßlichen aufzunehmen. Richtet man den Blick »höher(( - so ist der Einsatz der nächsten Strophe gemeint -, dann erblickt man »die Sterne des Leidlands((. Die Erklärer, vor allem zuletzt Steiner, haben sich bemüht, einzelne dieser Sternbilder zu deuten. Sehr fraglich, ob das auch nur als Aufgabe richtig ist. Man muß hier viel eher an die poetische Funktion solcher Genauigkeit denken, wie sie die neuere literaturwissenschaftliche Semantik zu erkennen beginnt. Wie man dort z. B. )Lügensignale( erkennt, so hier die Zeichen einer ganzen von uns verleugneten Erfahrungsdimension der Schmerzen. Ganz sicher muß jede Einzeldeutung der Forderung standhalten, daß die neuen Sterne »Sterne des Leidlands« sind. Die Symbole müssen etwas mit Leid zu tun haben, und die Aufgabe scheint mir, das Ganze dieses aufsteigenden Sternenhimmels von der Tiefe des Leidgehalts her zu empfinden, der an die einzelnen Symbole angeschlossen ist. Gewiß kann ein Sternbild auch die Leidwelt in der Umkehrung spiegeln, so etwa in dem Glück der »Wiege(( oder in der seligen Einung zwischen Mensch und Tier im »Reiter«. Davon weiß ein Sonett an Orpheus (1, XI) zu sprechen. Aber dort ist die selige Einung nur ein flüchtiger Moment, und das Zerfallen der Einheit wird schon bei der Heimkehr tragisch fühlbar, wenn Tisch und Weide Pferd und Reiter scheiden. Will man im ganzen die Richtung dieser Sternsymboie beschreiben, dann wird die Steigerung, die in der Schilderung zu finden ist, den wichtigsten hermeneutischen Wink geben. Diese Steigerung wird plötzlich verständlich: in dem ,M(, das »die Mütter" bedeutet. Das ist nicht mehr zu verkennen: das
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Sternbild der Mütter, das den ganzen südlichen Himmel einnimmt, vertritt die tiefste Erfahrung des Leids und der Klage. Es ist das Mutterleid. So ließe sich zu jedem einzelnen Sternbild des Leidlandes manches sagen, das Anklänge und Resonanzen weckt, aber es scheint mir nicht im Sinne des Dichters, dort Herkunftsbestimmungen zu suchen, wo die Wegrichtung und damit die Verstehensrichtung im ganzen klar gewiesen ist. Folgen wir nun dem Schluß des Gedichtes, das heißt, gehen wir die Wanderung zu Ende, die der junge Tote mit der Klage geht und von der er sich schließlich trennt, um in die Berge des Ur-Leids einsam hineinzuschreiten. In m ythopoietischer Umkehrung bedeutet diese Wanderung des jungen Toten durch die Landschaft der Klagen, daß der in den Schmerz um einen jungen Toten Versunkene die Weisheit der alten Klagekulturen am Segen der Klage erfahrt. Und wenn die Klage am Ende der Wanderung haltmachen muß. um von ferne auf die Quelle der Freude zu zeigen. die lIim Mondschein schimmert«. so antwortet in uns diejähe Einsicht, daß am Ende des klagenden Trauerns im Trauernden die Freude wieder aufspringen wird. Die Klage muß den jungen Toten am Fuße des Leidgebirges verlassen. Wenn die Klagen verstummen, dann ist die Klage von nun an nicht mehr bei dem jungen Toten. Sie begleitet ihn nicht länger. - Das heißt: so sehr gehört er nun zu denen. deren Verlust wir verschmerzen lernen. Das Leid. das die Angehörigen und Hinterbliebenen tragen. wird endgültig stumm und ist gleichsam im Herzen versteinert. Deshalb schreitet der junge Tote nun »einsam« in die Berge hinein. Jetzt gehört er zu den »unendlich Toten«. die kein Gedenken. geschweige denn eine Klage. je zurückruft. Aber gerade sie, die so unendlich tot sind. sollen in uns »ein Gleichnis erwecken(!. Das weist ausdrücklich darauf, daß es hier etwas zu verstehen gibt. Die lange Wanderung der Klage mit dem Toten ist nicht ohne Sinn und Zweck. Sie führt zu einer Einsicht. und diese Einsicht ist es, aufdie der ganze dichterische Anrufder Elegien hinweist: »Daß ich dereinst. an dem Ausgang der grimmigen Einsicht, I Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln.« »Zustimmung« ist das Stichwort. das die zehnte Elegie mit der ersten Elegie (»des Unrechts Anschein«) zusammenschließt. Der Dichter vergleicht hier, und wo verglichen wird. dort darf gewiß verstanden werden, was der Vergleich meint. Die Kätzchen der leeren Hasel erscheinen noch vor dem grünen Laub. Der Strauch ist noch leer. Aber ein Haselstrauch. der auch weibliche Blüten trägt, kann sich dennoch nie selber befruchten. So ist die Hasel Symbol für e"twas, das nicht für sich blüht, sondern sich selbstlos verschwendet. Sie gleicht darin dem fruchtbaren Frühlingsregen, der auch nicht die eigene, sondern die Fruchtbarkeit für anderes meint, wenn er sich verbreitet. Und nun sagt das Gedicht, daß wir auch diejungen Toten so ansehen sollen. Wenn wir Rührung empfinden, ist es nicht mehr Anklage, die uns erfüllt, daß hier ein Leben nichtausgelebtworden
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ist und daß die Glückserwartung, die mit jedem Leben beginnt, enttäuscht wurde. Was uns mit Rührung erfüllt, soll vielmehr dies sein, daß unserer Glückserwartung entgegen auch das glücklich sein kann, was sich für sich nicht erfiillt hat. Und das ist eine Zustimmung, die mehr bedeutet, als daß man sich mit dem Tod des jungen Menschen abfindet. Sie wird einem gleichsam von dem sterbenden Kind eingeschärft, das sie in seinem ganzen unentzweiten Kindsein uns vorgelebt hat. Die mythopoietische Umkehrung, die wir als den hermeneutischen Schlüssel zu dem Verständnis der Elegien gebraucht haben, hatte in Rilkes Dichtung, wie wir gezeigt haben, einen Gegenstand besonderer Art. Ihr Mythos ist'kein Mythos, das heißt keine überlieferte Sage, die neu gedichtet wird. Es ist auch nicht eine Poetisierung der Welt, die hier geschieht. Im Gegenteil wird gerade das U npoetische unserer Welt Gegenstand der dichterischen Aussage. Wo ist eine Dichtung hohen Stiles, die einen Vers wagen könnte wie den von dem ))Postamt am Sonntag«, von dem es heißt, daß es ))zu« ist? Aber eben das ist es, daß der Dichter diese wirkliche Welt, in der kein Mythos mehr verbindet und in der die Klage der Elegie das Verkehrte und Falsche eindringlich zu sagen weiß, von der Erfahrung des eigenen Herzens her noch immer voller Wunder findet. Diese dem Zeitgeist widerstehende, überwältigende Erfahrung ist es, die ihn über sich hinausgehen, von dem Engel reden und vor dem Engel reden läßt - eine Mythopoiie des eigenen Herzens. Ich bezeichnete es als die mythopoietische Umkehrung, daß der Ausleger das auf diese Weise dichterisch f:linausgespiegelte zurückübersetzt in die eigenen Begriffe des Verstehens. Hier droht gewiß die Gefahr der Scholastifizierung. So wäre es eine falsche Scholastik, wenn man nun überall das Prinzip der mythopoietischen Umkehrung ausdrücklich zu machen suchte, statt es zu befolgen. Das explizite Bewußtsein davon kann nur die Aufgabe haben, zu einer Art hermeneutischer Selbstreinigung zu fUhren, indem es die Methodik wissenschaftlicher Verfremdung, die mit Dichtung umgeht wie mit jedem ailderen Gegenstande unseres Wissens, zurückzunehmen lehrt. Das aber heißt, den Text als sinnvoll und sprechend wiederzugewinnen, der sich als fremd und befremdlich zu verbergen schien. Alle Interpretation kann nur darin münden, daß sie den Resonanzboden in Schwingung versetzt, von dem aus sich die dichterische Melodie uns verstärkt ins Ohr singt. Was an interpretatorischen Explikationen dieser Absicht dient, muß sich zugleich selbst aufheben. Man soll ein Gedicht,. dessen Verständnishorizont man einmal explizit aufbereitet hat, eines Tages selber so lesen, daß alle Explikationen völlig weggeschmolzen werden von der eindeutigen Klarheit, mit der das Gedicht sich nun selbst aussagt. In dieser Allgemeinheit gilt aber das Prinzip der poetischen Umkehrung für alle Dichtung. Immer muß es eine Rückübersetzung geben können, die das in den Versen Gegenwärtige uns gegenwärtig sein läßt. In diesem Sinne ist
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,Parusie< nicht nur ein theologisches Begriffswort, sondern auch ein hermeneutisches. Parusie heißt nichts anderes als Präsenz - und Präsenz durch das Wort und allein durch das Wort und im Wort, das nennt man: ein Gedicht.
26. Rainer Maria Rilke nach fünfzigjahren (1976)
Wenn wir des 100. Geburtstags Rainer Maria Rilkes gedenken und der Tatsache inne sind, daß er wenig über fünfzig Jahre alt geworden ist, so trennt uns ein Abstand von einem halben Jahrhundert von seiner Zeit fiinfzig Jahre, in denen sich die Welt, in denen wir uns, in denen Wesen und Wirken der Dichtkunst sich gewaltig verändert haben. Wir realisieren den historischen Abstand. Wir wissen, daß vieles abgestorben ist, was damals dem Wort der Dichter Widerhall gewährte, und daß in den heute Lebenden neue Resonanzräume sich aufgetan haben, die anderes verstärken und anderes übertönen. Was blieb gültig und worauf beruht die Gültigkeit dessen, was noch gilt? Ein Abstand von fünfzig Jahren kann die größte Ferne bedeuten. Selbst Goethes 50. Todestag - so gut wie sein 100. Geburtstag war keineswegs die fraglose Bestätigung seiner geistigen Gegenwärtigkeit. Die Erstauflage des 'West-östlichen Divan< war damals noch nicht ausverkauft! Und gar Philosophen wie Hegel oder wie Heidegger waren und sindwie die Dichtung Rilkes - nach fünfzig Jahren in der Zeit ihrer größten Sonnenferne. So ist es eine allgemeine Frage, die nicht nur an dieses dichterische Werk gerichtet ist. Alles, was in den dauernden Bestand dessen eingerückt ist, was wir ,Literatur< nennen, steht auf ein rätselhafte Weise zwischen Einst und Immer. Der Gang der Zeit ist wie ein großer Filterungsvorgang, der Weniges, und dies dauernd, zurückbehält. So auslesend zu sein, ist das Wesen aller Überlieferung. Das Werk der Kunst, das von der Überlieferung erhalten wurde, auch das der sich am meisten 'authentisch< erhaltenden Dichtkunst, steht darüber hinaus unter besonderen Gesetzen. Seine Dauer ist nicht nur die des Überlebens, im Sinne der Erhaltung einer Kunde von Vergangenern, die auf das Vergangene zurückgeht und zurückweist. Jede Begegnung mit einem Werk der Kunst ist vielmehr absolute Gegenwart, gelöst von allem Bezug auf eine ursprünglichere authentische, aber vergangene Gegenwart. Ist das noch Dauer des Selben? Was dauert da? Das gleiche Werk? Gewiß ist es noch derselbe Marmor, aber ohne seine ursprünglichen Farben, es ist noch derselbe Text, aber ohne das widertönende Auditorium, für das diese Sprache seine eigene war. Es ist 'gültig< als Werk, obwohl uns seine Welt, der
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Götter und der Menschen, kaum noch anders gilt als eine Kunde von Vergangenern. Warum gilt es? Die Antwort einer formalistischen Ästhetik wird sein: Wir bewundern und uns erhebt das Formniveau dieser Gestaltungen, deren inhaltliche Aussage uns vergangen bleibt, und vielleicht ruft man gar die Wissenschaft an, daß sie uns beweist, wieviel Meisterschaft des Könnens in diesen Gebilden Stein oder Farbe oder Wort geworden ist. Aber ist es das, was gilt? Kunst fur Kenner? Ist es nicht eher umgekehrt so, daß all diese Könnerschaft - außer rur eine Sekundärwahrnehmung des Kenners - gar nicht als solche wahrgenommen wird, daß vielmehr durch ihre Vermittlung etwas anderes zu Gehör kommt, das gilt? Was es auch sei, unsere Frage meint dies. Ist es ein unveränderlich Selbiges, was in allen solchen Vernehmungen vernommen wird? Oder ist es, wie der junge Lukacs meinte, ein einmaliger Begegnungspunkt unserer ästhetischen Regsamkeit mit dem Gebilde, der Subjektivität mit der Objektivität, was den Seinsstand des Kunstwerks ausmacht? Beide Antworten verfehlen offenkundig die lebendige Spannung von Einheit und Vielfalt, von fester Bestimmtheit und wechselnder Weiterbestimmung, die die Dauerhaftigkeit eines Kunstwerks ausmacht. Es ist auch nicht erst der historische Abstand, der nach Dezennien bei der Rückkehr zu demselben Werk Neues und anderes daran herauskommen läßt. All unser Aufnehmen von Kunst, wie unser ganzer Existenzvollzug, ist von Zeitlichkeit durchwaltet. Das Werk eines Dichters begegnet nie mit einem Male. Auch wenn ein künstlerischer Eindruck im zeitlosen Nu eines Augenblicks zu stehen scheint - wir bleiben nie derselbe, der wir waren. Jede neue Begegnung mit einem Werk wird zwar irgendwie und irgendwann auf frühere Begegnungen Bezug haben, aber merkwürdigerweise ist es selbst dann kein wirkliches Erinnertwerden an die frühere Begegnung - sie ist wie ausgelöscht, wie ein Palimpsest, eine kaum noch lesbare Schrift hinter dem Text, den wir lesen. Jede Begegnung hat ihre eigene Konstellation, mit ihrem eigenen Hintergrund von Widerklang und Verhallen. Reizbarkeiten kommen auf und stumpfen sich ab. Die Gestirne wechseln ihre Stelle. Hier ist ein Gesetz dessen, was man .Reiz< nennen kann, das vor allem von der formalistischen Schule der Russen - den Anregern und Vorbereitern des Strukturalismus - herausgearbeitet worden ist, aber im Grunde auf Einsichten Kants zurückgeht. Er unterschied den Reiz von der Form - und in der Tat: Was Reiz ausübt, unterliegt der Dialektik des Neuen, daß es veraltet und Altes, Verblaßtes, Vergessenes neuen Reiz gewinnen läßt. Dagegen ist Form eine dauerhafte und Dauer verbürgende geistige Aufgabe, etwas, was wir selber aufzubauen haben, als Beschauer, Hörer, Leser, und was daher ganz unser ist, wenn wir überhaupt es zu uns hereinließen. Wonach ist also gefragt, wenn wir das Werk Rilkes unter der Perspektive .Nach flinfzigJahren< betrachten? Gewiß leitet uns kein historisches oder gar
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biographisches oder selbst im traditionellen Sinn wirkungsgeschichdiches Interesse. Wir fragen nicht nach der Welt vor hundert Jahren, oder vor neunzig, als der junge Rilke seine unzähligen frühen Verse schmiedete,und nicht nach seinem langsamen Wachsen und Reifen, oder nach der großen Nachgeschichte' seines Werkes, die lang nach seinem frühen Tode im Dezember 1926 einsetzte und alles übertraf, was ihm in nicht geringem Maße zu Lebzeiten an dichterischen Erfolgen zuteil geworden war. Nach f~nfzig Jahren, das meint eine echte Bestandsaufnahme. Der Ältere wird sie als seine eigene Sache, die eines jungen Zeitgenossen des Dichters, vornehmen, kann aber kaum beanspruchen, für Jüngere zu sprechen. Alle Lebensalter der Jüngeren stellen ihre eigenen Bedingungen - und es ist doch derselbe Bestand, der gemeint ist. Hat es Bestand? Man wird in diesem Falle so wenig zweifeln dürfen, wie in den anderen genannten Fällen. Wir spüren es ja selbst, daß es Rilke nicht allein ist, was uns in diese Ferne gerückt ist - das gleiche gilt von George gewiß auch, und selbst von Hölderlin, dessen bedrängte Inständigkeit, seit seiner Wiederentdeckung in der Zeit des Ersten Weltkrieges, den Ton anschlug, auf den unser Ohr für das Dichterische jahrzehntelang gestimmt blieb. Es ist dieser ,hohe Stil< - im Zeitalter der Abwendung vom Naturalismus und Psychologismus der Jahrhundertwende ein zauberkräftiger Reiz-, vor dem eine Zeit zurückweicht, der man so überdeutlich kommt, im Wettgeschrei der Massenmedien, der Reklame und der Propaganda, daß ihr jeglicher Nachdruck der Rede Widerstand weckt. Rilkes Werk hat sich selbst klar strukturiert durch seine Gipfelung im Spätwerk der Duineser Elegien und der Sonette an Orpheus. Die frühen Gedichte, halb gegen den Willen des Dichters später unter diesem Titel versammelt, sind keine schlechten Gedichte. Sie sind virtuos, gekonnt. Wie viele Versuche lagen selbst diesen Pseudoleistungen voraus? Wir erkennen eine unerhörte Biegsamkeit der Sprache, Variationsreichtum, Allregsamkeit, Allreizbarkeit - und -dennoch: Georges bekanntem Verdikt, er habe zu früh publiziert, hat Rilke später »sehr, sehr« recht gegeben. Vielleicht war auch etwas von dem Zerfließen eines weiblichen Gemüts in den unendlichen Weiten östlichen Seelentums in ihm angelegt, das ihn fast zergehen ließ. Aber dann beginnt das, Werk<: Das Stunden-Buch. Der Dichter hat es selbst als eine Art Vorwegnahme empfunden, abseits von seinem damaligen Sein und Schaffen, sich selbst voraus, und es ist wahr - es enthält niebt nur wunderschöne und tiefe Gedichte, es ist auch wie ein erstmals und endgültig angeschlagener Ton darin, auf den alles spätere Schaffen des Dichters komponiert ist. Ein ganz persönliches, individuelles Gottesverhältnis spricht sich aus - wenngleich instrumentiert durch zahllose Gestalten und eine unendliche Variation von Stimmen. Wenn man die Geschichte der modernen Lyrik seit Mallarrrie in eine
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Formel fassen will, so ist wohl die treffendste die überwindung des rhetorisch-prosaischen Elements in der Poesie. Rhetorik ist zwar Kunst, kunstvolle Komposition von Rede und Argumentation, und die traditionelle Einheit von Rhetorik und Poetik hat ihren Boden. Dennoch erhebt sich die Kunst des dichterischen Worts zu ihrer vollen Eigengesetzlichkeit erst in der poesie pure, so daß sie keines festen Haltes in der Einheit des Gegenständlichen, Stofflichen, Mythischen mehr bedarf, um dennoch ,Sage'. Aussage, zu sein. Nun ist Rilke gewiß nie dem Ideal der poesie pure bis ins Extrem gefolgt. Ein rhetorisches und insbesondere ein fast lehrhaftes Element ist ihm eigen - man denke insbesondere im späten Elegienwerk an die zahllosen Sperrungen, die uns heute überflüssig, wenn nicht gar störend scheinen. Aber im späteren Werk bleibt alles Stoffliche bloß Anspielung, die in die Meditation eingegangen ist - im ,Stunden-Buch<. wie in manchen anderen Gedichten seines frühen Schaffens, ist die Meditation noch auf angenommene Rollen verteilt. So weist auch noch das ,Stunden-Buch< von sich und seinen güldenen Kostbarkeiten weg in eine größere Armut und Strenge. Das Werk, das den wichtigsten Schritt zwischen diesem Anfang und dem späteren Gelingen markiert, war ein Roman: ,Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge<. Seit Nietzsehe .wohl die schönste, reichste, reifste deutsche Prosa, die ich kenne, von einem bezwingend klaren Rhythmus getragen und wie von einer durchsichtigen Dunkelheit durchstrahlt, über der der opalene Schimmer eines leidenden Gedächtnisses liegt - ein Buch. das als Roman damals fast einzig dasteht, da es alles Romanhafte in seinen Eigenraum einer zeitlosen Gegenwart des Erinnerns auflöst. Fast möchte man es die Fanfare einer Revolution nennen, die eine neue Romanwelt des Gedächtnisgeschehens heraufführte: Proust, Joyce, Beckett - wenn auch nur ein einziger Ton des Paradigmatischen, Fordernden, Heischenden in diesen stillsten Zeilen deutscher Prosa zu vernehmen wäre. Manchmal mag man die Nähe Herman Bangs und gewiß das vom Dichter stets betonte Vorbildjens PeterJacobsens spüren. Es ist ein Roman, dessen ,Text< einem Helden in den Mund gelegt wird. der nicht der Erzähler selbst ist. So bleibt es ein Roman. den ein Erzähler erzählt. Was diesen ,Roman< in die vorderste Linie des Rilkeschen Werks stellt, sind nicht die Vorzüge seines literarischen Mutes und seiner dichterischen Gekonntheit, sondern seine Tapferkeit. Wie hier ein qualvolles Leiden an sich selber ausgehalten und hilflose Klage durch alle Verschmähung von Tröstung geadelt wird, führt einen neuen, männlichen Ton von Härte in die weibliche Empfindsamkeit von Rilkes dichterischem Werk ein. Seitdem konnte man wissen, daß einer der ganz Großen unter den Dichtern dieser Welt in Bildung begriffen war, einer, der bis an die äußerste Grenze ging und dort standhielt. Im Schein der Dunkelheiten, den der ,Malte< um sich warf, gewann manches aus den
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>Neuen Gedichten< etwas ähnlich Bestimmtes und Hartes, wie ein zuverlässiges Versprechen, alles aushalten zu wollen. Aber dann erst, nach unendlichen Mühen und den Qualen einer fast zehnjährigen Schweigsamkeit, brachten die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus mit einem Schlage die Erfiillung, das Gelingen, eine stürmische Ernte im Winter 1922. Niemand kann seither die Linie dieses Werkes länger verkennen, die vom Verfließen in Weiten zur fast gepreßten Intensität eines verhaltenen Schreies geführt hat. Es hat eine zwingende Folgerichtigkeit. Der Dichter hat es selbst so empfunden, indem er insbesondere >Das Marien-Leben<, den letzten Gedichtzyklus, den er vor den Elegien veröffentlicht hat, selber später als eine Art Rückfall bezeichnete. Die Vollendung der Elegien meldete er seinen Freunden mit einem tiefen »Es ist vollbracht«. Es ist heute kaum möglich, sich der inneren Notwendigkeit im Aufbau des Elegienwerkes zu entziehen. Hier scheint alles auf seinem von jeher bestimmten Platz zu sein. Es wirkt wie die Erfüllung eines lang vorbereiteten Planes. In gewissem Sinne stimmt das wirklich: die ersten vier Elegien sind schon 1912/13 entstanden, und die Anfangszeilen der heutigen zehnten Elegie samt einer später verworfenen Fortsetzung ebenfalls. Die Zielmarke war sozusagen gesetzt, und die zehn Jahre bis zum Erreichen dieses Zieles sehen den Dichter in unseligem Ringen, durch die Ungunst der Zeiten und mehr noch gewiß durch inneres Ausweichen gehemmt und beirrt. Indes, man soll die ergreifende Schilderung, die Rilke in mehrfachen, fast gleichlautenden Briefen von dem Sturm des Gelingens gibt, der im Februar 1922 über ihn kam, nicht allzu wörtlich nehmen. Dieser ungeheuere Aufschwung war ein Arbeitsabschluß, eine Ernte langer Vorbereitung, eine plötzlich aufspringende innere Nötigung, zusammenzufassen - und, wie das dann nicht anders sein kann, zu unterdrücken, wegzulassen, auszuscheiden, was sich nicht einfügte. Daß dies der wahre Sinn der beschriebenen Vorgänge war, scheint mir durch die Tatsache bewiesen, daß Rilke den Elegien noch nach ihrer Vollendung einen zweiten Teil: »Fragmentarisches« beigeben wollte - eine Art Kompromiß mit sich selbst, auf den er später offenbar ganz von sich aus verzichtet hat, als er an sich selbst und den ersten Lesern sah, wie diese zehn Elegien >standen<. Ja, wir können sogar noch deutlicheren Einblick in diese inspirierten Wochen gewinnen, in denen die Vollendung gelang. Es waren zunächst nur sieben Elegien, die Rilke bereits als das fertige Werk ansah und ankündigte, und erst in den unmittelbar folgenden Tagen traten die noch fehlenden drei hinzu. War erst darunter wirklich die zehnte? Man kann sich schwer vorstellen, wie irgendeine andere der Elegien den Schluß einer Reihe hätte bilden können als diese schon 1912 begonnene. Aber gerade darin mag sich dokumentieren, wie unfertig der anflingliche Abschluß war und wie die Bruchstücke und Entwürfe, über die Rilke gebeugt war, förmlich darauf warteten,
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an das schon Gestaltete anzuschießen wie in einem natür!:,::!':.e:"l K:;~=:;:l!isa tionsprozeß. Noch viel erstaunlicher aber und für die Zufälle und Notwendigkeiten in diesem Vollendungssturm endgültig beweisend ist die erst ganz kurz vor der Absendung des Manuskripts an Kippenberg, den Inhaber des Insel-Verlags, vorgenommene Austauschung der ronften Elegie. Hier gelang dem Dichter, wie er schreibt, in einem »Nachsturmll die Elegie der Fahrenden - schwerlich als eine plötzliche neue Inspiration im Ganzen, wohl eher als die plötzlich genug gekommene - Reifung und Fügung älterer Entwürfe zur überzeugenden Einheit des Gedichts. Das eigentlich Lehrreiche an diesem Vorgang liegt aber in dem Gedicht, das ursprünglich die ronfte Elegie war und in den )Späten Gedichten< unter dem Titel )Gegen-Strophen< zu finden ist.
Gegen-Strophen Oh, daß ihr hier, Frauen, einhergeht, hier unter uns, leidvoll, nicht geschonter als wir und dennoch imstande, selig zu machen wie Selige. Woher, wenn der Geliebte erscheint, nehmt ihr die Zukunft? Mehr, als je sein wird. Wer die Entfernungen weiß bis zum äußersten Fixstern, staunt, wenn er diesen gewahrt, euern herrlichen Herzraum. Wie, im Gedräng, spart ihr ihn aus? Ihr, voll Quellen und Nacht. Seid ihr wirklich die gleichen, die, da ihr Kind wart, unwirsch im Schulgang anstieß der ältere Bruder? Ihr Heilen. Wo wir als Kinder uns schon häßlich für immer verzerrn, wart ihr wie Brot vor der Wandlung. Abbruch der Kindheit war euch nicht Schaden. Auf einmal standet ihr da, wie im Gott plötzlich zum Wunder ergänzt. Wir, wie gebrochen vom Berg, oft schon als Knaben scharf an den Rändern, vielleicht
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manchmal glücklich behaun; wir, wie Stücke Gesteins,
über Blumen gestürzt. Blumen des tieferen Erdreichs, von allen Wurzeln geliebte, ihr, der Eurydike Schwestern, immer voll heiliger Umkehr hinter dem steigenden Mann. Wir, von uns selber gekränkt, Kränkende gern und gern Wiedergekränkte aus Not. Wir, wie Waffen, dem Zorn neben den Schlafgelegt. Ihr, die ihr beinah Schutz seid, wo niemand schützt. Wie ein schattiger Schlafbaum ist der Gedanke an euch rur die Schwärme des Einsamen.
Ein schönes Gedicht, ganz aus dem Eigensten Rilkescher Liebeserfahrung und Liebesmoral geschöpft. Man mag es selbst eine Elegie nennen, diese Klage und Anklage, die über die vom Manne nie recht erlernte Liebe ergeht. Aber als eine Elegie in der Folge der Duineser Elegien würde sie niemand ansehen, so anders ist ihr Ton, ihr Maß, ihr Nachhall. Der Dichter gestand sich das offenbar sogleich ein, als ihm die Elegie der Fahrenden gelungen war. Er dachte keinen Augenblick daran, sie als elfte in die Reihe der Elegien einfach einzureihen, sondern ersetzte durch sie die. ,GegenStrophen(. Aber es sagt doch etwas, daß die ,Gegen-Strophen(, die offenbar als fiinfte Elegie schon 1912 geplant waren, als die erste Strophe entstand, und die auch erst im Februar 1922 vollendet wurden, noch damals an die schon länger vollendeten ersten vier Elegien als fünfte Elegie angeschlossen werden sollten. Man wird daran gewahr, welche Dimensionsverschiebung, welcher Dimensionsgewinn mit der Vollendung des Ganzen erreicht worden ist. Zwar ist es kein Zweifel, daß die ersten vier Elegien heute kaum als zehn Jahre früher entstanden erkannt werden würden, wenn man es nicht wüßte. Auch bleibt das Thema der großen Liebenden durch das ganze Werk beständig anwesend. Jedoch schon mit der Helden-Elegie, und mehr noch mit den folgenden - man denke an die Rudolf Kassner gewidmete TierElegie - verliert die Gegenwendung von Frau und Mann, die in den ,Gegen-Strophen, bis zum elegischen Wechselgesang gesteigert ist, die strukturbildende Bedeutung. Das Gemeinsame, uns allen Zugeteilte, für uns alle Anteilige wird jetzt beherrschend. Wie anders fügt sich die Elegie der Fahrenden in dieses größere Spannungsfeld. Das Elegienwerk als Ganzes
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wäre ein anderes - weit mehr ein Sang von Mann und Frau-, wenn die )Gegen-Strophen< in dieser Reihe geblieben wären. Man darf das alles vergessen - man hat es vergessen, sowie man sich unserem Text gegenübersieht, der wahrhaft endgültig wirkt. Genau das ist es aber, wie ein dichterisches Gebilde sich zur Gültigkeit erhebt. Es streift nicht nur die Zufälligkeit seiner Entstehung, die Anläufe und Abbiegungen, die Variationen und Wiederholungen ab, die in den Keimen und Entwürfen lagen - es streift auch, mehr und mehr, alle dem Zeitpunkt der Entstehung, ja dem Zeitalter der Entstehung vorbehaltenen Bezüge ab -, es wird namenlos gültig - trotz aller Bemühung der Gelehrten, es historisch oder biographisch einzufügen, oder der Soziologen, es zu )erklären< und abzuleiten. Da hilft es wenig, festzustellen, daß Rilke ein religiöser Dichter war l . Besser sollte man das Wort )Religion< dort nicht gebrauchen, wo keine religiöse Gemeinschaft den Sinn des Wortes konkretisiert, und das ist für die einsame Stimme dieser Dichtung gewiß nicht der Fall. Man wird auch nicht die hundertfache Variation christlicher Motive - römisch-katholischer wie östlicher Christlichkeit -, die mindestens seit dem großen Rußlanderlebnis Rilkes durch sein Werk geht, als Orientierung wählen dürfen. Es ist ja gerade der große neue Ernst der Duineser Elegien, daß sie jeden Anschluß an bestehende Religionen und Glaubenswelten radikal aufgeben und selbst das leise Gespräch mit Gott, das Malte nicht abreißen lassen wollte, diskret verschw~gen. Rilke selbst hat, in seiner zuletzt immer leidenschaftlicher werdenden Ablehnung des Christentums und seines Angebots an Tröstungen und Verheißungen, gelegentlich der jüdischen und islamischen Religion mehr recht gegeben und würde vielleicht auch in den großen asiatischen Religionen Verwandtes gespürt haben - wie er ja auch vom griechischen und vom ägyptischen Altertum etwas ahnte. Aber die unendliche Diskretion gegenüber Gott, die er einmal bekannt hat2, meint ein Verschweigen, das alle solche Bezugnahme zurückweist. Das gerade ist es: Rilkes Dichtung gesteht sich ein, daß Gott fern ist und daß keine Heraufbeschwörung christlich-humanistischer Glaubensvorstellungen oder ältester mythischer Symbole uns die Ferne Gottes verschleiern darf. Das gibt der Botschaft dieser Dichtung ihre Anredekraft. Sie hat ihren e·Jidenten Zeitbezug und bleibt zugleich - als eine äquivalente Aussage - für jede religiöse Verkündigung wahr, die sich nicht selbst für überflüssig erklären will. Sie mahnt uns, uns diese Ferne einzugestehen und in ihr aufrecht zu stehen. Mochten die )Geschichten vom lieben Gott< und das 1 Siehe dazu auch meine Auseinandersetzung mit ROMANo GUARDINI in .Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins<, in diesem Band, S. 271 ff. 2 In einem Brief an IIseJahr vom 22. Februar 1923.
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>Stunden-Bo.:..ch< noch immer die letzte E:reichbarkeit und Gegenwart Gc~ tes vortäuschen, W~,,!te Laurids Brigge sucht zu lernen, in der Ferne VOn Gott zu leben, gewiß nicht, ohne zu leiden, wohl aber, ohne Tröstungen oder Verheißungen zuzulassen, die ihn nicht wahrhaft erreichen, und das EIegienwerk hat gerade dadurch seinen Rang, daß es der unendlichen Entfernung von Gott voll gewahr und eingeständig ist und selbst den Anruf an qen Engel noch zurückzuhalten sucht. So ist diese Dichtung eine Dichtung der Gottferne. Ihr entspricht aufs genaueste die Rühmung des Hiesigen und des »Hierseinslf: das leidenschaftliche Bekenntnis zum hiesigen Dasein, noch in seiner äußersten Jämmerlichkeit, Not, Bedrängnis. Solche Zustimmung verknüpft sich mit der Ablehnung der Vertröstung auf ein Jenseits. Das ist die >Botschaft<, die wir hören. Ist sie uns neu? Ist sie nicht altvertraut? Man braucht nicht gleich an das »Mensch, bleib der Erde treu« von Nietzsches Zarathustra zu denken. Wir verstehen es schon immer, aus jener tiefsten Lebensgewißheit, die den Tod nicht wahrhaben will und an seiner Unbegreiflichkeit rettungslos scheitert. Gerade das Christentum hat darin seine ganze Rechtfertigung gesehen, daß es die Verzweiflung des Todes nicht verschönte oder verhüllte, sondern im Gekreuzigten als versammelndes Zeichen aufrichtete. Nicht durch Verhüllung seiner Bitterkeit, sondern durch völlige Selbstaufgabe wird die überwindung des Todes in Christus vorgelebt und zugleich verheißen. Das, und nicht die rührenden Jenseitshoffnungen auf den Himmel des Wiedersehens und der für alles Jammerdasein entschädigenden Belohnung des Glaubens, ist die eigentliche Botschaft des Christentums. Aber wie Nietzsehe sah auch Rilke auf den irdischen Haushalt der christlichen Glaubensgemeinschaft, die Menschen mit ihrer schäbigen Rechnung von Unglück und Seligkeit, und verwarf das. Ohne Tröstung auszuhalten und zu überstehen, darin hatte Rilke schon die religiöse Produktivität des >Malte< gesehen. Das Beispiel der jungen Toten in der ersten Elegie geht einen Schritt der Zustimmung weiter, wenn auch nur den negativen, lIdes Unrechts Anschein« von den jungen Toten zu nehmen. Das wiederum hat das Christentum auf seine Weise vonjeher in der Ergebung in den unerforschlichen Ratschluß des Herrn gelehrt. Nur ein verblassendes, rnoralisiertes Christentum, das noch in Kants postulatorisehern Gottesbeweis geistert, mochte hier Ausgleichsgedanken einbringen. Aber dies kommt nicht von ungefähr. Diese »moralische Weltrechnung<j der Gegenleistungen ist ein ganzes System des Lebens, das uns alle beherrscht - und dies meint die Botschaft der Elegie. Sie verweigert jegliche Berufung auf eine religiöse Verheißung, weil eine solche sofort in das System der Gegenleistungen einmündet. Sie ruft in den Bezeugungen des menschlichen Herzens den überstieg über dieses Weltsystem der aufgehenden Rechnungen auf: daher die unendlich Liebenden, daher der Held, daher
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das Vorbild der Liebenden, die wahrhaft »in einander Genügte« wären. Daher der Engel, das uns unendlich übertreffende Wesen. Es ist nur die eine Seite des Ganzen, die in Rilkes den Engel deutenden Briefen hervortritt: Er nennt sie die Garanten des Unsichtbaren. Das ist sozusagen ihre Beweisfunktion rur den der Metaphysik Bedürftigen und ihrer Entwöhnten. Aber die andere Seite ist gerade die, daß es in Wahrheit keines Garanten bedarf, weil unser eigenes Herz selbst es ist, das darur einsteht. Es weiß, wie es zurückbleibt hinter dem, was es ganz zu erfüllen scheint. »Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen.« Der Engel ist überhaupt nur das Gewahrwerden unseres eigenen Zuruckbleibens hinter uns selbstl. Denn wir sind selbst uns übersteigende, Imetaphysische< Wesen. Und doch hört uns nicht einmal der Engel. Das ist das elegische Grundrnotiv, das vor allem die ersten Elegien beherrscht. Die elegische Klage gilt nicht etwa den verlassenen Liebenden, nicht den jungen Toten, dem »vor dem Leben« lebenden und sterbenden Kind, sondern uns, die wir nie so unbedingt sind wie diese, sondern immer auf uns selbst bezogen bleiben und beständig die Gegenrechnung aufmachen. So sind wir abhängig und bedingt vom Gegenüber: Wir, von uns selber gekränkt, Kränkende gern und gern Wiedergekränkce aus Not.
Rilke hat seine eigenen dichterischen Anfange eben deshalb verurteilt. weil sie allzusehr den Erfolg - dies universalste Gegenüber - meinten. Er hat Rodin und vor allem Cezanne wegen der Unbeirrbarkeit ihres Schaffensweges und rur ihr entschlossenes Alleinstehen und Bestehen auf der Suche nach der eigenen Sprache bewundert. Er hat sein eigenes späteres Leben so eingerichtet, daß er seine Lebenspartner, zuerst seine Frau und Tochter, und manche andere, die ihm nahekamen, von sich weggeruckt hat. wie in einem liebevollen Eingeständnis seines Nichtkönnens und zugleich in dem arbeitsamen Entschluß, das Alleinsein auszuhalten und durch nichts zu verstellen. Ein ganzes System der Diplomatie des Herzens hat er entwickelt, um sich die äußere und äußerste Unabhängigkeit des Daseins zu ermöglichen. Der bekannte Briefwechsel läßt das nur gerade ahnen. Die ProdukLivität seiner dichterischen Antwort sollte die alleinige Rechtfertigung dafür sein, daß er sich schonte, verwöhnen ließ, sich entzog und verschloß. Der Engel: Rilkes Selbstdeutung sagt. daß im Fühlendsein des Engels die Auflösung des Gegenüber, die Verwandlung ins Unsichtbare schon vollendet und geleistet sei4 • Wir sagen dafür: Unbedingt zu dem stehen, was uns 3 Vgl. dazu .Mythopoietische Umkehrung in Rilkcs Duineser Elegien<, in diesen) Band. S. 292ff. 4 Briefan Witold Hulewicz. 13. November 1925.
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unser Herz sagt, ist unsere Aufgabe, die uns wie ein jenseitiges Wesen ständig übertrifft. Unsere Begrenztheit in der Erfüllung derselben ist unsere Schwäche. So ist die Gestalt des Engels das uns übertreffende Wesen schrecklich durch die Gewalt seiner Unbedingtheit. Aber nun tritt, im Fortgang des Elegienwerkes und im Wandel des Tons, heraus, daß der Engel nicht nur das uns übertreffende, sondern auch das uns bezeugende Wesen ist. Denn unsere Aufgabe ist nicht minder, das ins Unsichtbare Verwandelte zur Auferstehung im Sichtbaren - zur Gestalt - zu bringen. Der Dichter tut es im Zeigen und Preisen des Hiesigen, im Bewahren »der noch erkannten Gestalt« (7. Elegie). Damit soll nicht das Privileg des Künstlers und der Kunst gegen die Menschen sonst ausgespielt werden. Der Seiler in Rom und der Töpfer am Nil haben den Dichter selbst fasziniert. weil da jeder Handgriff so sicher und selbstverständlich getan wird, weil die Weisheit früherer Geschlechter darin eingegangen ist, bewahrt und sich bewährend. Es ist - von jeher - der allgemeine Auftrag des Menschen, zu bewahren und zu verwandeln. Er gibt sich Dauer. Darin ist nichts von Berechnung und Rechnung aufZukunft - es ist das Hiersein selbst, das sich so erfullt. Zwar sprechen die Elegien eindeutig von dem Schwinden der »Dinge((, das durch das Zeitalter der Hämmer unaufhaltsam heraufgefuhrt wird, und die Bewahrung des so Schwindenden stellt nicht zuletzt des Künstlers Auftrag dar, der Sichtbares ins Unsichtbare- durch die Aufnahme in menschliches Fühlen - hinausstellt, Stein und Farbe, Ton und Wort. Aber es wäre eine falsche überresonanz, wenn man hier die Töne der bekannten Kulturkritik herauszuhören meint-die wahre Resonanz ist die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur und der Menschlichkeit inmitten aller Veränderungen. Was sich in der rasch sich wandelnden Welt von heute so zuspitzt, ist im Wesen nicht unterschieden von der Aufgabe, die die allgemeine Hinfälligkeit aller irdischen Dinge vonjeher dem Menschen gestellt hat. Wir selbst sind »die Schwindendsten((. Rilkes These ist nun, daß die menschliche Aufgabe ist, zu dem Schwindendenja zu sagen - und daß diese Aufgabe in der Zustimmung zum Tode ihre letzte Effüllung fmdet. Rilke hat in zahllosen Briefen dieser Wahrheit Ausdruck gegeben, daß der Verlust, den der Tod eines geliebten Menschen rur die Hinterbliebenen bedeutet. kein eigentliches Verlieren ist. Es ist eine falsche Negativität, die damit dem Tod zu Unrecht zugeschrieben wird. Sie verkleinert die allumfassende Macht des Hiesigen, des Hierseins, der Gegenwart. Diese umfaßt den Tod mit. Aber in Wahrheit nicht nur auch den Tod noch, diese absence, die den Andern, Dahingegangenen, rur uns in eine neue Gegenwart - vor dem Forum der Ewigkeit - eingelassen hat. Vielmehr umfaßt dies Sein des Toten seinerseits das Ganze des Hierseins, denn auch dieses gewinnt teil an
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der neuen Ewigkeit des Toten und seiner veränderten Gegenwart. Das Hier ist selbst anders geworden. Nicht nur der Tote bewegt sich seltsam im Raum - der überlebende fmdet sich seltsam im Raum. »Aber Lebendige machen alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden« (1. Elegie). In seinen Briefen hat Rilke manchmal einen geradezu beschwörenden Ton. wenn er den Tod als den eigentlichen großen Ja-Sager feiert. Er will damit sagen: Der Tod macht das Hiersein in seiner Unbedingtheit erst rund und vollkommen - so sehr. daß kein unerträgliches Hiersein denkbar bleibt. Es ist immer noch Hiersein und »herrlich«. Das schärfen uns die Elegien ein, uns. den )) Schwindendsten«. Es ist eine nicht abzuweisende Wahrheit, daß jeder Verlust, auch der schwerste, verschmerzt werden kann und daß dies eben leben heißt. Nun liegt es im Sinne der )Botschaft< der Elegien, daß gerade der schwer zu verschmerzende Verlust dem eigenen Leben mehr und mehr anzugehören beginnt - auch wenn und gerade dann. wenn das)) Verschmerzen« - welch großartiges Wort - wirklich geleistet, das Leben und die Freude wieder aufgenommen wird. Das hat Rilke offenbar vor Augen. wenn er dasjenseitige Schicksal der jungen Toten schildert. als wären sie hier. In diesem unsichtbaren Reich, das beide Bereiche umfaßt, sind sie da wie das Hiesige auch. und mit ihm. Ich habe das ehedem das Prinzip der mythopoietischen Umkehr genannt und damit nur unserer gewohnten Verständnisweise zu ihrem Recht verholfen, die die Basis dafür ist, daß wir Rilkes dichterische Aussagen )verstehen<. Aufihr steht einjeder, auch wenn er sich dessen nicht bewußt ist. Insbesondere die zehnte Elegie kann das illustrieren. In ihr ist die mythopoietische Kraft Rilkes von eindeutiger Dichte. Es wird von der Klage, insbesondere der Totenk,lage (in der nichts von Anklage ist). auf eine Weise berichtet, als wären die Klagen Wesen unserer Welt. einst wohl bestallt. heute an den Rand gedrängt und in ihrem Recht verkannt. Sie gehören zum Leben. Es gehört sich, zu klagen. Und nun wird von dem jungen Toten. dem die Klage über den Tod hinaus folgt, so gesprochen, als sei er es, der der Klage folgt. Diese Umkehrung brauchen wir uns nicht im Sinne der Transformation einer Gleichung bewußt zu machen. aber sie trägt unser Verständnis. Das können wir gar nicht verleugnen. Am Ende will diese zehnte Elegie den eigentlichen Punkt setzen, den der endgültigen und bedingungslosen Zustimmung. Das ist das Leben, daß es auch noch den Tod verwindet. Mehr noch, daß es gerade aus der Anerkennung der vollen Trostlosigkeit und Grausamkeit des Todes ihn annehmen lernt als das, was er ist: nicht als eine unzumutbar beschränkte Dauer und verbunden mit der vorwurfsvollen Gewißheit, bald vergessen zu sein. Zwar ist es wirklich nur eine kleine Weile, was wir Leben nennen, und wirklich verstummen die Klagen am Ende, und die Quelle der Freude schimmert in der Ferne. Aber das ist nicht
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eine bittere Erkenntnis, daß jeder vergessen wird, sondern eine Botschaft. Wir sollen mit der Dichtung und an ihr die schier herzlose Gewalt des Lebenswillens erkennen müssen, der jeden Schmerz überwindet und jeden Toten am Ende ))unendlich tot« sein läßt - und wir sollen all das bejahen. Das Gleichnis der leeren Hasel, die blüht, ohne die Zukunft der Frucht zu meinen, und des fruchtbaren Regens, der seine eigene Fruchtbarkeit nicht meint, will nicht nur sagen, daß wir die anderen, die unendlich Toten, die wir verloren haben, in ihrem Geschick des Zurückgesunkenseins ins Vergessen erkennen. Das Gleichnis wird uns selber erweckt, wie es ausdrücklich heißt, und das will sagen, daß wir selber darin unser eigenes Geschick begreifen. Auch wir werden - wie jene - einst »unendlich Tote« sein, namenlos und vergessen, und sollen das mit Zustimmung annehmen. Das zu wissen und,zu wollen - uns in unserer Flüchtigkeit zurücknehmen zu lernen -, das lehren uns die Toten. »Könnten wir sein ohne sie?
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Weltwirtschaft spielen wird. Aber die Botschaft der Aufrichtigkeit, in der das dichterische Werk Rainer Maria Rilkes seinen durchgehaltenen Klang und bleibenden Ausklang fand, bleibt wahr - wie die großen anderen Botschaften der Weltliteratur, von Homers lachenden Göttern und weinenden Rossen an. Wir sind zu Flüchtige, um mehr wissen und sagen zu können. Aber zu dem, was Rilkes Dichtung aus den Jahrtausenden unseres Fühlens beschwor, »Säulen, Pylone, der Sphinx, das strebende Stemmen, grau aus vergehender Stadt oder aus fremder, des Doms«. wird auch dies Werk selber zählen, und auch von ihm wird gelten: So haben wir dennoch nicht die Räume versäumt. diese gewährenden. diese unseren Räume.
27. Hilde Domin, Lied zur Ermutigung 11 (1966) Lange wurdest du um die türelosen Mauem der Stadt gejagt. Du fliehst und streust die verwirrten Namen der Dinge hinter dich. Vertrauen, dieses schwerste ABC.
Ich mache ein kleines Zeichen in die Luft, unsichtbar. wo die neue Stadt beginnt, Jerusalem, die goldene. aus Nichts. Kein Wort ist einzeln. Kein Wort beginnt mit sich selbst. Man hat immer schon zugehört. Man hat immer schon etwas gesagt. Man hat immer noch etwas zu sagen. Auch die Worte eines Gedichts sind nicht eine reine Information. die zur Aufzeichnung gelangt ist. Sie sind wie Zeichen und Winke. die ins Weite deuten. Wenn die knappen Zeilen. die wir hier lesen. nicht von anderen •• Liedern zur Ermutigung« begleitet wären - sie kämen dennoch nicht allein. Sje gehören in einen Zusammenhang von Sinn. der fast so etwas wie ein einheitliches Thema hat. Freilich ist es ein dichterischer Zusammenhang. Bildhaftes, Gebärdenhaftes, Metaphern (was wir so nennen) sind nebeneinandergesetzt. als ob sie auseinander folgten. In Wahrheit gravitieren sie gegeneinander und bilden das Feld einer Erfahrung. Die Zeile, die diese Erfahnmg nennt. steht in der Mitte des Gedichts: »Vertrauen, dieses schwerste ABC. « Man fragt ~ofort: Muß man Vertrauen erst lernen? Kann man es lernen. wie man schreiben lernt? Als ob einer ohne Vertrauen überhaupt leben könnte. Ist nicht a11 unser Sprechen von Vertrauen getragen: in den anderen, der einen versteht, in die Worte, die kennen, in die Welt. die in ihnen da ist? Und doch, hier wird Vertrauen als etwas genannt, das man lernen muß.
alle
Hilde Domin. Lied zur Ermutigung 11
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ganz von Anfang an. Wie muß es verlorengegangen sein, dies Einfachste, das allem Bleiben im Leben, aller bleibenden Rede zugrunde liegt, das ABC. Kann man es einfach wieder lernen? Wie etwas noch nicht Gekanntes oder wie etwas Verlerntes? Sind nicht die Mauern, die entlang man sucht, ohne Türen? In der Tat: Es ist das schwerste ABC - das man immer wieder vergißt, das man immer wieder verliert. Wie soll man es lernen? Den Verlust des Vertrauens beschreibt der erste Teil des Gedichts. Den Beginn der Rückkehr des Vertrauens der zweite Teil. Der erste Teil gebraucht die Du-Form, der zweite Teil die Ich-Form - sicher nicht zufällig. Es ist dasselbe lyrische Ich, das erst sich selbst anredet wie einen anderen - ist es denn nicht ein anderer als ich, immer, dem das Vertrauen zum Leben verlorengeht? -, und das sich dann selber etwas -leise - gesteht und damit beginnt, wieder mit sich selbst einig zu sein. Das Bild, das das Gedicht eingangs evoziert, das Gejagtsein (bei dem man noch nicht recht weiß, von wem), weckt eine der großen furchtbaren Szenen der !lias, wie Achill den von Todesangst gepackten Hektor um Trojas Mauem herumjagt, und kein rettendes Tor nimmt ihn auf. Die verzweifelte Flucht dieses Tapfersten ist in den Eingangsversen da, aber sogleich verwandelt und gesteigert. Das erste Stutzen kommt einem bei der Wendung von den »türelosen Mauernll!. Es sind nicht Mauern, deren Tore unerreichbar verschlossen bleiben, sondern Mauern, die entlang du Türen suchst und nicht findest, dich ein- und ausgehen zu lassen in der »Stadt des VertrauenslI, in der vertrauten Welt. Und ein zweites: Hier tritt kein hilfreich scheinender Freund dem Fliehenden zur Seite. so daß er seiner Angst Herr wird und sich zum Kampfe stellt - hier ist kein sichtbarer Feind, den man stellen und dem man sich stellen kann: Wer hier flieht, hat alle Waffen von sich geworfen. Denn er hat die Namen der Dinge hinter sich geworfen, weil sie »verwirrt .. sind und nicht mehr taugen. Das gibt dem ganzen Bild der Flucht erst seinen radikalen Sinn. Die Verwirrung der Namen der Dinge bedeutet die größte Gefahr und die äußerste Wehrlosigkeit. Wir wissen nicht nur von Laotse, daß er mit der Richtigstellung der Namen beginnen wollte, wenn er zu herrschen hätte, und nicht nur, daß Thukydides die Zersetzung, die das von der Pest heimgesuchte Athen befiel, an dem Bedeutungswandel von Worten beschreibt. Wir kennen die ungeheuerliche Verfälschung der Begriffe, die die VolksverfUhrer aller Zeiten bewirken. Und vielleicht ist das noch zu partikular gesehen. Daß sich die Namen der Dinge verwirren, daß die Worte ohnmächtig werden, die ehedem galten, ist wohl immer die Erfahrung, die den Zusammenbruch eines Vertrauens begleitet. Der versteht die Welt nicht mehr, den die Schutzwehr der vertrauten Worte nicht mehr umgibt. Das ist der Sinn der homerischen Metapher dieser Verse: Die Stadt des 1
Siehe dazu auch unten, S. 332f.
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Hilde Domin, Lied zur Ermutigung Il
Vertrauens, in der es sich allein bleiben und leben läßt, ist unzugänglich geworden - ja. gibt es sie überhaupt noch hinter den Mauern der Zurück.weisung, um die wir gejagt werden? Man schenkt dem Wechsel des Tempus Beachtung. Die Jagd erscheint in Vergangenheitsform, eingeleitet durch ))Lange«, das l7lAavy&( np60T1Jßov des Gedichts, das sogleich auf die Wandlung deutet, die sich anbahnt. Und doch geht es im Präsens weiter, das Fliehen und Wegwerfen der Namen. Nicht nur, meine ich. um die verzweifelte Jagd ganz gegenwärtig erscheinen zu lassen, sondern weil diese Fluchtbewegung des Lebens, diese Jagd von Enttäuschung zu Enttäuschung. nicht mit einem Schlage zu Ende ist. Sie dauert fort, wo immer Verständigung und Vertrauen mißlingt. Umgekehrt darf man nicht fragen. wie das Gedicht plötzlich auf das Lernen von Vertrauen kommt. Es kommt nicht plötzlich darauf. Vertrauen ist immer da, immer notwendig. Selbst wo es zerrüttet ist, ist es da, als das, was man neu zu lernen versuchen muß. Ebenso gilt aber auch: Das Wiedererlernen von Vertrauen ist kein unschuldig-zuversichtlicher Neuanfang, der schrittweise Buchstaben des Vertrauens zu lernen beginnt. nachdem alle Enttäuschungen erfahren. alle Verzweiflung ausgekostet ist - Vertrauen ist ein Wagnis. heimlich. unmerklich. uneingestanden. Es gilt, Vertrauen zu fassen. Diese Wendung unserer Sprache enthält alles, was das Gedicht sinnlich evoziert. Was einem beständig vergeht, worin man sich ständig getäuscht sieht, wobei man immer wieder versagt - leise kehrt es dennoch wieder. Es gibt niemals Beweise, auf die sich Vertrauen berufen kann. Es ist nicht ein bekannter Buchstabe und eine Folge von Buchstaben, die al~e kennen, womit das Wiedererlernen von Vertrauen beginnt. Es sind ))zeichen in der Luft«, niemand anderem kenntlich, nicht vorzeigbar, kaum einem selbst bewußt - und doch sind diese ins Flüchtigste gewagten Zeichen voller Bezug, voller Beginn, voll ersten Bleibens. Daß die neue Stadt des Vertrauens ))aus Nichts« gebaut ist, versteht sich; wenn anders Vertrauen Vertrauen sein soll und nicht wohlbegründete Sicherheit. Daß sie im »goldenenc( Schimmer einer ewigen Erwartung glänzt, ein himmlisches Jerusalem, gibt der Wahrheit, die in diesen Versen liegt, ihr letztes Siegel. Man kann nicht leben ohne Vertrauen, ohne Vertrautheit ringsum und ohnejene letzte Vertraulichkeit mit sich selbst, die einen "ichc( sagen und Ich sein läßt.
28. Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr (1971)
Wozu Lyrik heute? - Diese Frage braucht dort nicht gestellt zu werden, wo das Gedicht das Ohr der andern gefunden hat. Die Verleihung des DrostePreises an Hilde Domin spricht für sich selbst. Hier wird ein dichterisches Werk ausgezeichnet, das sich beständig gegen die bange Frage 11 Wozu Lyrik heute? .. seine eigene Antwort verbürgt. Diese Verse, die heute in einigen schmalen Gedichtbänden vorliegen (und denen Prosaarbeiten und literarästhetische Studien der Dichterin zur Seite stehen), haben einen unverwechselbaren Ton, einen Ton, der wie Atem verhaucht. Bereits aus dem Umschlag des ersten Bändchens erfährt man, daß diese Gedichte - bis auf wenige Ausnahmen - erst nach der Rückkehr nach Deutschland entstanden sind, Schöpfungen eines durch ein Wanderschicksal gereiften Lebens. Das scheint mir von symbolischer Wahrheit. Hilde Domin ist die Dichterin der Rückkehr. Bedenken wir, was das heißt. Es heißt nicht, daß hier ein privates Geschick der Vertreibung und der Heimkehr seine Darstellung im Wort suchte und fand. Es heißt auch nicht, daß hier ein allgemeines deutsches Schicksal. das uns zerriß. dessen Wunden sichtbare Narben hinterließen und das nicht zu schließende Risse verursacht hat, dichterische Bewältigung erfuhr. Man möge mir verzeihen - aber was die dichterische Gültigkeit dieser Schöpfungen ausmacht, ist nicht von der Art politischer Lyrik, selbst dort nicht. wo die unvertilgbaren Spuren politischen Geschehens. »silence« und »exile .. , Rückblick aufgraueJahre und erneute Angst um die Freiheit, sichtbar zutage treten. Auch dann nicht, wenn man realisiert. daß der leise Atem dieser Verse in beständigem Zuspruch dazu ermutigt, an Rückkehr zu glauben. Das alles ist da, und doch auch noch mehr. Rückkehr ist noch anderes als das Wagnis und Unterfangen eines ehedem ins Exil Gegangenen. und die Bilanz dieses Lebensschicksals ist noch anderes als die Summe der Erfahrungen von Verlust und Abschied, Fremde und Ferne, Wanderschaft, Freundschaft. Liebe und wie immer man die Reihe der Erfahrungen fortsetzen mag. die hier anklingen. Es sind Dichtungen. Sie reden von uns allen. Wir alle wissen oder müssen lernen, was Rückkehr ist. So begegnen wir uns in diesen Versen selbst, indem wir lernen, was wir wissen.
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Hilde Domin. Dichterin der Rückkehr
HUde Domins Verse lassen uns darüber hinaus auf eine neue Weise verstehen. was Dichtung ist. Wer mit ihr realisiert, was Rückkehr ist, weiß mit einem Male. daß Dichtung immer Rückkehr ist - Rückkehr zur Sprache. Darin liegt die doppelte Symbolkraft ihrer dichterischen Aussage. Was ist Rückkehr? Rückkehr ist nicht bloß Wieder-da-Sein. Rückkehr ist doppelter Abschied. Wer - nach langem Femsein - zurückkehrt, muß von etwas lassen. das sein zu werden begann. Folgen wir nachdenkend einigen Versen. DaheiBtes: Ein Reh tritt aus dem Wald, und eine kleine Kirche auf einem Hügel mit einem einsamen Kirchhof winkt dir zu. Du wägst ihren Gruß wie eine Einladung, die man eines Tages -nochungewiß, wannvielleicht gerne annehmen möchte. Und daran erkennst du, daß du hier ein wenig mehr als an andern Stätten zuhaus bist.
Wenn einer das zu spüren beginnt und es nun doch wieder lassen soll. so macht ihm das neu bewußt. was er einst lassen mußte. So ist Rückkehr ein zweideutiges Geschenk. Sie ist nicht ein Zurückbekommen dessen, was man verloren hatte. sondern zugleich neuer Verlust. Und was ist ihr Gewinn? Die Rückkehr bfSchenkt mit Wiedererkennen. jedoch im gleichen Atemzug erschreckt sie durch Nichtwiedererkennen: Meine Füße wunderten sich daß neben ihnen Füße gingen die sich nicht wunderten.
Es ist nicht nur so. daß alles andere anders geworden ist, als es war. sondern vor allem so. daß wir selber anders geworden sind. als wir waren. Es gibt kein Zurück. Und auf einmal weiß man: Was wie das besondere Los des heimatlos Gewordenen klingt, Unsere Sprache sprichst du sagen sie überall mit Verwundern. Ich bin der Fremde, der ihre Sprache spricht.
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ist in Wahrheit ein allgemeines Los. Immer gehen wir aus, und überall ist Verwundern und kein leichtes Verstehen. Weil das überall so ist, ist Rückkehr niemals reiner Gewinn. Mehr noch: sie ist ein neuer Abschied - der dritte Abschied. Denn jetzt erst ist das, wovon man Abschied nehmen mußte, ganz von einem geschieden, seit auch die Rückkehr nichts mehr zurückbringt. Das heißt nicht, daß Rückkehr schlichte Enttäuschung ist. Rückkehr ist Erkenntnis. Gewiß, alle Erkenntnis ist Abschied. Aber was im Abschied reift, ist selber Erkenntnis. Ein neuer Abstand ist gewonnen. Das Atemlose der Erwartung wird still. Nicht länger werden Ziele planvoll verfolgt. Vieles entgleitet wie Träume, und unerwartet ist, wohin man kommt. Ein Gedicht, das ich besonders liebe, spricht aus, was nicht nur von der Traumfahrt gilt.
Treulose Kahnfahrt Aber der Traum ist ein Kahn zu dem falschen Ufer. Du steigst ein an dem schimmernden Holzsteg des Gestern. Du bist eingeladen zu einer Fahrt über rosa Wolken unter rosa Wolken, wolkengleich. Ein Hauch der Luft, du bist so leicht, der Kahn so steuerlos, das Wasser so spiegelglatt. So sanft verlierst du die Richtung: du bist noch unterwegs nach der Wiese im Licht, wenn der Sand schon unter dem Kiel knirscht im Schatten der Weiden.
So wird Rückkehr zur Einkehr. Denn von wo man zurückkehrt - das Exil läßt man nicht irgendwo da draußen: Unverlierbares Exil du trägst es bei dir du schlüpfst hinein gefaltetes Labyrinth Wüste einsteckbar.
Man irrt in der Wüste sein Leben lang und weiß, daß die fruchtbringende Oase, in der alles glücklich endet, nie sein wird. Die Dichterin wird in einer ihrer persönlichsten Gebärden kenntlich, wenn man liest:
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Hilde Domin. Dichter,!" der Rückkehr
!m,-ner den Kopf geneigt eine: S:imme entgegen von eier ich schon weiß
ic!! \\"i:rde sie nie hören.
Und doch hört dies Lauschen »Lieder der Ermutigung«. Woraus wachsen sie der Lauschenden zu? Hier erhebt sich die dichterische Erfahrung in das Allgemeine der Erfahrung, die wir alle teilen: die Erfahrung des Wortes. Zunächst freilich scheint es die ausgezeichnete, uns alle vertretende Erfahrung des Dichtens: Angst meIne unsere und das Dennochjedes Buchstabens.
Das ist es: Für uns alle besteht der feste Buchstabe. Das Wort verbürgt sich selbst - und doch, weIch Wagnis ist ein Wort: Losgelöst treibt ein Wort auf dem Wasser der Zeit und dreht sich und wird getragen oder geht unter.
Das Wort, das nicht untergeht, das ist - wie ein atemberaubender Glücksfall- das sich ereignende Gedicht. In ihm kommt das Flüchtige zum Bleiben, und die Atemreise des Wortes gelangt an ihr Ziel. Meine Hand greift nach einem Halt und findet nur eine Rose als Srutze:
Man denkt an die Blume des Mundes, wie Hölderlin die Mutter-Sprache, die die Sprache des Dichtens ist, nennt. Und nun begreift man in einem, warum der Dichter an unser aller Stelle steht. Das Verhalten des Dichters zur Sprache ist für uns alle Rückkehr zur Sprache, Abschied und Erkenntnis zugleich. Denn nie sind Worte sich gleich. Der Dichter ist immer aus dem Selbstverständlichen ausgewandert. In dem Atem der Atemlosigkeit. die ihn überall ein Verwundern erregen läßt, wird das Gedicht geboren. Das ist ein Äußerstes der Vereinzelung. Aber ist es nicht auch Rückkehr in das allen Gemeinsame? Nicht nur so, daß der Dichter aufgenommen wird von der Sprache, die alle sprechen. Auch so, daß wir mit ihm mitgegangen sind in Abschiede und Erkenntnisse. Auch so, daß wir selber immer wieder aus dem Selbstverständlichen auswandern - wir nennen das Denken - und
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zurückkehren in ein Andersgewordenes - wir nennen das Erkenntnis. Nur weil wir selber so gehen, gehen wir auch mit dem Dichter mit. Wer es könnte die Welt hochwerfen daß der Wind hindurchfährt. Wer es kann, ist das Gedicht. Das Nächstgegebene wird durchlässig. Es ist nicht länger das Vertraute und Bekannte. Und doch ist es nicht fremd schlechthin. sondern auf eine rätselhafte Weise urvertraut. Es ist in Hilde Domins Versen noch etwas von der Gegenwart des Kindes: Da stand ein Stein. ein grauer Stein. auf einem Hügel im Feld . •Lieber Stein«, sagte ich • • nimm mich an. als seist du ein kleiner niedriger Stuhl vor einem Herdfeuer an dem ein Topf Milch steht bei dir will ich bleiben. Ich will auspacken und wie ein Kind seine Taschen umdreht und seine Murmeln und einen zerdrückten Maikäfer auf dem Boden ausbreitet. will ich das Meine um dich legen.« Das ist mehr als ein vergleichendes I) Wiell. Man erkennt sich selbst an dem, was man im Kinde sieht, nicht nur, daß man auch so war, ganz so. sondern daß man noch immer so ist. Der zerdrückte Maikäfer, über den die Großen lächeln -lächeln wir nicht über uns selbst? Daß man mitnehmen mußte, wovon man sich nicht trennen konnte, auch wenn es einem nichts mehr sein kann - unzerstörlieh bleibt der Drang in einem jeden von uns, alles das Meine um sich auszubreiten. Das allen Gemeinsame baut sich so zum Gedicht auf-aus a11 unseren Vereinzelungen und Erkenntnissen: sie treffen sich werden zusammen gebogen die Botschaften jeder redet furjeden gefiltert die tonlosen Worte und umgewandelt in das Wort
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Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr
Es ist Wandlung ins Gebilde, was geschehen muß, damit das Wort zur Bürgschaft für das Ding wird. Im Gleichgewicht von Klang und Bedeutung und in der Spannung zwischen Klang und Bedeutung, in der sich alles Sprechen suchend und findend bewegt, ist Dichtung ein Höchstes von Gegenwart. Kein Abstand mehr ist zwischen Meinen und Sein, kein Anhauch von Draußen, der frösteln macht. Im Gedicht erreicht die Spra<:he die volle Hautnähe von Wort und Ding: Wort und Ding lagen eng aufeinander die gleiche Körperwärme bei Ding und Wort
So ist die Rückkehr und Einkehr zur Sprache, die der Dichter voll,bringt, nicht nur seine eigene Rückkehr, in der er sich wiederfindet, weil er alles verlor. Es ist unser aller Rückkehr zu uns selbst, in der wir uns finden I. Denn wir essen Brot aber wir leben vom Glanz.
, Zum Thema Dichtung im Exil siehe jetzt auch .Heimat und Sprache< in Ges. Werke Bd.8.
29. Die Höhe erreichen Hilde Domins Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1988)
Die Frankfurter Poetik-Vorlesungen haben eine bemerkenswert starke Resonanz gefunden. Man versteht es, daß es für viele, und gerade für die musisch anrührbare studentische Jugend, etwas besonders Verlockendes hat, wenn Dichter, deren Namen man kennt und deren Schöpfungen man bewundert, vor einen treten, um einem etwas von dem rätselhaften Zauber zu erzählen, den Dichtung auszuüben vermag. Und von den Schöpfern solcher Zauberwirkung unmittelbar zu hören, wie sie es machen. Unter der nun seit vielenjahren im Gang befindlichen Reihe haben offenbar die PoetikVorlesungen von Hilde Domin einen besonderen Höhepunkt dargestellt. Sie liegenjetzt in einem Band gedruckt vor l .
Lesung und Vorlesung Es war offenbar eine fruchtbare Idee, Dichter aufs Katheder zu bitten. Man darf vielleicht sogar sagen, daß die ubliche Dichterlesung, die in unserem Bildungsleben durchaus verbreitet ist, durch diese neue Institution übertroffen wird. Denn hier gehen Lesung und Vorlesung eine neue Verbindung ein, die offenkundig neuen Gewinn erbringt. Die Dichterlesung als eine erste Begegnung oder Wiederbegegnung mit zeitgenössischer Literatur, in der der Dichter seine eigenen Dichtungen selbst zum Vortrag bringt, ist eine wertvolle Erfahrung, ohne Zweifel. Aber sie entspricht nicht ganz dem, was in unseren Zeiten Literatur ist, und Dichtung ist Literatur. Wie das Wort schon sagt, ist das Lesen und nicht das Hören und Zuhören die authentische Begegnung mit literarischen Schöpfungen. Das gilt im besonderen Maße für die lyrische Poesie. Sie will ja im letzten Sinne gesungen werden, mitgesungen werden. Wer ein Gedicht liest, hört sich selber zu. Man will es nicht nur hören, man möchte es selber >machen<, im Melos mitgehen, im Melos aufgehen. Die rhetorische oder didaktische 1 HILDE DOMIN. Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. München 1988.
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Artikulation, die ein Vortragender oder Vorlesender an Akzentuierung aufbringt, um das Ganze eingängig zu machen, muß man selber leisten, wenn man liest. Auch der Schöpfer von Dichtungen kann wohl selber nicht vermeiden, wenn er eine Lesung macht, auch die rhetorische Seite dieses Tretens vor ein Publikum auszufüllen. Das bedeutet, er wird immer anders lesen. Er muß dem dialogischen Gesetz des Austausches zwischen Sprechendem und Hörendem gehorsam sein. Wenn ein Dichter wirklich immer genau gleich läse, wäre uns das wie eine falsche, erstarrte Reproduktion wie das Aufsagen, das man bei einem schlechten Schauspieler erlebt oder bei einem Kind, das nicht versteht, was es da auswendig gelernt hat. Dabei hat jede Dichtung ihren eigenen Stil. und wer sie liest oder spricht, wird bei aller Variabilität, die der Vollzug des Lesens oder Sprechens erlaubt, diesen Stil einhalten müssen. Es ist ein Stil, der selber in keiner Wiedergabe voll getroffen wird, aber jeder Wiedergabe das Maß setzt. Welches Maß? Extreme deuten auf die Mitte. Bach unter den Meisterhänden des Brahms-Interpreten Furtwängler ließ Bach vermissen. Straube und Ramin waren zwar sehr verschiedene Interpreten, aber es war Bach. . Jeder Leser kennt das. Man liest den gleichen Text nicht immer genau so. Wer liest, tut es ganz für sich selbst. Jeder öffentlich vorgelesene Text erreicht selten genug das» So ist es«, das dem Leser immer vorschwebt. Alles ist da fremd, die Stimme, die Modulation des Textes, Tempo, Lautstärke, kurz, der Gestus. All das sind Zutaten zum Text, auch dann, wenn man am Ende sagt: »So war es richtig.« Damit meint man das Gedicht, und man hat gelernt, das Gedicht selber, ganz ohne Zutaten, besser zu hören. Eine Vorlesung ist dagegen nicht eine Lesung. Selbst wenn ein wirklicher Schriftsteller einen wohlvorbereiteten Text vorliest, ist es nicht, wie wenn er unmittelbar aus seinem dichterischen Werk liest. Es ist eine rhetorische und didaktische Komponente dabei, die alles mitträgt. Wenn man aus der Publikation schließen darf, so.hat Hilde Domin die Forderung der Rolle des Katheders wohl ausgefüllt. Sie hat die Distanz festgehalten, die zum Katheder gehört und doch eine Gleichstellung des Sprechers und der Angesprochenen einschließt, wie sie kritische Wissenschaft verbreitet. Gleich die erste Vorlesung Hilde Domins schafft diesen festen Boden. Sie stellt sich der durch Adorno formulierten Herausforderung, daß nach Auschwitz keine Gedichte mehr geschrieben werden könnten. So bietet sie eine Art historischer EinfUhrung in die Nachkriegslyrik. Es ist die Geschichte einer langsamen überwindung, in der die deutsche Dichtersprache in den fünfziger Jahren zu erwachen begann, nachdem es ihr die Sprache verschlagen hatte. Damals verstand sich Adornos Verdikt furjedermann fast von selbst. Wer konnte noch singen?
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Einstimmung ins Lied Das lyrische Gedicht bleibt ja doch ein Lied, in das man muß einstimmen können und mit dem man mitgeht. Hilde Domin wurde von dem fernen Exil aus, das sie mit ihrem Mann, Erwin Walter Palm, gefunden hatte. Zeuge dieses ersten Erwachens. Sie schildert es so, daß man selber Zeuge wird, wie einem da etwas zugeteilt wurde, einzelne deutsche Gedichte. die herüberkamen. Günther Eich. Paul Celan, Ingeborg Bachmann. Man ahnt. was es bedeutete. Auch wenn die im Exil Lebenden nach wie vor in der deutschen Sprache daheim waren, und das heißt ja, im Ganzen der deutschen Dichtung, und wenn in diesem Falle noch das Spanische sie umgab, das eben damals zu einem neuen Siglo d'oro im Aufstieg war - Gedichte in deutscher Sprache, die damals herüberkamen. müssen wie ein Weckruf erschollen sein. Die vieler Sprachen kundige Hilde Domin, die sich das Handwerkszeug aller Dichtung im übersetzen seit Jahren erarbeitet hatte, schildert. wie ungewollt, ungerufen das erste eigene Gedicht, wie man wohl sagen darf, erwachte. ein natürliches Geschehen, und wie die geheimnisvolle Heilung einer Lebenskrise eine Rose als Stütze fand. Es ist das Kapitel einer Lebensgeschichte. die zur Rückkehr nach Deutschland führte. So wurde Hilde Domin zunächst bei uns eine Dichterin der Rückkehr. So nannte ich sie, als ich im Jahre 1971 die Ehre hatte, ihr dichterisches Werk anläßlich der Verleihung des Droste-Preises an sie in Meersburg zu würdigen2 • Aber was war damals Rückkehr? Es war Rückkehr in eine veränderte Welt, in ein Deutschland. das kein gesundes Traditions- und Nationalbewußtsein haben konnte. In den ersten zögernden Schritten des eigenen neuen Gangs wurde es dann von immer neuen Wellen der industriellen Revolution gepeitscht, um langsam zu einer Art» Verfassungspatriotismus« heranzureifen. Was war da noch Heimat? Schließlich gab es eine Art Seßhaftigkeit in Heidelberg mit Erwin Walter Palm, der in der mittelamerikanischen Erfahrungswelt des Exils ein Kenner und Erforscher der präkolumbischen Kunst geworden war. Für den Dichter ist das Gedicht wohl immer so etwas wie Rückkehr, aus der Vielfalt und Fremdheit der Sprachfluten, die einen umbrausen, in eine Sti1le hinein und zu einer Einkehr, die eine lange Reihe der Lieder der Ermutigung braucht. Hilde Domin hat diese sich selbst und uns, den an sich zweifelnden Geschlechtern, zugesungen. Besonders in der deutschen Jugend hat Hilde Domin damals Antwort erfahren. Frauenlyrik? Mit Recht fLihrte sie aus. daß sie kein Kapitel, das man llDame Dichterin« beschreiben könnte, kennt, wie überhaupt alles Private und Persönliche hinter der objektiven Gewah des sprachlichen Kunstwerkes zurücktreten muß. 2
Vgl. jetzt in diesem Band .Hilde Domin. Dichterin der Rückkehr<. S. 323ff.
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Unspezifische Genauigkeit Man fragt sich, woher diese Wirkungsmacht des Gedichteten kommt und sich in Scmeibpraxis und Lesepraxis bewährt. Die dritte und die vierte Vorlesung versuchen, vom Schreibenden wie vom Lesenden aus Winke für die Beantwortung dieser Frage zu geben. Das Kennwort, das Hilde Domin einfUhrt, lautet: Es ist die unspezifische Genauigkeit, die den einzigartigen Gebrauchsartikel, der das Gedicht ist, auszeichnet. In der heutigen Literaturästhetik werden Erklärungen dafiir angeboten, worauf diese unspezifische Genauigkeit beruht. Synonyme, diese Popanze der Grammatik, sind ja für jeden Denkenden ein Ärgernis. Als ob es das geben könnte, wo doch jedes Wort in einem Spannungsfeld steht, durch das es sich beständig neu definiert, und, aus diesem Felde gelöst, zur hohlen Hülse verkommt, die im Lexikon steht. Hilde Domin schreibt: Lyrik, das Nicht-Wort ausgespannt zwischen Wort und Wort. In der Tat, die Grammatik kommt da zu Schaden, wo es um das Gedicht geht. So wie die Logik zu Schaden kommt, wenn einer den spekulativen Satz, in dem sich Philosophie ausspricht, in seinem Sinn an die Tafel schreiben möchte; und wenn das nicht geht, möchten manche allen Sinn des Gesagten leugnen. Hier erlahrt man in Wahrheit eine tiefe geheime Gemeinsamkeit zwischen dem Gedanken und dem Gedicht. Beide müssen aller Regelung widerstehen. Nein, mehr noch. Beide müssen aller Regelung die Luft nehmen, so daß sie kein Wort mehr sagen kann. Bleiben wir bei dem Gedicht und dem, was Hilde Domin die Virulenz des Wortes nennt. Wenn das Gedicht gelingt, weiß man plötzlich, was da richtig ist, was die unspezifische Genauigkeit besitzt. Man könnte es auch die spezifische Ungenauigkeit des dichterischen Wortes nennen, das (mit Kant zu reden) »viel Unnennbares hinzuzudenken « gestattet. Jedenfalls spielt sich diese Genauigkeit nicht nur zwischen den Bedeutungen der Worte ab, sondern auch zwischen den Klängen, nicht nur in dem Sinn der Sätze, sondern ebenso in ihrer Musik. Hilde Domin gibt ein hübsches Beispiel. wie man dem vom ohr her gerecht zu werden und gerecht zu bleiben hat. Sie sucht damr dann die Gründe, die nie ganz vollständig gefunden werden können. Das Beispiellautet3: »Lange wurdest du um die türelosen Mauern der Stadt gejagt. « Das Ohr der Dichterin war seiner Sache sicher. Aber Mauern haben doch keine Türen, sondern nur Tore? Ihr Ohr protestierte. Es muß t)türelose« 3
Siehe oben meine Interpretation .Hilde Domin, Lied zur Ermutigung He, S. 320f.
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heißen. Nun versucht der Verstand sich zu helfen, daß in den großen Toren einer Stadtmauer immer auch Türen sind »und daß es also realistisch war«. Die Hauptsache bleibt freilich, daß dem Ohr Genüge geschah. Ja, ist es wirklich nur das Ohr? Ist es nicht auch immer schon der Verstand, freilich kein realistischer, dem Genüge geschieht? Durch Tore zieht man gemächlich ein oder aus, wenn sie einem geöffuet werden. Türen sucht man und öffnet sie, um einzutreten oder um zu entkommen (und sei es durch die bloße Hintertüre der verständigen Ausflucht, die die Tür im Tor vorschützt). So deutet in Wahrheit das Ohr, und so hört unser Denken. Man folgt dem reichen Anschauungsschatz der Dichterin mit Spannung, wenn sie in solcher Weise auspackt, wie man schreibt und wie man liest, ohne Kontrolle durch Regeln. »Es ist dies ,Dennoch< diese aus dem Nichts aufsteigende Zuversicht - der Augenblick von Freiheit, wie ich es nannte -, den das Gedicht dem Schreibenden und dem Lesenden gibt, von immer zu immer. «
Ein letztes Kapitel gilt Sisyphus. Er ist wie ein Heiliger in der modernen Welt und ihrer aufgeklärten Verzweiflung. Sie sieht in ihm das »Dennoch« verkörpert. Jeder Kenner Homers kennt das, so gut wie der Kenner von Albert Camus und seinem Heroismus der Absurdität. Hilde Domin geht in ihrer letzten Vorlesung dem Symbol gehalt der Sisyphus-Gestalt nach und ihrer Aufnahme bei Goethe und vor allem bei Enzensberger und Jüngeren.
Aufnahme eines Mythos Merkwürdig und vielsagend ist die Aufnahme der Sisyphus-Gestalt in der Modeme: Diese aus der Odyssee bekannte Büßergestalt im Hades, die ständig immer wieder den Felsblock den Berg hinaufrollt - und im letzten Augenblick donnert er wieder zu Tale. Das ist ein schon in der frühen Vasenkunst beliebtes Motiv. In der Neuzeit wird die Figur des Sisyphus aus einer Büßergestalt zum Symbol für den Heroismus des Absurden. Hilde Domin schreibt: »Warum war Sisyphus dazu verurteilt? Das interessiert eigentlich nicht.« Wirklich nicht? Lernen wir eigentlich nicht immer daraus, wenn wir auf die Weisheit des Mythos zu hören versuchen? Wissen wir es wirklich besser? Sisyphus, das Wort heißt eigentlich: ,der überkluge<. Er wird als eine Art mythischer Vater des Lügenmeisters Odysseus in Anspruch genommen, aber meist nicht gerade im freundlichen Sinne. Da werden ihm allerhand Vergehen gegen Zeus und die Götter überhaupt angehängt. Homer schweigt über das Vergehen des Sisyphus ganz, wofür er im Hades zu solchem absurden Tun verurteilt ist. Es ist vielsagend, daß Homer darüber
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schweigt: Das wußten alle. Der Sache nach ist es doch wohl eindeutig, wie wir aus Theognis etwa belegen können. Die Hadesstrafe geht darauf zurück, daß Sisyphus mit Klugheit und List selbst den Tod zu überlisten verstanden hat. Den Tod umgehen. ihn fesseln oder betrügen. das wird hier durch die Bußarbeit im Hades geahndet. Sie soll nicht etwas besonders Grausames sein, sondern etwas besonders Aussagekräftiges. Diese Sisyphusarbeit wiederholt symbolhaft, was es heißt, den Tod nicht wahrhaben zu wollen. Im Zeitalter der technischen Lebens- und Sterbensverlängerung, in das wir eintreten, gewinnt der Sisyphus-Mythos an Stimme. Nein, es gibt ein anderes »Dennoch«. Das Gedicht ist der Felsblock. der nicht wie der tückische Marmor entrollt. Es erreicht die Höhe.
30. Gedicht und Gespräch Überlegungen zu einer Textprobe Ernst Meisters (1988)
Nicht, daß ich eine Interpretation des Werkes von Ernst Meister im Ganzen des lyrischen Schaffens der Gegenwart geben will. Ich möchte mein Thema am Beispiel einiger seiner Gedichte lediglich illustrieren. Zu etwas anderem hätte ich wirklich keine Kompetenz. Ist es doch ein verwirrendes Kaleidoskop, das die gegenwärtigen lyrischen Versuche darstellen. Al$ alter Mann denke ich daran, was in der eigenen Jugend galt. Da zieht vieles an einem vorüber. Da war das Experiment der expressionistischen Lyrik. vor und während der Kriegszeit des Ersten Weltkrieges, was damals in die Welt trat. Doch war das eine Welt, in der sich neben vielem Vergänglichen eine Reihe von wenigen ganz Großen herausgehoben hat - der junge HofmannsthaI, der Dichter Stefan George, Rainer Maria Rilke und, als der fast einzige aus der expressionistischen Dichtergeneration, der noch heute zu allen spricht, Georg Trakl. All das verband sich mit dem einzigartigen Phänomen, das die Wiederentdeckung des späten Hölderlin in den Jahren meiner Jugend darstellte. Später schloß sich daran, vor allem nach dem zweiten Kriege, der dichterische Eigenton eines Gottfried Benn und die versiegelte Botschaft eines Paul Celan. Das waren die zeitgenössischen Dichter, die mich zu meiner eigenen Lebenszeit wirklich begleiteten. Und wenn mich auch manch anderes Gedicht berührt hat, erlaubt mir das sicherlich nicht. als ein Kenner der modernen lyrischen Dichtung aufzutreten. Ich muß mich anders legitimieren. Ich möchte darauf hinweisen, daß das bedeutendste deutschsprachige Buch zur philosophischen Ästhetik unbestreitbar die dritte >Kritik( Immanuel Kants ist, die >Kritik der Urteilskraft<. Indessen, der rechte Kunstrichter scheint er doch nicht gewesen zu sein, wenn er dort als ein lyrisches Beispiel bringt: »Die Sonne quoll hervor, wie Ruh aus Tugend quillt. « Abgesehen davon, daß Kant falsch zitiert, in dem Originalgedicht von Withof, einem Nachfolger Hallers, heißt es: »wie Ruh aus Güte quillt«, kann man doch wohl nicht sagen, daß dies der Harfenklang echtester Poesie ist. Und doch hat Kant dank seiner Begriffskraft wahrhaft öffnend und befreiend gewirkt und mit diesem Buch, der dritten >Kritik(, der großen
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Epoche deutscher Literatur die philosophischen Grundlagen ihres Selbstverständnlsses bereitet. Man sieht an dem Beispiel: Was den Philosophen oder den, der versucht, philosophische Gedanken wieder zu denken, auszeichnet, ist etwas anderes als eine ausgebreitete kritische Kennerschaft. Es ist eher aus dem Abstand, aus der Distanz zu dem, was gerade gegenwärtig ist, daß wir das sehen lernen, was immer ist. Und gilt das nicht insbesondere für die Kunst, daß sie uns wirklich zu zeigen vermag, was immer ist? So ist doch unser aller Verhältnis zu dem, was heute ist, daß wir immer zugleich unter dem gewaltigen Nachhall unserer geschichtlichen Herkunft stehen. Sie ist unsere Gegenwart, und zu ihr gehört nicht nur unsere eigene Geschichte, sondern das gesamte Leben und Schaffen der Menschheit auf diesem Planeten. Das schließt ein, daß wir stets mit den Augen der Kunst aller Zeiten die sehen, die wir kennen. Was dagegen fiir die Kritik, also rur den Kunstrichter, entscheidend ist, ist noch mehr und verlangt ein anderes Können. Der Kritiker ist vor die Aufgabe gestellt, im zeitgenössischen Schaffen das Originale, das Dichte, das wirklich Produktive au~ einer großen Fülle von formgerechten modischen Nachahmungen herauszukennen. Der gute Kritiker kann das in gewissem Grade, und vielleicht auch mancher Künstler. Ich selbst beanspruche solches Können nicht. Ich reflektiere darüber, was die Sinnkraft des dichterischen Wortes bedeutet, wo immer es für mich· zum Sprechen kommt!. Auf dieser Grundlage mächte ich über Gedicht und Gespräch nachdenken. Das sind beides Weisen, wie uns etwas zu verstehen gegeben wird. Wie können sie das vollbringen, daß wir verstehen müssen, auch wenn wir uns sträuben? Man kann das Nachdenken darüber wohl Hermeneutik nennen, das heißt Theorie des Verstehens. Aber eine solche ist im Grunde genommen nur die Selbstbewußtwerdung dessen, was eigentlich geschieht, wenn einem etwas zu verstehen gegeben wird und wenn man versteht. So möchte ich von Gedicht und Gespräch sprechen und die innere Nähe zwischen diesen beiden Formen von Weisung durch Sprache sowie die innere Spannung zwischen ihnen bewußt zu machen versuchen. Auch wenn ich mir der Spannung bewußt bin, die zwischen Gedicht und Gespräch besteht, so ist doch ein gemeinsamer Zug ganz offenkundig. Gedicht und Gespräch sind Extremfälle innerhalb des großen Bereiches der Formen von Sprache. Das eine, das Gedicht, ist Aussage. Was denn sonst in der Welt ist so sehr Aussage wie das lyrische Gedicht - eine Aussage, die wie keine zweite rur sich selber zeugt, auch ohne gerichtliches Siegel. Demgegenüber ist das Gespräch zwar das, wodurch Sprache als Sprache eigentlich 1 Zur Nähe von Gedicht und Gedanke vgl. ,Philosophie und Poesie. in Bd. 8 der Ges. Werke und die übrigen dort gesammelten programmatischen Beiträge zum Thema ,Dichten und Deutene und zum Verhältnis von Philosophie und Literatur.
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lebt und worin sie ihre ganze Bildungsgeschichte durchläuft. Nur dadurch, daß Menschen miteinander sprechen, gibt es ja Sprache. Gleichwohl aber erscheint hier die Sprache nicht wie ein gegebener, greifbarer Werkstoff. Wenn ein Gespräch sich mit Sinn erfiillt oder auch seinen Sinn verfehlt, so begegnet in Sprache nichts anderes als Zeitigung von Sinn. Zeitigung von Sinn zu sein, scheint mir die kürzeste Formulierung des Wunders und Rätsels Sprache, dieses Knochens, von demJohann Georg Hamann gesagt hat, daß er sein Leben lang an ihm herumnage. Hamann sieht sich hier wie einen Hund, der seinen Knochen nicht losläßt, auch wenn kein Fetzen Fleisch mehr davon loskommt. Wenn dergestalt Sprache immer Zeitigung von Sinn ist - wie anders ist doch die Sprache des Gesprächs, wie anders die kristallinische Erscheinungsform von Sprache im Gedicht. Dort geschieht nicht nur Zeitigung von dauerndem Sinn im verhauchenden Wort, sondern da ist die sinnliche Gegenwart des Wortes zur Dauer gekommen. Was läßt Sprache hier zu solcher Gegenwart werden, daß sie selber Bestand und Dauer gewinnt? Ein wenig herausfordernd möchte ich sagen, die Tragkraft des lyrischen Gedichts liegt im Ton .• Ton< meine ich im Sinne von r6vot;, )Spannung<, wie die der gespannten Saite, aus der der Wohlklang tönt. Daß Verse einen .Ton< haben, das ist die unvergleichliche Auszeichnung des wirklichen Gedichtes. Dieser Begriffvon )Ton< ist vor allem von Hölderlin für das, was ein Gedicht zum Gedicht macht, gebraucht worden. Es ist Ton, der sich durchhält, was das Wunder zustande bringt, daß das Gedicht )steht<, mit Hölderlin zu reden: in der flüchtigen Weile einiges Haltbare ist. Weil das Gedicht dies vermag, so Bestand zu sein, ist solches Wort mehr als alles andere ein Text, das heißt, es ist etwas, an dem nichts geändert werden darf und kann, weshalb es sich gegen übersetzung in fremde Sprachen so grausam sperrt. Das Wort .Text< ist im eigentlichen Sinn Ausdruck für ein Gewebe. Da wird aus lauter einzelnen Fäden ein untrennbares Ganzes. So ist auch in einem Gedicht aus vielen Worten und Lauten eine solche Einheit des Ganzen geworden, die sich eben durch die Einheitlichkeit des Tones auszeichnet. Wir kennen das wohl alle, wie der Nicht-Dichter Verse macht, die gefallen mögen, aber keinen eigenen Ton haben, und wir kennen es etwa auch alls dem Reiz und der Problematik des Vorlesens von Gedichten2 . Da gilt es, den Ton zu treffen, den das Gedicht hat, und ihn richtig zu Gehör zu bringen. Eigentlich muß dieser Ton schon im Ohr aller sein, damit der Sprecher gleichsam nur das heraussagt und vorspricht. was alle innerlich mithören. Denn das ist ein Gedicht: der Refrain der Seele. Refrain ist, worin alle einstimmen. Der Refrain der Seele ist freilich kein bloßes Einstimmen in 1 Ausführlicher da2U .Stimme und Sprache< in Ges. Werke Bd. 8 und die anderen Aufsätze dort zur Beziehung von Hören und Lesen zum Wort der Dichtung.
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einen schon erklingenden Text oder seine Melodie. so wie im Singen eines Liedes der Refrain von allen spontan wiederholt wird. Es ist vielmehr von Anbeginn an ein Mitgehen mit dem ganzen Gesang, zu dem das Gedieht einlädt und das sich nur im Mittun ganz erflillt. Es ist wie beim festlichen Lied. bei dem ein jeder mitsingt und wir alle leine Seele( sind. Dagegen macht auf der anderen Seite gerade der Tausch von Wort und Antwort das Gespräch aus. Auch gehört Unwiederholbarkeit der sich steIlenden Fragen, der gegebenen Antworten zum Gespräch. Ein Gespräch ist in dem Moment um sein Leben gebracht, in dem der andere nicht folgt und statt zu antworten, fragen muß: Kannst du das noch einmal sagen? Schon ist es mit dem eigentümlichen, fast tänzerisch leichten Geiste vorbei, in dem ein Gespräch sich von selbst bewegt. wenn ihm ein guter Wind weht. Wohin weht er? Wir wissen es: auf Einverständnis hin, auf das wir, wie es scheint. als denkende Wesen angelegt sind. Verständigung mit dem andern - und Verständigung mit uns selbst, so, wie die nichtdenkenden Lebewesen von jeher mit sich einig sind. Worüber wir Einverständnis suchen und fmden. ist aber kein Text, der uns vorgegeben wäre oder nachgereicht würde. Der Gang eines Gespräches ist vielmehr ein Geschehen. das seinem eigenen Wesen nach sich nicht dazu eignet. in einem Protokoll registriert zu werden. Wir kennen das aus mancher Erfahrung. Das ist auch eine literarische Erfahrung. Nichts ist so schwer, scheint es, als Dialoge zu schreiben oder Gespräche zu berichten, in denen nichts geschieht als ein Austausch von Worten und das Vorbringen von Gründen. die die rechte Antwort auf eine Frage vorbereiten. Außer Plato sind in der philosophischen Literatur fast alle Philosophen bei dem Versuch gescheitert, solche Gp.spräche zu schreiben. Daß sie es immer wieder versuchen, versteht man gleichwohl. Es ist offenbar die Natur der Bewegung des Geistes, daß wir in Wort und Gegenwort denken. So konnte Denken von Plato geradezu als das Gespräch der Seele mit sich selbst bezeichnet werden. Da machen wir uns selber in jedem Gespräch mit uns selbst Angebote. nehmen sie an oder verwerfen sie, und ebenso im Gespräch mit dem anderen, bis so etwas wie ein gemeinsamer Boden gewonnen, eine gemeinsame Sprache gefunden ist und Verständigung (wenn es auch nicht immer Einverständnis sein kann). So etwas zu schreiben. niederzuschreiben, oder gar, es zu erfinden und zu erdichten, ist schwer. Es ist fast unvermeidlich, daß da ein roter Argumentationsfaden sich nach vorne drängt und die Partner des Gesprächs zu bloß einander abwechselnden Sprechern herabstilisiert. Sonst kann das Erzählen gewiß alles, wld vollends der Theaterdichter kann ein Gespräch und muß ein Gespräch gestalten können. Er hat dabei nicht nur den Zauber der Bühne. auf den er vertrauen kann, so daß sich alles in Handlung und Geschehen verwandelt. Auch ohne das ist ein solches Gespräch, das ein Geschehen zwischen Handelnden ist, als Rede und Gegenrede in dieses Geschehen
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eingebettet. Wo dagegen die Worte flir bloße Argumente stehen und das Gespräch allein darauf geht, aus Rede und Gegenrede Sinn zu zeitigen, gibt es eigentlich keinen Text. Wie fern sind wir da dem, was ein Gedicht ist. ,Gedicht, heißt ,Diktat<. Auch sprachlich heißt das Wort nichts anderes. Es schreibt sozusagen durch seine Fixierbarkeit oder auch seine Wiederholbarkeit, wenn man es aus dem Gedächtnis herausgreift, den genauen Text vor, den zu hören und im Ohr zu haben gefordert ist. Das ist offenbar die volle Umkehrung des Verhältnisses, das sonst zwischen Sprache und Schrift besteht. Schrift ist im allgemeinen die nachträgliche Fixierung lebendigen Sprechens. Im Fall des Gedichts ist dagegen alles wirkliche Sprechen dasselbe, ein mehr oder minder unvollkommener Versuch, den Text so zum Sprechen zu bringen, wie wir ihn als Lesende im Ohr haben. So stehen sich Gedicht und Gespräch wie Extreme gegenüber. Das Gedicht gewinnt dann als ,Literatur<, das Gespräch lebt von der Gunst des Augenblicks. Aber in bei den geschieht das gleiche: Zeitigung von Sinn. Bevor wir nun das Gespräch mit den Gedichten, wie sie uns Ernst Meister hinterlassen hat, versuchen, sollten wir über die Lage der Lyrik in der Welt von heute ein paar Erwägungen anstellen. Ich setze es wie eine These hin: Wir leben in der Epoche der semantischen Poesie. Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der eine gemeinsame Sage, Mythos oder Heilsgeschichte oder gewachsene überlieferung. als allen gemeinsames Gedächtnis uns unseren Horizont mit Bildern umstellt, die wir im Wort wiedererkennen. Mit der Gemeinsamkeit der Inhalte, an die man nur anzuspielen brauchte. ist auch die Sprache der Rhetorik mit ihren bekannten Formeln und Floskeln aus dem Gedicht gewichen. So bleiben semantische Einheiten, die sich nicht von selbst einen, vielmehr auseinanderstreben. vielsinnig und gestreut, wie sie sind. Derrida hat das dissemination. ,Streuung<. genannt. Das gibt dem Vers eine Spannung eigener Art. Es ist, als ob Verfremdung der Sprache der zunehmenden Entfremdung des Menschen von seiner natürlichen Welt entsprechen müsse [Motorendonner dringt betäubend durch die Fenster: Ah. die Kirchenglocken der Industriewelt?J. Doch wenn wir uns darüber verständigen wollen. was ein lyrisches Gedicht ist. dann müssen wir. meine ich, nach dem Gemeinsamen im Wandel fragen. Das ist, wie immer, das leitende Vorurteil der Philosophie, das sie in Wahrheit mit allen Menschen teilt, daß am Ende doch das Denken und die gemeinsame Grundausstauung des Menschen mit Vernunft und Sprache uns zusammenbindet. Kein Zweifel, daß wir in einer Welt der Fragmente und einer zersplitterten Sprachgegenwart leben und es dem Dichter aufgegeben ist, dennoch die Einheit einer Sage - seiner Sage - zu Worte zu bringen. Ein Gedicht ist und bleibt eine Versammlung von Sinn. auch wenn es nur eine Versammlung von Sinnfragmenten ist. Die Frage nach der Einheit des Sinnes bleibt als eine letzte Sinnfrage gestellt und erfährt im Gedicht ihre Antwort. Wenn wir von
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dieser ersten Voraussetzung ausgehen, dann sehen wir mit einem Mal einen inneren Bezug des Gedichts auf das Gespräch. Das Gedicht eint alle auf seinen Sinn. Auch das Gespräch ist der Versuch, zwischen divergierenden Partnern in Rede und Gegenrede, Wort und Antwort, zu einem Gemeinsamen hinzufinden - selbst gegen den Donner der Motorräder. Auch ein solcher Vortrag ist ein Versuch, mit sich selbst und mit den Zuhörern ins Gespräch zu kommen. Nun wird man einwenden: Kann man so überhaupt noch reden? Ist solche Erwartung von Sinn, über den man sich verständigt, heute überhaupt noch sinnvoll? Heutige Theoretiker dulden es nicht, daß man so redet. Die nicht mehr schönen Künste sind nicht mehr schön, und nach dem Sinn zu fragen heißt, daß man einer Metaphysik der Präsenz verfällt, über die die Zeit und das Denken hinweggegangen sind. Nun, sofern ich fortfahre zu reden, bin ich wohl verpflichtet, in dem, was ich sage, Sinn vorauszusetzen - und dem andem zuzumuten. Aber wieder wird man einwenden: Hat das Sinn? Fragen wir: Was ist denn Sinn? Sinn ist eben nichtjbnes verfUgbare Ganze, über das wir immer schon alle einig sind, eine Welt des Sinnes jenseits der Wirklichkeit, eine platonische Hinterwelt, die es seit Nietzsehe nicht mehr geben soll. Sinn ist, wie uns die Sprache lehren kann, Richmngssinn. Man sieht in eine Richtung, so wie der Uhrzeiger, der sich in einern bestimmten Sinne dreht. So nehmen wir alle, immer, wenn uns etwas gesagt wird, die Richtung auf Sinn. Formensolcher Sinnahme sind das Gedicht, das wir verstehen und dessen Aussage nie ausgeschöpft ist, und das Gespräch, in dem wir sind und das als das unendliche Gespräch der Seele mit sich selbst nie zu Ende ist. Ich möchte nun diese Überlegungen an ausgewählten Versen von Ernst Meister auf die Probe stellen. Ich beginne mit einer Strophe aus einem Gedicht, die lautet: Spiel ruhig mit Worten. Das raten sie dir, die listigen Töchter, sie, jenseits von Zeugung, die Vogelgestimmten. In diesen Versen ermutigt sich gleichsam der Dichter zu seinen semantischen Freiheiten. Diese Verse sagen, daß in den Worten eine überlegene Listigkeit steckt, ein Wissen, dem man folgen soll. Worte sind einfach da, nicht von jemandem gezeugt. Gerade darin sind sie wie eine große Einladung, ihnen zu folgen. Sie' sind wie Vogelstimmen. Eine unlösbare Einheit von Sinn und Klang bietet sich in ihnen an, und wie der Gesang der Vögel seinem eigenen Jubel folgt, ist das Gedicht jenseits von allem Machen und Meinen. Und doch sagen sie etwas aus, diese Worte, die wie Vogelstimmen sind. Hören wir ein anderes Gedicht:
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Immer noch laß ich mich glauben, es gebe ein Recht des Gewölbes, die krumme Wahrheit des Raums. Vom Auge gebogen, Unendlichkeit, himmlisch, sie biegt das Eisen, den Willen, sterblich ein Gott zu sein. Schon die ersten Worte dieses Gedichtes: »Immer noch« rufen die ganze bedrängte Situation des Menschen ins Bewußtsein. der in einer Welt lebt. die nur den geraden Weg auf die geplanten Ziele hin für den rechten Gang der Dinge zu halten wähnt. Das strömt gleichsam aus dem ganzen Fluß der Informationen auf uns ein. Im täglichen Gebrauch unserer Sprache schlägt es sich nieder. so gut wie in der maschinellen Form, in der Sprache heute auf uns eindringt. Ein jeder ist der Versuchung ausgesetzt, die von da ausgeht, in diesen Glauben an die eigene Geradlinigkeit des Willens zu verfallen. Dies ist nicht nur die Versuchung des Dichters, so zu denken. Das Ich. das redet. will dagegen festhalten, allen Einwänden zum Trotz, daß es doch so etwas wie eine ))krumme Wahrheit« des Raumes gibt. Das Gedicht nennt das auch das »Recht des Gewölbes«. und man kann kaum anders als an die Gewölbe der Gotteshäuser mitdenken, die trotz allem recht behalten sollen. Die zweite Strophe führt das aus. I) Vom Auge gebogen ... ce: das Auge, das mit dem Gewölbe sozusagen mitgeht und sich mit ihm biegt. rührt an die Unendlichkeit der Rundung des Kreises. Das ist keine von einem Anfang zu festem Ende führende Bewegung. Der Kreis verbildlicht seit alters die anfangs- und endlose Bewegung, wie sie die kreisenden Gestirne am Himmel vollführen. Von dieser Erfahrung der sich rundenden Unendlichkeit heißt es: »Sie biegt das Eisen, den Willencc. Die auf sich bestehende Geradlinigkeit des Willens, die so hart wie Eisen ist, muß sic.h doch biegen lassen. Es ist die Erinnerung an die Vermeintlichkeit der eigenen Göttlichkeit, die dem Sterblichen am Kreislauf der ))krummen Wahrheit« des Raumes immer wieder kommt. Wir kommen langsam ins Gespräch mit dem Gedicht. Das verlangt Zeit. Denn freilich ist es wahr, daß man ein Gedicht nicht verstehen kann, wenn man es nur einmal gehört oder gelesen hat. Wer so etwas glaubt, hat überhaupt noch nicht erfahren, was ein Gedicht ist. Es lädt einen zu einem langen Hören und zu einer Wechselrede ein, in der sich Verstehen vollzieht. Es ist die Kompetenz des Lesers. aus der ich das sage. Das Gedicht
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muß mit dem Leser ein Gespräch führen. Aber nicht nur ist das Gedicht mit dem Leser im Gespräch, das Gedicht ist selbst ein Gespräch, ein Selbstgespräch. Das möchte ich wiederum anhand eines Gedichtes von Ernst Meister bewußt machen. Die Gedichte, aus denen ich zitiere. sind fast alle aus dem letzten Jahrzehnt Ernst Meisters. In ihnen herrscht das Motiv des randlosen Raumes, der Unendlichkeit des Raumes, in dem der Lebenden und der Toten Stätte wie verloren ist. Es ist ein Leitmotiv der dichterischen Schöpfungen dieses Dichters. Hören wir: Aufgebrochen mit der Haut und dem Haar aus dem Wald und der Lust, wessen sorgt es, das Tier mit dem Geist als dem Zwiegehöm? Dieses ist wahr: es sorgt seiner Wege, Sprache sprechend gewiß, wenn es stößt an die Ecken der waltenden Luft, seines Todes Vorsprung. An diesem Gedicht ist deutlich - und ich entschuldige mich dafür -, daß philosophischer Unterricht auch an einem Dichter Spuren hinterläßt. Man spürt, wie in diesen Versen aus der gemeinsamen Erfahrung des philosophischen Katheders und seines Zuhörers gesprochen wird. Da ist der Mensch als »das Tier mit dem Geist als dem Zwiegehörn« angesprochen, und wie es gleichsam aus der Welt des tierischen Lebens aufgebrochen ist, und zwar ganz und gar mit Haut und Haar. Wie hier eine Redensart zu neuer sinnlicher Kraft erwacht! Da ist er, der Mensch. Das Haarkleid bedeckt ihn nicht mehr und die Haut liegt bloß. Den Wald der sicheren Zuflucht und die Lust, die ihn fraglos beherrscht, hat er verlassen, um in Sorge zu leben. Was fUr ein Tausch unu wofUr? Es ist die Frage des Gedichtes. eine nahezu verzweifelte Frage. Die Antwort ist nicht gerade zuversichtlich. Die zweite Strophe sagt es, was diese Sorge und die sorgende Lage des Menschen ist, herausgerückt aus allen Naturbahnen von Wald und Lust. Diese Ausgesetztheit im Offenen hat die Struktur des Fragens, das immer auch die Zwiefalt des Zweifels in sich hat. Daher das »Zwiegehöm«, das das Tier mit dem Geist trägt. Es vermag Dinge als mögliche vor uns hinzustellen, in einen offenen Raum der Entscheidung, für und wider, für richtig und falsch, für Brauch und Mißbrauch. Wir sind ständig dieser Lage ausgesetzt, die Sorgen heißt. Daß wir so sind, indem wir sprechen, verstehen wir sofort. Denn das ist Sprache, dieses Vor-uns-Stellen des Möglichen, dies Vorstellen des
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Kommenden, auf das hin wir wollend und wählend unterwegs sind. Darin liegt unsere Auszeichnung im Sein. Aber wunderbar dieses »gewiß«. wie es ein Zugeständnis ist. das zurückgenommen werden muß. Denn in allem Voraus blick in den offenen Raum seiner Zukunft. der wie »waltende« Luft ringsum frei und offen liegt, stößt er ständig an die »Ecken«. mit; denen der Tod in diesen Raum hineinsteht und das ist, woran er sich stößt. Nicht nur ein Vorsprung, der den freien Raum beengt, ist der Tod fur ihn, vielmehr ist er selbst, wie Heidegger sagte, das Vorlaufen zum Tode. Das sind nicht zwei Dinge, sondern eines, seines Wegs sorgen, den offenen Raum mit Voraussehen, Vorausplanen, »Sprache sprechend« besetzen, und sich ständig an den Ecken des Endes, am Tode, stoßen. Es sind die beiden Aspekte menschlicher Endlichkeit. Bevor ich zum Schluß noch ein Gedicht zitiere, möchte ich ein paar Bemerkungen vorausschicken. Bei all seiner Endgültigkeit steht ein Gedicht nicht anders als auch sonst ein denkendes Wort im Horizont des Ungesagten. Was es auszeichnet, ist, daß es sogar immer im Horizont des Unsagbaren steht. Immer ist es ja das Ganze, was man verstehen möchte, so wie der Ton eines Gedichtes es uns sagt und wir als Denkende es niemals ganz zu sagen vermögen. So ist ein Gedicht stets ein Gespräch, weil es diesen Dialog, dieses Zwiegespräch mit sich selbst, ständig führt. Da mag man ein Wort nehmen - ich möchte nicht sagen: )es wählen(. obwohl ich durchaus keine romantischen Vorstellungen über das Machen eines Gedichtes stützen will. Vielmehr glaube ich, daß die Worte )einem kommen(. Sie sind früher da, als wir sie in bewußter Besinnung vor uns stellen, auch wenn wir ~agen: )das gewählte Wort(. Im Gedicht haben wir keine Wahl. da nehmen wir das dem Gedicht kommende und gekommene Wort. Sosehr das gekommene Wort ein Bruchteil und Fragment dessen ist, was das Gedicht ist. stellt es an uns bereits die strenge Forderung, im Fortgang das Gleichgewicht des Ganzen wiederherzustellen. Paul Valery hat einmal gesagt, der erste Vers eines Gedichtes sei das Schwierige, er entscheide über alles. In der Tat scheint ein Gedicht wie ein Gespräch. Es entfaltet sich, es bricht gleichsam das ständige. schweigende Hören und setzt sich dem aus, daß ein anderer ins Wort fällt. daß ein anderes Wort flillt, wie eine Antwort. Das kennen wir im Denken als den Einfall, auf dem im Grunde die ganze Spannung einer Aussage beruht. die sich darauf aufbaut. Das Gedicht fäUt auch nicht vom Himmel, als ein in sich Rundes. weder dem Dichter noch dem Leser in den Schoß. Es ist wie ein Gespräch. und unser Verhältnis zum Gedicht muß wie ein Gespräch Sinn zeitigen, indem es Teilnahme an dem Gespräch leistet. Den heutigen Dichtern, die sich so oft in das Autobiographische zurückziehen, möge es gesagt sein. daß im dichterischen Wort Autobiographie überhaupt nur Sinn hat, wenn wir in ihr alle mitgezählt sind, miterzählt werden. Nur dann können wir mitgehen.
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Das ist der große Vorzug des Gesprächs, daß es dieses Mitgehen ausdrücklich fordert und sich desselben versichert. Darum hat Plato in einer manchmal fast ermüdenden Weise seinen Sokrates durch die Antworten dessen, der da >Ja{ sagt oder >Nein{ sagt oder >Vielleicht{, immer wieder unterbrechen lassen, wenn Sokrates nicht gerade wie ein Inspirierter seine Mythen erzählt, die über alles Wißbare hinauslenken. Solange Sokrates dem Logos des Gedankens folgt, bietet im Gespräch mit dem anderen zu sein, durch das bloße Mitgehen des anderen, einen unvergleichlichen Anhalt für einen jeden, sich nicht zu versteigen und zu verlieren. Der andere ist selber, im Mitgehen, wie der andere unser selbst. Mitgehen zu gewinnen, das ist es, was der Dichter ebenso sucht wie jeder sonst Sprechende. Er sucht es gewiß vor allem als ein Mitgehen mit sich selber, Hinhören auf sich selber, auf das Wort, das kommen muß. Wie man nur mit dem ein Gespräch führen kann, der nicht alles schon weiß, sondern hinhört, was dem anderen kommt und was von dem anderen kommt, so ist es auch bei dem Gedicht und dem Gespräch mit dem Gedicht. Auch der Interpret muß in solchem Gespräch sein. Es ist eine verrückte Theorie, daß das mitgehende Verstehen, auf das alle Interpretation zielt, so etwas sein möchte wie eine Konstruktion des Sinnes, der angeblich im Gedichte liegt. Wenn das möglich wäre, brauchten wir das Gedicht nicht mehr. Das Gedicht weist uns vielmehr wie ein sich fortentwickelndes Gespräch in die Richtung auf einen nie ganz einzuholenden Sinn hinein. Da ist keine Rekonstruktion eines verfügbaren Sinnes, gar Reduktion auf das, was der Dichter >im Sinne{ gehabt hätte. Es gilt, in dem inneren Gespräch mit der Sprache selber mitzugehen - so wie man es eben tut, wenn man im Gespräch ist. Man sucht Winke zu empfangen, wohin man zu sehen hat. Daher gibt es kein einziges anderes Kriterium fUr die richtige Interpretation eines Gedichtes im ganzen, als daß die Interpretation absolut zu verschwinden weiß, wenn man das Gedicht erneut vollzieht. Eine Interpretation, die einem immer noch als eine solche gegenwärtig ist, wenn man das Gedicht neu liest" oder spricht, bleibt äußerlich und fremd. Stets war etwas überbelichtet, etwas überhellt, und es gelang nicht, das zurückzunehmen, was vom Interpreten dazukam. So wird jede Interpretation eines Gedichtes daran gemessen, ob sie das Gedicht selbst wieder sprechen zu lassen weiß. Das Gedicht ist der Refrain der Seele, die zwischen Ich und Du immer dieselbe Seele ist. Zum Abschluß möchte ich eines der Gedichte Ernst Meisters zitieren, die mich am meisten bewegen. Es ist ein Gedicht, das eigentlich ganz problemlos scheint - und vielleicht gerade deshalb fragt man sich bei ihm, warum es eigentlich ein Gedicht ist, zu dem man immer zurückkehrt und das man eigentlich erst >hat{, wie man überhaupt Gedichte hat: Erst wenn man es auswendig kann, läßt man sich von den Worten Winke geben, immer neue, die in die Richtung des Sinnes weisen.
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Die alte Sonne rührt sich nicht von der Stelle. Wir indem dämmrigen Umschwung leben die Furcht oder die schwere Freude. LiebeVerlaß und Verlassen, von ihr haben wir gewußt auf dem Trabanten, eh alles vorbei.
Es sind einfache Worte, die fast so etwas wie eine kosmische Vision vor uns aufleuchten lassen - Pascal hat sie beschworen: das neue Universum mit dem Sonnen-Zentrum und der unendlichen Kleinheit des Irdischen. Das ist gewiß nicht das neue Universum von heute. Astronauten und Astrophysiker und die allgemeine Bildung. die ihnen folgt, sehen in unserem Sonnensystem wieder nur ein rührendes kleines Wink elchen im Ganzen. Etwas von Rührung zittert auch in dem Wort, mit dem das Gedicht einsetzt: I) Die alte Sonne«. Wer wird wohl die Sonne die »alte Sonne« nennen? Vielleicht jemand, der an diese unendlichen Weiten der astrischen Systeme denkt, die unser heutiges Bild des Universums füllen. Doch liegt auch so etwas wie Vertrautheit in dem Wort »die alte Sonne«, etwas von Zärtlichkeit - und fast von Trauer. Schon in diesem ersten Worte klingt etwas von der Flüchtigkeit unseres eigenen Daseins an. Der uns vertraute Sonnenlauf vom Morgen bis zum Abend. über den Sommer und Winter hin. ist gar nicht. Was ist, ist der Umschwung, in dem wir uns befinden. Es ist ein »dämmriger Umschwung«. So wird er genannt im Vergleich zu der dauernd strömenden Lichtquelle und Wärmequelle, die die Sonne ist. In den kosmischen Maßen jenes kopernikanischen Weltbildes schon liegt die Erfahrung der menschlichen Begrenztheit: Es ist ein riesiger Unterschied der Dimensionen zwischen dem System der Sonne, in dem wir leben, und diesem Trabanten, der der Sonne folgt, auf dem wir leben, und all unsere Furcht lind Freude leben. Hier gewinnt das Beiwort zu "Freude«, "schwere« Freude zu leben, ein ungeheueres Gewicht. Natürlicherweise erwartet man bei Freude das Leich-
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te und das Erleichternde, das im Erfahren von Freude liegt. Die kosmischen Maße, in denen hier das Menschsein gesehen ist, lassen aber die Freude nicht nur ein Leichtes sein, sondern ebenso auch ein Schweres. Der Fortgang macht das sichtbar: "Liebe - Verlaß und Verlassen. (e Hier kann man die semantische Produktivität eines solchen Gedichtes besonders gut erfassen. Wie sich hier zwei Bedeutungen wie "Verlaß« und» Verlassen« ineinanderfügen und zugleich auseinandergehen - im Rhythmus und Gesang dieses Gedichtes hat das eine umfassende Bedeutung. Da ist all das darin, was uns Menschen, in unserer Winzigkeit, in der Ausgesetztheit in die Leere des unendlichen Raumes, dennoch eingeräumt ist. Da ist Verlaß, der in der Erfahrung der Liebe ist, und da ist Verlassen, das Erfahrung der Liebe ist, und das Dauern von Liebe über Verlaß und Verlassen hinaus. Es klingt fast wie ein Gegengewicht zu einem fehlenden Gleichgewicht, daß auf diesem winzigen Beiläufer des kreisenden Universums solche Erfahrungsmöglichkeiten von Einzigkeit bestehen. Sie sind das Unsrige, "eh alles vorbei«. Geht alles vorbei? Der Vorsprung des Todes, das Hineinstehen des Todes in alle vermeintliche Dauer und Gegenwart - wieviel wiegt diese Gewißheit gegenüber Verlaß und Verlassen? Auf diese Frage ist die Antwort dieses Gedicht. Vielleicht hat die kurze Vorstellung solcher Gedichte ein konkretes Beispiel dafür gegeben, wie zwischen Gedicht und Gespräch vieles unseres Menschseins ausgespart ist, und man ahnt, daß das unendliche Gespräch des Denkens in den unendlichen Gesprächen, die es mit Gedichten fuhrt, immer wieder seinen Partner findet.
31. Ernst Meister, Gedenken V (1977)
Grün nun des ersten Frühlings: ein Blatt scheidet die Lippen ... Wer ist tot, wer lebt von uns zweien? Einer ist da, einer kommt. Das Blatt zwischen uns, Wie es duftet! Grün ist das Schwarze der langwährenden Zeit, schwarz ist das Grüne. Auf singender wie verwesender Zunge schläft des Lebens Warum.
Das letzte Gedicht einer Folge, die dem Gedenken an jemanden gewidmet wird, der dahingegangen ist. Ein Abschluß - vielleicht eine Bilanz? Ein Ende und Anfang? Wie jedes Ende ein Anfang? Gewiß auch ein Anfang. Denn das erste Wort dieses Gedichts ist DGrün", das Grün des ersten Frühlings. Doch zeigt sich, daß dieses Gedicht etwas ganz anderes sagen will. Das Grün spricht nicht wie ein erstes Versprechen. Es ist mehr wie eine Frage: Was nun? Wie soll das »Nuncc der Zukunft bestanden werden, die als das erste Entfalten eines Blattes sich öffnet? Es »scheidet die Lippen«. Das erste Grün ist wie ein Öffnen der Lippen für ein Wort, das mir etwas sagen will. Aber nun ist die ganze Antwort des Gedichtes: ,Nein< - es gibt nicht einfach nur den überlebenden. »Wer ist tot, wer lebt von uns zweien?c( Die einfältige Eindeutigkeit des Am-Leben-Seins hält fiir den Zurückgebliebenen vor der Frage des neuen Hoffnungsgriins nicht stand. Gewiß, man ist am Leben. Aber woran ist der, der am Leben ist? Ist er nicht einfach Idranc, ohne zu wollen, ohne ja zu sagen?
Ernst Meister. Gedenken V
So scheint es zu sein. Die zweite Strophe spricht es aus: »Einer ist da, einer kommt.« Es heißt nicht: Einer ging, einer kommt. Es ist eine Aussage, die uns alle umfaßt, uns allen gemäß ist. Beides, Dasein und Kommen, meint das »Da«. Aber was ist das Da? Ist es wirklich das, wovon der, der gegangen ist, ganz und gar abgeschieden ist, wie durch das erste Wort des Frühlings, das den Dahingegangenen nicht mehr erreicht? Was so die Lippen scheidet, das Blatt zwischen uns, ist jetzt anders gesehen. Es ist zwischen uns da. Mochte das »einer - einer« einen jeden von uns, uns alle, uns Menschen überhaupt meinen: ))das Blatt zwischen uns« meint mich und dich. Es ist nicht länger nur das die Lippen scheidende, das sich entfaltende Blatt, das nur uns meint und nicht dich. ·Es ist da als Duft, und der Duft ist nicht des Blattes allein. Er ist in das »Da« verteilt, verbindend und nicht scheidend. Dieser Duft ist so sehr da, daß er alles verbindet und einhüllt, selbst das, das nicht mehr da ist. Eine intime Affinität verbindet Duft und Spur, Duft und Gedächtnis. Duft, das Flüchtigste, das uns entgegenweht und so rasch verweht ist wie wir selber, ist in das Da verteilt. So kehrt die letzte Strophe die Frage zur Antwort um. Das Grün ist nicht länger das Dieshier des neu sich entfaltenden Blattes, das das Schwarzgrau der winterlichen Äste belebt, und ist nicht das Grün der Hoffnung, das sachte das Schwarz der Trauer überwächst. Der Beginn der Strophe mit dem gleichen Wort »Grün«, mit dem die erste anhob, ist wie der Anfang einer Berichtigung. Es ist nicht länger das Grün, das über das Schwarz siegt. Grün und Schwarz sind, wie tot oder lebendig, Hoffuung oder Trauer, Sein und Nichts, ineinandergespiegelt und ununterscheidbar. Das »Schwarze / der langwährenden Zeit« ist die Zukunft, in ·der auf nichts gehofft wird, in der sich nichts als Grün der Hoffnung abhebt, ein dichtes, unartikuliertes Schwarz. Sie ist selber grün, aber nicht grün, wie alles Grüne ist. Denn ))schwarz ist das Grüne«. Der Rhythmus dieser spekulativen Identität von Grün und Schwarz läßt die Antithese ganz und gar hinter sich. »Da« ist nicht länger das Da dessen, der da ist, dessen, der sich weiß und im Da hält. Keiner weiß sich. Auch die singende Zunge, die von der »verwesenden Zunge«, der zum Lob des Da nicht mehr tahigen Zunge, ganz geschieden scheint, weiß nicht, weiß keine Antwort auf sein Dasein, auf lIdes Lebens Warum«. Warum das ein gutes Gedicht ist? Oh, vielleicht, weil es soviel wegläßt und doch eindeutig ist. Oder vielleicht, weil es das fast erschreckend Abstrakte des letzten Wortes, das »Warum«, so einfach hinsagen darf und· so, daß man versteht: Es heißt »Warum« und nicht ))Wozu«. Man muß all die vielen Warumfragen mithören, die die Kinder fragen. Auch auf die Frage nach des Lebens Warum, diese Frage aller Fragen, kann keine Antwort genügen.
32. Denken im Gedicht (1990)
Der Kopj Der Kopf, zu sehr im Dunkeln über sich verwundert, beneidet viel: den Fels ... die Pinie absolut ... o Schlummer dieses Wachen, Wachsenden und sich Vermindernden! Wer macht den Hauch von einer Sichel über Meer und Eiland erst vorhanden? Gesetzt. ich fragte so und gäbe Antwort: Ich! Des Abgrunds wär ich immer nicht enthoben meines Wunderns. {Ernst Meister, Pythiusa (1958])
Wenn man solche Verse liest, möchte man sich manchmal fragen, ob das ein Gedicht ist oder eher ein Gedankenspiel. Hier kommt das Wort »absolut" vor. Es kann doch nichts anderes als ein Gedankenwerk sein, was dieses geläufige Wort plötzlich zu einem alleinstehenden Wort macht. Es ist wie ein Begriff zu lesen und bleibt damit die Spur eines Gedankens. Was meint es? Offenbar hängt es damit zusammen, daß der Kopf Fels und Pinie beneidet. Wenn es von diesen beiden »absolut« heißt, meint das offenbar, sie sind fraglos und bedingungslos da. Der Fels ist da und die Pinie ist schlummernd wach, wachsend und sich vermindernd - aber auch das meint »seiend«. Der Kopf dagegen ist »verwundert«. Er kennt Fragloses nicht. So muß der Kopf sich hier über sich verwundern und darüber, daß es fragloses Sein gibt, das er
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nur beneiden kann. Der Kopf ist sehr im »Dunkeln« und sehr über sich verwundert. Das sagt nicht, daß ihn etwa die Schönheit der Natur überwältigt. Im Grunde ist hier keine Landschaft evoziert, auch nicht etwa eine abendliche Stunde auf dieser südlichen Insel, die vom Rauschen der Wogen umtönt ist. Was für ein Kopfist das dann? Einesjeden Kopfist es, so sehr im Dunkeln über sich zu sein und all das zu beneiden, was einfach ist, was es ist, ohne zu fragen. Der Kopf fragt aber weiter, nicht nur wegen des beneidenswerten Seins, des schlummernden Wachseins von Fels oder Pinie. Er wundert sich weiterhin über sich, daß ihm, diesem zweifelnd Fragenden, schier keine Grenze gesetzt scheint. Da in der ferne ist die Mondsichel über Meer und Eiland zu sehen. Gewiß ist es nicht dunkle Nacht. Es heißt ja von der Mondsichel, sie sei ein »Hauch«, ist also fast nicht sichtbar, ein silberweißer Strich, ein Beinahe-Nichts. Mehr nur ein Phantom, kaum )Sein(. Es ist ein BeinaheNichts, das nicht wie Fels oder Pinie wachend oder schlummernd da ist. Nein, es scheint erst vorhanden, weil ich bin. Das ist doch unglaublich. Es ist nicht von ungefähr, daß man sich dessen bei diesem Fernstenblick bewußt wird. Der erste Anblick der Mondsichel am noch hellen Himmel steht in manchem Völkerglauben für einen Wunsch gut. Daß ich es sehe, soll etwas ausmachen. Ob man an den Volksglauben denkt oder nicht, auf alle Fälle ist man gegenüber diesem Hauch des Beinahe-Nichts der Überlegene. Daß ich es sehe, soll es machen, daß dieser Hauch von Sein vorhanden ist? Das scheint ein allzu verwegener Gedanke. Es ist auch gar kein Gedanke über etwas Wirkliches. Es heißt ja nur ,>Gesetzt«. Es ist nur ein Gedankenspiel. Und doch, auch dann tut sich der Abgrund auf, der uns von Fels und Pinie trennt. Gesetzt, daß ich so fragen würde. Aber wer IIGesetzt« sagt, ist schon Fragender. Der Abgrund meines Wunderns bliebe. Ich wäre dessen »nicht enthoben«, nicht darüber hinausgehoben. Es bliebe das Dunkel, das zu sehr Verwundertsein. Es bleibt der Abgrund des Nichtseins. Der Fragende reißt ihn auf. Er kann ihn nicht ergründen und kann sich von ihm nicht losreißen. Das ist die lockende Tiefe des IIAbgrunds«(. Das heißt aber zugleich, sich selber kann er nicht lIabsolut« setzen, und daher sind Fels und Pinie, in all ihrem Daher und Dahin von Wachsen und Sichmindern, zu beneiden, weil sie sind. So mag man es verzeichnen, daß alles dem Dichter der Todeslyrik immer leise zu ihm spricht. IIErbaut sich nicht in mir ein Kloster?« ... »Wenn die letzte Schindel gedeckt ist ... « Das Gedicht gehört einem Zyklus, der ,Pythiusa< an. Es ist ein alter hermeneutischer Grundsatz, daß man nur aus dem Ganzen die Teile verstehen kann. liEs gehen vorüber die Nächte der Sichel.« Ich könnte fast jedes Gedicht aus diesem Zyklus zitieren. Darunter ist ein Gedicht, mit dem Tite111Höhle«, das ich ganz zitieren möchte:
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Jetzt ist es Grauen, nun ist es Liebe. Die Woge durchgreift Deines Inneren Höhle. Es läßt dieb los, du mußt dich lösen. Von Schmerz ein Tau beschlägt die Höhle. Und dieser mundet wdchem Winde und Diebe? Jetzt ist es Grauen, nun ist es Liebe. Man kann ein solches Gedicht nicht ganz aus seinem Zusammenhang lösen, nicht ganz von der Frage lösen: Wer? Wo? Wie? Einer weilt auf einer Insel, nach der die Wogen zu greifen scheinen. Was für eine Höhle ist es, wo »die Woge durchgreift« - ins Unerreichbare? Wo ist die Insel? Welche Höhle? Es ist eines Inneren Höhle. M:m fragt sich, ob hier überhaupt eine Insel da ist, eine Höhle. eine Woge. Aber eines steht fest: »Jetzt ist es Grauen, nun ist es Liebe.« Liegt in solchen Fragen eine Antwort? Variieren sie nur oder wiederholen sie sich? Man könnte das Ganze so lesen, als ob der Reisende, der hier auf seiner Insel allein ist. das Grauen der Einsamkeit in Abschiedsschmerz und Liebe sich wandeln sieht. Aber in Wahrheit ist doch wohl jedermann in dieser Einsamkeit. Auf allem liegt der leichte Tau des Abschiedsschmerzes, das Grauen vorm Tod. Man sucht in den letzten Versen eine Antwort. Darf man lesen, daß es erst Grauen ist und dann Liebe? Das Gedicht sagt aber »jetzt« und »nun«. Beide Male wird dieser Vers ganz gleichlautend wiederholt. Er steht am Anfang wie am Schluß des Gedichts. Das kann nur heißen, daß Grauen und Liebe voneinander untrennbar sind. Wenn auch das »Jetzt« und das »Nun« einen I Wechsel anzeigt, so doch einen unaufhörlichen. Man sucht nach einem VorZeichen. Der Vokalklang scheint aus dem Abgrund des Grauens auf Liebe hinauf zu weisen. Aber eine Abwandlung in der Wiederholung des Rätse1paares von Grauen und Liebe findet man nicht. Immer greift die Woge nach dir. - Oder ist da doch ein Zeichen? In der Wiederholung wird Liebe zu einem Reimwort. Es ist mehr als eine bloße Wiederholung. Jetzt ist es der Refrain des Daseins. Das Leben lebt sein Aufund Ab, und doch hat es seinen Anhalt und damit sein Zeichen gefunden. Es reimt sich. Freilich, der Abschiedsschmerz reimt sich auf das Flüchtige. auf »Winde« und »Diebe«. Aber ist nicht gerade das die Antwort? Der Kopf ist die Höhle. in die die Wellen hineinschlagen und aus der sie zurücklaufen. Nichts läßt sich halten. Da ist der Abgrund, an dem der Fragende steht. Er kennt kein fragloses Sein. Er weiß vom Ende. Weiß der
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Denken im Gedicht
Dichter, was er schrieb? »Hin und wieder I den Abgrund versteh ich.« Weiß es der Leser? Wer weiß, was er versteht? Verse können auf vielerlei Weise verstanden werden. Jedoch, es bleiben die gleichen Verse. Es ist ein guter hermeneutischer Grundsatz, wo man Hilfe sucht, in einem größeren Ganzen, im Werk des Dichters zu blättern. Das folgende Gedicht aus späten Jahren (I Wandloser Raum() mag man als Antwort lesen. Abermals ist es ein Denken im Gedicht - oder ist es das Gedicht, in dem der Augenblick ist? Das Gedicht lautet: Lange hast du, scheint es, gewartet, um ins Flüchtige zu gelangen, denn erst jetzt bist du da. Nun fragst du, was es war, das im Augenblick ist.
33. Kafka und Kramm (1991)
Der Kafka-Zyklus des Malers Willibald Kramm gehört schon seit langem zu den Dingen, die mich beschäftigt haben. Das gleiche gilt erst recht für das dichterische Werk von Kafka, der ja erst langsam im deutschen Sprachraum als ein wirklicher Dichter von Weltrang durch· die Untergrundlektüre des Dritten Reichs in das literarische Bewußtsein der Deutschen eindrang. Für mich selbst hatte die Bekanntschaft bereits am Anfang der 30er Jahre eingesetzt. So kann ich kaum anders, als von den Zeitdifferenzen auszugehen, die zwischen Kafkas langsam bekanntwerdendem dichterischen Werk und dem Werk des Malers bestehen, und über unser heutiges Verhältnis zu beiden Abständen nachzudenken. Es ist ja bekannt, daß Kafkas Werk nur in einem sehr einzigartigen Sinne ein Werk ist. In Wahrheit ist es eine Hinterlassenschaft, deren Vernichtung durch das Testament des Dichters selber angeordnet worden war. Des Dichters nächster Freund, Max Brod, dem wir die Herausgabe dieses Werkes verdanken, hat sich erst in langen Gewissenskämpfen dazu entschließen können, den letzten Willen seines engsten Freundes nicht auszufti.hren. Wir wissen, wie Wünsche über den Tod hinaus in eine unauflösliche Zweideutigkeit übergehen. So hat auch der Dichter Max Brod sicherlich mit vollem Recht den langen Gewissenskampf, den er gekämpft haben mag, bestanden. Er sieht sich dadurch gerechtfertigt, daß er mit der ihm übertragenen Vollmacht nach seinen Kräften aus den Fragmenten dieser literarischen Hinterlassenschaft einige Werke von weltliterarischem Rang der Weltöffentlichkeit dargebracht hat. Ich bin in der Kafka-Forschung durchaus kein Fachmann und nehme den Text, wie er in Max Brods Redaktion vorliegt. Wir lesen ja bis heute den Roman IDer Prozeß( in einer Ausgabe, welche keine wirkliche literarische Dokumentation ist: Wir lesen die von Max Brod redigierte Fassung, die selbstverständlich auch für den Maler Willibald Kramm die einzige Grundlage war. Wer Willibald Kramm gekannt hat, der weiß überdies, was für ein im Grunde genommen einfacher, in literarischen Dingen durchaus nichc vielseitig versierter Mann er war. Er h~t diesen Roman mit Maleraugen gelesen. Was für ein Gegensatz zwis~hen diesem urwüchsigen Sonderling, der Willibald Kramm war, und auf der anderen Seite dem in Prag aufge-
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Kafka und Kramm
wachsenen jüdisch-deutschen Schriftsteller, der sich in dem hochgezüchteten literarischen Milieu von Prag bewegte. Freilich war er ein von Zweifeln Zerfressener und an seinem eigenen Leben unendlich leidender Mann. Kafka war ein unauffalliger Angestellter in einem unscheinbaren Beruf, von dem kein Mensch erwartete, es könne ein großer Dichter in ihm verborgen sein. Man kann kaum ermessen, was für Abstlinde zwischen dem Dichter und diesem Maler zu überwinden nötig waren. Wie sehr seine damalige Lektüre von 1950, also etwa 30 Jahre nach der Niederschrift dieser Romanfragmente, bei Kramm einschlug, davon zeugt der Zyklus dieser Gouachen. Was ihm in diesem Roman entgegenkam, war eine fast surrealistische Welt, die Welt eines gespensterhaft unwirklichen Alltags, in dem sich die schreckliche Leidensgeschichte des JosefK. abspielt. Was für eine Umsetzung vom einen ins andere war hier gefordert! Dieser Maler will offensichtlich nicht seinerseits erzählen, was dem Josef K. an seltsamen und llihmenden Erlebnissen zustößt und was er alles durchleidet. Was diese Bilderfolge zu erzählen weiß, ist weit eher die Geschichte innerer Erfahrungen, die ein Leser macht und die er ins Bildhafte übertragen will. So ist es eine ganz neue Schöpfung, die da vor uns steht, und nicht etwa eine Folge von Illustrationen. Es wäre abwegig, diese Blätter mit der Kunst der Illustration zu vergleichen. Die große Leistung vor allem der englischen Illustratoren des 19. Jahrhunderts ist berühmt, und es ist fast unmöglich, von ihr abzusehen, wenn man Dickens liest oder Thackeray oder irgendeinen anderen der großen englischen Romanciers der Epoche. Diese Illustratoren der ersten Jahrhunderthälfte des 19. Jahrhunderts haben es fertiggebracht, die Leserphantasie durch eine tänzerische Leichtigkeit der genialen Zeichnung nicht zu beengen, sondern eher noch anzuregen. Wenn wir vor die Bilder von Willibald Kramm gestellt sind, geht es um etwas ganz anderes. Gewiß ist es keine beiläufige Beziehung oder Anspielung an Kafkas Roman. Es handelte sich nicht um eine äußerliche Benennung einer malerischen Schöpfung, wie sie etwa ein heutiger Maler sucht, wenn er ein Werk geschaffen hat und darüber nachzudenken anfängt, wie er dies ganz Bezuglose wohl benennen sollte, und am Schluß vielleicht als Benennung wählt: >Nr. 3(. Hier bei Kramm handelt es sich um eine wirkliche Antwort auf die Erfahrung, die die Lektüre des Buches von Kafka diesem Leser am Anfang der SOer Jahre bereitet hat. Darüber hinaus ist es als eine Schöpfung dieser Jahre die Antwort auf ein Stück Lebensgeschichte und Weltgeschichte. Etwas war damals zu Ende, das wir alle wie befreit hinter uns sahen, und wie aus einem bösen Traum erwachte einjeder mit der Frage, ob sich neue Wege öffnen würden. Das malerische Werk von Willibald Kramm ist das Resultat einer solchen neuen Öffnung. Wer einmal die frühen Arbeiten von Willibald Kramm gesehen hat, die vor allem im märkischen Raum Aufnahme gefunden hatten und die der epochalen Wendung seines
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eigenen Lebens und unser aller Schicksals vorauslagen, mag ahnen, was für ein fruchtbarer Moment es war, in dem sich im Maler Willibald Kramm die seltsame Welt Kafkas auftat. Sicherlich war in Kramms künstlerischem Leben eine innere Kontinuität über alle Umbrüche hinweg am Werke. Alle unsere Umbrüche sind ja am Ende immer Formen einer vertieften Kontinuität mit uns selber. Wenn ich von solchen Überlegungen ausgehe, dann konnte meine eigene Vorbereitung für einführende Worte in den Zyklus von Willibald Kramm im wesentlichen nur darin bestehen, auch meinerseits über den Abstand von Jahrzehnten nachzudenken, der meine Erstlektüre des Kafkaschen Romans im Jahre 1930 und die inzwischen, etwa 1950, wiederholte Lektüre von meiner jetzigen Lek~üre trennt, wie ich sie mit dem Blick auf den Krammschen Zyklus in diesen Tagen erneut getrieben habe. Dazwischen lag bereits seit langen Jahren mein kleiner Essay über diesen Zyklus, der wiederholt gedruckt worden ist1 • Die Folge solcher Wiederbegegnungen mit dem gleichen Werk ist bedeutsam. Es gibt für uns Marksteine in der Weltliteratur, an denen sich das Wachsen und Werden eines Menschen und seine geistige und menschliche Formung gleichsam bemißt. So war es für meine Generation schon in den zwanziger Jahren etwa mit Dostojewskij und den .Brüder Karamasow<, die ich in meinem Leben wiederholt wie zu eigener Vermessung gelesen habe. Wem ein längeres Leben beschieden war, dem werden auch an einem Werke wie dem von Kafka die eigenen Stufen des Reifens und das eigene Mitgehen ablesbar. Als jetzt das große Interesse der Italiener an der deutschen Philosophie auch ästhetische Arbeiten von mir in neuem Gewande, d. h. in italienischer Sprache, in Italien. bekanntmachte - das war vor allem ein Verdienst von Professor Dottori -, geschah es, daß bei dieser Gelegenheit in Rom der Kafka-Zyklus WiIlibald Kramms aus dem Besitz von Frau Wawe Speer endlich einmal wieder in die größere Öffentlichkeit gelangen konnte. Daß es jetzt und heute auch in Heidelberg durch unsere Initiative möglich wurde, danken wir dem Orte, dem .Sole d'Oro(, an dem das Erbe und das Gedenken an WilIibald Kramm seit langem liebevoll gepflegt wird. Als ich in diesen Tagen das Ganze des Werkes hier an den Wänden erblickte, war ich zunächst von der außerordentlichen Wirkung fast betroffen, welche die etwas dunkler getönten Wände in diesem Raum dem Zyklus bereiteten. Gerade auch gegenüber den - an sich vortreffiichen kleinformatigen Reproduktionen zu meinem früheren Versuch lernt man 1 Zuerst im Katalog der Gedächtnisausstellung .Willibald Kramm: 1891-1969. Gemälde und Zeichnungen aus 35 Jahren' (Ausstellung vom 4.Juli-15. August 1971). Heidelberg 1971, S.25-27. Wiederabgedruckt in: H. ROTJfE (Hrsg.), Kafka in der Kunst. Stuttgart 1979, S. 120-122.
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hier, was das originale Format fiir ein Werk der bildenden Kunst bedeutet, eine Lehre, die im Zeitalter der Reproduktion gar nicht genug eingeschärft werden kanh. Wer je Kafkas Roman IDer Prozeß< gelesen hat, der hat das Grundgeschehen, das er beschreibt, in gewissem Sinne ständig vor Augen. Es ist ein unheimliches Buch, weil es darin auf die natürlichste Weise so unnatürlich zugeht wie vielleicht nirgends in einem anderen erzählenden Werk der Weltliteratur. Man hat das Gefiihl, daß da etwas ganz Gewöhnliches geschleht, und selbst Ungewöhnliches und Unerwartetes läuft immer wieder auf die gewöhnlichsten Folgen hlnaus. Die ganze Welt scheint so verläßlich wie immer - bis es am Schluß der Folge dieser Fragmente auf das Ende zugeht, noch immer leise, noch immer wie gewöhnlich, bis wir zum Schluß vor einer ausweglosen Schrecklichkeit stehen. Insbesondere die große Szene im Dom läßt uns unüberhörbar alle die letzten Fragen an unser Ohr dringen, die uns je erreicht haben. Der Roman bereitet dem Leser eine Erfahrung von wahrhaft quälerischer und selbstquälerischer Art. Kein Wort, glaube ich, kommt so häufig darin vor und leitet einen neuen Satz und eine neue Wendung des Gedankens ein, wie das Wort 'Allerdings<. Immer wenn etwas klar gesagt schien und für einen Augenblick etwas Festes und Unumstößliches hingesetzt schien, und wenn man daraufhin so etwas wie Führung für die Handlung, für das Geschehen und die Gedanken des geschilderten leidenden Helden gewonnen zu haben glaubt, wendet sich der Gedanke in ein neues ,Allerdings< um. Dies ,Allerdings< leitet dann meist nicht irgendein Argument ein, das ein neues Schlaglicht von großer Helligkeit wirft, das alles endgültig erklärt. Es ist vielmehr wiederum etwas von erstickender Trivialität, die alle Klarheit widerruft und aufs neue aufschiebt. Ich hatte kürzlich Gelegenheit, mich daran zu erinnern, als bei einer Sitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften eine Kommission gewählt werden mußte und der Leiter der Veranstaltung sagte, es sei allerdings eine vorläufige Kommission. Kafkas Echo dröhnte mir in den Ohx:en. In der Tat, das ist Kafka. Beim Lesen von Kafka befinden wir uns ständig in einer unheimlichen Weise zwischen Grauen und Anwandlung zum Lachen. Beides gilt nicht nur dem Josef K. selbst mit seinen Erlebnissen, sondern ebenso für den Leser, der diese Geschichte, die Kafka erzählt, liest. Es ist Humor darin, aber ein so schwarzer Humor, daß man manchmal geradezu wie vom Ersticken beengt wird. Es ist eine miese, stickige, kleinbürgerliche und verkommene Umwelt, in der dieser Josef K. herumirrt. Es hat etwas Verwirrendes, wie die Suche nach dem hohen Gericht in den Hintertreppen der Gewöhnlichkeit und der kleinlichsten Alltäglichkeit von dem besorgten JosefK. unternommen wird. Nicht nur, daß man sich bei diesem gewissenhaften, pünktlichen und durchschnittlichen Bankbeamten, der JosefK. ist, überhaupt nicht vorstellen kann, daß ihn ein Gericht belangen und er einer
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Anklage unterworfen werden könnte. Nichts spricht dafl.ir, so etwas ernst zu nehmen. Und so ist es nun auch mit der Leidensgeschichte dieses JosefK. selber. Sie kann einen nicht unbedingt mit Sympathie fl.ir diesen Helden erfüllen. Es scheint nicht die Absicht des Dichters gewesen zu sein, hier einen Schuldlosen zu schildern, der in eine unverdiente und schreckliche Verstrickung gerät. JosefK. ist durchaus kein ungewöhnlicher Mensch. Er ist ein harmloser Kleinbürger mit einem bürgerlich guten Gewissen, und doch irgendwo unsicher, und wird immer tiefer in seine Unsicherheit verstrickt. Gewiß sieht er sich als einen Schuldlosen an. Mit der Gewissenhaftigkeit und dem leicht anmaßenden Selbstgefühl eines Beamten benimmt er sich angesichts dieses Gerichtsverfahrens mit einer wenig sympathischen kritischen überheblichkeit gegen das Gericht und alle näheren Umstände. Aber auf der anderen Seite ist er von der Unantastbarkeit und der Hoheit des Gerichtes zutiefst überzeugt. So ist er zwar ein Schuldloser, aber einer, der sich von seiner eigenen Schuldlosigkeit immer wieder - und nicht immer auf überzeugende Weise-zu überzeugen sucht und sich darein so vertieft, daß er am Ende an seine Schuld zu glauben beginnt. Das ist doch wohl die Geschichte, die uns da vonJosefK. erzählt wird. Sie wird von jemandem mit einem bloßen Anfangsbuchstaben berichtet, wie das in den Zeitungen bei Gerichtsverhandlungen üblich ist. Vielleicht ist sein Vorname noch eher sprechend: Josef - einer, der sich mit Recht schuldigunschuldig fühlt. Das K, der große Anfangsbuchstabe - wer ist das? Oder besser: Wer ist nicht K.? Wer ist nicht in der gleichen menschlichen U rsituation, daß einem, auf allen Wegen guten Willens und allen Wegen versuchten RichtighandeIns, ein sicheres Bewußtsein der eigenen Schuldlosigkeit nicht gewährt ist? Als Kafka dies alles schrieb, es war wohl zwischen 1914 und 1920, spricht aus ihm die Generation, die in der Rezeption Kierkegaards den Verfasser von )Sein und Zeit( die Worte vom Schuldigsein des Daseins als solchem schreiben ließ. Darin ist nichts mehr von dem bürgerlichen Klassenklang. in dem Schopenhauer die Schuld der Einzelheit, die Schuld des Daseins. die Schuld der Individualität überhaupt lehrte. Hier winkt kein versöhnliches Eingehen in das Nirwana und keine Erlösung aus dem Rad der Geburten im Stile des spätbürgerlichen Pessimismus. in dem man sich mit der Schuld des Daseins abfand. Zwischen der Absurdität einer unbekannten Beschuldigung und Schuldhaftigkeit und der Ahnung ihrer schicksalhaften Unausweichlichkeit schwankt der gequälte Leser hin und her. Ein Rätsel fast. wie diese Folge von Bruchstücken. die noch heute in ihrer geplanten Abfolge strittig sind. den Leser mit einer verstörten Spannung in ihren Bann zieht. Noch die Ausgabe von Max Brod, die wir lesen, läßt es offen. ob nicht überhaupt nach der Verhaftung bereits die zweite Szene die Prügelszene war, eine höchst seltsame. unvorbereitete und in sich geschlossene Geschichte. die überhaupt nicht in den Fortgang der Handlung verflochten
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scheint. Trägt sie damit am Ende einen besonderen Akzent? Und das gilt von fast allen diesen Kapiteln. Man kann zweifeln, wieweit eigentlich eine Dechiffrierung des Ganges der Handlung möglich ist. So hat es eine ganze Kafka-Theologie gegeben, wenn ich mich so ausdrücken darf. Elemente der jüdischen Mystik und der ältesten jüdischen Theologie scheinen anzuklmgen. Dann wieder klingt vieles nach christlichen Elementen, nach dem Dogma von der Erbsünde. So hat man sogar behauptet, daß Kafka an eine Konversion gedacht habe. Kann aber hier etwas wie die christliche Botschaft am Ende stehen, eine Verheißung? Oder nicht eher die Enttäuschung der Verheißung? So gibt es Deutungen allegorischer Art, die bis in die Einzelheiten der Handlung hinein die Kafka-Deutung beherrschen. Wir brauchen da nicht nachzufragen. Ohne Zweifel hat den Maler Willibald Kramm in seiner schlichten und tief erschütterten Seele nichts von solchem Schrifttum erreicht. Vermutlich hat er nur Kafka selbst gelesen und nichts über den Roman und die Deutungsversuche gewußt. Wie hat er also von sich aus gelesen? Was hat er aus dem Roman herausgelesen, das nun in seinen Blättern ist? Um mit dem Äußerlichsten zu beginnen: Man kennt Willibald Kramm als einen genialen Zeichner, der auch in diesen farbigen Blättern, wie auch in manchen anderen späteren großen malerischen Schöpfungen, die sichere Hand des großen Zeichners zeigt. An diesem Zyklus wird die Würde der Zeichnung auf eine neue überzeugende Weise sichtbar. In jeder Zeichnung liegt eine besondere Abstraktion. Sie stellt dem denkenden Betrachter eine konstruktive Aufgabe. Hier werden sehr diskrete Farbkontraste aufgebaut, aber so, daß monochrome Flächenstücke die eindringliche Zeichnung des Ganzen ergeben. Da ist nicht eigentlich etwas von Raum und Raumatmosphäre darin, auch nichts von der Hintertreppenromantik und dem Dachkammerspuk des hohen Gerichts, die dem Leser des Romans den Atem benehmen. Es ist alles fast kahl in diesen Blättern. Manchmal ordnet sich das im Roman befremdlich Geschilderte in Kramms Bildern zu einem schönen Bild. So etwa die Wartenden, diese Girlanden der Vergeblichkeit. Wenn man Kafka selber liest, so sehen diese Warteräume nicht gefällig aus. In Kramms Blatt ist es fast wie ein heraldisches Wappen. Bei Kafka ist es eine finstere Lokalität, in der man nie recht weiß, ob man nicht jemandem auf die Füße tritt, eine Stickluft der Verirrung - und das soll der Weg zum hohen Gericht sein? Wenn man am Ende wirklich zu einem Richter gelangt, der da sitzt, wird einem schleunigst versichert, daß es allerdings nur ein Unterrichter sei. Alle die Randfiguren, die dem seinen Weg zum Gericht und zum Urteil suchendenJosefK. begegnen, sind wie zufällig, bezuglos und schemenhaft. Aber gerade dadurch wird, wie mir scheint, auf eigene Weise eindringlich verstärkt, was das alleinige Thema ist, um das es im ganzen
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geht. Da sind diese beteuernden Gesten der Unschuld, mit denen der Verhaftete die Arme auseinanderbreitet. Es ist sozusagen wie ein erster Einsatz einer noch nicht begonnenen Handlung. Am Anfang stehen diese Unschuldsgebärden. Die Handlung selbst wird etwas anderes sein als ein bloßer Aufschrei der verfolgten Unschuld. Die Handlung wird sein, wie der Schuldlose auf eine rätselhafte, undeutliche und doch zwingende Art sein Schuldbewußtsein zu finden lernt. Man sehe nur einmal auf das äußerste Ende des Ganzen, auf die Hinrichtungsszene, auf den Ausdruck dieses Gesichtes und auf die Gebärde, mit der JosefK. flehend den Arm ausstreckt und doch sein Schicksal schon fast angenommen hatl. So wird in der Komposition des Ganzen, das durch labyrinthhafte Gänge und ein Gestrüpp der absurdesten Seltsamkeiten führt, die Schuldgeschichte vonJosefK. von dem Maler Kramm gedeutet. Mit einer erstaunlich einfachen Sicherheit wird im Krammschen Werk die Dialektik von Schuldlosigkeit und Schuldhaftigkeit, die Dialektik der überlegenen Verdrängung aller Schuldmöglichkeit bis hin zu der unausgesprochenen Hirmahme des ihm Zugeteilten sichtbar. Man könnte im einzelnen an manchem Blatt Kramms wohl auch noch manchen Bezug auf den Kafkaschen Roman auffm.den oder auch auf eigenwillige Antworten, die der Maler dem erzählten Text entgegensetzt. Es muß schon etwas bedeuten, wie hier eine bestimmte Phase expressionistischen Stilgebarens in dem Maler und an seinem Gegenstand zu einer neuen Intensität der Abstraktion gesteigert wird. Die zwei sich ausstreckenden Arme, mit denen auf den erwachenden schuldlosen Schuldigen gedeutet wird, das ist nicht die Illustration einer Szene. Die Erwachensszene ist bei Kafka ganz anders geschildert als hier in diesem Blatt. Gleichwohl ist Kramms Erwachensszene und die auf den schuldlos Schuldigen deutenden Eindringlinge so unzweideutig, daß in dem Kontrast dieses Blattes die ganze Zweideutigkeit festgehalten wird, in der Josef K. seine Verhaftung erlebt und seine Schuldlosigkeit festzuhalten sucht. Für ihn scheint das Ganze anfangs eine lächerliche Geschichte, ein Irrtum, ein Mißgriff, irgendetwas. das ihn nicht treffen kann. In dem Kafkaschen Roman nimmt nun die Geschichte einer immer vergeblicher werdenden Selbstbestätigung und verzweifelter Selbstberuhigung ihren Lauf - gerade durch die ständigen Abirrungen ins Gewohnte und Triviale. Das bot dem Maler bewegte Szenen, wie die Affäre mit Fräulein Bürstner oder mit Leni. Aber diese erotischen Zwischedspiele sollen wie im Roman Kafkas auch hier eher etwas von der Egozentrik inJosefK. oder im Menschenwesen - zeigen. Das ist nicht so sehr ein Sittenbild 2 Siehe auch meine Deutung dieses Schlußbildes: ,Wir alle sind Josef K.: Willibald Kramm, Die Hinrichtung •. In: F.J. R.~DDATZ (Hrsg.), Zeit-Museum der 100 Bilder. Frankfurt 1989.
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von Prager kleinbürgerlichen Pensionen, Dachkammern und Hinterhöfen. Auch in den Liebesszenen ist eigentlich kein Zueinander gemeint. Es ist immer nur die eigene Bedürftigkeit und nichts anderes. Der andere, der jeweils in die Bewegung verstrickt wird, hat sozusagen keine volle Realität. Alle diese Frauengestalten, so trivial und so real sie anmuten, sind wie ohne eigenen Personkern. Gerade dadurch wird die einzige Geschichte, die Leidensgeschichte von Schuldlosigkeit und Schuldhaftigkeit, in ihrer Dringlichkeit und universalen Gültigkeit sichtbar. Eine Einzelheit: Noch auf dem Wege zur Hinrichtung, als der Arme offenbar sein Schicksal bereits angenommen hat, begegnet er dem Fräulein Bürstner noch einmal, und er folgt ihren Schritten - willenlos und ohne sie einholen zu wollen ... So sieht es aus, meine ich, wenn man mit den Augen des Malers das Werk des Dichters liest. Man sollte darin gewiß nicht eine letztverbindliche Aussage sehen. Wo Dichtung im Spiel ist, sind unsere Antworten, die Antworten der Leser, stets von unseren eigenen Fragen mitbestimmt. Niemand versteht Antworten als Antworten, wenn er sie nicht als Antworten auf eigene Fragen versteht. Das gilt auch für die Antwort eines Künstlers, der in seiner eigenen künstlerischen Schöpfung auf das Werk eines anderen Bezug nimmt. So verdoppelt sich die Vielfalt der Zugänge, die Kafkas überlegene Reflexionsspiele fiir deutende Antworten bereithalten. Des Malers Kramm künstlerische Antwort bietet selber wieder eine Vielfalt möglichen Verstehens. Daher stehen die Worte des Interpreten, die die Dichtung Kafkas oder den Bilderzyklus Kramms betreffen, nicht einfach auf sich. Es sind Vorschläge. Sie wollen nicht so sehr geprüft sein, sie wollen vor allem versucht werden. Was das Wort an Deutungshilfe leisten kann, muß dem Dichterischen wie dem Malwerk gegenüber vor allem Seh-hilfe sein. Nicht nur dem Dichter und Maler, auch jedem Interpreten stellt sich das gleiche Werk oft in wechselndem Lichte und recht verschieden dar. Das ist nicht ein Mangel des Beschauers oder des Lesers, sondern bedeutet gegenüber der Distanz wissenschaftlicher Objektivität einen überlegenen Anspruch. Der Künstler hat sein eigenes'Recht, wenn er seine Leseerlebnisse in seine malerische Schöpfung umsetzt. Solch eine eigene Schöpfung ist die Blätterfolge Willibald Kramms, in der er als das Thema des Kafkaschen Romans von Anfang bis zum Ende die Dialektik von schuldiger Schuldlosigkeit und von Sühne durcharbeitet. Daß der Maler Kafkas Werk im großen richtig verstanden hat, bestätigt sich in meinen Augen gerade durch die gewichtigste Szene des Kafkaschen Romans: »Im Dom«. Auch diese Szene ist, wie all die anderen, höchst unscheinbar eingeleitet und setzt die triviale Alltäglichkeit, die alle diese Romanszenen begleitet, folgerichtig fort. Immer mehr spürt man, wie es dem Josef K. schwer wird, seinen Alltag noch zu bewältigen. Es wird
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sozusagen immer bedrohlicher. »]a, sie hetzen mich.« Doch ist es nichts anderes als ein alltäglicher Auftrag, die Begleitung eines italienischen Kunstfreundes und Geschäftsfreundes der Bank, was die große Szene im Dom einleitet. Es hat etwas Unheimliches, wenn]osefK. eifrig italienische Vokabeln rekapituliert, für ein nie kommendes Gespräch. 1m Dom wandelt sich die Szene bald ins Schicksalsvolle. Welche unsichtbare Hand hat statt des kunstbeflissenen Geschäftsfreundes den Gefängniskaplan in den Dom kommen lassen? Was im Zusammentreffen dieser beiden vor sich geht, läßt keinen Zweifel. Aus der dunklen Höhle dieses Doms findet der Angeklagte ]osefK. keinen Ausgang mehr. Sucht er ihn oder flieht er ihn? Wenn er, ein letztes Mal, das Gericht herabzusetzen versucht, hält es nicht mehr stand. Einer, der ohne Vorurteile ist, dieser Kaplan, hilft dem Armen keine seiner Fragen lösen und läßt jede seiner Antworten in eine neue Fraglichkeit münden. Auch das ist so quälend wie so vieles in diesem Buch! Mit überlegener Beharrlichkeit hebt der junge Geistliche das Gericht aus allen menschlichen Belangen heraus, und das, ohne ihm irgendeine souveräne Allmacht oder gar Absicht zuzusprechen. »Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst.« Wir strengen diesen Prozeß gegen uns selbst an. »Du mißverstehst die Tatsachen, [... ] das Urteil kommt nicht mit einemmal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über.« Weiß jemand das besser? Ich denke, wir brauchen jetzt nicht für jeden einzelnen von uns seine Anwendung zu suchen. Wir brauchen auch nicht darüber zu reden, wie etwa das]ahr 1951, in dem diese Blätter entstanden sind, uns Anlaß gab, über die vielfältige Problematik von Schuldhaftigkeit und Schuldlosigkeit nachzudenken, sei es in unserer eigenen deutschen Geschichte, sei es in der eigenen Lebensbilanz, die ein jeder ständig dieser Frage gegenüber aufstellt. Ohne Zweifel hat das auch Kafka gemacht, wenn er sich, während er an diesen Seiten schrieb, »in die Niedrigkeiten des Lebens verirrt« hatte. So nannte Kafka die Entwürfe zu diesem Roman. Wie er, so sucht ein jeder Antwort auf diese Frage, auch wenn er, wie es hier ein Maler tat, in der Aufnahme des Kafka-Romans seine Frage und seine Antwort zu neuer Schöpfung gestaltet hat. Kunst ist immer, in allen Formen, so, daß sie Selbstbegegnung ist und zur Selbstbegegnung nötigt. Aussagen der Kunst in endgültige Worte zu fassen und auf den Begriff zu bringen, kann sich vernünftigerweise niemand als Aufgabe stellen. So möchte ich auch meine einführenden Worte in solchem Sinne verstehen: Wir müssen selbst die Augen öffnen,... und die Herzen.
34. Verstummen die Dichter? (1970)
In unserer zunehmend von anonymen Apparaturen beherrschten Gesellschaft. in der das Wort nicht mehr unmittelbare Kommunikation stiftet. erhebt sich die Frage, welche Macht und welche Möglichkeiten noch die Kunst des Wortes. die Dichtung. haben kann. Von den vergehenden ForJIlen des Sprechens. die sonst das kommunikative Geschehen tragen, unterscheidet sich das dichterische Wort grundsätzlich. Das Besondere all dieser Formen des Sprechens ist die Selbstvergessenheit im Worte selber. Immer verschwindet das Wort als solches gegenüber dem, was das Wort heraufruft. Der Dichter Paul Valery hat für den Unterschied der Worte. die wir in der Kommunikation sprechen, von dem dichterischen Wort eine glänzende Metapher formuliert. Das Wort. das wir so sprechen. ist wie die Scheidemünze. Das heißt, es bedeutet etwas. das es nicht ist. Das Goldstück von ehedem dagegen war zugleich das wert, was es bedeutete, da das frühere Goldstück in seinem Metallwert seinem Münzwert entsprach. So war es selbst zugleich das, was es bedeutete. Genau das ist offenbar die Auszeichnung des dichterischen Wortes, daß es nicht auf etwas nur hinweist. so daß man von ihm weggewiesen wird, um woanders hinzugelangen, wie von der Scheidemünze oder dem Geldschein. der seine Deckung braucht. Vielmehr wird man hier, indem man von ihm weggewiesen wird. nur zugleich auf es selbst zurückgewiesen. Es ist das Wort selbst, das das, wovon es redet. zugleich verbürgt. Das ist die Erfahrung, die wir alle am dichterischen Wort machen. Je vertrauter einem eine dichterische Fügung wird, desto bedeutungsreicher, desto präsenter wird die Aussage. In der Form. in der das dichterische Wort sich selbst präsentiert, indem es etwas präsentiert, liegt seine eigentümliche Auszeichnung. Ich möchte an unsere Zeit und an die Literatur unserer Zeit die Frage stellen: Gibt es noch eine Aufgabe des Dichters in unserer Zivilisation? Gibt es noch eine Stunde der Kunst in einer Zeit, in der gesellschaftliche Unruhe, das Unbehagen an der anonymen Massenhaftigkeit unseres gesellschaftlichen Lebens, von allen Seiten empfunden wird und die Forderung des Wiederfindens oder des Neubegründens echter Solidaritäten immer wieder sich erheben läßt? Ist es nicht ein Ausweichen, wenn man Kunst oder
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Dichtung noch weiterhin für ein integrales Moment des Menschseins hält? Muß nicht alle litterature jetzt litterature engagee sein? Und wie alle litterature engagee schnell veralten? Gibt es noch das bestandhafte Gefüge von WOrtkunst, wenn immer wechselnde Inhalte in ihrer Unbeständigkeit den wahren Legitimationskern von littirarure überhaupt bilden sollen? Wo das Bewußtsein von nichts als )science< erfüllt ist, d. h. von der Idolatrie des wissenschaftlichen Fortschritts, gibt es da noch solche Fügung {ron Worten, daß jeder sich in ihnen zu Hause findet? Ohne Zweifel wird das Wort des Dichters in solcher Stunde anders sein müssen. Es wird mit der Reportage, mit der Beiläufigkeit, mit der Unterkühltheit des technischen Sprechens eine Verwandtschaft haben müssen. Aber ist das dichterische Wort deshalb wirklich Reportage? Oder läßt sich zeigen, daß auch heute noch aus Worten ein bestandhaftes Gefüge aufgebaut werden kann, das nicht von gestern, sondern von heute und von jeher ist? Das also noch immer )gemeinsamen Geist« enden läßt im Gedicht? Vielleicht ist die beste allgemeine Charakteristik dessen, was heute Lyrik auszeichnet, ein Wort, das Rilke einmal geschrieben hat. Er sagt in einem Brief an Ilse Jahr vom 22.2. 1923 über sein Verhältnis zu Gott: »Es ist eine unbeschreibliche Diskretion zwischen uns. (, In der Tat kommt in seinen späteren Dichtungen, etwa in den Duineser Elegien, Gott überhaupt nicht mehr vor. Da ist allein vom Engel die Rede, der vielleicht mehr ein Sendbote der Menschen als Gottes ist!. Rilkes Wort von der unbeschreiblichen Diskretion beschreibt, wie mir scheint, aufs genaueste den Ton des heutigen lyrischen Gedichts, für den es das Ohr zu schärfen gilt, zum Beispiel für die Gedichte von PauI Celan. Nicht, daß die Dichter verstummen, sondern ob unser Ohr noch fein genug ist zu hören, ist die Frage. Um die Forderungen solcher Diskretion an uns zu verdeutlichen, wähle ich ein Gedicht von]ohannes Bobrowski. Es heißt »Das Wort Mensch«: Das WOrt Mensch, als Vokabel eingeordnet, wohin sie gehört, im Duden: zwischen Mensa und Menschengedenken. Die Stadt alt und neu, schön belebt, mit Bäumen auch und Fahrzeugen, hier hör ich das Wort, die Vokabel hör ich hier häufig, ich kann 1 Vgl. dazu >Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien., in diesem Band. S. 289ff.
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aufzählen von wem, ich kann anfangen damit. Wo Liebe nicht ist, sprich das Wort nicht aus.
Auch dieses Gedicht empfindet man als beinahe hermetisch. Was sagt es eigentlich? Was rur eine Einheit einer Aussage steckt denn darin? Und genau das ist es ja, was sO viele vom Verstummen der Dichter reden läßt, daß sie, wenn ich so sagen darf, auf das Diskrete nicht mehr zu hören vermögen. Beginnen wir mit der Auslegung dort, wo jede Auslegung beginnen muß, nämlich dort, wo es uns zuerst hell wird. Das ist hier ohne Zweifel die Schluß strophe. Sie sagt etwas ganz Deutliches: »Wo Liebe nicht ist. sprich das Wort nicht aus.« Das bedeutet - und muß vorher gegenwärtig geworden sein -, daß überall dort, wo der Sprechende das Wort »Mensch« gehört hat, keine Liebe war. So wird alles klar. Die erste Strophe ist voll bitterem Sarkasmus und von fast ätzender Schärfe. Es mag stimmen, daß die Vokabel »Mensch« zwischen »Mensa« und ))Menschengedenken« steht und daß der Dichter das beim Gebrauch des Lexikons einmal zufällig bemerkt hat. daß das Nachbarwort nach vorne »Mensa« war und nach hinten »Menschengedenken«. Aber wenn er das im Gedicht sagt, ist es gezielt. Da ist zunächst »Mensa«, dieses für junge Leute sehr vertraute Wort, das eine Sache meint, an der man die Anonymität des Lebens und die Beziehungslosigkeit nach dem Verlassen der Familie wohl am stärksten empfindet. Die Mensa hält irgendwie in ständiger Erinnerung, was Familie ist, sozusagen in der F9rm der Privation. Und nach der anderen Seite folgt »Menschengedenken«, ein Wort, das wir nur in einer einzigen Wendung noch gebrauchen: »seit Menschengedenken«. Was diese Wendung evoziert, ist wie etwas schon gar nicht mehr Wahres - seit Menschengedenken ist das so. Man hat keine Rechenschaftsmöglichkeit darüber. Wenn man sagt: das ist seit Menschengedenken so, wird das als etwas völlig selbstverständlich Gewordenes behandelt. Auf der einen Seite haben wir also das Anonyme, auf der anderen Seite das selbstverständlich Gewordene, und zwischen diesen beiden Extremen ist die Vokabel »Mensch« wie eingeklemmt. Die zweite Strophe spricht von der Stadt, »alt und neu«. Wer hinhört, weiB sofort: das ist nach dem Kriege geschrieben, der unsere Städte in Trümmer gelegt hat. »Alt und neuee meint offensichtlich die Spannung. die das Gesicht unserer Städte durchzieht. »Alt und neu« ist vielleicht noch allgemeiner gemeint und ruft nicht nur das Wiederbelebte nach seiner Verödung und Zertrümmerung herauf. Denn der dritte Vers »schön belebt, mit Bäumen« leitet über zu dem wunderbar einsilbigen »auch« , das einen ganzen Vers füllt und dadurch ein seltsames Gewicht erhält. Was wie ein zusätzlicher Reichtum klingt: »auch Bäume«, beschwört den ganzen Jammer des
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Städterturns herauf. Bäume sind freilich auch da, aber was die Stadt aUsmacht, ist ihr Verkehr, die Fahrzeuge. So wird dies »auch« zum rührenden Ausdruck für die weggehastete Natur, die wir in den Straßen unserer Städte erleben. Dies »auch« ist ein nachdrückliches Beispiel echter dichterischer Diskretion. Und dann, in der Wortfolge »hier I hör ich das Wort«, erhält auch das »hier« einen besonderen Akzent. Es steht nicht nur am Ende eines Verses, sondern einer ganzen Strophe und stellt daher ein s~genanntes Enjambement dar. Die Rede geht weiter, aber der Strophenschluß wird nicht etwa durch das Enjambement verschliffen und die Verse ihrerseits unhörbar, wie der Laie zu meinen pflegt. Solcher falsche Schein entsteht lediglich durch die Sucht, die Verse als Verse zu verleugnen. Das freilich klingt wie die trivialste Prosa, wenn man liest lIhier hör ich das Wort«, d. h. hier in der Stadt. Aber das »hier« muß man ganz fur sich allein hören! Das Enjambement macht den Vers und Strophenbruch gerade erst recht sichtbar. Indem der Satz weitergeht und metrisch dort doch der Bruch ist, erhält das »hier. gleichsam ein rhythmisches Ausrufezeichen. »Hier« heißt dann: ausgerechnet dort, wo es von vornherein schon unglaubhaft ist, daß man noch als Mensch zu Mensch miteinander reden und miteinander umgehen kann. Oft hört man das Wort - um das Unwirkliche solchen Redens vom Menschen unverkennbar zu machen, fährt der Text wie in einer Berichtigung fort: »die Vokabel hör ich hier häufig«. Der Wechsel des Ausdrucks von» Wort« zu 1I Vokabel« deutet an, daß es sich bei solchem Wortgebrauch nicht um die Sache handelt, sondern um ein bloßes Wort, das aus dem wirklichen Gebrauch gerissen ist und kein Leben mehr hat. So häufig es auch erklingt, es ist eine leere Vokabel. Nun kommt die Stelle des ganzen Gedichtes, die mir am schwierigsten ist: »Ich kann I aufzählen von wem, ich kann I anfangen damit.« Das erste ist ganz einfach. Man hört's überall, und so kann ich aufzählen von wem: Hier, hier, hier - jeder sagt es immerfort, ich höre es immerfort. Aber was heißt die Fortsetzung: »ich kann anfangen damit«? Das ist seltsam. Wenn ich aufzählen kann, von wem, dann kann ich natürlich anfangen damit. Was will der Vers denn sagen? •• Ich kann anfangen damit« scheint eine ähnliche Einschränkung zu bedeuten wie oben das »auch«. Alle führen die Vokabel im Munde. Es ist sinnlos, alle herzuzählen. Ich bliebe stecken - das liegt in dem einschränkenden »ich kann anfangen damit«. Aber nicht deshalb allein bliebe ich stecken, weil es zu viele sind, sondern weil mir alsbald bewußt würde, daß es keinen Sinn hat zu zählen, wie viele das tote Wort im Munde fuhren, ohne daß es lebendig würde. Daß das richtig interpretiert ist und daß an diesem Glied sozusagen die Drehung des Ganzen geschieht, zeigt die SChlußstrophe. Denn nun heißt es ausdrücklich, wie im Scheitern der zählenden Suche und wie ein Verweis:
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»Wo Liebe nicht ist, sprich das Wort nicht aus.« Das besiegelt gleichsam den Sinn des Ganzen: Das Wort »Mensch(( soll keine bloße Vokabel sein. Es ist kein Ausrufezeichen nach diesem Gedicht. Die Interpunktion der Schule wird es vermissen, denn es ist doch ein Imperativ! Aber genau das ist die Diskretion, mit der die heutigen Dichter sprechen. Dieses Beispiel möchte deutlich gemacht haben, warum ich glaube, daß es ein falscher Schein ist, daß die Dichter verstummen. Sie sind notwendig leise geworden. Wie diskrete Mitteilungen leise gesagt werden, damit kein Unberufener sie hört, so ist auch das Sprechen des Dichters geworden. Er teilt dem etwas mit, der dafür das Ohr hat und sich ihm zuneigt. Er flüstert ihm gleichsam etwas ins Ohr, und der Leser, der ganz Ohr ist, nickt schließlich. Er hat verstanden. So glaube ich, daß man den Hölderlinschen Satz »Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind still endend in der Seele des Dichters(( an Dichtung unserer Zeit genauso verifizieren kann wie eh und je. Wer sich von ihrem Wort erreichen läßt, leistet damit eine Verifikation, und man begreift wohl, daß in einem Zeitalter der elektrisch verstärkten Stimme nur das leiseste Wort noch die Gemeinsamkeit von Ich und Du im Wort findet und damit das Menschsein beschwört. Wessen es für das leise Wort bedarf, fUr den Sprechenden wie rur den Hörenden. wissen wir. Es ist wie mit den langsamen Sätzen in einer Symphonie - an ihnen zeigt sich erst die wahre Meisterschaft des Komponisten und des Dirigenten. Wer wili ermessen. welche Erfahrungen der Könnerschaft aus dem technischen Zivilisationsleben in diese Wort bauten hineinreichen und in ihnen eingefangen sirid. so daß wir die mächtige Fremdheit der modernen Welt plötzlich wie etwas Vertrautes in unserem Hause antreffen und begrüßen.
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Wenn ich zwei deutsche Dichter, Dichter deutscher Sprache, unter dieses Thema stelle, Gottfried Benn und Paul Celan, so stellt das eigentlich keine Wahl dar. Wenn man aus der deutschen Literatur nach dem Zweiten Kriege Namen nennen will, die wirklich etwas von der seelischen, geistigen und religiösen Grundsituation der Zeit abzubilden vermögen, wird man sich unter den lyrischen Dichtern umsehen. Wir Deutsche sind nicht ein Volk der großen Erzähler. Selbst Namen wie Hermann Hesse, Thomas Mann oder Robert Musil sind viel zu sehr an die eigentümlichen Verfeinerungen manieristischer Erzähltechnik gebunden, als daß sie den großen Atem eines naturhaften Erzählerturns besäßen. Gewiß hat uns Hermann Hesses )Glasperlenspiel<, das uns nach dem Kriege erreichte, und mehr noch die ebenso tiefsinnige wie künstlich verschlüsselte Auseinandersetzung Thomas Manns mit der deutschen Tragödie - und - vielleicht am dauerhaftesten - die geniale Retrospektive des )Mannes ohne Eigenschaften< tief berührt. Gewiß hat etwa Heinrich Bölls Knappheit und Günter Grass' wogende Uferlosigkeit des Erzählens auch außerhalb Deutschlands Widerhall gefunden. Aber können diese wie jene mit den großen Erzählern Englands, Rußlands, Frankreichs, mitJoyce, mit Proust, mit den )Dämonen< oder den )Karamasows< oder )Anna Karenina< konkurrieren, die uns alle, gestern und heute und morgen, ansprechen? Dagegen darf man wohl sagen, daß die deutsche lyrische Poesie seit hundert Jahren ein adäquater Ausdruck deutschen Geistes ist, der immer auch mit den großen wissenschaftlichen und philosophischen Erfahrungen und Leistungen der deutschen Kultur verbunden war. Ich nenne nur den Namen Stefan George, der sicherlich der bedeutendste Sprachkünstler deutscher Zunge in den letzten hundert Jahren war. Ich nenne Hugo von Hofmannsthai, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl. Gewiß, die meisten von ihnen sind, politisch gesehen, nicht Bundesdeutsche. Aber die Res publica litteraria kennt keine Grenzen, die nicht durch die Sprache aufgerichtet sind, und selbst die Grenzen der Sprache zu überbrükken sind wir alle bemüht, wenn wir in fremde Länder reisen oder wenn man fremde Gäste in deren Sprache hört. I Innerhalb der deutschen Nachkriegslyrik war keine Wahl. Gottfried Benn
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und Paul Cdan sind die beiden großen Dichter, die in der Zeit nach dem Zweiten Kriege etwas vom deutschen Lebensgefühl, dem deutschen Schicksal, dem ungewissen Stand zwischen Glauben und Unglauben, zwischen Hoffnung und Verzweiflung, im Gedicht zu gültigem Ausdruck gebracht haben. Beicle sind auch dem Ausland bekannte Namen. Sie sind in viele Sprachen übersetzt worden. Aber wer weiß, was lyrische Poesie ist, weiß, daß übersetzungen nur Annäherungen sind und kaum eine Ahnung dessen wecken können, was in der Originalsprache spricht. Zunächst ein paar Worte über Gottfriecl Benn. Er war Arzt, hat in Berlin gelebt, hat nach 1933 eine Zeitlang falsche Erwartungen in das damalige Geschehen gesetzt, hat sich dann, wie viele seinesgleichen, in die Armee geflüchtet, um auf anständige Weise durchzukommen. Das war die Form, in der ein Gefährdeter im Dritten Reich am ehesten politischen Verfolgungen entgehen konnte. Er war als Militärarzt Soldat. Als Dichter hat er sofort nach dem Zweiten Weltkrieg seine Stimme wieder erhoben, und ich muß sagen, wir haben ihn eigentlich erst dann in seiner ganzen Bedeutung erkannt. Es half uns dabei, daß ihm ein eigentümlicher Altersstil vergönnt worden ist, der das Provokatorische seiner frühen Poesie stark milderte und ein wunderbares Melos über seine Verse ausgoB. Die Verse, die ich vorlege, sind erst aus dem Nachlaß bekannt geworden:
Dann gliederten sich die Laute, erst war nur Chaos und Schrei, fremde Sprachen, uralte, vergangene Stimmen dabei. Die eine sagte: gelitten, die zweite sagte: geweint, die dritte: keine Bitten nützen, der Gott verneint. eine gellende: in Räuschen aus Kraut, aus Säften, aus Wein-: vergessen, vergessen, täuschen dich selbst und jeden, der dein. eine andere: keine Zeichen, keine Weisung und kein Sinn-, im Wechsel Blüten und Leichen und Geier drüber hin. eine andere: Müdigkeiten, eine Schwäche ohne Maß und nur laute Hunde, die streiten, erhalten Knochen und Fraß.
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Doch dann in zögernder Wende und die Stimmen hielten sich an -, sprach eine: ich sehe am Ende einen großen sch weigenden Mann. Der weiß, daß keinen Bitten jemals ein Gott erscheint, er hat es ausgelitten, er weiß, der Gott verneint. Er sieht den Menschen vergehen im Raub- und Rassenraum. er läßt die Welt geschehen und bildet seinen Traum. Das Gedicht ist nicht schwer zu verstehen. Aber um die Machart, die Sangart des Dichters deutlich zu machen, bedarf es doch vielleicht einiger Bemerkungen. Zunächst möchte ich einige - vielleicht pedantische - Bemerkungen zur lyrischen Semantik machen, und dann ein paar andere zur lyrischen Syntax diese Gedichtes. Mit )Iyrischer Semandk, meine ich natürlich nicht die übliche Lehre von den Wortbedeutungen - ich meine das Spezifische der lyrischen Semantik, die Weise, wie hier ein Dichter nicht nur Klänge, Tonfiguren, komponiert. sondern bedeutungstragende Klänge. also Worte, zusammenfUgt und dadurch neue semantische und KlangEinheiten erzeugt. Das ist im Falle Gottfried Benns so klar, daß ich nur eine Zeile von Gottfried Benn zu hören brauche. um zu wissen: das ist Benn. An ein paar Beispielen, die teils diesem Gedicht, teils anderen Gedichten entnommen sind. möchte ich die lyrische Semantik von Benn kennzeichnen. Sie besteht vor allem darin, daß sie in seiner Bedeutung Kontrastierendes klanglich zusammenbindet und auf diese Weise zu einer neuen semantischen Einheit zusammenschweißt. Ich wähle beliebige Beispiele: Ob Sinn, ob Sucht. ob Sage... Oder: Ob Rose. ob Schnee. ob Mähre ... Oder: Die Fluten. die Flammen. die Fragen ... Die Klangmittel sind klar: Alliteration, Assonanzen, melodische Fügung lassen so Disparates wie Fluten und Flammen mit etwas ganz anderem. den alles in die Schwebe bringenden Fragen. zu einer umfassenden Sinngebärde zusammengehen. Das ist die lyrische Grammatik von Gottfried Benn. daß er Auseinanderstrebendes, semantisch ganz Entferntes. in eins zusammenfaßt und auf diese Weise eine Art kosmische Weite und Ferne aufreißt. Auch in dem Gedicht. das wir vor uns haben, finden sich Beispiele solcher umspannenden Zusammenfassung wie etwa in dem schönen Vers: »aus Kraut. aus Säften, aus Wein -: vergessen. vergessen ... «. Offenkundig ist es die dionysische Komponente aller Religion. )Kraut, Säfte. Wein', die hier -
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allerdings in noch relativer Einheitlichkeit des Bedeutungsfeldes - evozie::~ wird. Andere Beispiele, die ich nannte, haben auch diese relative Einheit nicht. Etwa: >Sinn, Sucht, Sage< - wie das plötzlich zusammengeht, wie die Klangverbindung hier als eine einheitliche Figur und, wie man wohl sagen muß, in unmittelbarer Aussagekraft die ganze Distanz durchmißt, von sinnhafter Rede über die suchthafte Besessenheit zu der Ferne der im Unverifizierbaren verdämmernden Sage reicht, das ist in der Tat die unverkennbar originale lyrische Semantik von Gottfried Benn und keinem anderen. Einheit einer dichterischen Bildwelt ist überhaupt nicht angestrebt, sondern eine Bedeutungseinheit hinter Kontrasten, die eine unbestimmte und zugleich allumfassende Evokationskraft ausübt. Das Auseinanderliegende fließt zu einem neuen, einheitlichen Melos zusammen. Die Syntax, die Fügung der Sätze, hat gleichfalls einen originalen Stil. Das Gedicht beginnt mit einem sehr dichterischen Einsatz. Er ruft den Anfang herauf, indem er nicht mit dem Anfang beginnt. »Dann gliederten sich die Laute, zuerst war nur Chaos und Schrei«: dieses Zurückgreifen beschwört die Anfangslosigkeit des Anfangs, das Sich-Verlieren des Anfangs, der kein erster Augenblick ist, im Dämmer kosmischer FrUhzeit und menschheitlicher Urgeschichte. So springt es uns in diesen Zeilen entgegen, und dann sagt das Gedicht uns, daß, als sich die Laute gliederten und Sprache war, die etwas zu sagen weiß, diese Sprache für die Menschen Klage war. Das ist die Syntax des Gedichtes: ein einziger großer Satz, mit klarer Steigerung vom Schrei zur Klage und von der leise gewordenen Klage zur Vision dessen, der weiß und nicht mehr klagt. Da ist zunächst ein unartikulierter Schrei, dann !)gelitten ... geweint«, dann Gellen, Vergessen, Rausch, schließlich Verzweiflung, Müdigkeit, und dann halten die Stimmen an - und das heißt, sie alle hören zu und eine >spricht<, eine, die nicht mehr seiber etwas sagt, sondern wie einen richtenden Spruch spricht: »ich sehe arn Ende ... « - So beschwört diese letzte Stimme die Vision eines Mannes, der nicht etwa Gott leugnet, sondern der weiß: »der Gott verneint«. Eine, wie mir scheint, großartige und sehr symbolstarke Aussage aus der Theologie des Deus absconditus. Es ist der Gott, der sich verbirgt. Insofern ist das ein symptomatisches Gedicht im Zeitalter der Nietzscheschen Botschaft vom Tode Gottes und des heraufdämmernden Nihilismus - und zugleich ein guter und sprechender dichterischer Beweis fiir die Kraft des lyrischen Wortes, eine Wahrheit nicht nur zu sagen, sondern durch das eigene Sein zu dokumentieren. Weit schwieriger sind die hermetisch verschlüsselten Verse zu verstehen, die ich von Paul Celan ausgewählt habe. Paul Celan ist ein in der Bukowina, also im fernen Osten, in Czernowitz aufgewachsenerjüdischer Dichter deutscher Zunge, der nach vielen Schick-
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salen in Paris Lektor für deutsche Sp:rache ;;;;1d Literatur wurde. E::- war mit einer Französin verheiratet und hat fast nur auf deutsch gedichtet - .;::r,e ganz eigentümliche Tatsache. Mir ist kein französisches Gedicht von Celan bekannt, während ich französische Gedichte Von George oder Rilke durchaus kenne. Celan war offenbar an die deutsche Sprachheimat, die ihm keine Heimat bot, tiefer gebunden, als jene anderen Dichter waren, die sich gelegentlich auch in einer anderen Sprache noch versucht haben. Ich wähle ein Gedicht aus der spätesten Phase dieses Dichters, der 1970 freiwillig in den Tod gegangen ist, ein Gedicht, dessen thematische Zugehörigkeit zu dem zitierten Gedicht Benns, nach einiger Erklärung, jedem in die Augen springen wird. Es ist freilich ein kryptisches Gebilde, ein hermetisches Gedicht. Es spiegelt die groBe Wende zum Weglassen, zum Konzentrieren, und damit I auch zum Verdichten, die wir ähnlich etwa aus der modemen Musik seit Schönberg und Webern kennen. Das hat die deutsche Nachkriegslyrik in besonders starkem Maße geprägt - nicht zuletzt deshalb, weil die deutsche Lyrik in einer Sprache spricht, deren Freiheit der Wortstellung meines Wissens nur noch vom klassischen Griechisch erreicht worden ist. Auf ihr beruht die besondere Konzentrationsmäglichkeit des lyrischen Verses. Die syntaktischen Funktionsausdrücke der Rede, die prosaisch-rhetorischen Mittel, mit denen wir sonst die logische Einheitsbildung der Rede bewerkstelligen, sind fast ganz eliminiert. Das Gedicht vertraut sich lediglich der Gravitationskraft der Worte an: Wirk nicht voraus, sende nicht aus, steh herein: durchgrondet vom Nichts, ledig allen Gebets, feinfUgig, nach der Vor-Schrift. unüberholbar, nehm ich dich auf, statt aller Ruhe. Man muß das so lesen, daß die drei Strophen und die Zeilenbrüche erraten werden können. Es sind eben Verse. Das heißt: auch ein Einwortvers hat die Länge der anderen Verse, eine Länge, die sich in unSerem inneren Ohr dehnt, wenn wir das rhythmische Sprachgebilde, hörend und verstehend, in uns erstellen. Dies Schlußgedicht. so schwer es scheint, ist nicht schwerer als viele andere Gedichte des späten Celan. Er ist in diesen Gedichten in einem
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tieferen Sinne dem Verstummen nahegekommen als andere Dichter, die abbrechen. wenn ihnen der Atem ausgeht. Die Semantik dieses Gedichtes ist zunächst an ein paar Beispielen vorzustellen. Wieder handelt es sich um eine Sprache, die ihre eigene dichterische Semantik entwickelt hat. Wenn bei Gottfried Benn die besondere Fügung seiner Worte wesentlich darauf beruht, daß er das Nichtzusammenhängende aneinanderreiht und zusammenbindet, haben wir hier in gewissem Sinne ein umgekehrtes Prinzip dichterischer Semantik. Etwas, was ein Wort scheint, zerspringt gleichsam und evoziert in seinem Zersprungensein in bedeutungsdifferente Wortsplitter eine neue Bedeutungseinheit. »Wirk nicht voraus« - die Sinnsphäre, die in dem Wort> Vorauswirken< anklingt, dürfte am ehesten die der Vorbestimmung sein und das christliche, besonders kalvinistische Dogma von der Prädestination ins Spiel bringen. Freilich, ob mit »Wirk nicht voraus« Gott angeredet wird oder nicht. ist eine Frage rur sich, die man beim Lesen zunächst offenlassen wird. Beim nächsten Vers dagegen ist die Bedeutungssphäre Ilsende nicht aus« bereits eindeutig. Das spielt ohne Zweifel auf die Aussendung der Apostel an, auf den Missionsauftrag, der die christliche Kirche begründet hat. Das muß man hören und wird man hören, solange einige Bibelkenntnis besteht. Schwieriger ist das dem >Aussenden< entgegengesetzte »steh hereinl(. Das Wort >Hereinstehen< gibt es im Osterreichischen auch in aktiver Bedeutung. Man kann, wie mir gesagt wurde, zu jemandem sagen ,Steh herein!(, das heißt >Komm herein!(. Aber das hat der hier Redende zunächst nicht als erstes im Sinn. Ein >komm herein( wäre ein schlechter Gegensatz zur Aussendung. Auch hat das Gedicht dieses »steh herein« auf zwei Verse verteilt, »steh« ist ein Einwortvers, »herein« ist ein Einwortvers. Also muß man das >Stehen< erst fur sich hören, bevor es sich in ein >Hereinstehenl wandelt und vollendet. Damit kommt die andere, intransitive Bedeutung des Wortes ins Spie\. >Etwas steht herein< heißt: es steht im Wege, so daß man nicht an ihm vorbeikommen kann. Das muß man hören. Dieses »steh herein« heißt nicht so sehr >komm<, als >sei so da, daß ich nicht an dir vorbei karin<. Hier endet eine Strophe, und die nächste beginnt abermals mit einer kühnen Wortzertrümmerung. »Durchgründet vom Nichts« läßt zwei ganz unvereinbare Bedeutungen verschmelzen, >gegründet auf etwas< und >durchwaltet vom Nichts< sind hier plötzlich in eins zusammengeschoben wie in einer Phrase von Webern. Statt auf etwas gegründet zu sein, das verläßlich ist in seinem Sein, soll es das Nichts sein, das hier nicht alles Seiende auflöst, sondern festen Grund bildet. Und wieder geht es weiter: »ledig allen Gebets«. Wer hört »ledig allen ... (1, wird sofort etwas ganz anderes erwarten. Nicht gerade ,ledig allen Gepäcks< -aber doch >ledig aller Last<. ledig alles Belastenden. so daß man leicht geworden ist. Nun tritt dafiir »Gebet« ein. Das heißt natürlich, daß das Gebet selber eine >Last< war.
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Ledig vom Belastetsein meint eine Art Freisein. Und wieder geht es weiter: »feinfügig,< - das Wort gibt es auch nicht. Es gibt Igefügig<, das heißt 'gehorchend<, und es gibt ,feingeftigt<, das heißt 'sich fein ineinanderfügend<. Wieder ist beides in »feinfügig« zu hören - ,fein, und ,sich fügend,. Und vollends »nach der Vor-Schrift« - hier haben wir sozusagen den Schriftbeweis für Celans semantische Praxis. Das Wort' Vorschrift, ist im Text mit einem Bindestrich geschrieben: »Vor-Schrift«. Man soll nicht überhören, daß hier die Heilige Schrift gemeint ist und auf das >nach der Schrift< angespielt wird. Das aber sagt: Worein ich mich so fein füge, ist gerade nicht >nach der Schrift" sondern nach der Vor-Schrift, nach etwas, was noch älter ist als die älteste Urkunde des Menschengeschlechtes, um mich mit Herder auszudrücken. Es ist eine Erfahrung. die dem noch vorausliegt. was die Heilige Schrift vorschreibt, und die doch auch bindet, wie eine Vorschrift. Die Vor-schrift heißt »unüberholbar« - sie wird nie widerrufen, wie Vorschriften sonst oder wie das Alte Testament durch das Neue Testament überholt sein soll. Dieses Ich also, das durchgründet ist vom Nichts, sagt von sich: »nehm ich dich auf, statt aller Ruhe«. Das ist vielleicht weniger semantisch als inhaltlich äußerst verblüffend. daß hier am Ende nicht Ruhe, die friedvolle Annahme der Botschaft der ,Schrift< steht. Was hier aufgenommen wird, verheißt nicht Ruhe, sondern es ist beständige Unruhe, die du bringst - indem du hereinstehst. Nach diesen einleitenden semantischen Erläuterungen beginnt die Interpretation mit der Syntax der Sache, dem eigentlichen Inhalt des Gedichtes, der Aussage, die hier gemacht wird. Man kann bei Celan nie recht sagen und im Grunde wohl bei keinem wirklichen lyrischen Dichter - wer gemeint ist. wenn das Gedicht »ich« sagt. Daß der Dichter nicht bloß sich selbst meint, deswegen ist es ein Gedicht. Ich als Leser kann mich von ihm als Sprecher gar nicht unterscheiden. Es ist ein Gedicht. weil dies Ich wir alle sind. Was ist nun das Du zu diesem Ich, das von diesem Ich mit einem "du« angeredet wird? Es ist ein Imperativ: »Wirk nicht voraus«. Wer ist dieses Du? Gewiß. wir sind gewöhnt, auch zu uns selbst "du« zu sagen, und es wäre rein grammatisch und syntaktisch nicht unmöglich, das Ganze als ein hermetisches Selbstgespräch zu lesen. Jemand wird angeredet und jemand antwortet, und die beiden könnten ein und dieselbe Person sein. Zunächst ist diese Frage offen. Wenn man eine Anrede an sich selber darin sehen möchte, wird man in seinem Vorverständnis dem stoischen Grundsatz des ei~' iavlov folgen und sich selber von allem Wirkungswillen und Geltungswillen zurückrufen. Das liegt durchaus nahe. Aber das Hereinstehen - in welcher Bedeutung des Wortes immer - erfüllt dieses Verständnis nicht. Es ist etwas von außen, was hereinstehen, dasein oder kommen soll. Offen scheint zunächst auch der Bezug des in der zweiten Strophe Gesagten. Geht es auf dich - wer immer es sei - oder auf mich? Der Doppelpunkt,
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der die erste Strophe abschließt, spricht dafür, daß alles folgende zusammengehört und die Aufforderung des Hereinstehens gleichsam begründet. Dann ist es also nicht das angeredete Du, sondern das redende Ich, das im folgenden in seiner Bereitschaft, das Du aufzunehmen, ausgesagt ist. Das ist die sich ergebende Syntax, die die zweite und dritte Strophe zusammenschließt. Eine kleine Schwierigkeit bildet der letzte Vers der zweiten Strophe, »unüberholbar«. Dies Attribut paßt nicht auf die Beschreibung dieses Ich. Hier geht der Bedeutungsbezug weit eher auf» Vor-Schrift«. Viele Vorschriften gelten nicht mehr, sind überholt. Diese allem vorausliegende VorSchrift kann nie überholt sein. So ist dieser letzte Vers grammatisch eine attributive Apposition zu »Vor-Schrift« und nicht ein Attribut des Ich, wie es das »feinfügig« zweifellos ist. Allenfalls könnte man eine indirekte Verstrebung der Bedeutungen annehmen: Weil ich mich der unüberholbaren Vor-Schrift füge, kann ich sdber »unüberholbar« genannt werden. Das mag mitschwingen. Aber die Beziehung auf» Vor-Schrift« bleibt tragend. Außer diesen Gründen der lyrischen Grammatik gibt es aber auch noch einen anderen, >hermeneutischen< Grund, in dem Angeredeten das Du des ganz Anderen, Gottes, zu verstehen. Das ist der Platz, den der Dichter selber diesem Gedicht in diesem letzten von ihm komponierten Gedichtband ange-· wiesen hat. Man folgt damit dem bekannten hermeneutischen Grundsatz, den schon Schleiermacher formuliert hat, daß eine Sinneinheit auch von ihrer Funktion im Zusammenhang einer größeren Sinneinheit mitbestimmt wird. Das unseren Versen vorausgehende Gedicht, das berühmte Gedicht >Du sei wie du<, legt den religiösen Zusammenhang offen... Es spricht von dem Leiden eines, den sein Bruch mit der jüdischen Gemeinde und dem Glauben der Väter quält. »Auch wer das Band zerschnitt zu dir hin« mag biographisch darauf anspielen, daß Celan eine katholische Ehe in Paris eingegangen ist. Aber wieder soll man kein besonderes privates Wissen einbringen. Der Bruch mit dem Glauben der Väter meint am Ende wohl einen jeden. Es ist das Leiden der Gottsuche, jenes Jenseits irgendeiner bestimmten religiösen Zugehörigkeit, das der Gottesfrage und insofern der Erfahrung des Göttlichen doch nicht ausweichen kann. Es >steht herein<. So ist klar, der Angeredete ist ein anderer, ist der >ganz Andere<, ist Gott. Aber nichts von rdigiösem Heilsversprechen ist damit verbunden - kein Glaube an eine Vorsehung und nichts von der Frohen Botschaft, mit der Jesus seine Jünger aussendet in die ganze Welt. Gott soll gar nichts tun - nur so hereinstehen, daß ich nicht an >dir( vorbei kann. Aber eben das ist sein Dasein, und so kommt die andere, transitive Bedeutung von >Hereinstehen< zum Tragen. Er soll nur hereinstehen, ich will ihn aufnehmen - und es soll nicht so sein wie im Johannes-Prolog, wo die Wdt den Logos nicht aufgenommen hat. Die ganze Folge der Verse nach dem Doppelpunkt stellt also den begründenden
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Nachsatz zu der Aufforderung des »steh herein« dar. Gerade weil ich so "durchgründet vom Nichts« bin und keine bestimmte religiöse Erwartung oder Verheißung hege. "Ledig allen Gebets« - das bin ich. Gebet ist wie etwas, das ich nicht mehr tragen kann, und doch und gerade als ein solcher bin ich nicht frei, sondern weiß, daß ich mich zu fUgen habe, nicht einer Offenbarung folgend, mach der Schriftc, sondern einer Vor-Schrift, die noch viel ursprünglicher und unüberholbarer ist als jede mögliche Religion undjede mögliche kirchliche Glaubensgemeinschaft. Das Ich, das redet, will gar nicht an >dirc vorbei. >Duc sollst hereinstehen wie etwas, an dem man nicht vorbeikommt. »Statt aller Ruhe« - nicht, daß ich mich irgendeinem neuen Glauben anvertraue und darin Ruhe suche und finde, sondern daß ich keinem schon vorliegenden und mich bindenden Glauben folgen kann, gerade diese Unruhe, die mich nicht an dir vorbeikommen läßt, ist es, der ich mich nicht verschließen kann. Wenn man Gottfried Benns Gedicht eine Art negativen Hymnus nennen könnte, eine Preisung dessen, der dazu gereift ist, alle Klage zu unterlassen, könnte man dieses Gedicht ein hermetisches Zwiegespräch nennen. Es ist ein Gedicht, das tUr uns alle aussagt, daß die Erfahrung des Göttlichen unausweichlich ist, auch wenn der Gott verneint und sich versagt. Vielen mag die Erfahrung des Göttlichen weiterhin Bindung und Trost und Heilsversprechen vermitteln - das Ich, das hier tur uns spricht, erwartet nichts, sondern bekennt sich zu der Unruhe des Herzens: inquietum cor nostrum. "Der Gott verneint.« Celans Schluß gedicht steht in innerer übereinstimmung mit den Versen Benns. In ,Lichtzwangc steht ein Gedicht, das Celan nach dem Besuch bei Martin Heidegger im Schwarzwald geschrieben und ihm auch geschickt hat, und das er in seinen Gedichtband aufgenommen hat.
Todtnauberg Arnika, Augentrost, der Trunk aus dem Brunnen mit dem Stern würfel drauf. inder Hütte, die in das Buch - wessen Namen nahms auf vor dem meinen? -, die in dies Buch geschriebene Zeile von einer Hoffnung, heute, auf eines Denkenden
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kommendes Wort im Herzen, Waldwasen, uneingeebnet, Orchis und Orchis, einzeln, Krudes, später, im Fahren, deutlich, der uns fährt, der Mensch, der's mit anhört, die halbbeschrittenen Knüppelpfade im Hochmoor, Feuchtes, viel.
Man hat darüber verbreitet, daß es einen unglücklichen Verlauf des Besuches dokumentiert. Das mag der Weisheit der Biographen - selbst falls es den Autobiographen. den Dichter selber. einschließen sollte - überantwortet bleiben. Das Gedicht weiß da von nichts - und weiß es besser. Ich kenne'diese Hütte selber aus vielen Aufenthalten. Es ist dort so: Man kommt da im Hochschwarzwald zu diesen Wasen, diesen Hochmooren. Oben, nah dem Waldrand des Stübenwasen, steht ein ganz kleines Hüttchen. das sich eng an den Hang anschmiegt, ganz mit Schindeln gedeckt, sehr einfach. Es hat keine Wasserleitung. Vor der Hütte ist ein kleiner Brunnen, ähnlich wie die Tränke, die man dort im Schwarzwald für das Vieh einrichtet. Eine leise tröpfelnde Quelle führt immer frisches Wasser zu. Ich habe mich oft an diesem Brunnen mit dem laufenden Wasser zusammen mit Heidegger rasiert. Auf dem Brunnenpfahl ist ein holzgeschnitzter Kubus, in den ein sternfOrmiges Ornament eingeritzt ist. Das muß man natürlich nicht wissen. wohl aber soll man etwas Bedeutungsvolles, von Schicksalsstemen und vom Wurf des Schicksals, wie ein gutes Zeichen, in diesem Umstand erkennen. Wie das ganze kleine Anwesen ist es ein »Augentrost«. Das Gedicht ruft dieses Geruhl herauf, indem es mit dem Namen >Arnika(, deutsch >Augentrost(, eine im Hochgebirge heimische Heilpflanze am Eingang des Gedichtes anruft. In der Hütte das Buch. Das war Heidcggers Gewohnheit, alle Gäste der Hütte hatten sich da einzuschreiben. Celan ist offenbar hingekommen, hat sich auch in das Buch einschreiben sollen. und er hat es getan l . Jedenfalls ist deutlich, welche Erwartung oder vielleicht Nichterwartung. welche Frage den Dichter bewegte: ob ein Den1 Ein deutsch-amerikanischer Philologe hat inzwischen vergeblich versucht helauszubekommen, was Celan eingeschrieben hat. Es gibt auch diesen Weg, sich einem Gedicht zunähem.
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kender wie dieser vielleicht ein Wort, ein "kommendes Wort« hätte, ein Wort ))von einer Hoffnung, heute(e, Von dieser geheimen Hoffnung im Herzen erfüllt hat der Dichter seine Zeile geschrieben. Dann ist die Szene offenkundig ein Spaziergang, über den Stübenwasen, ))Waldwasen, uneingeebnet, Orchis und Orchis, einzeln«. Uneingeebnet: so sind diese Wasenflächen in der Tat. Aber wieder soll man nicht zu Landschaftsstudien in den Schwarzwald fahren, um das Gedicht besser zu verstehen. Man soll verstehen, daß es für die Denkenden, für uns Denkende, keine geebneten Wege gibt. Orchis ist eine kleine Hochgebirgsorchidee, aber natürlich sagt der Vers ))Orchis und Orchis, einzeln« nicht primär etwas über die Vegetation auf dem Stübenwasen, sondern etwas über die Einzelheit der bei den Spaziergänger, die da zusammengingen und doch jeder einzeln blieben, wie die Blumen, an denen sie vorbeikamen. Die nächste Szene ist die Heimfahrt des Besuchers im Wagen. Jemand fährt ihn da, und er selbst ist begleitet von irgendeinem anderen, mit dem er redet. Sie reden miteinander, und erst jetzt, während sie miteinander reden, wird ihm ))Krudes« deutlich. Was Heidegger gesagt und was Celan zuerst nicht verstanden hatte: die Worte Heideggers bekommen plötzlich Sinn, für ihn und für den anderen - nicht für den, lIder uns fährt«. Damit ist die Erzählung von diesem Besuch gleichsam zu ihrem Ende gekommen. Die erste Strophe galt dem trostreichen Anblick des bescheidenen Anwesens, die zweite spielt in der Hütte, die Bedeutung des besuchten Mannes und die geheime Erwartung des Besuchers schildernd; die dritte Strophe ist der Spaziergang, dies Nebeneinander einzelner, und dann die Rückfahrt, auf der die Eindrücke besprochen wurden. Was folgt, ist nicht mehr )Handlung(, sondern so etwas wie ein Fazit, das in dem Gespräch der Zurückfahrenden gezogen wurde: die Gewagtheit dieses Geh-Versuchs im Ungangbaren. ))Feuchtes, viel. « Da sind die ))halb-beschrittenen Knüppelpfade im Hochmoor«. Das ist nun tatsächlich im Hochgebirge so. Die feuchten Wege am Moor macht man durch Knüppel einigermaßen überschreitbar. Hier sind es halbbeschrittene Knüppelpfade, das heißt, man kommt nicht durch und muß umkehren. Sie sind wie )Holzwege(. Es ist eine Anspielung daran, daß Heidegger nicht beansprucht und nicht vermocht hat, ein "kommendes Wort« zu sagen, eine ))Hoffnung, heute« zu haben - er hat auf einem gewagten Wege ein paar Schritte versucht. Ein gewagter Weg ist es. Jeder, der danebentritt, tritt in das Moor und ihm droht das Versinken im Feuchten. Es ist die Beschreibung der gewagten Denkwege dieses Denkers - und wiederum eine Situation, in der wir als Menschen alle heute mehr oder weniger bewußt stehen und die unser Denken nötigt, gewagte Wege zu gehen. So mag es schon sein, daß der verdunkelte Dichter keine Wandlung in Hoffnung und Helle bei diesem Besuch erfuhr. Es wurde ein Gedicht, weil
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das Erfahrene ihn und uns alle aussagt. Das Gedicht ist als Schilderung des wirklich geschehenen Besuches nicht einzigartig im Celanschen Werk. Er hat sehr viele sozusagen situationsgebundene Gedichte geschrieben. In seiner Büchner-Preis-Rede hat er seine eigenen Gedichte gerade durch diesen >existentiellen< Bezug von der symbolistischen Poetik Mallarmes unterschieden. Das ist aber keine Einladung zu biographischer Forschung. Auch diese Situationsgebundenheit, die dem Gedicht etwas Okkasionelles verleiht und Ausfüllung durch das Wissen um die bestimmte Gelegenheit zu verlangen scheint, ist in Wahrheit in eine Sphäre des Bedeutungsvollen und Wahren heraufgehoben, die es zu einem echten Gedicht hat werden lassen. Es spricht uns alle aus. Wir sind also bereits einen Schritt weiter, als ihn die allgemeine Methodentheorie der Hermeneutik zu verzeichnen wußte - ich meine die Vielheit der möglichen Interpretationshinsichten betreffend. August Boeckh hat in der Nachfolge von Schleiermacher vier solcher Hinsichten unterschieden: die grammatische Interpretation, die generische Interpretation, die historische Interpretation und die psychologische Interpretation. Zwar bin ich der Meinung, daß diese vier Interpretationshinsichten durchaus der Erweiterung fähig sind, und glaube zum Beispiel, daß der Strukturalismus eine solche Erweiterung darstellt, sei es für die mythischen Inhalte der griechischen Tragödie, sei es für das Verständnis der dichterischen Sprachgestaltung. Auch ich selber habe mich bemüht, in methodischem Vorgehen mit der Semantik einzusetzen und die Syntax gleichsam erst daraus hervorgehen zu lassen. Ein Wort strahlt aus, es entwickelt grammatisch-semantische Kräfte. Eine Wortgruppe strahlt aus und entwickelt syntaktische Kräfte. Will man das Prinzip benennen, mit dem hier gearbeitet wird, wenn man die besondere Einheit des Ganzen erfassen will, so könnte es das Prinzip der harmonischen Dissonanz heißen. Im Gegensatz zu gewohnteren älteren Formen der Poesie, die viel von Glätte und Glanz des Rhetorischen enthalten, reichen hier wohl die Dissonanzen bis in die kompositorischen Elemente hinein und lösen noch Worteinheiten auf. In ein und demselben Wort >klingt es auseinander<. Wir sahen es etwa bei Celans Schlußgedicht, bei »steh herein«, bei »feinfügig«, bei »nach der Vor-Schrift«, bei »unüberholbar«. Auseinanderklingen heißt Dissonanz. Wie in der musikalischen Komposition die Konsonanz gerade durch die Auflösung von Dissonanzen möglich wird, ist es auch hier. Je härter die Dissonanz, desto stärker wird die Aussage. Man denke etwa an das mitschwingende >Gepäck< bei »Gebet«. Welch ein ungeheurer Mißklang, und eben dieser Mißklang führt dazu, daß sich das Ganze zu einem bedeutungsvolleren Sinn klang zusammenschließt. »Ledig allen Gebets« - auf einmal sieht man etwas von der Art, sich durch überirdische Verheißung Trost zu holen, damit es einem leichter wird. Dem
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stellt das Gedicht die Frömmigkeit dessen entgegen, der es sich schwer macht. In diesem Sinne ist das von mir gewählte Schluß gedicht, wie mir scheint, ebenso wesentlich wie jenes andere, ITenebrae<, in dem trotz der Bitterkeit des Todes, die alles umdunkelt. doch Anruf und Gesang wird2 • Ich darf an ein Wort Heraklits erinnern: »Die Harmonie, die nicht offenkundig ist, ist stärker als die offenkundige.• 3 Das trifft nicht nur für dichterische Gebilde zu. Die Wahrheit dieses Satzes von Heraklit haben wir in unserem Jahrhundert wahrlich zu lernen gehabt. Celans Gedichte, seine Botschaft, wenn man so sagen darf, steht nicht allein. leh folge nochmals dem hermeneutischen Grundsatz, daß das, was man zu verstehen sucht, in einem größeren Zusammenhange seine Aufklärung finden kann. Ich richte den Blick über Celans Werk hinaus und schränke ihn auch nicht nur auf die sogenannte Literatur ein, sondern richte ihn auch auf andere Formen der Kunst. Sie können uns die Entstehung der Modeme und ihrer inneren Spannungen manchmal noch deutlicher vor Augen fUhren als die Literatur, in der die Interferenz mit der Prosa des Gedankens, der überall mit seiner Reflexion eindringt, die Dinge oft verschleiert. Was Celans Botschaft ausdrückt, hat seine eigentliche Schwere und gewiß auch seine, dramatische Zuspitzung in den Furchtbarkeiten der im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen. Aber es hat, formgeschichtlich und kunstphilosophisch gesehen, gleichwohl seine Vorbereitung bereits seit dem Anfang dieses Jahrhunderts. Was ist in diesem ersten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg nicht schon geschehen! Da haben wir die große Revolution der modernen Malerei, die selber schon ihre Vorläufer hatte, z. B. in Hans von Marees oder in Paul Cezanne, in denen die Bildfläche neu entdeckt wurde und der Tiefenraum des Bildes wie in die Fläche geklappt erscheint. Wir haben in der Musik ähnliche revolutionäre Findungen in Theorie und Praxis. Vom Formgesichtspunkt der Tradition aus gesehen scheinen es zersplitterte Maße, die sich hier zu neuen, intensiv-sprechenden Gebärden vereinen, die selber wie Texte sind. Man muß die hermetischen Texte, wie wir sie bei Celan lesen lernen, am Beispiel solcher Texte erfassen, mit denen wir schon längeren Umgang im Lesenlernen pflegen. Man erinnere sich der malerischen Revolution, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in der kubistischen Formzertrümmerung auftrat, etwa in den Portraits von Picasso. Da ist es eine Masse, die wie in tausend Splitter zersprungen ist und die unser auf Gestalt und Form gerichtetes Sehen erst langsam aus a11 den Sinnfragmenten Vgl. dazu ,Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan., in die5em Band, S. 452 ff. Heraklit fr. 54: app.o~irz cirpavI}( lfKlVep;z( xptioOflW. In der Regel überKtzt man: .Die verborgene Harmonie ist stärker als die offene .• Aber im Griecbiscben ist es derselbe Wortstamm, der einmal in .verborgen. und ein andermal in lIlicbtverborgen. erscheine. Vgl. im übrigen meine Heraklit-Studien in Ges. Werke Bd. 7, S. 43-82. 2
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den Sinn des Ganzen erkennen läßt. So langsam, wie wir es eben in unseren Gedichten lernten, in den eigentümlich gravitierenden Worteinheiten die Anklänge zu realisieren, aus denen der Text besteht. Wie da in den Imperativen des Beginns unseres Gedichts, so sind in einem Portrait Picassos plötzlich Sinnfragmente erkennbar, ein Stück Na$e oder ein paar Lippen oder ein Auge, und dann fängt man an, die verschiedenen Schichten dieses zersplitterten Ganzen förmlich aufzublättern, bis man ein in sich strukturiertes Ganzes und durch seine Strukturierung monumental geformtes Ganzes vor Augen hat. Die kubistische Malweise war selbst nur ein Versuch unter vielen, der nur wenige Jahre angehalten hat. Aber das Verfahren der modemen Malerei ist nicht auf diese eine Manier beschränkt. Wir fmden bei vielen großen Malern den gleichen entschlossenen Versuch, bedeutungsträchtige Elemente, die sich von der Abbildbarkeit her deuten lassen, immer mehr zu bloßen Sinnfragmenten herabzusetzen, die erst in einer größeren Komposition sinnvoll mitzusprechen vermögen. Damit wird dem Betrachter von solchen Bildern eine neue Aktivität zugemutet. Wir können nicht mehr aus dem dichten Geflecht von Bedeutungsfulle des Dargestellten und harmonischer Gestaltung die Aussage des durch Malkunst Gesagten aufschließen4 • Die gleiche Erfahrung bietet uns die modeme Musik in den gleichen Jahren. Was mit Schönberg oder mit Anton von Webern begonnen hat, war etwas nicht minder provozierend Neues. Plötzlich bekam man Stücke von außerordentlicher Kürze vorgesetzt, die in ihrer komprimierten Gestalt eine eigene machtvolle Ausstrahlung besitzen. Da ist es wie ein Dickicht von Dissonanzen, von denen kaum noch zu erwarten scheint, daß Harmonie daraus gebildet werden soll. Es ist auch wirklich keine Harmonie mehr, die so leicht und sicher versprechlich auf uns wartet, wie die musikalischen Auflösungen, von denen die Wiener Klassik weiß. Und wie war es in der Literatur? Ich will nicht auf die tiefen Traditionsbrüche verweisen, die dem Roman seinen Helden und eine Handlung vorzuenthalten begannen oder dem Drama die Einheit der Charakterzeichnung. Selbst in der Poesie, der lyrischen Gattung, die uns um Celans willen am Herzen liegt, findet sich eine verbreitete Wandlung, die sich vom Naturalismus und seinem deskriptiven Pathos grundsätzlich und radikal trennt. Ich denke etwa an die großen poetischen Schöpfungen eines Mallarme und seiner Nachfolger im Französischen, eines Stefan George im Deutschen. Ich denke da vor allem an die Eliminierung der Rhetorik aus der Poesie. Poetische Bilder, aufgesetzte Glanzlichter oder Metaphern, die sich aus dem kolloquialen Fluß der Rede als rhetorische Höhepunkte herausheben und die 4 Siehe dazu ,Begriffene Malerei?c, .Kunst und Nachahmung. und, Vom Verstummen des Bildes. in Ges. Werke Bd. 8.
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wir eben deswegen gerne Metaphern nennen, weil sie sich nicht in den direkten Mitteilungsgehalt von Rede einfügen, sondern in eine andere Sphäre hinüberspielen, sind rhetorische Elemente, die aus der Dichtung verschwinden. Sie kennt kaum noch Metaphern, sie ist in sich selbst Metapher. Sie ist in sich selbst so, daß die Redebasis der alltäglichen Sprache ganz verlassen scheint und ebenso die Basis gemeinsamer, sozusagen mythischer, d. h. unbefragt bedeutungsträchtiger Inhalte, die aus der Tradition älterer Jahrhunderte noch bis zu uns hinüberreichen. Wie sehr in der lyrischen Poesie etwa der Reim im Verschwinden ist, wurde an den Celan-Gedichten schon bemerkt. Das gehört mit in diesen Wandel, der auch anderen Formen von Literatur ein neues Gesicht verliehen hat. Zieht man die Summe aller Beobachtungen, so wird man den Intensitätsgewinn nicht verkennen können, der auf diese neue Weise entstanden ist. Jeder, der einmal in einem der großen Museen war, in denen klassische ~unst und moderne Malerei in getrennten Sälen gezeigt werden, und der sich nach dem Durchgang durch die klassischen Säle länger bei der neuen Malerei verweilt und sich in sie eingelassen hat, dem wird, wenn er zurückgeht, auf einmal die ganze vertraute, harmoniereiche Malerei der Renaissance und des Barock blasser vorkommen als bei dem ersten bewundernden Durchgehen. Den gleichen Intensitätsgewinn erfahren wir an der neuen Musik, wobei es gar nicht einmal wesentlich auf den Halt des Zwölftonsystems ankommt. Die extreme Funktion der Dissonanz als solche ist das offenkundig Neue gegenüber der klassischen Musik. Auch bei manchen Erfahrungen, die wir an der Sprachkunst machen, hat sich - mit wesentlichen Anderungen freilich - das gleiche zeigen lassen. Das ist der erste Bruch, an den wir uns bereits gewöhnt haben. Es war, wie ich meine, der Bruch mit dem Bildungsbewußtsein des Historismus und seiner Nachahmungsseligkeit. Wenn es auch Werke von Qualität, ja von klassischer Art sind und wenn es auch schöne Bilder und schöne Gedichte sind, an denen wir festhalten und die uns weiter begleiten, so ist doch die Entwicklung des 20.Jahrhundem in die Richtung gegangen, daß diese Formen trostreicher Versöhnung des Verderbens (um einen Hegeischen Ausdruck zu gebrauchen), die uns die Kunst verhieß, im Schaffen heutiger Kunst nicht mehr zu finden sind. Hieran schließt sich der zweite Bruch, von dem Celan in seiner BüchnerPreis-Rede besonders eindringlich gesprochen hat, der aber in unser aller Bewußtsein wach ist. Es ist nicht nur die Abnutzung unserer mythischen Vorstellungsinhalte durch das Bildungsbewußtsein einer zu Ende gehenden bürgerlichen Epoche, das so tiefe Veränderungen heraufgerufen hat. Darüber hinaus ist es ein Erschrecken über die Unkraft dieser Bildungswelt. Das hat uns angesichts der neuen Barbarei des 20. Jahrhunderts förmlich überfallen. Damit ist auch in das dichterische Sprechen eine neue Art von Intensität
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gekommen, vergleichbar der gesteigerten Intensität der Farben und Farbkontraste, der Töne und Tondissonanzen. Zwar bleibt in allen Gestalten von Kunst immer etwas von Zeugenschaft rur eine heile Welt, aber doch auch etwas wie Mißtrauen gegen zu leichte Versöhnungen, eine Art Glaubensunwilligkeit. Das scheint mir der eigentliche Hintergrund in Celans poetischem Schaffen und findet in dem Schlußgedicht, von dem wir ausgingen, geradezu wörtlichen Ausdruck. Das Harmoniepostulat, das wir bisher in allen begegnenden Sinnverhüllungen als sichere Sinnerwartung aufrechterhielten, hat sich entzogen. Sinnverhüllung wird in einem Zustande von Erwartung bejaht, in dem Auflösung solcher Verhüllung, Enden in einer neuen Harmonie, nicht mehr vorausgesetzt wird. Es ist ein Zusammenbruch von Sinnerwartung, der ein Standhalten ohne Vorauswirken und Glauben an ein Heiles ist. Das hat in dem Gedicht, von dem wir ausgingen, seinen dichterischen Ausdruck gefunden. Ein solches Gedicht, das obendrein an dem ausgezeichneten Punkte von Celans dichterischem Schaffen steht, den ich angedeutet habe, empfangt seine letzte Aussagekraft am Ende gerade dadurch, daß es bis an den Rand des Stehens, bis an den Rand des Nicht-mehr-Standhaltens vorgedrungen ist, an dem der Dichter von uns gegangen ist.
36. Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Gedichtfolge )Atemkristall<
(1986) Schöpft des Dichters reine Hand, Wasser wird sich ballen Goethe [n seinen späteren Gedichtbänden nähert sich Paul Celan mehr und mehr der atemlosen Stille des Verstummens im kryptisch gewordenen Wort. Im folgenden soll eine Gedichtfolge aus dem Gedichtband )Atemwende( betrachtet werden. die zuerst 1965 unter dem Titel ,Atemkristall< in einer bibliophilen Ausgabe gedruckt wurde. Jedes der Gedichte hat seinen Ort in einer Folge, und es wächst dem einzelnen Gedicht von da aus gewiß etwas an Bestimmtheit zu - aber die ganze Folge dieser Gedichte ist hermetisch verschlüsselt. Wovon ist die Rede? Wer redet? Gleichwohl ist jedes Gedicht dieser Folge ein Gebilde von eindeutiger Bestimmtheit, zwar nicht durchsichtig und von unmittelbar sprechender Klarheit. aber doch nicht so, daß etwa alles verhüllt bliebe oder Beliebiges zu bedeuten vermöchte. Das ist die Erfahrung des Lesens, die sich dem geduldigen Leser ergibt. Gewiß darf es kein eiliger Leser sein, der hermetische Lyrik verstehen und entschlüsseln will. Aber es muß keineswegs ein gelehrter oder besonders belehrter Leser sein - es muß ein Leser sein, der immer wieder zu hören versucht. . Die besonderen Belehrungen, die ein Dichter über seine verschlüsselten Schöpfungen zu geben vermag - auch Paul Celan sagte man nach, daß solches Verlangen gelegentlich an ihn gerichtet wurde und daß er es freundlich zu befriedigen suchte -, haben stets etwas Mißliches. Bedarf es der Auskunft über das, was ein Dichter sich bei seinem Gedicht gedacht hat? Es kommt doch wohl allein darauf an, was ein Gedicht wirklich sagt - und nicht, was sein Verfasser meinte und vielleicht nicht zu sagen verstand. Gewiß kann der Wink des Verfassers, der auf den unverwandelten Zustand des ,Stoffes< weist, auch bei einem in sich vollendeten Gedicht von Nutzen sein und vor Fehlversuchen des Verstehens bewahren. Aber es bleibt eine gefährliche Hilfe. Wenn der Dichter seine privaten und okkasionellen Moti-
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ve mitteilt, verschiebt er im Grunde das, was sich als dichterisches Gebilde ausbalanciert hat, nach der Seite des Privaten und Kontingenten - das jedenfalls nicht dasteht. Sicherlich ist man gegenüber hermetisch verschlüsselten Gedichten mit der Aufgabe der Deutung oft in großer Verlegenheit. Aber auch wenn man in die Irre geht, in wiederholendem Verweilen bei einem Gedicht wird man seines eigenen Versagens doch immer wieder inne, und wenn das Verständnis im Ungewissen oder im Ungefähren bleibt, ist es doch immer noch das Gedicht, das im Ungefähren und im Ungewissen zu einem spricht, und nicht ein einzelner in der Privatheit seiner Erlebnisse oder Empfmdungen. Ein Gedicht, das sich verweigert und weitergehende Klarheit nicht gewährt, scheint mir immer noch bedeutungsvoller als alle Klarheit, die einem durch die bloße Versicherung zuwachsen kann, die ein Dichter über das, was er meinte, abgibt. So ist es offenkundig sehr im Ungewissen, wer in diesen Gedichten Celans Ich und Du sind, und doch soll man nicht den Dichter fragen. Ist es Liebeslyrik? Ist es religiöse Lyrik? Ist es das Zwiegespräch der Seele mit sich selbst? Der Dichter weiß das nicht. Eher schon mag man sich durch die Methoden der vergleichenden Literaturforschung, insbesondere durch die Heranziehung von gattungsmäßig Verwandtem, Aufklärung versprechen aber man wird sie doch nur unter Bedingungen finden: nur dann, wenn kein sachfremdes Gattungsschema benutzt wird und wenn wirklich Vergleichbares verglichen wird. Um dessen sicher zu sein, bedarf es aber gewiß nicht nur der Beherrschung der Methoden der Literaturforschung. Das gegebene Gebilde muß in der Polyvalenz seiner Struktur darüber entscheiden, welche von den Subsumtionsmöglichkeiten, die sich im Vergleichen bieten, angemessen ist und ob sie eine - in sich begrenzte - Aufschlußkraft gewährt. So erwarte ich für die Gedichte Paul Celans im Grunde nicht viel von einer gattungstheoretischen Zurüstung fiir die hier gestellte Frage, wer hier Ich ist und wer Du. Alles Verstehen setzt die Antwort auf diese Frage - oder besser: eine dieser Fragestellung überlegene vorgängige Einsicht - schon voraus. Wer ein lyrisches Gedicht liest, versteht in gewissem Sinne schon immer, wer hier Ich ist. Nicht in dem tri,vialen Sinne allein, daß er weiß, daß immer nur der Dichter spricht und keine von ihm eingeführte sprechende Person, Er weiß vielmehr darüber hinaus, was das Dichter-Ich eigentlich ist. Denn das »ich«, das in einem lyrischen Gedicht gesagt wird, läßt sich nicht mit Ausschließlichkeit auf das Ich des Dichters beziehen, das ein anderes wäre als das des ichs agenden Lesers. Selbst wenn der Dichter sich »in Gestalten wiegt« und sich ausdrücklich von der Menge scheidet, die »gleich verhöhnet«, ist es, als ob er gar nicht mehr sich selbst meinte, sondern den Leser in seine Ich-Gestalt selbst hineinzöge und von der Menge ebenso schiede, wie er sich selbst geschieden weiß. Und gar hier bei Celan, wo ganz unvermittelt, schattenhaft-unbestimmt und in beständig wechselnder Weise »ich«,
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"du«, "wir<e gesagt wird. Dies Ich ist nicht nur der Dichter, sondern viel eher "jener Einzelne«, wie ihn Kierkegaard genannt hat, der ein jeder von uns ist. Enthält diese überlegung nun eine Antwort auf die Frage, wer hier Du ist, der in fast allen Gedichten dieses Zyklus ebenso unvermittelt und unbestimmt angeredet wird, wie der Redende Ich ist? Du ist der Angeredete schlechthin. Das ist die allgemeine semantische Funktion von "ichee und "du«, und man wird sich fragen müssen, wie die Sinnbewegung der dichterischen Rede diese Funktion ausfüllt. Ist die Frage sinnvoll, wer dieses Du ist? Etwa in dem Sinne: Ist es ein mir naher Mensch? Mein Nächster? Oder gar der Allernächste und AUerfernste: Gott? Das ist nicht auszumachen. Es ist deshalb nicht auszumachen, wer jenes Du ist, weil es nicht ausgemacht ist. Die Anrede zielt, aber sie hat keinen Gegenstand - es sei denn den, der sich der Anrede stellt, indem er antwortet. Auch bei dem christlichen Liebesgebot ist es ja nicht ausgemacht, wieweit der Nächste Gott ist oder Gott der Nächste. Das Du ist so sehr und so wenig ein bestimmtes anderes Ich, wie das Ich ein bestimmtes Ich ist. Damit ist nicht etwa gemeint, daß in der Gedichtfolge, die hier »ich" und »du« sagt, der Unterschied zwischen dem Ich, das spricht, und dem Du, das angeredet wird, sich verwischte, und auch nicht, daß das Ich nicht eine gewisse Bestimmtheit im Fortgang der Gedichtfolge erhielte. So ist zum Beispiel von vierzig Lebensbäumen die Rede und damit auf das Alter des Ich angespielt. Aber entscheidend bleibt, daß auch dann noch in die Stelle des Dichter-Ichs jedes Leser-Ich willig eintritt und sich mitgemeint weiß und daß sich von da ausjeweils das Du mit Bestimmtheit ausfüllt. In der ganzen Folge scheint nur eine Ausnahme zu bestehen, und das ist in jenen vier Versen, die der Dichter in Klammern gesetzt hat und die auch metrisch durch ihre fast epische Diktion herausfallen. Sie scheinen deswegen wie beiläufig gegeben, weil sie sich nicht, wie die anderen alle. allbereit verallgemeinern. - So bleibt alles offen, wenn wir jetzt erprobend an die Gedichte der Celanschen Folge herantreten. Wir wissen nicht vorher und nicht aus einem distanzierten überblick oder Vorausblick, was "ich« oder "du« hier meint und ob es das Ich des Dichters ist, der sich selbst meint, oder das eines jeden von uns. Wir haben es zu lernen.
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Du darfst mich getrost mit Schnee bewirten: sooft ich Schulter an Schulter mit dem Maulbeerbaum schritt durch den Sommet, schrie sein jüngstes Blatt.
Das ist wie ein Proömium der ganzen Folge. Es ist ein schwieriger Text, der seltsam unvermittelt beginnt. Das Gedicht ist von einem scharfen Kontrast beherrscht. Schnee, das Gleichmachende, Kältende, aber auch Stillende, wird hier nicht nur hingenommen, sondern begrüßt. Denn der Sommer, der hinter dem Sprechenden liegt, war offenbar in der überfUUe seines Treibens, Knospens und Sich-Entfaltens kaum zu ertragen. Gewiß ist es kein wirklicher Sommer, der hinter dem Sprechenden liegt, so wenig das angeredete Du etwa den Winter meint oder wirklichen Schnee anbietet. Offenbar war es eine Zeit der überfülle, der gegenüber die karge Armut des Winters wie eine Wohltat wirkt. Der Sprechende schritt Schulter an Schulter mit dem unermüdlich treibenden Maulbeerbaum durch den Sommer. Der Maulbeerbaum ist ohne Zweifel hier der Inbegriff treibender Energie und immer neuen üppigen Herausbildens neuer Triebe, ein Symbol unstillbaren Lebensdurstes. Denn anders als anderes Gesträuch treibt er nicht nur im Frühjahr frische Blätter, sondern den ganzen Sommer hindurch. Es scheint mir nicht richtig, an die ältere metaphorische Tradition der Barockpoesie zu denken. Zugegeben, daß Paul Celan auch ein Poeta doctus war - noch mehr war er ein Mann von ganz erstaunlicher Naturkenntnis. Heidegger hat mir erzählt, daß Celan im Schwarzwald hoch oben über Pflanzen und Tiere besser Bescheid wußte als er selber. Auch hier muß man in erster Näherung so konkret wie möglich verstehen. Dabei gilt es freilich, die Sprach bewußtheit des Dichters richtig einzuschätzen, der Worte nicht nur in ihrem klaren Gegenstandsbezug nimmt, sondern beständig mit dem spielt, was in den Worten an Bedeutungen und Nebenbedeutungen anklingt. So fragt es sich hier, ob der Dichter etwa mit dem Wortbestandteil »Maul« auf die Maulhelden des Wortes anspielt, deren Geschrei er nicht mehr erträgt. Selbst wenn das so ist, bleibt aber die Forderung präziser Kohärenz als erste bestehen und muß zunächst erfüllt werden. Der Pflanzenname »Maulbeerbaum« ist ganz geläufig, und wenn man dem dichterischen Zusammenhang folgt, in dem der Name auftritt, so ist es dort ganz eindeutig, daß das Gedicht nicht auf die Maulbeere oder das Maul verweist, sondern auf das frischgelbe Grün, das an Maulbeerbäumen unermüdlich den ganzen Sommer über sprießt. Von da muß auch jede weitere Transposition ihre Sinnrichtung empfangen. Und wir werden sehen, daß diese weitere Transposition des Gesagten am Ende in die Sphäre des
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Schweigens oder des sparsamsten Redens weist. Aber offenkundig wird hier durch die Parallele mit dem Maulbeerbaum überhaupt nicht auf die Maulbeere. sondern auf die sprießende Oppigkeit des Laubwerks gewiesen. So wird der Doppelsinn von »Maul« nicht durch den Kontext getragen. sondern es ist der Schrei des Blattes. auf den sich die Sinnbewegung grundet. Das steht scharf akzentuiert als das letzte Wort des Gedichtes im Text. Es ist also das Blatt und nicht die Beere, was die Transposition in das eigentlich Gesagte trägt. In einer Ebene der Obertöne mag man dann von dem Schrei auf den Wortbestandteil »Maul« zurückgewiesen werden und diesen mit Rede zusammenbringen. Es gibt ja den Maulhelden. Und das könnte in unserem Zusammenhang alles eitle und leere Reden und Dichten anklingen lassen. Das ändert aber nichts daran, daß das Wort »Maulee als selbständige Sinneinheit überhaupt nicht auftritt, sondern nur als einleitende Bedeutung von »Maulbeerbaume!. Die Beere des Maules statt der Blume des Mundes, das scheint mir nicht der Weg, von der ersten Ebene des Sagens in die Transpositionsbewegung des Besagens überzuleiten, in die ein solches vielschichtiges Gedicht versetzt. Um so mehr ist nun zu fragen, was das ist, was das Gedicht )besagte, das heißt, worauf der Sinnvollzug des Wortlauts hinauswill. Achten wir auf einzelnes. »Schulter an Schultere!: Mit dem Maulbeerbaum Schulter an Schulter schreiten heißt offenbar, nicht hinter ihm zurückbleiben und so wenig, wie er es mit seinem Wachsen tut, je einhalten - und das wäre hier: einkehren bei sich selbst. Ferner muß manjedenfalls beachten, daß es »sooft" heißt. In dieser Betonung wiederholten Weges liegt, daß sich die Hoffnung des immer aufs neue aufbrechenden Wanderers nie erfüllt, ~uch nur ein einziges Mal still und stumm vom Maulbeerbaum des Lebens begleitet zu werden. Immer war neues Treiben, das wie der durstige Schrei des Säuglings fordert und nicht zur Ruhe kommen läßt. Fragen wir weiter, wer mit dem ersten »Du« angeredet ist. Wohl nichts Bestimmteres als das andere oder der andere, das nach diesem Sommer des ruhelosen Schreitens einen empfangen soll. Da immer wieder ein neuer Schrei des Lebensdurstes das Ich begleitete, ist ihm im Kontrast der Schnee willkommen, dies Einförmige, in dem keinerlei Verlockung und Reiz mehr ist. Gerade das aber ,soll eine Bewirtung sein, das heißt das WiIlkommengeheißene. Wer will das festlegen, was da zwischen Verlangen und Verzicht, zwischen Sommer und Winter, Leben und Tod, Schrei und Stille, Wort und Schweigen spielt? Was in diesen Versen steht, ist Bereitschaft, dies andere anzunehmen, was immer es sei. So scheint es mir durchaus möglich, solche Bereitschaft am Ende geradezu als Todesbereitschaft zu lesen. das heißt als die Annahme des letzten, äußersten Gegensatzes zu allzu viel Leben. Es ist ja unzweifelhaft, daß das Todesthema bei Celan stets. auch in diesem Zyklus, gegenwärtig ist. Gleichwohl gilt es, sich der besonderen Kontextbestimmt-
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heit zu erinnern, die diesem Gedicht als Proömium eines Zyklus zukommt, der >Atemkristall< heißt. Das weist einen auf die Sphäre des Atems und damit auf das von ihm geformte Sprachgeschehen. So fragen wir erneut: Was heißt hier »Schnee«? Ist es die Erfahrung des Dichtens, auf die hier angespielt wird? Ist es vielleicht gar das Wort des Gedichtes selbst, das sich hier aussagt, sofern es in seiner Diskretion.die winterliche Stille gewährt, die wie eine Gabe dargeboten wird? Oder meint es uns alle und ist dann jenes Stummsein nach zu vielen Worten. das wir alle kennen und das uns allen als eine wahre Wohltat erscheinen kann? Die Frage ist nicht zu beantworten. Das Unterscheiden hier zwischen Ich und Du. zwischen dem Ich des Dichters und uns allen, die sein Gedicht erreicht. mißlingt. Das Gedicht sagt es dem Dichter so gut wie uns allen. daß die Stille willkommen ist. Es ist dieselbe Stille. die bei der Wende des Atems, diesem leisesten Wiederbeginn des Atemschöpfens, zu hören ist. Denn dies vor allem ist >Atemwende<, die sinnliche Erfahnmg des lautlosen, reglosen Augenblicks zwischen Ein- und Ausatmen. Ich will nicht leugnen, daß Celan diesen Moment des wendenden Atems, den Augenblick, da der Atem umkehrt, nicht nur mit dem reglosen Ansichhalten verknüpft, sondern die leise Hoffnung mitklingen läßt, die mit aller Umkehr verbunden ist. So sagt er in der Meridian-Rede: »Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten.« Aber schwerlich wird man deshalb die diese Folge beherrschende Bedeutung des >leisen< Atems abschwächen dürfen. Dies Gedicht ist ein wahres Proömium, das wie in einer musikalischen Komposition mit dem ersten Ton die Tonlage rur das Ganze angibt. Die Gedichte dieser Folge sind in der Tat so leise und fast unmerklich wie die Atemwende. Sie geben von einer letzten Lebensbeklemmung Zeugnis und stellen zugleich auch immer aufs neue ihre Lösung dar - oder besser: nicht ihre Lösung, aber ihr Aufsteigen zur festen Sprachgestalt. Man hört sie so, wie man die tiefe Winterstille hört, die alles einhüllt. Ein Leisestes fällt in Kristall aus, ein Kleinstes, Leichtestes und zugleich Genauestes: das wahre Wort.
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Von Ungetcäumtem geätzt, wirft das schlaflos durchwanderte Brotland den Lebensberg auf. Aus seiner Krume knetest du neu unsre Namen, die ich, ein deinem gleichendes Aug anjedem der Finger, abtaste nach einer Stelle, durch die ich mich zu dir heran wachen kann, die helle Hungerkerze im Mund. Ein Maulwurf ist tätig. Man sollte dies als durch primäre semantische Gegebenheit Evozierte nicht abstreiten. »Aufwerfen« ist eindeutig. Daß das Subjekt dieses »Aufwerfens« das »Brodand« ist, kann nicht beirren, sondern nur die erste Transposition einleiten - von dem Maulwurf auf die blinde Lebensbewegung hin, die wie eine schlaflose Wanderung erscheint, die durch das »Brocland« geht. Das evoziert Brotarbeit und Broterwerb und alles, was mit dieser Lebenshypothek impliziert ist. Nun sagt das Gedicht: Was das rastlos wühlende Wesen treibt, das wir Leben nennen, ist ungeträumter Traum. Es ist also ein Versäumtes oder ein Verwehrtes, das durch seine beständige Schärfe immer weitertreibt: es »ätzt«. Atzende Säure, die von dem ausgeht, das durch seine Verweigerung versehrt, ist eine der Leitmetaphern des Zyklus, den wir betrachten, und wohl des Menschenschicksals, wie es der Dichter sieht. Was durchwandert Wird, ist das Brotland, das einen zwar satt zu machen verspricht, aber das Wandern führt nirgends hin. Dies Wandern und Wühlen geschieht »schlaflos«, d. h., es gibt keine Einkehr in Schlaf und Traum, und so wird der Hügel mehr und mehr aufgeworfen. Er wird ein ganzer Lebensberg. Aber hier klingt das so, als ob das Leben unter seinem immer lastenderen Gewicht begraben wird. Es zieht seine Spur. so wie der Maulwurf seine Gänge durch sein Aufwerfen der Hügel erkennen läßt. In der Tat, der IILebensberg« sind wir, mit dem Ganzen unserer sich auftürmenden Erfahrung. Das zeigt die Fortsetzung: »Aus seiner Krume knetest du neu unsre Namen«. Möglich, daß hier bestimmte biblische oder jüdisch-mystische Anspielungen darinstecken. Aber auch wenn man sie nicht kennt, sondern nur die Verse der Genesis im Ohr hat und sie zugleich hinter sich läßt, gewinnt der Celansche Vers einen Sinn. Wenn es die schwere Fracht des Lebens ist, woraus unsre Namen neu geknetet werden, so muß es doch wohl das Ganze unserer Welterfahrung sein, was sich aus diesem Erfahrungsstoffaufbaut. Das heißt hier »unsre Namen ... Der Name ist ja das, was uns
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anfänglich gegeben wird und das wir noch gar nicht sind. Niemand kann in der Namensgebung wissen, was der sein wird, den er so tauft. So ist es mit allen Namen. Sie alle werden erst im Laufe des Lebens das, was sie sind: So wie wir werden, was wir sind, wird auch erst, was die Welt fUruns ist. Das besagt, daß die »Namen« beständig neu geknetet werden, oder sie sind mindestens in einer fortdauernden Formung begriffen. Von wem, wird nicht gesagt. Aber es ist ein Du. Die Alliteration von »neu« und »Namen« schließt die zweite Vershälfte so zusammen, daß auf die Mitte der Akzent eines leichten Hiats fällt, der in der nächsten Zeile nachwirkt. Da vereinzelt sich das allen Gemeinsame - unsere »Namen« - plötzlich zu einem Ich: »die ich ... ce Mit dem Ich plötzlich erst gewinnt die Bewegung des Lebens ihre eigentliche heimliche Richtung, sofern das Ich gegen die beständig wachsende Verdekkung anstrebt und DurchIaß ins Freie sucht. Nicht erstickt unter dem wachsenden Lebenshügel oder Lebensberg, der hier aufgeworfen wird, ist das Ich immernoch tätig und aufder Suche-nach Sehen und Helle, wenn auch blind wie der Maulwurf. Nur das Nächste kann »ich« wahrnehmen mit tastender Hand. Aber immerhin ist es Wahrnehmen: Unser blindes Auge ist »deinem« gleichend. Vielleicht spielt der Dichter hier auf die Maulwurfshand an, diese eigentümlich geformten hellen Flächen der Grabehand des Maulwurfs, mit der er seine Gänge gräbt, die ihn im Dunkeln weiterführen bis hin zu dem Hellen des Ausgangs. In jedem Falle besteht die Spannung zwischen dem Graben im Dunkeln und dem Streben nach dem Licht. Der Weg im Dunkeln ist aber nicht nur der Weg, der ins Helle fUhrt, sondern ist selbst ein Weg der Helle, selbst ein Hellsein. Man beachte, wie sich in der vorletzten Zeile »die helle« durch das Fürsichstehen dieses Attributs förmlich ausbreitet. Es ist eine besondere Helle. Denn es ist die Tätigkeit des Ich, das hier am Werke ist, und sie ist nichts als Wachen (»heranwachencc). Wachen aber nimmt den Verzicht aufSchlafund Traum auf, von dem eingangs die Rede war, und ebenso ist in »Hungerkerzecc Hungern gemeint, d. h. das Verschmähen des sättigenden Brotes, das den Lebensberg beschwert. So ist dies Beharren auf der Helle und dem Drang nach Helle wie eine Leistung des Fastens. Das Schlußbild von der ,>Hungerkerze im Mund« legt das durch ein bestimmtes religiöses Ritual aus, und damit wird das Du, das Gesuchte, als kul tisch Verehrtes gekennzeichnet. Wie mir Tschizewskij erzählt hat, gibt es auf dem Balkan einen Brauch der Hungerkerze, der das fromme Fasten vor allen sichtbar macht (an der Kirchentür) - eine Art Gebets- und Bittfasten, das die Eltern, die auf die Rückkehr des Sohnes hoffen, auf sich nehmen. Analog ist es ein >Fasten<, das hier das Streben nach der Helle begleitet. Aber das Besondere dieses Fastens ist offenbar, daß das ins Helle Strebende die Hungerkerze im Munde hält. Das soll doch wohl heißen, daß es sich nicht um Fasten handelt, sondern daß das Ich sich all die reichlich sä ttigenden Worte verbietet, mit denen man sich im Leben
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abfindet-um selber rur das wahre, erleuchtete Wort fähig zu werden. So wird das Ritual sprechend fur eine Glaubensleistung ganz anderer Art. Es gibt offenbar kein Ritual der Hungerkerze im Mund! Mit dieser paradoxen Verbindung bricht das Gedicht vielmehr den evozierten Fastenbrauch um. Es ist ein anderes Fasten, und das, wofür es geschieht, ist auch ein anderes. Wie mir Milojcic erzählt, kennt er den Brauch der Hungerkerze anders: Wennjemand verarmt war und ihm seine frühere gesellschaftliche Stellung verbot, betteln zu gehen, legte er sich verhüllt mit der Hungerkerze an die Kirchentür, um ungesehen und ohne zu sehen Gaben zu empfangen. Danach wäre es nicht freiwilliges Fasten. sondern die Not des Hungems selber, was durch die Kerze angezeigt wird. In jedem Fall heißt es »im Mund« - es geht um das wahre Wort, nach dem ich hungere oder das ich herbeihungere. Das kann man, meine ich, auch ohne folkloristische Information erraten, wenn man nur über die Spannung zwischen ritueller Hungerkerze und dem »im Mund« nachdenkt. Spielt die Hungerkerze wie alle Kerzen obendrein darauf an, daß unserem hungernden Streben in die Helle eine Frist gesetzt ist? Vielleicht. Jedenfalls aber: man läßt nicht ab, nach der Helle zu streben, indem man die »Namen« abtastet. Die Bewegung des Gedichts ist deutlich eine zweigeteilte: Die eine Bewegung vollfUhren alle. indem ungeträumte Träume sie treiben und eine immer längere Lebensspur zeichnen und einen immer schwerer lastenden Berg aufwerfen. Die andere Bewegung ist die unterirdische des Ich, das wie ein blinder Maulwurfins Helle drängt. Man denkt anJacob Burckhardt: »Der Geist ist ein Wühler.« Folgen wir der Transpositionsbewegung, in die wir gerieten, noch einmal: Wer ist hier das Du, das die Namen neu knetet, das ein wahrhaft sehendes Auge besitzt. das wahrhafte Sättigung und Erhellung verspricht? Wen meint "ich« und wen »du«? Der übergang zum Ich ist plötzlich und stark akzentuiert. Es hebt sich aus dem allen gemeinsamen Geschick heraus. Der Lebensberg aller wird beständig aufgeworfen, und aus ihm bildet sich Sinn und Sinnlosigkeit eines jeden Lebens. So werden unser aller »Namen« geknetet. A ber es sind nicht alle, es ist das eine Ich, das hier »ich« meint, das diese Namen abtastet. Das Tun des Dichters klingt an, der es mit den Namen. mit allen Namen, versuch t. Es bestätigt sich also: »Name« meint nicht nur die Namen der Menschen. Es meint sicherlich deI) ganzen Berg der Worte, es meint die Sprache, die über alle Erfahrung des Lebens gelagert ist wie eine deckende Last. Sie ist es, die »abgetastet«, d. h. auf ihre Durchlässigkeit geprüft wird, ob sie nicht doch irgendwo den Durchbruch ins Helle gewährt. Mir scheint, es ist die Entbehrung und die Auszeichnung des Dichters, was hier beschrieben wird.' Aber ist es nur die des Dichters?
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In die Rillen der Himmelsmünze im Türspalt preßt du das Wort, dem ich entrollte, als ich mit bebenden Fäusten das Dach über uns abtrug, Schiefer um Schiefer, Silbe um Silbe, dem Kupferschimmer der Bettelschale dort oben zulieb.
Das sind bittere Zeilen. In den Ausgaben liest man statt »Himmelsmünze« 11 Himmelssäure« . Dies wird zu berichtigen sein. Aber die Frage bleibt, wie die Lesart der Ausgaben zu verstehen war. Denn ohne Zweifel hat man es in gewissem Umfang verstehen können. Dafür spricht nicht nur das Verhalten des Dichters als solches, der-nach Berichten- beim Bemerken des Druckfehlers höchst gleichmütig blieb. Die Sinnkohllrenz des Ganzen ist im ganzen stark genug, damit Einzelteile austauschbar sein könneni. Das hat seinerzeit schon Walter Benjamin unter dem Begriffldas Gedichtete< beschrieben. Wäre es nicht so, dann wäre alle Auslegung, die mit unsicheren Vermutungen arbeiten muß, ohne Wert. Wir erörtern die beiden Lesarten nebeneinander, um eine jede von beiden im Ganzen des Gedichtes zu orten. Zwischen der ätzenden Schärfe der Himmelssäure, von der wir offenbar durch eine niemals sich öffnende Tür geschieden sind und die rur uns gewiß auch unerträglich wäre, und der kupfernen Bettelschale »dort oben« spannt sich der Bogen eines einzigen Satzes. Eine Theologie des sich verweigernden Himmels liegt zugrunde. Doch die Tür ist undicht. Die Himmelssäure. gegen die wir durch die Tür abgedichtet sind. hat Rillen in den Türspalt geätzt, und so kommt etwas hindurch. Was hindurchkommt, ist das Wort. Offenbar wird die Metapher der ätzenden Säure deshalb vom Himmel gesagt, weil er sich verweigert. Als der sich verweigernde hat er seine verzehrende Schärfeund doch sucht man jeden Tropfen dessen. was da zu uns gelangt - eben» das Wort~.
Doch nun hat man zur Kenntnis zu nehmen. daß es im Text nicht »Himmelssäure«. sondern »Himmelsmünze« heißt. Damit ist die Bildvorstellung eine gänzlich andere. Der Genitiv lIder Himmelsmünze« ist" auf »Rillen« natürlich nicht mehr kausativ bezogen, sondern als ein subjektiver Genitiv zu verstehen: die Münze hat Rillen. Wenn man fragt. wie kommt die Münze in den Türspalt? - so hat man keine Antwort. Genug, daß sie darinsteckt. Man stellt sich vor, daß sie dazu dienen sollte, die Tür zu öffnen, aber diese öffuetsichnicht, gibt keinen wirklichen Eintritt. Statt dessen dringt 1
Vgl. dazu unten, S. 435.
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durch die Tür etwas heraus. Nun ist es offenbar so, daß die Rillen der Münze die Tür undicht machen. Worauf es anzukommen scheint, das ist, daß nicht die Münze selbst als legitime Einlaßgebühr für den Himmel (oder als Ausgangs- und Durchlaßgebühr aus dem Himmel?) die kleine Durchlässigkeit schafft, sondern etwas, das an ihr ist und das zwar auf ein blankes, neugeprägtes Geldstück weist, aber nichts mit seinem Münzwert zu tun hat. Das ist recht dunkel. Handelt es sich um ein raffiniertes Symbol für Gnade? Jedenfalls hatte der Versuch, die Einlaßgebühr zu entrichten, keinen Erfolg. Was aus diesem sich verweigernden Himmel allein bei uns ist, ist »das Wort«. Ist das so gemeint? So lutherisch? Gewiß ist freilich, daß die Himmelsmünze der Bettelschale .. dort oben!f entspricht. Beides hat auf ein unerreichbar Jenseitiges Bezug. In der Bettelschale werden Münzen gesammelt (Himmelsmünzen ? Münzen für den Himmel?) - und zu diesem ärmlichen Schatz scheint der hinzustreben, der seine Bestimmung aus dem •• Wortn herleitet, dem einzigen, das aus dem ganzen Reichtum des Himmels bei uns ist. In der Tat, es sind bittere Zeilen, welche der beiden Lesarten man auch zugrunde legt. Das jedenfalls steht fest, daß nichts aus jenem Himmel verlautet als das, was »du« - wieder dieses unbekannte Du - durch die Undichte der versperrenden Tür preßt. Es ist keine strömende Heilsbotschaft, sondern ein mühsam erpreßtes Wort, und obendrein scheint es wie eine seltsam verkehrte Mühe. Denn offenbar sind nicht wir es, die sich mühen, da hineinzukommen oder da herauszukommen, sondern »das Wort« soll offenbar heraus. So will es das Du. Meint das, daß wir gegen die Wahrheit versperrt sind und die Wahrheit uns gar nicht verweigert wird? Halten wir sozusagen die Tür zu oder finden den Schlüssel nicht, weil wir an die Gültigkeit unserer Münze glauben? Ich stelle alle diese Fragen in dem Bewußtsein, daß jedenfalls die Theologie des Deus absconditus anklingt. Eine weitere Schwierigkeit: Wenn das Wort heraus und da ist, bin »ich« es, der ihm »entrollte«. Wer- ich? Bin ich aus dem Wort? Bin ich das Wort, wie alle Kreatur ein Schöpferwort ist? Ist es das Wort, aus dem ich komme, zu dem ich nun und immerzu zurückstrebe? Das gäbe auch bei der äußersten Gottesferne Sinn. Denn unter dem Dach der Sprache leben wir alle. Vielleicht gilt auch von uns allen, daß einjeder von uns das Dach, das uns allen gemeinsamen Schutz gewährt, weil es den Durchlaß und Ausblick nimmt, gleichwohl abtragen möchte, um nach oben, ins Freie zu blicken. Vor allen anderen ist es gewiß der Dichter, der hier von sich sagt, was vielleicht für uns alle gilt. Die Decke der Worte ist wie ein Dach über uns. Sie sichern das Vertraute. Indem sie aber uns ganz mit Vertrautheit umschließen, verhindern sie jeden Ausblick in das Unvertraute. Der Dichter - oder wir alle? - sucht Silbe um Silbe, das heißt mühsam und unermüdlich, abzutragen, was verdeckt. Offenbar entspricht dieses Abtragen •• Silbe um Silben dem, was im vorigen Gedicht als das
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Abtasten der Namen und das Heranwachen begegnete. Hier wie dort scheint eine verzweifelte Anstrengung dessen. der ins Helle, nach oben strebt. beschrieben. Aber gelangt man je zum Ziele? Die Antwort des Gedichtes ist niederschmetternd. Was hier durch die Arbeit der bebenden Fäuste allenfalls erreicht wurde. wäre in Wahrheit nichts als die kupferne Bettelschale mit ihrem jenseitigen Schimmer. Daß eine ganz gewöhnliche Bettelschale auf einer Pariser Straße den Dichter inspiriert hat. wie mir BoHack erzählt hat. ändert nichts daran. daß hier von einer ))Bettelschale dort oben« die Rede ist und damit eine bestimmte Transposition von uns verlangt wird. Das Gedicht versetzt die Bettelschale in den Zusammenhang von Heiligkeit und Heilsverlangen. Freilich. mit welcher Tönung? Der Erwartung? Kaum. Eher so: wir reichen nicht weiter mit unserer Vorstellung von Heil als noch gerade an die Bettelschale. in der die Opfergaben gesammelt werden -im Kirchenraum das profanste aller Geräte. Oder auch: wir reichen nur bis an die dürftige Mildtätigkeit einer )Sammlung<. in der weder Wärme noch Liebe ist. JedenfaUs ist es nicht einmal etwas von wahrhaft Heiligem. das auf mich wartet, wenn ich das schützende Dach abzutragen suche. Es ist kaum der Abglanz des Heiligen. Oder ist es überhaupt nichts Heiliges, sondern etwas. das vielleicht wie Heiliges, aber in falschem Schimmer glänzt?Jedenfalls ist der verzweifelt sich Anstrengende voll von Bitterkeit und sich der Enttäuschung bewußt. die auf ihn wartet. Doch lassen wir einmal alle Theologie beiseite und prüfen die einzelnen Wendungen. Was heißt es, daß ich dem Wort entrollte? Bei der Wendung lIentrollte« und im Abtragen IISilbe um Silbe« denkt man zunächst an die Tätigkeit des Entrollens einer Schriftrolle und des Entziffems eines Urtextes, wie er etwa das dichterische Wort sein könnte. Hier ist aber das Wort ))entrollte« intransitiv gebraucht. 11 Ich entrollte« dem von oben durchsickernden Wort. diesem geringsten Tropfen einer jenseitigen himmlischen Substanz. Das klingt paradox. Nicht ))ich« bin es. der Silbe um Silbe das Wortwie eine Schriftrolle - entrollte, sondern ))das Wort« ist es, dem ich selber entrollte. Es ist offenbar so, daß der Dichter selber aus dem Worte kommt und daß seine ganze Anstrengung darauf geht. dies Wort wieder zu erreichen, aus dem er kommt und das er als das Seine weiß. Kein Zweifel, daß dies atemlos verzweifelte Suchen nach dem Wort über all den Silben und Wörtern dem gilt, was »das Wort« - das wahre Wort - ist: das Wort, in dem der, der das Wort sucht, selber darin ist. Das scheißt in der Tat so, daß es der Dichter ist, der hier von sich "ich« sagt und der ganz im WOrt lebt. Die Aufgabe des Dichters besteht eben darin, daß er nach dem wahren Wort, das nicht das übliche schützende Dach aller Tage ist, sondern das von jenseits her ist, wie nach seiner wahren Heimat strebt und deshalb Silbe um Silbe das Gefüge der alltäglichen Worte abtragen muß. Er muß gegen die verbrauchte, gewöhnli-
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ehe, verdeckende und alles einebnende Funktion der Sprache ankäm pfen, um den Blick in den Schimmer dort oben freizulegen. Das ist Dichtung. Aber es ist noch etwas anderes darin. Es heißtja, der Dichter entrollte dem Wort, als er in seinem Dichten, Wort um Wort, nach seiner Herkunft aus dem wahren Wort aufschaut, und kann doch von dem Heiligen nie mehr gewahren als seinen profansten, ärmlichsten Schimmer - vielleicht sogar: seinen falschen, durch das Betteln entstellten Glanz. Damit gewinnt das Entrollen eine noch andere, negative Tönung. Mit dem Abtragen des Daches, dem Suchen der rechten Worte (11 als ich abtrug(!) kehrt er nicht heim, sondern verliert sich der Dichter gerade. Er »entrollte« dem Wort, das er eigentlich ist, wird hoffnungslos von ihm geschieden und ist vergeblich - limit bebenden Fäusten« - bemüht, zu ihm zurückzugelangen. »Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben« (G. Eich). Und wieder fragt man sich: Ist es wirklich nur der Dichter, d.::m dies widerfährt, daß das eigentliche Wort unerreichbar bleibt, obwohl es sein eigenstes ist? Oder ist es vielmehr unser aller Erfahrung, von dem eigentlichen Wort und seiner Wahrheit geschieden zu sein, gerade dadurch, daß man Worte macht und daß man limit bebenden Fäusten« auf etwas hin tätig ist, das man haben möchte, das nicht erreichbar ist-und das am Ende gar nicht einmal so ist, daß es die Mühe lohnt?
In den Flüssen nördlich der Zukunft werfich das Netz aus, das du zögernd beschwerst mit von Steinen geschriebenen Schatten.
Man muß das Gedicht in seinem Zeilenbruch nicht nur genau lesen, man muß es so auch hören. Celans meist sehr kurzzeilige Gedichte nehmen es damit sehr genau. Bei breiter strömenden Versen, wie etwa den Duineser Elegien, die ohnehin viel technischen Zeilenbruch, insbesondere in den der Erstauflage folgenden Drucken, nicht vermeiden konnten, sind nur sehr ddJtliche Verszäsuren von so siegelhafter Prägnanz wie die Schluß zeilen dieser Gedichte Celans. In unserem Falle ist der Schlußvers ein einziges Wort: »Schatten« -ein WOrt, das sO schwer sich senkt wie das, was es bedeutet. Indessen, es ist ein Schluß, und wie jeder Schluß rückt er die Maße des Ganzen fest. Auch der evozierten Bedeutung nach: >Schatten fallen( heißt immer auch: sie werden geworfen. Wo Schatten fallen und verdunkeln, ist immer auch Licht mit da und das Lichte, und wirklich, es wird hell in diesem Gedicht. Was es evoziert, ist Klarheit und Kälte eisnahen Gewässers. Die Sonne durchscheint das Wasser bis aufden Grund. Die Steine, die das Netz beschweren, sind es, die die Schatten werfen. Das ist alles höchst sin~ich und konkret: Ein Fischer wirft
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das Netz aus, und ein anderer hilft ihm dabei, indem er das Netz beschwert. Wer ist Ich? Und wer ist Du? Das Ich ist ein Fischer, der das Netz auswirft. Auswerfen des Netzes ist eine Handlung reiner Erwartung. Wer das Netz ausgeworfen hat, hat alles getan, was er tun konnte, und muß warten, ob etwas sich fängt. Es wirdnicht gesagt, wann diese Handlung vollzogen wird. Es ist eine Art gnomischer Gegen wart, d. h., es geschieht immer wieder. Das wird durch das pluralische »in den Flüssen« unterstrichen, das nicht wie das naheliegende IGewässern< eine unbestimmte Orts angabe bedeutet, sondern sehr bestimmte Plätze, die man aufsucht, weil sie Fang verheißen. Diese Plätze liegen alle »nördlich der Zukunft«, d. h. noch weiter draußen, außerhalb der gewohnten Wege und Fahrten, dort, wo keiner sonst fischt. Es ist offenbar eine Aussage über das Ich, nämlich daß es ein Ich solcher besonderer Erwartung ist. Es erwartet das Zukünftige dort, wo keine Erwartung der Erfahrung hinreicht. Aber ist nicht jedes Ich ein Ich solcher Erwartung? Ist nicht injedem Ich etwas, das in eine Zukunft ausgreift, die hinaus liegt über das, womit man zukünftig rechnen kann? Das Ich, das so anders ist als die anderen, ist gerade das Ich eines jeden. Nun beruht der kunstvoll gespannte Bogen dieses Gedichtes, das ein einziger schlichter Satz ist, darauf, daß das Ich nicht alleine ist und nicht allein den Fischfang durchführen kann. Es bedarf des Du. Betont steht das »du« am Ende der zweiten Zeile, wie angehalten, wie eine unbestimmte Frage, die sich erst durch den Fortgang des dritten Verses - oder besser: der zweiten Hälfte des Gedichts - mit ihrem Sinn erfüllt. Hier wird ein Tun sehr genau beschrieben. »Zögernd beschwerst« meint nicht ein inneres Zögern der Unentschiedenheit oder des Zweifels, das das Du, wer es auch sei, die Zuversicht des fischenden Ich nicht ganz teilen läßt. Es wäre völlig mißverstanden, wenn man in das »zögernd« diesen Sinn legen würde. Was beschrieben wird, ist vielmehr das Beschweren des Netzes. Wer das Netz beschwert, darf nicht zuviel tun und nicht zuwenig; nicht zuviel, damit das Netz nicht absinkt, und nicht zuwenig. damit es nicht obenhin treibt. Das Netz muß, wie der Fischer sagt, Istehen<. Von hier bestimmt sich das Zögernde des Beschwerens. Wer das Netz beschwert, der muß vorsichtig Stein auf Stein hinzutun wie auf eine Waagschale, in der man das Gewicht von etwas wägt. Denn es kommt darauf an, den richtigen Augen blick des Gleichgewichts zu treffen. Wer das beim Beschweren des Netzes tut, hilft, daß der Fang überhaupt möglich wird. Die sinnliche Konkretion des Vorgangs ist aber kunstvoll ins Imaginäre und Spint\.lelle gehoben. Schon die erste Zeile nötigte durch die sinnlich uneinlösbare Fügung »nördlich der Zukunft«, die Aussage in ihrer Allgemeinheit zu verstehen. Die gleiche Funktion übt in der zweiten Hälfte die nicht minder uneinlösbare Fügung einer Beschwerung mit Schatten aus, und gar »mit von Steinen geschriebenen Schatten«, Wie dort der Mensch als das Wesen der Erwartung in der sinnlichen Gebärde des Fischers sichtbar wurde,
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so bestimmt sich hier, was Erwartung ist und möglich macht, näher. Denn offenbar sind hier zwei Handlungen in ihrem Zusammenspiel gezeigt: das Auswerfen und das Beschweren des Netzes. Zwischen ihnen ist eine geheime Spannung, und doch sind sie das einheitliche Tun, das allein Fang verheißt. Gerade der geheime Gegensatz zwischen Werfen und Beschweren ist es, auf den es ankommt. Man würde mißverstehen, wenn man die Beschwerung als eine Hemmung des reinen Wurfs in die Zukunft verstünde, als eine Trübung der reinen Erwartung durch die besch werende Einsicht in das, was nach unten zieht. Der Sinn der Spannung ist vielmehr, daß nur durch sie die Leere des Erwartens und die Eitelkeit des Hoffens Bestimmtheit von Zukunft gewinnt. Die kühne Metapher der »geschriebenen Schatten« läßt nicht nur das Imaginäre und Spirituelle der ganzen Handlung hervortreten, sondern bezeugt so etwas wie Sinn. Was »geschriebenee ist, läßt sich entziffern. Es bedeutet etwas und ist nicht einfach der dumpfe Widerstand des Schweren. Soll man übertragen: Wie der Akt des Fischers nuraussichtsreich ist durch Zusammenspiel von Wurfund Beschwerung, so ist auch alle Zukünftigkeit, in die das menschliche Leben hineinlebt, keine bloße unbestimmte Offenheit fur das Kommende, sondern bestimmt sich durch das, Was war und wie es aufbewahrt ist wie in einem von Erfahrungen und Enttäuschungen geschriebenen Buch. Aber wer ist dieses Du? Es klingt fast, als wisse da einer, wieviel er dem Ich aufladen kann, wieviel das hoffende Herz des Menschen erträgt, ohne daß es die Hoffnung sinken läßt. Ein unbestimmtes Du, das vielleicht in dem Du des Nächsten, vielleicht in dem Du des Fernsten seine Konkretion findet, oder gar in dem Du, das ich mir selbst bin, wenn ich meiner eigenen Zuversichtlichkeit die Grenzen des Wirklichen fuhlbar mache - injedem Fall ist das Zusammenspiel von Ich und Du, das den Fang verheißt, das, was in diesen Versen eigentlich präsent ist und dem Ich seine Wirklichkeit verleiht. Was ist es aber nun, was da Fang heißen soll? Der flutende Austausch zwischen dem Dichter und Ich erlaubt, es in einem besonderen wie in einem allgemeineren Sinne zu verstehen - oder besser: im besonderen den aligemeinen Sinn zu erkennen. Der Fang, der glücken soll, mag das Gedicht selbst sein. Der Dichter mag sich selbst darin meinen, daß er das Netz dort auswirft, wo Klarheit und Unberührtheit die Gewässer der Sprache ungetrübt findet und ihn erwarten läßt, daß das über alles Herkömmliche Hinausgehende seiner Kühnheit ihm einen Fang gewährt. Daß der Dichter sich selbst meint, wenn er in dieser Weise sich als ein fischendes Ich darstellt, läßt sich auch durch den Zusammenhang stützen - nicht nur den großen weltliterarischen Zusammenhang, der den dichterischen Fund gern aus dunkler Tiefe- eines Brunnens oder eines Sees - hervorholen läßt. Man denke an die bekannten Gedichte Stefan Georges IDer Spiegele und .Das Worte. Auch der besondere Zusammenhang der vorliegenden Gedichtfolge läßt das wahre Gedicht, das kein 11Meingedicht«, kein täuschender Schwur der Angeblichkeit ist, gegenüber
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dem eitlen Wort treiben, in dem die Sprache hln- und hergezerrt wird, zur Abhebung kommen. So ist es durchaus berechtigt, auch in unserem Gedicht das ganze Geschehen vom Dichter und seiner Erwartung des Wortes, das ihm gelingt, her zu verstehen. Und doch ist das, was hier beschrieben wird, so, daß es weit über das Besondere des DichterS hinausgeht. Und das nicht nur hier. Es ist eine der großen Grundmetaphem der gesamten Neuzeit, daß das Tun des Dichters wie ein Exempel des Menschseins selber ist. Das Wort, das dem Dichter gelingt und dem er Bestand verleiht, ist nicht sein spezielles artistisches Gelingen, sondern ein Inbegriff menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten überhaupt, der dem Leser erlaubt, das Ich zu sein, das der Dichter ist. In unseren Versen sind Ich und Du in einer geheimen Solidarität des Gelingens beschrieben, die nicht nur die des Dichters und seines Genius oder Gottes ist. Da ist nicht ein beschwerendes Wesen, Mensch oder Gott, das da Wortschatten auflädt, die die Freiheit beengen. In diesem Gedicht, das ein eigenes Gelingen dichterischer Existenz meinen mag, kommt in Wahrheit zur Aussage, wer Ich ist, indem deutlich wird, wer Du ist. Wenn des Dichters Verse uns dieses Zueinander präsent machen, dann rückt ein jeder von uns in eben den Bezug ein, den der Dichter als den seinen aussagt. Wer bin ich und wer bist du? Das ist eine Frage, auf die das Gedicht seine eigene Antwort dadurch gibt, daß es die Frage offenhält. O. Pöggeler schlägt vor, das »nördlich der Zukunft« als eine Todeslandschaft zu verstehen, da von dem )ungreifbaren Abgrund( des Todes her jede auf uns zukommende Zukunft schon überholt sei - eine Radikalisierung der menschlichen Grunderfahrung, die es nötig machen würde, das Du als den Todesgedanken zu verstehen, der allem Dasein sein Gewicht gibt. Es ist wahr, daß so »nördlich der Zukunft« präziser verstanden würde: dort, wo keine Zukunft mehr ist - und das hieße: auch keine Erwartung. Und dennoch: Fischzug. Es lohnt, darüber nachzudenken. Ist es das Einverständnis mit dem Tode, das neuen Fang verheißt?
Vor dein spätes Gesicht, alleingängerisch zwischen auch mich verwandelnden Nächten, kam etwas zu stehn, das schon einmal bei uns war, unberührt von Gedanken.
Dies Gedicht erschien mir lange besonders schwierig. Denn bei aller Eindeutigkeit seiner Aussage läßt es einen besonders weiten Raum rur die
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Ausfüllung. Ist es ein Liebesgedicht? Oder spricht es von Mensch und Gott? Sind es Liebesnächte oder die Nächte des Einsamen, die IImich\( verwandelt haben? Es liegt, wie bei sehr kurzzeitigen Gedichten oft, gerade durch die Kürze und Knappheit seines Baues ein besonders starkes Gewicht auf der letzten Verszeile. "Berührt von Gedanken« - das ist fast wie ein epigrammatisches" Siegel. Von hier muß im Grunde das Ganze wie von seiner Verdichtung her begriffen werden. Die spannungsvolle Trennung lIun-berührt von Gedankenll stellt das Berührtsein von Gedanken für sich. Aber in welchem Sinne? Es gibt zwei Möglichkeiten, dies zu verstehen: als eine positive und durch die Zeilentrennung verstärkte Aussage über die Unberührtheit dessen, was da "vor dein Gesicht« trat - daß es nämlich nichts ausdrücklich Gewußtes und Gedachtes ist. Oder aber es ist eine Aussage darüber, daß das, was I>schon einmal bei uns war«, nun anders, nämlich "berührt von Gedanken«, also verwandelt ist. Es hieße also gerade nicht: nach wie vor un berührt. Nun ist die Aussage des Gedichtes durchweg von der Spannung zwischen mach< und .vor< beherrscht. Es ist von einem »spätenlt Gesicht die Rede, das ein .früher< heraufruft; es ist von einem »schon einmal« die Rede und ausdrücklich von »verwandelndenll Nächten. So muß auch in dem »un-berührtlt,das nicht umsonst Zeilentrennung in sich austrägt, die Spannung zwischen Einst und Jetzt liegen. Die Frage geht bis in die letzten Eigenheiten von Rhythmik, Versbau und Sinnfügung. Es handelt sich um eine Frage letzter Sinnkohärenz - und die scheint mir für die von mir vorgeschlagene Deutung zu sprechen, daß eine neue Bewußtheit eingetreten ist. Denn jenes »etwas«, das da zu stehen kommt, bliebe allzusehr in der Unbestimmtheit, wenn über es überhaupt nichts ausgesagt würde. Wenn dagegen der Sinn ist, daß die Unberührtheit von Gedanken durch den Gedanken zerstört wird, dann versteht man immerhin, daß "etwas 11 eingetreten ist, nämlich bei aller Unbestimmtheit eine neue, Alleinsein einschließende Bewußtheit. Wachsende Bewußtheit, Abstand, Alleinsein: das ist nicht die enttäuschte Feststellung eines verlorenen Zugangs - wie eine Entfremdung es wäre -, sondern es findet hier gegenseitige Anerkennung statt: •• auch mich« - also auch dich - »verwandelnd« heißen die Nächte. Der Abstand, derjetzt bewußt wird, war an sich immer da, als das, was man Diskretion nenntZ, bis zu jener .unendlichen Diskretion(, mit der Rilke sein Verhältnis zu Gott beschreibt. Aber das ist nun die eigentliche Erfahrung, die aus diesen Versen spricht: Inzwischen ist es anders geworden. Was von Gedanken unberührt war, ist nicht länger so, und das ein rur alle Mal. Eben die Endgültigkeit dessen, was 2 Zu diesem Begriffund seiner Rolle flir das Verständnis moderner Lyrik vgl. ,Verstummen die Dichter?<, in diesem Band, S. 362ff.
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nun eingetreten ist, spricht aus der epigrammatischen Schluß zeile »berührt von Gedanken«. Hier scheint die Frage besonders dringlich, wer Ich ist und wer Du. Aber auch hier ist nicht so zu fragen. Das einzige, worauf es ankommt. ist. daß zwischen dem Ich. das hier spricht, und dem Du, das es anspricht, die Geschichte einer innigen Beziehung heraufgerufen wird, deren Beginn länger zurückliegt. Darauf deutet das Beiwort ))spät«, das dem Gesicht zugesprochen wird, und weiter klingt es so, als ob dies Gesicht inzwischen in sich zurückging und sich stärker in sich verschlossen hat. Denn es heißt »alleingängerisch«, und das meint nicht einfach allein-gehend. sondern ein bewußt gewähltes und festgehaltenes Alleinsein. Wieder ist es die Worttrennung. welche die Spannung dieses Alleinseins verleiblicht. Sie läßt beides anklingen. das Alleinsein und den Willen dazu. Das bestätigt sich von der anderen Seite durch Imein< Eingeständnis. daß auch ich verwandelt bin. Was da »vor dein spätes Gesicht« tritt. ist aber ausdrücklich nicht als etwas Fremdes anzusehen. das früher nicht da war. Es warja schon einmal 11 bei uns«. Was inzwischen anders geworden ist. hebt die Vertrautheit der gegenseitigen Bindung durchaus nicht auf. Es ist nicht etwas Fremdes. Man soll nicht fragen, was das ist. Offenbar weiß der Sprechende es selber nicht zu benennen. Es ist michts<. Was das Gedicht darüber hergibt. liegt einzig in der Wendung »un-berührt von Gedanken«. Das besagt, daß man sich inzwischen Gedanken macht und daß gerade dadurch »etwas zu stehn« gekommen ist. Man achte darauf, daß es nicht heißt: etwas trat dazwischen. Es ist überhaupt keine besondere Begebenheit gemeint, die alles veränderte. sondern eher der Niederschlag der Zeit selbst. der nicht etwa etwas Neues enthüllt. sondern das. was an sich schon bekannt ist, weil es »schon einmal bei uns war«, nun für sich stehen läßt. Es heißt »bei uns« -und nicht: zwischen uns. Was da zum Bewußtsein k~mmt, ist vielleicht nichts anderes als Alleinsein in wechselseitiger Vertrautheit. So scheint es kaum nötig zu wissen, wer Ich und wer Du ist. Denn das, wovon die Rede ist, geschieht beiden. Ich und Du sind beide Verwandelte, sich Verwandelnde. Es ist die Zeit, die ihnen geschieht. Ob nun dieses Du das Gesicht des Nächsten trägt oder das ganz andere des Göttlichen - die Aussage ist, daß bei aller Vertrautheit zwischen beiden ihnen mehr und mehr der Abstand bewußt wird, der zwischen ihnen bleibt. Injenen Nächten. das heißt in der Nähe und Innigkeit des Beisammen, die alles andere auszulöschen und alles Trennende aufzulösen vermag, gerade da verwandelte sich etwas und kam etwas zu stehen. Ist das überhaupt etwas Trennendes? Es trat »vor dein Gesicht«. Gewiß liegt darin auch, daß ich keinen so unmittelbaren Zugang mehr zu dir habe, aber doch auch, daß ich nicht von dir getrennt bin. Es warja schon vorher» bei uns «. Eher scheint es, als würde in einem 'neuen Wissen der Abstand bejaht, der immer war, der Abstand zum verborgenen Gott oder die Ferne des Allernächsten.
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Die Schwermutsschnellen hindurch am blanken Wundenspiegel vorbei: da werden die vierzig entrindeten Lebensbäume geflößt. Einzige Gegel1schwimmerin. du zählst sie. berührst sie alle.
Es geht um die Erfahrung der Zeit. An einem Punkte wird es handgreiflich. worauf das Gedicht anspielt. Jemand denkt an die vierzig Jahre, die er alt ist. Man wird sagen: der Dichter. Gewiß. und doch ist in dem. was der Dichter hier von sich selbst sagt, ein Allgemeines da. ein so sehr allen Gemeinsames. daß diese besonderen vierzig Jahre nicht die des Dichters allein sind. In dem ganzen Gedicht wird überhaupt nicht )lich« gesagt, so sehr ist im Sprechen des lyrischen Wortes das Ich da, das wir alle sind. Dieses Ich. das wir alle sind. denkt an seine vierzigJahre. das heißt an alles. was an ihm. undanalles. WOran es selbst vorübergekommen ist: Zeiten der Schwermut. Stromschnellen. die nicht sq sehr durch ihr Dasein als durch die Plötzlichkeit und Unvorhersehbarkeit ihres Auftretens Gefahr sind. Die Gefährlichkeit dessen. was so plötzlich über einen kommt. ist in dem einzigen Wort »Schwermutsschnellen« beschworen - aber auch, daß das Ich durch alle Anfechtungen hindurch kam. Jetzt geht es durch ruhigeres Wasser. an dem spiegelnden See vorbei. der im Kontrast zu den Stromschnellen eine so unbewegte Wasserfläche ist. daß sich alles in ihm spiegeln kann. So ist in ihm Wissen und Eingedenken. Was sich in ihm spiegdt, sind die sichtbaren Spuren sichtbarer Verletzungen. Wunden, deren das dahinrauschende Leben sich schmerzhaft bewußt wird. Sie vor allem sind es, die in der Lebensbilanz auftreten. Und doch ist die eigentliche Bewegung des Gedichtes. daß das Leben weitergeht, vorbei an denjähen Verdüsterungen wie an der Klarsicht offener Leiden. Die Lebensbäume der Jahre, die da dahintreiben. heißen ihrerseits llentrindet ... Das kann heißen: Es liegt der Kern bloß (für den sich Erinnernden?), dergestalt, daß alles Unwesentliche abgestreift ist. Vielleicht auch: Das eigentliche Lebendige ist nicht mehr dabei. Die Entrindung läßt den Säftestrom des Lebens nicht mehr steigen und sinken. Was da ist, ist nur sein verholztes Gehäuse. Injedem Falle: sie werden geflößt. Die Kraft der Wasser trägt sie dahin. talabwärts. Diesem Strom des Vergehens schwimmt jemand entgegen, für den, als die »einzige Gegensch wimmerin ... all diese Unterschiede von jähen Verdüsterungen und spiegelnder Klarheit der Wunden und all das, was sie an Leben einschließen, überhaupt nicht zu existieren scheinen. Diese Gegenschwimmerin wird als Du angeredet, bewundernd, besiegelnd.
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Die letzte Verszeile »alle« macht das Allumfassende dieser Gegenbewegung deutlich. Die Gegenschwimmerin zählt alle und berührt alle diese Bäume des Lebens. Das Gleichmaß und die unbeirrbare Genauigkeit. die hier am Werke sind, machen es eindeutig. scheint mir. daß die Gegenschwimmerin die vergehende Zeit selber ist. Kein menschliches Erinnern oder Gedächtnis oder gar die mitgehende Sorge eines anderen vermöchte so beständig und unverrückt und untrennbar vom ersten Jahre an dabeizusein. Plato lehrt uns: Die Zeit ist die Zahl, das bewegte Außereinander. Die Gegenschwimmerin hier ist freilich mehr als nur ein Maß, an dem sich die Bewegung mißt. Sie tut etwas. indem sie selber der Stromversetzung des Vergehens widersteht. Dadurch allein ist sie wie ein festes Maß. mit dem sich alles zusammenfassen und messen läßt und von dem aus sie sich zählend all des Vorüberfließenden vergewissert, wie mit berührender Hand. Nichts wird dabei weggelassen, alles gehört dazu. auch all die )ungezählten( Leiden, die hinter sich zu lassen und zu vergessen leben heißt. Das Gezählte ist also die ganze Summe der durchlebten Zeit. Nun lehrt uns Aristoteles: Irgendwie ist mit der Zeit die Seele da. Das »Gegen«, das sich nicht mitreißen läßt und nicht davon abläßt. dabeizusein und alles zu zählen, ist also nicht so sehr die Zeit selber wie das stehende und widerstehende Selbst, das Ich, das, worin die Zeit ist. In ihm erst faßt sich, wie Augustin gezeigt hat, die Lebensgeschichte zu einem Ganzen zusammen. In ihm erst ist Zeit da. Es ist etwas Rätselhaftes mit der Selbigkeit des Ich. Es lebt, weil es vergißt - aber es lebt auch nur als Ich, weil alle seine Tage )für es< gezählt werden und gezählt sind. die unvergeßlichen. Daß nichts, was ich war, ausgelassen ist, macht das Wesen der Zeit aus. Aber gewiß ist es nicht das wirkliche Bewußtsein des Vierzigjährigen oder irgendeines, der zurückblickt, derart alles zu umfassen. Gerade dieser Unterschied der alles zählenden Zeit und des Lebensbewußtseins des Ich wird diesem vielmehr zur Erfahrung. Der Vierzigjährige wird an solchem Gleichmaß der Zeit und am Gleichmut dieses Bewußtseins, das die Zeit selber denkt, seiner wie eines höheren Selbst bewußt.
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Die Zahlen, im Bund mit der Bilder Verhängnis und Gegenverhängnis. Der drübergestülpte Schädel, an dessen schlafloser Schläfe ein irrlichternder Hammer all das im Welttakt besingt.
Auch hi'er geht es um das Erleben der Zeit. "Die Zahlen« nimmt das Zählen der Zeit auf. Die Zeit erscheint hier als Verhängnis, denn sie steht »im Bund mit der Bilder Verhängnis und Gegenverhängnis(l. »Der Bilder Verhängnis« meint offenbar das, was hinter dem Schädel wach ist, das unvermeidliche Verhängnis des Bewußtseins, in dem immer etwas sich abbildet. Es kann nicht fehlen, daß da etwas ist - nicht ein Gerufenes, nicht ein Gewünschtes. Die Zahlen, das heißt dieses Ablaufender Augenblicke, sindnichtfursich. Sie sind »im Bund«, d. h. schließen immer zugleich ein, daß als Gegebenheiten der inneren Erfahrung Bilder da sind. Diese Bilder nun, die so mit den Zahlen und der Zeit unlösbar mitgehen, sind nicht nur wie die Zeit" Verhängnis«, d. h. notwendiges, unabänderliches Geschehen, sie haben die Funktion eines »Gegenverhängnisses«. Das will sagen, daß sie zugleich gegen die Zahlen stehen, gegen das Einerlei der Folge, das unaufhörlich wie ein Hammer pocht. Doch diese Bilder sind auch selber Verhängnis. Als Verhängnis der Bilder erlangt indes das Wort 11 Verhängnis« einen neuen Gegensinn, nämlich daß es etwas verhängt, so daß das Verhängte nicht mehr in seiner eigentlichen Gestalt offenliegt und unverhüllt sichtbar ist. Indem das Gegenverhängnis der Bilder beides zugleich ist, nicht nur Verhängtes, sondern auch Verhängendes, gewinnt auch das Verhängnis selber etwas von dem Doppelsinn, verhängt und zugleich verhängend zu sein. Das, wogegen die Bilder das Verhängende und Verhängte sind, sind die Zahlen, die Zeit, das unabänderliche Vergehen. Es ist- als im Bunde mit den Bildern - nicht nur ein unaufhörliches Pochen der Vergänglichkeit, sondern ist zugleich wie ein Schleier, der über der Gegenwart liegt und den zu vergessen jener andere Schleier sich herabsenkt, der bunte Teppich der Bilder. Die Zeit ist der innere Sinn, in dem sich die Sukzession der Vorstellungen findet. Das hatte schon Kant und im Ansatz schon Aristoteles gelehrt. Man versteht das Befremdliche, daß diese Unendlichkeit der Folge und der Bilder wie unter einem Helm eingeschlossen ist. Es ist der Schädel, an dessen Wand der Äußerlichkeit sich diese innere Unendlichkeit im Hammerschlag des Zeitpulses manifestiert. Nun heißt es aber Ilim Welttakt besingtli: Daß der Taktschlag des Zeithammers Welttakt ist, ist klar - er umfaßt alles. Was heißt
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es aber, daß der pochende Hammer diese ganze innere Folge "besingt,(? Aus solchem Takt des unaufhaltsamen Vorbei wird doch wahrlich keine Musik. Die kühne Metapher »besingt« bildet einen Endvers und hat dadurch einen starken Nachdruck, die Emphase des Paradoxen, das sich selbst setzt und entgegensetzt. Nun meint »besingt" auf alle Fälle: nicht entgegenstehen, sondern preisen und in der Preisung gegenwärtig machen. Was bedeutet das? Wieso ist der »irrlichternde Hammer", das Aufzucken des Bewußtseins, das dem Strom von Zeit undBild nur folgt und mit ihm geht, zugleich das, was zu ihmja sagt, ihn ganz zum meinigen macht - alsjenes ,Ich denke<, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können? Oder ist es gerade die Monotonie dieses Hammerschlages der Vergänglichkeit, die in einem bitteren Oxymoron »singen(, genannt ist? Doch die semantische Gegebenheit scheint mir eindeutig: im großen Takt der Zeit, die wie der Pulsschlag ist, ist das Aufleuchten des Bewußtseins wie ein Gegenverhängnis. Es sind Bilder, deren Wechselgehalt das Einerlei des Vergehens in unaufhörlicher Folge irrlichternd belebt. Wie nahe hier - wie überhaupt bei Celan - ein Wortspiel lauert, zeigt in der zweiten Strophe die Wendung »schlaflose Schläfe". Wie alle Wortspiele verkörpert auch dieses einen Gedankenbruch - oder besser: eine verborgene Harmonie, die, wie Heraklit wußte, stärker ist als eine offene3 • In der Tat ist es das Rätsel des Bewußtseins selbst, wie dies Ineins von Schlafund Schlaflosigkeit, diese Schlaflosigkeit im Schlaf, sein kann. Wenn man sich seiner selbst bewußt ist, ist man wach. Aber der, der sich da seiner selbst bewußt wird, ist stets wie ein aus dem Schlaf Erweckter. So sicher sind wir unserer Selbigkeit im Selbstbewußtsein, daß seine Wachheit auch seinen Schlaf, sein Dämmern und Vergessen, fraglos umfaßt. Nun ist der Hammer, der an die Schläfe pocht, im Einerlei des unerbittlichen Weitergehens der Zeit, Gesang - oder wie Gesang? - Injedem Falle meint das etwas, was da zustande und zum Stehen kommt. Das ist die eigentliche Aussage. Indem der Hammer nicht nur den Welttakt schlägt, sondern im Takt all das, was in der ganzen Greifbarkeit der Bilder auftaucht, besingt, wird das Einerlei aufgehoben. Die wechselnden Bilder treten in ein bleibendes Sein, das dem Vergehen ins Tonlose widersteht und in dem Zustimmung geschieht.
3 Zur Tragweite dieses Heraklitischen Grundsatzes nicht nur für das Celan-Veqtändnis, sondern der modernen Kunst im allgemeinen siehe .Im Schatten des Nihilismus<, in diesem Band, S. 379ff.
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Wege.- im Schatten-Ge.-bräch deiner Hand. Aus der Vier-Finger-Furche wühl ich mir den versteinerten Segen. Nach hermeneutischem Grundsatz beginne ich mit der betonten Schlußzeile. Denn darin liegt offenbar der Kern diese Kurzgedichtes. Es spricht von »versteinertem Segen«. Segen wird nicht mehr offen und strömend erteilt. Die Nähe und die Spende des Segnenden muß vielmehr so sehr entbehrt werden, daß Segen nur noch in Versteinerung gegenwärtig ist. Nun sagt das Gedicht: Dieser Segen der segnenden Hand wird mit der wühlenden, verzweifelnden Inbrunst eines Bedürftigen gesucht. Damit geschieht ein kühner Umschlag von der segnenden Hand zu der Hand, in der für das Handlesen eine segensreiche hoffende Botschaft verborgen ist. Was mit dem .. SchattenGebräch" gemeint ist, lehrt der Zusammenhang. Wenn die Hand sich etwas krümmt und die Falten Schatten werfen, dann werden in dem .. Gebräch" der Hand, das heißt in dem Geflecht von Brechungen und Faltungen, die Brüche als Linien sichtbar, die der Handleser deutet. Er liest aus ihnen die Sprache des Schicksals oder des Wesens heraus. Die)) Vier-Finger-Furche« nun ist die durchgehende Querfalte, welche die vier Finger im Unterschied zu dem Daumen in einer Einheit zusammenfaßt. Wie ist das alles seltsam! Das Ich, wer auch immer es sei, der Dichter oder wir, sucht den femen und ungreifbar gewordenen Segen aus der Segens hand heraus zu »wühlen«. Das geschieht aber nicht in einem kundig vertrauten Entziffern geheimnisvoller Linienspiele. Die Situation des Handlesers, die hier deutlich heraufbeschworen ist. bildet in Wahrheit und alles in allem eine Kontrastsituation. Man gestehe es sich ein: Handlesen. wo es im En1st und nicht zum reinen Scherz geschieht, behält eine merkwürdige Berührungskraft. Die Unenthüllbarkeit der Zukunft erfüllt jede Aussage über solche Zeichen mit einem lockenden Geheimnis. Aber hier ist es alles ganz anders. Die Inbrunst und die verzweifelte Not des Suchenden ist so groß. daß er nicht etwa im kundigen Deuten über der Rätselschrift der Hand und der Zukunft halb scherzhaft und halb ernsthaft verweilt - im Gewirr der Handlinien sucht er wie ein Verdurstender nur die größte, tiefste. in Wahrheit geheimnislose Furche allein, in deren Schatten nichts geschrieben ist. Aber seine Not ist so groß. daß er selbst noch aus dieser nichts mehr spendenden Handfurche so etwas wie Segen erfleht. Wessen Hand ist es? Es scheint schwer, in der Segenshand, die nicht mehr segnet, etwas anderes als die Hand des verborgenen Gottes zu sehen, dessen Segensfülle unkenntlich wurde und uns nur noch wie in Versteinerungen überkommen ist, ob diese nun das erstarrte Zeremoniell der Religionen oder
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die erstarrte Glaubenskraft der Menschtm sein mögen. Aber wieder wird es so sein, daß das Gedicht darüber nicht entscheidet, wer hier Du ist. Seine alleinige Aussage ist die inständige Not dessen, der i? »deiner J:iand,,- weSSen Hand es auch sei - nach Segen sucht. Was er findet, 1st »verstemerter« Segen. Ist das noch Segen? Ein letztes an Segen? Aus deiner Hand?
Weißgrau ausgeschachteten steilen Gefühls. Landeinwärts, hierherverwehter Strandhafer bläst Sand muster über den Rauch von Brunnengesängen. "Bin Ohr, abw,etrennt, lauscht,
Ein Aug, in Streifen geschnitten, wird an dem gerecht.
Die Kraßheit der Bilder vom abgeschnittenen Ohr und vom in Streifen geschnittenen Auge gibt diesem Gedicht sein einzigartiges Gepräge. Man muß und man soll eine Art von Widerwillen gegen die Kraßheiten empfinden, die einem hier zugemutet werden. um sie durch Begreifen zu überwinden. Aber was ist daran zu begreifen? Ich denke, dies: Kein den Weltmelodien geöffnetes Ohr, kein alles umfassender. vom goldenen Oberfluß der Welt trunkener Blick entsprechen auf gerechte Weise dem. was ist. Angestrengtes Lauschen - so daß das Ohr wie abgetrennt ist, 19anz Ohr< - und durch schmalsten Spalt spähendes Auge allein-das scheint mit »in Streifen geschnitten" gemeint - vermögen allein noch das. was ist, zu erfassen. Denn es ist nur noch Vereinzeltes, kaum Hörbares, kaum Sichtbares, was überhaupt Kunde gibt (llRauch von Brunnengesängen«). Dabei ist »311 das « in strengsten Weglassungen dennoch da: die See-denn es ist von lliandeinwärts« die Rede-, die Kalkfelsen im Weißgrau angebrochenen Grundes, und dann, ins Land hinein. von dem nahen Meer entfernt, etwas ganz anderes, Menschliches: Rauch und Brunnen. Die Steilküste evoziert Einsamkeit, aber auch das Zutagetreten, das Bloßliegen des sonst Verborgenen. Das aber ist hier »steiles Gefühl" (man denke an Rilkes »schlackig versteinerten Zorn «). Was so bloßgelegt ist. reicht in dieTiefe des Fühlens wie in einen Abgrund. Das liegt in dem Worte llsteik Aber es ist nicht wie ein Quell der Gefühle. Es ist weißgrau, ohne Farbe und Leben steht es erstarrt und ist den Wettern preisgegeben wie ein Steinbruch, der »ausgeschachtet« ist. Was beginnt eigentlich in der zweiten Strophe, die mit »Landeinwärts«
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einsetzt? Was dort, landeinwärts. ist, ist gewiß etwas Geringeres als die weißgraue Bruchlinie der Einsamkeit zwischen den großen Elementen Meer und Land. Aber in »landeinwärts .. klingt es doch wie eine Erwartung, als könne die kahle Einsamkeit des erschöpften, »ausgeschachteten« Gefühls von klingenden Tönen des Menschlichen abgelöst werden. Immerhin ändert sich das Bild: Es sind aus vereinzelten Öffnungen der Tiefe, aus Brunnen, wie Rauch aufsteigende Gesänge, die man hören soll. »Rauch von Brunnengesängen« weckt ein Vielfaches: rauchende Kamine menschlicher Wohnungen, dörfliche Brunnen, menschliche Laute. Gesang. - Indes, von der Verlassenheit des Strandes sind wir auch hier nicht fern. Ober all das weht der Strandhafer seine Sandmuster. Das Karge, Dürftige des ins Land hineinkriechenden Dünensandes und seiner einförmigen Muster beschreibt eine uniform werdende Welt, in der nichts Menschliches mehr offen zutage tritt und in der der Gesang der Brunnen fast übertönt wird. Nur dem angestrengtesten Lauschen bleibt dieser Gesang hörbar, diese Selbstaussage des Menschlichen in einer versandenden Welt, und nur in augenblickshaften Brechungen blitzt dem angespanntesten Spähen menschlich Geordnetes auf. Die krasse Grausamkeit der Schlußmetapher von Ohr und Auge läßt die beengende Dürftigkeit der Welt empfinden, in der Gefühl kaum noch etwas vermag.
Mit erdwärts gesungenen Masten fahren die Himmelwracks. In dieses Holzlied beißt du dich fest mit den Zähnen. Du bist der liedfeste Wimpel. In drei kurzen Strophen wird die Szene eines Schiffbruchs geschildert, der freilich von vornherein ins Unwirkliche verkehrt ist: Es ist ein Schiffbruch am Himmel. Auch dort bedeutet Schiffbruch jedenfalls, was wir immer in der Metapher des Schiffbruchs denken und wobei wir vielleicht zu allererst an Caspar David Friedrichs berühmtes Bild von dem Schiffbruch im Eis der Ostsee denken: das Scheitern aller Hoffnungen. Die Topik ist altbekannt. Auch hier sind es die gescheiterten Hoffnungen. die der Dichter heraufbeschwört. Aber es ist ein Schiffbruch am Himmel, ein Unglück ganz anderen Ausmaßes. Die Masten der Wracks weisen auf die Erde hin und nicht nach oben. Man denkt an das tiefsinnige Wort Celans in der Meridian-Rede: »Wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich.« Nun ist aber deutlich: diese Masten sind »gesungen«. Es sind Lieder, aber solche, die nicht nach einem Oben und Jenseits tröstend hindeuten. Man
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denkt an die Umkehrung in >Tenebrae(: »Bete zu uns, Herr. «4 Es ist nicht länger die Hilfe des Himmels, auf die man hofft, sondern die der Erde. Die Schiffe sind alle gescheitert, aber der Gesang wird weiter gesungen. Das Lebenslied klingt noch immer, wenn die Mastenjetzt auch erdwärts winken. Es ist also der Dichter, der sich an dies »Holzlied« festklammert, »mit den Zähnen«, das heißt mit letzter und äußerster Anstrengung, um nicht ganz unterzugehen. Was ihn dabei über Wasser hält, ist das Lied. So heißt es »Holzlied«. Wie ein Untergehender die schwimmende Rettungsplanke als seinen letzten Halt nicht losläßt und sich wie mit den Zähnen daran festbeißt, so hält sich das Ich an das Lied. Und in einer vollendeten Umkehrung der gescheiterten Wirklichkeit, nach dem Schiffbruch des Himmels und aller seiner Verheißungen, nennt sich der Dichter selbst einen» Wimpel«. Erist am Liedmast fest, das heißt, er ist von ihm nicht zu trennen. Wie der Wimpel eines untergehenden Schiffes als letztes noch aus dem Wasser ragt, so ist der Dichter mit seinem Lied als letzter eine Verkündung und eine Verheißung von Leben, ein letztes Hochhalten des Hoffens. Er heißt mit Pointierung »liedfest«. Denn nichts als das Lied ist es, das dauern wird, das nicht untergeht, an das man sich allein nach dem Schiffbruch aller himmelwärts gerichteten Hoffnungen festhält. Auf solche Weise spricht der Dichter hier von seinem Werk. Aber wie die Metapher des >Lebenslieds(, die sich dem Leser hier aufdrängt, d~s Leben selbst meint, so meint gewiß auch der »liedfeste Wimpel« nicht nur den Dichter und seine Beharrlichkeit im Hoffen, sondern das letzte Hoffen aller Kreatur. Wieder ist keine Grenze zwischen dem Dichter und dem Menschen, der mit letzter Kraft sein Hoffen hochhält.
Schläfenzange. von deinem Jochbein beäugt. Ihr Silberglanz da. wo sie sich festbiß: du und der Rest deines Schlafs bald habt ihr Geburtstag.
Es ist klar, daß es sich hier um den Anruf des Alters handelt, auf den der Dichterantwortet. Die »Schläfenzange« meint die ergrauende Schläfe. die das herannahende Alter anzeigt, unerbittlich zugreifend wie eine Zange. Der zweite Vers »von deinem Jochbein beäugt« drückt sich zwar fast anatomisch nüchtern aus, und doch kommt durch das »beäugt« ein Ton beobachtender Bangigkeit hinein, und der Fortgang spricht es vollends deutlich aus, wie das • VgI. dazu ,Sinn und SinnverhaIIung bei Paul Celan(, in diesem Band, S. 452ff.
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Denken an denTod an Stärke gewinnt. Denn dort heißt es: "du und der Rest deines Schlafs« - ein kühnes Oxymoron, denn es steht ja für den Rest eines Lebens. Und was meint die zugespitzte Wendung" bald habt ihr Geburtstag«? Natürlich meint es nicht: Bald werdet ihr geborens . Geburtstag haben ist nicht Geborenwerden, sondern es ist die Feier der Wiederkehr des Geborenwerdens. Und gewiß bedeutet die Wiederkehr des Geburtstages für den, der an den Schläfen bereits grau wird, ein steigendes Bewußtsein von der Neigung des Lebens und der Kürze des Lebens. Gleichwohl ist in den Versen nicht eigentlich ein Klageton vernehmbar. Man fragt sich, wer hier eigentlich angeredet wird. Redet das Ich zu sich selbst? Aber es klingt sonderbar, daß »du und der Rest deines Schlafs« als ein »ihr« zusammengefaßt wird, die zusammen Geburtstag haben. So muß man die Deutung eben dort ansetzen, wo es sonderbar klingt, das heißt an diesem Schluß. In ihm sind zwei Antithesen verborgen. Die eine ist die Antithese zwischen dem Du, das sich hier anredet und das sich selber die Wache hält, und dem Schlaf, wie sein Leben hier genannt wird - mit Heraklit, Pindar, Euripides, Calderon und vielen anderen. Die zweite Antithese liegt in dem Widerspruch des erwartungsvoll freudigen Geburtstagsfestes zu dem Vorgefühl von Alter und Tod. Die Erwartungsfreude wird hervorgehoben durch den Einwortvers »bald«, und sie bricht um in den Erwartungsverzicht des Sprechers, dem das Älterwerden bewußt wird. So sind es zwei Antithesen der Bitternis, in die sich hier die Erwartungsfreude verkehrt. Ein wunderbares Beispiel, wie ironische Verkehrung und die schillernde Ungreifbarkeit, die ihr eigen ist, zur dichterischen Evidenz erhoben wird. Denn was ist das für ein Geburtstag? Was wird da erinnert und gefeiert? Der Tag der IExistentialfreudigkeit( (wie GrafYorck von Warten burg einmal den Geburtstag genannt hat)? Aber von wessen Existenz? Man wird richtig hören, wenn man versteht: der sich wissenden, der sich annehmenden, der Existenz, die ihrer Endlichkeit inne ist. Reif sein ist alles.
, Zur .Schläfenzange« als Geburtszange siehe unten, S. 446f.
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Beim Hagelkorn, im brandigen Maiskolben. daheim, den späten, den harten Novembersternen gehorsam: in den Herzfaden die Gespräche der Würmer geknüpft-: eine Sehne, von der deine Pfeilschrift schwirrt, Schütze. Wie das vorangegangene Gedicht die Bewußtheit des Denkens an den Tod zum Gegenstand nahm, hat auch dieses Gedicht unmittelbar mit dem Tod zu tun. Daß das letzte Wort »Schütze« eine Metapher des Todes ist, istunzweifelhaft. Aber auch vieles andere weist offenbar auf diese Sphäre hin: das Hagelkorn, der Maiskolben, der brandig wird. der späte November. Celan stammt aus dem Osten, und man spürt, wie ihm dieses langsame Hereinbrechen des schweren östlichen Winters ein Wissen um die Vergänglichkeit des Daseins weckt. das tiefInnerlich in sein Lebensgefuhl eingewebt ist: Todesgedanken - die Gespräche der Würmer- sind »in den Herzfaden geknüpft«(. Es ist wie ein inneres Nagen oder gar wie eine im Innersten verständigte Gewißheit der Endlichkeit und Vergänglichkeit unseres Daseins. Die Komposition als Ganzes ist von eindeutiger Straffheit. Da sind zwei Doppelpunkte. Der zweite ist durch einen Gedankenstrich verstärkt. Sie lassen die Wendung am Ende des Gedichts wie einen Schluß aus zwei Prämissen folgen. Diese Schlußwendung faßt alles Vorangegangene in die Wendung von der gespannten Sehne zusammen. von der der Pfeil schwirrt. Aber es ist nicht der Pfeil. nicht der Tod sei ber, sondern die »Pfeilschrift «, die von dieser Sehne schwirrt. Wenn der Pfeil Schrift ist. so ist er Botschaft, Verkündigung. Kein Zweifel, diese Schrift sagt uns etwas Genaues: Es ist die Botschaft der Vergänglichkeit, die aus allem spricht, was da genannt war. Aber es ist Botschaft. Man wird daher diejenigen semantischen Teile des Gedichttextes als die tragenden auszeichnen müssen. die nicht nur die Vergänglichkeit künden, sondern die Botschaft der Vergänglichkeit mit Entschlossenheit annehmen. So ist das »gehorsam". das den einbrechenden Winter anerkennt, ein tragendes Bedeutungsmoment. In ähnlichem Sinne wird auch das korrespondierende »daheim« - beim Hagelkorn. im brandigen Maiskolben - festgelegt. Es meint natürlich nicht im wörtlichen Sinne die eigentliche östliche Heimat, sondern das Daheimsein in den Boten des Winters, des Todes, der Vergänglichkeit. So ist es eine doppelte Zustimmung, die dem eigentlichen Mittelteil des Gedichtes seine Artikulation verleiht. Die Zeichen des kommenden Winters und die innerste To~esgewiß-
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heit des Herzens werden bejaht. Daher sind die Gespräche der Würmer »in den Herzfaden« geknüpft. Das innere Nagen der Vergänglichkeit bleibt nicht ein Angenagtwerden von außen. sondern ist ganz ins Innerste aufgenommen. Damit sind die beiden Prämissen. aus denen der Schluß gezogen wird. durch Zustimmung gesichert. Der Schluß ist gültig: Der Pfeil. der seine Botschaft sendet. ist die Todesgewißheit. die ihr Ziel nie verfehlt. Aber es ist noch mehr darin: Es ist eine einzige große Bereitschaft. in die der Schütze Tod sein Wort schreiben läßt. Vielleicht soll man noch einen Schritt weitergehen und den »Herzfaden« zugleich als die Sehne erkennen, von der die Pfeilschrift abgeschnellt wird. Denn der Herzfaden. an dem die Würmer nagen. ist in. gewisser Weise die Spannkraft des Lebens selbst - und gerade in ihn sind »die Gespräche der Würmer geknüpft". Der Schlußsatz folgert nichts Neues - er faßt nur zusammen. Die tiefinnere Gewißheit der Vergänglichkeit und des Todes ist nicht wie die Sehne eines tödlichen Bogens. dessen Geschoß einen plötzlich zerreißt, sondern ist im Gegenteil das. was das Leben selbst spannt. Von dieser Sehne des Herzens kommt nicht so sehr der Tod als die vertraute Gewißheit des Todes. die das Leben ist und die einem jeden immer schon- und doch in der jähen Getroffenheit durch die» Pfeilschrift« - entziffert ist.
Stehen, im Schatten des Wundenmals in der Luft. Für-niemand-und-nichts-Stehn. Unerkannt. rur dich allein. Mit allem. was darin Raum hat. auch ohne Sprache.
Es ist ein Unsichtbares, ein Unerkanntes. das Wundenmal in der Luft. Es ist also nichts. was man greifen kann. nichts wie Jesu Male, die selbst den ungläubigen Thomas überzeugten. Dies Wundenmal ist vielmehr »in der Luft« - doch von der Art. daß es einen IISchatten« wirft. Aber offenbar nur über mich, so daß niemand anderes dessen gewahr wird, daß ich in diesem Schatten stehe. Das ist deutlich gesagt: Wer steht, steht für sich allein. Für sich allein Stehen heißt Standhalten. Zugleich liegt darin auch. daß der Standhaltende dabei nicht eigentlich aufsich besteht. Er steht nicht für etwas oder für jemanden, er steht sozusagen für sich allein. und daher 11 unerkannt«. Aber das ist nicht wenig. Stehen und Standhalten heißt: etwas bezeugen. Wenn von dem. der da steht. gesagt wird: 11 auch ohne Sprache«. so sagt es gewiß. daß er
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so sehr allein ist, daß er sich nich': einmal mehr mitteilt. Aber es sagt auch umgekehrt, daß dieses Ich, das zu sich »du« sagt, wenn es im Schatten des unsichtbaren Wundenmals steht, sich gerade ganz und gar mitteilt, »mit allem, was darin Raum hat«, - daß es sich wie Sprache mitteilt. Ja, wenn der letzte Vers das eine Wort »Sprache« ist, so wird damit »Sprache« nicht nur nachdrücklich betont, sondern Igesetzt(. Daher meint das II auch ohne Sprache« noch etwas Weiteres. Noch bevor es Sprache ist, noch im stummen Stehen und Sichhalten an das. woran selbst ein Thomas nicht zweifeln kann, ist es doch schon Sprache. Worin das Zeugnis des Stehens sich ganz kundtun wird und kundtun soll. soll sein. Es soll Sprache sein. Und diese Sprache wird, wie das unerkannte Stehen, das Bir niemanden und nichts steht. wahrhaft Zeugnis sein. gerade weil es nichts will: I> Bir dich allein«. Es wäre müßig. sich um die konkrete Ausfüllung dessen Gedanken zu machen. was da bezeugt wird. Das kann vieles sein. Aber das» Stehn« ist immer ein und dasselbe - Bir einen jeden.
Dein vom Wachen stößiger Traum. Mit der zwölfmal schraubenfOrmig in sein Horn gekerbten Wortspur. Der letzte Stoß, den er führt. Die in der senkrechten, schmalen Tagschlucht nach oben stakende Fähre: sie setzt Wundgdesenes über.
Das Gedicht ist streng gebaut. Zwei Strophen, die erste und die dritte. werden je von einer Kurzstrophe gefolgt. die jeweils eine Art Folgerung zieht. So zerfällt das Gedicht in zwei Hälften. Es sind durchaus verschiedene Bildsphären. die in ihnen heraufgerufen werden. Aber sie betreffen ein Gemeinsames: Schlaf und Traum sowie das Erwachen. Offenbar sind es auch rhythmisch zwei sehr verschiedene Vorgänge. die hier zusammengebunden sind. Auf der einen Seite das Drängen des Traumes, der wie ein Bock stößt, und auf der anderen Seite die mühsam nach oben stakende Fähre. Indessen zielt beides. wenn auch ganz verschieden gesehen. auf das gleiche~ Das ist ein erster Ausgangspunkt rur die Frage. wie das Ganze zu verstehen ist. Man muß es vom einzelnen her versuchen. Der Traum ist »stößig« geworden wie ein Ziegenbock. Dadurch gelangt etwas von dem Dunkel an
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den Tag. Nun muß man beachten, daß es nicht etwa ein beim nahenden Erwachen stößig werdender Traum ist, wie wir das sonst aus dem TraumerIeben Schlafender kennen. Er wird im Gegenteil vom Wachen stößig. Es ist also ein allzu langer Vorgang des Wachens, der schließlich den Traum so stößig werden läßt, daß am Ende etwas nach oben übersetzt, »übergesetzt« wird. Das steht jedenfalls fest, daß das Gedicht nicht etwa den wirklichen Traum im Schlaf meint, und das wird vollends deutlich und eindeutig durch das Reizwort im letzten Verse: »Wundgelesenes «. Daraus geht hervor, daß es die Welt der Worte und des Lesens ist, in der sich der Traum regt. Es entspricht dem, daß dieser stößige Bock ein Horn hat, auf dem sich, wie man das von manchen Widderarten kennt, gekerbte Windungen zur Spitze hinziehen, und daß diese gekerbte Spur» Wortspur« heißt. So wird deutlich, daß es sich um die lange anstehende, sich lange vorbereitende Geburt des Wortes handelt, die in dem Gedicht beschrieben wird. Das Horn windet sich in zwölf Windungen bis in die Spitze herauf, mit der der Bock den letzten Stoß führt. Die Zwölfzahl deutet auf ein rundes Ganzes von Zeit, zwölf Monate, ein volles Jahr, jedenfalls eine lange Zeit. Mit anderen Worten: Schon lange hält das Wachen den Traum nieder, und immer wieder führt der Traum, der sich regt, seine Stöße. Es ist also wie ein langes »Heranwachen«, um einen Ausdruck des Gedichts )Von Ungeträumtem< (oben S. 389) zu verwenden. Offenbar will das Gedicht sagen, daß ein Gedicht nicht ein plötzlicher Einfall ist, sondern lange Arbeit der Vorbereitung verlangt. Aber die tatsächliche Arbeit an dem Gedicht, die im zweiten Gleichnis als eine langsam und mühevoll stakende Fähre erscheint, ist gleichwohl nicht die eigentliche Aussage desselben. Die eigentliche Aussage ist vielmehr, daß es »Wundgelesenes« ist, das so nach oben kommt. » Wundgelesenes«, Wundgelaufenes - das meint ein von allzulanger Wanderschaft des Lesens Wundgewordenes. Oder ist »Wundgelesenes« von noch tieferer Zweideutigkeit und meint nicht nur den Schmerz des Lesens, des zu vielen, des sinnlosen Lesens, sondern ebenso vielleicht den Schmerz und die> Wunde des Gelesenen<,das heißt des schmerzhaft Erfahrenen überhaupt, das auch >gelesen< heißen kann: zusammengelesen, wie durch eine Ahrenlese des Leides? In jedem Falle ist das, was ins Wort »übergesetzt« worden, ins Wort übersetzt ist, das Gedicht, der aus dem Dunkel des Unbewußten mit Hilfe des Traumes durch eine Art Arbeit des Traumes gewonnene Text. Muß man noch einzelnes erläutern? Die Bildsphären sind von höchster Kraft anschaulicher Selbstauslegung: die Stöße des Bocks, die schließlich mit dem letzten Stoß - die Wachwelt durchstoßen und den Traum erwecken. Welch eine Vertauschung von Traum und Wachen! Und dann diese tiefe »Tagschlucht<<: wie in eine senkrechte schmale Schlucht das Tageslicht einfallt, so arbeitet sich wie an einer Leiter des Lichts das im Dunkeln Gesammelte, »Wundgelesene« ans Licht hinauf - auch dies nicht auf einen
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Schlag, sowenig wie der Bock auf einen Stoß den Traum aufweckt. Aber am Ende erweckt er den Traum. am Ende langt das aus dem Dunkel ans Licht übergesetzte an - das ist das Gedicht.
Mit den Verfolgten in spätem, unverschwiegenem, strahlendem Bund. Das Morgen-Lot, übergoldet, heftet sich dir an die mitschwörende, mitschürfende, mitschreibende Ferse.
Die erste Strophe spricht von den Verfolgten. Das läßt sich bei diesem Dichter und in diesen Jahren kaum anders als in bezug auf die Judenverfolgungen Hitlers verstehen, und daß es ein Bekenntnis des Dichters ist, das hier »mit-schreibend« zum Gedicht wurde, scheint deutlicher denn je. Immerhin, es wurde: zum Gedicht. Auch wenn spätere Generationen diese Verfolgungen je vergessen sollten, die irgendwann irgendwo waren, wird das Gedicht seinen genauen Ort des Wissens und Mitwissens bewahren. Denn dieser sein eigener Ort läßt sich nicht vergessen. Er ist die menschliche Grundsituation als solche, daß da Verfolgte sind. zu denen man selber nicht mehr ganz gehört (in ))spätem« Bund), zu denen man sich jedoch ganz bekennt ())un-verschwiegen«), so ganz und gar, daß der Bund mit ihnen ))strahlend(( heißen kann, und das meint nicht nur: rückhaltlos und überzeugend, sondern wahre Solidarität darstellend und ausstrahlend -wie Licht. Von Licht spricht auch die zweite Strophe, wenn auch in seltsam verstellter Form. Unzweifelhaft soll man an Morgenrot denken, wenn es im Gedicht »Morgen-Lot« heißt. Und warum heißt dies Morgen-Lot »übergoldet« (und nicht golden)? »Morgen-Lot« meint offenkundig, daß das Morgenrot, mit dem stets Tag und Zukunft anheben. nur dann wahre Zukunft beginnt, wenn es wie ein Lot erfahren ist, das heißt als ein senkrechtes, untrügliches Maß fur das Rechte6 • Dieses Lot wiegt schwer. Es heißt »übergoldet«, das will sagen, daß unter dem goldenen Schimmer von Tag und Zukunft, die der Morgen verheißt, das Schwere da ist, das Gewicht der 6 Interessant ist hier die Lesart der Vorstufe: .das [unauslotbare1Morgen •. Sie gibt dem Ganzen eine andere Deutungsrichtung: die Ungewißheit des (nie ganz!) auszulotenden Morgen, und in .übergoldet. die Fragwürdigkeit des sich im Morgenrot ankündigenden Tages. Zu den Lesarten siehe unten Anm. 11.
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Erfahrung und der Bund mit den Verfolgten, und dieses Gewicht ist selbst etwas, das einen verfolgt. einen zum Verfolgten werden läßt. Das liegt unzweifelhaft in der Wendung der zweiten Strophe: es »heftet sich dir an die [... ] Ferse«. Dies Morgen-Lot ist wie ein Verfolger. Was meint das? Ist es ein Vorwurf gegen einen selbst, daß man überhaupt den Morgen erlebt, und statt mitzusterben. Zukunft hat? Aber von Sterben steht nichts da, wenn man es auch gewiß nur allzu nahe weiß, und es wäre ja auch kaum angemessen, injedem Falle im überleben ein Unrecht zu sehen. Wohl aber könnte es eine ständige Mahnung sein, die einen verfolgt und die einen heißt, die Verfolgten nicht zu vergessen und fur sie und die Zukunft des Menschen einzustehen. Der Fortgang des Gedichts macht dies letztere zum beherrschenden Sinn. Denn von der Ferse, an die sich das Morgen-Lot heftet und die von dem Morgen-Lot als zur Flucht gewandte Ferse ständig verfolgt wird, heißt es, sie sei »mit-schwörend, mit-schürfend, mit-schreibend«. Eine genaue Klimax innerhalb einer einheitlichen Bedeutungsrichtung: Bezeugen, Aufdekken, Bestätigen. Aber die Frage ist: Mit wem sollst »du« mitschwören (statt davonzulaufen)? Gewiß meint es im letzten Bezug: mit den Verfolgten und ihren Leiden, zu denen sich das Du unverschwiegen bekennt. Das Schicksal ist wie ein Schwur und eine unüberhörbare Kunde, und so heißt »mitschwörend« nicht so sehr Bezeugen, daß es so war. Es ist ja das Morgen-Lot, das Maß rur die Zukunft, das sich an die Ferse heftet. Es meint also den Schwur auf die Zukunft: daß es nie wieder sein soll. Nicht minder beziehungsvoll ist offenbar das zweite Attribut der Ferse: »mit-schürfend«. Schürfen muß man da, wo etwas nicht offenliegt, sondern aufgedeckt oder aus vid Unedlem zur reinen Gewinnung aufgearbeitet werden soll. Das wäre etwa der bleibende Gewinn aus erlittenem Unrecht und Leid. Wenn nun das dritte Glied dieser Klimax »mit-schreibend« ist, so wirdjeder Leser vor allem an den Dichter denken, der sich zu dem Bund mit den Verfolgten bekannt hat und sich selbst als einen Verfolgten bekennt, der von seinem Bund mit ihnen nicht loskommen kann und darf. Die Ferse des Schreibenden möchte enteilen, in ein Reich freundlicherer Imagination dichterischer Welt vielleicht - und er wird wie von einem Bleigewicht an seiner Aufgabe festgehalten, schreibend den Bund mit den Verfolgten zu bezeugen. Das könnte gemeint sein. So wäre die Klimax verständlich. Aber einige Fragen bleiben offen. Zunächst: kann man so die Steigerung dieser Klimax, die es notwendigerweise geben muß, verstehen? Dann müßte »mit-schreibend« gegenüber dem Schwören und Schürfen die am meisten unmittelbare Bezeugung und Fixierung der Botschaft meinen. Aber dem steht entgegen, daß die dreifache Worttrennung, die dreimal das »mit« für sich stellt, doch in allen drei Fällen das gleiche meinen muß. Es gibt aber nicht ebenso ein IMitschwören( oder IMitschürfen<, wie etwa .Mitschreiben<
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das unmittelbare Festhalten des genauen Wortlauts heißen kann. Man wird also die Klimax anders artikulieren müssen. Der Sprecher will so, wie er mit den anderen schwört und schürft, auch mit ihnen schreiben. Wenn man sich sträubt, die offene Steigerung, die im Bekenntnis zum Schreiben, im Bekenntnis des Dichtens liegen müßte, als den vollen Sinn des Ganzen anzuerkennen, so hilft vielleicht folgende Erwägung weiter: Mit wem sollst »du« eigentlich schwören und schreiben? Mit den Verfolgten? Gewiß, das kann, wie oben gezeigt, den Sinn haben, daß deren Leiden selber wie ein Schwur war und wie eine ein für alle Mal ftxierte Botschaft für alle. Aber nun frage ich: Muß man das alles ergänzen? Steht es nicht ganz unmittelbar im Text selber, nämlich als das »Morgen-Lot«? Es verkündet ja wirklich den Tag, und wenn es ihn allen verkündet und wenn es der Tag des Rechtes sein soll, des Lot-Rechten, der das geschehene Unrecht allen künder - ist es dann nicht sehr genau gedacht, daß dieses Morgenrot I Morgen-Lot es ist, das sich dir an die Ferse heftet, und daß du mit ihm, mit seiner Kunde unP. seiner Verpflichtung, die es unabweisbar allen auferlegt hat, mit-schwörst, -schürfst, -schreibst? Dann aber ist das Schreiben des Dichters in der Tat ein Höchstes, auf das die sich steigernde Rede zielt, weil es nicht nur das Tun des Dichters meint - es ist ein Mit-tun mit dem, was wir alle zu tun haben, wenn Zukunft sein soll. Wer bin ich - und wer bist du?
Fadensonnen über der grauschwarzen Odnis. Ein baumhoher Gedanke greift sich den Lichtton: es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen.
Es sind gewaltige Räume, die sich in der großen Gebärde dieses kurzen Gedichtes auftun. Ein meteorologischer Vorgang, den wir alle irgend wann einmal beobachtet haben, klingt an: wie über der grauschwarzen Odnis einer von schweren Wolken verhangenen Landschaft an Lichtfäden sich Lichträume und Lichtfernen örmen. Es scheint mir abstrakt und unanschaulich, wenn man, wie vorgeschlagen worden ist, unter» Fadensonnen« fadendünn gewordene Sonnen, eine nicht mehr, wie in besseren Tagen, runde Sonne, verstünde7 • Gewiß ist es eine spirituelle Landschaft (und keine Wetterstimmung), deren »grauschwarze Odnis« sich hier öffnet, über der die Fadensonnen stehen. Aber soll man dab~i nicht wirklich an die Fäden denken, die 7 Siehe dazu jetzt auch IPhinomenologischer und semantischer Zugang zu Celan?, in diesem Band, S. 468 f.
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die von Wolken verdeckte Sonne an den Wolkenrändern zieht? Wir sagen von der Sonne ja auch, daß sie Wasser zieht. Und hat es nicht etwas für einen jeden Erhebendes, ist es nicht eine rur einen jeden zugängliche Erfahrung von Erhabenheit, die ,der Himmel Trauerspiel( vermittelt? Es flillt auf, daß »Fadensonnen« eine Pluralform ist - ein in die anonyme Weite unendlicher Welten weisender Plural. Auf seinem Hintergrunde profiliert sich die Einzahl, die Einmaligkeit des Gedankens, der sich erhebt. Denn das ist es offenbar, was das Gedicht sagt: die ungeheuren Räume, die sich bei solchem Himmelsschauspiel öffnen, können die trostlose Menschenlandschaft vergessen machen, in der wahrlich nichts Erhabenes mehr sichtbar ist. So ist es ein »baumhoher Gedanke«, der sich da erhebt, ein Gedanke, der nicht in der Odnis der Menschenwelt vergeblich suchend herumirrt. sondern der den Maßen solchen Schauspiels gewachsen ist und wie ein Baum in den Himmel greift. Er »greift sich den Lichtton«. Der Lichtton, der so gegriffen wird. ist aber ein Lied-Ton. Der baumhohe Gedanke, der solchen Licht-Ton, wie ihn das Schauspiel der Fadensonnen rings verschwendet, sich greift, hat Maße, die alle menschlichen Maße und Nöte überwachsen. wie ein ins Riesige wachsender Baum. So ist die eigentliche Aussage des Gedichtes vorbereitet: "Es sind noch Lieder zu singenjenseits der Menschen. «
Im Schlangenwagen, an der weißen Zypresse vorbei, durch die Flut fuhren sie dich. Doch in dir. von Geburt, schäumte die andre Quelle. am schwarzen Strahl Gedächtnis klommst du zutag.
Das Gedicht zerflillt in zwei Sätze. Sie bilden zwei Strophen. Wieder ist es, wie so oft in diesen kurzen Gedichten. eine fast epigrammatische Antithese. die mit einem »Doch« einsetzt und beide Strophen zur Einheit verbindet. Die erste Strophe beschreibt die Lebenstrunkenheit. Denn was hier mit dem »Schlangenwagen« evoziert wird, ist Dionysos, der Gott des Rausches. Es ist die Lebensfahrt. die so beginnt, in der Hingabe an alles, was die Sinne bieten. Die »weiße Zypresse« - immerhin steht sie, dank der Verstrennung, fUr sich da. Wenn die Lebensfahrt - zunächst - an der weißen Zypresse vorbeiführt. so heißt das vielleicht, daß die Trunkenheit des Lebens auch den Tod noch umfärbt. Das schwarze Todessymbol der Zypresse ragt wie eine
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weiße leuchtende Säule, an der man, ganz von Leben umspült, sorglos vorbeikommt. Die Fahrt führt durch die Flut, die unaufhörlich anbrandenden Wogen sinnlicher Erfahrung. Wer der Führer ist, der durch diese Flut führt, bleibt unbestimmt. Der Plural »sie« macht immerhin eines klar: daß es nicht ich bin, was die Fahrt lenkt. Der Nominativ »ich« kommt in dem ganzen Gedicht nicht vor - obwohl ganz gewiß von niemand anderem die Rede ist als von mir, vonjedem Ich. Aber zunächst ist einjeder eben nicht Ich, sondern ein Dahingetragenes, und die Erfahrung, die das Gedicht beschreibt, ist genau diese, wie ich zum Ich werde. Daher der Nachdruck. der in diesem Gedicht auf dem Einwortvers »Geburt« liegt, diesem ersten Beginn der Ich-Werdung. Mit der adversativen Wendung »Doch« wird die Wendung nach innen genommen. Was geschildert wird, ist, wie das durch die Flut des Lebens dahingetragene sinnliche Wesen sich zum menschlichen Ich heraufbildet. Das ist wie eine Gegenbewegung, die gegen die Überflutung durch die Sinne einsetzt, und daher ist die Rede von der »andre[n] Quelle«. Sie »schäumte« von Geburt an. Das will sagen, daß es auch, wo wir es nicht wissen, aus dieser unergründlichen Quelle schäumt. und zwar unaufhörlich. Aber sie ist wahrhaft als Quelle erfahren und nicht wie die glitzernden und schimmernden Wellen der sinnlichen Erfahrung als eine blendende Flut, die einen rings umgibt. Diese »andre Quelle« ist vielmehr etwas, das aus dem Dunkel kommt. Sie heißt ein »schwarzer Strahk Erstaunlich, wie die sinnliche Kraft dieser Verse es dem Dichter erlaubt, ein so stark begrifilich belastetes Wort wie »Gedächtnis« einzubringen, ohne dadurch im geringsten lehrhaft zu werden. Gedächtnis ist der schwarze, ansteigende Strahl, es ist nicht die breite Flut des geistigen Besitzes, die sich angesammelt hat. Und in der Tat ist es nicht angesammeltes Wissen, sondern dieser aus dem Dunkel des Unbewußten kommende Strahl, in dem sich das Ich bildet. Ich, das sich selbst anredet, »klimmt« an ihm zutage, das heißt, das Gedächtnis, das innere Wissen von sich selbst, steigt nicht einfach an wie die aus der ersten anderen Lebensquelle breit strömende Flut der Sinne, sondern das Ich arbeitet sich mühsam, Schritt vor Schritt, in die Helle des seiner selbst bewußten Ich empor. Am Ende wird es sich selbst zum Du. Das ist der Anfang des Selbstbewußtseins. Aber das geschieht nicht, ohne daß der »schwarze Strahl Gedächtnis« ebenso weiterschäumt, wie die reißende Flut der Sinne weiter dahinströmt. Man wird wohl beachten dürfen, wie das» Weiß« des zweiten Verses und das »Schwarz« des drittletzten Verses aufeinander antworten. Auch die Zypresse wird in dem schwarzen Strahl Gedächtnis ihre natürliche Farbe, ihren wahren Symbolsinn wiedergewinnen. Von sich wissen heißt wissen, was der Tod ist.
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Harnischstriemen, Faltenachsen,
Durchstichpunkte: dein Gelände. An beiden Polen der Kluftrose, lesbar: dein geächtetes Wort. Nordwahr. Südhell.
Zwei Aussagen, gegeneinandergestellt, aber eine der anderen entsprechend: Gelände und Wort. »Dein Geländeu ist das Gelände »deines" Wortes. So hängen die bei den Strophen zusammen. - Gegen den ersten Anschein, dem ich in der ersten Auflage dieses Kommentars selbst erlegen war, wechselt auch die Bildsphäre nicht. Da ist nicht erst von dem kampfbereiten Fechter und dann von dem unbeirrbar den Kurs haltenden Steuermann die Rede. Die ungewohnten Ausdrücke »Harnischstriemenu, »Faltenachsen«, »Durchstichpunktec( der ersten Strophe und dann der Ausdruck »Kluftrose« der zweiten Strophe haben mich in die Irre geflihrt. Sie gehören zusammen und entstammen dem gleichen semantischen Feld. Es sind alles Fachausdrücke der Geologie. Die ersten drei Ausdrücke beschreiben - wie man dann sofort errät und wie ich auch hätte erraten können - Formationen der Erdkruste, und jedenfalls meinen sie, wie ich richtig sah, den Panzer der Sprache. Das Gelände ist das Gelände des Wortes. Wie ich jetzt deutlicher sehe, sind es alles Beschreibungen des Geländes, seiner Verkrustungen und Verwerfungen und der Punkte, an denen eine tiefere Schicht nach oben geraten ist. Mehr liegt nicht in den seltsamen Ausdrücken. Ich ging zu weit, als ich folgendes schrieb: »Die erste Welt, die des degenfechtenden Wortes, ist nicht im Sinne eines Gegenüber zweier Kämpfer, sondern von dem einen her gesehen. In Wahrheit vom Wort her, das prüft und versucht, einen Panzer zu durchstoßen. Das Wort ist ein )Degenc, der in der Rüstung zu entdecken sucht, wo er durchstoßen kann. Wessen Rüstung? Der Rüstung, die aJle tragen. die reden? Das ist es offenbar, worum es geht: durch den Panzer der Sprache auf die Wahrheit durchzustoßen. ce Daß etwas nicht stimmte, zeigte sich daran, daß ich DHarnischstriemen« nur als vom Harnisch am Körper hervorgerufene Striemen verstehen konnte, ))Faltenachsen« sowie »Durchstichpunktec( mußten dagegen den Harnisch-Panzer selbst bezeichnen. Inzwischen weiß ich, daß diese kriegerisch tönende Geländebeschreibung normale Fachwörter aUs dem Gebrauch des Geologen benutzt. Das Poetische an ihnen hat offenbar den Dichter inspiriert. Die Ausdrücke lassen des Dichters - jedes Dichters - Verhältnis zur Sprache anklingen. Es geht um den Panzer der Sprache und die Erstarrungstendenz, die in Sprache liegt. Die Schwierigkeiten, die ich mit dem Zusam-
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menhang von Harnischstriemen und Faltenachsen hatte, erweisen sich nunmehr als gegenstandslos: so besclu;eibt der Geologe die Erdkruste. Es war also falsch, wenn ich bei ))Durchstichpunkte« an den spähenden Blick des Fechters dachte, der die feindliche Rüstung zu durchstechen versucht. Auch dieser Ausdruck war nicht des Dichters barocke Erfindung, s~>ndern ebenfalls in der geologischen Fachsprache vorfmdlich. Immerhin geht es auch in dieser Sprache darum, die Schichtung und Lagerung der Erdkruste von den sichtbaren Formationen aus zu beschreiben, an denen alles Eindringen in das Geheimnis des Erdinnem, das Amt des Geologen, sich zu orientieren sucht. Orientierung ist das Leitwort, und nichts anderes: Orientierung in den vorfindlichen Formationen des Geländes, die von der Bildungsgeschichte unserer Erdoberfläche zeugen - Orientierung also im Gelände der Sprache, das in seinen Formationen erstarrt ist, in Grammatik, Wongebrauch, Satzbau und Meinungsbildung. Für alles gibt es feste Regeln und Konventionen, und doch gibt es zugleich Punkte, wo das Eindringen in tiefere Schichten möglich ist. Einem mit den geologischen Fachausdrücken Vertrauten wird dabei das Bild vom Fechter, der die Rüstung zu durchstoßen sucht, bei »Durchstich« gar nicht kommen. Aber insofern hatte ich nicht unrecht, als das Gedicht die Erfahrung beschreibt, die der Dichter mit der Sprache macht, wenn er die starren Konventionen des Wortgebrauchs - und des )Geredes< - zu durchbrechen sucht. Den wahren Gewinn brachte mir die )geologische< Aufklärung aber fur die zweite Strophe. Orientierung im Gelände bleibt in ihr die beherrschende Bildsphäre. Auch »Kluftrose« ist ein geologisches Fachwort und bezeiclmet ein Orientierungsinstrument, das, wie der Kompaß, auf einer Skala anzeigt. Jeder Student der Geologie kennt das, und so hat wohl auch unser Poeta doctus in diesem Falle kein Lexikon oder Nachschlagewerk benötigt. Es geht also auch hier um Orientierung, die das Wort des Dichters braucht. Folgte man der Weisung, die das Gedicht selber nahelegt, kann man schwerlich bezweifeln, daß durch die Pole Nord und Süd, von denen im ersten und letzten Vers der Strophe die Rede ist, der Fahrtenkompaß ins Spiel kommt und damit das Finden und Halten der rechten Richtung - wenn man auch nicht auf offener See ist. Zwar weiß ich noch immer nicht, wie der Geologe mit diesem Geländekompaß, den er »Kluftrose« nennt, im einzelnen arbeitet, aber ich denke, das Gedicht erläßt uns hier weitere Spezialerkundungen bei dem geologischen Mann. Das Gedicht lädt uns ja zur Umsetzung ein, und diese Umsetzung fUhrt ausdrücklich in die Sphäre des Wortes. Das wird hier eindeutig klar. Denn es heißt: »dein geächtetes Wort«. Das Wort ist geächtet. Das ist nicht nur ein starker Ausdruck rur mißachtet oder verachtet. Es meint auch: gehaßt und verfolgt. Jemand ist geächtet. der nirgends Heimatrecht hat. der vogelfrei ist, weil er in die Acht getan wurde. Nun sagt der Text offenbar, daß dies Wort zu Unrecht in die Acht getan ist - es ist eben dieses Wort, das die gerade
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Richtung hält und durch nichts von der rechten Richtung, der Richtung auf das Rechte hin, abzubringen ist. Es folgt unverrückbar klar und unbestechlich der Richtung, die die Kluftrose anzeigt. Nun heißt es in der Strophe: diese Kluftrose soll an beiden Polen lesbar sein, an Nord wie an Süd. Das Wort muß gleichsam die gesamte Skala möglicher Abweichungen kennen, von denen es bedroht ist. An beiden Polen soll dies vogelfreie Wort lesbar sein, das selber ungeschützt ist. Damit erhält das Wort »geächtet« hier einen genauen Sinn: Das Wort ist auf sich allein angewiesen - es wird von allen abgewiesen, von allen Seiten als unbequem empfunden, wegen der Geradlinigkeit der Wahrheit, die es sagt. Das heißt in einem, daß das Wort wahr ist: Nordwahr, und daß es hell ist: Südhell. Nun heißt dies Wort hier »dein« Wort. Wer ist hier angeredet? Es gibt gewiß keinen festen Grundsatz, unter dem man die Frage) Wer bin ich und wer bist du?< in Celans Gedichten (oder in Gedichten überhaupt?) zur Auflösung bringen kann. Ich glaube nicht, daß man immer nur dann an ein Du in diesen Gedichten denken soll, wenn von einem Du die Rede ist, und an den Dichter nur dann denken soll, wenn er auch »ich« sagt. Beides scheint mir falsch. Will man ausschließen, daß ein Ich zu sich selbst »du« sagt? Und wer ist Ich? Ich ist nie nur der Dichter. Es ist immer auch der Leser. Ichvergessenheit hat Celan in der Meridian-Rede mit Recht als den Charakter eines Gedichtes hervorgehoben. Wessen Wort ist es also? Des Dichters? Des Gedichtes? Oder ein Wort, das das Gedicht nur wiederholt und verkündet? Oder gar ein Wort, das wir alle kennen? Was hier »dein« und damit »du« heißt, steht gewiß nicht von vornherein fest. Es muß nicht einmal, wie ich zunächst verstand, in einer Art Selbstanrede der Dichter oder das Gedicht sein, was im Gelände der Sprache Orientierung gibt. Es kann auch etwa das Wort Gottes sein, das vielleicht an den rechten Durchstich-Punkten im Erdpanzer hervorbricht - als Offenbarung. »Dein geächtetes Wort« könnte sogar auf die zehn Gebote des Alten Testaments gehen, die als Nord-SüdAchse die sichere Orientierung geben sollten. Oder auf welches wahre Wort immer. So mag man am Ende keinen Anlaß haben, zwischen dem Wort des wahren Gottes und dem Wort des wahren Dichters und dem wahren Wort überhaupt zu scheiden. Celan hat uns hierzu in seiner Meridian-Rede so etwas wie eine Legitimation erteilt. Dort zählt er zu den Hoffnungen des Gedichtes, "in eines Anderen Sache zu sprechen - wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache«. Ausdrücklich wiederholt Celan die Anspielung auf das »ganz Andere«, den religionsgeschichtlichen Terminus von Rudolf Otto rur das Heilige. So kann auch das Gedicht das wahre Wort und zugleich das geächtete Wort sein. Es kennt die Durchstichpunkte durch die Krusten des Geredes - erst dann gelingt es als Gedicht, und der Dichter mag sein Wort durchaus geächtet nennen, auch noch, nachdem er durch die Verleihung des Büchner-
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Preises ausgezeichnet war. Wir brauchen uns nicht zu fragen: Wer bin ich und wer bist du? Das Gedicht sagt zu jeder Antwort ja. - Nun schließen sich die beiden Strophen zu einer klaren Einheit zusammen. Es geht um Orientierung im Gelände der Sprache. Wie der Geologe an den Formationen des an die Oberfläche Getretenen die Erdtiefe mehr errät als erreicht, so sucht auch das Wort des Gedichts in eine verborgene Tiefe einzudringen, indem es, auf sich selbst gestellt, seinem wahren Kompaß folgt.
Wortaufschüttung, vulkanisch, meerüberrauscht. Oben der flutende Mob der Gegengeschöpfe: er flaggte - Abbild und Nachbild kreuzen eitel zeithin. Bis du den Wortmond hinausschleuderst, von dem her das Wunder Ebbe geschieht und der herzförmige Krater nackt für die Anfange zeugt, die Königsgeburten.
Den Schluß der Gedichtfolge bilden zwei Gedichte: I Wortaufschüttung' und )Weggebeizt<. Sie schließen einen in Klammem gesetzten Vierzeiler ein, vier Verse, die sich durch das konventionelle Metrum und den konventionellen Reim-Stil herausheben und wohl gerade durch diese Stilmittel einen eigenen Charakter gewinnen. Wie viele Gedichte dieser Folge ist auch) Wortaufschüttung( von einem einfachen Gegensatz beherrscht. Es spricht von dem Ereignis des Wortes wie von einer vulkanischen Explosion, die es gegen das alltägliche Treiben des Sprechens abhebt. Gleich der Eingang beschreibt die volle Landschaft: Die Wortaufschüttung ist Gestein aus vulkanischem Ursprung, das aus der Tiefe kommt und, erkaltet, wie ein Meeresgebirge, das heißt vom Wasser des Meeres überrauscht, daliegt. So ist Sprache da: als versteinertes Gebilde früherer Lebensausbrüche und als Schöpfung, die es war, verdeckt von dem alles verzehrenden, alles vergleichenden, eintönig flutenden Meer. Denn das eigentliche Gestein der Sprache ragt überhaupt nicht mehr aus den schäumenden Wassern heraus. Was als Sprache sichtbar wird, heißt vielmehr »Gegengeschöpfe«, ein flutender Mob. das heißt ohne Namen und Herkunft und Heimat.
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Der Mob »flaggt~, das heißt schmückt sich mit etwas, auf das er stolz ist und das doch nicht in Wahrheit seines ist, sondern so willkürlich gewählt und aufgezogen wie die Wimpel der Sonntagssegler. Die Gegengeschöpfe kreuzen auf der Oberfläche der Sprache DZeithin«, das heißt ohne Richtung und Ziel, aber doch so sehr von der Zeit getrieben, daß keine Dauer in ihnen ist. Sie sind »Abbild und Nachbild« des echten Wortes, das heißt: sie tönen bloß nachahmend oder im Nachklange echter Schöpfungen, ein eitles Treiben, das fort und fort geht, bisAuf dieses »Bis« zielt alles hin. Durch das Ereignis des neuen Ausbruchs wird das oberflächliche Treiben in seiner ganzen Eitelkeit und Scheinbildhaftigkeit aufgedeckt. Es ist eine großartige kosmische Metapher, die das Ereignis echter Sprachwerdung beschreibt: »du~ -jenes namenlose Du, das nur der kennt und erkennt, für den es Du ist - »schleuderst« den Wortmond »hinaus«. Man muß sehr genau hinhören. Gewiß möchte man zunächst das Bild von der Ausschleuderung des Mondes aus der Erde (eine Meinung über die Entstehung des Mondes, die ja noch bis vor kurzem weit verbreitet war) unmittelbar mit der» Wortaufschüttung« zusammenbringen, die unter dem flutenden Meer der Reden der verborgene Grund der Sprache ist. Indessen scheint in kühner Hyperbolik dieser» Wortmond« mehr MOlld als Wort. Nicht das runde, leuchtende und immer wieder neu und rund aufleuchtende Wort selbst, etwa das des neuen Dichters, kann »der Mond« sein, der da hinausgeschleudert wird. Die Wendung »der Wortmond« - und nicht: »ein Wortmond« -läßt sich allein deuten in dem Sinne, daß der Herr der Zeitenund Erdenstürme sich immer wieder des gleichen Mittels bedient, um die Anfänge rur ein echtes neues Sprachgeschehen freizulegen. Denn es ist ja nun von der neuen Schwerewirkung die Rede, die von diesem Mond ausgeht und die das verborgene Gebirge der Sprache trocken fallen und so den wahren Ursprung sichtbar werden läßt. Der ganze sprachkonventionelle Wust verläuft sich wie Brackwasser. Das» Wunder Ebbe« geschieht, nämlich das Wunder, daß dort, wo unbetretbares Element des Schwankens schien. festes Land auftaucht, das Halt und Stand zu gewähren vermag. Nun heißt es, was da trocken fällt. lege den »herzrormigen Kraterl< frei. der rur die Anfänge zeugt. Das will sagen: an dem, was neu sichtbar wird, erkennt man endlich die Gewalt von Stauung und Entladung wieder, aus der von jeher das Dichterwort seine Spannungskraft und seine Dauer gewinnt. Wenn es weiter heißt, daß es »Königsgeburten« sind, die hier bezeugt werden, das heißt Gründer von Dynastien, so ist es ja wirklich eine ganze Dynastie der Sprache. unter der wir sprechend stehen und die uns in den großen Schöpfungen der Dichtung. die in dieser Sprache gelangen, regiert. Oder nehme ich den Dichter hier allzu wörtlich - oder nicht wörtlich genug? Jener Wortmond. den »du«, wie es scheint, von Zeit zu Zeit aus der
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durch das Gerede verdeckten Tiefe hinausschleuderst und der dem eiden Scheintreiben von Reden und Gedichten ein Ende macht, ist am Ende doch selber Wort, und eben doch rundes, echtes, vom Lichte widerleuchtendes Gestein. Die Schwerewirkung, die er im Schaffen der Gezeiten ausübt, ist die des Wortes allein. Denn nur das Wort selber legt frei und kann freilegen, was echtes Wortgestein ist, und läßt so nicht nur alle die IIAnfänge«, die als Schöpfungen der Dichtung unser Sprechen regieren und die über dem eitlen Kreuzen des hin- und hertreibenden Redens verschwunden waren, sichtbar werden, sondern auch sich selbst. Versteht man so, dann ist der Wortmond der Inbegriff des vollen Mondwortes, in dem alle neuen Eruptionen aus dem vulkanischen Grunde in sich zusammengefaßt sind. So ist der Mond das Wort selber. Und in der Tat ist es so, daß wir nicht nur die neue Sprachschöpfung, die dem Dichter gelingt, erfahren, sondern unter ihrem Eindruck alle königlichen Gestalten unserer Sprache neu entdecken. Das sind die »Königsgeburten « - etwas, was lang zuvor geschah, Herrschaft begründend, und was neu in seiner herrschaftlichen Gültigkeit wirksam wird durch das neue Gedicht. Jedes wahre Gedicht rührt an die verborgenen Tiefen des Sprachgrundes und seine schöpferischen Gestaltungen. Es erkennt Herrschaft und stiftet neue Herrschaft unter der eigenen Dynastie. Injedem Falle, es ist eine Metapher, die in wunderbarer Weise das wahre dichterische Wort wie ein kosmisches Ereignis beschreibt, aber nicht nur als etwas, das nichts zerstört, was wahr ist, und das Wahre aufdeckt, sondern vor allem als ein Wort, von dem keiner, auch der Dichter nicht, sagen kann: Es ist mein Wort. Der Dichter hißt keine Flagge.
(Ich kenne dich, du bist die tiefGebeugte~ ich, der Durchbohrte, bin dir untenan. Wo flammt ein Wort, das fUr uns beide zeugte? Du - ganz, ganz wirklich. Ich - ganz Wahn.)
Das Ich, das hier spricht und das am Ende von sich gt:steht, daß es »ganz Wahn« sei, verwandelt sich in diesen Versen nicht injenes allpräsente Ich, in dem sonst im lyrischen Gedicht Dichter und Leser in eins verschmolzen sind. Die Klammer klammert es auf die Partikularität des Ich-Sagenden ein und von der Allgemeinheit aus, die das lyrische Ich sonst besitzt - und sie klaminert damit auch das angeredete Du ein, so daß das Ganze etwas von dem Charakter einer diskreten Widmung oder der Signatur eines Gemäldes empfängt, und das so, daß die Verse in ihren Motiven mit denen der Pieta spielen (Tiefgebeugte/Durchbohrter). Die Aussage dieser vier Verse selber behält aber ihren festen Bezug auf die Gedichtfolge, in die sie eingefiigt sind - freilich mit einer Gebärde des
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Rückzugs. Der Dichter, der hier von sich - und nicht von uns allen - »ichcc sagt, ist gleichsam vor dem Anspruch erschrocken, in seinem Wort Wirklichkeit sein zu sollen und die Wirklichkeit derer mit auszusagen, die so ganz anders wirklich ist als er. 11 Wo flammt ein Wort, das für uns beide zeugte?cc klingt wie ein Verzicht, dessen sich der Dichter bewußt ist, auch im wahrsten Wort nicht an das zu reichen, was 11 ganz, ganz wirklich« ist. Indessen, gerade diese Gebärde von Eingeständnis und Verzicht, die hier wie zwischengeschoben wirkt, schließt in Wahrheit die beiden Gedichte, die den Schluß des Zyklus IAtemkrista111 bilden, besonders zusammen. Es sind zwei Gedichte über die Sprache, und im besonderen über die wahre Sprache, die die Sprache des wahren Dichters ist.
Weggebeizt vom Strahlenwind deiner Sprache das bunte Gerede des Anerlebten - das hundertzüngige Meingedicht, das Genicht. Ausgewirbelt, frei der Weg durch den menschengestaitigen Schnee, den Büßerschnee, zu den gastlichen Gletscherstuben und -tischen. Tief in der Zeitenschrunde, beim Wabeneis wartet, ein Atemkristall, dein unumstößliches Zeugnis.
Das Gedicht ist klar in drei Strophen gegliedert, die aber von ungleicher Verszahl sind. Es ist wie ein zweiter Akt des dramatischen Geschehens, das in )Wortaufschüttungl evoziert worden war. Nach dem Ereignis, das das falsche Scheinen von Sprache zerstört hat, setzt dieses Gedicht ein. Nur so bestimmt sich, was mit dem »Strahlenwind deiner Sprache« gemeint ist: ein Wind, der aus kosmischen Femen hereinbricht und durch die Helle und Schärfe seiner elementaren Kraft das »Gerede des Anerlebten« wegbeizt wie einen trübenden Beschlag. Das aber sind a11 die Scheingedichte, die hier das "bunte Gerede« heißen. Das Gerede ist bunt, weil die Sprache solcher
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Scheinschöpfungen beliebig ist, vom bloßen Bedürfuis der Schmuckwirkung, des Ornatus, motiviert und daher ohne eigene Farbe und ohne eigene Zunge - Scheinschöpfungen der Sprache, die eben, weil sie so beliebig sind, in hundert Zungen reden, das heißt aber: in Wirklichkeit gar nichts bezeugen - sozusagen falsches Zeugnis ablegen. Das ist das »Mein-gedicht«8, das falschen Eid leistet und ein •• Genicht« ist, das heißt nichtig trotz allem Anschein eines Gebildes. Die Rede vom »Strahlenwind deiner Sprache« spricht in der kosmischen Grundmetapher weiter, in der das Gedicht )Wortaufschüttung( sich bewegte. »Deine Sprache« ist die Sprache des den Wortmond hinausschleudernden Du, also nicht so sehr die eines Dichters, dieses Dichters als solchen, sondern die Erscheinung der Sprache selber, der wahren, leuchtenden und runden Sprache. Sie beizt alles falsche Zeugnis weg, das heißt, sie entfernt es so, daß keine Spur von ihm nachbleibt. Dabei mag »Strahlenwind« die kosmischen Dimensionen dieses Ausbruchs heraufrufen, aber gewiß auch und vor allem die Reinheit und strahlende Helligkeit, die wahre Geistigkeit der Sprache, die nicht nachgemachte und nachempfundene Aussagen vortäuscht, sondern alle solchen entlarvt. Aber nun erst, wenn der »Wind deiner Sprache« in seiner strahlenden Reinheit hereingebraust ist, beginnt der Weg zum Gedicht, zum »Atemkristall«, das nichts als das reine, von strengster Geometrie strukturierte und aus dem leisen Nichts des Hauchs ausfallende Gebilde ist. Der Weg ist jetzt frei. Das eine Wort »frei« dehnt sich über die ganze Länge einer Verszeile, so wie die Silbe »Aus-« eine ganze Verszeile einnahm. In der Tat, der Weg, der frei ist, ist als Weg sichtbar geworden, nachdem der Strahlenwind den alles verdeckenden und alles gleichmachenden Schnee »ausgewirbelt« hat. Der Weg ist wie der eines Pilgers, der in eisige Höhen führt. Der Pilger durchschreitet den »Büßerschnee«9, das ist das Unwirtliche, Abweisende, Kalte, Entsagungfordernde und Eintönig-Gleiche, das der büßende Pilger sich zumutet zu überstehen. Ohne Zweifel muß man dies Visuelle in die Sphäre des Sprachlichen umsetzen: Denn es ist menschengestaltiger Schnee, was zu durchschreiten ist. Es sind die Menschen mit ihrem Gerede, das alles bedeckt. Aber wohin führt der Weg dieser Wanderung? Offenbar ist es kein Pilgerheiligtum, sondern die Gletscherwelt selber mit ihrer hellen, klaren Luft, die wie eine Gaststätte den ausdauernden Pilger aufnimmt. »Gastlich« heißt diese Welt des ewigen Eises, weil nur Anstrengung und Ausdauer hinführten und daher dort kein wahlloses menschliches Schneetreiben mehr herrscht. Der Weg dieser Wanderung ist so am Ende der Weg der Reinigung 8 Vgl. dazu unten, S.435f. und .Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan?" in diesem Band, S. 464f. 9 Vgl. dazu unten, S. 445f.
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des Wortes, das sich allen vielfach sich andrängenden Aktualitäten und Sprachmustern versagt und im Schweigen und Wägen geübt hat. Es fuhrt die Höhenwanderung im winterlich unbetretenen Gebirge zu einer gastlichen Stätte. Wo man fern genug von den Aktualitäten des menschlichen Treibens ist, ist man dem Ziel nahe. dem Ziel, das das wahre Wort ist. Das, was auf einen dort wartet, liegt auchjetzt noch tief verborgen: Tiefin der Zeitenschrunde. Es klingt wie eine Spalte, die sich im Gletschereis unauslotbar auftut. Aber es ist eine »Zeitenschrunde«. ein Riß im gleichmäßigen Fluß der Zeit. an einem Orte, da die Zeit nicht mehr fließt, weil auch sie. wie alles, in starrer Ewigkeit steht. Dort, »beim Wabeneis« - auch das ist von bezwingender optischer und klanglicher Anschaulichkeit: Eis, das wie Waben in einem Bienenstock geschichtet und gebaut ist, ist von unveränderlichem Bau, das heißt von allen Einflüssen der ,reißenden Zeit< abgeschirmt - und dort »wartet« das Gedicht, der Atem-Kristall. Gewiß soll man dabei den Kontrast empfmden, der zwischen den ringsum aufgebauten Wänden von Eis und dem winzigen Kristall des Atems besteht, diesem flüchtigsten Dasein eines geometrischen Wunders. wie es die feingezeichnete Schneeflocke ist, die an einem kalten Wintertage einsam durch die Luft wirbelt. Dies Einzelne, Kleine, ist dennoch Zeugnis. Es heißt »unumstößliches Zeugnis«, offenbar im klaren Gegensatz zu den meineidigen Zeugenaussagen 'gemachter( Gedichte. Woflir es zeugt (»dein« Zeugnis), ist ein Du - das vertraute, unbekannte Du, das dem Ich. das hier das Ich des Dichters wie des Lesers ist, sein Du ist, »ganz, ganz wirklich«.
1. Das Recht des Lesers Wenn man die literaturwissenschaftliche und literaturkritische Resonanz auf das Werk von Paul Celan, wie sie mittlerweile .vorliegt, mustert. empfindet der Liebhaber Celanscher Verse vielfach eine gewisse Enttäuschung. Was da von Kennern und Kundigen über dieselben gesagt wird. oft mit viel Subtilität, manchmal mit wirklicher Penetrationskraft, macht doch alles, gewollt oder ungewollt. die Voraussetzung, man verstünde die Verse und urteile aufgrund dieses Verständnisses, etwa wenn man das beklemmende Scheitern des Dichters im kryptisch werdenden Wort oder sein jähes Verstummen feststellt. Für das Verständnis des noch nicht verstummten Wortes dagegen scheint mir bisher zu wenig getan. Für den Celan-Leser bleibt eine der dringendsten Aufgaben noch weitgehend unerf'üllt. Wessen er bedarf. ist nicht eine kritische Beurteilung. die feststellt. daß man nicht mehr versteht, sondern dort anzusetzen. wo man zum Verständnis vorzudringen vermag. und dann zu sagen. wie man versteht. In guten alten Zeiten nannte man das ganz schlicht ,Realinterpretation(. Man sollte deren Recht und Möglichkeit
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nicht leichtfertig preisgeben. am allerwenigsten bei einem so traditionsbewußten Dichter. wie Celan war. Es geht dabei nicht darum. die Eindeutigkeit des vom Dichter Gemeinten zu ermitteln. Das schon gar nicht. Auch nicht darum geht es, die Eindeutigkeit des >Sinnes< festzulegen, den die Verse aussprechen. Eher schon geht es um den Sinn des Vieldeutigen und Unbestimmten, den das Gedicht aufgerührt hat und der kein Freiraum der Willkür und des Beliebens des Lesers ist, sondern der Gegenstand der hermeneutischen Anstrengung, die diese Verse verlangen. Wer die Schwierigkeit dieser Aufgabenstellung kennt, weiß, daß es sich nicht darum handeln kann, alle Konnotationen namhaft zu machen, die das >Verständnis< dichterischer Gebilde anklingen läßt, sondern darum, die Sinn-Einheit, die einem solch~n Text als einer sprachlichen Einheit zukommt, so weit sichtbar zu machen, daß die sich an ihn anschließenden unüberschaubaren Konnotationen ihren Sinn-Halt finden. Das ist bei einem Dichter, der die Verfremdung natürlichen Sprechens so hochgezüchtet hat wie Celan, stets voller Risiken und bedarf der kritischen Kontrolle. Einem Versuch, in dem gewiß viele Irrtümer stecken werden, der aber als Aufgabe durch nichts abgelöst oder ersetzt werden kann, ist dieser Kommentar gewidmet 10. Daß gerade die Folge >Atemkristall<, die ehedem gesondert veröffentlicht worden ist und den Band >Atemwende< einleitet, hier behandelt wird, hat zunächst keinen anderen Grund, als daß ich diese Gedichte einigermaßen verstanden zu haben glaube. Es ist aber ein alter hermeneutischer Grundsatz, daß man bei der Interpretation von schwierigen Texten dort.einsetzen muß, wo man ein erstes, halbwegs sicheres Verständnis besitzt. Ob die Folge >Atemkristall<, wie mir scheinen will, obendrein einen Höhepunkt der Celanschen Kunst darstellt und es insofern mehr als zufalüg ist, daß ich diese Gedichte gerade noch zu verstehen: glaube, weil sie mir weniger als manche seiner späteren Gedichte ins UnentzifIerbare versinken, mag dahingestellt bleiben. Ich bin mir bewußt, daß die Welt Paul Celans von der überlieferungswelt, in der ich selber - wie die meisten seiner Leser - aufgewachsen bin, weit abliegende Ursprünge besitzt. Mir fehlt originale Kennerschaft der jüdischen Mystik, der Chassidim (die auch Celan wohl nur aus Buber kannte), und vor allem der östlich-jüdischen Volksbräuche, die für Celan den selbstverständlichen Grund bildeten, aus dem heraus er sprach. Mir fehlt auch die erstaunlich detaillierte Naturkenntnis des Dichters, und oft wäre man für Belehrung in der einen oder anderen Richtung im Grunde dankbar. 10 Die vorangehenden Bemerkungen beziehen sich auf die Beiträge in dem Sammelband von DI&TLIND MEINECKE (Ober Paul Celan. Frankfurt 1970, erw. Auf!. 1973). Die reiche spätere Forschung bringt gewiß vieles Wissenswenes, aber muß sich doch dem Maßstab unterwerfen, den ein Leser hat, der die Sinn-Einheit dieser Gedichte sucht, die er liest.
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Aber solche Belehrung hätte auch ihr Bedenkliches. Man geriete in eine gewisse Gefahrenzone: es könnte geschehen, daß man Kenntnisse aufböte, die der Dichter vielleicht selber nicht besaß. Celan hat gelegentlich vor solchem Wissenseifer gewarnt. Selbst wo uns Kenntnisse oder gar vom Dichter selber stammende Informationen helfen - noch die Legitimität solcher Hilfe entscheidet sich am Ende an der Dichtung selbst. Die Hilfe kann ,falsch( sein - und sie ist ,falsch(, wenn die Dichtung sie nicht voll einlöst. Eine gewisse Einübung verlangt freilich jeder Dichter, und so ist auch hier die ,Sprache( des Dichters aus dem Kontext seines Werkes nicht abgelöst. Vielleicht werden uns die erhaltenen Vorstufen der Celanschen Gedichte weitere Hilfe bringen - selbst diese wäre aber keine eindeutige, wie das Beispiel Hölderlins uns gelehrt hat. Alles in allem scheint mir der Grundsatz gesund, Dichtung nicht als gelehrtes Kryptogramm für Gelehrte anzusehen, sondern als für die Angehörigen einer durch Sprach gemeinschaft gemeinsamen Welt bestimmt, in der der Dichter ebenso zu Hause ist wie sein Hörer oder Leser. Wenn es dem Dichter gelungen ist und wo es ihm gelungen ist, sprachliche Gebilde zu gestalten, die in sich stehen, sollte es dem dichterischen Ohr möglich sein, das Gültige auch unabhängig von solchem Einzelwissen und jenseits von ihm zu einiger Klarheit zu erheben und damit der Präzision nahezukommen, die das offene Geheimnis dieser kryptischen Poesie ist. Freilich, das Verfahren, ein Gedicht zu verstehen, verläuft nicht auf einer einzigen Ebene. Zwar ist es zunächst nur eine einzige Ebene, in der es vorliegt: die der Worte. Die Worte verstehen ist daher das allererste. Ohnehin ist jeder der betreffenden Sprache Unkundige ausgeschlossen, und da die Worte eines Gedichts die Einheit einer Rede, eines Atems, einer Stimme sind, sind es auch durchaus nicht nur die einzelnen Wörter, deren Bedeutung man verstehen muß. Vielmehr legt sich die genaue Bedeutung eines Wortes erst durch die Einheit einer Sinnfigur fest, die die Rede bildet. Das kann eine noch so dunkle, spannungsvolle, rissige, zersprungene und brüchige Einheit sein, die die Sinnfigur dichterischer Rede besitzt - die Polyvalenz der Wörter legt sich im Vollzug des Redesinnes fest und läßt die eine Bedeutung sich ausschwingen, andere nur mitschwingen. Darin ist Eindeutigkeit, die allem Sprechen mit Notwendigkeit eignet, auch dem der poesie pure. Das sollte selbstverständlich sein, und es scheint mir durchaus irrig, zu leugnen, daß nicht jedes Wort erst einmal in der genauen Konkretion seiner Bedeutung in der Rede erfaßt werden muß und daß diese allererste Ebene des Verstehens nicht übersprungen werden darf. Das gilt vollends für Paul Celan, bei dem das einzelne Wort sehr konkret und präzise gesagt ist. Man kann gar nicht genau genug erwägen und ermitteln, was die Rede 'zunächst< sagt, wenn sich auch die eigentliche Präzision des Gesagtseins, die die Rede ein Gedicht sein läßt, auf dieser ersten Ebene der Wörter, ihrer Bedeutungs- und Benen-
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nungsfunktion und der Redeeinheit, die sie bilden, hicht erfüllt. In Wahrheit kann man sich in ihr gar nicht halten. Denn immer schon sind verschiedene Ebenen ineinandergeschoben. Das macht die Aufgabe des Verstehens so schwer. Aber was heißt hier überhaupt ,verstehen Es gibt sehr verschiedene Formen von> Verstehen<, die sich in einer gewissen Unabhängigkeit voneinander zu vollziehen vermögen. Doch ist schon in der älteren hermeneutischen Theorie die Verflechtung der verschiedenen Interpretationsarten miteinander immer betont worden, auch wenn man, wie insbesondere F. A. Boeckh in seiner Methodenlehre der Interpretation, sich bemüht, die ver,. schiedenen Interpretationsmethoden scharf voneinander getrennt zu halten. Das gilt insbesondere von der älteren Lehre von dem vierfachen Schriftsinn, daß sie nur eine Beschreibung der Dimensionen des Verstehens ist. Was ist bei Celan >sensus allegoricusmeint<, sondern im einen das andere, im Gesagten gar nicht es und im >Nicht es< gleichwohl nichts anderes >meint<, sind nicht nur verschiedene Ebenen des Sagens unterschieden, sondern gerade auch in ihrer Verschiedenheit in eins gebunden. Da gibt es keine Allegorien. Alles ist es selbst. Das dichterische Wort ist in dem Sinne >es selbst<, daß nichts anderes, Vorgegebenes, da ist, an dem es sich mißt- und doch gibt es kein Wort, das nicht außer ihm selbst - und das heißt: außer seiner vielschichtigen Bedeutung und dem mit dieser Bedeutung in ihren verschiedenen Ebenen Benannten - nicht auch noch sein eigenes Gesagtsein wäre. Das aber heißt, daß es Antwort ist. Antwort schließt Fragen ein und schließt Fragen ab, d. h. aber, das Gesagte ist nicht aus sich selbst allein, auch wenn nichts sonst vorzeigbar ist als seine Sprachwirklichkeit. Das ändert nichts an dem unbegreiflich Verbindlichen eines Gedichts, daß es in sich selbst steht, daß keines seiner Worte in der Weise für etwas steht, für das etwa auch ein anderes Wort stehen könnte. »Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen« (G. Eich). Doch impliziert die Einzigkeit des Wie seines Gesagtseins immer noch etwas anderes. Auch das Gedicht hat - wiejedes Wort des Gesprächsden Charakter des Gegenwortes, das mithören läßt. was gerade nicht gesagt wird. was aber als Sinnerwartung vorausgesetzt ist, ja, durch das Gedicht geweckt wird - vielleicht nur, um als Erwartung gebrochen zu werden. Das scheint insbesondere für heutige Lyrik wie die Celans zu beachten. Das ist
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nicht Barocklyrik, die ihre Aussagen innerhalb eines einheitlichen Bezugsrahmens hält und mythologisch-ikonographisch-semancisch eine gemeinsame Vorgegebenheit besitzt. Celans Wortentscheidungen wagen sich in ein Geflecht sprachlicher Konnotationen, dessen verborgene Syntax von nirgends anderswoher erlernbar ist als aus den Gedichten selbst. Das schreibt der Interpretation ihren Weg vor: Man wird nicht vom Text auf eine in ihrer Kohärenz vertraute Sinnwelt verwiesen. Sinnfragmente sind wie ineinandergekeilt, man kann nicht den Weg der Transposition von einer Ebene schlichten Gemeintseins zu einer zweiten Ebene des eigentlich Gesagtseins gehen - das eigentlich Gesagte ist vielmehr auf eine schwer beschreibbare Weise noch immer dasselbe, das die Rede meinte. Was im Verstehen geschieht, ist nicht so sehr eine Transposition als die beständige Aktualisierung der Transponierbarkeit, d. h. die Aufhebung aller ,Positivitätl jener ersten Ebene, die man dadurch gerade im pOSitiven Sinne 'aufhebt, und erhält. Das ist für die Celan-Interpretation - und nicht nur für sie - ganz entscheidend. Denn von da aus bestimmt sich der so überaus umstrittene Stellenwert der Informationen, die nicht aus dem Gedicht selbst stammen, sondern aus Mitteilungen des Dichters und seiner Freunde gewonnen werden und den ,biographischen, Anlaß, das biographisch lokalisierte Motiv, die konkrete und bestimmte Situation eines Gedichts betreffen. Man weiß, nicht zuletzt aus Celans eigenem Munde in der Büchner-Preis-Rede, daß es für Celan gerade auch gegenüber dem Kunstbegriff Mallarmes und seiner Nachfolger charakteristisch ist, daß seine Dichtung eine Art Wortschöpfung und Wortfindung ist, diejeweils wie ein Bekenntnis aus einer genauen Lebenssituation aufsteigt. Diese ist freilich nicht in allen ihren Einzelbestimmtheiten aus dem Gedichttext allein faßbar. Man nehme ein Gedicht wie ,Blumel, das inzwischen durch eine Arbeit von Rolf Bücher in seinen Textstufen überschaut werden kann. Man erinnere sich der endgültigen Fassung des Gedichts:
Blume Der Stein. Der Stein in der Luft, dem ich folgte. Dein Aug. so blind wie der Stein.
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Wer bin Ich und wer bist Du? Wir waren Hände, wir schöpften die Finsternis leer, wir fanden das Wort, das den Sommer heraufkam: Blume. Blume - ein Blindenwort. Dein Aug und mein Aug: sie sorgen fUrWasser. Wachstum. Herzwand um Herzwand blä ttert hinzu. Ein Wort noch, wie dies, und die Hämmer schwingen im Freien.
Es ist eitler Wahn, sich einzubilden, daß man bei diesem Gedicht hätte erraten können, daß es sich hier um den kleinen Sohn Celans handelt, der das Wort ,Blume( eines Tages als Wort erwarb, wie eine Verheißung. Daß sich in diesem Gedicht an das Wort ,Blume< - und nicht nur wie bei Hölderlin an die Blume des Wortes, das als Wort ,die Sprache( meint - die Geschichte eines Wachstums und einer Öffnung schließt, das freilich steht in dem Gedicht. Aber daß es Vater und Sohn sind, die hier zueinanderwachsen, das muß man wissen. Aber nein - das braucht man nicht zu wissen: Zu der Folge der Transpositionsebenen dieses Gedichts gehört gerade auch, daß am Ende das bestimmte Einzelne des Anlasses in das bestimmte Allgemeine übergegangen ist. das ganz und gar und für jedermann in diesen Zeilen steht. ZueinanderWachsen kann in sehr verschiedenen Konstellationen stattfinden: in der Spiritualität eines Gedenkens, das das Tote zum Leben erweckt, in der Aktualität einer Liebesbegegnung, die das tote Auge, das wie ein Meteor nur flüchtig aufglühte, zum strahlenden Blühen bringt, Stein und Stern und Blume, oder auch in der, wie es scheint, vom Dichter >gemeinten( wachsenden Zuwendung von Vater und Sohn, gleichsam als das Erwachen des Kindes aus seiner mineralischen Existenz, in der das Auge noch wie Stein ist, in die des Blickens und des Blicketausehens und der wachsenden Wortwelt. Wer wollte sich anmaßen, nur dies letztere und nichts anderes in diesem Gedicht finden zu können. Ja, mehr noch: Auch wer >weißt, woran der Dichter gedacht hat, weiß er dadurch schon, was das Gedicht sagt? Mag er es vielleicht gar als einen Vorzug empfinden, daß ernur an das >Richtige{ denkt und an nichts andereser wäre nach meiner überzeugung in einem schrecklichen Irrtum befangen, den am allerwenigsten Celan selbst unterstützt hätte. Er hat daraufbestanden, daß ein Gedicht in sein eigenes Dasein gestellt und von seinem Schöpfer abgelöst ist.,Wer nicht noch mehr versteht als das, was der Dichter auch ohne zu dichten sagen kann, versteht nicht genug.
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Freilich sind solche Informationen, die von außen kommen, oft auch kostbar. Sie bewahren vor dem völligen Verfehlen des Richtigen, wenn man es selber mit der Interpretation versucht. Sie erleichtern, wenigstens auf einer ersten Ebene alles richtig zu verstehen, das heißt in einheidicher Kohärenz. Aber Celans Gedichte sind nicht als Gedichte verstanden, solange man auf der einen oder anderen Ebene allein verbleibt. Celan soll einmal gesagt haben, daß es in seinen Gedichten keine Brüche gebe, wohl aber verschiedene mögliche Anfange. Er meinte damit offenbar, daß dasselbe Gedicht auf verschiedenen Transpositionsebenen kohärent und präzise vollzieh bar wäre. So scheint mir das Gedicht IBlume( auf verschiedenen Ebenen vollziehbar. Und denkt man etwa an die Frage, die ich aus Anlaß der Gedichtfolge IAtemkristall< stelle: Wer bin ich und wer bist du? - wer will sie beantworten? Ich muß dabei bleiben: Die Figur dieses Du ist sie selbst und nicht dieser oder jener, ein geliebter Mensch, ein anderer oder das ganz Andere. Was hier versucht wird: ohne jede Information besonderer Art einen Zyklus Celanscher Gedichte auszulegen, bleibt gewiß riskant. Aber ich wiederhole die Wendung Ibesonderer Art<, denn an sich ist die Informationsmasse, die ein jeder Leser von sich aus mitbringt, in vielfacher Hinsicht bereits Ibesondert<. Der eine hat etwas noch erlebt, was der andere nur aus Büchern kennt. Der eine kennt etwa den deutsch-slawischen Osten oder gar denjüdischen Kult oder auch die kabbalistische Mystik, der andere muß sich daraus vielleicht aus dem Lexikon orientieren oder durch mühsame Lektüre. Ebenso steht es mit dem gegenwörtlichen Bezug auf schon Gesagtes. Der eine hat George und Rilke so im Ohr, wie vielleicht der Dichter, oder gar die französische Sprache und Dichtung so im Ohr, wie vielleicht der Dichterder andere nicht. Der eine kennt einen vom Dichter gebrauchten Fachausdruck aus seinem eigenen Sprachgebrauch, der andere muß ihn mühsam zur Kenntnis nehmen. Solche Besonderungen sind stets im Spiel. Insofern ist auch die besondere Besonderung, die die private Information von der Seite des Dichters darstellt, gar nicht etwas so ganz Besonderes. Es gibt bei keinem Leser ein Verstehen ohne Besonderungen, und es gibt doch bei einem jeden nur Verstehen, wenn sich die Besonderung der Okkasion in die Allgemeinheit der Okkasionalität aufhebt. Das will sagen: Nicht die bestimmte einmalige Begebenheit, die man als Zeuge oder als direkt vom Dichter Belehrter kennen kann, kommt im Gedicht zur Sprache, wohl aber ist es so, daß ein jeder Leser in das durch den Sprachgestus Heraufbeschworene wie auf ein Angebot einzugehen vermag. Was ein jeder Leser an dem Gedicht wahrzunehmen vermag, hat er aus seiner eigenen Erfahrung aufzufüllen. Das erst heißt: ein Gedicht verstehen. Aber wenn man etwa im Falle des oben erwähnten Gedichts ,Blume< sieht, wie aufschlußreich die Textstufen sind, die wir von diesem Gedicht
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aus Celans Nachlaß kennen, muß man nicht überall diese Textstufen kennen, um sich zu kontrollieren, und wagt man nicht etwas Unzulässiges, wenn man einstweilen auf eigene Faust Iversteht(? Ich bin weit davon entfernt, die Hilfe solcher Textstufen geringzuachten l l . Indessen, auch deren rechte Benutzung setzt Vorgriff und Vorverständnis und redlich prüfende Meditation des Textes selber voraus. Obendrein muß man jedem Dichter die Freiheit zubilligen, seine Textstufen nicht konsequent durchlaufen zu haben. Der Interpretationswert von Textstufen hat sich am fertigen Text zu bewähren. Ein Interesse rur die Textstufen als solche mag historisch berechtigt sein, aber ist kein Interpretationsweg für das fertige Gedicht. Das Bild, das uns die mitgeteilte Probe der Textstufen von IBlume< bietet, läßt einem den Werdegang des Gedichts als den einer immer weiter getriebenen Verdichtung, Verkürzung, Weglassung sichtbar werden. Das erinnert an Mallarme, der einmal gesagt hat, bei wirklicher Dichtung bestünde die Hauptaufgabe darin, wegzulassen und am Anfang und am Schluß jedes Gedankens so viel wie möglich zu streichen, damit man dem Leser das Vergnügen bereite, die Ergänzung zum Ganzen selber finden zu dürfen. Ich halte das für keine richtige Selbstbeschreibung der Mallarmeschen Dichtungsweise und bin überhaupt nicht geneigt, Dichtern ein Privileg der Selbstinterpretation zuzuerkennen. Denn offenbar handelt es sich nicht so sehr um Weglassen als um Verdichten. Auch die Textstufen von )Blume< zeigen nicht bloße Weglassungen, sondern ebenso Intensivierung und Ballung. Es ist. als ob die Unverbundenheit der Worte und Satzglieder die Potenz der Redeteile auflüde, so daß sie mehr sagen, nach mehr Richtungen ausstrahlen, als sie in fester syntaktischer Einbindung vermöchten. Was an Mallarmes Bemerkung über die» Weglassung« richtig ist, ist also dies, daß sich ein Gedicht kraft seiner sprachlichen Verdichtung selber zu ergänzen vermag und daß durch seinen dichterischen Bau und seine motivische Führung mehr zum Verständnis gelangt, als was es in seinen bloßen Worten auszusagen scheint. Was ein gutes Gedicht von einem noch so geheimnisvollen Zauberkunststück unterscheidet, das ist, daß man um so mehr von seiner Genauigkeit überzeugt wird, je tiefer man in seinen Aufbau und die Technik seiner Wirkung eindringt. Je genauer man versteht, desto beziehungsvoller und sinnreicher wird die dichterische Schöpfung. Darin hat die strukturalistische Analyse Richtiges beobachtet. Doch indem sie sich auf die Lautgestalt beschränkte, hat sie unterlassen, die im Spannungsgefüge von Sinn und Klang aufgewiesene IStruktur< mit der einheitlichen Sinnmeinung des Textes zu vermitteln. Es sind das freilich 11 Dank der. Hilfe BEDA ALLEMANNS konnte ich die sachlich wichtigen Lesarten zu ,Atemkristall< in der revidierten Auflage von ,Wer bin Ich und wer bist Du?< (BIBLIOTHEK SUHRKAMP Bd. 352. Frankfurt 1986) mitteilen. Der interessierte Leser sei auf die Seiten 142-150 dort verwiesen.
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Aufgaben, die eine höchste Sensibilität des Ohres und zugleich alle Schärfe des Verstandes fordern. Sehr viel schlimmer wird die Sache, wenn sich die Textgrundlage des fertigen Textes, wie ihn die Drucke bieten, als falsch erweist. Ausgerechnet bei der von mir gewählten Folge ist das einmal auf fatale Weise der Fall (S. 392). Bei der Durchsicht des Privatdrucks von IAtemkristall< entdeckte ich plötzlich, daß im dritten Gedicht im zweiten Vers nicht ))Himmelssäure«, sondern IIHimmelsmünze« steht, und man hat mir bestätigt, daß die bekannte Textgestalt von Celan selber als ein Übermittlungsfehler, der sich in den späteren Drucken eingeschlichen hat, anerkannt und auch von ihm erst spät erkannt und berichtigt worden ist - übrigens ohne Aufregung. Die falsche Textgegebenheit unterstellt natürlich dem Interpreten falsche Bezüge. So ging es mir, und ich mußte nun die richtigen auf der neuen Grundlage neu suchen. Sicher ein interessanter Tatbestand, der zeigt. wie es mit dem Gewißheitsgrad präziser Kohärenzen, die man gefunden zu haben meint, steht. Wieweit aber das Gesamtverständnis des Gedichts durch derartiges modifiziert wird, wäre gleichwohl zu fragen. Man wird wohl im allgemeinen sagen dürfen, daß das Kohärenzgefüge eines Gedichtes von so vielen Stützen getragen wird, daß das Gefuge als Ganzes durch die Auswechslung einzelner Stützen nicht völlig zum Einsturz kommt. Das muß sichjeweils an der Praxis entscheiden. Auf alle Fälle scheint mir das Risiko solcher Unsicherheiten bezüglich der Textgrundlage noch harmlos im Vergleich zu dem Risiko. das jede Deutung als solche zu tragen hat. Und doch ist auch dies kein Einwand. nicht das Mögliche zu versuchen. Die Gedichte sind da. Man wird sich als Leser für den Versuch, sie zu verstehen, nicht auf die kritische Ausgabe oder die Ergebnisse der ,Forschung( vertrösten lassen, sondern das Ihalbe. Verstehen. auf dem die Anziehungskraft der Gedichte für einen jeden Leser beruht. zu ergänzen trachten. . Noch eine andere, hermeneutisch ähnlich aufschlußreiche Streitfrage begegnet in dem von mir ausgelegten Zyklus (S. 425). Da ist das Wort »MeingedichtIC . Sehr ernsthafte Leser haben dies als das im bloßen Meinen steckenbleibende und insofern privat bleibende Gedicht verstanden. Tatsächlich kommt auch bei dieser Annahme eine ausgezeichnete und von der Irichtigen. gar nicht sehr verschiedene Sinnkohärenz heraus. Nun höre ich. daß Celan diese Fehldeutung von ))MeingedichtIC, die es ohne Zweifel ist. selber zurückgewiesen hat. Aber nehmen wir einmal an, er hätte jene andere Deutung, die ja auch ganz gut ,möglich( scheint, ausdrücklich akzeptiert. Hätte dann seine Stimme den Ausschlag gegeben? Ich denke, nein. Denn man kann die Gründe nennen, warum ))Meingedicht« hier als ,falsches Zeugnis< verstanden werden muß. wie ,Meineid<. Das Gedicht gewinnt dadurch einen höheren Kohärenzgrad, eine gesteigerte Präzision. »Meingedicht« kontrastiert alsdann auf das genaueste mit dem lIunumstößliche[n] Zeug-
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allgemeine Zugänglichkeit von Informationen ist kein sinnvoller Maßstab für das Gedicht und seinen Leser - offenbar so wenig wie das biographische Spezial wissen Szondis. Wieviel also muß man wissen? Stellen wir konkrete Fragen an Celans Gedicht: Du liegst im großen Ge1ausche, umbuscht, umflockt. Geh du zur Spree, geh zur Havel, geh zu den Fleischerhaken, zu den roten Äppelstaken aus SchwedenEs kommt der Tisch mit den Gaben, er biegt um ein Eden Der Mann ward ZUm Sieb, die Frau mußte schwimmen, die Sau, rür sich, (Ur keinen, für jeden Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
Nichts stockt.
Daß es sich um Berlin handelt, kann jeder an Spree und Havel erkennen. Gewiß weiß, wer Berlin kennt, auch, daß es in Berlin den Landwehrkanal gibt. oder wenn er es nicht weiß, kann er es leicht feststellen. Aber das ist auch alles. Schwerlich wird ein allgemeines Informationsmittel unter dem StichWOrt »Lalldwehrkanal« jenen schrecklichen politischen Mord vom Januar 1919 verzeichnen. Wie kommt ein Leser weiter? Da ist das Reizwort »die Sau«, und der Zusammenhang mit dem Landwehrkanal macht das Geschehen eindeutig: Mord. und von da aus wird ebenso klar, was es meint, daß der Mann zum Sieb wurde. Ein Mann und eine Frau sind da erschossen und die Frau in den Kanal geworfen worden. Daß »die Sau« eine Jüdin meint, ist wahrlich nicht, wie eifrige junge Philologen von heute vielleicht meinen, vom Charakter eines Zitates (so wenig wie das» Sieb«, obwohl Celan bei des in dem Prozeßbericht gefilnden hat), sondern das ist - wenigstens für ältere Leser - ein Schimpfwort und in antisemitischer Anwendung sogleich verstanden. Jedenfalls wird es von Ce!an als verständlich - und nicht als literarischer Bezug - gemeint. So weit, so gut. Wer nicht mehr als dies weiß, wird freilich noch immer allzu wenig verstehen. Auch wenn die Roheit und der Haß der Mörder in den Worten erkennbar sind - wem sie gelten, muß man wissen oder - als zu Wissendes - suchen. Dazu ist man geradezu aufgefordert. Denn es ist vollkommen klar und wird durch den Schluß» Der Landwehrkanal wird nicht rauschen« scharf akzentuiert, daß es sich um ein einmaliges schreckliches Geschehen handeln muß. Aber wie weiter?
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Was erfährt man noch aus dem Gedicht selbst? 11 Umbuscht« und lIumflockt« wird man wohl auf das winterliche Berlin beziehen - aber gewiß nicht auf den Blick aus dem Fenster, den Celan bei seinem Besuch vom Bett aus hatte. Eher wird man in Busch und Flocke Schutz (»um-buscht, umflockt«) und nach innen lauschende Stille (daher: »im großen Gelausehe«) verstehen. Und wird man die Vorweihnachtsstimmung aus »Es kommt der Tisch mit den Gaben« heraushören? Schwerlich. Man wird es allgemeiner verstehen. Immerhin so, daß es Kontrast und Widerspruch zu dem Entsetzlichen einschließt, das im folgenden heraufgerufen wird. Dazu verhilft vor allem die kühne Wendung: Iler biegt um ein Eden«. Wer? Der Tisch? Die Adventsfreude? Wiederum wird man weder das alte noch das neue Hotel Eden damit verbinden können, bevor man den konkreten Bezug durch weitere Information gewonnen hat. Gleichwohl läßt die Fortsetzung des »er biegt um ein Eden« in jedem Falle den bitteren Widerspruch zu einem reichen Gabentisch empfinden. Was für ein Eden immer - das gabenreiche Fest selber? -, es ist nicht das Ziel dieser Fahrt oder dieser kommenden Gaben. ,Um ein Eden biegen< ist ein Weg, der vom Glück wegführt und nicht zu ihm hin. Das und nicht die Autofahrt des Dichters am neuen Hotel Eden vorbei - steht im Gedicht. Die Kontrastspannung ist damit zum Bestimmenden des Gedichtes aufgestiegen. Wird man sie aber auch (so wie der durch Szondi Informierte es tut) aus den vorhergehenden Versen herauslauschen? Gewiß, IIFleischerhaken« und »rote Äppelstaken aus Schweden« ist injedem Falle ein Kontrast. Das Rot, das mit Äpfeln und - vielleicht errät man das - ihrer Darbietung auf einem Staken auftritt, tritt in einen blutigen Kontrast mit 'IFleischerhaken«. Aber bis zu den Schilderungen der Schreckenskammer von Plötzensee an der Havel gelangt man von dort aus noch nicht. Wird man das überhaupt erraten? Wie man aus Szondis Bericht erf'ahrt, ist der Dichter selbst I'zur Havel« und zu den Fleischerhaken von Plötzensee gegangen. Wir sind uns aber einig: Das soll man nicht als biographisches Faktum einsetzen. Es bestätigt sich dies durch die imperativische Form »Geh«. Da wird ein jeder aufgefordert, das alles zu sehen. Aber was das eigentlich ist, was man da sehen soll- weiß man das? Is t nicht alles im Gedicht verständlich, ohne von Plötzensee, Liebknecht und Rosa Luxemburg zu wissen? Wirklich? Wir waren uns einig, daß die rohe Mordszene, die am Schluß geschildert wird, den Leser auf ein einmaliges Ereignis weist, und wer es nicht, aufgrund von Wissen und Information, errät, was hier gemeint ist, der weiß eben im Sinne des Gedichtes nicht genug. Das Gedicht will, daß man das weiß. Es will es so sehr, daß die letzten beiden Verse, die letzten beiden Worte des Gedichts, »Nichts« und »stockt«, die schreckliche Spannung, die
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das Gedicht beherrscht, noch einmal zusammenballen, so daß sie aUe Grenzen sprengt. »Nichts stockt« muß man nach dem Vorhergehenden aufs erste so hören; Alles geht weiter seinen Lauf, wie das ruhige Dahinströmen des Landwehrkanals. Niemand hält sich über dies Ungeheure auf. - Aber dann spürt man auf einmal den Zeilenbruch und die selbständige Dynamik, die das »stockt« daraus gewinnt - und man stockt selber. Ist am Ende gemeint, daß das Nichts-als-Weitergehen angesichts des Ungeheuren ins Stocken kommt - oder zum Stocken kommen sollte? Meint nicht der Schluß: So soll es nicht sein, daß alles so weitergeht? Dann aber hat sich der Dichter wahrhaft mitgeteilt - nicht als dieser Zufällige, der in die winterliche Nacht von Berlin hinauslauscht und den die Eindrücke des Tages umringen: Plötzensee und der festliche Weihnachtsmarkt des heutigen Berlin, die Lektüre des Berichts über den Mord an Liebknecht und Rosa Luxemburg, die Erinnerung eines Hotels Eden an ein anderes und seine Zeugenschaft des Schreckens. Oie Folge der Imperative: »Geh du zur Spree, geh zur Havel, geh zu den Fleischerhaken« ist nicht nur eine Aufforderung an einen jeden, das alles zu sehen und zu wissen, es ist mehr noch die Aufforderung darin, sich bewußt zu machen, wie Entgegengesetztes da beisammen ist: die Spree und der durch Schrecklichkeiten geisterhaft bevölkerte Havelsee, die Fleischerhaken der Grausamkeit und die bunte Freude auf Weihnachten, das Luxushotel an dem Ort einer Tragödiedas alles "gibt es zugleich. Das alles gibt es, Grauen und Freude, Eden und Eden. Nichts stockt - wirklich nichts? Hier scheint mir die Antwort auf die von Szondi mit Bravour gestellte Frage verborgen zu liegen. Man muß nichts Privates und Ephemeres wissen. Man muß sogar, wenn man es weiß, von ihm wegdenken und nur das denken, was das Gedicht weiß. Aber das Gedicht will seinerseits, daß man alles das weiß, erfährt, lernt, was es weiß - und all das fortan nie vergißt. Man sollte also zur Frage des Informationsgehaltes grundsätzlich feststellen: Die Spannung zwischen besonderer Information und solcher, die man aus dem Gedicht selbst schöpfen kann, ist nicht nur, wie oben gezeigt, eine relative. Sie ist wohl auch eine veränderliche von der Art, daß diese Spannung sich im Laufe der Wirkungsgeschichte eines Werkes mehr und mehr abschwächt. Vieles wird am Ende selbstverständlich bekannt sein, so daß jeder es weiß. Man denke etwa an den Anlaß von Goethes Sesenheimer Friederike-Liedern. Aber auch noch anders. Vielleicht wird uns manches Gedicht Celans erst dann aufgehen, wenn uns neue Informationen zugeflossen sind, zum Beispiel aus den Textstufen des Nachlasses. aus der Kenntnis von Freunden. aus den Funden gezielter Nachforschung. Wir sind da noch am Anfang eines Weges. auf dem auch früher schon gelegentlich ein Dichter seinem Leser vorangegangen ist, indem er eine Erläuterung beigibt. Man
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denke an Rilkes »Töten ist eine Gestalt unseres wandernden Trauerns«14. Ein Dichter geht in das Gemeinbewußtsein des Lesers nach und nach ein, je mehr sich sein eigener T.on uns ins Ohr singt und seine Welt zu unserer Welt wird. Das ist durchaus möglich und im Falle Celans sogar zu erwarten. Aber es erlaubt nicht, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun, und der erste Schritt bleibt, verstehen zu wollen, was uns da anspricht. Es gibt auch noch eine andere Motivation, und das ist die hier vorliegende: Was jeder wissen sollte, wird durch das von Szondi vorgelegte Gedicht so eingemahnt, daß es am Endejeder Leser weiß. Durch sein Gedicht stiftet der Dichter Gedächtnis. Wir sind hier an einem für alle Auslegungskunst entscheidenden Punkte, der den hermeneutischen Beitrag der Wissenschaft betrifft. Die Sache verlangt äußerste Klarheit. Man muß hier verschiedene Dinge auseinanderhalren. Es ist nicht,widerspruchsvoll, wenn man - im einen Falle - verschiedene mögliche Interpretationen, die alle in der Sprachgebärde des Gedichtes zum Klingen kommen, nebeneinander gelten läßt und wenn man - im anderen Falle - die eine Interpretation präziser findet und deswegen für die >richtige( halten muß. Es handelt sich da um verschiedene Dinge, den Annäherungsprozeß in der Richtung auf >das Richtige<, den jede Interpretation anstrebt, und die Konvergenz und Aquivalenz von Verständnisebenen, die alle >richtig< sind. Die Präzision autobiographischen Verstehens etwa ist nicht als solche größer als eine stärker abgelöste und abstrakte. Denn die reichere Einzelbestimmtheit, die dem Leser aus privaten biographischen oder privaten exegetischen Mitteilungen zufließt, steigert nicht als solche die Präzision des Gedichts. Präzision ist scharfe Anmessung an ein zu Messendes. Letzteres gibt das Maß der Anmessung, und es ist keine Frage, daß die Ebene des Gedichts, über die der Autor private Mitteilungen macht, nicht die ist, in der das Gedicht selbst als Maß gesetzt ist. So kann ein mit solchen Informationen ausgerüsteter Leser zwar dieselben auf präzise Weise im Gedicht wiedererkennen. Aber das ist nicht das Verstehen des Gedichts und braucht nicht dazu zu führen. Die Präzision im Verstehen des Gedichts, die der ideale Leser aus nichts als aus dem Gedicht selbst und aus den Kenntnissen, die er besitzt, erreicht, wäre ganz gewiß der eigentliche Maßstab. Nur wenn die autobiographisch belehrte Verstehensweise diese Präzision voll einholt, können die verschiedenen Ebenen des Verstehens miteinander da sein; das hatte Szondi mit Recht im Auge. Nur dieser Maßstab schützt vor dem Verrat ans Private. Es scheint mir auch ganz irrig, zu meinen, der Präzisionsforderung solchen Verstehens müsse und dürfe man sich versagen, weil einen die Wissenschaft dabei nicht trage und man doch nur in unverbindliche Impressionen 14
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verfiele. Es ist richtig: Impressionen sind überhaupt keine Interpretationen und stellen die Beirrung einer jeden Interpretation dar. Man muß zugeben, daß die Syntax der Konnotationen, die hier mitspielt, sich oft nur in vagen Assoziationen meldet und daß die präzise Realisierung oft nicht gelingt. Das ist jedoch bei den sogenannten wissenschaftlichen Hilfen, etwa dem Vergleich oder der Heranziehung von Parallelen, nicht besser. Versagen gibt es bei jeder Interpretationsweise. Die gemeinsame Quelle eines jeden Versagens dürfte sein, daß man sich das Gedicht dadurch verstellt, daß man von außen, von anderem her oder gar von seiner eigenen subjektiven Impression her zu verstehen trachtet. Solche Art von Verstehen bleibt im Subjektiven stecken. Ihr Anspruch, Verständnis zu sein, ist hybrid, ob das nun der auf subjektive Impression oder der auf private Information gegründete ist. Auch die letztere bleibt gefahrlieh genug, wenn sie zum Vollwert genommen wird. Das Eingeständnis des Nichtverstehens ist Celans Werk gegenüber in den meisten Fällen ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit. So soll man sich nicht durch das Mißlingen abschrecken lassen, sondern zu sagen versuchen, wie man versteht - mit dem Risiko, daß man manchmal m~ßversteht und manchmal in der Vagheit von Impressionen steckenbleibt, die einen desavouieren. Nur so ergibt sich die Chance, daß andere davon Gewinn haben. Solcher Gewinn besteht nicht so sehr darin, daß die Einseitigkeit des eigenen Versuchs eine Gegen-Einseitigkeit provoziert, als vielmehr darin, daß der Resonanzraum des Textes sich im ganzen erweitert und bereichert. Die Logik der Konnotationen hat ihre eigene Strenge. Gewiß hat sie nichts von der Eindeutigkeit von Schlußprozessen oder deduktiven Systemen, aber auch nichts VOn der Willkür privater Assoziationen. Man spürt sie, wo Verständnis gelingt. Alles strafft sich im Text, der Kohärenzgrad steigt unübersehbar an und die allgemeine Verbindlichkeit der Interpretation ebenso. Solange das Ganze eines gegebenen Textes noch nicht voll durch Kohärenz gedeckt ist, kann aber noch alles verkehrt sein. Doch sowie die Einheit der Rede als ganze vollziehbar wird, ist ein gewisses Kriterium für die Richtigkeit gewonnen. Ohne Zweifel ist auch beim dichterischen Gebilde Kohärenz eine oberste Bedingung. Freilich, was Kohärenz eines Gebildes ist, här.gt nicht von vorgefaßten Vorstellungen der Symmetrie oder der Regelgerechtigkeit ab, und durchaus ist die Kohärenzforderung nicht von strenger Eindeutigkeit. Der Text kann sich immer noch, wie oben gezeigt, in verschiedenen Verständnisebenen auseinanderfalten. Aber diese haben dann alle ihre volle Gültigkeit. Ein offenkundiges Liebesgedicht darf als metaphysische Kommunion verstanden werden, ein Du als Frau oder als Kind oder als Gott. Ja, die geschlossene Sinneinheit eines Gedichtes ist sogar so streng, daß sie sich kaum aus größerem Zusammenhang umdefinieren läßt, wie das sonst bei Redeeinheiten der Fall sein kann, daß der Kontext erst
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ihren wahren Sinn ergibt. Zwar kann man gewiß auch bei einem Gedicht den größeren Kontext ins Auge fassen, den eine Gedichtfolge darstellt, und dort eine weiter gespannte Kohärenz suchen. Das ist aus der Hermeneutik wohlbekannt, und man kann auf den jeweils größeren Kontext übergehen: den Kontext, den ein vom Autor komponierter Gedichtband darstellt; den Kontext eines Gesamtwerkes oder mindestens den bestimmter Phasen im Werkschaffen des Autors; den Kontext gar eines Zeitalters. Das ist alles richtig und längst mindestens seit Schleiermacher aus der Theorie des hermeneutischen Zirkels bekannt, über die sich unsere heutigen Wissenschaftstheoretiker so hübsch aufregen. Indessen erleidet der Begriff der Kohärenz dadurch keine Abschwächung seines Sinnes. Die Strenge der Kohärenzforderung nimmt in dieser Skala mit guten Gründen ab. So ist es etwa in der vorliegenden Folge deutlich zu spüren, wie Celan .komponiert< hat. Die vorbereitenden Gedichte, die Hinfuhrung auf das Hauptthema und die Zusammenfassung des Ganzen im Finale gleichen dem Aufbau einer musikalischen Komposition, und doch wäre es meines Erachtens irrig, diese Einheit überzubewerten. Sie ist vorhanden, aber nur aufgrund der in sich stehenden Einzelgebilde der Gedichte und nur in der Weise einer losen, sekundären Einheitsfugung. Das gilt erst recht von dem Gesamtwerk. Auch dieses ist die Stimme eines Menschen, gewiß - unverkennbar und einzig: ein Stil, der noch bei Nachahmem - nun freilich auf peinliche Weise - kenntlich zu werden vermag. Auch in der Vielheit seiner Formen und Farben und Motive hat der Dichter eine einheitliche Palette. Und doch ist es selbst mit den Motiven eine eigene Sache. Wenn Celan einmal, wie erzählt wird, Leuten, die beim Interpretieren eines seiner Gedichte vom .lyrischen Ich< redeten, mahnend sagte: »Aber nicht wahr, das lyrische Ich dieses Gedichts!«, so möchte ich auch fur alle Motivforschung zwar anerkennen, daß sie das Auge schärfen kann, so daß man das einzelne besser sieht, etwa was bei Celan »Stein« heißt - aber nicht wahr: der Stein dieses Gedichts. Dann muß gegenüber der legitimen Aufgabe, das dichterische Vokabular Celans als solches zu studieren, beständig erinnert werden. Etwas anderes ist es, wie oben betont, wenn das Gedicht sich ausdrücklich auf früher Gesagtes zurückbezieht. Das kann ein wichtiges Interpretationsmoment bilden, unbestritten, und ist bei Celan beispielsweise bei allen ausdrücklichen Zitaten - etwa aus Hölderlin - oder bei namentlich gekennzeichneten Anspielungen - etwa aufBrecht - offenkundig. Nun läßt es sich nicht leugnen, daß es ständig auch unterschwellige Anspielungen solcher Art gibt, die man mit mehr oder minder großer Sicherheit bewußtmachen kann und soll. Die Grenzen zur bloßen Vermutung und zu privat bleibenden Assoziationen sind freilich fließend, und die Aufgabe unendlich. Zuletzt ist es eine Frage des Taktes, der größten Tugend des rechten Interpreten, daß die Ausarbeitung und Bewußtmachung der mannigfaltigen Syntax der
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Konnotationen. zu denen ja auch solche Anspielungen gehören. die Sinnfigur der Rede und die Einheit der Transpositionsbewegung, die das Verstehen darstellt, nicht zerredet oder zersetzt. Muß zum Schluß noch gesagt werden, wie eng sich der Anspruch einer jeden Interpretation begrenzt? Es kann überhaupt keine Intecpretation geben, die Endgültigkeit besitzt. Einejede will nur Annäherung sein und wäre nicht, was sie sein kann, wenn sie nicht selber ihren wirkungsgeschichtlichen Ort einnähme und damit in das Wirkungsgeschehen des Werkes einrückte. Gewiß soll keine Interpretation all das, was die Wissenschaft an hilfreicher Erkenntnis beizutragen vermag, verschmähen, aber ebenso sicher wird sie sich nicht auf solches beschränken, was auf diese Weise )erkannte wird, und auf das eigentliche Wagnis der Interpretation verzichten dürfen - und das besteht darin, zu sagen, wie man versteht. Auch wird keine wiSSehschaftliche Hilfe für das Verstehen erwartet werden können, wenn nicht die Interpretations- und Verstehensbemühung auch der wissenschaftlichen Fragestellung selber schon vorangeht. Verstehen steht nicht nur am Ende der literaturwissenschaftlichen Erforschung, sondern auch an ihrem Anfang und durchherrscht das Ganze. Freilich, jede Interpretation muß so sein, daß sie sich zurückzunehmen bestrebt ist. So wie das Gedicht ein einmalig Gesagtes ist, ein unvergleichliches, unübersetzbares Gleichgewicht von Sinn und Klang, an dem sich das Lesen aufbaut. so ist auch das interpretierende Wort noch ein einmalig Gesagtes. Auch sein Vollzug kann nicht gelingen, ohne daß das innere Ohr dabei jedes Wort des interpretierten Textes )hört< und sich unser Mitdenken und Vollziehen der Sprachbewegung des Gedichts immer aufs neue zurückholt aus dem vielen )Unnennbaren<, das das interpretierende Denken hinzudenkt und das der )in Anschlag gebrachte Begriff< (Kant) fassen möchte. Der vorliegende Versuch setzt das Spiel von Einbildungskraft und Verstand, als das Kant die ästhetische Erfahrung (das Geschmacksurteil) beschrieben hat, einige Runden weiter fort, indem er zu sagen sucht, was er versteht, und zu zeigen sucht, am genauen Text selber, daß die Auslegung nicht an Beliebiges anknüpft, sondern so genau wie möglich zu sagen sucht, was, wie sie meint, dasteht.
2. Was muß der Leser wissen? Paul Celan war ein Poeta doctus. Obwohl er ein ungewöhnliches Fachwissen auf vielen Feldern besaß, verschmähte er nicht den Gebrauch des Lexikons. Jedenfalls scheute er sich nicht, wie ich aus persönlichem Gespräch weiß, mißverstehenden Interpreten vorzuwerfen, daß sie doch einfach im Lexikon hätten nachsehen können. Das ist nun freilich keine allgemeine
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Gewohnheit dessen, der Gedichte liest, mit dem Lexikon zu arbeiten. Gewiß war es des Dichters wahre Meinung auch eher, man könne und solle das eigentlich alles wissen, was zu dem Verständnis seiner Gedichte nötig sei. Auf Befragen hat er, wie wir wissen, oft einen einzigen Ratschlag gegeben: Man solle die Gedichte nur immer wieder lesen und lesen - dann werde das Verständnis schon kommen. Diesem Verfahren war ich von Anfang an gefolgt, als ich mich in den Gedichtzyklus ,Atem kristall< vertiefte, und im ganzen nicht ohne Erfolg. Bei zahlreichen Gedichten Celans, wohl bei den meisten seiner späteren Zeit, hätte ich freilich mein Wissen auch erst durch gelehrte Hilfsmittel erweitern müssen. Das gilt für mich insbesondere, wenn es sich um Bildungs gut aus derjüdischen religiösen Tradition und der Mystik der Kabbala handelt, von denen ich allzu wenig weiß. In solchen Gedichten signalisieren manchmal hebräische oder offenk.~dig theologisch-jüdische Spracheiemente, was der Unkundige zu tun hat. Aber selbst in der Fortsetzung von ,Atemkristall<, in der ,Atemwende<, bedürfte es wohl mancher Ergänzung meines Wissens, wenn ich auch nur durch die allererste, die semantische Ebene mit Erfolg durchkommen wollte. Es war die besondere Gunst meiner Wahl von ,Atemkristall<, daß ich mich hier ohne jedes gelehrte Hilfsmittel einigermaßen zurechtfand. Ich hatte kein Lexikon zur Hand. Ich lag in einer Sandkuhle in den holländischen Dünen und wog die Verse hin und ·her, ,lauschend ernst im feuchten Wind<, bis ich sie zu verstehen meinte. Eine ganz andere Frage ist es natürlich, wieweit man eine solche Begegnung mit Dichtung durch auslegende Worte zur Darstellung bringen kann und wieweit man sie dabei ausschöpft. Wer offene Ohren hat und wer auch die Augen nicht zumacht und das Denken nicht schlafen läßt, den wird eine dichterische Aussage mehr oder minder immer erreichen, auch wenn er nicht explizit weiß, wie sich die Aussage im einzelnen aufbaut. Der Ausleger muß sich freilich darum bemühen, ins einzelne einzudringen und sein belehrtes Verständnis mit den Vorstellungen des. Lesers zu vermitteln. Im Grunde glaube ich mich mit dem Dichter völlig einig, daß alles im Text steht und daß alle biographisch-okkasionellen Momente der Privatsphäre vorbehalten sind. Weil sie nicht im Texte stehen, gehören sie eben nicht dazu. Das begrenzt den Wert aller Informationen, die von woanders her kommen, etwa derjenigen, die Freunde des Dichters geben können, denen er etwas erzählt hat. Gewiß kann im einzelnen Falle eine solche Information den Fehler korrigieren, den man beim dichterischen Verständnis beging - freilich einen, den man hätte vermeiden sollen und hätte vermeiden können. Wenn man den Text mißverstand, war das weder der Fehler des Dichters noch gar seine Absicht. Wer ein Gedicht richtig verstehen will, muß injedem Falle das Private und Okkasionelle, das der Information anhaftet, wieder vallig vergessen. Es steht ja nicht im Text. Worauf es
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allein ankommt, ist, das zu verstehen, was der Text selber sagt, unbeschadet aller Anleitung, die aus Informationen von außen zu kommen vermag. Ich darf es am Beispiel eines bekannten Textes erläutern: )) Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?« Es ist der berühmte Anfang der Duineser Elegien. Da hat jemand herausgefunden, daß Rilke dieser Anfang gekommen sei, als er an einem Sturm tage am Steilhang von Duino stand und in das aufgepeitschte Meer hinaussah und hinaushorchte. Wenn diese Information richtig ist, muß man sie schleunigst wieder vergessen, wenn man verstehen will, was dieser Anruf an die )Engel( in Rilkes Dichtung wirklich sagt. Dagegen wird jeder Leser, und erst recht jeder Ausleger, durchaus dankbar sein, wenn ihm durch Leute, die etwas wissen, was man wissen sollte und wissen könnte, Berichtigungen zuteil werden. Dann handelt es sich nicht um Privates und Beiläufiges, sondern um die Bausteine der dichterischen Rede selbst. Auch an mich ist inzwischen allerhand Berichtigendes gelangt, einiges nütz~ich, einiges mehr als das, nämlich wesentlich, weil ungenügend Verstandenes zurechtrückend. So war es mir nützlich, als ich durch die alpinistische Informationsquelle, für die ich A. Nypels zu Dank verpflichtet bin, den fachsprachlichen Sinn von "Büßerschnee(( erfuhr 1s . Der vorangehende Ausdruck )mensche!1gestaltiger Schnee« wurde dadurch schlagend erläutert. Auch daß »Wabeneis« keine dichterische Wortfindung ist, sondern ebenfalls ein präziser Fachausdruck, ist nützlich und befriedigend zu wissen. Oder daß man bei» Schläfenzange« auch an die Geburtszange der Arzte denken soll. All das sind primäre semantische Textbefunde, die genau zu kennen gut ist. Sie geben durchaus noch keine volle Interpretation, aber sie steuern ein Element grammatisch-semantischer Art rur eine solche bei. Ob sie in die Interpretation - das heißt: in die eigentliche Aussage des Gedichtes - einwirken, steht im Einzelfalle dahin. Prüfen wir die Beispiele: Ich frage mich etwa, ob bei dem Schluß gedicht (S. 426) das wirklich ganz hinfällig wird, was ich dort in der Vorstellung von einem büßenden Pilger anklingen ließ, der den freigelegten Weg durchwandert. Gewiß ist das Landschaftsbild, wie ich aus den alpinistischen Informationen inzwischen weiß, nicht nur dichterisch herbeigezaubert, sondern auch sehr genau bezeichnet, wenn da von »Büßerschnee« die Rede ist. Trotzdem darf man sich doch fragen, warum der Dichter diesen eigentümlichen Fachausdruck hier wählt. Wer den Ausdruck kennt, wird dadurch genauer verstehen, warum es davor »menschengestaltiger Schnee« heißt. Aber ist es nur das? Man wird doch nicht abstreiten können, daß die Erklärung von »Büßerschnee« durch »menschengestaltiger Schnee(( oder 15
1978.
Paul Celan: Ademkristal gedichten. Übertr. v. A.
NVPELs.
Verlag L.}. C. Boucher
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die Erklärung von IImenschengestaltiger Schnee« durch IIBüßerschnee« noch etwas mehr bedeutet. Es wird damit ein Ganzes sichtbar, nämlich daß der Weg zum Atemkristall durch eine tote Gleichgültigkeit von Menschenschnee fuhrt. Vielleicht darf man sich dann auch noch fragen, ob es nicht für den Sprechenden ein Weg der Bußfertigkeit ist, ein Weg, der durch Bußfertigkeit hindurchgeht, der hier gegangen wird. Buße ist bewußter Verzicht, und es scheint mir deutlich, was hier an Verzicht verlangt wird. Es geht um die Sünde der Eitelkeit, die das lIAnerIebte« zu einem Scheinzeugnis aufspreizt. Nur wer auf die banalen Effekte verzichten kann, die einem das Gerede aufdrängt, und wer noch über alle anderen, die so bußfertig sind wie er selbst, hinauswandert, wird am Ende zu den gastlichen Tischen gelangen. Muß man es vielleicht so verstehen? Oder warum steht sonst IIBüßerschnee« da? Man komme mir nicht mit vergleichender Topik. Daß »Schnee« ein vielsagendes Symbolwort ist, das einen ganzen )Schneepart( zu bilden vermochte und gerade auch diesen Zyklus )Atemkristall( rahmt - das erste Gedicht redet vom Schnee wie das letzte -, das weiß ich auch. Nichts gegen Topos-Forschung. Aber jedes Gedicht ist ein eigener Topos, was sage ich: eine eigene Welt, die sich nie wiederholt, ist einmalig wie die Welt selbst. Auch dieser Büßerschnee ist nur hier, was er hier ist. Darin weiß ich mich obendrein mit dem Ce!an der Meridian-Rede einig. So nehme ich das Gelernte gern auf, und doch finde ich in diesem Falle nicht, daß das nützlich Gelernte auf das, was das Gedicht eigentlich sagt, Einwirkung hat. Ahnlich geht es mir mit der IISchläfenzange« (S.408). Pöggeler hat in einem interessanten Aufsatz 16 die These aufgestellt, das Du und der Rest seines Schlafs stehe für die Schechina und ihre Geburt. Davon steht kein Wort in dem Gedicht. Wohl aber ist seine Erinnerung an die Geburtszange durchaus richtig. Sie betrifft indes nur die äußerste semantische Schicht. Ic:h hätte daran denken sollen - aber zu korrigieren hätte ich nur etwas, wenn das wirklich mehr leistete als eine bloße Verstärkung des von mir im Gedicht Verstandenen. Wie ist es? Von welcher Geburt ist denn hier die Rede? Wird je die Geburtszange, die man bei einer Geburt gebraucht, von dem Jochbein des Neugeborenen beäugt? So aber steht es im Text. Dieser Zusatz zwingt, »Schläfenzange« sogleich so umzusetzen, wie ich es tat, und die ergrauenden Schläfen darunter zu verstehen. Man wird vom Text genötigt, den Blick in den Spiegel zu verstehen, das Erschrecken vor den ersten Anzeichen des Alterns. Damit gewinnt der Schluß, »habt ihr Geburtstag«, seinen wahren, seinen bitteren Sinn. Weiß Gott, das ist keine Geburtstagsfreude: Alter und 16 Orro PÖGGELER, Mystische Elemente im Denken Heideggers und im Dichten Celans. In: Zeitwende 53 (1982), S. 65-92.
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Tod, der Rest deines Schlafes, haben Geburtstag! Die Geburtszange, die hinter der »Schläfenzange« anklingt, deutet auf diese Pointe voraus, wie ich jetzt klar sehe. Das dritte Beispiel (5.419), das in dem Aufsatz von Pöggeler gestreift wird und das mit »Harnischstriemen« beginnt, liegt nun freilich ganz anders. Hier treffen die erhaltenen Berichtigungen einen wesentlichen Punkt. Als ich sie vorjahren erfuhr, hat mich das sofort überzeugt. Hier möchte ich einen wesentlichen Gewinn rur mein Verständnis des Gedichtes erkennen. Daher habe· ich eine bessere Deutung gesucht als die anfangs von mir ve1'suchte und habe diese jetzt in den Text eingesetzt. Daß das Gedicht zwischen Erdkruste und Sprachkruste spielt, bleibt zwar wahr. Aber mir ist inzwischen klar geworden, daß ich den Vers »dein Gelände« in der ersten Strophe hätte wörtlich nehmen müssen. Hier war mein Wissen unzureichend, und ich hätte des Rates des Lexikons bedurft, falls man dort den richtigen Rat findet, oder hätte anderswoher die richtige Aufklärung gewinnen müssen, wie ich sie etwa rur die »Hungerkerze« (5. 390) von Freunden erhielt.
3. Hermeneutische Methode? Eine hermeneutische Methode gibt es nicht. Alle Methoden, die die Wissenschaft gefunden hat, können hermeneutischen Gewinn bringen - wenn man sie richtig nutzt und wenn man darüber nicht vergiBt, daß ein Gedicht kein Befund ist, den man als Fall von etwas Allgemeinerem zu erklären vermöchte, wie den experimentellen Befund als den Fall einer Naturgesetzlichkeit. Ein Gedicht ist auch nicht durch eine Maschine herzustellen. Daß ein Computer Gedichte elektronisch zu fabrizieren vermag, wie das etwa Max Bense gezeigt hat, ist nur scheinbar ein Ein wand. Daß das, was nach unzähligen Kombinationen von Buchstaben irgend wann zustandekommt, ein Gedicht ist, mag wahr sein. Aber entscheidend ist, daß es als Gedicht aus a11 dem Computermüll nur herauskommt, wenn es herausgelesen wird - und das geschieht nicht wieder durch einen Computer. Er sondert es nicht als Gedicht aus, sondern bestenfalls als eine grammatisch richtige Rede. Hermeneutik meint nicht so sehr ein Verfahren als das Verhalten des Menschen, der einen anderen verstehen will oder als Hörer oder Leser eine sprachliche Äußerung verstehen will. Das ist dann immer: diesen einen Menschen, diesen einen Text verstehen. Ein Interpret, der ane Methoden der Wissenschaft wirklich beherrscht, wird sie nur anwenden, um die Erfahrung des Gedichtes durch besseres Verstehen möglich zu machen. Er wird nicht den Text blindlings gebrauchen, um Methoden anzuwenden. Gleichwohl hat es nicht an Einreden gefehlt, die meinen Deutungsversuch
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als Ihermeneutisch< oder sonstwie charakterisieren wollen. Wer zum Beispiel sagt, die ganze Dichtung Celans sei, wie sein ganzes leidvolles Leben, ein einziges Bekenntnis und Entsetzen über den Holocaust, der wird im letzten Grunde wohl damit recht haben. In der Meridian-Rede finden sich dafür Bestätigungen, auch Anspielung an Adomos entsprechende Außerungen. Es wird damÜ. begründet, daß das Gedicht heute eine starke Neigung zum Verstummen zeigt - oder auch, daß es nicht mehr genügt, Mallarme konsequent zu Ende zu denken. Die Stellung am Rande, die Celan dem Gedicht von heute zuweist, ist gewiß im höchsten Maße bedenkens wert. Aber zu einem Prinzip, seine Gedichte besser zu verstehen, führt das nicht. Das gilt selbst fiir diejenigen seiner Gedichte, die wie die ,Todesfuge( ausdrücklich und unzweideutig das Thema des Holocaust haben. Poesie ist immer noch mehr - und mehr noch, als der engagierteste Leser vorher weiß. Sonst wäre sie überflüssig. Eine andere Einrede ist, daß der Dichter wohl stärker an den Spielen der Worte seine Orientierung genommen habe, als ich wahrhaben will, und daß deswegen mein Verfahren zu phänomenologisch sei (das hat mir J. BoHack vorgehalten). Es wird mir schwer, darin einen kritischen Sinn zu finden. Was soll denn der Gegensatz zu Iphänomenologisch( sein? Daß Worte nur Worte sind? Daß man sich bei Worten nichts denken soll? Oder daß man sich nur bei einzelnen Worten etwas denken darf, aber nicht bei der Sinneinheit eines Gedichtes? Dem wäre zu antworten, daß Worte niemals für sich Sinn haben und erst durch ihre vielleicht vielstellige Bedeutung den einen Sinn aufbauen, der in vielen Verschlingungen von mitschwingenden Sinnlinien dennoch die Einheit des Text- und Redeganzen bewahrt 1'. Oder soll es heißen, daß man beim Verstehen solcher Texte sich nichts anschaulich vorstellen soll? Als ob nicht Worte ebenso wie Begriffe ohne Anschauung leer wären. Kein Wort hat Sinn ohne seinen Zusammenhang. Selbst einzelne Worte, die für ~ich stehen - wie das Titelwort IAtemwende( -, haben erst in ihrem Zusammenhang ihren Sinn. Da muß hier ausdrücklich bemerkt werden, daß IAtemwende< als Titel dieses Gedichtbandes den lautlosen, den hauchartigen übergang und Umschlag zwischen Ausatmen und Einatmen bezeichnet - wenn der Atemkristall des Gedichts' wie eine vereinzelte Schneeflocke in reine Gestalt ausfällt. Das scheint mir der Zusammenhang 18 von IAtemkristall( und vor allem das Schlußgedicht zu lehren. In der Büchner-Preis-Rede dagegen meint IAtemwende( zunächst eine andere Seite der Wortbedeutung, nämlich die Umkehr, die zwischen Ein- und Ausatmen statthat, und nicht primär das Wunder ihrer Unmerklichkeit. Doch möchte 17 Ausfllhrlicher dazu u.a .•Sprache und Verstehen. in Ges. Werke Bd. 2, bes. S. 196ff., sowie .Text und Interpretation(, ebd. S.353fF. 18 Siehe dazu schon oben, S. 388.
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ich fragen, ob hier nicht ein Zusammenhang zwischen beiden Akzentuierungen des Wortes .Atemwende, besteht. Ist es nicht so, daß wirkliche Umkehr niemals ein spektakuläres Geschehen ist, sondern aus tausend lautlosen Unmerklichkeiten besteht? Das würde zu einer Stelle in der Meridian-Rede bestens passen, wo es heißt: »Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten. Wer weiß, vielleicht legt die Dichtung den Weg - auch den Weg der Kunst - um einer solchen Atemwende willen zurück?« Eine andere Einrede ist die von Pöggeler formulierte, wenn er fragt 19 , ob mein Versuch, IICelans Bilder wie die Symbole Goethes auf allgemeinverständliche Erfahrungen zurückzuführen, nicht jene Allegorik verkennt, die sich aus dem Nichtverstehen geschichtlich und künstlich langsam aufbaut als gewagtes neues Verstehen. « In der schönen Formulierung erkenne ich mein eigenes Bemühen wieder! Nur würde ich es nicht gerne auf den Gegensatz von Symbol und Allegorie zuspitzen, der zwar von Goethe gebilligt, aber ganz gewiß nicht praktiziert worden ist. Pöggeler spielt in dem Zusammenhang sogar darauf an, daß ich selber - in der Nachfolge Benjamins - zu der Ehrenrettung der Allegorie beigetragen habe. Ich weiß aber nicht, warum Pöggeler hier den Gegensatz von Symbol und Allegorie bemüht. Ich würde in der Beschreibung des Wagnisses unseres Verstehens zunächst nichts anderes sehen, als daß wir alle lange nicht genug wissen. Das ist vor allem mein eigener Mangel. Ich wollte, ich wäre so gelehrt wie Pöggeler, und Pöggeler wollte gewiß, er wäre so gelehrt wie Celan. Und Celan? Nun, er wollte gewiß, daß ihm das Gedicht gelänge, nichts sonst. Es wird mir schwer, hier den Begriff der Allegorie überhaupt zuzulassen. Ich glaube, Celan hätte das ebensowenig gebilligt wie den Begriff der Metapher. Wenn im Zeitalter des Barock die Lesegesellschaft Antike und Christentum in sich integriert hatte, so gilt dies heute nicht mehr. Jedenfalls gibt es die Bildungsgesellschaft nicht, die Celans enormes Wissen immer schon hätte. Es ist gewiß nicht der Sinn seiner Dichtung, eine solche Bildungsgesellschaft heraufzurufen, die nun von Homer über die Bibel bis zur Kabbala reichte. Er will gehört werden und nimmt in Kauf, daß in dem Getöse des modernen Lebens die stille Stimme des Kaumverständlichen nötig ist, zum geduldigen Hinhören einzuladen und am Ende die ,Daten, ins Bewußtsein zu heben, die wir nicht vergessen sollten. In diesem Sinne will das Gedicht, das man heute schreiben dürfte, ein »unumstößliches Zeugnis« sein - aber es will es als Gedicht sein. Daß wir immerfort und überall Wissenslücken empfinden und auszufüllen haben, das ist keine Frage. Meine Frage ist, wie man, nachdem einem die Lücken zu füllen hier und da gelungen ist, versteht, was der Text selber sagt. Und da meine ich, Celan war ein wirklicher Dichter, der mühsam und entbehrungsvoll, ja vielleicht 19
A.a.O.
[5.
Anm. 16], S. 90.
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bußfertig den Weg zum Atemkristall gewandert ist. Jedenfalls ist es das allen gemeinsame Wort, das er zu finden suchte. Nicht umsonst hat er das oben schon zitierte Wort gesagt: »Lesen Sie, lesen Sie immer wieder. dann wird das Verständnis schon kommen!« Er rechnete offenbar darauf, . daß die allgemeine menschliche Erfahrung, in die die Furchtbarkeiten unserer Epoche eingegangen sind. und das Wissen. das mehr oder minder von allen erworben wird, die sich solchen Dingen nicht überhaupt verschließen, seine Gedichte aufschließen. Ob ohne Methode oder mit allen Methoden - das hätte ihn schwerlich beunruhigt. Es ist ja auch eine unleugbare Erfahrung, daß dieser hermetische Dichter, von dem kein vernünftiger Mensch behaupten wird, daß man alle seine Gedichte verstehe - so wie man heute etwa Goethes Gedichte versteht -, trotzdem von Tausenden gelesen wird, weil sie es als Dichtung empfinden. Das genauere Verständnis mag vage und beschränkt sein, man versteht es auch dann als Dichtung. Nein, Allegorik setzt einen selbstverständlichen Konsensus voraus, der als solcher heute nicht mehr besteht. Heutige Dichtung setzt einen Konsensus voraus, der erst entstehen so1120 • Was ich in meinen eigenen Untersuchungen zu dieser Frage unternahm, ging gerade darauf, die künstliche Auseinanderreißung von Allegorie und Symbol fraglich zu machen21 • Ich folge auch im FalleCelans, wie ich meine, meinen eigenen Einsichten. Und nun zum Schluß nochmals: Was muß der Leser wissen? Daß der Leser und daß der Ausleger, der in diesem Falle ich bin, so viel wie möglich wissen sollte und leider nicht genug weiß, scheint mir unstreitig. Das ist mit dem Grundsatz der Wissenschaft aufs engste verknüpft, daß sie sich keine Grenzen setzen kann. So muß sie selbstverständlich alle ihre Methoden, auch neu zu entwickelnde, einsetzen. Aber die Frage) Was muß der Leser wissen?( ist damit nicht beantwortet, auch bei Celans Gedichten nicht. Schließlich werden Gedichte nicht für die Wissenschaft geschrieben, auch wenn der Leser, für den sie geschrieben werden, aus den Hilfen, die ihm die Wissenschaft gewähren kann, Nutzen ziehen wird. Er wird, wenn er nicht weiß, auch Lexika gebrauchen - aber das sind nur die faulen Früchte der Wissenschaft. Dagegen gibt es eine andere, präzise und verbindliche, nur freilich nicht kontrollierbare und fixierbare Antwort auf die Frage: Was muß der Leser wissen? Sie lautet: Er muß so viel wissen, wie er braucht und wie er verkraften kann. Er muß so viel wissen, wie er in sein Lesen des Gedichts, in sein Hören auf das Gedicht wirklich einbringen kann und muß. Nur so viel, wie sein dichterisches Ohr verträgt, ohne zu ertauben. Das wird oft recht wenig sein - und bleibt dann immer noch mehr, als wenn es zuviel ist. 20 Siehe dazu auch ,Dichten und Deuten. Getzt in Ges. Werke Bd. 8), mit dem Hinweis aufKafka. 21 Vgl. ,Wahrheit und Methode. (Ges. Werke Bd. 1), S. 77 ff.
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Es ist eine sokratische Weisheit, die ich hier auf das Gold der Wissenschaft anwenden möchte. Am Schlusse des .Phaidrosl erbittet Sokrates in einem Gebet an Pan, der über der sommerlichen Stunde des Gesprächs gewaltet hatte, unter anderem: »Von Golde so viel, wie ein Mensch von gesunder Vernunft tragen und mit sich führen kann.« Das Gold der Wissenschaft ist auch Gold. Wie alles Gold verlangt es seine rechte AnwenduJ1g. Das gilt erst recht in der Anwendung der Wissenschaft auf die Erfahrung der Kunst. Als hermeneutischer Grundsatz heißt das: eine Interpretation ist nur dann richtig, wenn sie am Ende ganz zu verschwinden vermag, weil sie ganz in neue Erfahrung des Gedichts eingegangen ist. An diesem Ende sind wir bei Celan vorerst nur in seltenen Fällen.
37. Sinn und Sinnverl?-üllung bei Paul Celan (1975) Sinn und Sinnverhüllung im dichterischen Werk von Paul Celan - mit diesem Thema machen wir nicht eigentlich einen besonderen Gesichtspunkt geltend, der die Interpretation Celanscher Kunst leiten soll, sondern fassen nur in Worte, was jeder erfahrt, wenn er sich mit der Dichtung Celans bekannt macht. Man fUhlt die Attraktion eines gen auen Sinnes und .hat zugleich das Bewußtsein, daß dieser Sinn sich zurückhält, wenn nicht gar kunstvoll verhüllt ist. Wir werden uns fragen müssen, was hinter dieser ja schließlich nicht von Celan allein, sondern von einer ganzen Generation repräsentierten Dichtart steht und wie wir das unsererseits zu bewältigen haben. Fürs erste aber ist die Aufgabe nicht so sehr, theoretische überlegungen anzustellen, sondern es mit dem Lesen zu versuchen. ' Vielleicht genügt eine allgemeine Vorbemerkung. Offenbar ist es das Bestreben heutiger Lyrik, die Gravitationskraft der Worte sich voll auswirken zu lassen, ohne sie durch syntaktische und logische Mittel einzuengen. Dieses blockhafte Sprechen, in dem Einzelworte, die Vorstellungen wekken, nebeneinander stehen, bedeutet nicht, daß sie nicht in die Ejnheit einer Sinnintention zu verschmelzen sind. Aber das zu vermögen ist eine Forderung, die dem Leser einzulösen überlassen bleibt. Es ist durchaus nicht so, daß der Dichter willkürlich die Sinneinheit verdunkelt und verhüllt. Der Dichter will gerade auf diese Weise etwas offenbar machen. Er gibt durch die blockhafte Fügung die Vieldimensionalität von Sinnbezügen frei, die in der logisch beherrschten, eindimensionalen Alltagsrede durch die praktische Einheit der Rede-Intention niedergehalten werden. Es ist ein Irrtum, zu meinen, im Gedicht sei deshalb nichts zu verstehen, weil es keine Eindeutigkeit der Sinnbezüge gibt. Und es ist ein Irrtum, zu meinen, es fehle die Einheit der Rede-Intention. Sie erst macht das Gedicht. Das Gedicht lautet:
Tenebrae Nah sind wir, Herr, nahe und greifbar.
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Gegriffen schon. Herr. ineinander verkrallt. als wär der Leib eines jeden von uns dein Leib. Herr. Bete. Herr, bete zu uns. wir sind nah. Windschief gingen wir hin. gingen wir hin. uns zu bücken nach Mulde und Maar. Zur Tränke gingen wir, Herr. Es war Blut. es war• .was du vergossen. Herr. Es glänzte. Es warf uns dein Bild in die Augen. Herr. Augen und Mund stehn so offen und leer. Herr. Wir haben getrunken, Herr. Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.
Bete, Herr. Wir sind nah. Durch die überschrift» Tenebraecc wird. wie immer durch eine Überschrift. die eine so bestimmte Bedeutung hat. ein Vorverständnis geweckt. Man muß selbstverständlich wissen. daß »Tenebrae« nicht nur Verfinsterung heißt, sondern eine bestimmte Verfinsterung meint. die, dem Evangelium zufolge. eintrat. als Jesus am Kreuz seinen letzten Atemzug aushauchte. Im katholischen Kultus wird das als Passionsmette, als Karfreitagsmette, so gefeiert, daß das Ereignis der Verfinsterung des Himmels im Augenblick von Jesu Sterben kultisch wiederholt wird. Dieser Kult der Passionsmette enthält ferner die Lesung der Klagelieder Jeremiae. Das WortJesu am Kreuz: »Mein Gott, mein Gott. warum hast du mich verlassen« ist selbst ein Zitat aus dem Alten Testament. So fügt schon der christliche Kult die Gottverlassenheit, die das Schicksal des jüdischen Volkes in seiner babylonischen Gefangenschaft war, mit der GottverlassenheitJesu am Kreuz zusammen. Aber die Beschwörung dieser Himmelsfinsternis durch den heutigen Dichter. reicht sie nicht noch viel weiter? Ob man an das Leiden und Sterben der Juden in den Vernichtungslagern Hitlers denken soll? Oder am Ende an die Todesangst aller Menschen? An Gottes Zorn, wie er in der jüdischen Geschichte des Alten Testaments sein auserwähltes Volk straft? Oder an die Gottesferne, die über unserer Zeit des Erlahmens der christlichen Glaubenstraditionen heraufgezogen ist? Das alles klingt in dem einen Wort» Tenebrae« an und läßt uns lauschen.
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Sinn und Sinnverhüllung bei Paul CeIan
Die Frage, die damit gestellt ist, ist nun, in welchem Sinne das Gedicht an diese »Tenebrae« anschließt. Jedenfalls heißt es »Tenebrae«, nicht ohne die ganze Tradition der Passionsgeschlchte - von den alttestamentlichen Klageliedern über die Passionsgeschichte bis zu der Passion des Menschseins unter dem verdunkelten Himmel unserer Gegenwart - zu erwecken. Das ist eine Vororientierung, die durch das Gedicht selber ihre nähere Ausführung erfahren muß. Das Gedicht ist eine Herausforderung. Wie soll man es verstehen? Ein blasphemisches Gedicht oder ein christliches Gedicht? Ist es nicht blasphemisch, wenn das Gedicht mit klaren Worten zu dem sterbendenJesus sagt: Nicht zu Gott, der dich verlassen hat, solltest du beten, sondern zu uns! Diese Entgegensetzung läßt sofort einen unüberhörbaren Sinn erraten: Weil Gott den Tod nicht kennt, ist er in der Todesstunde nicht erreichbar. Wir dagegen kennen den Tod, wissen um ihn und seine Unausweichlichkeit und verstehen deshalb diesen letzten Seufzer der Verlassenheit zutiefst. Offenkundig wollten diese letzten Worte Jesu nicht Zweifel an seinem Gott ausdrücken, sondern die Obergewalt des Leidens und des Todes besiegeln. Darin liegt eine letzte Gemeinsamkeit zwischen dem Menschensohn und den Menschenkindern, daß sie den Tod erleiden. Was aber heißt es, daß Jesus lieber zu uns beten soll? Ist das eine äußerste Verspottung und Verwerfung des Glaubens an Gott und Betens zu Gott, mithin eine kühne, gottferne Umdeutung der ganzen Passionsgeschichte und der Verlassenheit Jesu am Kreuze? - Aber ist diese letzte Verlassenheit nicht ein Wesensmoment des christlichen Inkarnationsgedankens selber, so daß der Dichter hier gleichsam einen Schritt weit wiedererweckt, was die christliche Lehre mit dem Gedanken des stellvertretenden Leidens und Sterbens Jesu eigentlich meint? Ich will diese Frage nicht zu beantworten suchen. Sie läßt sich gar nicht beantworten. Es kommt auch nicht auf die Meinung des Dichters an, sondern auf das, was im Gedicht zur Sprache kommt. Der Dichter hat es offengelassen, was das ist. Wie in allen Sprachgebilden, die ein Dichter schafft, sind wir genötigt, das selber zu entscheiden. Wir können uns nicht auf ihn berufen. Immerhin, Jesus wird aufgefordert, zu uns zu beten. Was heißt hier »beten«? Was heißt Beten? Das Gedicht setzt unzweideutig mit der Herausforderung: » Bete zu uns, Herr« ein. Damit ist aufJ esu letzte Worte am Kreuz angespielt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Ist das überhaupt ein Gebet? Gewiß ist es ein Anruf an Gott. Und vielleicht muß man wirklich sagen, daß eben darin der einzig mögliche Inhalt eines Gebetes überhaupt besteht, solchen Anruf zu tun. Denn »wir wissen nicht, was wir beten sollen« (wie es im Römerbrief und in der bekannten Bach-Motette heißt). Tatsächlich kann Beten nicht heißen etwas erbitten. Als ob wir von uns
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aus wüßten, was fiir uns das Rechte ist. Erhörung des Gebetes scheint vielmehr aller Erfüllung möglicher Wünsche vorauszugehen. Erhörung des Gebetes ist das Gehärt-Werden des Gebetes selber, das Dasein dessen. zu dem man im Gebet ruft. Daß er hört und daß man eben nicht verlassen ist. das ist die Erhörung. So verstanden ist der Inhalt der letzten WorteJesu das Gebet schlechthin. der letzte Seufzer. der fleht. bei mir zu sein. mich nicht allein zu lassen. Nun ist die Todesstunde. dies letzte Autbäumen der Natur in uns, fiir einen jeden die Stunde seiner äußersten Verlassenheit. Die kühne Wendung, die das Gedicht nimmt, besteht darin, daß es sich dabei gewiß nicht nur um die Verlassenheit von Gott handelt, sondern gerade auch von allen anderen Menschen. Was soll »beten zu« diesen Menschen heißen? Als ob Menschen da helfen könnten! Jedoch, wenn Beten rufen heißt. daß der andere höre. entsteht ein tiefer Sinn: Da die Menschen den Tod kennen, unter dem Gesetz des Todes stehen, sind sie mit dem. der stirbt, auf einzigartige Weise solidarisch. Dessen soll der Sterbende sich im Beten zu uns vergewissern, dieser letzten Gemeinsamkeit. Es ist diese Gemeinsamkeit. die am Eingang des Gedichtes hingestellt wird. Im Beginn und am Schluß des Eingangs steht wie am Schluß des Ganzen: Wir sind nah. »Nah sind wir, Herr, nahe und greitbar.« Mir scheint, daß ein leichter Ton auf dem »wir« liegt. Nicht du bist nah, sondern wir. Das ist alles andere als eine Hälderlin-Imitation. Der ähnliche Klang, mit dem die Patmos-Hymne angeht: »Nah ist und schwer zu fassen der Gott«, weist in die genaue Gegenrichtung. Nicht der Gott ist ja hier rur uns nah, sondern wir sind nahe fiir den Herrn. Der Übergang von »greitbar« in »gegriffen schon« eröffnet eine Klimax. die zu »ineinander verkrallt« fiihrt. Sie hebt den Abstand zwischen dem Greifenden und Gegriffenen, die Geschiedenheit des Sterbenden von den noch Lebenden, auf. Denn wovon sind wir selber »gegriffen«? Doch gewiß nicht von dir, Herr, für den wir »greitbar« genannt sind. Das, wovon wir ergriffen sind, kann nur der labsolute Herr< sein, der Tod, dem die Menschen gehören. Er ist so sehr unser Herr, daß wir vor ihm alle gleich sind. »Ineinander verkrallt« halten wir uns wie im Todeskampf um sich Greifende. Diese Verzweiflung ist offenbar so sehr die eigentliche Gemeinsamkeit. daß die Menschen, ineinander verkrallt, injedem anderen Hilfe und Heil suchen - »als wär der Leib einesjeden von uns dein Leib. Herr«. Es wird im Fortgang völlig klar, daß es der Leib des sterbenden und gestorbenenJesus ist, der hier eindeutig als lIdein Leib« gemeint ist. Es liegt aber in dieser Wendung noch etwas anderes. Es scheint mir wichtig. daß es lIder Leib eines jeden von uns« heißt und nicht: »unser Leib«, der Leib von uns allen. Jeder von uns ist fiir jeden von uns der Nächste, den er doch nicht erreicht. Denn im Sterben ist jeder von uns so allein und verlassen wie der
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sterbende Jesus am Kreuz. Die Erfahrung des Todes vereinzelt, so wie Heidegger es in der Wendung von der >Jemeinigkeit< des Todes formuliert hat oder wie Rilke es in bekan:lten Gedichten sagt. Die Aussage ist offenbar die, daß das so furchtbar vereinzelnde Sterben nicht nur jeden mit jedem anderen, sondern gerade auch mit dem sterbenden Jesus in eine eigene Verbundenheit versetzt. Es ist das Verkralltsein in die Unausweichlichkeit des Todes selbst. Das ist jedenfalls die klare Folgerung, die im Gedicht ausgesprochen ist: »Bete, Herr, bete zu uns, wir sind nah.« Mit dir in der Jemeinigkeit des Sterbens eins, stellt dieses Einssein auch noch in der höchsten Verlassenheit N3he und Verbundenheit dar. Nun wird diese Gemeinsamkeit zwischen Jesus und uns, daß wir des Todes sind, nicht einfach ausgesprochen. Vielmehr wird das als eine Geschichte erzählt, und wenn ich recht sehe, steht an deren Ende nicht nur die Einsicht in die Unausweichlichkeit des Todes, sondern ein Annehmen des Todes. Nichts freilich deutet dabei auf die christliche überwindung des Todes durch die Auferstehung und den Glauben an sie. Davon ist kein Wort hier. Das Annehmen des Todes geschieht vielmehr im Trinken deines Blutes und des »Bild[s), das im Blut war«. Das ist eine wieder ganz unchristliche Kommunion. Das klingt so, als w3re er uns vor-gestorben, so daß wir, wenn wir ihm nach-sterben, die gleiche Verlassenheit annehmen. die gleiche Gottesfinsternis. In diesem Sinne scheint er für uns gestorben. Das Gedicht ent<et den Sinn dieser angstvollen N3he und paradoxen Verbundenheit, indem es offenbar in der Zeit zurückgeht - nicht in eine geschichtliche Zeit, sondern in eine sich ewig wiederholende Zeit, die die des jeweiligen menschlichen Daseins ist. Diese Geschichte berichtet, wie wir solcher Verbundenheit mit dem sterbenden Jesus inne wurden. Das Imperfekt zeigt bereits an, daß gleichsam unsere Vorgeschichte erz3hlt wird, die schon immer hinter uns liegt. »Windschief gingen wir hin. « Im Ausdruck »windschief« liegt Orientierungslosigkeit, Richtungslosigkeit. Die Ausweglosigkeit menschlichen Lebens, dessen Weg das Vl!f1neiden des Sterbens sein möchte, ist darin in einem einzigen Wort zusammengeballt. »Windschief gingen wir hin, gingen wir hin, uns zu bücken nach Mulde und Maar.« Die Wiederholung »gingen wir hin« macht die Dauer, die z3he Beharrlichkeit derer, die da gehen, das heißt die Z3higkeit unseres Lebenswillens, deutlich. »Mulde und Maar« evoziert natürlich Feuchtigkeit, Wasser, das den Durst löschen könnte, der uns treibt, und evoziert damit den Durst selbst. Stillung des Lebensdurstes scheint so etwas wie die Strukturform des Lebens als solchen. So sind wohl die Worte »Zur Tränke gingen wir, Herr« zu verstehen. Es ist das Tierisch-Naturhafte unseres LebensWillens, das uns wie die Tiere - und daher »zur Tränke« - treibt. Aber die Bedeutung dieser Worte bricht zugleich in einer paradoxen Weise um. Denn was ist hier beschrieben? Am Ende doch der Weg, in dem Lebende
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vom Tode wegzuleben suchen. Das Paradox besteht darin, daß der einzige Trank, den wir finden, •• Blut« ist, und das heißt, der Weg läßt das, wovon es uns wegtrieb, den Tod, gerade erst recht begegnen. Wieder wird ein Mittel emphatischen Sagens gebraucht: »Es war Blut, es war ... « stellt zunächst das Erschrecken für sich. Statt Wasser ist es Blut - und doch wird das zur »Tränke«, wenn wir am KreuzestodJesu die Unausweichlichkeit des Todes zu erkennen und anzuerkennen gelernt haben. Den ersten Schritt zu dieser Erkenntnis sagte der Vers: "Es war, was du vergossen, Herr. Es glänzte.« Ein Vers von einer gewaltigen sinnlichen Kraft. Er evoziert den eigentümlichen Glanz, den vergossenes Blut hat, in dem etwas Schauerliches ist. Es ist nichts vom Glanz der Verklärung darin. Bemerkenswert bleibt vielmehr, daß keinerlei Verheißung damit verbunden ist und nicht »für uns vergossen« gesagt wird. Freilich, was in solcher Art nicht gesagt wird, ist nicht einfach nicht da. Es klingt an und gewinnt dadurch eine neue Gegenwart: die des Entzugs und der Verweigerung. So ,meint( es uns, aber offenbar in einem ganz anderen Sinne als in dem des stellvertretenden Leidens. Denn in diesem Blute spiegelt sich nichts als der Tod selbst, der Leichnam Jesu. Deswegen verstärkt das Gedicht noch die erschreckende Wirklichkeit, die der Tote für den hat, den der Lebensdurst treibt: »Es warfuns dein Bild in die Augen, Herr. Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.« Es ist die ganze Unheimlichkeit des Todes, diese entsetzliche Fremdheit, die den Gestorbenen für die Lebenden ganz und gar ins Abseits scheidet, die hier denen begegnet, die, vom Lebensdurst getrieben, auf der Suche nach dem Trank sind. Das Motiv der Pieta klingt an. Aber daß dies Bild »im Blut« ist, über das wir uns beugen, besagt noch mehr. Was uns als der Gekreuzigte, der sich im Blut spiegelt, begegnet, ist ja unser eigenes Gezeichnetsein vom Tode. Wir begegnen in ihm uns selber, schrecken aus unserer Selbstvergessenheit auf, erschrecken vor uns selber. »Als wär der Leib einesjeden von uns dein Leib, Herr.« Ja, dies Blut und das Bild, das in ihm ist; ist der Trank selbst. Das ist die große affirmative Konklusion, mit der das Gedicht sein Argument vollendet: »Wir haben getrunken, Herr. Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.« Das heißt: obwohl es Blut war und das Blut, in dem der tote Leib Jesu sich spiegelte, haben wir es getrunken. Wir haben es angenommen und nicht schaudernd zurückgewiesen. Wir haben es angenommen, daß wir sterben müssen. Das ist es, was uns berechtigt zu sagen: "Bete, Herr. Wir sind nah.« So schließt sich das Ganze. Uns selbst in unserer Todesbestimmtheit gewahrend, erfahren wir eine letzte Einung mit dem sich von Gott verlassen fühlenden sterbenden Jesus. Man muß also abschließend abermals feststellen: In der Überlieferung der Evangelien will der Ausruf der Verlassenheit Jesu gewiß nicht eine Abschwächung seiner Opferbereitschaft sein oder gar einen Zweifel an seinem Gott ausdrücken. Das »Nicht wie ich will, sondern
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wie du willst« wird durch diesen letzten Ausruf keineswegs widerrufen. Im Gegenteil. Das erst vollendet die Menschwerdung Gottes, daß der sterbende Jesus sich von Gott verlassen f'ühlt. Das gerade ist menschlich. Und es bezeugt: für ihn ist das Sterben in keiner Weise leichter. Auch wenn der Christ glaubt, daß Jesus Gott ist, heißt das nicht, daß er nicht wirklich den Tod erlitten hat. Der biblische Bericht will vielmehr sagen, daß Jesus bis zum letzten Augenblick das Martyrium des Sterbens auf sich genommen hat, und genau dieses Martyrium des Sterbens ist es, auf dem unsere Verbundenheit mit ihm und unsere Nähe zu ihm beruht. Nun stelle ich erneut die Frage des Anfangs. Ist das Blasphemie? Auch weJUl man sich hüten muß, einer dichterischen Aussage eine falsche Eindeutigkeit zuzumuten, muß man doch wohl sagen, daß der Aspekt des Blasphemischen, den das Ganze bietet, wieder fast in sein Gegenteil verkehrt wird. Zwar ist es wirklich eine entschiedene Abkehr von der christlichen Tradition, wenn es nicht heißt: »Bete zu Gott«, sondern: »Bete zu uns«. Aber es bleibt ein Akt von Frömmigkeit, beten zu sollen, zu dem Jesus aufgefordert wird. Es bleibt ein Eingeständnis der Hilf- und Rettungslosigkeit des Menschen gegenüber der Unbegreiflichkeit des Todes, was sich im Gedicht aussagt. So klingen Elemente des Christlichen noch im Entzug und im Ausbleiben an. Im immer sich wiederholenden »Herr« erkeJUlt der für uns Sprechende förmlich an, daß der am Kreuz gestorbene Jesus unser Herr bleibt, als der Leidende und Verlassene - wenn auch nicht als der Christus der Auferstehung. So ist Celans Beschwörung der »Tenebrae« zwar keine Wiederholung oder Annahme der christlichen Botschaft, aber noch weniger eine Verhöhnung oder Verspottung des Glaubens. Es ist ein Bestehen auf der Not. Indem der Tod als menschliches Schicksal ernstgenommen und angenommen wird, ohne allen Trost oder Hoffnung, nähert sich das Gedicht der letzten Intention der christlichen Inkarnationslehre, durch die sich das Christentum über alle sonst bekannten Weltreligionen erhebt: Kein Gott, der nicht Mensch ist, kein Gott, der nicht das Sterben auf sich nimmt, kann fur den Glaubenden eine Verheißung oder Erlösung bedeuten. Es ist nicht die überwindung des Todes, wie sie das Christentum verheißt, die im Gedicht zu Worte kommt, und doch bleibt Jesus, der den Tod auf sich 'nimmt, der »Herr«. Am Ende dieses Versuchs einer Sinndeutung mag es möglich sein, die in solcher Poesie liegende Sinnverhüllung in ihrem Wesen näher zu bestimmen. Daß sie keine beabsichtigte Verhüllung und Verbergung eines Sinnes ist, den man klar und eindeutig sagen könnte, hat die Auslegung des Gedichts ergeben. Der Dichter ist hier in eine Sphäre eingetreten, die ihre eigenen bestimmenden Konstellationen hat. Der äußerste Augenblick im »Leiden und Sterben unseres HerrnJesu«, sein letzter Atemzug am Kreuz,
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schmilzt mit der Todesfurcht und Todesgewißheit, die in jedem von uns eine ebenso gegenwärtige wie verdeckte Macht ist, zusammen, und dies rätselhafte Ineins bezeugt das Gedicht durch seinen eigenen, zwingenden Bestand 1 • Freilich. das Gefiige dieser Verse, die solche Spannungen auszutragen haben. kann nicht von einem dichterischen Stilideal her gesehen werden, das unsere literarische Tradition seit Goethe bestimmt: Goethes ,Natürlichkeit<. Es ist eine unvergleichliche Natürlichkeit und Mühelosigkeit, in der Goethesche Reime und Verge sich wie von selbst ordnen. Sie sprühen hervor wie kunstvolles Geschmeide und wirken zugleich ganz ungesucht. Das zum Maßstab dichterischen Könnens und dichterischer Kunst zu machen, ist die Versuchung, in der wir immer schon stehen, aber es verkennt, daß Goethe eine ganz andere Situation der deutschen Sprache vorfand. Damals mußte das Deutsche seine Geschmeidigkeit und seine Aussagefähigkeit erst den Widerstandsblöcken lateinisch-humanistischer Künstlichkeit 'und französisch geselliger Sprachnorm abgewinnen. Die ungeheure Wirkung des Jugendwerks Goethes beruht darauf, daß ihm dies mit einer fiir uns unbegreiflichen Leichtigkeit gelungen ist. Für damals v,.:ar es aber oft erstaunliche dichterische Kühnheit, was Goethe wagte. und insbesondere Werke wie )Pandoras Wiederkehr< oder selbst der ,West-östliche Divan< fanden durchaus nicht sofortige Zustimmung. Noch vielsagender ist in dieser seiben Richtung das Beispiel Hölderlins, der eine ganz neue Sangart für eine ganz neue Aussage fand. Er steht am Anfang der Dichtung des 20. Jahrhunderts, erst damals erkannt. Seine großen Hymnen sind zu seiner Zeit überhaupt nicht als dichterische Schöpfungen eines bei Vernunft seienden Menschen angesehen worden. sondern als Produkte des Wahnsinns. dem er später verfiel. Die romantischen Freunde wagten nur Teile dieser Handschriften überhaupt zu drucken, doch wohl. weil sie sich selbst zu solcher Kühnheit dichterischen Sagens nie vorgewagt hatten. So sind die Gedichte Hölderlins damals überhaupt nur in verstümmelter Form yor den zeitgenössischen Leser gekommen. und das ging bis in unser Jahrhundert so. 1914 ist der entscheidende Band der Hölderlin-Ausgabe von Hellingrath erschienen. in dem erstmalig die späten Hymnen Hölderlins so weit entziffert und kritisch rezensiert in die Öffentlichkeit traten. daß plötzlich die Zeitgenossen erkannten, daß das große Dichtung war. Es hat Geschichte gemacht, daß das Spätwerk Hölderlins in unseremJahrhundert entdeckt wurde. so daß im Fortgang dieses Jahrhunderts dann Sprachschöpfungen und dichterische Wagnisse in der Art Trakls. des späten Rilke oder des hier vor uns stehenden Celan möglich wurden. Denn nun erwies I Siehe dazu auch die Deutung des Gedichts im Rahmen meines Beitrags >Der Tod als Fragee (Ges. Werke Bd. 4, S. 161-172).
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sich die Spätpoesie Hölderlins. dieses blockhafte Sprechen in Anlehnung an Pindars Hymnenstil. plötzlich als eine großartig kalkulierte. bewußte und gekonnte dichterische Form. Sie der Sprachzerstärung. die Hölderlins Wahnsinn gebracht hat. zuzuordnen. war ein uns heute unbegreiflicher Irrtum. und selbst unter den spätesten Gedichten der Wahnsinnszeit sehen wir heutzutage eine Gattung von unbeschreiblicher Schänheit2 • Das beweist nur. daß dichterische Sprache oft schwere Zumutungen stellt. Auch sind nicht zu allen Zeiten alle Redeweisen dichterisch möglich. Es gibt ja auch heute die Erfahrung. daß Dichtung nicht mehr )ankomm.t<. weil die Sprachgewohnheiten unserer Zeit andere Reizmittel verlangen. Das gilt es für die Würdigung des dichterischen Stils unserer Zeit zu beherzigen. Wie schon die russischen Formalisten erkannt haben. gibt es Gesetze der Reizabstumpfung wie der Reizsteigerung durch Kontrast. So hat gewiß die neue Massenrhetorik. die durch die Massenmedien in unsere Zivilisati~n eingebrochen ist. an der Einigelung der dichterischen und insbesondere lyrischen Sprache ins Hermetische. die unsere Epoche bestimmt, einen· entscheidenden Anteil. Wie soll man heute Sprachgebilde in sich zum Stehen bringen, so daß man zu ihnen zurückkehrt und sie. je öfter man zu ihnen zurückkehrt, desto vielsagender werden und auf unsere Fragen antworten? Um heute Sprachgebilde in sich zum Stehen zu bringen, so daß sie nicht in die Fluten des informatorischen Geredes eingeschmolzen werden, das über uns hinwegschwemmt. dazu bedarf es offenb~r ganz anderer. schärferer Widerstandsbildungen und Herausforderungen, als es etwa in der Zeit Goethes erforderlich war. So mag die Sinnverhüllung hermetischer Poesie wie eine künsdiche )Verschwierigung< wirken. Aber sie ist zugleich eine Befestigung gegen die Auflösung in den sanften Wellenschlag des temperierten Radiosprechers. Es gilt etwas aufzubieten. um das dichterische Gebilde in seiner Forderung zu zeigen und der alles einebnenden Prosaisierung zu entziehen. Celan hat sein Äußerstes gegeben. So verlangt er ein Äußerstes und oft mehr. als wir aufbringen.
2 Siehe meine Laudatio auf Roman Jakobson: R. JAKOBSON/H.-G. GADAMER/E. HoLBNSTEIN. Das Erbe Hege!s. 11. Frankfurt 1984.
38. Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan? (1991)
Als Teilnehmer an dem Heidelberger Celan-Kolloquium 1987 befand ich mich in der Rolle des Lesers und Liebhabers. Im Kreise von Germanisten. die ihre wissenschaftlichen Methoden anwandten. um dem schwierigen Dichter beizukommen. blieb ich der Außenseiter. der freilich nichts anderes anstrebt. als Gedichte. die ihn anrühren und die ihm etwas sagen. am Text immer wieder vollziehbar zu machen. Das ist keine Aufgabe der wissenschaftlichen Analyse. aber es bleibt am Ende der letzte Akt nach aller wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kunst. Nun muß man sagen. daß das Spätwerk Paul Celans. dem der Gedichtzyklus IAtemkristall< angehört. durch seine kunstvollen Dunkelheiten und den Facettenreichtum seiner Anspielungen und Andeutungen geradezu danach verlangt. durch Einsatz wissenschaftlicher Methoden und Kenntnisse und minutiöses Vorgehen der Schwierigkeit dieser Texte Herr zu werden. Indessen sollte man nicht vergessen. daß der Leser das Gedicht. diesen Text. meint. den er vor sich hat. Das gilt für jedermanns Umgang mit dem Werk auch dieses Dichters. Insofern befolge ich hier nicht etwa eine Ihermeneutische Methode<. Ich weiß gar nicht. was so etwas sein soll. Ich suche nur das bewußt zu machen. was jeder Leser im Grunde tut. Ich bevorzuge auch nicht etwa vor einer semantischen eine phänomenologische Methode. Gewiß ist die semantische Seite eines Celan-Textes von besonderer Bedeutung. Das kann man gar nicht leugnen. Paul Celan hat selber einmal auf diese Vielstelligkeit im Gebrauch seines dichterischen Vokabulars ausdrücklich hingewiesen: Die ))Mehrdeutigkeit« des Ausdrucks trägt Ildem Umstand Rechnung. daß wir anjedem Ding Schlifffiächen beobachten. die das Ding aus mehreren Sichtwinkeln zeigen. in mehreren ,Brechungen< und IZerlegungen<. die keineswegs nur ISchein< sind. Ich trachte sprachlich wenigstens Ausschnitte aus der Spektral-Analyse der Dinge wiederzugeben. sie gleichzeitig in mehreren Aspekten und Durchdringungen mit anderen Dingen zu zeigen: mit nachbarlichen. nächstfolgenden. gegenteiligen. Weil ich leider außerstande bin. die Dinge allseitig zu zeigen.« 1 I Mitgeteilt bei HUGO HUPPERT (.Spirituelk Ein Gespräch mit Paul Celan) in: W. HAMACHER/W. MENNlNGHAUS (Hrsg.). Paul Celan. Frankfutt 1988. S. 321.
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Hier muß ich freilich fragen: Wirklich nicht? Ist es nicht gerade das, was der Dichter in ihm vermag? Das Gedicht selbst vereinigt immer wieder das Ganze. Es fUhrt trotz all seinen vielfältigen Bezügen - nein, gerade mit ihrer Hilfe - zu der Allseitigkeit einer dichterischen Gegenwart. Daß Celan dabei einer vielstelIigen, gebrochenen Semantik bedarf, kühner Synkretismen und wortspielhafter Fügungen, ist klar. Es gilt, den einstelligen Pragmatismus einer vernutzten Alltagsrede hinter sich zu lassen und obendrein - um der Verdichtung willen - mancherlei Rhetorik aufzugeben. Das macht die neue Dichtweise aus, die IAtemkristall< auszeichnet. Es geht eben um die Bemühung, daß es ein Gedicht und nicht ein »Genicht« sein soll. Noch weniger hat es Sinn, hier dem Leser oder Deuter, der versteht, eine phänomenologische Methode zuzusprechen. Was man so nennt, ist in Wahrheit nichts anderes, als daß man als Leser der Sprache folgt, die hier geführt wird und die etwas zur Erscheinung bringt. Eben dieses, was sie zeigt und sehen läßt, die IPhänomene<, gilt es in sich aufzubauen. Die semantischen Mittel, mit denen dieses Zeigen erfolgt, muß man als Deuter gewiß isolieren, aber nur, um sie dann wieder in die Einheit der Rede zurückzuversetzen. Auch die sogenannte Vielstelligkeit der Worte bestimmt sichja, wie alle Bedeutung von Worten, aus der Sinneinheit, die das Ganze der Rede trägt. Auf ihr beruht die Einheit eines Gedichts. Hierfür kann ich mich abermals auf Celan selbst berufen, wenn er etwa in seiner MeridianRede der Topik mit Bedenken gegenübersteht und ausdrücklich sagt, daß es sich nicht um den Topos des Steins handeln könne, sondern immer nur dieses Steins in diesem Gedicht. So bleibt die letzte Aufgabe jedes Lesers, einen Text wieder zum Sprechen zu bringen. Man meine ja nicht, daß der sehr differenzierte und nachdenkliche Sinn von Poesie, den Celan in der Meridian-Rede als sein eigenstes Ziel zu kennzeichnen versucht hat, diese Aufgabe etwa gegenstandslos oder gar unmöglich machte. Lesen heißt immer etwas sprechen lassen. Die bloßen stummen Zeichen bedürfen ihrer Artikulation und Intonation, um das zu sagen, was sie sagen wollen. Man darf sich hier nicht dadurch beirren lasse11, daß Jacques Derrida in seiner ,Grammatologie< die ecriture zum Modell unbestimmter Vieldeutigkeit erhoben hat. Bei Paul Celan ist es die Vieldeutigkeit der Worte selbst, dieser Stimm-Spuren von Sinn. Lesen bedeutet immer, den Klang und Sinn des Textes erstehen zu lassen. An diesem Grundphänomen des Sprechenlassens von Text, an der Grundstruktur der Sinneinheit von Rede, ist auf keine Weise vorbeizukommen. Daher ist jeder Aufgliederung semantischer Vielstelligkeit die Aufgabe gestellt, die Unterordnung der semantischen Bezüge in die Einheitsnorm des >Hörens< zusammenzufügen. Um es an einem bekannten Beispiel zu zeigen: Das erste Gedicht von IAtemkristaU< läßt sich in einer semantischen Analyse so nehmen - da ist von dem Maulbeerbaum die Rede und am Ende,
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daß das jüngste Blatt an diesem Maulbeerbaum »schrie«. Da kann man das Wort »Maulbeerbaum« von vornherein als eine bloße allegorische Benennung des großmäuligen Geschreis nehmen, das die Stille des lauschenden Hörens stört und übertönt. Damit sieht man aber an der sinnlichen Erscheinung vorbei, die das Gedicht selber mit seinen Worten hervorzuzaubern weiß, nämlich diesen unermüdlich sprießenden Maulbeerbaum - übrigens keine künstliche Wortfiigung Celans, sondern als deutsche Bezeichnung ganz normal und geläufig. Dieser Maulbeerbaum also symbolisiert in der Tat eine nicht zu bändigende, unermüdliche Triebkraft. Das ist es, was man sehen muß und was das Gedicht evoziert, um dann sich sagen zu lassen, im Gang des Gedichts, was dieses Entlangschreiten an Maulbeerbäumen hier sagen will. Erst muß man sehen, um dann zu verstehen, das heißt die Transposition vorzunehmen, die am Ende durch Immer-wieder-Lesen sich als Verstehen des Lobs der Stille vollzieht. An dieser Vollzugsweise hängt das, was man die Sangbarkeit eines Gedichtes nennen darf. Es ist kein wirkliches Singen. Es ist eher ein Meditieren, aber auch dies ist wie Gesang. Gesang kann man nur im Mitsingen wirklich vollziehen. So kann man auch ein Gedicht nur so erfahren, daß es auf seine Weise ein Lied ist und daß man den Mitvollzug seines Sprechens sich aussprechen läßt. Es ist ein Mißverständnis, wenn man diese Forderung etwa dadurch eingeschränkt sehen möchte, daß die seltsam verworfenen Fügungen Celanscher Texte in diesem Sinn keinen Sinn haben, weil lauter Spannungen, Widersprüchlichkeiten, Brüche und Kohärenzmängel im Text selber'erscheinen. Das ist zwar wahr, aber eben das gilt es zu vollziehen und so zu verstehen, was das Gedicht sagen will. Dieser Sinn ist nicht das Ziel eines begrifflichen Fazits, wohl aber die unabdingbare Forderung tur alles Geschriebene, daß es überhaupt Sinn hat, und erst recht gilt es tur einen Text. der eine dichterische Aussage sein will. Doch will ich hier keine eigenen Deutungsversuche wiederholen, noch kann ich auf die einzelnen Beiträge des Kolloquiums eingehen2 • Das steht mir nicht zu - wenn man mir nur die allgemeine Forderung abnimmt, daß ein Dichter seine dichterische Welt durch seine Kunst sehen läßt. Die wissenschaftliche Analyse mag dann die Kunstmittel selber zum Thema machen und wird das durch Isolierung und Vergleichung und mit allen möglichen Methoden und Kenntnissen und Resonanzen zu tun haben. Aber alles dies doch. um es in einem höheren Artikulationsgrad des Verstehens wiederherzustellen. Es wäre eine ganz andere Aufgabe, nun etwa in die Poetologie der Meridian-Rede einzutreten, wie sie inzwischen in einer die Auseinandersetzung 2 Sie sindjet2t abgedruckt in dem Sammelband von G. BUHR/R. REUSS (Hrsg.), Paul Celan: »Atemwende •. Materialien. Würzburg 1991.
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lohnenden Arbeit von Gerhard Buhr vorgelegt worden ist3 , aus der man viel lernen kann. Aber es wäre ein Irrtum, zu meinen, daß eine so elementare Wahrheit wie die, daß man Texte zum Reden bringen muß, wenn man sie verstehen will, von der Thematik der Meridian-Rede irgendwie betroffen wäre. Gewiß ist die Meridian-Rede im ganzen eine Ästhetik des lyrischen Gedichts, das Fragen nach dem Verhältnis des Dichters Paul Celan zu seinen großen Vorgängern ins Spiel bringt. Aber ob man nun einen Text vonGoethe oder Hölderlin, Mallarme oder Celan liest, die Aufgabe des Lesens bleibt die gleiche. Das ist der Grund, warum ich selber gestehen muß, daß ich nur an ausgewählten Beispielen des Celanschen Werkes der Spätzeit in der Lage bin, sie zu verstehen, das heißt, so in sie einzudringen, daß man sie in ihrer natürlichen Bedeutungseinheitlichkeit vollzieht. Ich denke da mit aller Vorsicht an die Erfahrung, die man mit Rilkes Duineser Elegien machte, die seinerzeit etwas so Ungewohntes waren, daß sie unzähligen verzerrten Auffassungen ausgesetzt wurden und als dunkel und unverständlich galten. Da hat uns Kippenberg erzählt, daß Rilke einmal in Leipzig eine solche Elegie so vorgelesen hat, daß alle Anwesenden sie einfach und kla: und völlig verständlich fanden. Richtig lesen können ist schwer. Es verlangt, daß man das richtige Verständnis gewonnen hat. Aber was hier ,richtig< heißt, ist immer relativ. Auch ein Dichter wird seine eigenen Gedichte, falls er diese Fähigkeit überhaupt besitzt, immer wieder anders lesen. Richtig lesen heißt nur, daß der Text in seiner eigenen Komposition und Bedeutungsdichte in jedem einzelnen seiner Züge vollziehbar wird. Ich möchte nur zu Beispielszwecken nochmals einen Fall aus IAtemkristall< heranziehen. um den Sinn von lrichtig< zu illustrieren, sowohl den eindeutigen Sinn des Kriteriums, das da gilt, als auch den relativen Charakter dieses Kriteriums. Ich wähle das schon öfters auch von mir behandelte Gedicht 4 , wo der Ausdruck »das Mein-gedicht« vorkommt. Manche Deuter glauben noch immer, daß hier nicht eine Analogiebildung zu ,Meineid< gemeint sei, sondern die Nichtigkeit des bloß im privaten Meinen verbleibenden Gedichts. Nun wird man wohl zugeben, daß nur, wenn man die Analogie zu ,Meineid< hört, dann der Schluß des Gedichtes, »unumstößliches Zeugnis«, wirklich ,sitzt<, indem es auf das falsc~~ Zeugnis solchen »Genichts« zurückweist. Nun darf man sich aber nicht mit der Vielstelligkeitstheorie trösten, bei des könnte gemeint sein, und sich etwa gar noch darauf berufen, daß die Verstrennung, die das »Mein-« von »gedicht« trennt, als Zeichen dafür zu nehmen sei, daß das »Mein« auch im Sinn 3 GERHAJU) BUHR, Von der radikalen In-Frage-Stellung der Kunst in Celans Rede ,Der Meridian<. In: Celan-Jahrbuch 2 (1988), S. 169-208. Dort auch der Hinweis auf das CelanwortbeiHuppERT[s. Anm.1J. 4 Vgl. ,Wer bin Ich und wer bist Du?, in diesem Band, S. 42SfF. und die Bemerkungen dazu S. 464f.
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von Privatheit mitgemeint sein sollte. Ich war zufällig bei Paul Celan in Paris, als ihm diese Fehldeutung. ich glaube aus einer englischen Veröffentlichung. den größten Ärger bereitete. Er berief sich natürlich sofort auf »unumstößliches Zeugnis«. Das Beispiel habe ich mit Bedacht gewählt. Hier sieht man. daß das Gedicht seine Aussage behielte, auch wenn man falsch versteht. was hier »Mein-gedicht« heißt. Aber es wäre ein schlechteres Gedicht. Man könnte vielleicht noch sagen, es wäre doch im Stile Celans, ein solches Wortspiel anzubringen. Die Ausrede hilft nicht. Der monumentale Schluß »unumstößliches Zeugnis« wäre ohne den inneren Halt. wenn das als falsches Zeugnis am Anfang stehende »Mein-gedicht« nicht den Halt böte. Die Einheit der Aussage wäre geschwächt. Das ist das Kriterium, das es bei dichterischer Rede allein gibt - ein relatives. gewiß, ein variables. wie jede Intonationsvariation schon zeigt. Bei Celan konnten sogar die im Druck abgesetzten Versgliederungen variabel sein. wenn er vortrug. Offenbar kann der Vollzug der Sinneinheit der Rede im Wiedersprechen es verlangen oder erlauben. Wenn man mir da einwendet: IWas soll das für ein Kriterium sein? Das hat doch gar keine Beweiskraft( - dann antworte ich: In der Tat. Gedichte sind keine Rechenaufgabe. Am Ende kann nur der Vollzug des Sinnes und der sich bewährende Vollzug des Sinnes - für einen selbst wie für jeden anderen, der es damit versucht - überzeugen. Zu jeder Diskussion über mögliche Interpretationen gehört daher. daß man es mit der Meinung des anderen versucht, um am Ende das, was im Text steht, das unumstößliche Zeugnis. zu hören. Nach dem langen Zeitraum seit der Heidelberger Tagung über Celans IAtemwende( kann ich nicht mehr im einzelnen an das anknüpfen. was ich damals selber beitrug. Das war ganz aus der Situation entstanden und für sie bestimmt. Inzwischen liegt ein überwältigendes Material der damals vorgelegten Studien vor. Mir fehlt die Unbefangenheit. mir darüber Rechenschaft abzulegen. was die gewaltige Konzentration von Arbeit und gelehrter Forschung für mich als heutigen Leser bedeutet. Das gilt für mich um so mehr. als die Konzentration aufdie Gedichtfolge IAtemkristall. auf meinen eigenen Deutungsversuch vor zwei Jahrzehnten zurückweist. Es liegt in der Natur der Sache. daß mein eigener Deutungsversuch von damals eine jüngere Generation dazu herausfordert. ihrerseits an der Deutung dieser verschlüsselten Dichtung zu arbeiten und meinen ersten Versuch zum Anlaß zu nehmen, eine Art Bilanz zu ziehen. Inzwischen ist ja ein reiches Schrifttum wissenschaftlicher Beiträge zum Verständnis der Dichtungen von Paul Celan vorhanden. und ihnen gegenüber gilt gewiß vor allem sich zu fragen, was da geleistet worden ist und was hier geleistet worden ist. Sie alle haben auf ihren Wegen Schlüssel gesucht und glauben Schlüssel gefunden zu
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haben. wie dies oder jenes Celansche Gedicht aufzuschließen ist. Da kommt man sich als einer der ersten Leser und Deuter etwas seltsam vor. Mein Büchlein war wirklich der Kommentar eines Lesers. der beim Lesen helfen wollte. und erhob keine wissenschaftlichen Ansprüche. Im Umgang mit Kunst und vor allem mit Dichtung haben wir es freilich fast immer mit einem Zwischen von wissenschaftlicher Untersuchung und unmittelbarer verstehender Reaktion zu tun. Nicht umsonst hat in anderen Ländern die Literaturwissenschaft den Namen >Wissenschaft( überhaupt gemieden und sich begnügt. sich >Criticism( oder >Lettres( zu nennen. Das will gewiß nicht besagen. daß nicht auch Dichtung unter den Maßstab von Richtigkeit der Deutung gestellt werden muß. Freilich wird man sich nicht auf einen geradlinigen Fortschritt auf eine letzten Endes richtige Deutung hin einigen können. Aber immerhin können jüngere Forscher gar nicht anders. als Fortschritte ihrer Wissenschaft in Anspruch zu nehmen. und tatsächlich gibt es eine wahre Hochflut .von Forschungsmethoden und Forschungsresultaten. auf die man sich heute berufen kann. wenn es um Celan geht. Doch ist es nicht in erster Linie diese Perspektive. unter der die Deutungsgeschichte eines solchen dichterischen Werkes steht. Der Maßstab der Fortschritte der Forschung ist nicht der wichtigste in diesem Betracht. Was man heute Rezeptionsästhetik nennt. wiegt schwerer. Da geht es um den Wandel der Erfahrungsweise selber. den Niederschlag der inzwischen erworbenen Welterfahrung und Kunsterfahrung. um den Wechsel der Sensibilität und des Fragenpotentials. die sich im Aufnehmenden auswirken. Nicht zuletzt tritt dazu - gerade auch im Falle Celans - der eigene Stilwandel des Dichters. in dem sich seine tragische Lebenskurve spiegelt. wofür kürzlich Giuseppe Bevilacqua einen einleuchtenden Beitrag geliefert hats. >Atemkristall( eröffnet einen neuen Stil. Sehr kurz gehaltene Gedichte und eine dem Kryptischen sich nähernde Dichtweise: das fand damals manchen bisherigen Celan-Leser hilflos. Manchen an das Melos der frühen Versbände gewohnten Leser ließ dieses Büchlein das Melos vermissen. das die Einheit der dichterischen Aussage zum Sprechen brächte. Meinerseits folgte ich damals dem Weg. zu dem. wie ich später sah. der Dichter selber immer wieder geraten hat: »Nur lesen. immer wieder lesen. (( Das kann nicht ganz wörtlich gemeint sein. Celan hat sich oft genug. wenn er Mißdeutungen begegnete, darüber beklagt, warum man sich nicht im Lexikon Auskunft geholt habe. Offenbar unterschied Celan bewußt zwischen dem. was man durch das Hören auf das Gedicht erfahren kann. so wie ich es damals lange Sonnentage hindurch in den holländischen Dünen meditierend versucht habe - und auf der anderen Seite steht das, was man wissen kann und was man wissen muß. Ein Poeta doctus wie Celan weiß nun kaum. was man .s
GIUSEPPE BEVllACQUA,
Celans Orphismu5. In: Celan-Jahrbuch 1 (1987), S. 127-139.
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wohl bei ,einem Leser voraussetzen kann und was nicht. Deswegen ist der Griff zum Lexikon verständlich. Indessen muß man sich doch auch fragen, wieviel eigentlich darauf ankommt. Vielleicht nicht ganz so viel, wie man von unserer wissenschaftlichen Erziehung aus denken möchte. Bei all den unzähligen Bereicherungen unseres Wissens, die wir neuen Erkenntnissen verdanken, gewinnen wir in solchem Falle vielleicht oft nicht allzu viel. Ich berufe mich auf meine eigenen Erfahrungen. Es ist mir in einigen Fällen ganz fraglos, daß ich Wichtiges nicht wußte, so daß ich in der zweiten Auflage meines Kommentars mich in zwei Fällen berichtigen mußte. In dem einen Fall war es nicht einmal meine eigene Schuld, sondern vielleicht die des Setzers oder Druckers, dessen Fehler Celan selber erst später entdeckte und mit Seelenruhe hinnahm. Wenn dort lIHimmelssäure« zu lesen stand und »Himmelsmünze« gemeint war, so scheint dies ein unglaublicher Unterschied. Und doch ist es vielleicht noch nicht einmal ein Druckfehler gewesen, sondern eine echte Variante im Text selber6 • So ganz falsch war jedenfalls das Verständnis des Gedichtes nicht geworden, bei der einen wie bei der anderen Lesart. Ein anderer Fall ist der, wo mir selbst aus Unkenntnis eine Mißdeutung unterlaufen war. Ich kannte den Sinn von »Harnischstriemen« nicht als einen geologischen Fachausdruck. So mußte ich mich später korrigieren. Aber für die Deutung des Gedichts im ganzen folgte auch in diesem Falle kein totales Umle~nen7. So wird es wohl im allgemeinen so sein, wenn man das eine oder das andere falsch versteht, aber hingehört hat, dann hat man vielleicht doch mehr verstanden, als wenn einer das genaueste Wissen mitbringt und an dem Ganzen vorbeihört. Es stellt sich immer wieder die Frage: Was muß der Leser wissen? Ich will mich nicht wiederholen und verweise auch hier auf meinen Kommentar, wo ich aus Anlaß eines nachgelassenen Aufsatzes von Peter Szondi zur Sache gesprochen habeR. Sicherlich ist nicht die Frage: Was muß der Leser alles wissen? Es versteht sich von selbst, daß dem, was man wissen kann, die Wissenschaft nachgehen wird. Die Frage ist aber, ob, um ein Gedicht zu verstehen, es als Gedicht zu erfahren, man bei manchem scheitert, weil man etwas nicht weiß. Das gilt im besonderen Ausmaß überall dort, wenn - wie bei einem Dichter wie Paul Celan - der gemeinsame Hintergrund europäischer Bildungskultur ein wesentliches Element ganz vermissen läßt. Das ist im Falle Celans die Präsenz der jüdischen Mystik und 6 Vgl. in diesem Band, S. 392ff. Siehe dazu auch S. 144ff. der revidierten und ergänzten Ausgabe in der BIBLIoTHEl( SUHRI(AMP Bd. 352 (Frankfurt 1986). In der ersten Auflage (1973) ließ ich damals sogar heide Texte nebeneinander drucken. weil der fehlerhafte Text mit IlHimmelssäure. vielen Lesern der einzig bekannte war. 1 Siehe meinen Kommentar. in diesem Band. S. 419ff. 8 In diesem Band. S. 436ff.
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des osteuropäischenJudentums überhaupt. Beides hat Paul Celans poetische Imagination zweifellos belebt. Gewiß kann man manches durch eigene Lektüre erwerben, und so habe auch ich Scholem gelesen. Aber da sind mir andere Interpreten an Wissen sicher weit voraus - insbesondere ein so kenntnisreicher Leser wie Otto Pöggeler, der diesen Schlüssel der jüdischen Tradition besonders oft in die Hand nimmt. Im Fall der ,Atemwendec als Ganzes kann ich ihm aber kaum je folgen, wenn er aus diesem Bereich Wissen ins Spiel bringt. Es scheint mir doch etwas zu besagen, daß ich, ~ie mancher andere Leser, den Gedichtzyklus >Atemkristall( gut zu verstehen glaubte, ohne von da aus etwas zu wissen oder zu vermissen. Ich könnte Gründe angeben, warum das besonders in dieser Gedichtfolge so sein kann. Ich erinnere nur an das Widmungsgedicht, das in Klammern steht. Pöggelers Unterscheidung von Goethescher Symbolik und Celanscher Allegorik schafft meines Erachtens keinen wirklich überzeugenden Gegensatz9 • Es hängt von der Art der Texte ab, was man wissen muß und was man nur auch wissen kann. Man soll gewiß nicht übertreiben, aber bei einem wirklichen Gedicht, das seine Gestalt als Ganzes hat, wird Klanggestalt und Sinngehalt von Resultaten wissenschaftlicher Erkenntnis mehr oder minder unabhängig bleiben. Man denke nur an die Grade von Verstehen, die etwa Mozarts >Zauberflötec für das Textverständnis erlaubt1o, oder auch an die ,Textbücher< der griechischen Tragödie. Darf ich zum Schluß zur Illustration einen Beitrag heranziehen, in dem von den "Fadensonnen« die Rede ist? Mir schien es als Leser völlig klar, daß das Gedicht das große Himmelsschauspiel beschreibt, wenn die Sonne durch eine Wolkenwand hindurchscheint, so daß, wie die Leute sagen, die Sonne ,Fäden zieht( (ähnlich wie wenn umgekehrt es ,Bindfäden regnet(). Der gelehrte Beitragl l bringt nun ein Instrument zur Kenntnis, den )Fadensonnenzeiger(. Der Autor vermag damit den Sinn des Wortes "Fadensonne« literarisch zu belegen. Er hat ihn also nicht vom Blick auf den Himmel oder dem Volksmunde abgelesen. Immerhin, die Parallele zeigt. daß die früher geäußerten sonderbaren allegorischen Erklärungen von der abgemagerten Sonne durch den beigebrachten Beleg auch wissenschafdich abweisbar geworden sind. Aber daß der Dichter an diesen Zeiger gedacht haben soll, oder gar. daß der Leser daran denken soll - das scheint mir völlig abwegig. So möchte ich unter Ausdruck des Dankes rur das viele. was ich auf der Tagung in Heidelberg lernen konnte, zugleich auch den Wunsch ausspre9 Vgl. dazu auch die Nachbemerkung zu meinem Kommentar, .Hermeneutische Methode?, in diesem Band, S. 449f. 10 Näheres dazu in ,Vom geistigen Lauf des Menschen(, Teil2. in diesem Band. s. SOff., sowie in .Goethe und Mozart - das Problem Open, S. 112ff. 11 PITliR KÖNIG. Der Fadensonnenzeiger. Zu Paul Celans Gedicht .Fadensonnen •. In: BUHR/REuss [so Anm.2]. S. 35-51.
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ehen, man möchte aus dem schönen Beitrag, den Peter Horst Neumann zum Liedbegriff auf der Tagung geliefert hat l2 , in der Deutungspraxis recht viel Gebrauch machen. Zwar läßt sich nicht leugnen, daß im Spätwerk Celans das Liedhafte nicht mehr so dominant scheint. Aber heißt das, daß man Kreuzworträtsel zu lösen hat? Mir jedenfalls ist bei den wenigen Gedichten der Spätzeit, die ich wirklich ganz verstehe, die Einheit des Melos wiederum unverkennbar, das das Gedicht im ganzen durchtönt. Ob wir alle noch zu sehr Anfänger im Hören dieser Dichtung sind? Sollte man nicht auf anderes einen Schluß ziehen und wie Sokrates über Heraklit urteilen: •• Was ich verstanden habe, ist vortreffiich, und so wird es wohl mit dem anderen auch so sein. Freilich bedarf es eines Meistertauchers, den Schatz ans Licht ZU bringen.«
12 Vgl. jetzt PETER HORST NEUMANN, Lieder jenseits der Menschen: das Motiv des Singens bei Celan und in neuerer deutscher Poesie. In: H. DANuSER u. a. (Hrsg.), Das musikalische Kunstwerk (FS earl Dalhaus). Laaber 1988, S. 767-776.
Bibliographische Nachweise Genannt sind nur die Erstveröffentlichungen. Die Beiträge selbst erscheinen in überarbeiteterForm.
1. Hölderlin und die Antike. Erstdruck in: Hölderlin. Gedenkschrift zu seinem 100. Todestag. Hrsg. von Paul Kluckhohn. VerlagJ. C. B. Mohr (paul Siebeck) Tübingen 1943, S. 50-69.
2. Hölderlin und das Zukünftige. Vortrag 1943 an der Teclmischen Hochschule in Darmstadt. Die rur die Zeitschrift .Die Antike< vorgesehene Veröffentlichung war wegen der den Schluß bildenden Verse nicht mehr möglich. Erstdruck in: Beiträge zur geistigen Oberlieferung. Verlag Helmut Küpper Bad Godesberg 1947, S. 53-85.
3. Die Gegenwärtigkeit Hölderlins. Erstdruck in: Hölderlin-Jahrbuch Bd. 23 (1982/83), S. 178-181.
4. Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins ,Andenken<. Beruht aufTeilen eines Vortrags anläßlich der zweiten Tagung der Martin-Heidegger-Gesellschaft in Meßkirch am 26. September 1987. Erstdruck unter dem Titel •Von der Wahrheit des Wortes. in: Denken und Dichten bei Martin Heidegger (Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft 1988). Privatdruck Meßkirch 1988. S.7-22. Den Rahmen bildet ein bisher unveröffentlichter Beitrag, der für das Hölderlin-Kolloquium 1987 in Yale gedacht war.
5. Goethe und die Philosophie. Vortrag vor der Goethe-Gesellschaft Leipzig im November 1942 im Rahmen der Goethe-Woche. Zuerst veröffentlicht als Nr.3 der Humboldt-Bücherei im Volk und Buch Verlag Leipzig 1947 (33 S.).
6. Goethe und die sittliche Welt. Nach dem Text eines Rundfunkvortrags von 1949. Erstdruck in: Kleine Schriften Bd.lI: Interpretationen. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1967, S.97-104.
7. Vom geistigen Lauf des Menschen - Studien zu unvollendeten Dichtungen Goethes. Die Studie über .Prometheus. und .Pandora. wurde 1948 Kurt Steinmeyer zum 60. Geburtstag überreicht. Ihr liegt ein Leipziger Vortrag von 1944 zugrunde. Die Studie über die .Zauberflöte< geht auf einen Leipziger Vortrag 1947 zurück. Zuerst
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Bibliographische Nachweise als eigenständige Veröffentlichung erschienen im Verlag Helmut Küpper Bad Godesberg 1949 (56 S.).
8. Goethe und Mozart - das Problem Oper. Vortrag in der Alten Aula der Universität Heidelberg am 10. Juli 1991. Erstdruck in: Mozarts Opernfiguren. Grasse Herren, rasende Weiber - gefahrliche Liebschaften. Hrsg. von Dieter Borchmeyer (Facetten deutscher Literatur. St. Galler Studien Bd. 3). Paul Haupt-Verlag BernlStuttgartlWien 1992, S. 233-245.
9. Das Türmerlied in Goethes )Faust(. Erstveröffentlichung unter dem Titel )Zwischen Ferne und Nähe - Goethe lesen< in: Neue Zürcher Zeitung, 203.Jg., Nr.64 (Fern ausgabe) vom 19. März 1982, S.35-36.
10. Die Natürlichkeit von Goethes Sprache - ein Kongreßbeitrag. Vortrag auf dem Einladungssymposium, das am 25./26. März 1982 in der Aula der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zu Frankfurt am Main stattfand. Erstdruck in: Allerhand Goethe - seine wissenschaftliche Sendung. Aus Anlaß des 150. Todestages und des 50. Namenstages derJohann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Hrsg. von Dieter Kimpel und Jörg Pompetzki. Verlag Peter Lang Frankfurt/Bern/NewYork 1985, S. 45-57.
11. Bach und Weimar. Rede, gehalten bei den vom Kulturamt der Stadt Weimar veranstalteten Bach-Tagen im März 1946. Zuerst erschienen als eigenständige Ver5ffendichung im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar 1946 (155.).
12. Prometheus und die Tragödie der Kultur. Vortrag vor der Dante-Gesellschaft in Dresden 1944. Zuerst erschienen mit leichten Kürzungen in: Die Wandlung 1 (1946), 5.600-611. Vollstilndige Fassung dann in der Festschrift RudolfBultmann zum 65. Geburtstag. Kohlhammer-Verlag Stuttgart/Köln 1949, S. 74-83.
13. Der Gott des innersten GefiihIs. Erstdruck in: Neue Rundschau 72 (1961), S.34O-349 mit der Widmung: Gustav RudolfSellner zum Abs~hied von Darmstadt.
14. Vergänglichkeit. Geschrieben für das Programmheft (S. 11-16) der Hamburgischen Staatsoper anläß-
lieh der UraufRihrung) Vergänglichkeit( - Musik von Dieter Schnebel, Theater- und Bildversionen von Achim Freyer - am 12. Mai 1991.
15. Karl Immermanns )Chiliastische Sonette(. Erstdruck in: Neue Rundschau 60 (1949), S. 487-502.
Bibliographische Nach weise
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16. Zu Immermanns Epigonen-Roman. Entstanden 1947. Erstdruck in: Auf gespaltenem Pfad. Festschrift für Margarete Susman. Hrsg. von Manfred Schlösser. Erato-Presse Darmstadt 1964, S. 254-273.
17. Gesang Weylas. Erstdruck in: Ver.lust und Ursprung. Festschrift f'lir Wemer Weber. Mit Beiträgen zum Thema »Et in Arcadia ego •. Hrsg. von Angelika Maass und Bernhard Heinser. Ammann Verlag Zürich 1989, S.169-173.
18. Der Dichter Stefan George. Gedenkrede zum 100. Geburtstag von Stefan George am 12.Juli 1968 an der Universität Heidelberg. Erstdruck in: Ruperto-Carola, 2O.Jg., Bd.45 (Dezember 1968), S. 102-111. Sowie in: Duitse Kroniek 20 (1968), Nr. 4, S. 126-148.
19. Hölderlin und George. Vortrag am 8.Juni 1968 auf der Jahresversammlung der Hölderlin-Gesellschaft in Düsseldorf. Erstdruck in: Hölderlin-Jahrbuch Bd. 15 (1967/68), S.75-91. Eine erweitene Fassung ist aufgrund eines Vortrags auf dem Kölner George-Kolloquiul1l vom 30. September bis 6. Oktober 1968 zuerst erschienen in: Stefan George Kolloquium. Hrsg. von Eckhard Heftrich/Paul Gerhard KlussmannlHans-Joachim Schrimpf. Wienand Verlag Köln 1971, S. 118-132 (mit Diskussion S. 133-137).
20. Ich und du die selbe seele. Entstanden 1972. Erstdruck in: Poetica. Insel-Verlag Frankfurt/M. 1977, S. 69-76.
21. Der Vers und das Ganze. Festvortrag zur Eröffnung des George-Seminars in der Stadthalle Bingen am 7.Juli 1978. Erstdruck in: Das Stefan-George-Seminar 1978 in Bingen am Rhein. Eine Dokumentation, herausgegeben von der Gesellschaft zur Förderung der StefanGeorge-Gedenkstätte im Stefan-George-Gymnasium Bingen e. V. Hrsg. von Peter Lutz Lehmann und Robert Wolfr. Lothar Stiehm Verlag Heidelberg 1979, S. 32-39.
22. Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Vortrag auf einem von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, am 3. Dezember 1983 veranstalteten Symposium anläßlich des 50. Todestages von Stefan George. Erstdruck unter dem Titel ,Stefan George (1868-1933), in: Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium. Hrsg. \'on Hans-Joachim Zimmermann (Supplemente zu den Sitzungsberichten der HeideIberger Akad. d. Wiss., Phil.-hist. KI.,Jg. 1984, Bd. 4). Carl Winter Universitätsverlag Heidelberg 1985, S. 39-49.
23. Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins - zu dem Buch von Romano Guardini. Rezension zu: Romano Guardini, Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine Interpretation der Duineser Elegien. München 1953. In: Philosophische Rundschau 2 (1954/55), Heft 112, S. 82-92.
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Bibliographische Nachweise
24. Poesie Und Interpunktion. Erstveröffentlichung in: Neue Rundschau 72 (1961), S. 143-149.
25. Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien. Vortrag auf einem Mainzer theologischen Ferienseminar, Oktober 1966. Erstdruck· in: Kleine Schriften Bd. II: Interpretationen. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1967, S. 194-209.
26. Rainer Maria Rilke nach 50 Jahren. Vortrag anläßlich der Feier des 100. Geburtstags von Rainer Maria Rilke am 6. Dezember 1975 im Saal der Deutschen Bank zu Frankfurt am Main. Erstdruck in: InselAlmanach auf das Jahr 1977: Rainer Maria Rilk.: 1875 bis 1975. Eine Dokumentation. Insel-Verlag Frankfurt/M. 1976, S. 61-78.
27. Hilde Domin, Lied zur Ermutigung H. Erstdruck innerhalb des Beitrags ,Das Gedicht zwischen Autor und Leser: Zwei Doppelinterpretationen, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 2O.Jg., Heft 5 (Mai 1966), S. 440-442. Und in: Doppelinterpretationen. Das zeitgenössische deutsche Gedicht zwischen Autor und Leser. Hrsg. u. einge!. von Hilde Domin. Athenäum-Verlag Frankfurt/M. 1966, S. 195-197.
28. Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr. Laudatio anläßlich der Verleihung des Droste-Preises an Hilde Domin in Meersburg, Mai 1971. Erstdruck in: Neue Zürcher Zeitung, 192.Jg., Nr. 215 (Fernausgabe) vom 18. August 1971, S. 37-38.
29. Die Höhe erreichen - Hilde Domins Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Erstdruck in: Neue Zürcher Zeitung, 209.Jg., Nr.281 (Femausgabe) vom 2. Dezember 1988, S. 45-46.
30. Gedicht und Gespräch - überlegungen zu einer Textprobe Ernst Meisters. Vortrag beim vierten Lyrikertteffen in Münster, 1985. Erstdruck in: Lyrik - Erlebnis und Kritik. Hrsg. von Lothar Jordan/Axel Marquardt/Winfried Woesler. S. Fischer Verlag Frankfurt/M. 1988, S. 314-326.
31. Ernst Meister, Gedenken V. Erstdruck unter dem Titel ,Das Blatt zwischen uns, in: Bilder und Zeiten. Beilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. Februar 1977, S. 4. Dann aufgenommen in den 3. Band der Frankfurter Anthologie: Gedichte und Interpretationen. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki. Insel-Verlag Frankfurt/M. 1978, S. 203-206.
32. Denken im Gedicht. Erstdruck in: Franz Bemhard, Der Kopf· Zeichnungen. Mit Beiträgen von HansGeorg Gadamer und Erich Thies. Hrsg. von Erich Thies. Edition Cantz Stuttgart 1990, S. 7-11.
Bibliographische Nachweise
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33. Kafka und Kramm. Vortrag anläßlich einer erneuten Ausstellung von Kramms Kafka-Zyklus 1988 im .Sole d'Oro. in Heidelberg. Erstveröffentlichung im Ausstellungskatalog: Willibald Kramm, Kafka und die 50er Jahre. Hrsg. von Riccardo Dottori. Verlag Mazzotta Milano 1991, S.26-32.
34. Verstummen die Dichter? Erstdruck in: Zeitwende 41 (1970), S.344-352. Der vorliegende Wiederabdruck ist um die Celan-Interpretation gekürzt worden, diejetzt als Teil von Nr. 36 erscheint.
35. Im Schatten des Nihilismus. Erstdruck teilweise in: Cultural Hermeneutics of Modem Art. Essays in Honor of Jan Aler. Hrsg. von Hubert Dethier und Eldert Willems. Rodopi-Verlag Amsterdam 1989, S.233-244. Erweitert um die Interpretation von Celans .Schlußgedicht., als Beitrag zum Celan-Symposium in Seattle, Oktober 1984, zuerst erschienen in: Argumentum e Silentio. Internationales Paul-Celan-Symposium. Hrsg. von Amy D. Colin. Verlag Walter de Gruyter Berlin/New York 1987, S.58-71. Erstveröffentlichung der erweiterten Fassung in der vorliegenden Form in: Gedicht und Gespräch. Insel-Verlag Frankfurt/M. 1990, S. 91-tt4.
36. Wer bin Ich und wer bist Du? - Kommentar zu Ce1ans Gedichtfolge .Atemkristallc. Zuerst erschienen als Band 352 der Bibliothek Suhrkamp Frankfurt/M. 1973 (134S.). Revidierte und ergänzte Auflage 1986 (156S.). In den vorliegenden Band sind die Vorworte und der Abschnitt .Lesarten. der revidierten und ergänzten Auflage nicht mit aufgenommen worden. Interpretationen einzelner Gedichte des Zyklus .Atemkristall. sind schon vorab erschienen, so in der Festschrift rur Heinrich Schlier, hrsg. von Günther Bornkamm und Karl Rahner, Herder-Verlag Freiburg 1970, S.306-312; in: Zeitwende 41 (1970), S.346-349; in der Neuen Zürcher Zeitung, 192.Jg., Nr. 15 (Femausgabe) vom 17.Januar 1971, S.49-50. Die Stellungnahme zu Peter Szondis Cdan-Interpretation .Eden. ist zuerst ers1chienen in der Neuen Zürcher Zeitung, 193.Jg., Nr.304 (Femausgabe) vom 5. November 1972, S.53.
37. Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan. Erstdruck in: Zeitwende 46 (1975), S. 321-329.
38. Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan? Beitrag zum Symposium ,Paul Celan: .Atemwende. - In-Frage-Stellung der Interpretationen., das vom 16.-19. September 1987 im Internationalen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg stattfand. Nachträgliche Fassung flir den Erstdruck in: Paul Cdan: .Atemwende•. Materialien. Hrsg. von Gerhard Buhr und Roland Reuß. Verlag Königshausen & Neumann Wurzburg 1991, S. 3tt -317.
Namen Bei häufig behandelten Autoren sind in kursiver Schrift die Ticel der imerpretierten Werke beigegeben; die Titel einzelner Gedichte sind in Anführungen gesem. Adomo 330, 448 Aischylos30, 35, 81, 85, 87,150,155-158, 172,278 Allemann, B. 434 Andreae214 Ariscoceles 60, 135, 252, 255, 402 f. Auguscin254, 375, 402 Bach 142-149, 249,330, 454 Bachmann, 1. 331 Bachofen 101 Balzacl93,195 Bang, H. 309 Beckecc, S. 309 B'eethoven 124, 144, 146,249 Beißner, F. 2, 6,13.17,27,28,43,230,243 Benjamin, W. 392, 449 Benn, G. 40, 216, 335, 367-370, 371 f., 375 Bense, M. 447 Bergscraesser 214 Bercaux, P. 41 Bertram, E. 214, 259, 263 Bevilacqua, G. 466 Binder, W. 45 Blumenthal214 Bobrowski 363-366 Boccaccio 82 Boeckh, F. A. 378, 430 Böhm, K.1l2 Boehringer, R. 214, 220 Böll,H.367 Bollack 394, 448 Börne72 Bovillus82,241 Brechc442 Bröcker, W. 286 Brod,M.353,357 Bruckner, A. 146 Bücher, R. 431
Buhr,G.464 Bultmann, R. 122,294 Burckhardc,]. 261, 391 Busch, F. 112 Byron 152 Calder6n 74,116,272,409 Ca mus, A. 333 Carove 184 f. Cassirer, E. 82, 241 Celan, P. 216, 331, 335,363,367 f., 370-382,383-451,452-460,461-469 - Atemkrista//383-427, 433, 435, 444-450, 461-469 - .Blume,431-434 - .D" liegst im gO'oßen Gel
478
Namen
Engels, F. 204 Enzensberger 333 Euripides 409
- WilhchnMeister77,I04,139,182,194f., 1%,198,200
- Faust75, 77, %,102, 105f., 110f., 119, 122-127,135, 139f., 188
Feuerbach 199 Fichte 4f., 45, 56, 58, 66,133, 186ff. Fiedler, K. 232 Flaubert193,195 Flimer, W. 90 Fontane 193 Freiligrath 206 Freycag,G.182,195 Friedemann, H. 268 Friedländer, P. ISO, 261, 268f. Friedrich, C. D. 44, 407 Furtwängler, W. 330 George, Sc. 21, 39, 42, 72,122, 128f., 131f.,I83,186,191,211-228,229-244, 245-248,249-257,258-270,284,308, 335,367,371,380,398,433;G.und Maximin212, 225f., 231 f., 235f., 251, 253 - Blätterfiirdie Kunst 211 f., 218, 231, 243, 250,256
- Algabal223 - DasJahrder Seele 222, 224, 237, 241, 345 ff., 264 f.
- Der Teppich des Lebens 218, 222, 224, 237,265
- Der Siebente Ring214, 226f., 230, 235, 243
- Der Stern des Bundes 220, 225f., 235, 237, 250f.,264
- Das Neue Reich 227 f., 234, 343 Georgiades, Th. 113ff., 124 Gide, A.160 Goethe I, 20, 22f., 39, 56-71, 72-79, 80-111,112-121,122-127,128-141, 143ff.,148f., 159f.,178, 182,188,190, 193-197,199,215,219, 229 f. , 238, 241, 249,253,258,262 f., 306, 333, 439, 449 f., 459 f., 464, 468 - Dichtung und Wahrheit 57,74, 83f., 87, 197 - PrQmetheus (Ode) 80-84, 159, 436 - Prometheus (Drama) 80,84-88, 9Of., 140, 436 - Pandora 75, SO, 86, 89-93, 160, 459 - Der ZauberjIöteanderer Teil 80,93-96, 101-111,112-121
- West-östlicher Divan 75, 77 f., 128, 253, 306,383,459 Gogol193 Gorki193 Grass, G. 367 Grillparzer 197 Guardini, R. 11, 163,271-281,289,291, 313 Gundolf, F. 212, 214, 217, 220f., 224, 251, 259,268 Haller, A. v. 335 Hamann,j. G. 337 Hamlin, C. 45f. Hauptmann, G. 125 Hebbel,F.186,197,253 Hebel,]. P. 178 . Hegel9, 19,42,45,56,58, 66ff., 79, 127, 144, 148f., 185ff., 188,19Of., 196,199, 206, 252f., 255, 257, 265, 281, 306, 381, 430 Heidegger 42 ff. , 48ff., 53, 55, 122, 131, 262,306,343,357, 375 ff. , 386, '456 Heine 73, 197 Hellingrath, N. v. 2, 21, 39, 42f., 130, 221, 229-234,239f.,262,459 Henkel, A. 94, 139f., 162, 262 Henrich, D. 43ff. Heraklit 379,404,409, 469 Herder24, 59, 69f., 74,131 f., 229f., 373 Herodot153 Hesiod3O, 81, 89, 91,150,152-156,254 Hesse, H. 367 Hildebrand, A. v. 232 Hildebrandt, K. 214, 268 f. Hildeshc::imer, W. 138 Hofmannsthai, H. v. 131, 178 f., 211 f., 220,335,367 Hölderlin 1-19, 20-38, 39ff., 42-55, 72-75,114,122, 13Of., 137, 162f., 170, 175,186,19O,210,220ff.,227,229-244, 249, 252f., 262, 271, 294, 308, 326, 335, 337,366,429,432,442,455, 459f., 464; H. und Diotima 233 ff.
- ,Saturn undJupitert 35 - Hypcrion2,4,21,4O,48ff., 54,234
Na\1len
- ,Bro/und Wein< 4, 9f., 13-17,23-28,39, 45,242,252 - ,DerEir!zige<2ff.,8ff., 14, 18,42,53, 175,190 - ,Versöhnendm7, 9, 10,13,16,17,29,55 - ,Pa/mos, lOff., 16, 18, 28f., 175,455 - ,Der Rheind8, 3Off. - ,Am Quel/der Donau' 16ff., 240 - Boehlendorffbrief6, 28 - ,Andenken< 42-55 - ,Der Muller Erde' 16, 210, 241 ff. ~oßlerI9, 144, 153,202,231,254,258, 294, 319, 321f., 333, 449 Horaz 132, 219, 239, 246f. Ißlmennann 180-192,193-206,209, 253 - ,Chilias/is,heSonel/etlSO-186, 188f., 19Of.,197 - Die Epigonen 182, 185, 196-206 - Mün,hhausenI82,197,199f.,203,205 - ,Merlin< 186-190,197,209 Jacobi, F.~. 59, 82f. Jacobsen,J.P.309 Jahn,0.116 Jakobson, R. 436, 460 Jaspers 73f., 127, 139 JesusChristus3. 8-16, 24, 47, 174ff., 183f..189,228,244,252,314,374.411, 453-458 Joachim-Dege. M. 39 Joyce,J.193,309,367 Kafka 353-361, 450 Kaiser, G. 207 ff. Kant4, 56, 58. 61-66,68, 78f., 133f., 136, 247,307,314,332, 335.403f.,443 Kantorowicz, E. 214. 267f. Kassner. R. 274, 312 Keller. G. 193ff. Kierkegaard 74, 127, 139, 175,357,385 Kippenberg 311,464 Kleist,~. v. 1.73, 162-170 (A",phi/ryoIIJ, 177,253.283 Klingner, F. 261 Klopstock 74.230,232,233 KommereII, M. 12,72. 162,215,262 Kramm. W. 353-361
479
Landmann, P. 214 Laotse231 Leibniz60, 147f. Lepsius, S. 216 Leskow193 Lessing82, 134, 143 Lukacs, G. 265, 307 LutherI7,136,143f..220.258 Lykurg254 Mallarme 212,219,230,308,378,380, 431,434,448,464 Mann, Th. 131, 162, 193,367 Marees, H.v. 232,379 Marx,K.199 Mayer, H. 193 Meinecke, F. 128 Meister, E. 179,335-346,347-348, 349-352 Mendelssohn, F. 145 Mendelssohn, M. 82 Memzel, W. 72 Milojcic 391 Milton252 Moissi, A. 122ff. Molierc 162-166,170 Momeverdi 113 Morenz, S. 97 Mörike 186, 207-210,253 Moritz, K. Ph. 133f.,137 MozanSO, 93-101 (Zauberjlö/eJ, 103, 108f.,II1,112-121,468 Müller, A. 162 Musil, R. 131,367 Natorp214 Neumann, P. ~. 469 Nietzsehe I, 21, 40, 46, 55, 68ff., 150, 160, 186,191.214,231, 253f., 261,263, 266ff.• 294,309.314.340,370 Novalis 21.24. 174, 186 Nypels. A. 445 Otto. R. 421 Otto, W. F. 261, 294 Palm. E. W. 129.262.331 Parmenides 173 Pascal 345 Jean Paull, 194.206 Petersen 213 f.
480
Namen
Picasso 379f. Pindar2, 9, 17f., 51,173, 221, 229f., 233f., 239,246, 262, 273,409, 460 Platen, A. v. 183 Plato44,70, 85, 158,252,254,257,261, 267ff., 270,279,338,340,344 Plautus 163 PniQwer, O. 87 Pöggeler, 0.398, 446f., 449, 468 Pound,E.47 Prometheus 30, 35 f., 78, 81-93, 140, 150-161,172,24Of. Proust,M.193,198,309,367 Raffael263, 267 Reichardt 124 Reinhardt, K. 30, 150,261,268 Reuter, F. 194 Riezler, K. 261 Rilke22, 40, 47, 72, 75, 131,149,211,215,
241,271-281,282-288,289-305, 306-319,335,363,367,371,400,406, 433,440,445,456,459,464 - Das Stunden-Buch 308f., 314 - MAlle276,287,299,309,313f. - Duineser Elegien 215, 271 -281,283, 287f.,289-305,308-319,336,445,464 - .Cegen-Slrophen' 291 ff., 311 ff., 315 - Sonette An Otpheus215, 272, 282-287, 291,302,308,310,440 Rodin315 Rohde, G. 261 Rousseau 85, 131,258 Ruge,A.I99 Saint-Simon, C. de 181, 184ff., 191,193 Salin, E. 214, 232 Scaliger83 Schaaf,}. 117 Schadewaldt, W.137 Schefold, K. 214 Schelling 56, 66 ff., 186, 188 Schikaneder,E. 94-102, 111,113,115f., 119f. Schiller I, 6, 20, 22f., 39, 57f., 62-68, 72, 74,77,94,111,128,131 ff.,137,143f., 182,234,249,262 Schlegel, F. 190, 195 Schleiermacher, F. 374, 378, 442 Schmidt,1- 3 Schmoller, G. 213, 260
Scholem, G. 468 Sch6nberg, A. 371, 380 Schopenhauer357 Schuben,F.120,124 Schubert, G. H.185 Schürer, O. 44, 260 Schütz:, H. 144 Scott, W.206 Seidlin, O. 94 Shaftesbury 83, 159,241 Shakespeare115f.,I44, 202, 218, 229, 248 Shelley159 Simmel, G. 265 Singer, K. 214, 268 Sisyphus 333 f. Sokrates70f., 254, 269,344,451,469 Solon254 Sophokles6,17,114,l44,157,202 Spielhagen, F. 182,195 Spinoz:a 58 ff., 187 f. Spitzer, L. 185 Staiger, E.138, 141,290 Stauffenberg, C. v. 129, 214f. Steiner,]. 289ff., 301 Steiner. R. 137 Stendhal193,195 Stifter, A. 193ff., 197 Straube, K. 142f., 330 Susrnan,M.193,265 Sz:ondi,P.162,436-440,467 Tantalos32 Thackeray, W. 195,354 Theognis 154,334 Thukydides 321 Tieck, L. 187, 189 Toistoi 193, 297, 367 Trakl, G. 40, 122,335,367,459 Troeltsch, E. 129 Tschlz:ewskij, D. 390 Turgenjew 193 Uechtri~, F. v. 186f. Uxkull, W. v. 214
Valery, P. 343, 362 Verdi249 Vergi1219 Verwey, A. 256 VondcrLeycn, F. 230 Vulpius, C. 76
Namen
Wagner, R. 186,249,253 Weber,~. 176,213,258,270 Webern, A. v. 371 f., 380 Wieland, C. M. 85f.. 194 Wilamowitz 261 Winckelmann 1,190,263,267 Withof335 Wolf, H. 207, 253
Wolters, F. 213 ff.. 217, 237, 260f. Yorck v. Wartenburg, P. 409 Zarathustra253,314 Zelter, K. F. 61, 124f., 148 Zola 193,195
481