Die Frage, die den Science Fiction-Autoren der Gegenwart am meisten gestellt wird, lautet: „Wie kommen Sie nur auf solc...
139 downloads
625 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die Frage, die den Science Fiction-Autoren der Gegenwart am meisten gestellt wird, lautet: „Wie kommen Sie nur auf solche Ideen?“ Leben SF-Autoren bereits heute in der Zukunft? Sehen sie mehr als wir? Was sind es eigentlich für Menschen, die utopisch phantastische Literatur schreiben? Sind sie ebenso verdreht, wie manchmal ihre Geschichten? In einem Versuch, all diese Fragen zu klären, beschreibt der in New York lebende britische Schriftsteller Charles Platt seine Begegnungen mit den 28 erfolgreichsten und prominentesten Science Fiction-Autoren der westlichen Welt. Im einzelnen werden folgende Autoren interviewt und ausführlich vorge stellt: Brian W. Aldiss Isaac Asimov J.G. Ballard Gregory Benford Alfred Bester Ray Bradbury John Brunner Edward Bryant Algis Budrys Samuel R. Delany Philip K. Dick Thomas M. Dish Harlan Ellison Philip José Farmer
Frank Herbert Damon Knight und Kate Wilhelm C. M. Kornbluth Barry N. Malzberg Michael Moorcock Frederik Pohl Robert Sheckley Robert Silverberg Norman Spinrad Hank Stine E. C. Tubb A. E. van Vogt Kurt Vonnegut jr. Ian Watson
Die Antworten, die Charles Platt in seinen ausführlichen Inter views erhielt, sind nicht nur überraschend, sondern in ihrer Of fenheit gelegentlich auch verblüffend.
Der Name des Engländers Charles Platt, der Herausgeber des vorlie genden Bandes, ist eng mit der „New Wave“ verknüpft, die Mitte der sechziger Jahre die Science Fic tion-Gemüter erregte. Platt, der zu vor schon Organist in einer Rockband, Fotograf und freier Grafiker gewesen war, schloß sich 1966 dem Team um Michael Moorcock an, das an dem Sprachrohr der New Wave, dem Magazin „New Worlds“, arbeitete, für das er zunächst Titelbilder entwarf; später avancierte er zum Herausgeber. Anfang der siebziger Jahre ging Charles Platt in die USA, wo er bei verschiedenen Verlagen als Lektor tätig war. Neben einem Sachbuch, welches das Überleben in der Wildnis zum Thema hatte, schrieb er weiter Science Fiction mit stark gesellschafts bezogenem Inhalt. Sein bislang letzter Roman schildert am Bei spiel einer pervertierten Popkultur und immer barbarischer werdender Beziehungen in der menschlichen Gemeinschaft den Niedergang der Großstadt als Zentrum der Gesellschaft.
Herausgegeben von Klaus-Dietrich Petersen
Hohenheim Verlag 1982
Fotonachweis der Porträt-Fotos: Ulf Andersen (Thomas M. Disch); Wide World Photos (Kurt Vonnegut, jr.); Paul Turner and Dorothy Simon (Norman Spinrad); Brian M. Fraser (Fred erik Pohl); Sutor (Samuel R. Delany); Arlene Solomon (Edward Bryant); Anthony Rogers (Algis Budrys); „Reflections of A.E. van Vogt“ (A. E. van Vogt); „C.C.“ (Philip K. Dick); David C. Lustig (Harlan Ellison); V. Tony Hauser (Ray Bradbury); Richard Wilhelm (Kate Wilhelm and Damon Knight); Fay Godwin (J.G. Ballard); Nelson Redland (John Brunner); Melissa M. Hall (Robert Silverberg); Geoff Goode (Brian W. Aldiss).
ISBN 3-8147-0021-X Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1980 by Charles Platt Titel der amerikanischen Originalausgabe: Dream Makers. The Uncommon People Who Write Science Fiction Berkley Publishing Corporation, 200 Madison Avenue, New York 10016 Titel der englischen Originalausgabe: Who Writes Science Fiction? Savoy Books Ltd. 279 Deansgate, Manchester M3 4EW, England Deutsche Lizenzausgabe: Copyright © 1982 by «Hohenheim» Verlag GmbH, Köln-Lövenich e-Book by Brrazo 07/2009 Übersetzung: Ronald M. Hahn, Wuppertal Lektorat: Klaus-Dietrich Petersen, Hamburg Titelgrafik: Oliviero Berni, Mailand Umschlaggestaltung: SCOPE Werbeagentur GmbH, Leverkusen Satzherstellung: Libro Satz, Kriftel bei Frankfurt Druck und Bindearbeit: May & Co. Darmstadt
Für meine Freunde:
John, Judith, Marnie und Simon
Inhalt Inhalt ......................................................................................11
Danksagung...........................................................................12
Einleitung ...............................................................................13
Isaac Asimov..........................................................................22
Thomas M. Disch ...................................................................33
Robert Sheckley.....................................................................49
Kurt Vonnegut jr. ....................................................................61
Hank Stine .............................................................................78
Norman Spinrad .....................................................................93
Frederik Pohl........................................................................106
Samuel R. Delany ................................................................123
Barry N. Malzberg ................................................................134
Edward Bryant .....................................................................149
Alfred Bester ........................................................................158
Cyril M. Kornbluth ................................................................173
Algis Budrys .........................................................................184
Philip José Farmer ...............................................................200
A. E. van Vogt ......................................................................219
Philip K. Dick........................................................................238
Harlan Ellison.......................................................................260
Ray Bradbury .......................................................................280
Frank Herbert.......................................................................297
Kate Wilhelm und Damon Knight .........................................313
Michael Moorcock ................................................................334
J. G. Ballard .........................................................................347
E. C. Tubb............................................................................364
Ian Watson...........................................................................376
John Brunner .......................................................................388
Gregory Benford ..................................................................400
Robert Silverberg .................................................................414
Brian W. Aldiss.....................................................................426
Selbstporträt.........................................................................444
Anhang: Das Recht zur Gegenrede .....................................447
Danksagung Ich stehe in der Schuld von Tom Durwood und Armand Eisen von Ariel Books, die mir die Idee zu diesem Buch lieferten. Des weiteren möchte ich mich bei Harlan Ellison, Victoria Schochet und Kirby McCauley bedanken: Sie haben mir Kontakte ver schafft, die ich sonst wohl kaum bekommen hätte. Auch bedan ke ich mich bei Peter Nicholls und John Clute, den Herausge bern der Encyclopedia of Science Fiction, der ich das bibliogra phische Material am Ende der einzelnen Interviews entnahm. Ganz besonders aber danke ich den Autoren, die sich die Zeit nahmen, bereitwillig und offen mit mir über sich selbst und ihre Arbeit zu sprechen. Charles Platt
Einleitung Welcher Knilch …? Für den, der Science Fiction liest, ist es ganz normal, sich die Frage zu stellen, wer sie schreibt. Wenn Sie in Ihrer Buchhand lung ein paar dieser Bücher aus den Regalen ziehen, was stellen Sie dann fest? Die meisten SF-Autoren scheinen Männer zu sein. Sie haben komische Namen (wie Asimov, van Vogt, Budrys und Moorcock). Sie befleißigen sich eines erfundenen Jargons und verfolgen offensichtlich Ideen, die sie äußerst ernst neh men. Nehmen diese Leute Drogen? Oder sind sie in dem Sinne normal, daß sie Frau und Kinder haben, zur Miete wohnen und ein Ford in ihrer Garage steht? Sind sie wohlhabend? Welche Ziele verfolgen sie als Schriftsteller? Wie alt sind sie? Und letztlich: Wie sehen sie aus? Ich halte diese Art Neugier für legitim: schließlich sind die Beziehungen zwischen Lesern und Schriftstellern in gewisser Weise beinahe intim zu nennen. Aber der größte Teil der Kriti ker und Universitätsprofessoren huldigt der Ansicht, daß es eine bessere und „objektivere“ Vorgehensweise sei, das Interesse auf das gedruckte Wort zu konzentrieren und sich jeglicher Speku lation über die Verfasser dieser gedruckten Worte zu enthalten. Für sie ist es einfach … unfein, sich die Frage zu stellen: „Wel cher Knilch hat denn dieses Buch geschrieben?“ Sie fragen sich nicht einmal, ob man etwas über den Verfasser eines Buches erfahren kann, wenn man zwischen den Zeilen liest. Ich muß gestehen, daß mich die übertriebene „Objektivität“ dieser Leute anödet, denn sie tendieren dazu, die praxisbezoge nen Fakten der Frage, wie ein Roman entsteht, niedergeschrie ben und der realen Welt vorgelegt wird, zu ignorieren. Ich
glaube, daß man ein Buch nicht von seinem Autor trennen kann, wenn man es wirklich verstehen will: Die Persönlichkeit des Verfassers, seine Motive, kommerzielle Zwänge, finanzieller Druck und viele andere Einflüsse können den kreativen Prozeß nämlich hemmen oder fördern. All diese Dinge spielen bei der Entwicklung einer ausgedachten Geschichte mit, und wenn man sie kennt, wird man auch das Werk besser verstehen lernen. Zwischen Tür und Angel Natürlich ist es keine einfache Aufgabe, in das Leben eines Schriftstellers einzudringen und ein Porträt seiner Person nie derzuschreiben, wenn man sich nur auf ein neunzigminütiges Interview und einige schnell gemachte Eindrücke seiner Le bensart und seiner Umgebung beziehen kann. Als ich dieses Projekt begann, war mir sofort klar, daß ich mich in dieser Hin sicht auf dünnem Eis bewegen würde. Gewiß, es war eine gute Idee, endlich einmal all die nüchternen Zahlen bereits existie render Science Fiction-Bibliographien und Studienführer auf einen menschlichen Nenner zu bringen, aber andererseits würde es auch nichts bringen, allzu persönliche Fragen zu stellen und in der Art irgendeines Klatschkolumnisten in der Vergangenheit der Befragten zu bohren, um auf diese Weise „endlich“ einmal offen darzulegen, wie „haarsträubend“ es in der ausgeflippten Welt der Science Fiction wirklich zugeht. Das wollte ich auf keinen Fall! Des weiteren hatte ich das unbehagliche Gefühl, dieses Pro jekt könnte eventuell einer Art Personenkult das Wort reden oder gar einen solchen hervorrufen. (So unwahrscheinlich es auch klingen mag – solche Dinge hat es gegeben. Es existieren mehrere kleine Fan-Gruppen, die sich nur mit dem Werk eines einzelnen Autors beschäftigen. Dabei handelt es sich aber meist um jüngere Leser, die bestimmten erfolgreichen TV-Serien oder
Filmen anhängen.) Kulte dieser Art erscheinen mir als Reali tätsflucht; sogar weniger fanatische Formen der Heldenvereh rung öden mich an. Aber da die Wahrheit ein gutes Gegenmittel ist, um Kulte zu zersetzen, glaube ich, daß ein Buch wie dieses, auch wenn es sich nur auf Science Fiction-Autoren bezieht, sehr heilsam sein kann. Die meisten in diesem Band interviewten Personen kenne ich seit langer Zeit, denn ich bin selbst Science Fiction-Autor gewesen und habe in der Branche lange als Lektor gearbeitet. Ich habe aber auch eine Reihe von Büchern veröffentlicht, die mit dem Genre rein gar nichts zu tun haben. Vielleicht bin ich deswegen einerseits der richtige Mann, um die Science Fiction zu verstehen und andererseits unabhängig genug von der Szene, um mir die eine oder andere kritische Anmerkung leisten zu können. Was die Autorenporträts in diesem Buch angeht, so habe ich – wie man heutzutage sagt – versucht, „ausgewogen“ zu schrei ben. Ich wollte weder jemanden niedermachen noch mit Spott überziehen, und wenn ich auch nicht allzu tief in die Befragten eingedrungen bin, so war ich auch nicht zu diskret. Ich habe niemals nach Informationen gebohrt, wenn die Befragten mit der Antwort zögerten, sondern habe mich stets nur an Dingen festgehalten, die für das Verständnis der publizierten Werke eines Autors von Wichtigkeit waren. Keine Zensur! Puristen werden sich möglicherweise jetzt fragen, bis zu wel chem Grad dieses Buch Bearbeitung erfuhr. Es stimmt zwar, daß in dieser Hinsicht einiges getan wurde, aber die Bearbei tung diente ausschließlich dazu, das aufgezeichnete Material lesbarer und durchsichtiger zu machen. Bei jedem Interview nahm ich zwischen sechzig und neunzig
Minuten Gesprächsstoff auf – das waren etwa 5000 gesprochene Worte. Das Band wurde dann mit der Hand abgeschrieben und Wort für Wort abgetippt. Da ich nicht in der Lage war, für diese Arbeit jemanden heranzuziehen, auf dessen Akkuratesse ich mich absolut verlassen konnte (und Genauigkeit ist die erste Bürgerpflicht eines Journalisten), machte ich diese Arbeit selbst. Heraus kamen alles in allem etwa 150 000 Worte Text. Als nächstes las ich das Material noch einmal durch und brachte es in die richtige Reihenfolge, um Wiederholungen aus zumerzen und später angesprochene Themen an die richtige Stelle zu bringen. Der Inhalt des Gesagten wurde dabei aber nicht verändert, außer dort, wo der Befragte sich verhaspelte oder nach den richtigen Worten suchte. Kleinere Passagen, die sich im Nachhinein als uninteressant erwiesen, wurden gestri chen. Hin und wieder kam es auch vor, daß ich Sätze eliminierte, die den Charakter von Präambeln hatten oder Phrasen wieder gaben. Am grammatikalischen Aufbau des Gesagten wurde nur wenig verändert, aber ich habe keinesfalls Worte eingefügt, die nicht tatsächlich ausgesprochen wurden oder Dinge weggelas sen, die mir übertrieben schienen oder meiner eigenen Meinung zuwiderliefen. Zu guter Letzt räumte ich jedem der Befragten die Möglichkeit ein, sein eigenes Interview zu bearbeiten und sich als Persönlichkeit ins eventuell richtigere Licht zu setzen. Grundsätzliche Änderungen nahm jedoch keiner der Autoren vor. Die Gästeliste Jedes Kapitel beschäftigt sich mit einem Autor. Ich unternahm den Versuch, den Befragten als jemand entgegenzutreten, der nichts über sie wußte und jede ihrer Äußerungen zum ersten Mal hörte. Die meisten Autoren, mit denen ich sprach, besuchte ich in ihrer Wohnung oder am Arbeitsplatz, deswegen findet
man da und dort auch eine Äußerung über die Umgebung, in der die Befragten leben: Ich glaube, daß es, wenn man einen Autor wirklich verstehen will, ziemlich wichtig ist zu wissen, wie er lebt. Die einzelnen Abschnitte werden in der geographi schen Reihenfolge veröffentlicht: Meine Reise begann an der Ostküste der USA. Natürlich konnte ich nicht jeden Science Fiction-Autor von Rang und Namen interviewen. Mancher berühmte Name ist deswegen nicht hier vertreten, weil es mir nicht gelang, be stimmte Personen aufzutreiben und zu sprechen. Andere fehlen aufgrund persönlicher Abneigung. Die Zusammenstellung die ses Buches war für mich so ähnlich wie die Zusammenstellung der Gästeliste einer Party: Ich wollte zwar jeden einladen, aber da mir dazu der Platz fehlte, konnte ich nur diejenigen auswäh len, die mir als die nettesten, berühmtesten oder kameradschaft lichsten erschienen. Für die paar Autoren, deren Werk ich nicht ausstehen kann, war dabei natürlich kein Platz (und möglicher weise hätten sie sowieso nicht mit mir gesprochen). FantasyAutoren kommen in diesem Buch deswegen nicht vor, weil ich über dieses Genre einfach zu wenig weiß. Auf alle Fälle habe ich mir die größte Mühe gegeben, von meinen persönlichen Abneigungen so wenig wie möglich zu zeigen. Science Fiction und Selbst ist der Mann Die Inspiration für dieses Buch kam mir in jenen Tagen, als ich an der New Yorker New School (einer Art Volkshochschule) Kurse abhielt, die sich einerseits mit Science Fiction und ande rerseits mit Möglichkeiten, sein Heim in Eigeninitiative zu ge stalten, auseinandersetzten. Anfänglich gab es in der Science Fiction-Klasse ernsthafte Probleme, denn die Studenten, die nur gekommen waren, um einen Schein zu machen, nahmen an den
Veranstaltungen nur teil, weil sie glaubten, auf diese Weise ei nen leichten Tätigkeitsnachweis ergattern zu können. Die ande ren Zuhörer waren indessen echte Science Fiction-Fans, die lediglich deswegen kamen, um andere Science Fiction-Fans kennenzulernen. Kein Mensch interessierte sich für das, was ich sagte oder unternahm auch nur den Versuch, sich mit der Lite ratur, über die ich Vorträge hielt, auseinanderzusetzen. Tatsäch lich erwarteten die Zuhörer lediglich eins von mir: daß ich sie unterhielt. Mir blieb also nichts anderes übrig, als hin und wieder in die Anekdotenkiste zu greifen und ein paar Geschichten über die Verlagsindustrie, die Herausgeber und die diversen Autoren zu verbreiten, deren Bücher wir gerade durchnahmen. Diese Anek doten schienen genau das zu sein, was die Klasse von mir er wartete; sie fühlte sich unterhalten. Da meine Geschichten gleichzeitig noch informativ waren, blieb es nicht aus, daß die Leute anfingen, Fragen zu stellen und Antworten erhielten, die das bearbeitete Material betrafen. Auf diese Weise gelang es mir zu verhindern, daß sich das Wissen meiner Schüler auf rein abstrakte und akademische Dinge beschränkte, was langweilig gewesen wäre. Was sie so erfuhren, war nicht einmal überflüs sig. Ich hoffe, es wird mir gelingen, mit diesem Buch das gleiche Ziel zu erreichen. Isaac Asimovs Unterhemd Das erste Interview machte ich mit Isaac Asimov. Es war nicht meine Idee; man hatte mich beauftragt, die Sache für das Ma gazin Ariel durchzuführen. Als ich nach getaner Arbeit nach Hause kam und anfing, meinen Artikel abzufassen, wurde mir klar, daß ich an sich nichts anderes zu tun brauchte, als das Band Wort für Wort ab
zuschreiben. Dabei wäre zumindest herausgekommen, auf wel che Weise die Antworten auf meine Fragen gekommen waren. Hätte ich jedes Zögern, jedes Suchen nach Worten und jeden Gesichtsausdruck des Befragten beschrieben: All diese Kleinig keiten zusammen hätten dann den Eindruck erweckt, unsere Konversation sei gefilmt worden. Ferner war ich der Ansicht, kein Bestandteil des Gesprächs gewesen zu sein. Aber Asimovs Wahrnehmung meiner Persönlichkeit beeinflußte nicht nur zu einem gewissen Grad seine Antworten, sondern ich fungierte in gewisser Weise auch als Filter dessen, was er sagte. Und das, was ich beobachtet hatte, schien mir für einen zusätzlichen Kommentar von Wert zu sein. Da war zum Beispiel Asimovs Ungezwungenheit. Er war während des Interviews ziemlich leger gekleidet (er trug alte Hosen und ein Unterhemd), was das ihm anhaftende charismatische Image in einem ganz anderen Licht erscheinen ließ. Aber auch dies war ein Teil seiner Per sönlichkeit. Diese und andere Details aus seiner Umgebung brachte ich in sein Porträt mit ein – seine Höhenangst, seine Lieblingsshows im Fernsehen, und seine Besessenheit in bezug auf bestimmte Tage und Daten. Damit, so hoffte ich, würde ich ein umfassendes Bild des Menschen Asimov zeichnen können. Jeder, der das Porträt liest, würde daraufhin beim Lesen seiner Geschichten Isaac Asimov besser verstehen lernen. Ich war mit meiner Arbeit ziemlich zufrieden (Ariel verlangte allerdings, daß ich das Interview ein bißchen überarbeitete, dem Befragten ein wenig mehr Respekt entgegenbrachte und einige meiner laienhaften, analytischen Zwischenbemerkungen strich). Mir wurde klar, daß ich auf diese Weise eine ganze Reihe von Porträts bekannter Science Fiction-Autoren zusammentragen konnte. Da niemand ein ähnliches Projekt in Planung hatte und nur wenige Leute in der Lage waren, so unterschiedliche Schriftsteller wie Van Vogt und Vonnegut, Budrys und Ballard zu erreichen, nahm ich das Asimov-Interview als Muster für
das, was ich im Hinterkopf hatte, versah es mit einem Exposé, in dem ich beschrieb, wie der Rest des Buches aussehen sollte und schickte es an den Verlag Harper & Row, der schon zuvor eine Reihe akademischer Publikationen zum Science FictionGenre veröffentlicht hatte. Harper & Row waren an dem Projekt nicht interessiert, also versuchte ich es bei Berkley, weil ich zufälligerweise den neuen Science Fiction-Herausgeber dieses Unternehmens kannte. Die Verlagsindustrie ist ein Kosmos für sich, und die Abteilung, die innerhalb dieser kleinen Welt für die Science Fiction zuständig ist, bildet eine eigene Nation. Im Bereich der Science Fiction kennt jeder jeden, und es ist allgemein bekannt, was die einzel nen Herausgeber mögen und nicht mögen. Ich erhielt einen positiven Bescheid, den die Verkaufsabtei lung von Berkley noch unterstützte. Es stellte sich heraus, daß mein Projekt größer und ambitiöser werden durfte, als ich ei gentlich geplant hatte. Außerdem bot man mir ein sehr gutes Honorar. Zu diesem Zeitpunkt bestand das Buch natürlich nur aus ei ner Idee und mußte erst noch geschrieben werden. Selbst in die sem Moment weiß ich noch nicht, wie es aussehen wird, wenn es auf den Markt kommt, wie teuer es wird, wo es überall ver trieben wird, und so weiter. Und Daten dieser Art sind von Wichtigkeit, da sie einem einen Eindruck darüber vermitteln, wer dieses Buch lesen wird. Wird es nur in einem begrenzten Raum ausgeliefert, oder hat es einen überhöhten Preis, wird sein Leben ziemlich kurz sein. Der Verkaufserfolg wird beein flussen, was ich als nächstes schreiben werde und ob ich mich dabei kommerziellen Zwängen unterwerfen muß. Man sieht also, wie das eine vom anderen abhängt; wie ein zelne Faktoren einander beeinflussen und der Produktionspro zeß, in dem ein Buch entsteht, die Natur des Produkts selbst beeinflussen kann. Und dies wirkt sich sogar noch auf spätere
Veröffentlichungen aus. Selbst eine Artikelsammlung formt sich nach den Gesetzen der kommerziellen Welt, auch wenn der Autor glaubt, über ihren Inhalt allein zu bestimmen. New York, im April 1979 Charles Platt
Isaac Asimov Vor zwanzig Jahren kannte man außerhalb der Science Fiction nicht einmal seinen Namen. Heute steht er auf über zweihundert Büchern, und dazu kommen noch so viele Kurzgeschichten und Artikel, daß eine komplette Bibliographie seiner Veröffentli chungen nicht existiert (und das, obwohl mehrere seiner An hänger in dieser Hinsicht ihr bestes gegeben haben). Von Science Fiction-Romanen wie Der Tausendjahresplan und Der Mann von Drüben, über wissenschaftliche Tatsachen berichte (von denen allein über 250 im Magazine of Fantasy & Science Fiction erschienen) bis zu unzähligen Werken, die so wohl den Mikro- als auch den Makrokosmos entmystifizieren, hat er nahezu alles geschrieben. Asimov ist der Verfasser um fangreicher Nachschlagewerke, kurzer Texte für den TV Guide, hat drei Bände mit „Limericks für Lüsterne“ publiziert, ein Buch mit dem Titel The Sensuous Dirty Old Man (Der geile alte Schmutzfink) auf den Markt gebracht, eine neue Ausgabe
22
des Don Juan kommentiert und kürzlich eine Autobiographie vorgelegt, die 640 000 Worte umfaßt, so lang wie ein Dutzend Science Fiction-Romane ist und sogar die Memoiren Richard Nixons an Länge schlägt. Isaac Asimov gehört zu den fleißigsten Schriftstellern der Menschheitsgeschichte; er hat so viel veröffentlicht, daß einige Rezensenten glaubten, sein Name müsse ein Pseudonym sein, unter dem eine ganze Gruppe von Schriftstellern ihre Ideen ver einige. In Wirklichkeit gibt es diesen Mann natürlich nur ein mal. Er arbeitet ohne Assistenz, tippt seine Manuskripte von der ersten bis zur letzten Fassung allein, beantwortet seine Post per sönlich, und ist auch am Telefon zu erreichen. Er besitzt eine sauber geordnete Bibliothek mit Nachschlagewerken, einen bil ligen Taschenrechner und ein bemerkenswertes Gedächtnis. Und natürlich ist Isaac Asimov sein wirklicher Name. Er lebt in einem teuren aber charakterlosen New Yorker Wolkenkratzer, einem jener wohlorganisierten Türme, vor deren Eingänge klei ne Springbrunnen stehen und deren Korridorlampen aus Plastik sind. Das weitverzweigte Penthouse, das er mit seiner Frau Ja net bewohnt, befindet sich im 33. Stock und erlaubt einem den Ausblick auf den Central Park. Er hat ein gemütliches, dem Zeitgeist entsprechendes Wohn zimmer, aber nicht mehr Zeit, als hin und wieder einmal einen kurzen Blick hineinzuwerfen. Mit unbestimmten, linkischen Bewegungen (er ist nicht gerade ein graziöser Mann) winkt er mich eilig durch einen Korridor und führt mich an eine Tür, auf der sein Name steht, wie an einem Arztbüro. „In diesen zwei Zimmern arbeite ich“, erzählt er mir. „Sogar meine Frau hat anzuklopfen, wenn sie hinein will. Es ist zwar noch nie vorge kommen, daß ich nicht ‚Herein’ sage, aber anklopfen muß sie.“ Die Räumlichkeiten, in denen Asimov arbeitet, sind weit weni ger übertrieben vollgestopft. Das Zimmer, in dem er schreibt, ist beinahe einfach eingerichtet. In der Mitte steht ein grauer 23
Metallschreibtisch; dahinter befindet sich eine leere, weiße Wand. Die Schubladen seines Schreibtisches sind mit säuber lich beschrifteten Schildern versehen. Alles wirkt ordentlich, aber auch kahl. Die Rollos sind heruntergezogen und verbergen den Ausblick auf die Skyline von Manhattan. „Ich arbeite lieber bei künstlichem Licht“, sagt Asimov. In Wahrheit fürchtet sich dieser Führer durch ferne Galaxien und Visionär des Raumfahrtzeitalters vor großen Höhen. Er weigert sich sogar, ein Flugzeug zu besteigen und bleibt im all gemeinen dem Planeten Erde so nahe wie möglich. Aber das ist für Isaac Asimov keine Entbehrung, da ihn das Herumreisen sowieso nicht interessiert. „Im Geiste bin ich schon überall im Universum gewesen, deswegen kann ich mir all diese kleineren Trips ersparen. Ich bin einmal in England gewesen, mit dem Schiff, das war 1974. Stonehenge hat mir ganz gut gefallen. Die Gegend sah genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte.“ Er zuckt die Achseln. Wir sitzen in seiner „Bibliothek“ (die weniger Bücher enthält als die Bibliotheken der meisten mir bekannten Autoren). Asi mov sitzt mir im Unterhemd gegenüber, als wolle er völlig un beeindruckend wirken. Dennoch spürt man, daß er sich in jeder Sekunde bewußt ist, Isaac Asimov zu sein. Es bereitet ihm sichtliches Vergnügen. Trotz seiner Unverblümtheit (als ich den Kassettenrecorder einschalte, sagt er: „Ich hasse es, Interviews zu geben“) zeigt er sich in einer durchaus verzeihlichen Weise als barscher, sich in den mittleren Jahren befindlicher Exzentri ker. Ich komme mir vor wie jemand, der in ein vom Terminka lender diktiertes Arbeitsleben eindringt, aber andererseits scheint es ihm offenbar zu gefallen, zur Stelle sein zu können. Isaac Asimovs Name steht offen im Telefonbuch, und bereit willig gibt er mir Auskunft. „Ich arbeite jeden Tag von dem Moment an, in dem ich auf stehe. Ich höre auf, wenn es Zeit ist, ins Bett zu gehen. Es 24
kommt dabei natürlich zu einem Haufen Störungen. Um den biologischen Funktionen gerecht zu werden: Essen, aufs Töpf chen gehen, Sex.“ Er zählt sie an den Fingern ab. „Und die nachbarschaftlichen Störungen. Nun, man muß ja hin und wie der hinausgehen und seine Freunde besuchen.“ Ich sage, daß sich seine Worte so anhören, als ob das Letztere für ihn weniger unterhaltend sei als die Arbeit an der Schreibmaschine. „Wenn es sich so anhört, werde ich es wohl auch so meinen. Und dann gibt es da noch die geschäftlichen Störungen. Etwa Arbeitsessen.“ Er sieht mich an. „Sie sind auch so ein Störenfried.“ Seine widerstreitenden Gefühle hinsichtlich der Kontakte zur Außenwelt und seine selbstgezimmerte Arbeitsethik basieren auf Erfahrungen aus der Vergangenheit. „In gewisser Weise bin ich nie richtig Kind gewesen … Ich mußte im Süßwarenladen meines Vaters arbeiten und habe nicht sehr oft mit den anderen Kindern gespielt. Sie wollten mich nicht um sich haben. Da ich sowieso mehr Spaß am Lesen hatte, hat mich das aber nicht sonderlich gestört.“ Möglicherweise hat der junge Asimov, um der völligen Ent fremdung zu entgehen, damals angefangen, seine ausführlichen Tagebücher zu schreiben. Zuerst fing er damit an, Baseball ergebnisse niederzuschreiben („Ich habe mir eine ungeheure Arbeit damit gemacht“), aber als er im Alter von achtzehn Jah ren die erste Science Fiction-Kurzgeschichte einem Verlag ein reichte, wurde das in mikroskopisch kleiner Schrift geführte Tagebuch zur Geschichte seiner Karriere und zum Ausgangs punkt seiner Besessenheit in bezug auf Fakten, Daten und Zahlen: ein privates Universum, in dem alles fein säuberlich aufgeführt und nachgetragen wurde. Seine erste Geschichte ging an John W. Campbell jr., den Herausgeber des Magazins Astounding Science Fiction. „Ich war völlig in seinem Bann … Er füllte mich mit Enthusiasmus. Er hat aus der Science Fiction die fesselndste Sache der Welt 25
gemacht. Am 21. Juni feiere ich den vierzigsten Jahrestag der Annahme meiner ersten Kurzgeschichte.“ Und plötzlich, wäh rend wir weiterreden, zuckt er zusammen: „Oh, jemineh!“ Seine Stimme überschlägt sich beinahe. Er gibt sich selbst eine Ohr feige. „Ist der 21. Juni nicht heute? Oh, jemineh! Heute jährt sich der Tag zum vierzigstenmal, an dem ich in das Büro eines Science Fiction-Magazins ging – es war Astounding – und John Campbell kennenlernte! Oh, jemineh!“ Er setzt sich in seinen Stuhl zurück und wirkt wie gelähmt. „Oh, ist das beängstigend! Ich habe vielleicht nur noch … Ich habe nur noch vier Stunden, um mich in diesem Gefühl zu sonnen!“ (Während unseres ge samten Gesprächs war dies das einzige Mai, daß er eine Ge fühlsreaktion zeigte oder aus dem Gleichgewicht geriet.) Er schüttelt den Kopf und reißt sich mit einiger Anstrengung wieder zusammen. „Nun, wie gesagt, am 21. Juni 1938 betrat ich zum ersten Mal John Campbells Büro. Und heute ist der 21. Juni 1978. Mööönsch!“ Woran man erkennt, wie wichtig im Leben Isaac Asimovs Fakten, Daten und John Campbell sind. Hauptsächlich für Campbell schreibend, erarbeitete er sich unter den Science Fiction-Lesern rasch eine gewisse Reputati on. Viele seiner frühen Geschichten handelten von Robotern, aber Asimov gibt zu, daß er paradoxerweise nicht die geringste Ahnung von den Ingenieurswissenschaften hat. Wenn seine Schreibmaschine nicht richtig funktioniert, weiß er nicht, was er tun soll. Auch im Labor war er nie eine große Leuchte. „Ich bin der Elfenbeinturmbewohner in Person. Ich kann zwar erklären, wie die Dinge funktionieren, aber mit den eigenen Händen bringe ich nichts zustande.“ Seine Fähigkeit, komplizierte Dinge in allgemeinverständli chen Worten auszudrücken, machte ihn außerhalb der Science Fiction wohlbekannt; aber auch das geschah nicht von einem auf den anderen Tag. „Erst als ich über vierzig war, stellte sich 26
heraus, daß aus mir mal – Anführungszeichen unten – etwas – Anführungszeichen oben – werden würde.“ Und er fügt hinzu, daß er an sich nie nach Erfolg gestrebt hat. „Wenn ich über haupt etwas war, dann auf jeden Fall viel weniger ambitioniert als meine Freunde. Ich hatte an sich keine große Zukunft. Ich war absolut zufrieden damit, Science Fiction zu schreiben, auch wenn sie nicht viel Geld einbrachte und nur von wenigen Men schen gelesen wurde.“ In seiner Kurzgeschichtensammlung Der Zweihundertjährige steht: „Mein Hauptinteresse gilt dem Schreiben an sich. Ob ich die Sache dann auch verkaufe, ist zweitrangig, und was danach mit ihr geschieht, interessiert mich fast gar nicht.“ Jetzt, wo ich ihm in seiner Bibliothek gegenübersitze und ihn ein wenig skeptisch mit diesem Zitat konfrontiere, bleibt er fest. „Es ist mir durchaus wurscht, ob irgend jemand von einem meiner Bü cher die Filmrechte erwirbt“, sagt er. „Ich kümmere mich auch nicht darum, ob für meine Bücher anständige Werbung gemacht wird. Es ist mir wirklich egal. Wenn meine Verleger aus sich selbst heraus zu der Entscheidung gelangen, etwas zu tun, um mir noch breitere Leserkreise zu erschließen, würde ich sie na türlich nicht zurückhalten. Aber ich habe keinerlei Interesse daran, sie zu einem solchen Schritt zu drängen. Es ist mir viel wichtiger, mein nächstes Buch fertigzustellen. Vor etwa zwan zig Jahren sagte meine erste Frau zu mir: ‚Wenn du nur die Hälfte des Jahres schreiben würdest, könnten wir in den ande ren sechs Monaten Urlaub machen’. Meine Antwort war: ‚Si cher, aber hättest du was dagegen, wenn ich während des Ur laubs – nur um etwas zu tun zu haben – weiterschreibe?’ Im vergangenen Jahr verbrachte ich wegen einer Arteriengeschichte sechzehn Tage im Krankenhaus. Während ich da herumhing, brachte mir meine Frau das Manuskript meiner Autobiographie, damit ich mit Federhalter und Tinte Korrekturen vornehmen konnte. Sobald ich damit fertig war, mußten sie mich gehen 27
lassen, denn ihnen wurde klar, daß das, was ich dort tat, meiner Gesundheit abträglich war.“ Ich frage ihn, wie man sich fühlt, wenn man von der Arbeit abgehalten wird. „Ich glaube, daß ich dann teilweise Schuldge fühle entwickle, weil ich das Gefühl habe, schreiben zu müssen. Die ganze Schreiberei setzt sich dann in meinem Kopf fort und türmt sich auf. Wenn ich es dann nicht schnell zu Papier bringe, kriege ich Kopfschmerzen.“ Für einen Fachmann in Sachen Biologie ist das nicht gerade eine einleuchtende Erklärung, aber das scheint ihm auch offensichtlich bewußt zu sein. „Es ist schwer zu sagen; im allgemeinen analysiere ich meine eigenen Gefühle nicht“, entschuldigt er sich schnell. Was objektive Ge gebenheiten anbetrifft, wird er klarer. Was die Fakten und Zah len der Zukunft angeht: „Ich glaube, daß die Möglichkeit des Überlebens unserer Zivilisation im einundzwanzigsten Jahr hundert weniger als fünfzig Prozent, aber mehr als null beträgt. Es gibt verschiedene Faktoren, die das Überleben beeinflussen. Nummer eins ist der Bevölkerungszuwachs. Wenn unsere Be rechnungen stimmen, wird sich die Menschheit selbst noch un ter den günstigsten Bedingungen ruinieren. Leider ist es ziem lich schwer, das den Leuten begreiflich zu machen, aber ich kann mir durchaus vorstellen, daß wir uns in absehbarer Zeit einer Lage gegenübersehen, wo man das dritte Kind einer Familie ächtet, hoch besteuert, oder man nach der Geburt des zweiten mit zwangsweiser Sterilisation rechnen muß. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, eine solche Zukunft nicht wahr werden zu lassen. Erstens müßten gewaltlose Geburtenkontrollen durchgeführt werden. Mit anderen Worten: Die Menschen selbst müssen ein sehen, daß sie sich zu viele Kinder nicht leisten können. Zwei tens: wenn das Bevölkerungsproblem so groß wird, daß die Welt in Chaos und Anarchie versinkt, bevor man auch nur dra stische Maßnahmen versucht hat.“ Ist er allgemein pessimistisch eingestellt? „Was die Lösung 28
jener Probleme angeht, die sich nicht in erster Linie auf die Menschen beziehen, bin ich sogar ziemlich optimistisch. Zum Beispiel glaube ich nicht, daß es sehr schwierig sein würde, Kraftstationen in eine Umlaufbahn zu bringen, die Sonnenener gie aufzunehmen und uns mit aller Energie zu versorgen, die wir brauchen. Das ist nur eine Frage der Technologie. Aber wenn Sie mich fragen ‚Glauben Sie, daß der Kongreß bereit ist, dafür die nötigen Gelder bereitzustellen?’ und ‚Glauben Sie, daß wir es schaffen werden, der Weltbevölkerung das Konkur renzdenken auszutreiben und sie statt dessen dazu kriegen, ko operativ für ein Ziel zu arbeiten, das eine Nation allein nicht bewältigen kann?’, dann sehen Sie vielleicht, wie weit wir von einer Lösung dieser Probleme entfernt sind.“ Ich frage ihn, was der kleine Mann tun kann. Er seufzt. „Oh, er kann Organisationen beitreten … Was mich persönlich an geht, so liegt mir die hemdsärmelige Art, laut auf solche Dinge aufmerksam zu machen, allerdings weniger. Es ist nicht mein Stil.“ Er scheint sich bei diesen Worten unwohl zu fühlen und erneut fällt mir auf, wie sehr er doch das Alleinsein und die Zu rückgezogenheit liebt. „Ich neige eher dazu, den Leuten, die mich darum bitten, Geld zu schicken. Ich bin Mitglied beinahe jeder Organisation, die in diesem Feld einen Namen hat: Zero Population Growth, dem Population Institute, der National Organization of Non-Parents, und so weiter. Aber ich unter stütze auch die Frauenrechtsbewegung, weil ich der Meinung bin, daß sie wichtig für das Überleben ist. Ich halte es nämlich für absolut logisch, daß man den Geburtenanstieg dadurch re duzieren kann, indem man den sozialen Status der Frauen an hebt.“ All dies kommt schnell und präzise über seine Lippen, und er benutzt ein Vokabular, das druckreif ist und das Zögern der meisten Menschen, die eine Konversation führen, entbehrt. Er hat dies alles schon oft gesagt, bei Vorträgen, in Aufsätzen. 29
Möglicherweise findet man es auch in einem seiner über zwei hundert Bücher. Bevor ich wieder gehe, besteht er darauf, mir seine Veröf fentlichungen zu zeigen. Seine Bücher sind numeriert und ste hen in der Reihenfolge ihres Erscheinens sauber ausgerichtet nebeneinander: der endgültige Beweis, daß man eine private Besessenheit zu einer öffentlichen Realität machen kann, daß man weder Ambition noch Habsucht verkörpern muß, um er folgreich und wohlhabend zu sein, wenn man nur die Willens kraft hat, seine Talente unermüdlich auszuwerten. Und doch ist es nicht allein eine Frage der Willenskraft. Asimovs Tagebücher lesen sich wie die Aufzeichnungen eines Menschen, der sein Ich bewußt beobachtet, alles was er tut, ge nauestens registriert und dabei von Schuldgefühlen und einem inneren Drang zum Schreiben getrieben wird. Für ihn würde ein hohes Maß an Willenskraft nötig sein, dem Schreiben zu entsa gen. Hin und wieder schätzt er auch eine Ablenkung (und sagt, seine Lieblingsshow im Fernsehen sei „Laverne und Shirley“), aber man kann sicher sein, daß er sich erst richtig wohl fühlt, wenn er sich in das spartanisch eingerichtete Arbeitszimmer seines teuer möblierten Penthouses zurückzieht, ins künstliche Licht, wie in einen Keller. Und dort, wo ihn niemand stört und er keine Selbstanalyse zu betreiben braucht, langt er dann zu. So wenig wie er sich zum Atmen zwingen muß, muß er sich zum Arbeiten zwingen. Erst die Arbeit, dann die übrigen Verpflichtungen, zum Schluß alles andere. Diese simple Devise, nach der er lebt, ist das „geheime Erfolgsrezept“ des Isaac Asimov. Für die meisten von uns ist das Leben allerdings weniger einfach; unsere Ambi tionen sind gemischt, wir haben ein Arbeitsleben, ein Liebesle ben, ein Leben, das aus Pflichten besteht, und unsere Träume müssen sich mit der Realität des Alltags auseinandersetzen. Das Wichtige in unserem Dasein wechselt von heute auf morgen. 30
Selbst wenn wir zu wissen glauben, was wir wirklich wollen, ahnen wir insgeheim, daß das nächste Jahr vielleicht ganz an ders aussieht. Nur wenige Menschen können von sich sagen, das ist das wichtigste Ziel meines Lebens – und wird es auch immer bleiben. Asimov ist Zeit seines Lebens in der Lage gewesen, eine sol che Antwort zu geben. „Ich habe in den dreißiger Jahren mit dem Schreiben angefangen. Damals war ich achtzehn. Und tief in meinem Inneren bin ich immer noch achtzehn, und es ist immer noch 1938.“ Das unveränderte Ziel, dem er ein Leben lang gefolgt ist, oh ne seine Identität zu verlieren, hat ihm die ehrenhafteste Form des Erfolgs eingetragen, die Fleiß, Talent und Inspiration her vorrufen können. Aber noch bemerkenswerter erscheint einem (wenn man weiß, daß Besessene nur selten mit ihren Obsessio nen glücklich sind) die Tatsache, daß das unermüdliche Vor sich-hin-schuften im Elfenbeinturm ihm die Erfüllung gebracht zu haben scheint. New York, im Juni 1978
31
Bibliographische Anmerkungen Isaac Asimovs Robotergeschichten befinden sich in den Kurz geschichtensammlungen Ich, der Roboter und The Rest of the Robots sowie in den Romanen Der Mann von Drüben und Die nackte Sonne. Man kann aber auch in anderen Kurzgeschich tensammlungen des Autors die eine oder andere Roboter-Story finden. Asimovs Erzählung Und Finsternis wird kommen wurde von den Science Fiction Writers of America zu einer der besten SFGeschichten aller Zeiten gewählt und in unzähligen Anthologien nachgedruckt. Bekannt wurde Asimov vor allem durch eine Romantrilogie mit den Titeln Der Tausendjahresplan, Der Galaktische Gene ral und Alle Wege führen nach Trantor, einer episch breiten Serie, die den Untergang des römischen Imperiums vor einem galaktischen Hintergrund nacherzählt. (1981 gab Isaac Asimov bekannt, daß der Trilogie in Bälde ein vierter Teil folgen wird.) Die sogenannte Foundation-Trilogie erschien in den fünfziger Jahren erstmals in Buchform. Zuvor war sie in den vierziger Jahren in Astounding veröffentlicht worden. Asimov hat sich seit 1958 hauptsächlich auf das Schreiben populärwissenschaftlicher Fachbücher verlegt und die Science Fiction hintenangestellt. Allerdings beweisen sein sowohl mit dem Hugo als auch mit dem Nebula-Award ausgezeichneter Roman Lunatico und seine Kurzgeschichtensammlung Der Zweihundertjährige (dt. 1973 bzw. 1978), daß er keinesfalls die Absicht hat, sich aus dem Genre zurückzuziehen.
32
Thomas M. Disch New York City – eine Stadt voller Kontraste! Ich stehe auf der Vierzehnten Straße und gehe an der New School Graduate Fa culty vorbei. Es ist ein sauberes, modernes Gebäude. In seinem Inneren findet heute eine Ausstellung surrealer Landschaftsfo tografien statt. Die Vorhänge sind allerdings nicht zurückgezo gen, denn hier draußen, auf der anderen Seite der Fenster, liegt Filth City – die Stadt des Schmutzes, die von den überall he rumhängenden Wermutbrüdern, Bauernfängern und mit Lum pen bekleideten, Einkaufstaschen schwenkenden und Obszöni täten murmelnden Pennerinnen bevölkert wird. Süchtige dösen herum und stolpern, wenn sie weggetreten sind, über die Feuer hydranten. Vierzehnte Straße, die Bewohner stammen aus Puer to Rico, die Waren in den Auslagen der Geschäfte aus Taiwan. Und was für Waren! In Läden, die ebenso wenig Beständigkeit haben wie das, was während eines Karnevalszuges in den Ne benstraßen abgezogen wird, bietet man Teller und Vasen aus
33
Plastik ebenso wie Spielzeuge, Jesuskreuze, Möbel, Blumen, Früchte, Jacken und Hosen aus dem gleichen Material an – und alle natürlich in Schockfarben. Und vor den Türen dieser Läden stehen die feingemachten, dunkelhäutigen Müßiggänger mit ihren Zuhälterhüten, Sonnenbrillen, metallbeschlagenen Ledergürteln, rosafarbenen und orangenen Perücken oder Afro-LookFrisuren, während fliegende Händler mit ihren Karren aus Aluminium auf Holzkohlenfeuern Kebab produzieren … Aus geflippte alte Männer verkaufen riesige Gummiballons … Überall ist man geschäftig zugange. Und ich gehe weiter, bin umgeben von Autogehupe und dem Dröhnen der bis auf die Straße herausdringenden Diskotheken musik, passiere die Banco Popular am Union Square und halte im Schatten eines Firmenschilds, auf dem Klein steht, an. Die Firma Klein war ein halbwegs respektables Warenhaus, das die einheimischen Händler aus dem Geschäft gedrängt haben und das nun seit mehreren Jahren leersteht. Dennoch überragt die langsam abbröckelnde Fassade des Gebäudes noch immer den Platz, als wolle es seinen Bankrottzustand öffentlich zur Schau stellen. Und was den Platz selbst angeht – na, komm schon her, Mann; hier rüber; ich hab das Zeug, das du brauchst: En gelstaub, Hasch, Koks, THC, Smack, Acid, Speed, Valium, Seconal, Elavil! Der Union Square hat nicht immer so ausgesehen. Michael Moorcock hat mir mal erzählt, daß er seinen Namen deswegen erhielt, weil auf ihm die letzte Schlacht des amerikanischen Bürgerkriegs ausgetragen wurde. Dumm wie ich war, glaubte ich ihm. In Wirklichkeit hat er seinen Namen natürlich wegen seiner Bedeutung für die amerikanischen Gewerkschaften: Noch heute sind die Büros verschiedener Organisationen in die sen alten, ehrwürdigen Gebäuden untergebracht. Vor ihnen ste hen alte, erhabene Gewerkschafter, die sich während der Mit tagspause hier versammeln und die fliegenden Händler und 34
Nichtstuer mustern, die ihre alkoholischen Getränke in braunen Packpapiertüten mit sich herumschleppen. Und überall das Ge dröhn der zwanzig Watt starken panasonischen Stereoanlagen. Disco! Disco! Disco! Was dem Faß den Boden ausschlägt, ist die Tatsache, daß ich ausgerechnet hier, in dieser Gegend, nach der Wohnung eines Science Fiction-Autors Ausschau halte, der in der Szene als zivilisiertes, beinahe elitäres, aber in jedem Fall sensibles Indi viduum bekannt ist. Er ist in ein ehemaliges Bürogebäude um gezogen, das man von einem kommerziellen Status in den eines Wohnhauses umgewandelt hat. Der Union Square liegt am Rand von Chelsea, einem Viertel, das man vielleicht mit Soho vergleichen kann. Ich befinde mich in einem Gebiet, das von Künstlern und Schriftstellern bevorzugt wird: Sie sind es, die in die alten Gebäude einziehen und sie wieder auf Vordermann bringen. Sobald sie mit den Renovierungsarbeiten fertig sind – das ist Usus hier –, werden die Werbefritzen und Galeristen dieses Fleckchen „entdecken“ und in einen wohlhabenden, mo dischen Stadtteil verwandeln. Theoretisch ist das drin, aber jetzt noch nicht. Momentan ist dieses um die Jahrhundertwende erbaute, sechzehn Stockwerke hohe, ehemalige Bürogebäude nichts anderes als der Außenpo sten einiger Pioniere. Ich werde von einem uniformierten Tür wächter empfangen und nehme den Aufzug zum elften Stock. Hier gelange ich in einen Korridor, den man zwar erst kürzlich mit Rigipsplatten verkleidet hat, aber dennoch über und über mit Graffiti der Sonderklasse beschrieben ist: Botschaften der sozial engagierten Mieter, die den Hausbesitzer in die Pfanne hauen, weil er offenbar nicht in der Lage ist, seinen Pflichten nachzukommen. Ich lese „Mr. Ellis ist ein Depp“ und „Miet streik jetzt!“, dann gelange ich an eine Eisentür, die man provi sorisch mit weißer Latexfarbe bemalt hat. Farbe dieser Art bleibt einem an den Fingern kleben und ist so leicht nicht wie 35
der abzuwaschen. Da nirgendwo eine Klingel zu erspähen ist, habe ich keine andere Wahl, als gegen die Türfüllung zu klop fen. Aber es gibt keinen Zweifel: Hier ist der Ort, an dem Tho mas M. Disch sich niedergelassen hat. Mr. Disch öffnet die Tür. Er ist ziemlich groß, herzlich und zuvorkommend, als er mich willkommen heißt. Er führt mich hinein, und ich stelle fest, daß es im Inneren seiner Wohnung viel zivilisierter zugeht als draußen. Auf dem Boden liegt ein dicker, neuer Teppich; darauf steht eine Couch mit einem kost baren, alten Mahagonitisch. Er hat Gardinen an den Fenstern, die im übrigen einen Ausblick über den Union Square liefern, auch wenn der Platz so tief unter uns liegt, daß man die Dro genhändler nur noch als kleine Gestalten wahrnehmen kann. So charmant wie seine Wohnung ist auch Mr. Disch, der sich alle Mühe gibt, mich mit etwas zum Knabbern und zum Trinken zu versorgen. Er hat zwar nicht die phantastischen Leckereien an zubieten, die vor seiner Haustür verkauft werden, aber dafür läßt er mich über alles großzügig und gastfreundlich verfügen. New York, die Stadt der Gegensätze, ist auch die Stadt der hohen Mieten, und selbst ein relativ gut beschäftigter und durchaus erfolgreicher Schriftsteller, der sich dem vierzigsten Lebensjahr nähert, darf unter diesen Umständen nicht unbedingt Wert darauf legen, in welcher Nachbarschaft er sich befindet. Tatsache ist aber, daß Thomas Disch in der Welt dermaßen weit herumgekommen ist, daß es ihm keine Schwierigkeiten bereitet, sich an seine jeweilige Umgebung anzupassen. Seine Gegen wart läßt das, was sich vor der Haustür abspielt, beinahe imma teriell werden. Es entspricht seinem Charakter, sich mit reiner Willenskraft überall heimisch zu machen. Unter welchen Um ständen er auch lebt, er hat nie das Gefühl, am falschen Platz zu sein oder die Nerven verlieren zu müssen. Vielleicht liegt es an seiner körperlichen Größe, vielleicht aber auch an seiner be wundernswerten Selbstkontrolle und seinen gepflegten Manie 36
ren, aber er scheint sowohl ein Teil seiner Umgebung als auch distanziert von ihr zu sein. Auf jeden Fall ist er kompetent ge nug, mit allem fertigzuwerden. Ähnlich ist es mit seinen Werken: Auch hier hat er alle Techniken ausprobiert und in allen Genres seine Spuren hinter lassen. Er hat Gedichte und Science Fiction geschrieben, Arti kel publiziert, und Drehbücher, Kriminalgeschichten und histo rische Stoffe veröffentlich. Er hat sich in jedem Bereich der Literatur heimisch gemacht, ohne sich dabei unwohl zu fühlen oder sich fehl am Platze vorzukommen. In welchem Bereich er auch immer gearbeitet hat: er hat stets eine eminente Selbstdis ziplin und gepflegte Manieren an den Tag gelegt. Nehmen wir zum Beispiel seine Ausflüge in die Science Fic tion. Er hat sich zwar ein paar Jahre in diesem Getto der Litera tur aufgehalten, war aber stets mehr ein Besucher als ein Be wohner dieser Gefilde. Er hat zwar zur Umgebung gehört, hielt aber gleichzeitig eine gewisse Distanz zu ihr aufrecht und be trachtete sie aus einer gewissen ironischen Perspektive. Was die ständigen Bewohner dieses Gettos betrifft – damit meine ich die „alten Hasen“ der Szene; sowohl die Autoren als auch die Fans – so kann man nicht sagen, daß sie sich sehr darüber gefreut haben. Einige von ihnen sind sogar ziemlich unglücklich dar über gewesen, daß der elegante Ästhet Disch ihren Mikrokosmos „entdeckt“ und mit ihrer billigen Unterstützung seine eigenen „fragwürdigen“ Ziele verfolgt hat. Dischs erster Roman macht die Sache vielleicht klarer. Zwar erkannten die Science Fiction-Leser ihn sofort als eine Invasions geschichte in der Tradition von H. G. Wells’ Krieg der Welten, aber in einer Hinsicht unterschied er sich von diesem Buch und seinen tausend Nachahmungen durch das Ende. In allen Invasi onsromanen dieser Art gewinnt nämlich die Erde, und die Fremdlinge aus dem All kriegen eins auf die Nase. In Dischs Roman Die Feuerteufel (der im amerikanischen Original The 37
Genocides, also Die Völkermorde hieß) hingegen verliert die Erde, und die Eindringlinge rotten die Menschheit aus. Man hatte den Eindruck, als würde Disch sich über die bis dahin gel tenden traditionellen Erzählmuster der Science Fiction ganz schön lustig machen. Er selbst sieht das natürlich anders. „Es war einfach ästhe tisch unbefriedigend für mich, ständig zu lesen, wie die gewal tige Invasionsflotte der Außerirdischen am Ende eines solchen Romans stets den Kürzeren zog. Ich hielt es für absolut normal, zu sagen: Wollen wir doch mal ehrlich sein, wirklich interessant wäre es doch nur, mal zu sehen, wie eine allesvernichtende Umwälzung die Menschheit ausradiert. In dieser Idee liegt Größe; alle anderen Autoren haben sie links liegen gelassen und trivialisiert. Mir schwebte vor, einfach ein Buch zu schreiben, das dieses schöne und erfreuliche Ende nicht verschenkte.“ Was die Gemeinschaft der Science Fiction-Leser und -Schrei ber angeht, so scheint man in diesen Kreisen Dischs Gedanken über das „Schöne und Erfreuliche“ ein wenig deprimiert aufge nommen zu haben. Man griff und greift ihn immer noch an. Man sieht in ihm einen pessimistischen Schriftsteller. Disch äußert sich dazu: „Was ist das überhaupt für eine Kritik, einem Autor Pessimismus vorzuwerfen? Mir fallen eine Reihe durch aus ehrenwerter Schriftsteller ein, die tatsächlich Pessimisten waren, aber trotzdem werden ihre Werke mit Begeisterung ge lesen. Es ist doch hirnrissig, so etwas als Kritik auszugeben. Im Grunde meint man mit solchen Bemerkungen doch nur, daß ich eine moralische Position einnehme, die gewisse Leser nicht tei len. Man meint, daß ich die Welt auf eine Weise sehe, die ernsthafte Fragen aufwirft, aber man will nicht darüber disku tieren, weil man darauf nicht vorbereitet ist. Das fängt mit der Erkenntnis an, daß der Mensch sterblich ist, und hört mit der Tatsache, daß es keine unsterbliche Liebe gibt, auf. Ich bin der Ansicht, daß meine Phantasie einfach größer ist als die mancher 38
Leser. Wenn jemand damit Probleme hat, ist das jedenfalls nicht mir anzulasten.“ Kommentare wie dieser führen uns natürlich zu weiteren Kritikpunkten; dem Vorwurf zum Beispiel, Disch spiele sich als Intellektueller auf. „Oh, ich habe stets gewußt, daß ich ein Intellektueller bin“, erwidert er aufrichtig. „Ich glaube nicht, daß ich es nötig habe, mich als solcher aufzuspielen. Auf jeden Fall ist es nie mein Ziel gewesen, zu schreiben, um Mitglied irgendeines Vereins zu werden. Ich stehe meinem Publikum zwar nicht feindlich ge genüber – offengestanden: Ich mag es sogar –, aber würde ich etwas schreiben, das mir nicht gefällt, würde ich das als He rablassung ansehen, und ich glaube, das müßte man tadeln. Ich glaube, daß jeder Schriftsteller, der aufgrund mangelnder Fä higkeiten oder Intelligenz brav im Schoß seiner Muse sitzen bleibt, um seine Leser zufriedenzustellen, ein … Nun, man kann ihn nur bedauern.“ Deswegen hat Disch fortwährend auf einem Niveau ge schrieben, das ihm selbst gefällt – und deswegen haben ihn die Science Fiction-Leser auch fortwährend mißverstanden. Sein Roman Angoulème, der die finstere Vision eines zukünftigen Amerika beschreibt, wurde von gewissen Leserschichten noch schlechter aufgenommen als Die Feuerteufel. Man bezeichnete das Buch als noch pessimistischer – sogar als nihilistisch. „Nun, als nihilistisch werden gewöhnlich Bücher bezeichnet, die man nicht verstanden hat“, erwidert Disch. „Es war eins von Spiro Agnews Lieblingsworten, weil er wußte, daß ein Nihilist jemand ist, der an nichts glaubt. Damit kann man natürlich Stimmen fangen, denn wer will schon etwas mit Leuten zu tun haben, die keine Grundsätze haben? Gleichzeitig wirft das aber die Frage auf, an was man selbst glaubt. An Gott? Ist er ein le bendiger Gott? Hast du ihn gesehen? Hast du mit ihm gespro chen? Wenn mich jemand einen Nihilisten nennt, möchte ich 39
gerne seine Gesprächsprotokolle mit Jesus sehen, damit ich mich davon überzeugen kann, daß wir nicht doch Brüder unter der gleichen Kappe sind.“ Und über das Buch Angoulème sagt Disch: „Ich glaube, was den Leuten daran am wenigsten gefällt, ist die Tatsache, daß es eine Welt zeigt, in der die großen Probleme des Lebens, wie der Tod und die Steuern, als unlösbar aufscheinen und der Wohl fahrtsstaat nicht als irgendein totalitäres Monster dargestellt wird, der nach einer Revolution durch die unterdrückten Massen schreit. Eine radikale Lösung sollte in einem Romanwerk nicht einfacher durchzuführen sein als im wirklichen Le ben. Beinahe die gesamte Science Fiction stellt die Welt so dar, als könne der Held der Erzählung in einem symbolischen Akt der Revolte mit ein paar sozialen Reformen etwas erreichen. Aber so ist die Welt nun einmal nicht, deswegen gibt es auch keinen Grund anzunehmen, dies sei in der Zukunft anders.“ Ist dies ein Plädoyer dafür, daß die Science Fiction sich un nachgiebig mit den Realitäten der Gegenwart auseinandersetzen sollte? ,,lch sage nicht, daß jeder Autor als Realist fungieren muß, aber wenn man mit ethischer Sensibilität in einem Romanwerk etwas zum Tragen bringen will, erfordert es schon einiges, die Welt in ihrer komplexen Moral zu verstehen. Die Art von Kunst, die mir gefällt, sollte zum Beispiel ironisch geschrieben sein oder zumindest den Eindruck erwecken, daß der Verfasser mir nicht irgendwelchen Quatsch über das Leben erzählt, auf das wir zusteuern.“ Ich erwidere, daß es nicht unbedingt schlecht sein muß, wenn der Leser die ewigen Probleme des wirklichen Lebens in ver einfachter Form erfahren möchte – oder hin und wieder auch ein bißchen aus dem Hier und Heute entfliehen will. „Gerade die Leute“, sagt Disch, „die vorgeben, nur mal ein bißchen entfliehen zu wollen, tun praktisch gar nichts anderes. 40
Natürlich spricht nichts dagegen, daß die Kunst ihre Moral ein wenig simpler ausdrückt, aber man darf dabei nicht vergessen, daß die Moral dann eben eine simple ist. Ich persönlich hätte an solchen Dingen weniger Genuß. Der Leser, der nur liest, um aus der wirklichen Welt zu entfliehen, will nichts anderes, als daß der Held am Ende seinen Triumph hat. Er ist nicht an dop peldeutig auslegbaren Werken interessiert. Ich glaube sagen zu können, daß es so einfach nicht geht. Ich kenne einfach keine Leute, die in ihrem Leben schon einmal einen solchen Triumph gehabt haben. Ich kenne nur Leute, die ein mehr oder weniger gutes Leben führen. Eine Literatur, die nicht versucht, ein Spiegel der Wirklich keit menschlichen Daseins zu sein und nicht so ehrlich, dicht und leidenschaftlich ist, wie sie sein könnte, hat keinen Wert. Wer braucht denn so etwas?“ Tom Disch wurde 1940 in Iowa geboren und wuchs in Min nesota auf; anfangs in Minneapolis/St. Paul („… die Vision ei nes Heranwachsenden von der Großstadt …“), dann in ver schiedenen Kleinstädten. „Bis zur ersten Hälfte der vierten Klasse besuchte ich eine Zwergschule mit zwei Räumen … Die zweite Hälfte beendete ich in Fairmount, Minnesota, wo wir anschließend hinzogen, mitten in der Kornkammer …“ Im Alter von neun Jahren hatte er bereits mit dem Schreiben angefangen: „Ich schrieb damals Ideen für Science FictionGeschichten auf Schiefertafeln; inspiriert hatten mich dazu Isaac Asimovs Roboter-Kriminalgeschichten. Würde ich sie wiederfinden, hätten sie gewiß viel Ähnlichkeit mit den Origi nalen. Aber ich glaube, daß meine Stories selbst damals schon lebhafter waren.“ Er lacht fröhlich. „Ich erinnere mich an einen Tag in der High School, an dem ich mit meiner Englischlehrerin sprach. Ich war damals in der zehnten Klasse, und da ich stets zu den Lieblingen meiner 41
Englischlehrerinnen gehörte, hatten sie natürlich auch mein Vertrauen. Ich entwickelte damals zwei Alternativen: Die eine sah so aus, daß ich in Minneapolis/St. Paul bleiben und recht schaffen und pflichtbewußt einer Tätigkeit nachgehen würde (obwohl ich mir damals unter diesen Tugenden noch nichts Ge naues vorstellen konnte); die andere bestand darin, nach New York zu gehen und Künstler zu werden. Der erste Job, den ich nach dem Verlassen der High School annahm (vorher hatte ich bei der Berufsberatung noch schnell einen Eignungstest gemacht), war der eines auszubildenden Konstruktionszeichners bei der U. S. Steel. Ich hielt einen gan zen Sommer durch, dann hatte ich genug Geld gespart, um nach New York gehen zu können. Und hier habe ich dann die hinter letzten Jobs übernommen. An sich wollte ich auf die Cooper Union, eine Architekturschule, gehen. Ich wollte ein zweiter Frank Lloyd Wright wer den. Man nahm mich an. Obwohl das Studium kostenlos war, mußte ich aber dennoch arbeiten, was dazu führte, daß ich schließlich aufgrund von Überarbeitung – und möglicherweise auch ungenügender Ambition, wirklich Architekt zu werden – zusammenklappte. Architekten müssen nämlich einen Haufen langweiligen Zeugs studieren, und das ziemlich lange. Mögli cherweise war ich dafür gar nicht geeignet.“ Disch kehrte später aufs College zurück, aber: „Das einzige Ziel, das ich damals im Kopf hatte, bestand darin, irgendeinen Abschluß zu machen, damit ich Akademiker werden konnte. Schließlich kam ich darauf, lieber Schriftsteller zu werden, und nachdem ich meine erste Geschichte an den Mann gebracht hatte, gab ich das College wieder auf.“ Da man davon ausgehen kann, daß der Hauptgrund, aus dem viele Leute Science Fiction zunächst lesen und dann selbst schreiben, darin zu suchen ist, daß sie als Kinder nicht die rechte Anerkennung fanden, frage ich Disch, ob er die gleichen Erfah 42
rungen gemacht hat. Er ist skeptisch: „Alle jungen Menschen neigen zu der Ansicht, anders zu sein als die anderen, denn so ist nun einmal ihre Lebenssituation. Wer keine Karriere ge macht hat und über keinen Freundeskreis verfügt, zu dem man wirklich gehört, entwickelt natürlich Selbstmitleid. Es ist keine Frage, daß so etwas einem zu schaffen macht, aber mit ein biß chen Glück kann man auch das hinter sich bringen. Wenn man erst einmal die richtigen Bekanntschaften gemacht hat, kommt niemand mehr auf den Gedanken, anders als die anderen zu sein. Man heiratet. Nur wenige Männer, die verheiratet sind und Kinder haben, klagen über ein Gefühl der Entfremdung.“ Für einen Schriftsteller macht Disch einen ungewöhnlich ge selligen Eindruck. Viele seiner Veröffentlichungen sind in Zu sammenarbeit mit anderen Autoren entstanden. Sein erster KoAutor war John Sladek. „Wir fingen im Sommer 1965 an, zu sammenzuarbeiten. Das war in New York. Zuerst machten wir nur kleine Skizzen, dann zwei Romane. Einer davon war ein Schauerroman, den man am besten vergißt. Der andere war Alice im Negerland.“ (Ein spannender, in der Gegenwart spie lender Kriminalroman.) „Meine Erfahrungen bei der Zusammenarbeit mit anderen Autoren waren durchweg erfreulich. Der eine hat die Idee, der andere sagt, das ist ausgezeichnet, und dann legt man los. Es wächst. Wenn man mit jemandem zusammenarbeitet, dessen Werk man schätzt, dann schreiben sich ganze Abschnitte eines Buches auf wundersame Weise wie von alleine. Es ist, als wür de man im Traum schreiben; die ganze harte Arbeit nimmt man dann einfach nicht mehr wahr. Ich habe noch weitere Projekte dieser Art in Planung. Ich ha be mit einigen Komponisten an einem kleinen Musical und an einer Oper gearbeitet. Die Arbeitsweise gefällt mir einfach. Ich würde auch gerne Drehbücher schreiben. Es gibt zwar eine Rei he von Autoren, die die haarsträubendsten Geschichten darüber 43
verbreiten, wie schwer man mit den Regisseuren zurecht kommt, aber wenn es sich dabei um einen Menschen handelt, dessen Arbeit man schätzt, dürfte es ziemlich aufregend sein. Schätzt man ihn nicht so sehr, kann man es ja bleiben lassen. Es wäre schwierig gewesen, meine ernsthafteren Romane mit je manden zusammen zu schreiben, aber wenn es beispielsweise um humoristische Stoffe geht, würde ich es bevorzugen, für Saturday Night Live zu arbeiten, anstatt lustige Kurztexte für die Magazine zu liefern, egal wie spontan einem die Einfälle auch kommen.“ Das breite Feld der Ko-Autoren, mit denen Disch zusam mengearbeitet hat, gibt einen guten Einblick in die unterschied lichen Schreibtechniken, die ihn interessieren. „Meine Devise lautet, daß man sich überall versuchen soll. Ich möchte Opern libretti schreiben und mich mit Romanen und Erzählungen in allen Genres betätigen. Ich habe eine Menge Gedichte ge schrieben und schreibe sie immer noch. Ich werde in Zukunft immer wieder zwischen Science Fiction-Romanen und Roma nen historischer oder gegenwärtiger Provenienz wechseln.“ Ich frage ihn, ob er sich keine Sorgen darüber macht, daß dieses Hin und Her ihn in den Augen der Verleger nicht zu ei nem schwierig einzuordnenden Wortproduzenten machen kann, da die Buchproduzenten allgemein glücklicher sind, wenn sie einen Autor mit einem bestimmten Etikett versehen können. „Verleger fühlen sich in einem gewissen Sinne natürlich bes ser, wenn man ihrer Gnade ausgeliefert ist. Sie bevorzugen Au toren, die nur begrenzte Fähigkeiten haben. Wenn man ein Science Fiction-Autor ist und anfängt, Texte zu produzieren, die dem Geschmack der Verleger, mit denen man arbeitet, nicht entsprechen, sind sie natürlich mit dem Spruch ‚Schuster, bleib bei deinen Leisten’ schnell zur Hand, und dann heißt es: Mach die Sachen weiter, die dir bisher Erfolg gebracht haben. Wenn man ein Genre-Autor ist und Genre-Herausgeber einem diktie 44
ren können, daß man bei der Stange zu bleiben hat, läuft das langfristig darauf hinaus, daß sie einem untersagen, Phantasie zu entwickeln. Das Resultat ist dann, daß man nur noch die gleichen Handlungsabläufe und Charaktere zu Papier bringt.“ Da es Disch gelungen ist, unkategorisiert zu bleiben, frage ich ihn, was ihm mehr bedeutet: Ist er lieber prominent und erfolg reich innerhalb der Science Fiction oder außerhalb? „Ich glaube, jeder Science Fiction-Autor würde es vorziehen, in der großen Welt bekannt zu sein, statt in der kleinen. Es zahlt sich besser aus. Ich meine das nicht nur finanziell, sondern auch im Hinblick auf die Öffentlichkeit. Wenn das Lob einer kleinen Anhängerschar von Bedeutung ist, ist das einer großen eben von größerer Bedeutung. Schließlich lesen nicht alle Leute, die man erreichen will, Science Fiction. Das gleiche gilt auch für die Kritiker. Tatsächlich haben von denen die wenigsten je etwas mit dem Genre zu tun gehabt.“ Ich frage, ob Camp Concentration, sein bekanntester Roman, der Versuch war, außerhalb der Science Fiction Anerkennung zu finden. „Camp Concentration war ein Science Fiction-Roman, und ich glaube persönlich, daß er nicht stark genug war, um außer halb des Genres allein zu stehen. Nicht als literarisches Werk. Man hätte ihn eventuell als Thriller für mittelprächtige Ansprü che etikettieren können – auf diese Weise hat man schon öfter ein bißchen Science Fiction an die Massen herangebracht –, aber ich glaube, daß das normale Lesepublikum noch empfind licher auf intellektuelle Gedankenspiele reagiert. In der SFBewegung hat das natürlich Tradition. Nehmen wir etwas wie Alfred Besters Demolition. Als dieser Roman herauskam, hat man ihn als ein Feuerwerk bezeichnet. Feuerwerke sind ein Be standteil der Ästhetik der Science Fiction, und darauf hat auch Camp Concentration abgezielt. In Amerika hat der Roman nicht viel Aufsehen erregt, man 45
hat ihn als intellektuelles Gewäsch abqualifiziert und sich in diesem Tenor den Mund darüber fusselig geredet. Ich hatte mit diesem Roman nie den Erfolg, der nötig gewesen wäre, um für die Leute eine Bedrohung darzustellen, und da ich keiner von denen bin, die sich clever selbst vermarkten, ist es vom Markt verschwunden, wie das bei manchen Büchern halt so üblich ist. Und das ist ja auch nicht so schlimm. Wenn man so erfolgreich wird, daß man Aufmerksamkeit erregt, muß dies für das Be wußtsein nicht unbedingt gut sein. Leute, die großen Erfolg haben, stehen dann unter dem Zwang, ihn zu wiederholen. Es wäre eine schlechte Sache gewesen, wenn ich mich unter dem Druck des Erfolgs von Camp Concentration hätte an ein neues Buch setzen müssen. Man hätte dann natürlich eine Art Fortset zung erwartet. Es gab einmal eine Zeit, in der ich Dinge schrei ben wollte, die noch weitaus ernster und schwärzer werden soll ten.“ Camp Concentration ist, wie Disch sagt, sehr ernst gemeint und steckt voller Pein. Es ist das Tagebuch eines Mannes in Gefangenschaft, dem eine Droge verabreicht wird, die seine Intelligenz erhöhen soll. Leider hat diese Droge eine Nebenwir kung: Sie führt innerhalb weniger Monate zum Tode. In dieser Hinsicht war das Buch für Disch eine doppelte Herausforde rung: Er mußte das Tagebuch eines Menschen schreiben, der weiß, daß er sterben wird – und andererseits mußte dieses Ta gebuch den Geist eines Menschen widerspiegeln, der schließ lich in übermenschlichen Höhen schwebt. Dies war in gewisser Weise eine Schwäche gegenüber sich selbst – und ein bewußtes Stück Selbstanalyse –, und zwar insofern, als Disch sich bewußt ist, das seine Intelligenz so etwas wie einen Fetisch darstellt. Während er an Camp Concentration arbeitete, sagte er zu Michael Moorcock (der mir die Geschichte so erzählte): „Ich schreibe ein Buch über das, was sich jeder am meisten wünscht.“ 46
Woraufhin Moorcock antwortete: „Wirklich? Geht es um Elefanten?“ „Elefanten? Nein, um das intelligenter werden.“ „Oh“, sagte Moorcock. „Ich habe mir immer am meisten ge wünscht, ein Elefant zu sein.“ Im Gespräch mit Tom Disch fällt mir diese Anekdote wieder ein und ich erzähle sie ihm, bloß um herauszufinden, ob sie au thentisch ist. Disch lacht und sagt: „Nun, ich schätze, daß Mike Moorcock und ich uns beide über unsere geheimen Träume klar geworden sind.“ New York, im April 1979
47
Bibliographische Anmerkungen Dischs erster Roman, Die Feuerteufel, erschien 1965 (die dt. Ausgabe 1975) und beschreibt die Ankunft außerirdischer „Landwirte“, die die Ökologie der Erde ummodeln und das Weiterleben der menschlichen Zivilisation unmöglich machen. Überlebende, die den Versuch unternehmen, die Fremdlinge zu bekämpfen, werden wie Pflanzenschädlinge ausgerottet. Seine nachfolgenden Werke beschreiben ähnlich inhumane Welten und Lebensumstände. Camp Concentration erschien 1968 (dt. 1971). Dischs nächster ernsthafter Science Fiction-Roman war der 1972 (dt. 1977) erschienene Titel Angoulème, eine komplex miteinander verwobene Sammlung von Vignetten, die die nahe Zukunft der Stadt New York zum Thema haben: Auch hier ist das Leben alles andere als erfreulich. Seine neueste Veröffentli chung, Auf Schwingen des Gesangs, ein phantastischer Roman, erschien 1979 (dt. 1982) und befaßt sich in ernsthafter Weise mit den Fragen der Freiheit, der Kreativität und des menschli chen Geistes. Dischs Kurzgeschichtenausstoß ist beständig und beachtens wert. Gute Auswahlen aus seinem Werk enthalten die Bände Getting Into Death (1976) und The Early Science Fiction Sto ries of Thomas M. Disch (1977).
48
Robert Sheckley Inmitten der Unordnung, die in seinem teuren Manhattaner Wohnzimmer herrscht, lehnt Robert Sheckley sich zurück. Er lebt erst seit ein paar Monaten hier. Um ihn herum – auf dem Boden und der neuen Couch, die man ausziehen und zum Sichhinhauen benutzen kann, wenn man stoned ist – liegen Ton bandkassetten, Zeitschriften, Kleidungsstücke, Manuskripte und Bücher verstreut. Es sieht aus wie in der Wohnung eines RockMusikers. Wir befinden uns in einer teuren Gegend des West Village, in einem dreistöckigen Haus mit weißen Wänden und Parkettfußböden. Trotzdem sieht man, daß der Mann, der hier lebt, von Luxus nicht allzu viel hält. „Ich könnte morgen nach East Village in eine Mietskaserne ziehen, ohne das hier auch nur im geringsten zu vermissen“, sagt er und spricht damit of fensichtlich die Wahrheit. Trotz seiner einundfünfzig Lebensjahre ist Robert Sheckley
49
stets der gleiche unprätentiöse Bohemien geblieben. Seine Art, sich auf nichts festzulegen, nimmt die Leute für ihn ein. Er ist auf eine charmante Weise unschick, und hinter seiner vorder gründigen Naivität spürt man eine reservierte Gewitztheit. Hin ter seiner antimaterialistischen Einstellung verbirgt sich mögli cherweise sogar Ambition. Trotzdem erweckt er den Eindruck, als würde er eher zufällig durchs Leben wandern. Er gleicht seinen SF-Helden, die vorgeben, desorientiert und verwirrt zu sein und sich trotzdem jeder neuen Wendung der Lage sofort anpassen. Ich traf ihn das erste Mal auf einer Verlagsparty. Es war spät, und er war ziemlich angetörnt. Wir wechselten ein paar belang lose Worte, und kurz darauf sagte er mit offensichtlicher Herz lichkeit: „Ich habe den Eindruck, daß ich Sie kenne.“ Im Laufe der nächsten Stunde hörte ich, wie er diesen Satz zu drei weite ren anwesenden Fremden sagte. Dennoch zweifelte ich nicht daran, daß er es aufrichtig meinte. Wirklich – Robert Sheckley strahlt eine selbstbewußte Eh renhaftigkeit aus, und das liegt daran, daß er zum Relativieren neigt und sich sein aufrichtiger Glaube von einem Moment zum anderen ändern kann. Er sieht nicht nur die andere Seite einer jeden Frage, sondern anerkennt auch deren Existenzberechti gung und wird sie demgemäß verteidigen. Wenn er überhaupt an etwas glaubt, dann daran, daß man nicht einseitig werden soll. Das einzige, dessen man sich sicher sein kann, ist die Un gewißheit. Dies zeigt sich auch in seinen Erzählungen, die zwar ein Pot pourri philosophischer Möglichkeiten durchspielen, gleichzeitig aber suggerieren, daß man sie nicht allzu ernst nehmen soll. Als Relativist liebt Sheckley es, beide Seiten der Medaille auszu probieren. Als Satiriker treibt er seinen Spaß mit allem und so gar mit sich selbst. Letzteres deswegen, weil er sich nicht aus klammern will. 50
Seine frühen Versuche waren naturgemäß unauffälliger und zwiespältiger Natur. „Ich bin während der Zeit der PulpMagazine aufgewachsen“, sagt er, „und es war mein Traum, einer von diesen anonymen Fließbandschreibern zu werden, die billige Detektivgeschichten in The Black Mask und dergleichen produzierten. Ich glaube, ich wollte deswegen anonym bleiben, weil ich meine Nase gleichzeitig in die Kunst hineinsteckte. Ich wanderte zwischen The Black Mask und Nietzsche hin und her. Ich wollte nicht mehr sein als ein anonymer Handwerker, aber das ist natürlich absurd, weil das wahre Größe verlangt.“ Ich frage ihn, wie er mit diesem Widerspruch schließlich fer tiggeworden ist. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich je damit fertiggeworden bin“, sagt er und hört sich unter dem Eindruck des Gedankens, man könne ein Problem für alle Zeiten lösen, sehr skeptisch an. „Ich schätze, ich habe lediglich herauszufinden versucht, was handwerkliche Fähigkeiten überhaupt sind. Ich wollte auf einer höheren Ebene schreiben.“ Es sind gerade die handwerklichen Fähigkeiten einer höheren Ebene, die Sheckleys elegant und witzig geschriebenen Ge schichten kennzeichnen, die während der fünfziger Jahre unter der Herausgeberschaft von Horace L. Gold in Galaxy erschienen. „Horace war damals ein Teil meines gesamten Lebensstils“, erinnert er sich. „Das Kurzgeschichtenschreiben gehörte ebenso dazu. Man schrieb schon deswegen eine Story für ihn, weil man zu seiner Clique gehörte: Jerome Bixby, Algis Budrys, Phil Klass (William Tenn), Cyril M. Kornbluth, Frederik Pohl, Eve lyn Smith, Damon Knight – und gewiß auch noch eine Menge anderer Leute. Wir trafen uns jahrelang jede Woche zu einem Pokerspiel, fast jeden Freitagabend; das war unser Hauptkon taktpunkt.“ Sheckleys Erzählungen schienen in ihrer Vorausschau oft entwickelter und dem wirklichen Leben stärker verhaftet zu 51
sein, als die in den fünfziger Jahren veröffentlichten Geschich ten seiner Konkurrenten. Ich frage ihn, ob er das damals ebenso gesehen hat. „Im Grunde hatte ich stets das Gefühl, gar keine Science Fic tion zu schreiben. Irgendwie schrieb ich stets um die SF herum. Es hat mich hin und wieder deprimiert, daß ich nicht richtig in ihr drin war. Ich habe allerdings nicht sonderlich oft darüber nachgedacht. Es war mir an sich immer egal, wie meine Sachen etikettiert wurden. Ich schätze, daß es einfacher für mich war, weiterhin das zu tun, was ich immer getan hatte, ohne die Dinge mit einem Etikett zu versehen. Ich war stets der Skeptiker in Person. Ich zog jede Frage in Zweifel, schon deswegen, weil ich dabei mit Worten balancieren konnte. Ich habe niemals feste Ansichten zu den Dingen gehabt, weil ich sehe, wie schnell sie sich ändern und man zu allen Seiten einer Sache Stellung neh men muß.“ Horace L. Gold zog sich schließlich als Herausgeber von Galaxy zurück, und der Freundeskreis zerbrach. Sheckleys Pro duktion fing an, sich zu verringern, und in den späten sechziger Jahren kehrte er den USA den Rücken, um auf der spanischen Insel Ibiza zu leben. Er schrieb nur wenig während der nun fol genden sechs oder sieben Jahre und schien sich fast völlig von der Science Fiction zurückgezogen zu haben. Ich frage ihn, was all diesen Veränderungen vorausgegangen ist. „Ich weiß nicht, ob man sich über so etwas überhaupt je kla re Gedanken macht. Ich fühlte mich einfach irgendwie … Oh, plötzlich kommen einem die Kurzgeschichtenideen gar nicht mehr so zündend vor; sie verlieren an Pep, man sieht sie einfach mit ganz anderen Augen. Gewiß hatte auch ich mich geändert. Meine Ehe ging in die Brüche, was eine starke Wirkung auf mich hatte … Es gab eine Reihe von Gründen, weswegen ich die USA schließlich verließ, aber ich hatte nicht den Eindruck, es gäbe einen besonders triftigen. Ich fühlte mich dem hiesigen 52
Leben einfach nicht mehr zugehörig und glaubte, es gäbe kei nen Grund mehr, hierzubleiben. So wurde ich statt dessen zu einem ‚vaterlandslosen Gesel len’ und fühlte mich diesem Leben wirklich ein paar Jahre lang zugehörig. Die anderen und ich waren der Fallout der HippieGeneration. Wir hatten einfach ein längeres Durchhaltevermö gen. Wir spielten immer noch Platten von Neil Young, sahen uns am Himmel den Vollmond an und versuchten, einander zu lieben und abseits vom Festland ein vernünftiges Leben zu füh ren.“ Seine nostalgischen Gefühle bringen ihn zum Lachen. „Wir hatten langes Haar, trugen lange Röcke und ernährten uns auf natürliche Weise. Das ging so bis in die frühen siebziger. Das erste, was ich damals schrieb, war Options. Es ist mein verrücktestes Buch und geht überhaupt nicht auf. Options ist eine Mischung aus SF und surrealistisch-absurden Motiven – jedenfalls im kleinen! Dann steckte ich wirklich in der Klemme. Ich hatte in den letzten Jahren immer weniger geschrieben, aber als ich nach Spanien kam, hörte ich ganz damit auf. Die einzigen Geschich ten, die ich produzierte, waren jene, um die Harry Harrison mich bat. Geld war stets nur ein geringes Problem für mich, denn hin und wieder langte eine Tantiemenabrechnung bei mir ein. Es war nicht viel, denn mehrere meiner Bücher waren inzwischen nicht mehr erhältlich, aber mit dem, was so reinkam – und ein paar Veröffentlichungen da und dort – konnte man über die Runden kommen. An sich hätte ich es mir gutgehen lassen kön nen, aber das Schreibproblem, das ich hatte, beschäftigte mich doch, deswegen war ich nur selten dazu fähig, mich einfach zurückzulehnen und mich an der hübschen Insel zu erfreuen, auf der ich nun lebte.“ Schließlich zog Sheckley nach London. „Obwohl ich meine Blockierung noch nicht ganz überwun 53
den hatte, stürzte ich mich in die Arbeit und brachte ein paar Sachen heraus. Und jetzt bin ich wieder in New York, sehe mich als in die SF integriert an und freue mich darüber. Es geht mir besser als je zuvor. Und ich arbeite für Omni.“ Im Frühjahr 1980 hat Sheckley beim Magazin Omni den Po sten des Literaturredakteurs übernommen. „Ich wollte ein paar meiner Fähigkeiten in einen sozialen Kontext einbringen. Es hing mir einfach zum Halse heraus, der eigenbrötlerische, iso lierte Schreiber zu sein, der ich achtundzwanzig Jahre lang – von meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr an – gewesen bin. Zeitweilig hatte ich auch Interesse daran, eine Lehrtätigkeit aufzunehmen. Als das Angebot von Omni mich erreichte, war ich hundertprozentig bereit. Es hat mich auch stark interessiert, was die Leute heutzutage so schreiben. Je übermäßiger die Arbeit einen in Anspruch nimmt, desto mehr neigt man dazu, von Jahr zu Jahr weniger zu lesen. Das kann sehr schlechte Auswirkungen auf einen haben. Als unsereiner mit der SF anfing, hat man sie zur Entspannung gelesen; als man dann dazu überging, eigene Arbeiten zu ver kaufen, hat man die Sachen der anderen nur gelesen, um zu se hen, was die Konkurrenz so treibt. Wenn man dann selbstsicher genug geworden ist, um auch damit aufzuhören, findet man schnell heraus, daß man außer einer gelegentlichen Tageszei tung oder seinem Lieblingshobbymagazin überhaupt nichts mehr lesen möchte. Es ist mir allerdings klar geworden, daß es heute schwieriger ist als damals, Science Fiction zu schreiben. Es gibt da eine Kri tik an der SF von Stanislaw Lern, die einige treffende Punkte aufweist. Er sagt, daß die heutige SF im Gegensatz zu der der dreißiger, vierziger oder sogar fünfziger Jahre keinen gemein samen Hintergrund mehr aufweist. Damals existierten noch ge wisse Hintergrundmuster, mit denen man arbeiten konnte. Ich glaube, diese Problematik hat angefangen, als es den Autoren 54
nicht mehr möglich war, ihre Charaktere auf den Planeten unse res Sonnensystems anzusiedeln. Als es unmöglich wurde, je manden ‚die grüne Hölle der Venus’ erforschen zu lassen, war irgend etwas nicht mehr vorhanden. Man mußte auf andere Sternensysteme ausweichen und neue Planeten erfinden. Es erforderte ein großes Maß an Zeit und Platz, diesen Planeten in all seinen Einzelheiten zu beschreiben, wie man ihn erreicht und so weiter. Die Autoren haben aber keine Lust, dermaßen viel Vorstellungskraft und Phantasie an eine Kurzgeschichte zu verschwenden. Sobald solch komplizierte Hintergründe die kreative Energie auffressen – ohne daß der Leser etwas davon bemerkt –, kommt es dazu, daß der sichtbare Vordergrund ei nen Mangel an Action erleidet. Eine Anzahl meiner früheren Geschichten waren Actionstories, die nur im Vordergrund spielten. Die Hintergründe waren nur dünn skizziert und irgendwo ausgeborgt – etwa zukünftige Er den, über die andere bereits geschrieben hatten. Aber damals war es eben einfacher; man konnte eine zukünftige Erde vor dem Hintergrund der Überbevölkerung aufbauen. Heutzutage wäre das eine gewaltige Arbeit, denn man müßte auch Energie krisen, Treibhauseffekte, Radioaktivitätsprobleme und derglei chen in eine Geschichte dieser Art mit einbringen. Ich wüßte heutzutage nicht mehr, von wem ich mir einen Hintergrund ausborgen könnte. Wo man früher Ideen aufgreifen konnte, die im Allgemeinbesitz waren, kocht heute jeder sein eigenes Süppchen – und zwar in der Regel auf Sparflamme. Wenn je mand tatsächlich sein Gehirnschmalz bemüht und eine neue Welt erfindet, hat er keine Eile, sie so schnell wieder zu verlas sen. Er stößt dann einen Roman nach dem anderen aus, um alle Tiefen seiner Schöpfung auszuloten und gibt sich mit Kurzge schichten gar nicht mehr ab. Ich kann es niemandem übelneh men, aber für mich wird daraus noch keine gute fiktionale Si tuation. Um was geht es dabei? 55
Viele der Geschichten der fünfziger Jahre waren Umkehrun gen von Standardthemen. So etwas kommt heute nicht mehr vor. Man konzentriert sich auf eigene Themen. Manche dieser Sachen halte ich irgendwie für naiv. Es gibt in der heutigen SF eine sich immer breiter machende neue Sensibilität, die weit ernsthafter ist als jene, die die SF der fünfziger Jahre beherrsch te. Die Leute nehmen wirklich Anteil an den Dingen. Als Re dakteur flattern mir jede Menge apokalyptische Erzählungen auf den Tisch; das ist es, was die Menschen heute beschäftigt. Leider haben diese Geschichten alle den gleichen Plot. Viele Autoren befinden sich in einer Untergangsstimmung oder haben Untergangsvisionen. Wenn man allerdings das Ziel vor Augen hat, etwas Wirksames für das Weiterbestehen der Fiktion zu tun, muß der Tanz weitergehen.“ Bisher scheint er sich mit den anderen Autoren der fünfziger Jahre zu identifizieren. Trotzdem kann ich immer noch nicht einsehen, daß er auf natürliche Weise zu seinen viel konservati veren Zeitgenossen passen soll. Ist er nicht stets nonkonformi stischer gewesen als sie – und ist er dies heute nicht noch mehr? „Nun, mich verbinden nicht viele Gemeinsamkeiten mit den meisten der anderen. Mein Leben ist nicht so verlaufen wie das eines Burschen, der – sagen wir mal – Haus und Familie hat. Ich konnte derlei Rollen nie lange ertragen und nehme an, daß ich einfach nicht dafür geschaffen bin, allzu lange irgendwo gebunden zu sein. Aber heute weiß ich nicht einmal, wer meine Zeitgenossen eigentlich sind. Hin und wieder treffe ich Leute wie Norman Spinrad und Tom Disch, also nehme ich an, daß sie meine Zeitgenossen sind. Aber sie sind alle ziemlich eigen artig. Wenn ich mich mit ihnen vergleiche, komme ich mir ziemlich normal vor.“ Ich frage ihn, ob er je eine Alternative zum Schreiben gese hen hat. „Ich habe mal einen Job als halbprofessioneller Rhythmus 56
Gitarrist gehabt, das war alles. Ich spielte in Hochschulbands, Tanzkapellen beim Militär und einigen Gruppen aus der Ge gend von San Francisco. Das war, nachdem ich aus dem Mili tärdienst entlassen wurde. Wissen Sie, ich war bei der Okkupa tion von Korea dabei. Ich war bei der Infanterie und auf dem 38. Breitengrad stationiert. Ich hatte mich freiwillig gemeldet, um es hinter mich zu bringen. Gegen Ende des Zweiten Welt kriegs wurde ich achtzehn, und da man Freiwillige für achtzehn Monate annahm, ging ich hin. Ich hatte während des ganzen Krieges davon geträumt, Soldat zu werden, nach Europa rüberzufahren und Feinde zu erschießen. Ich war ziemlich patriotisch eingestellt.“ Ich frage ihn, wie er diese Einstellung so schnell in den Zy nismus seiner Kurzgeschichten hat ummünzen können. „Nun, ich habe natürlich schnell dazugelernt“, antwortet er ausdruckslos. „Mein damaliges Verhalten war nicht mehr als eine Hochschulallüre. Wissen Sie, wenn man jung ist, probiert man halt alles aus, was einem Größe verleihen könnte. Ich pro bierte es in Tanzkapellen, einer Tanzklasse, mit Patriotismus und Nietzsche. Ich versuchte unter anderem sogar Sanskrit zu lernen. Ich war einer von diesen schüchternen, nervösen, auf geweckten Burschen, die zwar Erwachsenentheorien verbreiten, als Mitmenschen aber eher zurückhaltend und unsicher sind. Einiges davon hatte seinen Grund in meiner Gehemmtheit, aber ich muß zugeben, daß mir auch nie besonders an freundlichen und einschläfernden Unterhaltungen gelegen war. Mir war sowas einfach zu schlaff. Ich war schon in der High School ein Zyniker, wirklich. Ich konnte die Werke von Oscar Wilde zitie ren und stand auf Ambrose Bierce und H. L. Mencken. Wenn ich darüber nachdenke, warum ich mich damals so verhielt, sieht es so aus, als hätten die Dinge mir gar keine an dere Wahl gelassen. Es war keine Frage der Motivation. Das Leben ist für mich vergleichbar mit einem die-Treppe 57
hinunterfallen. Man fällt fortgesetzt durch Situationen; man streckt die Arme aus, um nicht gegen die Wand zu knallen – und plötzlich ist man verheiratet. Man hebt ein Bein, um nicht zu stolpern – und schon ist man wieder geschieden und hat Alimente zu bezahlen. Das nächste, das einem klar wird, ist, daß man eine Art Preis gewinnen wird – und der besteht dann aus dem freien Fall.“ Ich weise darauf hin, daß er sich anhört wie jemand, der nicht an die Möglichkeit zielgerichteten Denkens und Handelns glaubt. „Zu wissen, etwas nicht getan zu haben, zeigt gesunden Menschenverstand“, antwortet er. „Viele gute Künstler behaup ten beispielsweise, für ihr Werk gar nicht verantwortlich zu sein. Sie halten sich einfach nur für Leute, die aufstehen und malen – oder singen –, während ein anderer ihre Handlungen dirigiert. Man kann aber Kunst durchaus auch um ihrer selbst willen machen; es gibt keinen ‚jemand’, der dafür verantwort lich ist. Mein eigener Fall hört sich vielleicht etwas übertrieben an, aber wenn ich plötzlich drei Ideen habe, die miteinander korrespondieren und sich zu einer Geschichte auswachsen – ist das dann etwas, das ich selbst getan habe? Für meine Begriffe ist mir einfach etwas zugeflogen. Ich bin der Rezipient einer Erzählung, die ich schreiben kann, ohne sie geplant zu haben.“ Er scheint die Idee des Determinismus also zumindest für ei nige Bereiche des Lebens zu akzeptieren. „Nein. Ich habe mich zwar nur sehr flüchtig mit Philosophie befaßt, aber ich war sehr lange von David Hume gefesselt, der mit der Behauptung herauskam, daß das Ergebnis keine Kausa lität impliziert. Ich glaube, genau das ist es. Wir ziehen Schlüsse aus kausalen Veränderungen, die sich größtenteils nur in unse ren Phantasien vollziehen.“ Ich weise darauf hin, daß ich nicht mit ihm übereinstimme. „Nun, ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich mit mir selbst übereinstimme“, antwortete er. „Ich beschäftige mich immer 58
noch damit. Die Angelegenheit ist dermaßen kompliziert, daß man nicht einfach ‚Es gibt keine Motivationen’ sagen und zur Tagesordnung übergehen kann. Es gilt herauszufinden, ob so etwas wie wirklich freier Wille überhaupt existiert – und sei es auch nur um der eigenen Gesundheit willen.“ Mir fällt auf, daß sich unser Gespräch von der SF im allge meinen und Robert Sheckley im besonderen ziemlich weit ent fernt hat. Es ist zu einer Art halbernster und etwas leichtfertiger Grundsatzdiskussion geworden, die – wie ich annehme – Sheckley besonders gut liegt. Um wieder auf mein Interesse zurückzukommen, das darin besteht, Interviews mit SF-Autoren aufzunehmen, sage ich, daß der einzige mich momentan beschäftigende Aspekt freien Willens die Motivation von Schriftstellern betrifft. Ich bin neugierig und will wissen, was sie antreibt. „Ja.“ Er nickt, ist völlig mit mir einer Meinung. „Aber glau ben Sie, Sie werden das je herausbekommen?“ New York, im März 1980
59
Bibliographische Anmerkungen Robert Sheckley ist möglicherweise am besten durch seine Kurzgeschichten bekannt. Seine erste Sammlung dieser Art war Untouched by Human Hands (1954), die bereits einen Vorge schmack mit trockenem Humor gewürzten späteren Bücher Sheckleys gab. In diesem Band befindet sich auch die Erzäh lung Seventh Victim, die 1965 die Vorlage zu dem Film Das zehnte Opfer lieferte. Der Streifen beschreibt eine komische, aber auch schreckliche Zukunft, in der tödliche Duelle legali siert sind. Andere bekannte Kurzgeschichtensammlungen Sheckleys sind Utopia mit kleinen Fehlern (1955; dt. 1963), Pilgerfahrt zur Erde, (1957, dt. 1982), Das geteilte Ich (1960; dt. 1963) und Shards of Space (1962). Die meisten der in diesen Bänden ver sammelten Erzählungen wirken immer noch frisch und zeitlos. Seine Romane, wie Die wundersame Reise des Mr. Joenes (1962; dt. 1981) und Mindswap (1966) sind in der für ihn ty pisch episodischen Art geschrieben und behandeln einen naiven Hauptcharakter, der in die größten Ungeheuerlichkeiten hinein gerät und komische Abenteuer zu bestehen hat, wobei man deutliche Parallelen zum Leben im zwanzigsten Jahrhundert findet. Sheckleys jüngster Roman, Die alchimistische Ehe (1978; dt. 1979) rekapituliert einige seiner älteren Themen in einem sicht lich nüchterner gewordenen Stil. Seine neueste Kurzgeschich tensammlung ist Endstation Zukunft (1978; dt. 1981).
60
Kurt Vonnegut jr. Mehr als fünfzehn Jahre lang war Kurt Vonnegut ein Opfer der modernen, lediglich in Buchreihen denkenden Verlagsindustrie. Seine Bücher wurden mit dem Etikett „Science Fiction“ verse hen und auch so vertrieben. Die Buchhändler stellten sie in die Regale, die der SF vorbehalten waren – und dahin verirrten sich anspruchsvollere Leser nur selten. In dieser Zeit, die dem Autor als endlos und entsetzlich unbefriedigend erschienen sein muß, waren Vonneguts Romane (einschließlich Das höllische System, Die Sirenen des Titan und Cat’s Cradle) nur Science FictionFans bekannt. Und selbst die nahmen ihn nur lauwarm auf, weil sie den Verdacht nicht los wurden, daß er einige Aspekte ihres Daseins (besonders ihren Jargon) permanent auf die Schippe nahm. Dann erschien gegen Ende der sechziger Jahre Schlachthof 5. Plötzlich kannte jeder seinen Namen. Seine frühen Werke er
61
lebten Neuauflagen und wanderten aus den SF-Regalen in die Abteilung „moderne Literatur“, wo sie die Apostel der Gegen kultur entdeckten und ihren Autor zu einer Art neuem Volks helden machten. Von nun an wurden Vonneguts Bücher zur Pflichtlektüre an den Hochschulen von New York bis San Fran cisco, er machte Lesungen und sagte sich von der Science Fic tion, in der er eh nur eine obskure Randfigur gewesen war, los. Schlachthof 5 wurde zu einem Film, und jetzt wurde ihm end lich die kritische Würdigung zuteil, die er so lange hatte entbeh ren müssen. Heute gehen die Kritiker zwar nicht immer wohlwollend mit seinen neuen Büchern um, aber zumindest braucht Kurt Vonne gut sich keine Sorgen mehr zu machen. Jeder neue Titel, sagt er, verkauft sich ungeachtet der Besprechungen blendend; und was seine älteren Romane angeht, so bringen auch sie ihre Tan tiemen ein. Er hat es jetzt nicht mehr nötig, aus Gründen des Überlebens Kurzgeschichten zu schreiben – tatsächlich lehnt er es sogar ab, dies zu tun. Er besitzt die Freiheit, etwa alle ein einhalb Jahre einen Roman zu Ende zu bringen. Leben tut er entweder in einer Residenz in Cape Cod oder in einem Haus in Manhattan, das er sich mit der Fotografin Jill Krementz teilt. Und dort besuche ich ihn auch: in einem vornehmen, beein druckenden Haus in der vierzigsten Straße Ost, das man mit unfehlbarem Geschmack (cremefarbene und beige Wände, fleckenlose Parkettböden, Perserbrücken und modernen, aber keineswegs protzig wirkenden Möbeln, die aussehen wie auf den Anzeigen im New Yorker) renoviert und restauriert hat. Vonnegut selbst sieht aus, als würde er gar nicht hierhin gehö ren und könne ebenfalls ein wenig Renovation und Restauration vertragen. Aber das entspricht natürlich dem Image, das er in der Öffentlichkeit zu wahren hat: Der zerstreute Einstein der Literatur trägt abgetragene Klamotten unbestimmbaren Alters, die es einem schwermachen, sie in irgendeinen modischen 62
Trend einzuordnen. Dazu einen ärmellosen Armeepullover, jeg licher Beschreibung spottende, formlose Hosen aus graubrau nem Stoff (mit Umschlag) und an Altersschwäche leidende Turnschuhe. In einem der oberen Räume macht er es sich neben einem großen Fernsehapparat auf der Couch bequem. Ich sehe einen Videorecorder, große, weiche Sessel und viele Bücherregale. Exklusivitäten besitzt er nicht, ich kann weder in Leder gebun dene Sammlerausgaben noch antike Bibliotheksleitern, goldge rahmte Ölgemälde oder irgendwelche anderen Kinkerlitzchen entdecken. Hier hat alles seine Funktion; hier sieht man New York City in der zivilisiertesten Form. Ein kleiner, struppiger Hund streckt sich neben Vonneguts Knien aus und wird zu einem Wollknäuel. Wir fangen an zu reden. Das, was er sagt, steckt voller literarischer Bezüge und zeugt von Belesenheit. Er spricht sehr langsam, macht lange Pausen, raucht dabei eine Menge und kratzt sich den strubbeli gen Lockenkopf. Seine Stimme ist trocken – und so ist auch sein Humor; manchmal ist es einfach nicht abschätzbar, ob er dies oder jenes ernst meint. Vonnegut sagt, dies sei möglicher weise das einzige Interview, das er in diesem Jahr geben wird. Aber er sei sehr oft in der Vergangenheit interviewt worden – zu oft vielleicht –, und da falle es einem nicht immer leicht, stets neue Antworten auf die gleichen alten Fragen zu geben. Er müsse sich was neues ausdenken, damit die Sache interessanter wird oder einfach auch nur mehr Spaß macht. Ich fühle eine Mischung aus schrulligem, schwarzem Humor (er lacht am lau testen, wenn er den Tod erwähnt), Unberechenbarkeit und Wahnsinn; aber all das ist in eine derartige Trockenheit und einen solchen Charme eingebettet, daß man kaum mehr sagen kann, wo die Ernsthaftigkeit endet und die Flachserei beginnt. Als ich ihn zum Beispiel frage, was er von der heutigen Science Fiction hält, antwortet er: „Sie ist eine Welt für sich. 63
Vor vielen, vielen Jahren ging ich mal zu einer Autorentagung nach Pennsylvania. Man hatte mich eingeladen und freute sich, daß ich kam. Wir sind ganz passabel miteinander ausgekommen – wenn man davon absieht, daß ich mich nicht dazugehörig fühlte und über nichts mitreden konnte. Das Problem liegt darin, daß ich meine Hausaufgaben nicht gemacht habe. Ich habe das ganze Zeug, über das die anderen redeten, einfach nicht gele sen. Natürlich habe ich als Kind ebenso wie die anderen vor den Drugstores rumgehangen. Natürlich habe ich dabei auch immer die Science Fiction-Magazine in den Regalen stehen sehen, aber sie haben mich nie sonderlich interessiert. Wissen Sie, ein Grund, warum ich es scheute, diese Pulp-Magazine anzufassen, war die Tatsache, daß ich das billige Papier nicht berühren wollte.“ Er macht eine nachdenkliche Pause. „Da hingen noch ganze Holzstücke drin. Das fand ich sehr unappetitlich.“ Und er kichert, als würde er sich über die absurde Antwort, die er mir gerade gegeben hat, königlich amüsieren. Ich frage ihn, ob er der Meinung ist, daß irgendeins seiner Bücher einen der jährlich vergebenen Science Fiction-Preise hätte bekommen sollen. „Ich glaube, ich hätte mehrere bekom men sollen“, erwidert er und wirkt in diesem Moment direkt ernsthaft. „Ich bin stolz auf Die Sirenen des Titan und war der Meinung, das Buch hätte damals einen Preis kriegen sollen. Es wurde auch nominiert, aber Harlan Ellison sagte: ‚Du wirst niemals gewinnen. Gewinnen kann man nur, wenn man ein Buch vorher in einem der Science Fiction-Magazine erscheinen läßt, also vergiß die Sache’.“ Er zuckt die Achseln. Glaubt er, daß die Science Fiction-Leser ihn deswegen weni ger mögen, weil seine Bücher mit der SF wenig ernsthaft um springen und den Eindruck erwecken, sie würden das Genre parodieren? „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man die Science Fic tion parodieren kann“, sagt er und zeigt dabei eine offensichtli 64
che Verwirrung. „Außer natürlich, indem man demonstriert, wie schlecht das meiste von dem Zeug geschrieben ist.“ Er macht eine Pause, denkt nach. „Da ist ein Bursche namens Philip José Farmer … Ich habe ihn zwar nie getroffen, aber er ist einer von diesen Hans-Dampfs-in-allen-Gassen und nach meinen Informa tionen ein netter und fleißiger Kerl. Er hat mich wieder und wie der gebeten – sowohl brieflich als auch durch meinen Verleger –, ob er bitte einen ‚Kilgore Trout’-Roman schreiben könne.“ (Kilgore Trout ist ein fiktiver Charakter, den Vonnegut in verschiedenen Büchern hat auftauchen lassen. Trout ist ein er bärmlicher, untalentierter Kleinstadtjournalist, der in seiner Freizeit Unmassen von Science Fiction-Romanen verfaßt und dennoch unbekannt bleibt – was teilweise daran liegt, daß seine Bücher entsetzlich schlecht geschrieben sind und andererseits lediglich über Porno-Läden vertrieben werden. Farmer wollte den Namen Kilgore Trout als Pseudonym benutzen und einen dieser imaginären Romane schreiben.) „Ich erlaubte es ihm schließlich. Wir haben weder einen Ver trag noch sonstwas gemacht. Ich spann mir schließlich aus, auch einem Haufen anderer Autoren die Erlaubnis zu geben, den Namen Kilgore Trout zu benutzen und stellte mir vor, wie die Buchhandlungen und Kirchenbibliotheken schließlich in diesem ganzen Scheiß ersticken würden.“ Er kichert. „Jeden falls kam Farmers Buch heraus und verkaufte sich ungeheuer gut, obwohl allen klar sein mußte, daß ich damit überhaupt nichts zu tun hatte. In einem Science Fiction-Magazin wurde das Ding dann ungeheuer verrissen. Man tat so, als hätte ich diesen gottverdammten Roman geschrieben und warf mir in wütenden Briefen vor, für Geld würde ich alles tun, und außer dem würde ich den Fans auf diese Weise das Geld aus der Ta sche ziehen. Farmer weigerte sich, das Geheimnis zu brechen und zuzugeben, daß er das Buch geschrieben hatte; diese Sache hat mir keinen guten Dienst erwiesen.“ 65
Wie ging es in dem Zeitraum zu, in dem Vonnegut außerhalb der Science Fiction noch relativ unbekannt war? Es dauerte zum Beispiel fast zehn Jahre, bis das literarische Establishment auf Cat’s Cradle stieß. „Ja, es wurde nie rezensiert. Als es erschien, streikten gerade die Zeitungen … Aber das ist einer ganzen Reihe meiner Bü cher passiert. Vor ein paar Jahren war ich auf einer Party zu Ehren von Doris Lessing. Wir sprachen über mein Buch Mother Night, und ich erwähnte, daß auch dies nie besprochen worden sei. Daraufhin hat sie den Job übernommen und eine Rezension für die New York Times geschrieben – zwölf Jahre nach dem Erscheinen der ersten Auflage.“ Ich merke an, daß ich den Eindruck habe, es mache ihm nicht viel aus, daß man erst so spät auf sein Werk aufmerksam ge worden sei. Er denkt sorgfältig darüber nach. „Vielleicht habe ich angenommen, meine Sachen seien gar nicht so gut“, sagt Vonnegut mit einem verschmitzten Lächeln. „Ich habe so viele Leute getroffen, die sich Mühe geben und es dennoch zu nichts bringen … Ich kann mir schon vorstellen, daß ich zu ihnen gehörte. Das heißt, ich konnte es mir vorstel len; heute sehe ich die Sache natürlich anders. Und wenn es so gewesen wäre … Nun ja, so ist nun einmal das Leben. Ich bin immer ziemlich lässig darüber hinweggegangen – oder habe es zumindest versucht –, wenn sich etwas als Flop erwies oder nicht auszahlte. Ich habe so was immer ziemlich routiniert ge sehen. Ich hatte das außergewöhnliche Glück, auf einen Verle ger namens Sam Lawrence zu stoßen; er bringt alle Autoren wieder auf den Markt, an die er glaubt. Er hat das auch mit Ri chard Brautigan und J. P. Donleavy getan. Er hat ein Abkom men mit Dell Books, und es ist ihm irgendwie gelungen, daß sie seine Ideen finanzieren. Es ist eine wunderbare Sache, daß er dafür sorgt, daß seine Autoren auf dem Markt bleiben, denn es gibt in diesem Land verdammt wenig Schriftsteller, deren Werk 66
lückenlos lieferbar ist. Wenn ich mir zum Beispiel das Ge samtwerk von Norman Mailer zulegen wollte, müßte ich nach einigen seiner Titel die ganze Stadt absuchen, und bei den Bü chern von Philip Roth sieht es wahrscheinlich ebenso aus.“ Ich frage, ob sein Gesamtwerk in eine bestimmte Richtung zielt und ob er seine zukünftigen Arbeiten in dieser Hinsicht plant. „Ich habe Leute gekannt, die systematisch und rational leben. Herman Wouk ist ein Freund von mir, und er hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewußt, welche Bücher er schreiben wollte. Unter all seinen bisherigen Büchern gibt es nur eine Ausnahme, und das ist ein Kurzroman, der ihn so sehr amüsierte, daß er ihn einfach schreiben mußte. Aber wenn ich ein Buch beende, weiß ich nie, was ich als nächstes mache.“ Aber ist Schlachthof 5 da nicht eine Ausnahme? Hat er an diesem Buch nicht mehrere Jahre geplant und gearbeitet? „Nun, das war eine Pflichtübung. Als ich herausfand, daß die Zerstörung Dresdens das größte Massaker der Menschheitsge schichte gewesen ist, sagte ich mir, mein Gott, dazu mußt du einfach etwas sagen. Dresden war die erste wirklich schöne Stadt, die ich gesehen habe. Ich hatte keine Ahnung, daß es so etwas überhaupt gab. Und ich hatte sie kaum gesehen, da hatte man sie auch schon zerstört. Nebenbei gesagt: Die Deutschen scheren sich einen Dreck um die Zerstörung dieser oder irgend einer anderen Stadt. Es ist ganz schön komisch, daß ich mir darüber Gedanken gemacht habe, während es ihnen völlig wurscht ist. Ich glaube, es macht ihnen nichts aus, alles wieder neu aufzubauen.“ Er lacht. Was mich angeht, so scheint die Hauptbotschaft in Schlacht hof 5 sich um die Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens zu drehen. Und diese Botschaft finde ich – mehr oder weniger mo difiziert – in allen anderen Werken Vonneguts ebenfalls wieder. Ich frage ihn, was er antwortet, wenn man ihm sagt, daß seine Bücher zu niederdrückend seien. 67
Er schüttelt den Kopf. „Aber das sagt ja niemand.“ Er lächelt, aber ich werde das Gefühl nicht los, daß er meiner Frage nicht ausweichen, sondern sie eher ersticken will. Ich will gerade pro testieren und ihm sagen, daß ich unmöglich der einzige sein kann, der in seinen Romanen diesen Geist bemerkt hat, als er auch schon abschweift. „Ich habe eine Menge bezahlter Reden gehalten. Ich hörte damit auf, als ich das amerikanische Äquiva lent einer Privataudienz vor der Königin in der Tasche hatte – ich sprach in der Library of Congress. Ich gab mich dabei ganz un schuldig, wie ein Junge vom Land, und die Rede, die ich hielt, hatte sich schon anderswo ausgezeichnet bewährt. Als ich etwa die Hälfte davon hinter mir hatte, stand irgendein Bursche, der erst kürzlich aus einem der sozialistischen Länder – Ungarn oder Bulgarien, genau habe ich es nie herausgefunden – herüberge kommen war, auf und sagte: ‚Woher nehmen Sie sich das Recht, als Meinungsbildner der amerikanischen Jugend, die jungen Leu te dieses Landes dermaßen pessimistisch zu stimmen?’ Ich hatte keine Antwort auf diese Frage. Sie kam so überraschend für mich und hat mich dermaßen aus dem Konzept gebracht, daß meine Rede an diesem Punkt endete. Die Bücher sind sicher pes simistisch … Aber viel von dem, was mich deprimiert, wäre auch vermeidbar. Dazu braucht man nicht einmal genial zu sein. Es ginge auch mit Zurückhaltung. Man könnte eine Menge von dem, was in der Welt falsch läuft, mit ein wenig mehr Zurück haltung abstellen. Man könnte zum Beispiel damit aufhören, die ganze Ostküste mit Atomkraftwerken zu bepflastern, die – um Strom zu erzeugen – das Meerwasser zum Kochen bringen … die ganzen Waffen, die wir gebaut haben, und all das … Würden wir bestimmte Dinge unterlassen, stünden wir weit besser da.“ Das führt dazu, daß ich ihn nach seinem wissenschaftlichen Hintergrund frage, der in vielen seiner Romane zu Tage tritt. In Cat’s Cradle etwa ist einer der Handlungsträger Physiker und offensichtlich dem wirklichen Leben nachgezeichnet. 68
„Ja, der Bursche, der in diesem Buch als Dr. Felix Hoenikker auftaucht, wurde nach Dr. Irving Langmuir gezeichnet, einem der wenigen Vertreter der privaten Industrie, der einen Nobel preis bekam. Er war Chemiker. Mein Bruder, der ein bekannter Wissenschaftler ist, hat mit ihm zusammengearbeitet. Aber Langmuir gab sich starrköpfig und geistesabwesend; er spielte den anderen Theater vor. Weltliche Dinge ließ er einfach links liegen. Heute würde sich niemand mehr so verhalten; es ist ein fach nicht mehr schick. Moden ändern sich mit dem Verhalten von Wissenschaftlern. Als ich für General Electrics arbeitete und einen Bericht über die dort arbeitenden Wissenschaftler verfaßte, war es ziemlich schick, auf eine gewisse Weise gei stesabwesend zu sein. Man tat so, als ginge es einen gar nichts an, welche Konsequenzen daraus erwachsen können, wenn man der Firma, für die man arbeitet, ein bestimmtes Wissen vermit telt.“ Gibt es Ausnahmen; Leute, die er schätzt? „Nun, ein Wissenschaftler, den ich sehr schätze, und der der gleichen Generation entstammt, ist Norbert Wiener. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb er einen Artikel für den Atlantic Monthly, in dem er zum Ausdruck brachte, er werde der Regie rung gar nichts mehr erzählen, da sie mit nahezu allem, was man sie wissen ließe, nur Unfug anstelle. Ich bin der Meinung, daß er damit absolut recht hat. Wissenschaftler sollten die Re gierung an ihren Erkenntnissen überhaupt nicht teilhaben las sen.“ Ich frage ihn, wie er – als Schriftsteller – überhaupt mit der Wissenschaft in Berührung gekommen ist. „Mein Vater bestand darauf, daß ich die Schule ernst nahm. Und über Ernsthaftigkeit hatte er seine eigenen Vorstellungen. Mein Großvater und er waren in Indiana Architekten gewesen. Eine Architektenfamilie in der dritten Generation hätte uns ei nen mächtigen Respekt eingebracht, wenn wir in Indianapolis 69
ein Büro eröffnet hätten, und ich hätte nicht einmal etwas dage gen gehabt. Aber da mein Vater aufgrund der großen Depression zehn Jahre aus seinem Beruf heraus war, glaubte er, nicht mehr mithalten zu können. Deswegen riet er mir, Chemiker zu wer den. Ich ging also nach Cornell, um Biochemiker zu werden. Da mein Interesse an der Sache nicht sonderlich groß war, gehörte ich allerdings ständig zu den Schlußlichtern meiner Klasse. Nun gab es aber in Cornell eine Tageszeitung, und dort war es nicht schwer, eine große Nummer zu werden. Ich schrieb für das Blatt Kolumnen, Märchen und allerlei anderen Kram. Da mir das Schreiben leichter fiel als den meisten meiner Kollegen und General Electrics mir später, als ich schon zwei Kinder hatte, eine Gehaltserhöhung verweigerte, kam ich auf die Idee, daß man als Freiberuflicher vielleicht mehr Geld würde machen können. Und das stimmte auch. Jeder, der in diesen Tagen eine Geschichte erzählen konnte und trotzdem einen festen Job an nahm, war ein Narr. Die Magazine, die es damals gab, zahlten recht ordentliche Honorare.“ Ein paar Jahre lebte er vom Kurzgeschichtenschreiben. Als diese Arbeit ihm genug gebracht hatte, nahm er sich die Zeit, sich an Romanen zu versuchen. Bedauert er es, Fließbandarbeit getan zu haben, um damit seine ernsthafteren Bücher zu finan zieren? „Ich ärgere mich darüber, daß ich damals, als ich jünger war, weniger Geld hatte als heute. Es hätte nicht nur mir, sondern auch den Kindern mehr Spaß gemacht. Mein Bedauern bezieht sich also nur darauf. Hätte ich eine wohlhabende Frau geheira tet oder wäre auf andere Weise zu viel Geld gekommen, hätte ich mehr Romane geschrieben. Aber ich glaube nicht, daß mir etwas abhanden gekommen ist, und außerdem zwingt die Kurz geschichtenschreiberei dazu, viel mehr Geist in eine Arbeit zu stecken. Es ist zum Beispiel eine wunderbare Sache, daß man, 70
um etwa ein Gedicht zum Klingen zu bringen, Worte benutzt, die man unter gewöhnlichen Umständen so gut wie nie über die Lippen bringt. Plötzlich stellt man fest, daß man viel mehr drauf hat, als man glaubt. Ich halte es für eine interessante Herausfor derung, konventionelle Kurzgeschichten für ein MittelklasseMagazin zu schreiben. Stories dieser Art müssen in gewisser Weise die Mittelklasse herausstreichen, sonst wird man sie nicht los. Es macht mir aber nichts aus, der Mittelklasse um den Bart zu gehen. Immerhin ist sie es, die das Land retten muß, sonst wird es keiner tun.“ Ich erwähne, daß viele Schriftsteller, mit denen ich gespro chen habe, ihre Hoffnung eher auf die Wissenschaft als die Mit telklasse setzen, wenn es darum geht, uns vor der Zukunft zu bewahren. Das scheint Vonnegut ein wenig zu irritieren. „Daß die Wissenschaft uns retten kann, ist purer Aberglaube. Es ist absurd. Ich glaube, es ist jugendlicher Übermut. Wie in einem wissenschaftlichen Debattierklub auf der High School. Der Gedanke, hinauszugehen und die Asteroiden zu zerlegen, begeistert sie. Vielleicht kann man das wirklich machen, aber die meisten dieser Leute sind nicht sonderlich erwachsen. Man verläßt sich heutzutage zuviel auf die Technologie. Ich glaube, das ganze Land ist damit beschäftigt, die Technologien der Reihe nach abzuklopfen, um sich darüber klar zu werden, was davon gut und was davon schlecht für uns ist. Das scheint mir ein ziemlich interessanter Punkt zu sein.“ Während wir dieses Interview aufnehmen, bereitet Vonnegut sich darauf vor, nach Washington, D. C. zu gehen, um auf einer Versammlung der Atomkraftgegner zu sprechen. Ich frage ihn nach seinen allgemeinen Ansichten über Politik und Ökonomie. „Über dieses Nicht-System, das wir hier haben?“ Er macht eine Pause. „Es ist natürlich nicht dazu in der Lage, die Leute mit genug Arbeitsplätzen zu versorgen.“ Wieder eine Pause. „Aber immerhin haben wir diese wunderbar motivierten Irren in 71
der Privatindustrie, die, sagen wir mal, ins Reifengeschäft einsteigen werden. Sie werden die tollsten Reifen produzieren, die man je gesehen hat; Reifen, die essen und schlafen können. Vielleicht können sie auch Fernsehgeräte reparieren oder Auf züge bedienen. Man produziert einen Haufen sinnlosen Unfug. Nicht einmal der Sozialismus hat es geschafft, solche Leute auszuschalten. Ich würde ein gemischtes Wirtschaftssystem bevorzugen, wo man diese Irren fördert und darüber hinweg sieht, wenn sie ein paar Rubel mehr verdienen als ihre Nach barn. Sie sollen ruhig bezahlt werden, aber eben nicht so hoch wie jetzt. Wenn diese Burschen erst einmal loslegen, werden sie einem das Letzte abnötigen und für das, was sie tun, phänome nal abkassieren.“ Die Erwähnung des Sozialismus erinnert mich an einen Aus spruch, den ich kürzlich aus dem Mund von Ben Bova (dem Science Fiction-Autor und Chefredakteur des Magazins Omni) gehört habe. Als ich Bovas Namen ausspreche, hält Vonnegut inne und versucht sich zu erinnern, wo er ihn schon einmal ge hört hat. Er denkt ziemlich lange darüber nach. Nach einigem Kopfkratzen fällt ihm ein, daß Bova ihn vor einer Woche zum Essen eingeladen hat: Er hofft, von Vonnegut eine Story für Omni zu bekommen. Ich kehre zum Thema zurück und zitiere Bovas Bemerkung, dem Sozialismus sei „das Benzin ausgegan gen“ und die sozialistischen Länder müßten, um wirtschaftlich zu überleben, irgendwann auf bestimmte Formen des Kapita lismus zurückgreifen. Vonnegut lacht. „Welch ein Blödsinn! Welch ein Quatsch. Nein, es ist doch ganz offensichtlich, daß wir zusammenbre chen, ohne daß sich auch nur jemand darum schert. Niemand hat sich auch nur bemüht, darüber nachzudenken. Ich halte die sozialistischen Länder für ziemlich interessant.“ Und so spricht er weiter, über die verschiedensten Dinge, in der gleichen offenen, lakonischen Weise, und scheint ironisch 72
über den Dingen zu stehen. Seine Worte erinnern mich an den amüsierten Fatalismus, den man auch in seinen Büchern findet. Am deutlichsten wird dies in Die Sirenen des Titan, wo er die Menschheit als blindwütigen Mob mit hochgesteckten Zielen schildert. Tatsächlich aber wird sie zu Zwecken der Befriedi gung trivialer Launen von höheren Mächten manipuliert. Bis zu welchem Grad gibt dieses Buch Vonneguts Ansichten über die Realität wieder? „Oh, es ist nur ein Buch, über das man hin und wieder lachen kann. Und es stehen Witze drin“, sagte er unschuldig – spiele risch – und doch todernst. „Wissen Sie, ich habe mich einfach gefragt, was wäre … wenn es einen Gott gäbe, der wirklich Ziele verfolgt und irgend etwas damit erreichen will.“ Aus irgend welchen Gründen kommt ihm diese Erklärung ungeheuer witzig vor; jedenfalls kann er sich vor Lachen kaum noch halten. „Und ich habe mich gefragt, wie mühselig das für ihn wäre. Die ganze Idee eines Gottes, der ein Ziel verfolgt, kommt mir urkomisch vor. Wissen Sie, ich dachte darüber nach, worin dieses Ziel wohl bestehen könnte. Schließlich modelt er die ganze Welt ja laufend um und gibt uns Hinweise.“ Wenn er sich das Buch jetzt ansieht, kommt es ihm dann immer noch spaßig vor? „Es ist voller Druckfehler“, antwortet er unbestimmt. „Die Erstausgabe war ein billiges Taschenbuch, und danach haben sich die Setzer später immer gerichtet. Obwohl es kaum eine Stunde Arbeit wäre, die Sache auszubügeln, habe ich mich nie um die Fehler gekümmert.“ Er denkt einen Augenblick nach; offenbar fallen ihm jetzt noch Fehler in seinen anderen Büchern ein. „In Schlachthof 5 habe ich eine Person beschrieben, die an einer Kohlenoxydvergiftung stirbt. Bei mir verfärbt sie sich da bei blau. In Wirklichkeit wird aber jemand, der an einer Koh lenoxydvergiftung stirbt, wunderschön rotgold.“ Auch darüber muß er lachen. „Im allgemeinen sagen die Leute dann, der Ver 73
blichene habe nie besser ausgesehen.“ Jetzt kann er sich wirk lich kaum noch halten. Als der Lachanfall vorüber ist, versuche ich eine andere ernsthafte Frage zu stellen. Weiß Vonnegut, wer sein Publikum ist? Wer sind die Leute, auf die seine Bücher abzielen? „Einer meiner Freunde – er heißt Hans Koenig, ist ein hol ländischer Radikaler und lebte hier und in London – hat mich einst gefragt, für welche Leute ich eigentlich schreibe. Ich schreibe für Leute, die intelligenter sind, als ihre Position in der Gesellschaft vermuten läßt. Wenn die mich lesen, wäre ich wirklich stolz darauf.“ Aber war dies das Publikum, das er in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren erreichte, wo man in ihm einen kleinen Helden der Gegenkultur sah? „Nein, die meisten dieser Leute lasen gar nicht. Wenn man in die Wohnungen dieser Leute kam und dort meine Bücher neben denen Tolkiens oder Heinleins Ein Mann in einer fremden Welt liegen sah, konnte man davon ausgehen, daß sie zum Mobiliar gehörten. In einem solchen Fall wußte man sofort, wen man vor sich hatte …“ Um noch einmal darauf zurückzukommen, welche Art Pu blikum Vonnegut am liebsten erreichen möchte – schreibt er mit dem Hintergedanken, daß seine Bücher die Weltsicht des Lesers verändern sollen? „Oh, gewiß.“ Und dann folgt eine sehr lange Pause. „Es würde mir sehr gefallen, wenn sie daraufhin Rückschläge bes ser verkraften können als vorher.“ Seine Worte klingen sorgfäl tig und entschieden. „Ich glaube, daß das Leben für den Men schen viele Enttäuschungen bereithält. Ich sehe es als eine Art Komödie an, in der man den Part eines Lebewesens abgibt, das dieses und jenes möchte … Es ist nicht unbedingt der Fehler dieses Lebewesens, daß es enttäuscht wird, es ist auf die Natur dieses Planeten zurückzuführen. Ich halte dies nicht nur für 74
komisch, sondern auch für etwas, mit dem man zu leben lernen muß. Man muß ja nicht unbedingt daran sterben.“ Er kichert. „Das Lebewesen, das alles mögliche möchte, ist liebenswert. Und süß.“ Er scheint dem Gespräch eine heitere Wendung geben zu wollen. Ich weise darauf hin, daß ich immer noch den Eindruck habe, daß die Aussichten deprimierend sind. „Na schön.“ Er scheint sich nun doch dazu durchgerungen zu haben, eine Erklärung abzugeben. Und er hat sie sicher schon öfter wiederholt, als es ihm Spaß macht. Er nimmt dabei seine Finger zu Hilfe. „Meine Mutter beging Selbstmord. Drei Monate später schickte man mich nach Übersee. Fünf oder sechs Monate nach dem Tod meiner Mutter lag ich als Soldat an der Front und war dabei, als die amerikanische Armee die größte Niederlage ihrer Geschichte hinnehmen mußte. Dabei gingen drei Divisio nen und der ganze Nachschub verloren. Ich habe mir das ange sehen und weiß nun, wie man sich in einem solchen Fall fühlt. Ich hatte keine andere Wahl, als mich dem Schicksal zu erge ben und zu versuchen, diese Katastrophe in meine Weltsicht zu integrieren. Dann kam ich nach Dresden, in eine Stadt, in der nicht einmal die Fenster beschädigt waren. Die Stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht, und ich sah mit an, wie große Kunstschätze den Flammen zum Opfer fielen. Und dann sah ich, wie die russische Armee in Deutschland einmarschierte, eine unaufhaltbare Woge … Der menschliche Geist sollte ir gendwie auf Katastrophen dieser Art vorbereitet sein. Sowas sollte einen nicht überraschend treffen. Was, zum Teufel, hätte ich dort an der Front machen sollen? Wutschäumend aus dem Schützengraben klettern und Handgranaten in alle Richtungen werfen? Der Gedanke, daß man selbst schuld daran ist, wenn man sich am Arsch der Gesellschaft befindet, ist für mich uner träglich … Wenn man am Ende, krank oder unglücklich ist, hat man das nicht selbst verschuldet.“ Er macht eine Pause und 75
sucht nach einem Vergleich. „Dieser Planet verfügt über die sensationellsten Wettersysteme, und doch hat man keine Kon trolle über sie.“ New York, im Mai 1979
76
Bibliographische Anmerkungen Vonneguts erster Roman, Das höllische System, erschien 1952 (dt. 1964). Er enthält ironische Kommentare zur Technologie, zur Automation und zur amerikanischen Großindustrie. Die Sirenen des Titan (1959; dt. 1979) war der nächste und stellt die konventionellste Form der Science Fiction dar, die er geschrie ben hat. Cat’s Cradle (1963) ist bemerkenswert wegen seines leicht unkonventionellen Aufbaus und der darin enthaltenen Beschreibung einer fiktiven Religion. Auch Cat’s Cradle ist einer der wenigen Romane über verrückte Wissenschaftler, die die Welt bedrohen, in denen die Katastrophe nicht um fünf Mi nuten vor zwölf abgewendet wird: Er endet mit einem Desaster, das man nicht mehr rückgängig machen kann. Schlachthof 5 erschien 1969 (dt. 1970); danach gab Vonnegut bekannt, daß er keine Bücher mehr schreiben werde. Allerdings kehrte er 1973 mit Frühstück für starke Männer (dt. 1974) in die Szene zurück. Frühstück und Slapstick (1976; dt. 1977) sind ganz in seinem alten, ironischen Geist geschrieben und führen Charaktere vor, die schon in früheren Veröffentlichungen Vonneguts eine Rolle gespielt haben.
77
Hank Stine Ich gehe zusammen mit Hank Stine, dem Herausgeber des Ma gazins Galaxy, den Broadway hinunter. Es ist einundzwanzig Uhr, der Verkehr rauscht an uns vorbei, überall brennen Lichter. Auf den Bürgersteigen spielt sich das übliche Nachtleben von Manhattan ab. „Laß mal sehen“, sagt Hank nachdenklich, „wo wir sind. Wir scheinen in einem ziemlich dichtbevölkerten Stadtteil zu sein. Da sind Kinoreklamen. Wir müssen mittendrin sein. Da ist, glaube ich, eine größere Kreuzung …“ „Du willst mich veräppeln“, sage ich. „Was? Aber nein, ich habe mich nur gefragt …“ „Times Square. Wir sind auf dem Times Square.“ „Oh, wirklich? Na, das ist aber toll.“ Er sieht sich mit echter Neugier um. Den Times Square hat er noch nie gesehen. Er scheint nicht recht bei der Sache zu sein; was teilweise daran
78
liegt, daß wir uns in einem drittklassigen Kino gerade den Film Dawn of the Dead angesehen haben, wobei das Publikum jede Brutalität, jeden Akt des Kannibalismus und jeden Massenmord mit frenetischem Beifall und lautem Freudengebrüll quittiert hat. Aber daß er nicht ganz bei der Sache ist, liegt teilweise auch daran, daß Hank Stine bisher ein wenig weit vom Schuß gelebt hat: außerhalb von New York und ohne direkten Kontakt zu den Verlagen und Redakteuren, die hier ansässig und für die meisten Schriftsteller unentbehrlich sind. Stine kam 1945 zur Welt, wuchs an der Westküste auf, hing mit anderen Science Fiction-Fans in Los Angeles herum und schrieb während der späten sechziger Jahre seine ersten Kurz geschichten und Romane. In gewisser Beziehung ist er immer noch ein Produkt der sechziger Jahre: Er trägt das Haar lang, hat einen (sauber gestutzten) Bart, raucht Dope, hat idealisti sche Ansichten und liebt es, mit dem, was er headpeace nennt, herumzuexperimentieren. Andererseits ist dieser mit einem re spekteinflößenden Anzug bekleidete schlanke Mann im Ge schäftsleben und der Werbung tätig. Den größten Teil der sieb ziger Jahre hat er damit zugebracht, in der Werbebranche als Regisseur von TV-Spots zuzubringen, und zwar in Baton Rouge, Louisiana. Dort lebt er immer noch, fernab der großen Städte. 1978 hörte er, daß der Verleger des Magazins Galaxy einen neuen Herausgeber suchte. Daraufhin begab sich Stine ans Telefon und sicherte sich den Posten. Es war das erste Le benszeichen, das die Science Fiction-Gemeinschaft nach fünfoder sechsjähriger Abwesenheit von ihm erhielt. Es gab eine Menge Leute, die seinen Namen noch nie gehört hatten; andere bedauerten den Fakt, daß ein „Außenseiter“ die Redaktion eines Magazins übernehmen sollte, das viele Fans aus rein sentimen talen Gründen mehrere Jahrzehnte lang verehrt hatten. Stines Antwort war die, daß er trotz seines „überlangen Ur laubs“ die Weiterentwicklung innerhalb der Science Fiction mit 79
leidenschaftlichem Interesse verfolgt habe. Und tatsächlich ist es jetzt seine Leidenschaft, die ihn gegenwärtigen Trends ge genüber ablehnend macht. Er ist sicher der standfesteste und kontroverseste Herausgeber, den wir haben, und wenn Galaxy, das an finanziellen Problemen leidet, für die Stine nicht verant wortlich ist, überlebt, wird er einen bleibenden Eindruck ma chen. Vielleicht wird man sich später ebenso an ihn erinnern, wie an das britische Magazin New Worlds, das vor fünfzehn Jahren die „Neue Welle“ in der Science Fiction einleitete. Das Interview findet in meiner Wohnung statt, nachdem wir drei Tage lang an mehreren Versammlungen teilgenommen und der Verleihung der Nebula Awards für die besten Stories und Romane des vergangenen Jahres beigewohnt haben. Stine ist ein bißchen weggetreten. Er hat zu wenig Schlaf gehabt, zuviel getrunken und zuviel Großstadt und Menschen um sich gesehen. So wie er jetzt wirkt, habe ich den Eindruck, daß er möglicher weise nicht mehr genug Energie aufbringt, um viel zu reden. Als ich ihm allerdings die erste Frage stelle, legt er los wie ein Maschinengewehr und schafft es, in vierzig Minuten fünftau send Worte loszuwerden. Er ist wie aufgezogen. Um das Ziel dieser Transkription zu erfüllen, beginnen wir mit seinem Hintergrund: „Als ich etwa neun Jahre alt war, tat ich mich mit ein paar Freunden zusammen, zeichnete etwas, das wir damals Filme nannten. In Wirklichkeit handelte es sich dabei um Bühnenbil der. Die waren dann fünf- oder sechshundert Seiten stark; auf jeder Seite ein Bild. Wir zeigten uns die Sachen dann gegenseitig und sagten, was uns dazu einfiel. Die auf diese Weise zustande gekommenen Geschichten waren ausnahmslos Science Fiction. Im Alter von zwölf Jahren war ich der typisch idiotische Science Fiction-Fan. Ich hatte auch den typischen Hintergrund: Einzelkind und nicht ganz dumm. Ich hatte Phantasie, träumte mir die tollsten Sachen zusammen, entdeckte die Science Fiction, 80
und dann hei-ho! Ich schrieb meine erste Geschichte mit sech zehn, schickte sie ein und bekam meinen ersten Ablehnungsbe scheid – nebenbei gesagt, er kam von Galaxy. Als ich neunzehn wurde, hatte ich meinen ersten Roman geschrieben. Ich ver suchte ihn an Ace Books zu verkaufen, aber er war wohl zu schrecklich. Das Manuskript existiert nicht mehr. Schon als Kind war ich ein ziemlich schneller Leser, und da ich sonst nicht viel tat, waren drei bis vier Bücher am Tag für mich kein Problem. Was das angeht, habe ich also einen guten Überblick. Etwa um 1970 herum hatte ich achtzig Prozent der gesamten Science Fiction gelesen, die in englischer Sprache herausgekommen war. Ich zog von Sacramento nach Los Angeles, hing da rum, lernte Leute kennen, traf Norman Spinrad, der gerade anfing, seine Geschichten unterzubringen – und wurde mit Larry Niven bekannt. Die erste Geschichte, die ich verkaufte, entstand in Zusammenarbeit mit ihm. Sie war abscheulich. Wir schickten sie überall hin, von einem Redakteur zum anderen. Schließlich wurde Ted White Herausgeber von Amazing und Fantastic. Er nahm sie. Das gab mir ungeheuren Auftrieb, aber gleichzeitig überraschte es mich, denn so gut war die Story nun auch wieder nicht gewesen. Um diese Zeit herum erzählte mir Norman (Spinrad) etwas von einem neuen Verlag, der sich Essex House nannte. An ir gendeinem Abend las er mir einen Abschnitt aus einem Roman vor, der bei Essex House herausgekommen war. Er stammte von einem Michael Perkins und hieß Blue Movie. Es war eine Satire, die sich mit dem geheimen Sexleben bekannter Filmstars beschäftigte und ging von Ronald Reagan über John Wayne bis zu Bela Lugosi. Das Ding war ungeheuer grotesk, aber auch lustig. Na gut, dachte ich, das kann ich auch. Seit meinem zwölften oder dreizehnten Lebensjahr trug ich eine Idee mit mir herum, die ich schon immer hatte ausarbeiten 81
wollen. Entlehnt hatte ich sie aus Robert Sheckleys Roman Immortality Incorporated, der in Galaxy als Fortsetzungsroman gelaufen war: Das Bewußtsein des Helden wandert darin durch verschiedene Körper und läßt sich schließlich in einem Mäd chen nieder, das es gerade mit seinem Freund treibt. Für einen Dreizehnjährigen war das natürlich hocherotisch, und von da an fing ich an, mir vorzustellen, wie es wohl wäre, ein Mädchen zu sein. Ich stellte mir das in aller Ausführlichkeit vor; schließlich inspirierten mich diese Gedanken zu meinem Roman Season of the Witch.“ Das war Stines erstes Buch. Es kam bei Essex House heraus und hatte durchaus die Durchschlagskraft, zu einer Art Kultro man zu werden. Als er anfing, daran zu schreiben, hatte er sich gerade scheiden lassen. „Ich lebte allein und brauchte dringend Geld. Der Gedanke, das Buch zu schreiben, gefiel mir ungeheu er, aber gleichzeitig hatte ich auch Angst davor. Ein Freund versorgte mich mit Meskalin, wir gingen in die Stadt und sahen uns einen Rockerfilm an. Er hieß The Savage Seven und war übrigens ziemlich gut und mit einer gehörigen Portion Gefühl gemacht. Um vier Uhr morgens kam ich dann nach Hause und konnte nicht einschlafen. Also setzte ich mich hin und fing trotz der Nachwirkungen des Meskalins an, Season of the Witch zu schreiben. Ich kam sehr schnell voran, tippte dreißig oder vier zig Seiten, ging dann in das Haus eines Freundes, setzte mir einen Kopfhörer auf und machte noch einmal vier bis fünf Stunden weiter. Von 1968 bis 1972 habe ich drei Bücher unter meinem eige nen Namen geschrieben. Dann zog ich mich für eine beträchtli che Weile zurück. Zeitweise war ich als Schriftsteller einfach ausgebrannt, wie es vielen Leuten ergeht, obwohl es sie nicht vom Schreiben abhält, weil sie Geld zum Leben brauchen und nichts anderes gelernt haben. Es ist ganz gut, wenn man für ein paar Jahre andere Sachen machen kann; etwa in die Werbein 82
dustrie gehen und Filme drehen. Da kann man sich wieder auf tanken und irgendwann zum SF-Schreiben zurückkehren. Dean Koontz und Piers Anthony waren Autoren, die meinen Entschluß, das Schreiben aufzustecken, beeinflußten. Ihre er sten Romane kamen ungefähr zur gleichen Zeit heraus wie meiner. Für eine Erstveröffentlichung waren sie ziemlich gut. Aber dann brachte jeder von ihnen ein zweites Buch auf den Markt. Und das sah nun gar nicht mehr so gut aus. Als beide das dritte herausbrachten, war der Unterschied zum ersten deut lich zu erkennen. Ein Autor muß gewisse Entscheidungen tref fen, und zwar sehr früh. Man kann natürlich losziehen und ein Buch nach dem anderen produzieren. Es kommt in der Science Fiction oft vor, daß man gleich Verträge für mehrere noch zu schreibende Bücher unterschreibt – und dann sitzt man da und muß sie sich aus den Fingern saugen. Das Resultat sieht dann so aus, daß die Leute sich keine Mühe mehr geben. Warum sollten sie es auch? Wenn man pro Buch 5000 Dollar bekommt und vier Stück im Jahr schreibt, warum, zum Teufel, soll man dann lernen, besser zu werden? Was mich anging, so hatte ich ein fach keine Lust, Bücher auszustoßen, auf die ich nicht stolz sein konnte. Piers Anthony scheint mittlerweile auf dem Wege zu sein, seine alte Kraft wiederzufinden, aber wie lange hat er sich damit abgefunden, Schundromane auszustoßen, die seiner Fä higkeit spotten? Ich persönlich freue mich, wenigstens ein Buch geschrieben zu haben, das den Leuten Spaß machte, statt ihnen sechs oder sieben serviert zu haben, die sie verabscheuen. Und in den vergangenen paar Jahren ist es mir endlich gelungen, mir über das, was gutes Schreiben ausmacht, klarzuwerden.“ Wir wenden uns nun der Arbeit eines Redakteurs zu, und ich frage, was Stine in den ersten paar Monaten seiner Beschäfti gung bei Galaxy für Erfahrungen gemacht hat. Was den Zu stand der Science Fiction-Szene angeht, so kann er sich darüber nicht freuen. 83
„Wenn man früher Science Fiction schreiben wollte, mußte man zumindest so viel über das Genre wissen, um in der Lage zu sein, sich die Regeln selbst beizubringen. Damit stand schon mal eine gewisse Gruppe von Leuten außen vor. Wer übrig blieb, hatte entweder Talent, zeigte gute, ausbaufähige Ansätze oder war – wie etwa Lin Carter – konsequent genug, eine ein mal angefangene Arbeit auch vom Anfang bis zum Ende durch zuhalten, ob sie nun gut ist oder nicht. Heute werden Unmengen von Kursen veranstaltet, in denen man den Leuten das Schreiben von Science Fiction auf dem College beibringt. Dabei geht man nach richtigen Systemen vor, und wenn man ein paar Bücher von Pohl und Kornbluth oder diverse Frühwerke Heinleins analysiert hat, baut man zukünftige Gesellschaften nach deren Mustern auf. Man bekommt einge bläut, wie der Hase laufen soll. Daraus ergibt sich, daß eine Menge der neueren Autoren überhaupt keine Science Fiction-Stories mehr erfinden. Sie schreiben nur noch um und benutzen dabei die alten Extrapola tionsschemata. Die Leute lernen das Schreiben von Kurzge schichten, ohne sich die Frage zu stellen, ob sie überhaupt et was zu sagen haben. Ich erhalte eine kompetent geschriebene Geschichte nach der anderen, und bin im Moment an einem Punkt angelangt, wo ich den Einsendern wütende Briefe schrei be und ihnen sage, daß es nun einmal nicht ausreicht, mir Ge schichten vorzulegen, die vom Anfang bis zum Ende glatt ab laufen. Sicher, es ist schwer, aber es reicht einfach nicht aus. Eine andere Sache, die mich ganz allgemein stört, ist die große Anzahl von SF-Romanen und -Erzählungen, die um Ideen herumgeschrieben werden, die in sich nicht stimmig sind. Es ist zwar unfair, sich einen einzelnen Schriftsteller herauszupicken, um dieses Beispiel zu veranschaulichen – vielleicht hat er ja auch Bücher geschrieben, die besser sind und die ich bloß nicht kenne –, aber zufälligerweise illustriert Michael G. Coneys 84
Die Freundschaftsboxen die Tatsache, daß ich sieben Jahre lang nur wenig Science Fiction gelesen habe und auch in Zukunft nicht mehr alles konsumieren will, vortrefflich. Dieser Roman baut auf der Grundlage auf, daß die Welt überbevölkert ist und die Gehirne der Menschen von den Körpern getrennt und in Boxen aufbewahrt werden, bis die Zeiten sich wieder ändern. Das grundsätzlich Idiotische daran ist, daß unter solchen Um ständen sogar die rabiatesten Gegner der Geburtenkontrolle eher ihrem Glauben abschwören als zulassen würden, daß man so mit ihren Kindern verfährt. Punkt. Und zwar für immer und alle Zeiten. Das entspricht nun einmal eher der menschlichen Natur. Wie also kann ich ein solches Buch lesen? Trotzdem wurde es veröffentlicht, und mit ihm viele andere, von denen die Autoren wußten, was sie damit anrichteten. Da hat man ei nen Geistesblitz und arbeitet ihn aus, auch wenn er noch so blöd ist und keine menschliche Gesellschaft der Zukunft auf die Idee käme, sich derart zu verhalten. Es gibt viele Romane dieser Art, und sie verkaufen sich, weil die Science Fiction ein guter Markt ist und die Herausgeber einen Terminplan haben, der sie ver pflichtet, jeden Monat sechs Titel parat zu halten. Sie nehmen diese Bücher deswegen, weil – von den Grundvoraussetzungen mal abgesehen – sonst alles an ihnen stimmt. Und hat nicht je der das Recht, auf einer falschen Prämisse aufzubauen? Die Antwort lautet nein! Jedenfalls nicht, wenn sie so dumm ist, daß sie niemals eintreffen kann. Es gibt einen Haufen Schriftsteller, die zur Zeit ziemlich große Namen haben, die ich aber trotzdem für mangelhaft halte. Ein solches Beispiel ist John Varley. Seine Erzählung Die Trägheit des Auges (die 1976 einen Nebula Award bekam) habe ich nicht gelesen, deswegen werde ich mir auch kein Urteil dar über erlauben, ob sie zu Recht preisgekrönt wurde; vielleicht aber doch. Aber was ich sagen will, ist, daß ich mehrere andere Geschichten aus seiner Produktion kenne; einige davon wurden 85
von meinem Vorgänger bei Galaxy angekauft, das war noch in der Zeit der finanziellen Probleme. Ich habe keine Ahnung, ob es an diesen finanziellen Problemen lag, daß mein Vorgänger nicht dazu kam, diese Geschichten zu bearbeiten, aber ich möchte in aller Ehrlichkeit sagen, daß ich Varleys Retrograde Summer gerne überarbeitet gesehen hätte, um nur ein Beispiel zu nennen, denn dies ist eine Geschichte, in der grundsätzlich nichts zueinanderpaßt; nicht einmal die einander folgenden Sät ze. Und der Höhepunkt, von dem ich annehme, daß er gar nicht vorhanden ist, dient nur dazu, die ganze Sache abfallen zu lassen. Der Herausgeber hätte Varley helfen sollen. Aber Magazin herausgeber scheinen nichts anderes zu tun, als auf ihrem Hin tern zu sitzen und sich die Frage zu stellen, ob sie eine Ge schichte nun kaufen sollen oder nicht. Ich meine, sie sind dazu da, den Autoren zu sagen, was sie tun sollen, um ihre Geschich ten zu verbessern. Der Job eines Herausgebers besteht nicht nur darin, das Zeug zu kaufen; wenn es darum ginge, könnten die Verleger diese Arbeit auch gleich von ihren Sekretärinnen erle digen lassen. Ein Herausgeber sollte die Augen nach Autoren offenhalten, die vielversprechende Ansätze zeigen und dann mit ihnen arbeiten. Wenn ein Schreiber auf dem besten Wege ist, ist ihm nicht damit gedient, daß man seine Sachen kauft und publi ziert: Man sollte ihm schreiben und ihm sagen, wie er es noch besser machen kann. Wenn er mit dir einer Meinung ist: Na, prima! Wenn nicht, kann er versuchen, seinen Text anderswo abzusetzen. Ich habe eine Menge Bücher gelesen, die durch die Mitarbeit eines Redakteurs nur gewonnen haben, und ich weiß, daß David Hartwell (vom Verlag Pocket Books) ein ganzes Wochenende mit Gregory Benford zusammengesessen und ge arbeitet hat. Sie sind das Buch Zeile für Zeile durchgegangen. Obwohl Benford ein ausgezeichneter Schriftsteller ist, hatte er nichts dagegen, weil er weiß, daß ein fähiger Redakteur immer noch Sachen entdeckt, die verbesserungsbedürftig sind.“ 86
Wir unterhalten uns noch etwas über die Science Fiction im Allgemeinen; dann artikuliert Stine einen Vorwurf, den ich in dieser Form bisher noch nicht gehört habe – daß die Science Fiction grundsätzlich Mittelklasse darstellt. So wie er es dar stellt, gewinnt sein Argument überzeugende Dimensionen: „Irgend jemand hat einmal gesagt, daß die meisten Science Fiction-Autoren, wo immer sie sich auch aufhalten, einen Hauch von Durchschnitt um sich verbreiten. Ich glaube, daß das stimmt. Die meisten Autoren entstammen der Mittelschicht; die paar Ausnahmen haben der Szene ungewöhnliche Arbeiten und Talente zugeführt. Da ist zum Beispiel Samuel R. Delany. Der größte Teil der Science Fiction ist mir einfach zu hausbacken. Da wird hauptsächlich über kultivierte Menschen mit guten Manieren geschrieben, die ebenfalls der Mittelschicht angehö ren und in Raumschiffen herumsitzen und gepflegte Gespräche führen …“ An dieser Stelle werfe ich ein, daß viele Science FictionAutoren aus ärmlichen Verhältnissen kommen. Isaac Asimov zum Beispiel. Stine hält einen Moment inne, dann wischt er meinen Einwand beiseite: „Es entspricht doch genau den Erwartungen eines Menschen aus kleinen Verhältnissen, irgendwann einmal der Mittelschicht anzugehören. Ich glaube, daß das ebenso für Asimov als auch für Bova gilt. Andere Leute hingegen, die in die Mittelschicht hineingeboren wurden – etwa Jerry Pournelle –, haben den Traum, in die Oberschicht vorzustoßen und reich zu werden. Es ist also nicht verwunderlich, wenn sie zu Propagandisten der Plutokratie, des Reichtums und des Konservativismus werden. In diese Schicht aufzusteigen, ist ja ihr Ziel. Man sagt der Science Fiction nach, sie sei wissenschafts gläubig. Zumindest jedoch stellt sie einen gewissen Glauben an den Sieg der Vernunft zur Schau, was beinahe eine Art Provin zialismus ist. Die tatsächliche Wahrheit besteht jedoch darin, 87
daß das Universum so viel größer ist als wir, und daß wir auf einem so kleinen Hinterwäldlerplaneten leben, auf dem – ge messen an der Zeit, die der Kosmos bereits hinter sich hat – durch Einwirkung von außen noch nichts Außergewöhnliches passiert ist. Also wie, zum Teufel, wollen wir wissen, was da überhaupt vor sich geht? Woher nehmen wir uns das Recht, den fließenden Zustand unserer Existenz, der in Wahrheit äußerst instabil und zerbrechlich ist, als gegeben hinzunehmen? Trotz alledem sind die amerikanischen Science Fiction-Autoren – und die Amerikaner der Mittelschicht im Allgemeinen – sehr selbst zufrieden. Ich glaube, daß vieles davon seine Ursachen in den Schulbü chern der fünfziger Jahre hat. Darin konnte man nämlich lesen, daß man inzwischen alle Probleme gelöst habe, daß es keine Spannungen zwischen den Rassen mehr gebe und der wissen schaftliche Fortschritt das Leben wunderbar gestalten werde, und so weiter. Inzwischen hat man an den Schulbüchern einiges getan, aber die Amerikaner hat das geprägt, und sie glauben, daß dieses Land etwas besonderes ist, historische Verpflichtun gen trägt und die perfekte Gesellschaft ist. Aber das entspricht nicht der Wahrheit. Das System als ganzes hat in erster Linie einmal eine Ver knappung an allem zu verzeichnen, was es am Laufen hält. Au toren wie Pournelle und Bova glauben, daß die Naturwissen schaften auf alles eine Antwort geben können. Ich bin da ande rer Meinung. Es ist ganz offensichtlich, daß die Naturwissen schaften uns die Probleme erst aufgehalst haben. Sie glauben, daß die Naturwissenschaften sich weiterentwickeln und diese Probleme lösen werden; sie gehen sogar so weit und geben zu, daß die Lösungen dieser Probleme neue Probleme hervorrufen werden, die man dann auch wird lösen müssen, aber mich erin nert das immer an einen Jongleur, der drei Teller in die Luft wirft und dann in ständiger Bewegung bleiben muß, damit einer 88
davon nicht auf dem Boden zerschellt. Irgendwann muß man unter diesen Umständen ermüden. Und dann hat man ein Scherbengericht. Ich glaube, daß das ganze Science Fiction-Problem daran krankt, daß wir dazu neigen, alles nur noch Schwarz oder Weiß zu sehen. Während die einen meinen, daß wir die Zukunft mei stern werden, sagen die anderen, wir sollten den Wissenschaften und Technologien ganz abschwören und zu einem einfacheren Leben zurückkehren. Tatsache ist aber, daß die meisten Fragen des Lebens dermaßen komplex sind, daß es keine Patentlösungen für sie gibt. Ich persönlich glaube nicht, daß das Leben in der Vergangenheit besser war. Ich glaube auch nicht, daß es in der Zukunft besser sein wird. Ich halte auch die Gegenwart nicht für schlecht. Was ich allerdings für falsch halte, ist, daß Schrift steller in dem Sinne Einfluß auf ihre Leser nehmen, indem sie ihnen einreden, daß es Patentlösungen gibt und die Vernunft mit allen Problemen fertigwerden kann. Ich glaube, mein Standpunkt ist dem des Zen sehr nahe – ich schätze, ich bin mehr oder weniger Taoist – und ruft nach mehr Sorgfalt. Wir Amerikaner denken nur ans Produzieren, und das hat mit der puritanischen Ethik zu tun, denn es gab mal Zeiten, in denen man viel zu tun hatte. Aber ich meine, die Leute soll ten heute etwas sorgfältiger vorgehen und sich keinen romanti schen oder antiromantischen Standpunkt aufschwatzen lassen. Sie sollten verstehen, daß es mehrere Wege gibt, ein Ziel zu erreichen.“ Ich frage, wie sich seine Einstellung in der Politik des neuen Galaxy bemerkbar machen wird. „Nun, ich habe gerade vier Geschichten gekauft, die sich mit dem Feminismus auseinandersetzen. Die erste ist von A. E. van Vogt und wird bestimmt einige Leute auf achtzig bringen, weil sie in gewisser Weise wenig lieb mit der Frauenbewegung um springt. Die zweite ist eine wirklich tiefgründige Geschichte 89
über die Befreiung der Frau und erinnert an die Erzählungen, die man früher in Planet Stories fand; bloß ist der Hauptcharakter diesmal weiblichen Geschlechts und wirklich zäh. Dann habe ich noch eine dritte Story, von einer Hausfrau in Iowa, die auf einer Farm gearbeitet hat. Frauen, die in New York am Schreib tisch sitzen, können sich nicht sehr gut vorstellen, wieso eine Schwangerschaft sie am beruflichen Fortkommen hindern sollte, nicht wahr? Aber wenn man auf einem Feld Korn erntet, sieht das ganz anders aus. Die Geschichte handelt von einer Organi sation, die auf Kolonialplaneten arbeitenden Frauen grundsätz liche Überlebenstechniken beibringt. Sie ist vom Standpunkt einer Frau aus geschrieben, die weiß, daß es gute Gründe gibt, mit dem weiblichen Geschlecht belastet zu sein und welche Ar beiten man unter primitiven Bedingungen tun kann. Und dann habe ich noch eine vierte Geschichte, die dem Feminismus mehr oder weniger das Wort redet. Was also habe ich vor? Die Leute fragen mich: ‚Sag mal, Stine, was ist eigentlich dein ei gener Standpunkt?’ Nun, ich meine, man sollte die Leute nach denklich machen, damit sie erkennen, daß es verschiedene Standpunkte gibt und jeder seine positiven Seiten hat.“ Bis hierher habe ich kaum Fragen zu stellen brauchen. Ich bin sogar kaum dazu gekommen, ihn zu unterbrechen. Hank Stine ist auf eine geradezu wunderbare Weise mit Energiereser ven ausgestattet, er schätzt Wortgefechte und denkt gerne aus giebig nach. Die Herausgabe des Magazins Galaxy ist aber bis her eher frustrierend für ihn gewesen, weil sechs Monate ver strichen sind, ohne daß eine der von ihm zusammengestellten Ausgaben auf den Markt kam. (Aufgrund finanzieller Schwie rigkeiten gab es einige Verzögerungen.) Aber sein Enthusias mus ist noch genauso stark, und seine Ambition noch ebenso hoch wie an jenem Tag im Jahr 1978, als er den Job annahm. Wir beenden das Interview nicht deswegen, weil alles gesagt worden ist (wir hätten ruhig noch eine Stunde länger weiterma 90
chen können), sondern weil ich einfach nicht mehr Platz erübri gen kann. Es ist ziemlich schwierig, ein Zitat zu finden, das Hank Stine und seiner Tätigkeit gerecht wird, aber dieses hier drückt zumindest aus, was er über die Science Fiction denkt: „Es gibt zwei Arten von Menschen, die Science Fiction le sen. Da sind zunächst einmal jene, die es hin und wieder tun, aus reiner Neugier. Und dann gibt es noch jene Leute, die auf eine Art Alptraum, einen spirituellen Widerhall abfahren. Sie sind geradezu wild auf irgendwas, das ihr innerstes Sein erhellt. Zu der Gruppe gehöre ich. Ich habe den größten Teil meines Lebens mit der Science Fiction verbracht und es hat mir Spaß gemacht, mich ihr dann und wann zu entziehen, weil die Zentri fugalkraft einer Liebe einen immer wieder zum geliebten Objekt zurückzieht.“ New York, im April 1979
91
Bibliographische Anmerkungen Hank Stines Season of the Witch erschien 1968; der Roman be schreibt die Umwandlung eines Mannes in eine Frau als Strafe für eine begangene Vergewaltigung und einen Mord. Sein zwei ter Science Fiction-Roman ist Thrill City (1969). Außerdem hat Stine noch einige nichtutopische Kriminalromane geschrieben. Er übernahm die Herausgabe von Galaxy 1978; die erste unter seiner Regie produzierte Ausgabe erschien 1979. Das Magazin ist inzwischen an die Verleger des SF-Magazins Galileo ver kauft worden. Stine ist jetzt Herausgeber der Starblaze Books, einer SF-Reihe im Paperbackformat.
92
Norman Spinrad „Wenn er jemanden besuchen kommt, sieht er immer so aus, als wollte er einen beißen.“ Mit diesen Worten hat ein Redakteur einen typischen Besuch Norman Spinrads beschrieben. Und gewiß hat Spinrad allerhand dazu beigetragen, sich ei nen Ruf als „schwieriger Autor“ aufzubauen. Sein bekanntester Roman, Champion Jack Barron, war von radikaler Schärfe und kam genau zu dem Zeitpunkt heraus, als die sogenannte „Neue Welle“ die eher traditionellen Erzählmustern verhafteten Autoren der SF-Szene bereits zur Weißglut erhitzt hatte. Der Redakteur Donald A. Wollheim (der später den in New York ansässigen Verlag DAW Books gründete) nannte Spinrads Roman „sittenlos, zynisch, in höchstem Maße widerwärtig und durch und durch degeneriert.“ Als er in den USA bei Avon Books erschien, lehnten die zum „harten Kern“ gehörenden SF-Leser ihn ab, denn sie sahen in Champion Jack Barron einen Angriff auf die Werte ihrer Literatur. Und das war er in einem gewissen Sinne auch. Das nächste, was Spinrad sich leistete, war Fiawol, ein be 93
rüchtigter Artikel in einem Magazin, der (in Spinrads eigenen Worten) „das Science Fiction-Fandom als eine verdrehte Sub kultur definiert, die das Publizieren von Science Fiction er schwert.“ Diese heftige Kritik brachte Amateure und Professio nelle gleichermaßen auf die Palme, und das Resultat war, daß der Herausgeber eines Magazins den gesamten Leitartikel dazu verwendete, Spinrad anzugreifen und ihn und seinen Einfluß als Schriftsteller und Mensch in Grund und Boden zu verdammen. Es gab noch ein paar andere Zusammenstöße dieser Art (so nannte Spinrad auf einem SF-Kongreß in Los Angeles etwa den SF-Fan Bruce Peltz, der den gleichen Kongreß mitorganisiert hatte, einen „fetten, faschistischen Sack“). Vielen Leuten schien Spinrad daraufhin als Mitglied der SF-Welt nicht mehr tragbar zu sein, aber andererseits ermöglichten ihm seine Leser, vom Schreiben zu leben. Wenn man vom Standpunkt des Establish ments der späten sechziger Jahre ausgeht, hatte er sicher einen radikalen Standpunkt. Die meisten Radikalen dieser Dekade haben inzwischen ent weder das Handtuch geworfen oder sich angepaßt. Norman Spinrad hingegen hat sich nur rar gemacht. Nachdem 1972 sein Roman Der stählerne Traum (dt. 1981) erschien, publizierte er sieben Jahre lang keine Science Fiction mehr, aber als schließ lich 1979 ein neuer Roman mit dem Titel A World Between erschien, stellte sich heraus, daß er mindestens ebenso kontro vers war wie Champion Jack Barron. Spinrads Urlaub von der Szene ist vorüber, und alles deutet darauf hin, daß er beißlustig ist wie nie zuvor. Die Frage, die sich daraufhin stellt, lautet natürlich: Warum? Sucht er die Konfrontation um ihrer selbst willen? Ist er mit dem Status quo unzufrieden? Ist er so wie seine Romanfiguren: ein Mensch, der über Leichen geht, im Zentrum aller Intrigen zu finden ist, und alles in seinen Kräften Stehende tut, um die Welt zu manipulieren? 94
Auf jeden Fall lebt er bescheidener als seine fiktiven Charakte re. Seine Wohnung in Manhattan ist eine „Eisenbahnbaracke“, ein Schlauch mit vier kleinen, ineinander übergehenden Räumen im vierten Stock eines aufzuglosen, alten Gebäudes im West Village. Bevor es schick wurde, im Village zu leben, haben hier in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die armen Emigranten gehaust. Irgendein früherer Bewohner scheint Spinrads Räume reno viert und eine Dusche und ein Wandbett hinterlassen zu haben. Spinrad hat sie vor drei Jahren übernommen, und es gibt ein paar Anzeichen dafür, daß er seitdem hier lebt. Die Möbel sind einfach und den Grundbedürfnissen entsprechend: gelbe Plastik stühle in der Küche, ein verknuffeltes Sofakissen im Wohn zimmer; die Bücherregale stammen aus einem Sonderangebot. Ich habe den Eindruck, daß er so hier lebt, wie man in einem Hotelzimmer leben würde, und als wir anfangen zu sprechen, wird klar, daß er es tatsächlich darauf anlegt, sich nicht an einen bestimmten Ort zu ketten – auch nicht, was seine Publikationen angeht. „Ich stamme ursprünglich aus New York City. Ich bin teil weise in der Bronx aufgewachsen, auf ziemlich heißem Pflaster, aber in ruhigeren Gegenden der Stadt. Ich habe aber auch an derswo gelebt, aber ich habe keine Meinung, jetzt die ganze Liste herunterzubeten.“ Sein Lehrplan am City College war auch ziemlich bunt – oder wankelmütig. „Ich habe Kurse in Kurzgeschichtenschrei ben, Jura, japanischer Kultur und orientalischer Kunst belegt. Ich kam da raus mit irgendeinem Vorabschluß, nachdem ich eine Art Zitatensammlung zusammengestellt hatte und wurde von einigen Juraschulen angenommen. Ich bin aber nie da hin gegangen. Statt dessen fing ich sofort an, Kurzgeschichten zu schreiben, die ich etwa ein Jahr später auch verkaufte. Zwi schendurch arbeitete ich in einem Schuhgeschäft, in einem 95
Heimwerkerladen und in der Literarischen Agentur von Scott Meredith.“ Ein Kollege, mit dem Spinrad dort zusammenarbeitete, brachte es fertig, das Exposé und den Anfang seines ersten Ro mans, The Solarians, zu verkaufen. „Ich kriegte Arbeitslosen unterstützung, schrieb den Roman, kassierte das Geld, ohne dem Finanzamt davon zu erzählen, und hatte so genug, um ein wenig herumzureisen. Da ich mir Kalifornien schon immer hatte ansehen wollen, packte ich meinen ganzen Krempel zusammen, stieg in meinen Wagen und dampfte ab. Ich fand eine Wohnung in Culver City, das war wirklich am Arsch der Welt. Da lebte ich ein halbes Jahr und ging dann nach San Francisco. Schließ lich zog ich nach Los Angeles, da gefiel es mir besser.“ Er schrieb Filmkritiken. Er schrieb Die Bruderschaft des Schmerzes und Agent of Chaos. Man bot ihm einen lukrativen Vertrag zur Mitarbeit an der Fernsehserie Raumschiff Enterprise an. Und er schrieb Champion Jack Barron, das Buch, das seinem inzwischen erwachten Interesse an der Film- und TV-Szene viel verdankt. „Allerdings interessiert mich das visuelle Zeug erst in zweiter Linie. Romane kommen für mich zuerst, das ist immer schon so gewesen. Wenn man der Drehbuchschreiberei hinter herläuft, dreht man durch. Es macht einen fertig.“ Als er noch in Los Angeles wohnte, schrieb Spinrad zahlrei che Artikel über soziale und politische Fragen für das Herren magazin Knights, verfaßte regelmäßig Beiträge für die Los An geles Free Press, und ließ Champion Jack Barron den Roman The Children of Hamlin folgen, der zwar in der Free Press fort setzungsweise abgedruckt wurde, aber nie als Buch herauskam. „Es geht darin um das East Village und Drogenhändler, aber auch um die Geschäftspraktiken einer gewissen literarischen Agentur“, sagt er. Meint er damit die Agentur Scott Merediths? „Ich muß auf eine Antwort zu dieser Frage verzichten, weil ich mich damit selbst belasten könnte.“ Alle größeren New Yorker 96
Verlage haben den Roman abgelehnt. Der englische Verlag McDonald hat ihn schließlich gekauft, aber dann doch nicht gedruckt, obwohl Spinrad das Honorar dafür erhalten hat. „Ich habe keine Ahnung, wieso es nie irgendwo als Buch herausge kommen ist, aber natürlich habe ich eine Menge paranoider Theorien. Vielleicht hat man politische Gründe, oder die Leute haben einfach Angst, von dieser Literatur-Agentur verklagt zu werden, ich weiß es nicht. Ich habe schon mal daran gedacht, den Roman im Eigenverlag herauszubringen, und vielleicht tue ich das auch noch mal. Das Thema ist eine Mixtur aus Drogen handel, Gurus, Kulten und der Art, wie die Geschäftswelt funk tioniert. Die Sache spielt im Jahre 1965 und gibt auch etwas von der Geburt der Gegenkultur wieder. Am Ende schmeißt der Held alles hin und fängt an, für einen Porno-Verleger in Kali fornien zu arbeiten.“ Spinrads nächster Roman war Der stählerne Traum (eine Heroic Fantasy, die den Eindruck erwecken soll, Adolf Hitler habe sie verfaßt). Und dann kam Passing Through the Flame, ein Hollywood-Roman, dem ein unglückliches Schicksal be schieden war. Die Kritiken kamen nur tröpfchenweise, was zu einem scharfen Disput zwischen Spinrad und seinem Verlag Putnam/Berkley führte, der – wie Spinrad meinte – alles tat, um das Buch nicht zu verkaufen. Der Streit nahm dermaßen Di mensionen an, daß Spinrad heute der Meinung ist, daß Berkley nie wieder ein Buch von ihm herausbringen wird – ob er nun will oder nicht. A World Between, Spinrads Rückkehrsignal zur Science Fic tion, spielt in einer fremden Welt, die von Erdenmenschen be siedelt und in eine Art kalifornisches, medienbewußtes Utopia verwandelt worden ist. Es gibt eine idealisierte Jeffersonsche Demokratie und eine beinahe totale Gleichheit der Geschlech ter. Dieser idyllische Status quo wird jedoch bedroht, zuerst von einer Abordnung „transzendentaler Wissenschaftler“, dann von 97
einer Gruppe sogenannter „Femokraten“. Beides sind extremi stische Organisationen, die die Absicht verfolgen, ihre Ideolo gie auf allen kolonisierten Welten der Galaxis zu verbreiten. Die Wissenschaftler verkörpern dabei das, was Spinrad als männliche Charakterzüge definiert: Sie haben abstrakte Vorstel lungen von Macht, Strebsamkeit, Entdeckungshunger und fol gen einem Ziel. Ihre Bewegung ist autokratisch, mitleidslos und unterschwellig von dem Gedanken besessen, daß Männern eine Herrscherrolle zukommt. Die auf der Gegenseite stehenden Femokraten sind ultra-radikale Feministinnen, die im Geheimen auf eine Revolution hinarbeiten. So entbrennt ein Drei-Richtungs-Kampf zwischen den Her renmenschen, den Ultrafeministinnen und der gemäßigten Re gierung dieses modernen utopischen Staates, dessen demokrati sche Freizügigkeit auch den extremsten Kräften die freie Mei nungsäußerung gestattet. Die Schlacht, die sich die unterschied lichen Ideologien liefern, wird größtenteils in den politischen Werbespots des Fernsehens ausgetragen. Dennoch würde A World Between eine Alice Schwarzer mehr ärgern als einen Archie Bunker*. Spinrads Femokraten verkörpern nämlich anschaulich die ungeheure Angst eines Mannes vor dem Feminismus: Sie sind lesbisch, unattraktiv und dogmatisch, und als ihre Anführerin eine gewisse Zeit mit ei nem arroganten, männlichen Polizisten zusammen ist, erweckt der Anblick seines „Spießes“ (das Buch ist nicht nur voll von erfundenen Ausdrücken für Geschlechtsteile, sondern bedient sich auch zahlreicher Umschreibungen aus den fünfziger Jahren) in ihr eine tiefsitzende, heterosexuelle Lüsternheit, weil sie es nämlich … lutschen will. Im Gegensatz dazu tauchen die vom Männlichkeitswahn be *
Archie Bunker ist eine tatkräftige Heldengestalt aus den frühen SF-PulpMagazinen.
98
sessenen transzendentalen Wissenschaftler in Spinrads Roman als relativ sympathische Figuren auf. Sie sind zwar hin und wieder ein wenig skrupellos bei der Verfolgung ihrer idealisti schen Ziele, aber andererseits auch mal von Zweifeln besessen und unterdrücken die Frauen nicht mehr als ein – sagen wir – modernes amerikanisches Unternehmen. Ich frage Spinrad, ob er mir zustimmt, wenn ich behaupte, daß er dem Feminismus gegenüber Vorurteile hat. „Nur inso fern, als er sich als ‚ismus’ versteht. Ich mißtraue allen Ideolo gien und jedem ‚ismus’. Wenn eine Bewegung anfängt, den Leuten Scheuklappen aufzusetzen, wird sie nur zu einer ande ren Form des Faschismus. Jede Philosophie, die einem vor schreiben will, wie die Welt zu sein hat … ist auf dem Weg des Faschismus, und das paßt mir nicht, auch wenn sie sich Femi nismus nennt. Männer und Frauen haben ihre eigenen Techniken, um vo ranzukommen. Wenn die Feministinnen versuchen, diese Dia lektik beiseitezuwischen, muß ich Einspruch erheben. Es gibt psychologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen; wenn man den Versuch unternimmt, eine gleichgeschlechtliche ‚Person’ hervorzubringen, wird das schon aus rein psychologi schen Gründen nicht funktionieren, von den biochemischen ganz abgesehen. Wir unterscheiden uns voneinander – und das ist nichts Schlechtes. Wir leben in einer Zeit, in der all die alten Werte nicht mehr gelten, und bisher ist noch nichts dagewesen, das sie wirkungs voll ersetzen kann. Und damit hat sich der Feminismus abzu finden: Er versucht etwas auf die Beine zu stellen, das funktio niert; aber tatsächlich hat man den Anschein, als würde es nicht sonderlich gut hinhauen. Ich glaube, daß die meisten Frauen, die in dieser Bewegung tätig sind, sich gar nicht so glücklich fühlen, wie sie vorgeben.“ Verbreitet sein Buch irgendeine allgemeine Botschaft? 99
„Es handelt teilweise von dem Paradox, dem sich alle demo kratischen Systeme gegenübersehen, wenn totalitäre Kräfte ver suchen, sie aus dem Sattel zu heben: Wie verteidigt man seine Freiheiten, wenn man gegen einen Gegner kämpft, der sich nicht an die Spielregeln hält? Wie vernichtet man die Feinde der Demokratie, ohne das aufzugeben, wofür man kämpft?“ Ich führe an, daß das Buch gewisse Dinge zur Sprache bringt, die man auch in anderen Romanen Spinrads finden kann. Er scheint geradezu vom Kampf um die Macht, von Kul ten, Geschäftigkeit, Intrigenspinnerei und dem Faschismus be sessen zu sein. „Nun, ich bin der Meinung, daß es nur vier Themen gibt, über die es sich zu schreiben lohnt“, erwidert er. „Sex, Liebe, Macht und Geld. Man kann noch die Transzendenz dazuneh men – höheres Bewußtsein, die Psychologie. Aber das ist alles.“ Seine männlichen Charaktere erwecken den Eindruck, aus schließlich von diesen Grundsätzen motiviert zu sein. Ihre Ziele sind fest umrissen, um sie zu erreichen, gehen sie über Leichen. Und trotzdem vereinigt sie auch noch etwas anderes – eine bei nahe schüchterne, entschuldigende Sanftheit, als sei Spinrad, obwohl ihn die Idee des gnadenlosen Machtmenschen, der die unausweichlich mondänen Frauen reihenweise umlegt, nicht glücklich dabei, diesen Menschentypus in seiner reinsten Form zu präsentieren. Ist dies eine Reflektion seiner eigenen Persönlichkeit? Sind seine Helden ihm irgendwie nachskizziert? „Nur insofern, als ich mich mit allen meinen Charakteren identifiziere, da ich aus verschiedenen Blickwinkeln schreibe. Ich halte keine meiner Romanfiguren für mich persönlich, aber andererseits ist auch keiner von ihnen jemand anders. Was die Hauptcharaktere be trifft, so sind sie nie Leuten nachgezeichnet, die ich kenne. Sie sind nur theoretisch da. Ja, ich bin von mächtigen und charis matischen Figuren und der Frage, wie sie mit Liebe und Sex 100
fertigwerden, besessen gewesen. Aber nur deswegen, weil ich – wie ich schon sagte – nicht weiß, über was man außer diesem Sex-Liebe-Macht-Geld-Transzendenz-Rahmen hinaus schrei ben sollte.“ Ich habe den Eindruck, als sei er nicht glücklich über meine Frage, weil sie eine Selbstanalyse jener Art erfordert, die man nur zögernd an sich vornimmt – jedenfalls in einem Interview. Also frage ich ihn über seine Haßliebe-Beziehung zum Science Fiction-Fandom aus. Dieses Thema bringt ihn sofort wieder auf sicheres Territorium. Er wendet sich einer Sache zu, die ihm offensichtlich eher liegt. „Ich bin der Meinung, daß Fans an sich nichts Schlechtes sind, solange sie ihren Platz einnehmen – also Fans sind, Kon gresse besuchen, das Zeug lesen und ihre Amateurzeitschriften publizieren. Was ich aber nicht ausstehen kann, ist, wenn dar aus mehr wird, wenn Science Fiction-Fans die Verlagsindustrie beeinflussen. Es gibt viele Herausgeber und Autoren, die als Fans angefangen haben und sich im Geheimen immer noch für Fans halten. Autoren, die nicht als Fans angefangen haben, werden, sobald sie das Fandom entdecken, von diesem Mikro universum sofort vereinnahmt, und alles, was sie später heraus bringen, wird dann nach fannischen Kriterien beurteilt. Fans halten die Science Fiction für ihre ureigenste Domäne, aber das ist sie nun einmal nicht, sondern eine Literaturgattung. Ich glaube nicht, daß die Science Fiction-Fans als Gruppe kompe tent genug sind, um die Evolution einer Literaturgattung zu kontrollieren. Das ist ein lächerliches Ansinnen. Ebenso gut könnten sich alle Rock-Groupies vereinigen und darüber ent scheiden, wie die Zukunft der Rockmusik auszusehen hat.“ Diese Einsicht war auch maßgebend für Spinrads Kandidatur um die Präsidentschaft der Science Fiction Writers of America (deren zweiter Vorsitzender er für zwei Jahre war). „Die Orga nisation war fast am Boden zerstört. Sie wurde geführt wie ein 101
Amateurverein und stand außerdem unter starkem fannischen Einfluß. Ich stand vor der Frage, aus dem Verein auszutreten, wie andere das getan haben, oder etwas dagegen zu unterneh men. Inzwischen haben wir, glaube ich, allen Ärgernissen und jeglicher Kleinkariertheit in bezug auf die Aufnahmeformalitä ten und Nebula-Verleihung zum Trotz, eine ganze Menge ver ändert. Die SFWA hat nicht nur eine Viertelmillion Dollar aus dem Verlag Ace Books herausgeholt, sondern auch Tolkien endlich das Geld verschafft, das ihm zustand … Dort, wo die SFWA als Quasi-Gewerkschaft aufgetreten ist, hat sie reibungs los funktioniert. Aber solange sie sich wie die Dichtervereini gung Kahler Asten e. V. benahm, wurde sie auch dementspre chend behandelt.“ Momentan ist Spinrad wieder mit einer Funktion innerhalb der SFWA betraut worden: diesmal als PR-Mann für die Ostkü ste. Aber seine Hauptbeschäftigung besteht dieser Tage aus an derer Arbeit: Er hat einen neuen Science Fiction-Roman für den Verlag Pocket Books angefangen. „Er heißt Lieder von den Sternen und ist gewissermaßen ein Nach-Katastrophen-Roman, der in einer Welt spielt, in der man die Wissenschaften in die Kategorien Schwarz und Weiß aufgeteilt hat. Außerdem kom men darin noch Überreste der O’Neill-Raumkolonisten vor … und anstelle des üblichen Sword-&-Sorcery-Hintergrunds ha ben wir hier eine Welt, die von den Übeln bestimmter Wissen schaften zerstört worden ist, und wo diese Wissenschaften, be sonders die Physik und Atomphysik, von Leuten gehandhabt wird, die man als Zauberer ansieht. Es ist zum Beispiel ein Tabu, künstliche Moleküle zu erschaffen und andere Energien als die zu verwenden, die von der Sonne, dem Wind, dem Wasser oder menschlicher Muskelkraft erzeugt werden.“ Über diesen Roman hinaus hat er noch Ideen für einige andere Bücher: „lch will ein Buch über Cortez’ Mexiko-Eroberung schreiben, von einem modernen Standpunkt aus und nicht ganz 102
realistisch. Irgend etwas in der Tradition von Gravity’s Rainbow, aber ein bißchen lustiger. Ein anderes Vorhaben, das ich vage im Hinterkopf habe, ist ein Roman in der Art von Tausendund eine Nacht.“ Hinter diesen Plänen verspüre ich so etwas wie eine erneuerte Ambition. Spinrad produziert momentan mehr Lesestoff als in der Mitte der siebziger Jahre, er verkauft seine Werke für viel größere Honorarvorschüsse und plant seine schriftstellerische Karriere. Er arbeitet jetzt viel enger mit seinen Verlegern zu sammen, interessiert sich für den Absatz seiner Bücher und die Frage, welche Kritiken sie erhalten. Ihn interessiert auch, wel chen Eindruck er auf seine Leser macht und – tatsächlich – wie groß sein Name auf den Buchumschlägen steht. A World Between erweckt den Eindruck, als sei es geschrieben worden, um TalkMaster zu motivieren, den Autor in ihre Shows einzuladen (Spinrad gibt zu, daß es ihn stark interessieren würde, einmal mit jemandem wie Joanna Russ öffentlich zu diskutieren). Des weiteren versucht er auch Einfluß auf die Werbung, die für seine Bücher gemacht wird, zu nehmen. Damit wagt er sich in eine Domäne vor, die andere Autoren meist links liegen lassen, weil sie weder die Zeit noch die Nerven dazu haben. In diesem Sinne ist es vielleicht nicht unfair, Norman Spin rad als einen Menschen anzusehen, der sich der Massenmedien gerne manipulativ bedienen würde. Aber wütend und sauer rea giert er, wenn er das Gefühl hat, daß die Medien ihn manipulie ren, wie es scheinbar im Fall Putnam/Berkley und deren Be handlung seines Romans Passing Through the Flame der Fall gewesen ist. Dies führt zu der Frage, wer hier eigentlich wen manipuliert. Wenn Spinrad meint, er sei derjenige, den man herumschubst – ob von einem schlampigen Werbemann, einem glücklosen Lektor oder einem Kongreßveranstalter, der ihn grundlos früh am Morgen aus den Federn scheucht –, so weiß er jedenfalls, wie man zurückschlägt. 103
Die Machtphantasien, in denen seine Romane schwelgen, sind allerdings nicht so nahtlos auf sein eigenes Leben zu über tragen. Als ich ihn nach seinen privaten Ambitionen frage, sagt er: ‚,lch würde gerne Filme machen, über die ich ganz allein die Kontrolle ausübe – entweder als Produzent und Regisseur oder als Autor und Regisseur. Wenn man sichergehen will, daß alles so wird, wie man es haben will, ist es unerläßlich, mindestens zwei derartiger Positionen zu besetzen.“ Für mich hört sich das eher nach dem Wunsch an, ungestört arbeiten zu können und die Freiheit zu besitzen, von nieman dem Knüppel zwischen die Beine geworfen zu bekommen. Eine Machtphantasie ist Spinrads Wunsch sicher nicht. Und: „Ich würde gerne neben meiner hiesigen Wohnung ein Haus in Los Angeles haben und soviel mit dem Flugzeug un terwegs sein, wie nur möglich. Ich mag die Ungebundenheit. Ich mag Mobilität. Einer der Gründe, warum ich gerne Schrift steller bin, ist der, daß mir niemand vorschreiben kann, wo ich dann und dann zu sein habe.“ Auch hier: Er will die Freiheit haben, ungestört seiner Arbeit nachzugehen. Kann er sich vorstellen, irgendwann einmal seßhaft zu wer den? Verspürt er das Bedürfnis, sich (vielleicht mit einer zu künftigen Ehefrau) zurückzuziehen und abzukapseln, wie ein Steinzeitmensch in seiner Höhle? „In einer Höhle nicht“, sagt er, „aber vielleicht in einer Burg.“ New York, im April 1978
104
Bibliographische Anmerkungen Was Norman Spinrads Romane angeht, so kann man sagen, daß sein Buch Agent of Chaos während der siebziger Jahre die jun gen Radikalanarchisten Amerikas durchaus beeinflußt hat. Champion Jack Barron ist wegen seines rasanten Stils und der Entwicklung einer SF-Idee (das Einfrieren von Menschen, die an Krankheiten leiden, gegen die es noch keine Mittel gibt) in einem realistisch geschilderten Medienumfeld von Bedeutung. Die in diesem Buch benutzte offene Sprache brachte zwar 1969 noch einige SF-Leser gegen Spinrad auf, aber heute gehört sie sicherlich zu den Bestandteilen der Gegenwartsliteratur. Der stählerne Traum (1972; dt. 1981) ist der Versuch, einen Roman zu schreiben, den Adolf Hitler verfaßt haben könnte – deswe gen hat er auch starke stilistische Schwächen. Erst 1979, mit A World Between, fing Spinrad wieder an Science Fiction zu schreiben. The Mind Game, ein Roman über Kulte, erschien im gleichen Jahr. Seine Kurzgeschichten findet man gesammelt in den Bänden The Last Hurrah of the Golden Horde (1970), No Direction Home (1975) und Star-Spangled Future (1979).
105
Frederik Pohl In der bekannten und exzentrischen, sich mit der Science Fiction auseinandersetzenden Studie New Maps of Hell, die zu Anfang der sechziger Jahre auf den Markt kam, bezeichnete der briti sche Romancier Kingsley Amis Frederik Pohl als den besten amerikanischen SF-Autor. Diese Aussage überraschte nicht wenige, aber nicht deshalb, weil Pohl einen eher zwiespältigen Ruf hatte, sondern weil er weit weniger bekannt war als Asimov, Bradbury, Clarke, Hein lein oder gar Bester. Pohls Stimme ist nie so durchdringend gewesen wie die seiner Kollegen; tatsächlich hat er während der fünfziger Jahre den größten Teil seiner Romane zusammen mit C. M. Kornbluth geschrieben. Obwohl seine Prosa stets effi zient gewesen war, hatte er nichts publiziert, an das man sich sofort erinnern konnte. Was ihn aber wichtig machte, waren die Themen, die er bearbeitete, und was er aus ihnen herausholte. Zusammen mit Kornbluth gehört er zu den Pionieren einer völlig neuen Art von Science Fiction. Sie erfanden und spielten 106
mit „soziologischer“ SF – schilderten alternative Zukünfte der Erde, übertrieben und parodierten soziale Trends der Gegenwart und taten genau das Gegenteil von dem, was ihre Kollegen zu Papier brachten. Das anspruchsvolle Material, das sie sich vor nahmen, hatte es in sich, war aber nicht leicht zu schreiben. So gar heute gibt es nur wenige Autoren, die mit einer solchen Fi nesse arbeiten können, und nicht einmal Hollywood hat es ge schafft, derartige Dinge zu meistern (Filme wie Jahr 2022 … die überleben wollen … und THX 1123 sind hoffnungslos unzu reichende und simple Versuche in dieser Hinsicht). Das Problem besteht darin, daß gute soziologische Science Fiction tiefgründige Einblicke erfordert – und zwar in alle Be reiche von der Politik bis zum organisierten Verbrechen, von der Ökonomie bis zur Werbeindustrie, von den Massenmedien bis zum Big Business. Es gibt Kräfte, die das Leben im zwan zigsten Jahrhundert in eine Schablone gepreßt haben, stur die sen Weg weitergehen wollen und dabei von Motiven angetrie ben werden, die Habgier, Ehrgeiz, Macht und Angst heißen. Pohl und Kornbluth durchschauten dies besser als jeder andere, deswegen sind ihre Zukunftsszenarien die besten ihrer Art ge blieben; sie treffen genau ins Schwarze und machen einen nach denklich. Kornbluth starb tragischerweise 1958, in noch jungen Jahren, aber Pohl hat intensiv weitergearbeitet: als Autor und Redak teur, aber auch als Aktivist, der versucht hat, einige seiner so ziopolitischen Einsichten der realen Welt bekanntzugeben. Er ist Autor eines Führers durch die Politik, hat selbst einmal für ein öffentliches Amt kandidiert, Vorträge vor Geschäftsleuten gehalten und sogar für das State Department gearbeitet, das ihn auf eine Lesereise durch die Ostblockländer schickte. In der Welt der Science Fiction ist er als Herausgeber verschiedener Magazine bekanntgeworden – darunter waren auch Galaxy und If. Als Redakteur des Verlags Bantam Books hat er so kontroverse 107
Bücher wie Delanys Dhalgren und Russ’ Planet der Frauen herausgebracht. Erst kürzlich ist er wieder mit einigen neuen und wichtigen Romanen – Gateway und Jem – hervorgetreten; Stoffen, die ihm mindestens ebensoviel Aufmerksamkeit einge bracht haben wie die Werke, die vor zwanzig Jahren die Auf merksamkeit Kingsley Amis’ auf sich zogen. Der 1919 gebore ne Pohl, dessen erster professioneller Text 1937 erschien, und der schon 1939 als Magazin-Herausgeber arbeitete, ist heute vielleicht nicht unbedingt der „beste“, aber unzweifelhaft der realistischste, ideenreichste und überraschendste Autor seiner Generation. Sein Heim liegt in Red Bank, New Jersey, einer jener zahl reichen kleinen Städte, die sich unterhalb von Manhattan über hundert Kilometer an der Ostküste entlangziehen. Dort, wo sich die Eisenbahnschienen befinden, gibt es eine aus vorwiegend alten Häusern bestehende Innenstadt. Etwas weiter davon ent fernt findet man das übliche Gewirr von Tankstellen, Einkaufs zentren, Drive-ins und modernen Fabriken, die zusammen mit der Bevölkerung immer zahlreicher geworden sind. Irgendwann einmal mag Red Bank ein idyllischer Ort gewesen sein, an den man sich zurückziehen konnte; heute besteht die Ortschaft aus einem langgezogenen Vorstadtstreifen. Pohls Residenz befindet sich in einem geschmackvollen, holzverkleideten Gebäude mit drei Stockwerken. In der Nähe zieht sich ein zweispuriger Highway dahin, und wenn man aus dem Fenster schaut, kann man den Navesink River überblicken. Der Verkehr, der sich über den Highway und die Flußbrücke dahinbewegt, ist langsam. Kleine Boote gleiten an einem vor über, und hin und wieder kann man hören, daß auf der anderen Seite des Flusses die Eisenbahn fährt. Das gemütliche alte Haus filtert den Lärm dermaßen, daß man glaubt, sich auf einer Insel zu befinden, die zwar von kommerzieller Geschäftigkeit um rundet ist, deren Auswirkungen einem aber verborgen bleiben. 108
Mehrere Familienangehörige bevölkern die beiden unteren Stockwerke, aber Pohl hat die ganze obere Etage für sich. Es sind vier Zimmer, deren Fußböden und Wände man wohl am ehesten als flüchtig dekoriert bezeichnen kann: Die Dielenbret ter sind gestrichen, die Wandfarben verblaßt, und da und dort sieht man einen staubigen Teppich. Irgendwann in der Vergan genheit hat man in jedem dieser Räume Bücherregale ange bracht, aber das scheint schon eine Weile her zu sein, denn die Organisation ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Nicht alle Bücher stehen in den Regalen; vielmehr stehen und liegen sie überall, wo Platz für sie ist, weswegen die gesamte Umge bung mich an das Absteigequartier eines Junggesellen in den besten Jahren erinnert. Verschiedene Kleidungsstücke, alte Briefumschläge, Schachteln, leere Kaffeetassen, Tonbandkas setten, Souvenirs, Aschenbecher und so weiter, sind auf dem Boden, den Stühlen und den Tischen verteilt. Dort, wo die Ma gazine stehen, die Pohl einst herausgegeben hat, scheint mit dem Dach etwas nicht in Ordnung gewesen zu sein. Seine Lite raturpreise – Hugos, Nebulas und andere – sind staubbedeckt. Aber das stört ihn alles nicht; er ist eh nur selten zu Hause – denn er reist eine Menge herum. Ich persönlich finde die Umgebung auf der Stelle gemütlich. Hier kann man sich entspannen und vor sich hin schuften, ohne sich verstellen zu müssen. Es ist eine völlig eigene Welt (die meisten Fenster sind zugezogen), und ganz offensichtlich das Refugium eines Menschen, der seine Phantasie für farbiger hält als beispielsweise den Ausblick über den Fluß. In dem wohnzimmerähnlichen Raum, in dem wir sitzen und miteinander reden, entdecke ich auf dem Rand einer überlade nen Tischplatte einen Stapel buntleuchtender Bilder. Es sind Fotos von Jupiter und seinen Monden – die NASA hat sie für die Presse herausgegeben. Pohl selbst hat sich in Cap Canaveral aufgehalten, als die Voyager-Sonde, die die Fotos aufgenom 109
men hat, die Daten zur Bodenstation funkte. Er und die anderen Science-Fiction-Autoren haben fünfundvierzig Jahre warten müssen, um Bilder dieser Art zu sehen. Während all dieser Jah re hatten sie nichts anders als ihren privaten Glauben an einen unrealistischen Traum, der ihnen den Rücken stärkte – und das angesichts einer uninteressierten oder ablehnenden Öffentlich keit, die noch nicht einmal in den sechziger Jahren an die Welt raumfahrt glaubte. Als ich mir die Nahaufnahmen der Jupiteroberfläche, die eine wahrhaft fremdartige Welt unendlicher Rätsel zeigen, ansehe, verspüre ich wieder jenen legendären „Sense of Wonder“, der mich überhaupt erst zum Lesen von Science Fiction gebracht hat. Und ich fühle mich frustriert, weil ich niemals die Mög lichkeit haben werde, mir all dies mit eigenen Augen anzuse hen. Pohl sagt, daß er die gleichen Gefühle hat, „aber ich habe mich inzwischen damit abgefunden“. Wenn man nach dem Klang seiner Stimme urteilt, stimmt das ganz und gar nicht. Er ist, denke ich, ein Mensch, der keine Kompromisse eingeht. Er bietet mir einen löslichen Kaffee an, den er mit heißem Wasser aufbrüht, das direkt aus dem Hahn kommt („Eine ab scheuliche Angewohnheit, für die ich mich entschuldigen muß“), wir befreien ein ehemals schickes, jetzt aber nur noch staubiges Sofa aus den fünfziger Jahren von einigen Papieren und machen es uns bequem. Pohl redet mit ruhiger Stimme, raucht eine Zigarette nach der anderen und kommt mir beinahe schüchtern vor, was mich – wenn man bedenkt, wie oft er vor Publikum spricht und Interviews gibt – ziemlich überrascht. Er gibt zu, daß ihm der Klang seiner Stimme gefällt und es ihm (im Gegensatz zu vielen Kollegen) Spaß macht, für seine Bü cher die Werbetrommel zu rühren. „Im vergangenen Herbst habe ich eine zweimonatige Tour für The Way The Future Was (seine Autobiographie) gemacht. Dabei war ich in sechzehn oder achtzehn Städten. Sowas gefällt mir.“ 110
Er ist auch oft in beratender Funktion öffentlich aufgetreten. „In letzter Zeit habe ich an sehr vielen Symposien, Podiumsdis kussionen und Managementsitzungen teilgenommen. Ich habe den Eindruck, als wollten sich die Unternehmen und Manager vereinigungen, die mich zu solchen Veranstaltungen einladen, von mir ein wenig aufrütteln lassen. Vielleicht suchen sie nach neuen Perspektiven, obwohl ich manchmal glaube, daß sie das, was ich ihnen erzähle, nicht ganz ernst nehmen. Ich erinnere mich, vor einer Versammlung in Chicago gesprochen zu haben, wo ich sagte, daß wir mehr individuelle Selbstkontrolle lernen müßten, wenn wir eine ausgeglichene Beziehung zwischen der Gesellschaft und der planetarischen Ökologie erreichen wollten. Man stand auf und applaudierte mir. Der nächste Redner sagte genau das Gegenteil, aber auch er bekam einen stehenden Ap plaus. Obwohl ich als Schriftsteller nicht immer mit dem Gedanken herumlaufe, die Leute an meiner Weisheit teilhaben zu lassen, hat man doch schon mal während der Arbeit die Neigung, den Lesern das, was man fühlt, mitteilen zu wollen. Ich bin tatsäch lich eine Art Prediger. Ich rede gerne öffentlich und versuche, den Leuten eine andere Perspektive zu zeigen, wenn ich der Meinung bin, daß sie falschen Ansichten nachhängen. Eine Art, dies zu tun, ist das Schreiben; ich habe aber auch schon eine richtige Predigt gehalten. Von der Kanzel der Unitarierkirche herab, acht- oder zehnmal. Und mindestens doppelt so oft in anderen Kirchen. Eine Zeitlang war ich sogar in unserem örtli chen Kirchenvorstand. Wäre ich nicht Schriftsteller, ich glaube, aus mir wäre ein Prediger geworden.“ Seine aktuellste Predigt, die vor diesem Interview im Druck erschienen ist, war eine warnende Botschaft, die das Magazin Omni in Form eines Artikels publizierte: Darin heißt es, daß das zivilisierte Leben auf der Erde sich wachstumsmäßig ein schränken muß, um nicht zuviel Hitze zu produzieren, da die 111
Hitze, wenn sie einen bestimmten Punkt überschreitet, Klima veränderungen hervorruft, die Polkappen zum Schmelzen bringt und die Küstengebiete überfluten wird. Von allen Grenzen des technologischen Wachstums ist dies diejenige, die am ehesten und unausweichlichsten auf uns zukommt. Allerdings: „Ein Artikel wie der in Omni wird nicht viele Leute erreichen, die nicht schon die gleichen Ansichten vertre ten wie ich. Viele Leute werden sagen, daß ich ihnen nur Schreckensvisionen vorsetze, die sie nicht hören wollen, weil sich schon irgend jemand was ausdenken wird, was uns an der Katastrophe vorbeiführt. Die Leute, die so denken, sind natür lich auf dem falschen Dampfer, aber ich habe keine Ahnung, wie ich sie erreichen soll. Ganz allgemein scheut die Menschheit vor radikalen Maß nahmen so lange zurück, bis sie dazu gezwungen wird. Nach dem man sich dazu durchgerungen hat, stellt man fest, daß man viel besser dran ist. Die Menschen kümmern sich erst um be stimmte Dinge, wenn sie der Hunger, die unbequemen Lebens umstände oder irgendwelche politischen oder sozialen Kräfte dazu zwingen, und wenn sie es dann hinter sich gebracht haben, sind sie damit zufrieden. Das ist sogar in meinem persönlichen Leben so gewesen. Die meisten Veränderungen, gegen die ich mich gesträubt habe, haben sich im nachhinein als positiv er wiesen … Ich glaube also, daß es erst dann zu einschneidenden Veränderungen unseres Lebensstils kommen wird, wenn den Leuten das Wasser bis zum Halse steht. Aber dann wird die Sache gar nicht mehr spaßig sein. Wenn alles hinter uns liegt und wir das nächste Stadium erreicht haben, habe ich auch wie der Hoffnung.“ Pohl ist der Ansicht, daß es mehr Sinn hat, in indirekter Form zu predigen – und dafür kann die Science Fiction ein Werkzeug sein. „In der Science Fiction kann man viele Dinge ausspre chen, die unangenehm sind und über die die Leute lieber nicht 112
nachdenken. Aber wenn man es ihnen in Form einer Erzählung vorsetzt, kann man ihre Abwehrschilde eher durchdringen. Die Science Fiction kann einem allerlei Einblicke vermitteln: in die Technologien, die natürlichen Bodenschätze, das tolle Gefühl, sich im Weltraum zu befinden. All das sind wichtige Dinge. Aber die Science Fiction ist nicht nur dafür gut. Sie ist die ein zige Literaturgattung, die es einem gestattet, sich in der Welt, in der wir leben, umzusehen und sie gleichzeitig zu verändern. Was ich meine, ist, die Welt auseinanderzunehmen, einige Elemente aus ihr herauszunehmen, sie wegzuwerfen und durch andere zu ersetzen. Und dann sieht man sich an, wie sie jetzt funktioniert. Ich glaube, das ist sehr hoch einzuschätzen.“ Man kann davon ausgehen, daß seine Schreibtechnik in ihrer reinsten Form in allem aufscheint, das Pohl je verfaßt hat. Ich frage ihn, ob es bestimmte Themen oder Dinge gibt, auf die auch er immer wieder zurückkommt. „Ich glaube, da gibt es einige Doktrinen oder Dogmen. Eine davon ist, daß die größten Probleme, mit denen die Menschheit zu tun hat, aus ihren Erfindungen bestehen. Wir haben keine natürlichen Feinde mehr; es treiben sich keine Wölfe in den Straßen von London herum und verschleppen Säuglinge. Was den Leuten in London oder anderen Großstädten zu schaffen macht, sind Taxifahrer und Ganoven und so weiter. Deswegen bin ich der Meinung, daß die uns am meisten bedrängenden Plagen nach sozialen Lösungen verlangen. Ich bin nicht mehr – wie früher – der Ansicht, daß man diese Probleme auf politi schem Wege lösen kann. Es ist notwendig, daß man sie gesell schaftlich löst, und das spiegelt sich auch in dem wider, was ich schreibe. Als Jugendlicher war ich Marxist, dann etwa zwanzig Jahre lang Demokrat. Ich war Mitglied der Demokratischen Partei und auch im Ortsvorstand. Ich habe zweimal kandidiert und bei der Wahl anderer Leute mitgeholfen. Seit ungefähr zehn Jahren 113
bin ich ein politischer Agnostiker. Ich habe keine Illusionen mehr.“ Ich frage ihn, wie er bei all diesen Aktivitäten überhaupt noch zum Schreiben kommt. „Ich schreibe auf Reisen. Vier Seiten am Tag, egal wo ich gerade bin. Vor zwei Jahren habe ich die vergessene Kunst des Schreibens mit der Hand wiederentdeckt; ich hatte ständig Ärger mit den Stewardessen, wenn ich im Flugzeug meine Schreib maschine betätigte. Seitdem schreibe ich relativ ungebunden. Als ich mit dem Schreiben anfing, brachte ich mir bei, von Anfang an alles ins Reine zu bringen. Peinlich war nur, daß ei niges von dem, was ich damals unterbrachte, so gut gar nicht war. Da ich keine Willenskraft habe und mir nicht über den Weg traue, über längere Zeit hinweg ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, bloß weil ich weiß, daß es ein richtiges ist, mußte ich mich mit einem Trick dazu zwingen, einmal geschriebene Ma nuskripte zu überarbeiten: Ich schrieb also die erste Version eines Textes auf die Rückseiten irgendwelcher Briefe, Briefum schläge oder Rundschreiben; auf Papierfetzen also, die ich un möglich irgendwo hätte abliefern können. So mußte ich die ganze Sache allerwenigstens einmal überarbeiten. Heutzutage gehe ich so vor, daß ich erst eine grobe Fassung schreibe und die ganze Sache dann noch einmal abtippe. Ich überarbeite aber oft ganze Abschnitte hin und wieder mehrere Male, und wenn ich fertig bin, gehe ich noch einmal sorgfältig mit dem Bleistift ran. Ich verbringe mehr Zeit mit dem Revidieren als mit dem tatsächlichen Schreiben. Warum, weiß ich auch nicht. Ich fühle mich ziemlich mies, wenn ich nicht schreibe. Ich schreibe immer, vorausgesetzt, ich fühle mich nicht so mies und kaputt, daß ich gar nicht erst aus dem Bett komme. Aber das ist nicht oft der Fall. Ich schreibe gern: Es ist teilweise eine Flucht und teilweise Therapie. Es ist eine gute Möglichkeit, Spannun gen abzubauen, Aggressionen zu sublimieren und Abscheulich keiten zu vermeiden.“ 114
Ich bin neugierig, ob diese rein innerlichen Bedürfnisse dafür verantwortlich waren, daß Pohl überhaupt mit dem Schreiben an gefangen hat und frage ihn, welche Ziele er dabei im Auge hatte. „Wie die meisten jugendlichen und inkompetenten Schreiber, hatte ich in erster Linie das Motiv, eine meiner Geschichten gedruckt sehen zu wollen. Damit konnte man Ruhm erringen und sich in dem Gefühl sonnen, ein Schriftsteller zu sein. Ich habe eine lange Zeit unter diesem Bedürfnis gelitten, aber wenn man eine Weile in dem Geschäft tätig ist, fängt man an, andere Sehnsüchte und Ambitionen zu entwickeln. Ich weiß nicht ge nau, ob ich das, was ich sagen will, auch artikulieren kann, weil mir etwas auf der Zunge liegt, das vor mir noch niemand gesagt hat. Ich weiß nicht, wie oft ich erfolgreich bin; ich gebe mir jedenfalls die größte Mühe. Ich habe oft versagt: Ich habe ganze Schränke voller Kurzgeschichten und Bücher, die nichts taugen und niemals herauskommen werden.“ Er deu tet auf ein paar mit Schubladen ausgestattete Aktenschränke. „Sieben- oder achtmal“, fährt er fort, „habe ich mich vertraglich verpflichtet, ein Buch zu schreiben, habe einen Vorschuß kas siert und mußte ihn später zurückgeben, weil es nicht klappte.“ Ich frage ihn, welche Ziele er heutzutage verfolgt. Hat er überhaupt noch welche? „Ich habe eine ganze Menge unerfüllter Ziele. Ich würde gerne Präsident der Vereinigten Staaten werden. Aber das ist nicht unbedingt ein Ziel; eher ein weiser Ratschlag an die Wäh ler, auf den sie wohl kaum vorbereitet sind. Ich habe nicht un bedingt dringende Ziele, außer vielleicht denen, ein paar be stimmte Sachen zu tun, bestimmte Bücher zu schreiben, wenn ich noch lange genug lebe, um sie fertigzukriegen. Eigentlich habe ich keine Ziele, die unerreichbar wären oder der Gnade Gottes bedürfen. Alles, was ich will, besteht darin, ein paar Pro jekte abzuschließen. Ich habe nicht vor, etwas zu versuchen, mit dem ich nicht fertigwerden kann.“ 115
Bislang haben wir lediglich Pohls persönliche Entscheidun gen und Vorlieben diskutiert. Bei Licht betrachtet ist es aber doch so, daß ein einzelner Schriftsteller nur begrenzt einen frei en Willen haben kann, wenn er für Geld schreibt. Bis zu wel chem Grad wird seine Arbeit durch kommerzielle Faktoren be einflußt? „Ich glaube, daß die meisten Bücher, die ich bis vor fünf Jah ren herausgebracht habe, hätten ein wenig Überarbeitung ver tragen können, aber da ich sie abliefern mußte, um an meine Honorare heranzukommen, hatte ich nie die Zeit dazu. Ich weiß nicht, ob sie dann anders ausgesehen hätten. Immer wenn ich dachte, daran mußt du noch etwas machen, immerhin geht es um einen Haufen Geld, hat sich die Sache anschließend als Flop erwiesen. Die Sachen, die ich auf Risiko hin schrieb, liefen alle viel besser. Sämtliche Science-Fiction-Romane, die ich ge schrieben habe – ob allein oder mit einem Ko-Autor – sind ir gendwo lieferbar und tragen noch immer zu meinem Einkom men bei. Die Dinger, die ich schrieb, um die Miete zu bezahlen, sind tot; keins davon hat mir viel eingebracht. Die Science-Fiction-Autoren als Klasse können, glaube ich, nicht gut mit Geld umgehen. Wenn sie zuviel davon haben, kann man entweder nicht mehr mit ihnen auskommen oder sie hören ganz mit dem Schreiben auf. Als ich Galaxy verließ, hatte ich die feste Absicht, einen Großteil meiner Zeit dem Schreiben zu widmen. Das war im Frühjahr 1969. Leider brachte der Ver lag Ballantine Books dann achtzehn meiner Bücher neu heraus, bezahlte mich dafür – und damit war mein Schreibdrang erst einmal verflogen. Ein oder zwei Jahre lang tat ich gar nichts. Ich habe mich nicht einmal dabei wohlgefühlt. Wäre ich natür lich in der Situation gewesen, den Kindern etwas zu Essen zu kaufen oder die Miete bezahlen zu müssen, hätte ich mich hin gesetzt und ein Buch geschrieben. Ich glaube, daß die vierziger und besonders die fünfziger 116
Jahre, wo man etwas schrieb, bloß um einen dringend benötig ten Scheck dafür zu kriegen, einen Haufen herausragender Ar beiten geschaffen haben. Die besten Sachen von Leuten wie William Tenn, Damon Knight, Robert Sheckley und zwanzig oder dreißig anderen kamen in dieser Zeit lediglich aus diesem Grund herein. Auch Cyril Kornbluth hat ununterbrochen der nächsten Mietzahlung entgegengeschrieben, immer unter Druck. Und trotzdem hat er großartige Sachen produziert. Heute ist dieser Druck für einige Autoren nicht mehr so sehr fühlbar. Science Fiction-Autoren werden besser bezahlt als je zuvor. Ich habe gehört, daß der neue Roman Heinleins auktio niert worden ist und Angebote unter 500 000 Dollar gar nicht berücksichtigt wurden. Unglaublich. Mit einer halben Million hätte man in den dreißiger Jahren alle lebenden ScienceFiction-Autoren zehn Jahre lang beschäftigen können. Und da bei wären möglicherweise noch ein paar Hunderttausend übrig geblieben.“ Ist er der Meinung, daß man den Leuten in College-Kursen das Schreiben beibringen kann? „In dieser Hinsicht habe ich eher negative Gefühle. Kurse dieser Art legen Wert auf die falschen Dinge: Wie man richtig buchstabiert, Zeichen setzt, Alliterationen benutzt und eine ver öffentlichte Geschichte in ihre Einzelteile zerlegt. Sie gehen nicht mit Nachdruck an die Frage heran, wie man eine Ge schichte besser macht als eine andere, weil sie den persönlichen Standpunkt desjenigen wiedergibt, der sie geschrieben hat – und wie er die Welt wahrnimmt. Sowas kann man einem nicht beibringen. Entweder haben die Leute etwas zu sagen – oder sie haben es nicht. Es gibt eine Menge Leute, die verzweifelt dar um ringen, Schriftsteller zu werden, ohne Talent zu haben. Es scheint keine Möglichkeit zu geben, ihnen das begreiflich zu machen; und genau diese Leute sind es, die solche Kurse bele gen.“ 117
Positiver sieht er die Möglichkeit, daß ein Redakteur einem Autor etwas beibringen kann. Wie viele Science-FictionAutoren schätzt er ebenfalls den verstorbenen John W. Campbell jr., der das Magazin Astounding (das später in Analog um benannt wurde) herausgab und seine Hausautoren mit Ideen versorgte. Die Zeiten haben sich allerdings geändert: „Heute könnte es so etwas wie einen John W. Campbell nicht mehr geben. Er könnte zwar immer noch den einen oder anderen neuen Autor entdecken, wie Campbell es mit Heinlein, van Vogt oder L. Sprague de Camp tat. Er würde ihn bearbeiten und eine oder zwei Stories aus ihm herausholen, aber das wäre es auch schon, denn anschließend wären Bantam Books oder Pocket Books zur Stelle, und wenn dieser Autor einen Roman anzubie ten hat, würden sie mitbieten. Das wäre zwar für den Autor eine äußerst befriedigende Sache, aber für den neuen John W. Campbell wäre er dann verloren. Ein neuer Campbell könnte heute die SF-Szene kaum noch nach seinem eigenen Ge schmack formen. Er wäre wahrscheinlich nicht einmal mehr in der Lage, seinen Autoren das Handwerk beizubringen. Es gibt heutzutage innerhalb der SF-Szene keinen Herausge ber mehr, der über das, was sich abspielt, noch eine wirkliche Kontrolle hat. Nicht einmal David Hartwell von Pocket Books, trotz der Tatsache, daß er sechsstellige Honorarvorschüsse zah len kann. Es gibt einfach keinen Verlag oder Verleger mehr, der den Ton angibt oder als Schrittmacher fungiert. Die SF ist zum Big Business geworden, und heutzutage werden Bücher wie eine Ware behandelt, für die man Werbung betreibt. Wenn sie in den Vertrieb gelangen, behandelt man sie nicht anders als Suppendosen oder Speckseiten. Einer der Gründe weswegen ich Bantam Books verließ (wo er als Science-Fiction-Redakteur tätig gewesen war), war die Tatsache, daß die Herausgeberarbeit für mich beinhaltet, Dinge zu entdecken, die die anderen bisher übersehen haben. Sowas 118
möchte ich herausgeben und zum Laufen bringen. Aber genau das sind Fähigkeiten, die die großen Taschenbuchverlage gar nicht brauchen können. Es ist zwar nicht so, daß sie einem Initia tiven in dieser Hinsicht verbieten – ich hatte bei Bantam alle Freiheiten und konnte tun und lassen, was ich wollte –, aber man ist den Plänen der Verlage doch irgendwie hinderlich. Was mir wirklich Spaß macht, wäre die Herausgabe eines Science-Fiction-Magazins. Diese Blätter haben den Vorteil, daß sie von einem einzigen Individuum geprägt werden können und dadurch an Persönlichkeit gewinnen. Ich hätte gerne Analog übernommen (und Ben Bova ersetzt, der das Magazin nach dem Tode Campbeils redigierte), aber man hätte es, glaube ich, nicht gern gesehen, wenn ich allzu viele Veränderungen daran vorge nommen hätte. Und verändert hätte ich es auf jeden Fall.“ Ich werfe ein, daß Pohl, als er noch für Bantam Books gearbeitet hat, eine Reihe bemerkenswert experimenteller Texte und inno vatives Material eingekauft hat. Mir erscheint das erstaunlich, denn als in den späten sechziger Jahren die „Neue Welle“ rollte, wurde er zum Lager der Konservativen gezählt. „Aber damals habe ich Galaxy redigiert und die Mehrheit der Autoren der Neuen Welle herausgebracht“, führt er aus. „Aldiss, Ballard, Ellison … Es waren nicht die Geschichten, gegen die ich etwas hatte, sondern die Lümmelhaftigkeiten der Vorreiter der Neuen Welle. Ich bin übrigens nicht der Meinung, daß sie gestorben ist; sie ist fühlbar in allem, was heute geschrieben wird, ebenso wie James Joyce überlebt hat. Die Neue Welle hat etwas getan, was ich schätze. Sie hat nämlich die ‚alten Dino saurier’ wie Isaac Asimov, mich und Bob Heinlein wachgerüt telt und ihnen gezeigt, daß es wirklich keinen Grund gibt, Ge schichten zu schreiben auf den Mustern von 1930 oder den Standards, die Hollywood setzt, aufzubauen. Der Wert solcher Erfahrungen ist sehr hoch einzuschätzen. Hätte die Neue Welle nicht stattgefunden – ich glaube, ich hätte meinen Roman 119
Gateway gar nicht schreiben können. Ich bin auf dieses Buch stolzer als auf alle anderen, die ich geschrieben habe.“ Ich frage, welche Einflüsse auf seine Arbeit eingewirkt ha ben und woraus sein Lesestoff besteht. „Ich lese die meisten der wissenschaftlichen Journale und Magazine. Ich ziehe etwa jeden Tag ein Buch durch und stelle von Zeit zu Zeit fest, daß meine Bildung immer noch erhebliche Lücken hat, die ich füllen muß. Neulich habe ich einige Auto ren des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts gele sen – aber auch Stücke von Shaw; die meisten davon habe ich aber schon als Jugendlicher hinter mich gebracht. Irgendwann hatte ich also eins seiner Bücher in der Hand, stieß auf eine in teressante Stelle, las mich daran fest; und so kam es, daß ich das ganze Zeug während der letzten Monate noch einmal durchge zogen habe. Hin und wieder kommt es auch vor, daß ich mich in die Science Fiction alter Zeiten wieder vertiefe und Sachen lese, die mir gefallen. Etwa Edgar Rice Burroughs und E. E. Smith. Was die neuen Autoren angeht, so bin ich beeindruckt von John Varley und George R. R. Martin. Ich halte die beiden für sehr vielversprechend.“ Er scheint tatsächlich ziemlich beschäftigt zu sein. Sogar seine Lesegewohnheiten klingen mehr nach Arbeit als nach Entspan nung. Ich muß mich wirklich fragen, ob er sich ab und an eine wirklich faule Minute gönnt. Braucht er sie überhaupt? Die Frage bringt unsere Konversation einen Moment zum Stillstand. „Na ja“, sagt Pohl, „als Kojak auf dem Bildschirm zu sehen war, konnte ich mich kaum von der Glotze losreißen. Ich glaube, ich bummele auch eine Menge herum. Meine Arbeitszeit besteht nicht nur daraus, daß ich hinter der Maschine sitze und über eine Geschichte und die Welt nachgrüble. Es kommt durchaus schon einmal vor, daß ich acht Stunden lang vor der Schreib maschine sitze, ohne auch nur eine einzige Taste anzurühren. Und erst dann kann ich meine Trägheit überwinden.“ 120
Für mich hört sich das so an, als sei Arbeit für ihn Entspan nung und Entspannung Arbeit. Pohl scheint in beiden Diszipli nen gleichermaßen aktiv zu sein. Im übrigen bemüht er sich augenblicklich, ein neues Refugium zu finden. „Ich suche nach einem Ort, an den ich mich zurückziehen kann. Man kann nicht behaupten, daß ich wirklich hier wohne.“ Er deutet auf das Zimmer und dessen Unordnung. „Hier halte ich mich nur auf, wenn ich nicht gerade reise. Ich habe den per fekten Ort zwar noch nicht gefunden, aber ich kann ihn be schreiben. Im Winter muß er warm sein. Es sollte dort weder Wirbelstürme noch Revolutionen geben, die Leute sollten sich an die Gesetze halten. Es sollte dort auch keine Straßenkrimina lität geben – und natürlich sollte es in einer angemessenen Ent fernung einen größeren Flughafen geben, für den Fall, daß ich irgendwo hin will. Ich habe mich letztlich auf den Karibischen Inseln umgesehen … vor ein paar Monaten entdeckte ich eine Insel, die Grand Cayman heißt, aber das hat nicht hingehauen … Ich lebe gerne isoliert. Ich glaube, ich sehe einfach zu viele Menschen. Ich halte so viele Vorträge und besuche dermaßen viele Kongresse, das hat mich ungeselliger werden lassen. Ein bißchen Alleinsein könnte mir guttun.“ Und ich zweifle nicht daran, daß er auch dieses Ziel errei chen wird; wie auch die anderen, die er sich vorgenommen hat. Frederik Pohl mag zwar einen leicht verschüchterten Eindruck erwecken und ist sicher selbstanalytischer, bescheidener und von komplexerem Geist als die meisten Autoren seiner Genera tion, aber er hat klare und wohldurchdachte Ziele. Obwohl man ihn kaum wahrnimmt und er jeglicher Selbstherrlichkeit ent behrt, hat er wie jeder andere Science Fiction-Autor – und viel leicht sogar noch mehr als sie – der Welt gezeigt, daß er vor handen ist. New York, im Mai 1979 121
Bibliographische Anmerkungen Eine Handvoll Venus und ehrbare Kaufleute (1953; dt. 1971) war der erste Roman, den Frederik Pohl zusammen mit C. M. Kornbluth geschrieben hat. Noch heute wird der Titel dieses Buches am ehesten mit ihm in Verbindung gebracht. Der Roman beschreibt die Weltraumfahrt in zynischer Form als Unterneh men kommerzieller Ausbeutung und gehört zu den Klassikern. Pohls andere, mit Kornbluth zusammen geschriebene Bücher sind u. a. Die gläsernen Affen (1955; dt. 1976) und Die letzte Antwort (1954; dt. 1972); der letztere Titel hat, abgesehen von seinen sozialen Implikationen, auch beträchtliche komische Elemente. Pohls Solo-Arbeiten umfassen klassische Erzählun gen wie Die armen Reichen (1954), eine Satire auf die Konsum gesellschaft; sein Frühwerk erschien gesammelt in dem Band Die besten SF-Stories von Frederik Pohl (1975; dt. 1981). Seine früheren Solo-Romane, Venus nähert sich der Erde (1957; dt. 1976), Tod den Unsterblichen (1960; dt. 1972) und Die Macht der Tausend (1965; dt. 1968) machten einen weniger dauerhaf ten Eindruck, aber 1977 erhielt er den Nebula Award für seinen Roman Der Plus-Mensch (dt. 1978), der sich in realistischer Weise mit dem Thema der biologischen Adaption menschlicher Lebewesen an die Umweltbedingungen des Planeten Mars aus einandersetzt. Seine Stärke fand ihre Fortsetzung in den Romanen Gateway (1977; dt. 1978) und Jem (1979; dt. 1980). Gateway wurde 1978 sowohl mit dem Nebula- als auch mit dem Hugo Award ausgezeichnet.
122
Samuel R. Delany Kriminalromane glänzen nicht unbedingt dadurch, daß sie zei gen, was in den Köpfen der Protagonisten vor sich geht; eben sowenig enthalten Wildwestromane normalerweise keine Ab schnitte mit konkreter Poesie, und historische Romanzen ver wenden keine avantgardistischen Schreibtechniken. In der Science Fiction ist das allerdings anders: Sie ist die einzige populäre Genre-Literatur, in der man Experimente wagt. Es war Alfred Bester, der in den fünfziger Jahren die un konventionelle Prosa und eine gewagte Typographie in seine Texte einbrachte; seither haben Autoren wie Aldiss, Ballard, Moorcock, Ellison, Sladek, Disch, Farmer und sogar ein tech nisch orientierter Autor wie Joe Haldeman Stories und Romane zu Papier gebracht, die aus dem simplen Geschichtenerzählen der Vergangenheit weit herausragen. Samuel R. Delany ist dabei am weitesten vorgeprescht; sein Roman Dhalgren besteht aus mehr als 300 000 schwierigen, esoterischen, avantgardistischen Worten, einschließlich einiger 123
Abschnitte, die sich in zwei Kolumnen gegenüberstehen (also nebeneinander gelesen werden müssen), ganzen Strömen sur realer, impressionistischer Prosa und einer ungewöhnlichen Syntax. Allein dieses Buch zeigt, daß Delany der prominenteste Innovator der amerikanischen Science Fiction ist und hochlite rarische Ansprüche hat. Seine kritischen Essays, die das Werk seiner Zeitgenossen gnadenlos in ihre Einzelteile zerlegen, ha ben ebenfalls gezeigt, wie ernst es ihm mit Dingen wie Stil, Sprache und literarischen Standards ist. Delany ist kein Mensch, den man leicht interviewen kann, denn sein akademischer Habitus, Prosa und Sprache zu analy sieren, führt dazu, daß die Kommunikation mit ihm nicht leicht wird. Während er etwas erklärt, erklärt er sich selbst, relativiert, fügt an, nimmt aus, verbessert sich, macht eingeklammerte Ein schübe und liefert die Fußnoten gleich mit … Seine Wortketten werden länger und länger, dem Strom seiner Abstraktionen ist nur schwer zu folgen. Es ist kaum zu bewerkstelligen, das, was er sagt, in einfachen Worten wiederzugeben. Wenn man eine Sache endlich gepackt hat, stellt sich heraus, daß da noch das Problem der Begriffsbestimmung ungeklärt ist – als sei, jeden falls für Delany, die Botschaft das Medium. Die einzige Möglichkeit, die mir einfällt, um seine Gedanken weiterzugeben, besteht darin, einen Teil seiner Aussagen in un bearbeiteter Rohfassung zu zitieren. Hier, an dieser Stelle, re flektiert er beispielsweise auf die skeptisch vorgebrachte Frage, ob die an den Colleges durchgeführten, sich mit Science Fiction beschäftigenden Literaturkurse einen Wert haben. „Es gibt zum Beispiel eine Reihe von Sätzen, die sowohl in der Mundus-Literatur als auch in der Science Fiction vorkom men, wobei man den Terminus allgemein mit einem Anflug von Ironie verwenden kann (Mundus bedeutet einfach Welt; dieser Begriff meint also eine Literatur, die in der Welt stattfindet), als auch, um damit auf ihre Verbreitung hinzuweisen: die hier und 124
jetzt stattfindende oder irgendeine historische Realwelt. Man kann die Sache aber auch noch anders sehen. Es gibt also eine Menge von Sätzen, die in beiden Literaturformen vorkommen können, zum Beispiel: ‚Ihre Welt explodierte’. Wenn man in der allgemeinen Literatur auf eine solche Formulierung stößt, ist sie möglicherweise mehr oder weniger als nebelhafte, emo tionale Metapher anzusehen, die auf irgendeinen Daseinszu stand anspielt; in der Science Fiction ist diesem Satz jedoch die Bedeutung vorbehalten, daß ein Planet, der irgendeiner Frau gehört, in die Luft geflogen ist. Oder nehmen wir den Satz ‚Er betrat das Schiff’. In der allgemeinen Literatur gibt es keinen Zweifel, was damit gemeint ist, aber in der Science Fiction be deutet er zweifellos, daß wir es mit jemandem zu tun haben, der ein Weltraumfahrzeug besteigt. Die Science Fiction hat also sprachliche Grenzen, die man in der allgemeinen Literatur nicht so häufig findet. Auch ordnen wir beim Lesen von Science Fic tion die Informationen anders ein, damit sie einen Sinn ergeben. Auf den ersten Seiten des Romans Eine Handvoll Venus und ehrbare Kaufleute kommt der Satz vor: ‚Er schmierte sich Ent haarungscreme ins Gesicht und spülte sie sich mit einem Rinn sal aus dem Frischwasserhahn wieder ab’. Die Enthaarungs creme signalisiert uns, daß wir es hier mit einem Satz aus der Science Fiction zu tun haben, weil niemand ein solches Zeug benutzt, denn das gibt es nur in dieser Romanwelt. Der Satz liefert uns aber noch eine weitere Information über die Welt, in der diese Geschichte spielt: Der Frischwasserhahn deutet darauf hin, daß in dieser Welt jedes Haus auch noch mit einem Was serhahn ausgestattet ist, aus dem kein Frischwasser kommt. Und das Rinnsal, mit dem der Protagonist sich die Enthaarungscre me wegspült, zeigt an, daß Frischwasser in dieser Welt knapp ist. Hätte dieser Satz nun – oder etwa seine zweite Hälfte – in einem Werk der allgemeinen Literatur gestanden, würde er … nun, Sie wissen schon: Wenn man anfängt, Informationen auf 125
eine andere Weise auszuwerten, weiß man, daß man Science Fiction liest. Egal was die tatsächlich dastehenden Worte aus drücken mögen. Ich glaube, daß diese Art des … unterschiedli chen Aufnehmens von Informationen, die Art, in der man manche dieser Sätze viel wörtlicher nimmt, wozu die Science Fiction einen zwingt und was das Genre überhaupt ausmacht, etwas ist, das auch in jedem anderen Genre vorkommt. Beim Abhalten von Kursen über Science Fiction sind mir zwei Dinge aufgefallen: Man hat es in allen Situationen, in de nen die Science Fiction zur Sprache kommt, mit zwei Gruppen zu tun. Da sind zum einen die Leute, die keine Science Fiction lesen wollen und zum anderen die, die sie nicht lesen können. Diese Gruppen muß man natürlich säuberlich trennen. Im Laufe der Zeit habe ich sehr viele Leute kennengelernt, die sich zwar Mühe geben, Science Fiction zu lesen, sie aber dennoch nicht verstehen. Als ich dann anfing, mit jenen Leuten, die ihren gu ten Willen ausdrückten und ernsthaft behaupteten, sie hätten den einen oder anderen Science-Fiction-Roman zu verstehen versucht, ohne daß ihnen bei der Lektüre klar geworden sei, wovon er überhaupt handelte – als wir anfingen, das Ding Satz für Satz durchzunehmen und ich an die Sache heranging, als müßte ich einem Kind das Lesen beibringen, stellte ich fest, daß sie einfach nicht dazu in der Lage waren, die in diesem Buch beschriebene Welt auf einen Nenner zu bringen. All die Andeutungen, Hinweise, Randbemerkungen und De tails, die SF-Autoren zu Papier bringen, damit die von ihnen entworfenen Welten allmählich Formen annehmen, sagten ihnen überhaupt nichts. Die Leute hatten eminente Schwierigkeiten, außer dort, wo die Welt in klaren Worten beschrieben wurde. Die ganzen kleinen Andeutungen, die in einer SF-Geschichte portionsweise serviert werden, um die Story nicht zu simpel erscheinen zu lassen; all das, was die Essenz einer guten Ge schichte ausmacht, mit denen der Autor die Sache mit Leben 126
erfüllt und zum Glitzern bringt – man wußte im wahrsten Sinne des Wortes nicht, wie man sie aufzunehmen hatte. Und je wei ter ich mit den Leuten nach diesem Satz-für-Satz-System arbei tete und dabei erklärte, was diese oder jene Bemerkung für den Hintergrund der Erzählung bedeutete, desto besser kamen sie an die Sache heran. Und schließlich kapierten sie sie sogar. Es lag an der Sprache; in diesem Sinne ist die Science Fiction tatsäch lich eine Sprache für sich. In einem Werk der allgemeinen Literatur, ich muß mich wie derholen, spielen Geschichten vor einem vorgegebenen Hinter grund und bilden die Welt so ab, wie man sie kennt … In die sem Bereich der Literatur ist es nicht nötig, für jede neue Ge schichte eine neue Welt zu erfinden, man braucht bloß … der Verlauf der Geschichte zeigt einem einfach, welchem Teil der Welt man Beachtung schenken muß. Dabei erübrigt es sich, Dinge einzuflechten, die dem Leser erzählen, daß sich die Welt von der, die uns umgibt, völlig unterscheidet und anders funk tioniert. Und das ist eines der großen Probleme, mit denen man sich herumschlagen muß, wenn man den Leuten, die das Zeug seit Jahren nicht mehr gelesen haben und das nötige Sprachver ständnis nicht haben, nahebringen will.“ Man sieht also, daß es ebenso schwer sein kann, Delany zu zuhören wie seine Bücher zu lesen. Er fordert einen – und zwar ununterbrochen. Persönlich ist er offen und umgänglich, und sein sicheres Auftreten und seine Gutmütigkeit erlauben es ihm sogar, auch dann noch ausgesprochen freundlich zu bleiben, wenn er wü tenden Kritikern oder aufgebrachten Lesern, die sich darüber beschweren, daß sie Dhalgren nicht verstanden haben, Rede und Antwort steht. Wie Disch, Bryant oder Spinrad gehört De lany zu jenen Science-Fiction-Autoren, die in den sechziger Jahren bekannt wurden und mehr Intellekt und Analyse in das Genre einbrachten, als in der Vergangenheit üblich gewesen ist. 127
Gleichzeitig scheint Delany aber in den Jargon, das technische Zubehör und den Geist der altmodischen Weltraumabenteuer – oder die „Space Opera“ – verliebt zu sein. Dies sei (so sage ich zu ihm) doch gewiß ein Widerspruch, da abenteuerliche Erzäh lungen doch in einfachen, dürren Sätzen anstatt in dem hochge züchteten Stil, den er bevorzugt, geschrieben werden. „Ganz offensichtlich sehe ich darin keinen Widerspruch“, antwortet er, „sonst wäre ich gar nicht in der Lage, so etwas zu tun. An sich mag ich die Space Opera – beziehungsweise das Umfeld, in dem sie sich abspielt – schon. Sie eröffnet einem ungeheure Möglichkeiten und hat eine Anzahl bestimmter Mit telpunkte. Es gibt eine Form linearen, auf einen bestimmten Punkt hin abzielenden Denkens, die stark auf unsere Vorstel lungen einwirkt. Ich bin halt der Meinung, daß die grundsätzli che Vorstellung unterschiedlicher Welten, die miteinander in Beziehung stehen, diese metaphorische Hoch/Tief-Geschichte aushöhlt und es somit in der Space-Opera-Konstruktion per se etwas Gutes gibt. Ich schätze die Freiheit, die man dadurch ge winnt.“ Ich beschließe, hartnäckig zu bleiben. Ist es nicht etwas effekt hascherisch, einer populären Kunstform künstlerische Ambition anzudichten? „Die Frage ist, wird hier etwas angedichtet, oder steckt doch etwas dahinter? Ich würde nicht sagen, daß ich die Space Opera überschätze, ich versuche nur, sie anders auszuloten als die an deren. Ich sehe nicht, daß ich sie verbräme; für mich ist es eher ein Eintauchen und Offenlegen der ganzen Sache.“ Darauf erwidere ich (und stoße damit zu dem vor, was ich für den Kern der Materie halte): Ist ein Buch besser, wenn es sauber geschrieben ist oder schlampig, dafür aber voller primi tiver Lebenskraft steckt? „Primitive Lebenskraft ist in der Regel eine Art der Illusion. Wenn Sie mit dem Magen auf eine Geschichte reagieren, ist das 128
keine Reaktion auf etwas Neues; ich würde meinen letzten Dollar darauf verwetten, daß Sie in Wahrheit lediglich auf eine Geschichte reagieren, die man Ihnen erzählt hat, als sie sechs oder sieben Jahre alt waren und dermaßen aufgebauscht ist, daß Sie ihre wahre Bedeutung nicht erkennen. Aber Ihr Unterbe wußtsein wird es merken. Wenn man sich dieser alten Themen annimmt, tut man besser daran, glaube ich, wenn man sie mit einem gewissen Gefühl der Ironie bearbeitet. Man sollte in ei nem solchen Fall wissen, daß man eine alte Geschichte erzählt und die Sache nicht ganz ernst nehmen, wenn man sie verbrei tet. Des weiteren sollte man wissen, was diese alten Geschich ten darstellen und was sie, wenn man wirklich etwas Neues sa gen will, bedeuten. Wenn man das nicht weiß, wird es so aus gehen, daß man die alten Sachen nur wiederholt, ohne es zu bemerken. In diesem Sinne, glaube ich, führen sich die Leute, die auf diese ‚primitive Lebenskraft’ abfahren, selbst an der Nase herum.“ Delanys Zwiespältigkeit beim Schreiben – die so aussieht, daß er Abenteuergeschichten in einem kultivierten Stil verfaßt – hat ihre Parallele in seiner Erziehung, die es ihm gestattete, seine Erfahrungen in einer ungewöhnlichen Mischung von Kul turen zu sammeln. Als schwarzer Jugendlicher wuchs er in Har lem auf, aber: „Ich verbrachte meine Zeit hauptsächlich in einer im Stadtzentrum liegenden weißen Schule der Oberklasse; das war an der Ecke Park Avenue/89. Straße. Ich wurde entweder von meinem Vater oder einem seiner Angestellten dorthin ge fahren. Meine Eltern waren der Meinung, ich sollte eine bessere Ausbildung haben als die, die sie bekommen hatten. Wir be wohnten ein ziemlich ansehnliches Eigenheim in Harlem – es lag einen Block nördlich vom dichtbevölkertsten Häuserblock, den New York 1951 aufzuweisen hatte. Möglicherweise hat die Tatsache, daß ich mich in zwei Welten bewegen konnte, dazu beigetragen, daß ich mir den meisten Leuten, die ich kannte – 129
die hatten nämlich nur eine Welt – überlegen vorkam. Ich besaß die Möglichkeit, unterschiedliche Kulturen miteinander zu ver gleichen, und zwar auf eine solche Weise, daß meine Erfahrun gen das, was ich schreibe und tue, noch immer beeinflussen. In gewisser Beziehung habe ich stets nur über Leute geschrieben, die eine Reise durch diese Form der Barriere machen, wenn gleich auch nicht unbedingt durch rassische Barrieren.“ Zum Zeitpunkt der Aufnahme dieses Interviews wohnt Dela ny im obersten Stockwerk eines fahrstuhllosen Mietshauses an der Upper West Side von Manhattan. Die vielen Zimmer seiner Wohnung sind sparsam, beinahe asketisch möbliert. Er hat eine beeindruckende Anzahl von Bücherregalen aus ungestrichenem Holz. Draußen, unterhalb des Wohnzimmerfensters, donnert der Verkehr über die Amsterdam Avenue. „Ich habe immer in heruntergekommeneren Vierteln gelebt“, sagt er, „denn ich glaube, daß man in dem Moment, wo die Ge sellschaft anfängt auseinanderzufallen, dort einen besseren Überblick über ihr Funktionieren gewinnt, wo nicht alles kli nisch sauber ist. Die Welt ist hier so maskiert, daß es eine Weile dauert, bis man bemerkt, daß etwas in Bewegung geraten ist.“ Szenische Schilderungen des Verfalls sind tatsächlich die am meisten wiederkehrenden Bestandteile in Delanys Werk. Ein weiteres Thema, auf das er zurückkommt – besonders in den letzten Jahren – ist der Feminismus. Ich frage ihn, wieso er sich dieser Sache neuerdings so oft annimmt. „Als ich neunzehn war, hatte Marilyn (die Dichterin Marilyn Hacker, die Delany 1961 heiratete) gerade einen Job beim Ver lag Ace Books bekommen. Sie bearbeitete dort Manuskripte, und jedesmal, wenn sie nach Hause kam, beschwerte sie sich darüber, daß die darin vorkommenden weiblichen Charaktere entweder alle Nutten oder geistlose Trampel seien. Ich wollte daraufhin ein Buch schreiben, in dem wenigstens ein weiblicher Charakter auftaucht, der sich davon unterschied. Das war The 130
Jewels of Aptor, wo mein einziger weiblicher Charakter in ei nem der Endkapitel auftaucht“, – er lacht, sich selbst tadelnd –, „und einfach nur anders aussieht.“ Da ich das Gefühl habe, daß Delany auf meine Frage nicht die richtige Antwort gegeben hat, dringe ich weiter in ihn und erwähne Norman Spinrads Standpunkt, der darin besteht, allen sozialen Bewegungen zu mißtrauen, die zu einem „ismus“ wer den. „Ich halte das für eine Art unaufrichtiger Naivität“, erwidert Delany. „Wenn Norman damit sagt, daß es nicht sonderlich spannend ist, die Welt durch Scheuklappen zu betrachten, na schön; aber es ist nun mal so, daß es Leute gibt, die die Welt nicht so sehen wie man selbst. Wenn ich sage, daß ich den Fe minismus für eine ernsthafte Sache halte, die, glaube ich, drei undfünfzig Prozent der Bevölkerung angeht und deren Rechte und den Kampf darum betrifft, dann meine ich das auch. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man das für einen Fehler halten kann.“ Ich erwähne, daß mein einziger Vorbehalt sich gegen Erzäh lungen richtet, die die feministische Sache (oder auch alle ande ren) in die Hand nehmen und sich dann weniger als Literatur denn als Propaganda entpuppen. „Ich glaube, es war der marxistische Kritiker Lukacs, der um 1919 herum gesagt hat, daß der Roman die einzige Form der Kunst darstellt, in der die ethische Position des Künstlers zu einem ästhetischen Problem wird“, erwiderte Delany. „Ich glaube, man wird sich dessen erst bewußt, wenn eine Erzählform anfängt, sich einer gewissen Reife oder einem bestimmten Anspruch anzunähern.“ Ich versuche, ihn dazu zu bewegen, dies einfacher zu sagen. Delany gibt sich bereitwillig dazu her: „Jegliche Fiktion ist Propaganda, und die Fiktionen, die uns am besten gefallen, sind die, an die wir glauben. Wir mögen nur 131
die Erzählungen nicht, die eine Propaganda verbreiten, die uns gegen den Strich geht.“ Und was gefällt ihm persönlich? Wer sind die Autoren, auf die er große Stücke hält? „Disch. Russ.“ Er macht eine Pause. Es folgt eine lange Stille. „Von den jüngeren Autoren mag ich John Varley und M. John Harrison sehr gern. Ich lese auch immer noch die Sachen von Bester und Sturgeon, unseren alten Schlachtrössern, die das Beste gegeben haben, um das Genre durchzusetzen.“ Ich frage ihn nach seinen Zukunftsplänen. „Ich werde weiterhin Science Fiction-Romane schreiben, aber das Feld, das sie ausmacht, auch ausweiten. Ich habe einen Riesenhaufen toller Pläne, zum Beispiel dafür zu sorgen, daß diese Welt besser wird und so weiter. Ich will weniger die Ge danken der Leute beeinflussen als ihnen beibringen, daß man Bücher auf verschiedene Arten lesen kann. Ich möchte Texte schreiben, die es wert sind, daß man sie liest, die die Phantasie anregen und in gewisser Weise auch spielerisch sind – aber dies in einem Sinn, der komplexer ist als das, was einem die meisten Science Fiction-Texte vorsetzen.“ Und was die Innovation angeht, meint er: „Man hat die Wahl, entweder das zu sagen, was man sagen will, oder das zu sagen, was schon viele, viele Male vorher gesagt worden ist. Leider schreiben zu viele der – Gänsefüßchen unten – experi mentellen Schriftsteller – Gänsefüßchen oben …“ Er sucht nach einem bestimmten Wort, aber erfolglos. „Man muß sich der Illusion der Bedeutsamkeit entkleiden“, sagt er dann viel ent schiedener. „Wenn man anfängt ‚bedeutende Sachen’ zu schrei ben und sich nicht ganz darüber im klaren ist, was das über haupt ist, ist die Wahrscheinlichkeit, daß dabei blühender Schwachsinn herauskommt, sehr hoch.“ New York, im März 1979 132
Bibliographische Anmerkungen Samuel R. Delanys Roman Babel-17 (1966; dt. 1975) ist von seinen früheren Werken möglicherweise am besten bekannt. Es geht darin um Fragen der Semantik und setzt voraus, daß unsere Wahrnehmung der Realität der Sprachstruktur entspricht, in der wir denken. Einstein, Orpheus und andere (1967; dt. 1972) ist ebenfalls ein bedeutendes unter seinen Frühwerken. Hier versu chen Außerirdische anhand von Symbolen der populären Kultur die menschliche Zivilisation nach deren Untergang zu interpre tieren. Dhalgren (1975; dt. 1980) ist ein Roman innerhalb eines Romans und zeichnet in einem impressionistischen Verfahren die Odyssee eines Jugendlichen durch eine surreale, ausgelaugte, urbane Landschaft auf. Der Roman war kommerziell gesehen erfolgreich, rief aber aufgrund seiner Länge, seines Stils und (laut den Aussagen einiger Leser) seiner Obskurität Kontrover sen hervor. Delanys Essays und Literaturkritiken wurden gesammelt in dem Band The Jewel-Hinged Jaw (1977).
133
Barry N. Malzberg Jenes Märchenland der amerikanischen Vorstädte, in denen Realität nicht existiert, hat mich schon immer angezogen. Fahr’ die Hauptstraße entlang, sieh dir die solide Ziegelbauten vor täuschenden Fassaden und Verzierungen an, die wie handge schmiedetes Metall aussehen und doch aus Kunststoff sind, das Sperrholz, auf Eiche getrimmt, und du bist im Wunderland, wo das Internationale Pfannkuchenhaus aus einer bizarren architek tonischen Mutation besteht, zum Teil einem Schweizer Chalet ähnelt, woanders eine transsylvanische Burg aus Fertigteilen ist, und die Kundenkreditbank in einem Miniaturlandhaus unterge bracht ist: die Legoland-Version einer Stadthalle in New Eng land, die sogar hübsche kleine – und weiße – Säulen am Ein gang aufweist. Einst hatte ich den Traum zu heiraten, von Manhattan weg zuziehen und mir ein Haus in den Vorstädten zu kaufen, wo ich
134
in angemessenem Wohlstand leben, einen großen Wagen besit zen und an nicht endenden, hingebungsvollen Depressionen leiden wollte. Das schien mir der Anfang einer simplifizierten Stasis, eines Barbiturat-Nirwanas zu sein. Was mich angeht, so ist mein Plan nie Wirklichkeit geworden, aber für andere, die mit größerer Ambition und Initiative gesegnet waren, schon. Ganz besonders für Barry Malzberg. Er lebt in Teaneck, New Jersey. Wenn man Manhattan über die George-Washington-Brücke verläßt, fünf Meilen über einen von einem Erdstreifen geteilten Highway fährt und dann scharf nach links einbiegt, stößt man auf Teaneck. Die Straßen sind geräumig, die Häuser solide gebaut, umgeben von Bäumen und von wohlgedüngten Rasen umgeben … Hausfrauen fahren vom Supermarkt nach Hause und haben auf dem Beifahrersitz Le bensmitteltüten stehen … Briefkästen, Harken und Kinderfahr räder stehen in den Hauseinfahrten herum … Alles ist sauber, aufgeräumt, auf eine bestimmte Art erhaben: Es gibt hier zwar keinen übermäßigen Reichtum, aber man hat sofort den Ein druck, daß es die Leute, die hier leben, weit genug gebracht haben, um sich ein behagliches Familienleben fernab von Dreck und Lärm – und der traumatischen Realität Manhattans – leisten zu können. Das Haus Barry Malzbergs und seiner Familie macht da kei ne Ausnahme: Es ist ein zweistöckiges Gebäude in den mittle ren Jahren und hat seine eigene Würde. Es liegt in einem ruhi gen Block. In der Garage steht ein Cadillac. Alles ist durchaus mittelständisch-amerikanisch und konventionell. Was Malzberg persönlich anbetrifft, so läßt er sich jedoch weit weniger von der Umgebung blenden. „Ich bin nicht sonderlich glücklich hier“, sagt er, „aber in New York wäre ich sicher noch unglück licher.“ Seine Nachbarn erzeugen in ihm ein Gefühl der Verlo renheit. Wenn jemand erfährt, daß er den Beruf eines Schrift stellers ausübt, lautet die erste Frage: „Oh, tatsächlich? Haben 135
Sie schon mal was veröffentlicht?“ Und wenn er ihnen sagt, daß er über dreißig Romane auf den Markt gebracht hat, lautet die nächste: „Oh, tatsächlich? Unter welchem Namen schreiben Sie denn?“ Aber das Gefühl der Verlorenheit ist nichts Neues für ihn. Malzberg sagt, daß er sich immer so gefühlt hat („Dieses Ge fühl scheint etwas zu sein, das nicht nur die SF-Autoren, son dern auch alle anderen Schriftsteller miteinander teilen“). Eben so wie Depressionen ein fortwährender Bestandteil seines Le bens sind. Wenn sich dies allzu keck anhören sollte, liegt es daran, daß man angesichts allzu vielen Schmerzes nichts anderes als Gal genhumor entwickeln kann. Und das ist etwas, wobei Barry Malzberg keine Schwierigkeiten hat. Wenn man eine dermaßen außergewöhnliche Karriere hinter sich hat wie er, kann man davon ausgehen, daß sie eine einzige Abfolge von Enttäu schungen, Frustrationen und Bitterkeiten mit sich brachte. Vor meinem Besuch hat sich Barry N. Malzberg stets gewei gert, jemandem ein Interview zu geben. Trotzdem empfand ich ihn als zugänglich, und seine Antworten erwecken zusammen genommen rasch den Eindruck, als sei er ein routinierter und auf alles vorbereiteter Talkshow-Gast. Was er sagt, kommt so flüssig über seine Lippen, daß ich es ohne große Unterbrechun gen oder Zwischenfragen präsentieren will: „Ich wollte den Nobelpreis bekommen und als der größte le bende Schriftsteller Amerikas gefeiert werden. Das will ich immer noch.“ (Er lacht, sich selbst nicht ganz ernst nehmend.) „Ich hatte großartige Ziele, sehr große, von Anfang an. Ich habe mir die ganze Sache auf dem Papier zurechtgelegt; ich wollte eine Riesenkarriere als amerikanischer Romancier machen. Mein erstes Vorbild war Mailer, kurz darauf löste ihn dann Philip Roth ab, den ich zwar nicht für einen erstklassigen Schriftsteller halte, aber er hat die Karriere gemacht, die ich 136
auch gerne gemacht hätte. Ich wollte brillante Kurzgeschichten – natürlich in den richtigen Zeitschriften – veröffentlichen, mit sechsundzwanzig den National Book Award kassieren und vor meinem dreißigsten Geburtstag alle Kritiker vor mir auf den Knien liegen sehen. Das war die Karriere, die ich für mich ge plant hatte. Natürlich wurde da nichts draus. Mir ist klar, daß ich mich selbst einfach zu hart kritisiere. Schon ziemlich früh im Leben, als ich etwa achtzehn oder neunzehn war, hatte ich schon den Standpunkt, daß ich durch fallen würde. Ich habe nie den Eindruck gehabt, so gut zu sein, wie ich sein müßte, um meinen Zielen nahezukommen. Mir ist aber schon immer klar gewesen, daß ich Schriftsteller werden wollte. Das wußte ich schon, als ich mir die Fähigkeit des Lesens aneignete. Damals war ich etwa sieben. Ich wollte nicht für Geld schreiben; ich wollte einfach deswegen ein Schriftsteller sein, weil das die einzige Möglichkeit darstellte, mit meinen Erfahrungen fertigzuwerden und sie auszuwerten. Meine erste Kurzgeschichte schrieb ich in der zweiten Klasse. Von 1956 bis 1960 besuchte ich die Syracuse University, ver brachte sechs Monate bei der Armee und arbeitete zweieinhalb Jahre beim New Yorker Sozialamt. Als ich erst einmal in die akademische Umgebung vorgedrungen war, in der man schrieb, wurde ich ziemlich schnell bekannt. Ich war einfach schneller und besser als jeder andere. Das hat mir aber keinen Spaß ge macht, denn es war keine große Kunst, besser als die anderen zu sein, ganz abgesehen davon, daß sich meine Sachen nicht verkauften. Ich schrieb sieben Einakter und einen Dreiakter für die Bühne, aber nichts davon ist je produziert worden. Ich schrieb ein paar Gedichte, manche davon waren gar nicht übel; aber auch sie wurden nie veröffentlicht. Ich habe sie dann halb herzig an die kleinen Magazine geschickt, die keine Honorare zahlen, und dabei war ich sogar noch in diesem Stadium der Meinung, dort gar nichts verloren zu haben. Niemand hat sie 137
gelesen; Geld haben sie auch keins eingebracht, was soll ich mich also aufregen. Ich wurde Science Fiction-Autor, weil ich in meinen Versu chen, die Anerkennung der literarischen Welt zu erringen, ver sagte. Ich gab das bestbezahlteste Literaturstipendium auf, das das Land zu vergeben hat – das Cornelia Award-Stipendium für kreatives Schreiben –, weil man mich nicht anerkannte. Das war 1965. Ich schrieb damals literarische Kurzgeschichten und ertrank förmlich in den Ablehnungsbescheiden. Im Oktober oder November dieses Jahres las ich dann in dem Magazin Galaxy Norman Kagans Erzählung Laugh Along with Franz. Es war ein brillantes, lebenssprühendes Stückchen Science Fiction, wenn man davon absieht, daß es gar keine Science Fiction-Story war. Es war eine seriöse, kraftvolle Kurzgeschichte von einem jungen amerikanischen Schriftstel ler. Als ich sie las, schüttelte ich den Kopf und sagte mir zyni scherweise, wenn dieser Hundesohn mit einer solchen Ge schichte im kommerziellen Science Fiction-Genre unterkommt, dann habe ich doch noch eine Zukunft, weil ich das gleiche nämlich auch – und zwar auf der Stelle – tun kann. In ein paar Jahren kann ich es sogar besser, man muß nur halt ein wenig üben. Wenn er damit unterkommt, kann ich das auch. Und in diesem Augenblick wurde mir klar, und zwar sehr klar, daß ich in der Lage war, Science Fiction an den Mann zu bringen. Aus purem Zufall heraus hatte ich eine Anstellung in der Literatur-Agentur von Scott Meredith bekommen, die mir neunzig Dollar in der Woche einbrachte. Ich sammelte Erfahrungen auf dem kommerziellen Markt, studierte ein Jahr lang, was die Science Fiction-Verleger suchten und fing dann an, für sie zu schreiben. Ich arbeitete damals mit dem zwiespältigen Gefühl in der Brust, gleichzeitig literarische Ziele zu verfolgen und Geld zu machen. Ich war ziemlich erfolgreich. Ich habe mich nahezu überschlagen. Zwischen 1968 und 1975 hatte ich, was 138
die Menge meiner Veröffentlichungen angeht, eine Karriere wie kein zweiter. Natürlich gibt es Autoren, die mehr geschrieben haben und besser waren, aber keiner hat in einem solch kurzen Zeitraum soviel auf den Markt geworfen wie ich. Ich habe in diesen sieben Jahren fünfundzwanzig Romane und zweihundert Kurzgeschichten geschrieben. Philip Dick ist mir mit seinen vierzig oder fünfzig Romanen und hundert Kurzgeschichten voraus. Silverberg ist mir voraus. Aber ich glaube nicht, daß einer von diesen Burschen soviel in sieben Jahre hineingestopft hat. Tatsächlich gleichen sich die Karrieren von Silverberg und mir; sie waren einander sehr ähn lich. Was Phil angeht, so schätze ich ihn noch mehr als mich. Daß jemand über eine so lange Zeitperiode hinweg soviel Fleiß, Zielgenauigkeit und Kraft in seine Arbeit steckt, ist kaum zu fassen. Er macht das jetzt schon seit zwanzig Jahren. Im April 1976 gab ich das Ende meiner Beziehung zur Science Fiction bekannt. Seitdem habe ich einige Sachen au ßerhalb des Genres gemacht; Dinge, die nach den Kriterien, die andere Leute ansetzen, möglicherweise als ausreichend be zeichnet werden können. Ich habe zusammen mit Bill Pronzini drei kommerzielle Kriminalromane geschrieben. Ich habe unter dem Pseudonym Lee W. Mason auch ein Buch mit dem Titel Lady of a Thousand Sorrows verfaßt; in Ichform. Die Geschichte wird von einer Figur erzählt, die bewußt Jacqueline Kennedy nachgezeichnet ist. Sie hat mich jahrelang beschäftigt. Ich habe sie mit einem ziemlichen Anspruch zu Papier gebracht, und sie kam bei Playboy Press als Taschenbuch-Originalausgabe her aus. Man hat das Buch im wahrsten Sinne des Wortes ins Spül klosett geworfen. Vielen Dank dafür, Playboy Press. Und letzt lich habe ich meine Novelle Chorale für den Verlag Doubleday zu einem Roman ausgeweitet. Auch dort ist man mit meinem Text nicht zimperlich umgesprungen. Außerdem habe ich natür lich fortgesetzt Kurzgeschichten verfaßt: fünfzehn für das 139
Hitchcock-Magazin, drei für das von Ellery Queen, und etwa zwölf SF-Stories. Gemessen an den Standards, die ich mir selbst gesetzt habe – 1973 habe ich beispielsweise sechzehn Romane, dreißig Kurzgeschichten und ein Gedicht geschrieben – ist mein gegenwärtiger Ausstoß wohl nicht sonderlich groß. Als ich jung war, empfand ich das Schreiben als Therapie. Erst etwa zu meinem einunddreißigsten Geburtstag diente es mir kurzfristig als Akt der Befreiung. Es war entspannend, ich hatte es unter Kontrolle und benutzte es als Ausdrucksmittel. Erst relativ spät in meinem Leben, ungefähr als ich fünfund dreißig wurde, bekam ich den Eindruck, daß das Schreiben mich tatsächlich davon ablenkte, mich mit den neurotischen, miesen und verdrängenden Aspekten meiner Persönlichkeit zu befassen. An diesem Punkt wurde ich sehr unglücklich. Die Leute, die Schriftsteller werden wollen, neigen dazu, diesen Beruf auszuüben, weil sie etwas kompensieren wollen. Der größte Teil jener Leute, die Geschichten erzählen wollen, wollen dies, um die Rückschläge und Ungereimtheiten, die in ihrem wirklichen Leben anfallen, zu verdrängen. Das ist schon in Ordnung, aber irgendwann fiel mir dann auf, daß es für einen erwachsenen Menschen nicht gerade positiv zu werten ist, wenn die Kompensation zu einer Lebenseinstellung wird. Das Schreiben gibt mir nichts mehr. Natürlich sagen das viele Schriftsteller und fügen anschließend hinzu: Aber geschrieben zu haben, kommt einer Ekstase gleich. Vor fünf Jahren hätte ich das auch noch behauptet, aber heute kann ich dazu nicht mehr stehen. Es gibt mir überhaupt nichts, meine Bücher gedruckt zu se hen. Absolut gar nichts. Ich stelle sie ins Regal und sammle sie. Ich bin ein ziemlich besessener Sammler meiner eigenen Arbei ten. Sie sind alles, was ich habe, dieses Strandgut von den Ge staden meiner selbst. Ich will meine Arbeiten um mich haben und sie zur Schau stellen; was möglicherweise ein symbolischer 140
Aspekt der Tatsache ist, daß ich dem Schriftstellerdasein noch immer verbunden bin. Aber das ist im Grunde genommen alles. Das und das Geld. Ich ziehe keine Befriedigung daraus, daß meine Bücher wieder neu aufgelegt werden.“ An dieser Stelle machen wir eine Pause. Ich wage kaum, eine weitere Frage zu stellen; alles was ich sage, scheint wieder zu dieser beständigen Litanei des Kummers zurückzuführen. Ich sitze neben Barry Malzberg auf einer Couch in seinem gut ein gerichteten und eingewohnten Wohnzimmer. Er hat mit einer tiefen Stimme gesprochen, einen gleichzeitig schüchternen und selbstbewußten Eindruck gemacht, scheint aber die Absicht zu haben, alles in seiner Gänze auszusprechen und im übertragenen Sinne mit grimmiger Befriedigung bereit zu sein, die Nägel in seinen eigenen literarischen Sarg zu schlagen. Er hat nur hin und wieder angehalten, um sein Glas mit Wodka und Eis nachzufüllen. Joyce, seine Frau, sitzt uns schweigend in einem Sessel ge genüber und hört zu. Jetzt wendet er sich an sie: „Wie gebe ich mich, Joyce? Bin ich zu offen?“ Sie lächelt. „Ein Lacher hier und da könnte nicht schaden.“ „Vielleicht kommen die lustigen Sachen nachher“, wende ich ein. „Oh, nein“, erwidert Barry förmlich. „Nein, das was ich bis her gesagt habe, waren die lustigen Sachen.“ Joyce wendet sich mir zu. „Wenn Sie sich beim Hereinkom men noch nicht miserabel gefühlt haben, warten Sie nur ab, bis Sie wieder gehen.“ Ich habe den Eindruck, daß Malzbergs verzweifelter Zustand für sie etwas Alltägliches darstellt, wie die Zunahme der Luft verschmutzung oder der Grundsteuern. Dagegen kann man nichts machen. Also lernt man, damit zu leben. Ich versuche es auf eine andere Weise und frage ihn, mit welchen von seinen Romanen und Erzählungen er am zufrie densten ist. 141
„Die beste Kurzgeschichte, die ich in meinem Leben je ge schrieben habe – ohne daß sie irgend jemandem aufgefallen wäre – ist Uncoupling, die in Roger Elwoods Anthologie Dysto pian Visions und meiner Sammlung The Best of Barry N. Malz berg erschienen ist. Sie ist etwa von vier Leuten gelesen wor den, schätze ich. Ich habe sie am 14. Januar 1973, an einem Samstagabend zwischen 20.15 Uhr und 20.50 Uhr geschrieben, während Joyce sich für eine Party zurechtmachte. Viertausend zweihundert Worte in fünfunddreißig Minuten – und näher habe ich mich seit meinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr an die Freude des Schreibens herangeschrieben. Ich habe sie nicht einmal nachgelesen, das tue ich bei meinen Kurzgeschichten nie. Ich adressierte einen Umschlag, wir gingen einen Block weit zu Fuß, damit ich das Manuskript einwerfen konnte, und dann machten wir uns auf zu der Party. Erst zweieinhalb Jahre später, als die Geschichte gedruckt wurde, habe ich sie gelesen. Und dann sagte ich mir: Jungejunge, das ist sensationell! Unter meinen Romanen heißt mein Favorit Underlay. Avon Books hat ihn gekauft; sie konnten ihn aber nicht als Science Fiction auf den Markt bringen, weil er damit nichts zu tun hat. Aber da es keine Zielgruppe für literarische Romane von Science Fiction-Autoren gibt, wußten sie überhaupt nicht, was sie damit anfangen sollten. Die Druckauflage wurde auf 15 000 Exempla re festgesetzt, aber noch bevor die Rechte wieder an mich zu rückfielen, ersah ich aus den Tantiemenabrechnungen, daß von dem Buch nur 3500 Exemplare weggegangen waren. Underlay, von dem ich glaubte, es sei das beste Buch, das ich je geschrie ben habe – oder das beste, das ich je würde schreiben können – erhielt nur eine einzige Rezension, und zwar im Sommer 1975, wo es innerhalb einer Sammelbesprechung mit vierzig oder fünfzig weiteren Titeln behandelt wurde. Man war der Mei nung, das Buch zeige eine „bemerkenswerte Energie und Ta lent“ für ein Taschenbuch und deute an, wie durchschlagend die 142
Techniken des literarischen Romans geworden seien. Malzberg, ein gewöhnlicher Taschenbuch-Fließbandschreiber, zeige eine überraschende Beherrschung und Unerschrockenheit. Das war die einzige Rezension, die Underlay je bekam. Inzwischen sind die Rechte an mich zurückgefallen, aber ich kann es jetzt nicht mehr an einen anderen Verlag verkaufen; es wirkt auf mich wie ein schlapper, hängender Penis, der bräunlichen Samen ver spritzt. Ist das in Ordnung, kann man das so bringen? Ich bin ein wenig berüchtigt für meine bildhaften Vergleiche.“ Underlay war ein Roman, der Charme und sanftes Komödi antentum ausstrahlte, aber viele von Malzbergs anderen Bü chern hat man als grimmig und niederdrückend kritisiert (die gleichen Vorwürfe hat man auch gegen die Werke Thomas M. Dischs erhoben). Wie reagiert Malzberg selbst auf den oft erhobenen Vorwurf, ein pessimistischer Schreiber zu sein? „Zuerst freute es mich, daß man mich überhaupt zur Kenntnis nahm. Dann kam die Enttäuschung, und schließlich Wut und Ver achtung. Man versteht meine Bücher nicht. Man versteht über haupt nicht, was ich zu tun versuche. Ich halte mich persönlich nicht für einen pessimistischen Schreiber. In den Büchern von Poul Anderson und Christopher Anvil steckt viel, viel mehr Fin sternis. Zu allererst habe ich alles viel komischer gesehen, das ist wirklich wahr. Aber niemand kann mit dieser Präzision und Lei denschaft über alles schreiben, ohne dabei das Leben wieder zugeben, wie es ist. Das ist meine feste Überzeugung. Deswegen halte ich J. G. Ballards Bücher Crash und Liebe & Napalm = Ex port USA auch nicht für den Tod, sondern für das Leben. Wer die Fähigkeit besitzt, in derartiger Ausgeglichenheit und Schönheit zu schreiben und sich dabei unter Kontrolle zu halten, ist ehrlich und optimistisch. Ich bin nicht so gut wie Ballard; ich würde mir beim Teufel wünschen, ich wäre es. Aber ich weiß genau, was der Mann wollte, und genau das hätte ich auch gern getan.“ 143
Ich frage ihn, ob er sich vorstellen kann, eine andere Karriere – eine solche, die nichts mit dem Schreiben zu tun hat – gemacht zu haben. „Ich wäre gerne der erste Geiger in einem Symphonieorche ster. Ich wünsche mir, ein Geiger zu sein, der so gut spielt. Wenn ich das könnte, würde ich mich nicht von all den anderen Musikern unterscheiden, die unendlich besser sind als ich und trotzdem keine Arbeit finden. Ich glaube, der Beruf eines Geigers würde mich zufriedener machen als der eines Schriftstellers. Es würde meiner Seele mehr Frieden geben.“ Und wie wäre es, Herausgeber zu sein? In den sechziger Jah ren hat Malzberg kurz die Redaktion der Science FictionMagazine Amazing und Fantastic innegehabt. „Ich habe mich nie für einen besonders guten oder erinne rungswürdigen Herausgeber gehalten. Ich brachte lediglich die Fähigkeiten mit, die ich für die Minimalforderungen hielt, die ein Herausgeber haben muß: Gutes von Schlechtem unterschei den zu können. Das klingt nicht nach besonders viel, nicht wahr? Aber von den heutigen Herausgebern scheint kaum einer diese Voraussetzungen zu erfüllen. Wenn ich ein Mensch ohne besondere Fähigkeiten wäre, der keinen bestimmten Ruf mit sich herumschleppt, könnte ich mit Leichtigkeit einen solchen Job bekommen. Aber ich bin nun einmal das genaue Gegenteil von einem Niemand. Ich glaube, der gegenwärtige Zustand der Verlagsindustrie ist verdorbener und korrupter als je zuvor. Die Szene ist mo mentan wirklich in einem üblen Zustand. Aber das habe ich ihr ja immer vorausgesagt. Schon im Alter von zwölf Jahren habe ich den größten Teil der Science Fiction für schlecht gehalten. Egal auf welcher Ebene: Sie war schlecht geschrieben, phanta sielos und unsäglich dumm.“ Ich merke an, daß diese Aussage so klingt, als erfülle sie ihn 144
mit einer gewissen Befriedigung; als sei Malzberg auf irgendeine seltsame Weise erfreut darüber, daß das Leben die schlimmsten Erwartungen erfüllt. „Es gibt da eine amerikanische Redensart: Shit-kicking (Scheiße treten). Das tut man, wenn man einen Oscar verliehen bekommt und darauf mit den Worten reagiert: ‚Oh, Mann, ich soll einen Oscar für meine Schauspielerei bekommen? Ich kann nicht mal ein englisches Wort richtig aussprechen! Wären mei ne Mutter, der Regisseur und der Drehbuchautor nicht gewesen, könnte ich mich glücklich schätzen, in einer Frittenbude zu ar beiten!’ Das ist ‚Scheiße treten’, okay? Und es ist möglicher weise auch Shit-kicking, wenn ich sage ‚Meine Arbeit bedeutet mir überhaupt nichts; und jetzt sag mir, sag mir, daß das nicht schlimm ist!“ Aber ich bin wirklich dieser Ansicht. Es ist keine Pose. Ich glaube, sie ist wirklich ohne Bedeutung, und meine Karriere in der Science Fiction ist bestenfalls ein Irrtum, aber noch eher eine Tragödie. Aber müßte ich alles noch einmal machen, gäbe es keinen Unterschied. Ich würde den gleichen Weg gehen, um meine Erfahrungen zu machen. Ich würde alles noch einmal tun und zu den gleichen Schlüssen kommen. In gewisser Weise ist das befriedigend, weil ich so nie das Gefühl habe, etwas ver schenkt zu haben. Ich werde niemals nächtelang wachliegen und mich fragen, was aus mir hätte werden können, wenn … Oder: Hätte ich Schriftsteller werden können? Ich bin die beste Version dessen geworden, was ich hätte werden können.“ Nach dem Interview laden mich die Malzbergs zum Essen ein. Es gibt gegrillte Hähnchen (also das ißt man in den Vorstädten!). Dann schlägt Barry vor, daß ich mich ans Piano setze und er mich auf der Geige begleitet. Während seine Vorliebe der klassi schen Musik gilt, bin ich auf Blues und Rock abonniert; seine Geigenklänge hinken meinem Tastengeklimper mehr oder we niger hinterher. Es kommt nichts besonderes dabei heraus. 145
Aber sein Hunger in bezug auf Nervenkitzel ist frisch wie immer; er besteht auf einem Schachspiel, bei dem sich heraus stellt, daß wir beide mit der gleichen aggressiven Tollkühnheit und fehlerhaften Strategie spielen. Wir schießen sogar die glei chen Böcke. Ich gewinne mit Glück und aufgrund seiner Fehler. Sofort besteht er auf einem Revanchespiel, und auch dies zie hen wir durch: in grimmiger, angespannter Stille, die nur hier und da von einem plötzlichen Aufschrei der Nervosität oder Verzweiflung durchbrochen wird. Schließlich tue ich so, als würde ich einen Fehler begehen, der mich eine Figur kostet. Siegestrunken schlägt Malzberg zu, doch dann fällt ihm – zu spät! – auf, daß ich ihn mit dem nächsten Zug mattsetzen kann. „Reingelegt!“ schreit er und springt auf. „Sie haben mich dran gekriegt! Und ich bin darauf reingefallen! Wie ein depperter Stümper!“ Er packt seinen umgefallenen König, nimmt ihn vom Spielbrett und wirft ihn quer durch das Zimmer. Dann mar schiert er von der Eßecke in das Wohnzimmer, kommt wieder zurück und verstreut überall Schachfiguren. Er ist ziemlich groß und hat erstaunlich lange Arme und Beine; mir bleibt nichts anderes übrig, als vor seinen wirbelnden Gliedmaßen und den herumfliegenden Schachfiguren Deckung zu suchen. Ich entschuldige mich dafür, ihn mit einem Trick hereinge legt zu haben. „Nein, nein! Es war alles rechtens! Sie haben den Sieg verdient! Ich war ein Tölpel!“ Und er stöhnt auf und läßt sich neben dem Kamin in einen Sessel sinken. Später, bevor ich wieder gehe, zeigt er mir sein Arbeitszim mer. Es ist ein kleiner Raum, der an das Wohnzimmer angrenzt und nicht einmal über einen Schreibtisch verfügt. Die Schreib maschine, die Malzberg benutzt, ist eine tragbare Smith-Corona Electric – eine von den billigen Maschinen in schreiend bunten Farben, die Studenten und Heimarbeiter benutzen. „Mir gefällt sie, weil sie unverwüstlich ist“, sagt er. „Wenn der Wagen zu rückschwingt, fängt die ganze Maschine an zu tanzen, und dann 146
muß man sie wieder gerade hinstellen.“ Er wirft der Schreibma schine einen finsteren Blick zu, und seine Gesten erwecken den Eindruck, als betreibe er mit ihr eine Art Schattenboxen. Ein paar Wochen später begegne ich Mr. und Mrs. Malzberg auf einer Party in Manhattan. Wir gehen zusammen hinaus und begeben uns auf die Straße. Malzberg zieht die Autoschlüssel aus der Tasche und öffnet die Tür eines neuen, blaßblauen, völlig anonym wirkenden Mittelklassefahrzeugs vom Typ Chevrolet Impala. „Mein Gott, was ist aus Ihrem Cadillac Coup-de-Ville ge worden?“ frage ich. „Ich mußte ihn verkaufen. Er fiel schon auseinander.“ „In diesem Wagen hier kann man außerdem mehr Leute be fördern“, sagt seine Gattin hoffnungsvoll. „Es ist ein schreckliches Fahrzeug.“ Malzberg beäugt es hin terlistig. „Es erzeugt ein Geräusch, als säße eine Heuschrecke in der Maschine.“ „Aber in meinem Porträt wollte ich ausdrücklich auf den Ca dillac hinweisen, der in ihrer Garage steht“, protestiere ich. „Schließlich ist das ein Teil Ihres Images.“ „Gut! Ausgezeichnet! Dann können Sie ja jetzt ein Postskrip tum anfügen und den Leuten erklären, wieso ich ihn verkaufen und mir dafür diesen zulegen mußte.“ Und er wirft dem Che vrolet den gleichen manisch-faszinierten Blick zu wie seiner Schreibmaschine. Vielleicht ist es nur meine Phantasie, aber ich sehe ihn in diesem Moment als einen Menschen, der seinen Wagen mustert, in ihm einen neuen Gegner erblickt – und fest stellt, schon wieder von jemandem besiegt worden und mit flat ternden Fahnen untergegangen zu sein. Teaneck/New York, im Mai 1979
147
Bibliographische Anmerkungen Barry Malzbergs früheste Arbeiten erschienen unter dem Pseu donym K. M. O’Donnell. Die aus dieser Periode stammenden Kurzgeschichten wurden gesammelt in den Bänden Final War and Other Fantasies (1969) und In the Pocket and Other Science Fiction Stories (1971). Unter dem Namen O’Donnell schrieb er auch Gather in the Hall of the Planets (1971), eine auf akkurat wiedergegebenen Beobachtungen fußende Komödie, die vor dem Hintergrund eines SF-Kongresses spielt. Als er in den siebziger Jahren unter seinem eigenen Namen zu schreiben begann, wurde Malzberg mit dem Roman Das Venus-Trauma (1972; dt. 1975) bekannt. Dieses Buch war ein innovativer und ironischer Kommentar auf die amerikanische Weltraumfahrt und erhielt den John W. Campbell Memorial Award. Was Malzbergs späteren SF-Ausstoß angeht, so ist Overlay (1972) bemerkenswert aufgrund seines absurden Wechselspiels zwischen Außerirdischen und einem Charakter, der ihnen nachspürt. Das Buch hat Bezüge zu Underlay, einer Komödie, die mit der Science Fiction nichts zu tun hat, sondern in der Tradition Damon Runyons geschrieben wurde. In Herovits Welt (1973; dt. 1977) dramatisiert Malzberg die Antipathie und Entfremdung, die er gegenüber der kommerziellen Verlagsin dustrie in seiner Rolle als Science Fiction-Autor verspürt.
148
Edward Bryant Edward Bryant ist wegen der Nebula-Award-Zeremonie von seinem Wohnsitz in Denver nach New York City gekommen. Was ist ein Nebula? Ein durchscheinender Plastikblock mit ei nem eingegossenen Spiralnebel aus Silberstaub. Wer vergibt den Preis? Die Science Fiction Writers of America, eine profes sionelle Schriftstellervereinigung, die alljährlich eine Wahl der besten Science Fiction in mehreren Kategorien durchführt. Und diesmal war Bryant an der Reihe, mit Stone, die den Preis als beste Kurzgeschichte des Jahres erhielt. Natürlich freut er sich über seinen Sieg, und doch … Was ist mit den elf langen Jahren, in denen er Stories ge schrieben hat, nie genug Stories, und überhaupt keine Romane, abgesehen von einem Fehlversuch, den er noch nicht einmal an die Verlage geschickt hat? Was ist mit den nächsten Jahren, und den Stories, an denen er arbeiten sollte (es aber nicht tut) und dem ganzen Problem des Produzierens? Er vertröstet sich mit
149
der Bemerkung, daß viele Schriftsteller erst mit etwa fünfzig Jahren auf der Höhe ihrer Schaffenskraft stehen und er, gerade Mitte dreißig, also noch etwas Zeit hat. Aber dieser Trost ist hohl. Er weiß, was er tun sollte, und doch hat er es noch nicht getan. Er ist anerkannt als sehr talentierter Schriftsteller einer neuen Generation, der gute Arbeiten produziert, doch das ist nicht genug. So zynisch, wie er sich gibt, und so zurückhaltend, wie er ist, macht er sich Gedanken und Sorgen und ist sein ei gener Feind. Er entstammt einer nach-freudschen Generation, deren Selbstanalyse ehrlich und intelligent ist, aber kaum von Nutzen bei der Lösung des Problems, das sie bloßgelegt hat. Noch schlimmer: diese Analyse ist selbst Teil des Problems. Man kann sich dermaßen tief analysieren, daß keine Zeit mehr bleibt, etwas Produktives zu leisten. Und dieses Problem kann man wiederum analysieren. Inzwischen sind einige Geschichten mit gleichem Hinter grund, die Edward Bryant produziert hat, in seinem Buch Cin nabar gesammelt, und andere in einer umfangreichen neuen Sammlung. In zwei oder drei Jahren gelingt es ihm vielleicht, bei der Masse der Science-Fiction-Leser bekannter zu werden; bislang ist er nur in der SF-Szene selbst und unter KomplettSammlern bekannt. Seine Situation, seine Auffassung und sein Talent sind als Gegenstück zu den Erfolgen und Methoden der älteren Schrei ber, denen die doppelschneidige Waffe der analytischen Selbst prüfung niemals zur Verfügung gestanden hat, von Belang. Bryant hat einen Schnurrbart, ist schlank und trägt das Haar lang bis auf die Schultern. In den sechziger Jahren hätte man seine Erscheinung als radikale politische Aussage aufgefaßt; heutzutage wirkt sie irgendwie anonym und sogar respektabel (das lange Haar und der Bart sind sauber geschnitten). Er ist keine ausdrucksvolle Person; sein Gesicht zeigt selten eine Re 150
gung, und er besitzt ein gewisses intellektuelles Flair. Bis zu einem gewissen Grade ist dieser Eindruck jedoch irreführend. Das Interview findet statt in meinem Apartment in New York, und er sagt am Anfang: „Mein Vater hatte eine romantische Vorstellung von unserer Familie als Viehzüchter. So zogen wir in den Süden Wyomings, als ich sechs Monate alt war, und lebten ohne Elektrizität oder die anderen Vorzüge der Zivilisation; das alles erweckt den An schein eines Abraham-Lincoln-Klischees. In den ersten dreiein halb Jahren mußte ich einen Kilometer zur einklassigen Dorf schule laufen. Ich war ein emotionell verkümmertes Kind. Eine Menge Zeit verbrachte ich mit Lesen. Als ich etwa acht war, fand ich im Schuppen der Ranch meiner Eltern zwei Taschenbücher: Mandingo und Donovans Gehirn von Curt Siodmak. Ich ent schied mich für das letztere, und ich glaube, mein Schreiben wurde durch diese Wahl beeinflußt. Hätte ich statt dessen Mandingo gelesen, würde ich inzwischen wohl ziemlich wohl habend sein, weil ich jede Menge Sklaven-Unterdrückungs romane mit Peitschen und Ketten geschrieben hätte. Aber ich las den Science Fiction-Roman.“ Sein erster Verkauf war eine Geschichte für Again, Dange rous Visions, der Anthologie neuer Literatur, die von Harlan Ellison herausgegeben wurde. Ellison „entdeckte“ Bryant in einem der Clarion-Workshops, Schreibschulen für angehende Science Fiction-Autoren, aus denen in den letzten Jahren meh rere neue Autoren hervorgegangen sind. Bryant kommentiert gelangweilt: „Jawohl, ich bin ein Clarionit. Elf kurze Jahre von Clarion bis zum Nebula. Noch so eine Karriere über Nacht. Herr im Himmel! Von 1968 bis Mitte der siebziger Jahre war ich ein recht fruchtbarer Schriftsteller. Aber dann brachte ich drei oder vier Jahre lang im Schnitt nur drei Kurzgeschichten pro Jahr zustande. Aber ich habe es irgendwie geschafft, mich 151
von einem Acht-Stunden-Job außerhalb der Schreiberei fernzu halten; es liegt etwas Symbolisches darin, einfach die Sachen hinzuschmeißen und Hamburger in einem McDonald-Laden zu verkaufen. Also nahm ich, was so kam: In den letzten Jahren arbeitete ich oft in den Schriftstellerschulen der verschiedensten Kunstakademien, kam herum in Orten wie Austin, Nevada, Einwohnerzahl 400, blieb dort einen Tag oder zwei Wochen und übernahm Klassen, brachte den Leuten bei, niemals Schriftsteller zu werden, weil es ihnen überhaupt nichts ein bringen würde, und entmutigte sie, so gut ich nur konnte. Ich bekam diese Lehramt-Stellen hauptsächlich durch Mund propaganda. Es fing damit an, daß mich auf einem Science Fic tion-Con ein Lehrer, der Englisch am Junior College lehrte, an sprach: ‚Würden Sie nicht mal vor meiner Klasse sprechen wol len? Ich zahle Ihnen fünfzig Dollar und ein Mittagessen.’ Das klang ganz gut für mich. Es klingt immer noch ganz gut für mich. Also willigte ich ein, und dieser Mann schlug mich einem weiteren Lehrer vor, und so fort. Jeder Staat verfügt im Prinzip über eine Kunstakademie, und man kann einfach hinschreiben und um ein Bewerbungsformu lar bitten. Man braucht nicht viel Beglaubigungsschreiben, um akzeptiert zu werden, und enthält in der Regel ein Entgelt von fünfzig bis einhundert Dollar pro Tag, plus Spesen. Natürlich ist das eine windige Sache, und man muß ziemlich viel umher reisen, und nach den Kursen bleibt einem unter dem Strich nicht viel übrig. Aber so habe ich die Sicherheit, im Monat im mer 400 oder 500 Dollar einzunehmen und damit die Miete be zahlen und meine Konten bei Visa und Master Charge ausglei chen zu können. Einmal lebte ich monatelang von Lebensmitteln, die ich mir auf die Master Charge-Kreditkarte in einem Laden in Denver kaufte. Man kann natürlich nicht endlos überziehen, und lang sam war das Ende meiner Kreditwürdigkeit in Sicht; aber meine 152
Master Charge- und Visa-Kreditkarten stammten von zwei ver schiedenen Banken, und jede fragte plötzlich an, ob ich interes siert sei, auch die andere Karte zu erwerben. Jetzt verfüge ich also über zwei Master Charge-Karten. Ein gewaltiges finanziel les Desaster ist fast schon vorprogrammiert. Vielleicht sollte ich mir lieber eine zweite Sozialversicherungskarte besorgen … und einen falschen Paß …“ Und was führte zu dieser düsteren Situation? „Nicht zu schreiben, das führte dazu! Nachdem ich 1968 meine erste Geschichte verkauft hatte, für 150 Dollar, was mir damals ziemlich beeindruckend vorkam, schienen Ruhm und weitere Reichtümer am Himmel nur darauf zu warten, von mir abgepflückt zu werden. Ich dachte, wenn ich nur eine Kurzge schichte pro Woche schreibe, habe ich es geschafft, dann brau che ich einen Roman gar nicht erst zu schreiben. Damals schloß ich gerade mein Examen in Englisch ab, eine völlig unnütze Sache. Ich verbrachte den größten Teil des nächsten Jahres mit dem Verfassen von Kurzgeschichten und arbeitete aushilfsweise in der Steigbügelschnallen-Fabrik meines Onkels in Wyoming. Die meisten der Stories waren Science Fiction und Fantasy, und keiner wollte eine davon haben; ich verkaufte eine einzige, und das war eine Gemeinschaftsproduktion. Aber da gibt’s ein Syn drom, das mir andere Autoren erklärt haben und das auch für mich Gültigkeit besitzt: sobald ich 1969 erst damit begann, meine Geschichten regelmäßig zu verkaufen, wurden auch die se alten Fingerübungen akzeptiert, in der Regel ohne jede Über arbeitung. Ich zog nach Kalifornien, und dort begann ich, an Herrenmagazine wie Knight oder Adam zu verkaufen, 200 Dol lar pro Geschichte, doppelt soviel, wie die Science FictionMärkte einbrachten. Damit schlug ich mich wieder für ein Jahr durch – eine Art Beihilfe für junge Schriftsteller. Im Clarion-Shop drängte man uns, Romane zu schreiben, da Kurzgeschichten ein finanzieller cul-de-sac seien. Schließlich 153
schrieb ich 1972 einen College-Roman. Wenn er wirklich gut gemacht ist, schreiben in dieser Romanart normalerweise junge Autoren darüber, was sie gelernt haben, über die Begleiter scheinungen der Erfahrung der Wahrheit über das wirkliche Leben und das Aufwachsen, in der Regel um CollegeErlebnisse angesiedelt. Ich war fest entschlossen, 3000 Worte pro Tag zu schreiben, bis ich den Roman beendet hatte. Ganz egal was kam, ich schrieb 3000 Worte pro Tag. Ich brauchte drei Wochen, aber diesen Roman habe ich keinem einzigen Herausgeber geschickt. Er ist schrecklich. Vier Leute haben ihn gelesen und reagierten darauf in der Emotionsbreite von Ab scheu bis zur bloßen Verachtung. Aber vielleicht kann ich den Roman zur Hälfte ausschlachten und ihn in einen ganz anderen Rahmen einpassen. Es ist der einzige echte Roman, den ich je mals geschrieben habe. Vor drei oder vier Jahren bekam ich von einem Verleger ei nen Vertrag, drei Romane zu verfassen. Damals hielt ich die Idee für großartig, doch sobald ich den Vertrag unterzeichnet hatte, senkten sich die Vorhänge um mich herum. Ich fühlte, wie das Gewicht dreier Bücher an mir zerrte. Ich wurde litera risch impotent; ich habe damit fortgefahren, Kurzgeschichten zu schreiben, aber sehr langsam. Ich bin zornig auf mich selbst. Ich bin durch alle Variationen einer neurotischen Hölle gegangen. Ich zähle die Jahre, in de nen ich keine Bücher geschrieben habe. Ich denke an die Bü cher, die nicht geschrieben worden sind und wahrscheinlich niemals geschrieben werden. Einige davon wären sehr anspre chende Bücher geworden, hätten mir zumindest in meiner Wei terentwicklung geholfen. Und das ist natürlich einer der Wege, wie ich das Schreiben vermeide – diese geistigen, emotionalen Spiele immer wieder durchzuspielen.“ Er meint es mit seinen Ausführungen völlig ernst und spricht doch mit einem ironischen Humor, als amüsiere er sich über 154
seinen eigenen hoffnungslosen Charakterzug und verzweifle gleichzeitig daran. Ich frage ihn, ob er eine Möglichkeit sieht, diese Exzesse der Selbstanalyse zu vermeiden, die eine Barriere für ihn darstellen, mit seiner Arbeit voranzukommen und etwas zu vollenden. „Wenn jemand etwas vollendet, reduziert er die Selbstanaly se auf ein Minimum“, sagt er ironisch, den Spieß umkehrend. „Aber ich glaube nicht, daß diese Analyse jemals endet, außer mit Hilfe gewaltiger Mengen an Drogen oder anderer künstli cher Mittel.“ Ob er eine Vorstellung von der Art Schriftsteller hat, die er gern sein würde? „Wenn es solch ein Rollenmodell gäbe, würde es John Fow les sein. Ein Teil seines Wesens als guter Schriftsteller liegt darin, daß er nicht dazu neigt, seine eigenen Erfolge zu wieder holen. Er ist verhältnismäßig abenteuerlich. Es ist mir nicht entgangen, daß seine neuen Werke regelmäßig das positive Echo der Kritik finden und auch in kommerziellen Begriffen äußerst erfolgreich sind. Ich habe die Wunschvorstellung, in die öffentliche Biblio thek einer Kleinstadt zu gehen und meine Bücher in den Rega len zu finden, alle mit unheimlich viel Entleihstempeln auf dem Buchrücken. Denn ich habe wirklich einmal die Bibliotheken einiger Kleinstädte besucht und Cinnabar in dem Regal be merkt und den Entleihstempeln entnommen, daß das Buch 1977 einmal und 1976, als er erschienen ist, zweimal entliehen wurde und danach nicht mehr.“ Wunschvorstellungen beiseite – trägt er sich mit Ambitionen auf besondere Leistungen? „Ich habe keine großen Pläne in Hinsicht auf besondere lite rarische Leistungen. Der Nebula … auf gewisse Weise war ich erfreut, den Nebula zugesprochen zu bekommen. Ich hatte eine tolle Zeit an dem Abend, der der Preisvergabe folgte, es war 155
sehr vergnüglich, gleichzeitig aber auch niederschlagend. Der Nebula ist ein wunderschöner durchscheinender Kristall, aber er bedeutet nichts Endgültiges für mich, denn für mich sind nur die Stories wichtig, die noch kommen werden. Ich bin mit den Anfängen dreier Geschichten nach New York gefahren, die ich alle vollenden werde. Den Vertrag über die drei Romane haben wir neu gefaßt, so daß meine erste Obliga tion eine große Kurzgeschichtensammlung ist … anstatt einer kleinen Kurzgeschichtensammlung oder einfach einer gewöhn lichen Kurzgeschichtensammlung? Ich glaube, der Unterschied beträgt 100 000 Worte statt 60 000. Und danach kommt ein Roman meiner Wahl. Manchmal denke ich daran, daß ich nur drei Wochen brauch te, um diesen schrecklichen Erstlingsroman zu schreiben, und dann überlege ich, nun, wenn ich mir eine Woche Erholung zwischen den Romanen gönne, könnte ich zwölf Romane im Jahr schreiben. Dann fällt der Rausch von mir ab, und ich weiß genau, wie diese Romane aussehen würden. Und dann gleite ich in eine andere Ebene zurück und sage, ja, aber wenn ich diese zwölf schrecklichen Romane in der ersten Fassung vorliegen hätte, dann könnte ich es mir leisten, sie liegen zu lassen und später zu ihnen zurückzukehren und jeden zu überarbeiten und in ein ausgezeichnetes Stück Literatur zu verwandeln. Und dann sage ich mir wieder, nein, auf keinen Fall, das ist verrückt. Im Endeffekt ist das wohl eine Verzögerungstaktik – ich will nur hinauszögern, die Schreibmaschine abzudecken, das erste Blatt Papier einzuspannen und das erste Wort zu tippen. Es gibt da einen netten Vers: ‚Wenn ich tot bin, soll man über mich sagen: Seine Sünden waren groß – doch seine Bücher gut zu lesen.’ Den kann man gut in einem Schriftsteller-Kursus benutzen. Er amüsiert die Leute und bricht das Eis. Und dann“ (er sagt es mit einer sphinxgesichtigen Müdigkeit) „kann man über erzählerische Kniffe reden.“ 156
Bibliographische Anmerkungen Edward Bryants beste frühe Kurzgeschichten wurden in Among the Dead (1973) gesammelt. Sein Buch Cinnabar (1976) ver sammelt miteinander verbundene Kurzgeschichten, die vor dem gleichen Hintergrund spielen. Eine neue Kurzgeschichtensamm lung, Particle Theory, ist für die Veröffentlichung im Jahre 1981 vorgesehen. Seine einzige andere veröffentlichte Arbeit in Buchform ist Phoenix Without Ashes (1975), die Romanfassung eines Dreh buchs von Harlan Ellison für die amerikanische Fernsehserie The Starlost.
157
Alfred Bester New York, im Sommer 1970: Ich saß in meinem fürchterlichen, viereinhalb Quadratmeter großen Zimmer für dreißig Dollar im Monat, auf meinem Stuhl aus einem Second-Hand-Laden vor einem Tisch, den ich aus dem Sperrmüll gezerrt hatte. Auf der Straße donnerten Sattelschlepper vorbei, Abgaswolken ausspei end. Auf dem Dach des Hauses tanzten puertoricanische Kinder und bearbeiteten ihre Bongotrommeln. Gegenüber plärrten Kaugummischlager aus dem Radio. Aber ich bekam herzlich wenig mit von dieser im Mietspiegel ganz unten stehenden Nachbarschaft, noch nicht einmal etwas von den unerträglichen 42° Hitze. Ich war völlig in die – achte oder neunte – Lektüre von Alfred Besters Die Rache des Kosmonauten vertieft. Als ich das Buch beendet hatte und in die Wirklichkeit zu rückgekehrt war, wünschte ich mir – wie immer –, daß Bester mehr geschrieben hätte. Nur zwei Romane und etwa ein Dut zend Kurzgeschichten in den fünfziger Jahren – eine Handvoll
158
so ungewöhnlicher und exzellenter Texte, daß sie ihm auf Dauer einen Namen in der Science Fiction gesichert haben. Nur weni ge seiner Zeitgenossen besitzen seine Vitalität, und keiner – kein einziger – seine Erneuerungskraft, seinen Intellekt und sa tirischen Witz. Allein Bester experimentierte ungezwungen mit der Typographie (sowohl in seinen Romanen als auch den Kurzgeschichten wie etwa Der Pi-Mann) und kombinierte so gar Handlungsstränge in der ersten, zweiten und dritten Person zu einer Erzählung aus mehreren Blickwinkeln (Geliebtes Fah renheit). Und nur er allein schien unter den Science FictionSchriftstellern seiner Generation wirklich Zugang zu den mo dernen Medien und Künsten, dem Leben der Großstadt und so gar zur Mode zu besitzen. Man spürte geradezu, daß er Kontakte zur Madison Avenue pflegen mußte, daß er ein Weinkenner war und stets modisch-verwegen gekleidet. Es kam mir seltsam vor, daß ein Erneuerer der Science Ficti on von solch immensem Einfluß nie die Beachtung der Kritik fand. Während das Werk eines Heinleins oder Bradburys in Checklisten aufgeführt, in Indexen erfaßt, in Hochschulen be sprochen und bis zur äußersten Langeweile von der Kritik durchgekaut wurde, war mir keine Würdigung der Werke Be sters geläufig, noch konnte ich mir denken, warum er mit dem Schreiben von Science Fiction aufgehört hatte. Ich verspürte den Drang, meine Neugierde zu befriedigen. Ich kannte seinen genauen Wohnsitz zwar nicht, hatte jedoch einmal gehört, daß er in New York City lebte. Ich schlug das Telefonbuch von Manhattan auf, und natürlich war sein Name aufgeführt. Ich zögerte, dann wählte ich die Nummer. Er hob sofort ab, meldete sich vergnügt: „Hi, hier ist Alfie Bester.“ Es war ein seltsamer Moment. Eine entkörperlichte Autoren gestalt war plötzlich Wirklichkeit geworden; ich hätte genauso gut den Weihnachtsmann anrufen können. 159
Ich erzählte ihm, wer ich sei und erwähnte als Entschuldi gung für den Anruf, daß ich irgendwann gern einmal ein Inter view mit ihm für das Magazin New Worlds machen wollte. „Na klar, wann denn? Wie wäre es jetzt sofort?“ Eine spiele rische Herausforderung, ganz im Lebensstil der New Yorker, als wolle er sagen: Meinst du das im Ernst? Hast du das wirk lich vor? Warum zögerst du dann? Was hält dich davon ab? Also machte ich mich auf den Weg zu ihm. Es stellte sich heraus, daß er nicht nur Kontakte zur Madison Avenue pflegte, er wohnte auf der Madison Avenue. Er machte mich betrunken, lieferte einen virtuosen, renaissanceverbundenen Monolog ab, der mit den Vornamen aller möglichen Berühmtheiten gespickt war (angefangen bei „Sir Larry“ Olivier), brachte mir eine ein fache Formel für das Verfassen von Artikeln bei und schickte mich nach Hause. Diese Formel habe ich seitdem für den Groß teil meiner Essays angewandt, einschließlich der Porträts in die sem Buch. Neun Jahre sind seitdem vergangen. Alfie (wie ich ihn nun nenne) ist noch freimütiger geworden, ein wenig exzentrischer, und keine Spur weniger herausfordernd. In der Tat wären seine Charakterzüge und Eigenarten unerträglich, präsentierte er sie nicht mit solch freundlichem, sanften Charme. Wir sollten be denken, daß dieser Mann nicht nur der erste stilistische Erneue rer der Science Fiction war, er hat diese Aufgabe in den fünfzi ger Jahren völlig allein angepackt. Er wurde von keiner Bewe gung oder Anhängerschaft getragen, die ihn in seiner Meinung bestärkte und seine Techniken bewunderte. Er war ein allein auf weiter Flur stehender Radikaler, dessen klassischer Roman De molition zuerst von „jedem Verleger in New York“ abgelehnt wurde, weil er sich von allem anderen, was bis dahin erschienen war, grundlegend unterschied. Man braucht eine Menge Wil lenskraft, um solch eine Karriere durchzustehen. (Als ich ihn 1970 fragte, wie man die Ablehnungen von immer neuen Ver 160
lagen psychologisch verkraften könne, lautete sein Rat: „Mehr trinken!“) Und jetzt, Anfang der achtziger Jahre, scheint er noch immer entschlossen zu sein, seinen Weg als Innovator und Polemiker fortzusetzen. Während sich andere Autoren seiner Generation entweder zur Ruhe gesetzt oder ihr Arbeitstempo drastisch ver langsamt haben, ist Bester mit neuen, hochgesteckten Zielen zur Science Fiction zurückgekehrt. Er weigert sich beharrlich, sich selbst zu wiederholen und experimentiert mit unorthodoxen Methoden, die er freimütig als äußerst riskant bezeichnet. Seine neueste Arbeit ist ein wirklich visueller Roman, der einige Col lagen und Zeichnungen von ihm enthält; und über seinen näch sten Roman sagt er (in alter Unverbesserlichkeit mit Namen um sich werfend): „Er basiert auf dem alten Konzept der anima mundi – der Seele der Welt. In dem Buch ist alles lebendig. Die Möbel, die Bilder, die Menschen, der Stuhl, auf dem man sitzt. Das wird eine ziemlich verrückte Sache. Ich sprach mit Steve King darüber (dem Autor von Shining und anderen Bestsellern) und bombardierte ihn damit. Ich sagte, Steve, das philosophi sche Konzept besagt, daß die Blumen mit uns sprechen, die Möbel, alles besitzt diese Seele der Welt, und wir hören sie nur nicht, weil sie zu langsam oder zu schnell reden, und das kaufe ich schon ab, das ist wunderbar, aber Herr im Himmel, wie soll ich das typographisch machen? Ich habe mich noch immer nicht entschieden.“ Er spricht nachdrücklich und jovial, verfällt oft in den Hip pie-Slang der frühen sechziger Jahre, wie ein Intellektueller aus dem New York dieser Ära, der sich weigert, alt zu werden. Seine Rückkehr zur Science Fiction kam 1974 nach Jahren der Tätig keit für das Magazin Holiday: „Ich war zehn Jahre bei Holiday, und das war genug. Die Curtis-Magazingruppe brach völlig auseinander, die Saturday Evening Post wurde eingestellt, und Holiday wurde von irgendeinem branchenfremden Fabrikanten 161
aus Indianapolis aufgekauft, der ein Vermögen mit der Herstel lung von Plastikschürzen für Hausmädchen verdient hatte. Sie baten mich, nach Indianapolis zu gehen, und ich fuhr hin und sah mich dort um und sagte, kommt nicht in Frage, ich kündige, ich kann nicht mit zweitklassigen Leuten zusammenarbeiten. Das kann ich wirklich nicht. Und diese Leute da waren fünft klassig. Ich kehrte zur Science Fiction zurück, um ein paar neue Ex perimente zu wagen, und mein erstes Experiment war ein Rein fall, wie du weißt. Dieser verdammte Roman (Der Computer und die Unsterblichen). Mit diesem Ding haut etwas einfach nicht hin, etwas Lebenswichtiges, und ich wußte es, als ich es geschrieben hatte und konnte es damals nicht hinbiegen, und bis heute denke ich darüber nach, denn es ist sinnlos, einen Fehler zu machen und ihn nicht einzusehen, damit man ihn nicht wie derholt. Ich habe das aber immer noch nicht heraus, und so kann ich nicht daraus lernen. Das bringt mich auf die Palme. Natürlich hat meine rothaarige alte Dame – und noch ein paar andere Leute – gesagt: ‚Nein nein, das Buch ist viel besser, als du glaubst’, und ich sagte Schönen Dank, aber … ich denke darüber wie von Beethovens Vierter Symphonie … sie kommt zwischen der Dritten und der Fünften. Hoffe ich.“ Bester hat für viele andere Genres und fast jedes Medium ge schrieben, doch er bleibt der Science Fiction mit grundlegender Loyalität verhaftet: „Science Fiction ist heutzutage das einzige literarische Medium, in dem wir noch freie Hand haben. Wir können darin einfach alles anstellen, was uns in den Sinn kommt. Und wir wissen, daß wir eine kreative Leserschaft ha ben, die uns auf unserem Weg begleitet. Wir … sagen wir, wir verblüffen sie nicht mit dem Unerwarteten. Unsere Leser mö gen mit unserem Unerwarteten nicht übereinstimmen, aber sie bleiben nicht wie gelähmt auf der Strecke, während die regel mäßigen Leser von – meinetwegen – Frauenmagazinen oder 162
Liebesromanen absolut verwirrt sind und mit den Ohren schlackern, wenn sie Science Fiction lesen. Sie wissen nichts damit anzufangen.“ Über viele Jahre hinweg war Bester auf andere Hauptein nahmequellen, wie etwa Manuskripte fürs Fernsehen, angewie sen. Science Fiction schreibt er eher zum Spaß als um des Profits willen: „Mir tun die vielen erstklassigen, hervorragenden Autoren leid, die sich ihren Lebensunterhalt allein durch die Science Fiction verdienen müssen und als Folge jede Menge letzten Dreck ausstoßen, weil die Honorare in der Vergangenheit sehr niedrig gewesen sind. Zum Glück war ich nie dazu gezwun gen.“ Die Honorare in der Science Fiction liegen jetzt viel höher; ist er glücklich darüber? „Ja, das ist ausgezeichnet.“ Aber natürlich besticht die Kommerzialisierung der Science Fiction mit den höheren Summen, die vom Verleger angeboten werden, einen Autor noch mehr, allein für das Geld zu schrei ben und zu produzieren, was der Markt im Moment gerade auf nimmt. „Klar ist das der Fall“, meint er fröhlich. Er weigert sich, auf meine Fragestellung einzugehen und weicht aus in die großzü gige Philosophie des laissez-faire: „Ich glaube, daß ein Autor manchmal genau das schreibt, von dem er erwartet, daß der Markt es akzeptiert, und ohne sein Wissen produziert er dabei ein Meisterwerk. Und was das zweitklassige, das kommerzielle Schreiben betrifft – das Schreiben mit der „Leck-mich-am Arsch“-Einstellung –, was ist so schlecht daran? Mein Gott, die Leute, die im Bus ein Buch lesen, wollen nicht überbeansprucht werden, sie mögen nette, gefällige Geschichten, und das sind nette, gefällige Geschichten. Sie sind zufrieden, alle anderen sind zufrieden, was will man mehr?“ 163
Ich halte ihm vor, diese Einstellung sei doch sehr optimi stisch. „Ich fürchte, ich bin ein unverbesserlicher Optimist. Was bleibt mir sonst auch übrig? Weißt du, es ist so einfach, verbit tert zu sein und große Gedanken über Gott und die Welt zu wälzen, aber ich halte das einfach für ein Anzeichen von Fru stration, mehr nicht, und da ich kein besonders frustrierter Zeit genosse bin, genügt es mir, die Leute tun und bleiben zu lassen, was ihnen verdammt noch mal gefällt. Fein, alles in Butter, amüsier’ dich gut.“ Welche Schriftsteller bewundert er am meisten? „Harlan Ellison ist einfach der Größte. Selbst wenn Harlan schludert, mag ich alles, was er produziert, denn er scheut weiß Gott nicht den Weg durch Hölle und Verdammnis, um andere Bahnen einzuschlagen, einen immer wieder zu überraschen. Mit ihm ist’s wie mit Heinlein: Ich sagte einmal zu Heinlein, komm schon, alter Junge, verrat mir mal, wie du schreibst. Und Robert sagte, na gut, ich verrate es dir. Er sagte, es ist so, als würde ein Mann auf der Straße an mir vorbeigehen. Ich strecke den Arm aus, packe ihn am Kragen, zerre ihn in einen Hauseingang und schüttle ihn, bis seine Zähne klappern. Und genau das macht auch Harlan, und ich bewundere ihn außerordentlich. Dann gibt es noch einen hervorragenden Autor namens Bal lard … wie heißt er noch, A. G. E. G. Ballard? Herr im Him mel, der kann schreiben. Mein Gott, er hat einige Geschichten geschrieben, von denen ich wünschte, sie wären von mir. Es gibt da eine mit dem Titel Die Stimmen der Zeit … Mann! Was für ein Stück Literatur! Ich habe absolut keinen Sinn darin ge sehen, aber die Geschichte hat mich verhext, ich stehe voll in ihrem Bann, sie ist großartig. Und Die Kristallwelt ist natürlich ein höllisch guter Roman. Brian Aldiss … brillant … zu brillant. Schon seit Urzeiten streite ich mich mit Brian darüber herum. Brian, sage ich, wenn 164
ich dich die halbe Zeit nicht verstehen kann – und ich kann es nicht – wie zum Teufel kannst du dann von deinen Lesern er warten, daß sie dich verstehen? Aber Brian fährt voll auf diese Brillanz ab. Sein bester Roman ist wohl Am Vorabend der Ewigkeit. Als Bob Mills, der damalige Herausgeber des Maga zine of Fantasy and Science Fiction, das Manuskript erhielt und damit nicht klarkam, rief er mich an und fragte mich, Alfie, soll ich den Roman bringen oder nicht? Ich las das Manuskript und sagte, du bist ein verdammter Narr, wenn du ihn nicht druckst, das ist einer der besten Romane, die je geschrieben wurden. Aber er ist so anders, meinte er. Genau deshalb, erwiderte ich. Einige meiner Zeitgenossen, die mit mir ihre Karriere begannen – ich will keine Namen nennen – haben sich entweder immer und immer wieder wiederholt, was ich für ein Verbrechen halte, oder ihre Energie, ihren Drive verloren. Und einige haben zum Glück überhaupt mit dem Schreiben aufgehört. Und das tut mir leid.“ Etwas verlegen bemerkt er, wohin das Gespräch ihn ge führt hat. „Mist, ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Hat er sich ein wenig von der restlichen Science Fiction ab gesetzt? Paßt er gar nicht wirklich in diese Welt hinein? „Das ist richtig, ich passe da nicht hinein. In Brighton (auf dem Science Fiction Worldcon 1979) kam ich mir schrecklich deplaziert vor und war deswegen ziemlich verlegen. Das ist hart, weil man mir oft Snobismus vorwirft, aber eigentlich hat mich die Unterhaltungsindustrie erst gefärbt – Studios, das Theater, Verlagsbüros, das Magazin Holiday, wo ich ein ver antwortlicher Redakteur war. Und nun kommen mir meine Kol legen – ich nenne keine Namen – wie Zweitsemestler vor, und ihre Scherze (auf dem Weltcon) glichen denen, die ich in mei nem ersten Jahr auf der Uni gemacht habe, und die Fans kamen mir in ihren Verkleidungen und Kostümen natürlich wie große Kinder vor, und so hielt ich mich also für etwas fehl am Platze. Ich höre sie schon wieder reden: Na komm, Alfie, sei kein 165
Snob. Aber in Wahrheit liegt das alles weit hinter mir, und ich kann mich nicht so einfach wieder einleben.“ Er überlegt, und dann, fast schüchtern: „Und so trinke ich zu viel.“ Und lacht. „Bei den wenigen Gelegenheiten, wo ich mich (auf dem Con) mit den Jungs unterhielt, begab ich mich auf eine gleiche Ebene mit ihnen. Ich erzählte ihnen ziemlich belanglose Anek doten, etwa, als Peter Benchley zu mir ins Büro kam, mit einer Sache über Haie, die er in Washington geschrieben hatte, und keiner bei Holiday wollte sie haben. Mir gefiel sie aber, und ich hatte eine ziemlich harte Auseinandersetzung mit dem Bildre dakteur und meinem höchsten Herausgeber, und ich kämpfte die Sache durch, bis sie sie akzeptierten. Und dann kam Peter herein, und ich funkte auf seiner Wellenlänge und sagte, hör mal, Peter, das ist eine teuflisch gute Arbeit, aber das erste Ka pitel eines Romans. Und du klemmst dich jetzt dahinter und schreibst den Roman. Oder willst du es dabei bewenden lassen und dein Lebtag ein Tagelöhner sein, der Kurzgeschichten für Holiday schreibt? Genauso habe ich mit den Jungs auf dem Con geredet. Nun, Peter nahm meinen Rat an und klemmte sich da hinter, und heraus kam natürlich, wie du dir denken kannst, Der weiße Hai. Ich beanspruche überhaupt keinen Ruhm dafür; ich benutzte ihn nur als Beispiel, wie ich auf einer professionellen Ebene mit meinen Kollegen und in Brighton mit diesen Jungs gesprochen habe. Ich weiß nicht, ob die Jungs in Brighton das verstanden haben. Aber man muß immer sein Bestes geben.“ Und er versucht immer, sein Bestes zu geben, sich in seinen literarischen Arbeiten zu übertreffen, bis hin zu dem Punkt, wo es für ihn eine selbstauferlegte Pflicht zu sein scheint, verblüf fend und erinnerungswürdig zu sein. Das Ergebnis könnte pein lich anmaßend wirken, wäre es nicht immer mit solch einem Charme und solch ernster Selbstkritik geschrieben. „Ich bin selbst mein schlimmster Lektor“, sagt er. „Ich bin mein schlimmster Kritiker. Ich bin ein Arschloch, wenn die Rede 166
auf mich kommt. Mein Vater, der in Chicago geboren wurde und aufwuchs, lernte niemals richtig das Englisch der Ostküste zu sprechen, er sprach Chicago-Englisch. Er sprach meinen Namen immer ‚Alfoord’ aus, und wenn er wütend auf mich war, pflegte er zu sagen (Bester spricht nun in tiefem, dunklem Tonfall) ‚Alfoord, was hast du jetzt schon wieder angestellt?’, so in dieser Art. Und so rede ich jetzt mit mir selbst, wenn ich mich gehen gelassen habe. Ich schaue mich an und sage: ‚Al foord, beim nächsten Mal mußt du es besser machen, Alfoord.’“ An dieser Stelle des Gesprächs kommt es zu einer Unterbre chung, während ich versuche, mir meine nächsten Fragen zu rechtzulegen. Bester betrachtet diese Pause als Zeichen der Le thargie meinerseits. „Was, hab’ ich dir den Wind aus den Se geln genommen?“ ruft er zufrieden aus. „Na komm schon!“ Ich glaube, er mag es, doppelt so alt zu sein wie ich (er wurde 1913 geboren), aber mindestens genauso scharfsinnig – wenn nicht scharfsinniger. Ich frage ihn nach den Ambitionen, die er zu Beginn seiner Karriere als Schriftsteller verspürte. Hat er jemals damit ge rechnet, einmal berühmt zu werden? Hat er es gar darauf ange legt? „Ich war ein Lehrling, der seinen Beruf zu erlernen versuch te, mehr nicht. Meine ersten Geschichten verkaufte ich an die Pulp-Magazine – Kriminalmagazine, Science Fiction, auch Abenteuer. Zum Beispiel schrieb ich für das Magazin South Sea Stories. Oh Mann, meine Südseegeschichten waren wirklich toll! Und dann wanderten ein paar meiner Herausgeber ab zu dieser brandneuen Industrie … Comic-Hefte! Dort herrschte ein verzweifelter Bedarf an Textern. Das war ein neues Medium, eine neue Herausforderung. Von da an arbeitete ich einige Jahre als Ghost-Writer von Mandra der Magier und The Shadow von Lee Falk, und dann ging ich zum Radio. Damals war ich schon darauf trainiert, meine Handlungen knapp zu halten und nur die 167
Kernpunkte auszuführen. Natürlich bin ich besessen von Ein fachheit und Verdichtung, für mich sehr wichtige Aufhänger.“ Aber besteht nicht die Gefahr, Literatur zu sehr zu vereinfa chen, besonders die Charaktere und ihre Motivation? „Ja, manchmal. Manchmal verdichte ich zu sehr und verein fache zu viel. Aber weißt du, ich schreibe in zwei, drei, vier, fünf oder sechs Fassungen. Ich gehe zurück und lese die Sache noch einmal durch und sage, hier bist du ein wenig zu schnell vorgegangen, Baby, gehen wir’s noch einmal an.“ Welche Reaktion auf seine Arbeiten würde er sich von sei nen Lesern wünschen? „Ich will sie nur unterhalten. Wenn sie eine Sache von mir gelesen haben, sollen sie sagen, Herr im Himmel, wow, hey, verrückt! Und dann sollen sie ihren Alltagsgeschäften nachge hen, wie immer.“ Und doch scheinen Besters Arbeiten durchaus eine Botschaft zu enthalten, zum Beispiel das idealistische Ende in Die Rache des Kosmonauten. „Das bereitet mir große Kopfschmerzen. Ich erinnere mich, wie ich einmal mit Paddy Chayefsky darüber sprach, kurz nachdem er seinen Zehnten Mann geschrieben hatte, der am Ende auch ganz schön philosophisch wurde. Ich sagte zu ihm, Paddy, ich weiß, warum du das gemacht hast, du hast einen ge wissen Höhepunkt angesteuert, und dann gibt’s keine Möglich keit mehr, ihn durchzuziehen, außer man wird mystisch. Siehst du eine andere Möglichkeit, Paddy? Ich nicht. Und ich auch nicht, sagte er, man muß in die Mystik fliehen, was anderes bleibt einem nicht übrig. Und weißt du, er hat recht.“ Diese gefällige und irrelevante Erklärung überzeugt mich nicht, denn ich spüre, daß Bester versucht, die Geschichts schreibung neu zu verfassen, daß er sich weigert, seine alten Arbeiten so ernst zu nehmen, wie er es sollte. Ich weise darauf hin, daß er in dem Interview, das ich 1970 mit ihm führte, ein 168
gestand, aufrichtig an den Höhepunkt und die Botschaft von Die Rache des Kosmonauten zu glauben. Er reagiert leicht verärgert. „Nun, ich habe die Botschaft vergessen. Zum Teufel, woraus bestand sie nochmal gleich?“ Ich erinnere ihn daran, daß in diesem Höhepunkt sein Held ei ne Superwaffe unters gewöhnliche Volk verteilt, mit der sie sich ‚erhöhen’, eine Stufe in der Evolution voranschreiten können. „Na gut, damals mag ich daran geglaubt haben. Heute weiß ich das nicht mehr so genau. Einerseits habe ich großes Vertrau en in die Menschen, andererseits aber glaube ich, daß schrecklich viele Idioten herumlaufen. Ich glaube, heute suche ich vielleicht nach einem neuen Erziehungssystem, durch das die Leute ein wenig erwachsener werden. Zumindest die Amerikaner, meine ich. Für den Kontinent oder für England kann ich nicht sprechen; vielleicht gibt es dort viel mehr Erwachsene als hier in den Staa ten, wo drei Viertel von uns Kinder sind, verblendete Kinder.“ Hier ergreift er das Mikrophon, das zwischen uns auf dem Tisch steht, und dreht es herum. „Jetzt will ich dich intervie wen.“ Er spricht mit einer spielerischen Aggressivität, und das erinnert mich daran, wie er mir einmal sagte, daß er oft auf ein „Angriffs-Flucht-Syndrom“ zurückgreife; er entkommt einem Problem, indem er es angreift. Ich protestiere, ich hätte mein Interview noch nicht beendet. Er wischt meinen Einwand beiseite. Er verbrachte den größten Teil seiner zehn Jahre bei Holiday damit, Interviews aufzuneh men, hauptsächlich mit bekannten Persönlichkeiten. Er ist darin viel erfahrener als ich. Ich befinde mich in der Position eines Filmemachers, der Orson Welles fotografieren will. Bester beginnt damit, mich über die Autoren auszufragen, mit denen ich bislang gesprochen habe, und über meine Inter viewtechnik. „Was stellst du mit den Leuten an, die deine Fra gen nur mit ‚au’ oder ‚Nee’ beantworten?“ (Ich sage ihm, daß mir dieses Problem fremd sei, da die meisten Autoren sehr arti 169
kuliert und zungenfertig sind, genau wie er.) „Aber das härteste bei den Leuten, die wirklich oft interviewt werden, sind ihre vorgefertigten Antworten auf alle möglichen Fragen. Ich brauche immer mindestens zwei Interviews, um da durchzukommen und zum Kern zu gelangen. Wie ist das mit dir?“ (Ich erwidere, daß die meisten Leute, mit denen ich gesprochen habe, nicht so oft interviewt werden, ausgenommen Kurt Vonnegut, über dessen Antworten ich mir noch keine großen Gedanken gemacht habe.) Währenddessen richte ich das Mikrophon wieder auf Bester aus, und er dreht es wieder herum. Ein lächerliches Spiel ent wickelt sich. Schließlich richte ich es auf die Mitte aus, und diesen Kompromiß akzeptiert er. Er fährt fort: „Für mich ist es von Vorteil, so eine Art Brücke, irgendein gemeinsames Inter essengebiet mit meinem Gesprächspartner zu finden, ganz gleich welches.“ Das klingt, als wolle er mir seine Formel für Interviews verraten, genau wie er mir einst seine Formel für Artikel verraten hat. „Die seltsamste dieser Brücken habe ich bei einem Gespräch mit Kim Novak errichtet“, führt er aus. „Jemand hatte ihr ein Apartment in der East Side New Yorks zur Verfügung gestellt, und ich fuhr zwei oder drei Mal dort hinüber, und ständig hatte sie irgendwelche Aufpasser oder An standshündchen dabei. Als ich sie zum dritten Mal aufsuchte, eines Nachmittags so gegen fünfzehn oder sechzehn Uhr, legte sie ein paar Platten auf. Wollen Sie tanzen, fragte sie. Dann kommen Sie. Also tanzten wir fünfzehn, zwanzig Minuten. Und danach war alles gelaufen. Ich war sehr neugierig; ich fuhr in mein Büro zurück und erzählte den Jungs davon und fragte sie, warum, um Gottes Willen? Das ist die einzige Art, erklärten sie mir, wie sie dich testen konnte, feststellen konnte, ob du der richtige Bursche dafür warst, mit einem klein wenig körperli chen Kontakt. Weißt du, Charles, sie war ein ganz normales Mädchen, wie eine Studentin im ersten Semester aus Chicago. Aber weil ich ins Büro zurückgefahren und dort davon erzählt 170
habe, war jeder natürlich – fälschlicherweise! – davon über zeugt, daß ich ein Verhältnis mit Kim Novak hätte. Na kommt schon, Freunde, sagte ich, das ist so unprofessionell, das brächte ich niemals fertig.“ Heutzutage führen Besters Interviews ihn fort aus dem Showbusiness in die Wissenschaften. Das Magazin Omni hat ihm eine Aufstellung von Nobelpreisträgern gegeben, mit denen er für sie sprechen soll. Er meint, es sei wesentlich schwerer, ein Treffen mit einem herausragenden Wissenschaftler zu ar rangieren als mit einer Person, die auf die Publicity angewiesen ist; aber er bleibt am Ball. Es mangelt ihm wohl nie an neuen Projekten, überhaupt an neuen Aufgabengebieten? „Ich suche immer neue Abenteuer“, stimmt er mir zu. „Zum Beispiel waren wir neulich in der Royal Albert Hall; ich habe da noch nie ein Konzert besucht, und es war wundervoll. Oder letztes Jahr in Paris: Wir spazierten eine Straße entlang, die gerade aufgerissen wurde, und ich sagte in meinem gebrochenen Französisch, daß ich das auch mal gern versuchen würde. Und der Bauarbeiter, der das Kopfsteinpfla ster aufriß, gab mir dieses Ding, und ich riß eine Straße in Paris auf. Weißt du, man muß nur alles einmal versuchen, überall kann man ein neues Abenteuer entdecken, man muß vielleicht nur bereit sein, einen verdammten Narren aus sich zu machen, und dazu bin ich bereit, jederzeit.“ Ob er vorhat, sich in den Ruhestand zurückzuziehen? „Ruhestand? Ja, ich will mit meinem Kopf auf der Schreib maschine sterben. Das ist meine Vorstellung vom Ruhestand. Arthur Clarke erzählte mir, daß er sich zurückzieht, nur noch Unterwasserfotografie betreiben will. Arthur, sagte ich, wirk lich, du und deine Tiefseefotografie! Das ist doch albern! Schreibe ein neues Buch! Aber er wollte nicht auf mich hören.“ London, im September 1979 171
Bibliographische Anmerkungen In den fünfziger Jahren hat Alfred Bester zwei Romane verfaßt, Demolition (1953, dt. 1960 als Sturm aufs Universum, Neuüber setzung 1979) und Die Rache des Kosmonauten (1956, dt. 1965). Der erste ist ein Kriminalroman um einen Mord in einer zukünf tigen Gesellschaft, deren telepathische Polizei jedes Verbrechen unmöglich macht; der Großteil der Handlung widmet sich den verzweifelten und trickreichen Versuchen des Antihelden, der Überführung zu entgehen. Der zweite Roman ist die Odyssee einer Rache und beruht entfernt auf dem Handlungsverlauf des Grafen von Monte Christo; der Held, ein gewöhnlicher Mensch, der zum Verbrecher wird, erklimmt eine höhere Evolutionsstufe und wird zum Retter der Menschheit. Beide Romane bieten ein dringliche, dekadente Szenenbilder, sind höchst dramatisch und erneuerten das gesamte Genre. Ihre Charaktere sind höchst denkwürdig, wenn nicht sogar melodramatisch. Besters Kurzgeschichten liegen gesammelt vor in Starlight (1977). Die Sammlung beinhaltet auch einen kurzen Essay über seine Liebesaffäre mit der Science Fiction. Außerdem liegt die Sammlung Hände weg von Zeitmaschinen (1958, dt. 1978) vor. Der Computer und die Unsterblichen (1975, dt. 1976) war sein erster Science Fiction-Roman nach 20 Jahren und stellt trotz seiner uneinheitlichen Struktur Besters unverminderte Vitalität und Einfallsreichtum unter Beweis. Er hat einen Roman geschrieben, der außerhalb der Science Fiction angesiedelt ist, The Rat Race (1955), und sich hauptsäch lich mit dem Schreiben für die Medien und die Werbeindustrie beschäftigt, aber einige Ähnlichkeiten mit Demolition aufweist. Das Interview, das ich 1970 mit ihm aufgenommen habe, er schien in New Worlds Quarterly 5 (britische Ausgabe) und ent hält Material über Bester, das sich von dem in diesem Porträt verwendeten grundlegend unterscheidet. 172
Cyril M. Kornbluth Als sich dieses Buch im Planungsstadium befand, bestand eine meiner geschmackloseren Ideen darin, einen spiritistischen Zir kel zu engagieren, um den verstorbenen Edgar Rice Burroughs zu befragen. Da die Science Fiction ein vergleichsweise junger Zweig der Literatur ist, sind die meisten ihrer Praktikanten noch am Le ben. Aber ein paar sind nicht mehr unter uns; sie starben jung. Einige von uns reagieren auf den Tod mit Trauer, andere reißen geschmacklose Witze über ihn, wieder andere fühlen sich hilf los, zornig und frustriert. Ich persönlich neige zu allen diesen Reaktionen, besonders aber zur letzten, weil ich nicht dazu in der Lage bin, rational mit der empörenden Ungerechtigkeit fer tigzuwerden, die ein großes Talent schon in jungen Jahren hat sterben lassen. Natürlich ist es sinnlos, dem Schicksal gegen über Zorn zu entwickeln; ich tue es aber trotzdem, und ich wer de noch wütender, wenn die Erinnerung an einen verstorbenen 173
Schriftsteller im Bewußtsein der Öffentlichkeit verblaßt. C. M. Kornbluth starb 1958, als er erst fünfunddreißig Jahre alt war. Er gehörte zweifellos zu den besten Autoren, die die Science Fiction je hervorgebracht hat, und er war in einer Phase aktiv, in der gutes Schreiben noch nicht selbstverständlich war. Zu sammen mit Frederik Pohl produzierte er klassische Romane von Bestand; seitdem ist es für einige Leute – wie Lester del Rey – geradezu schick geworden, die Behauptung aufzustellen, Kornbluth habe bei diesen Arbeiten eine eher kleinere Rolle gespielt, obwohl es dafür nicht die geringsten Beweise gibt. Kornbluths Soloarbeiten, besonders seine Kurzgeschichten, zei gen eine überragende Phantasie, große Gewissenhaftigkeit beim Schreiben und eine ungewöhnliche Reife. Man zollt ihm weni ger Aufmerksamkeit, als er verdient hat. Wie Pohl war sich auch Kornbluth über das Dunkelmänner tum in Leben und Gesellschaft – den Elementen Habgier, Kri minalität, Macht und Angst, die, ob es einem nun gefällt oder nicht, einen Großteil des amerikanischen zwanzigsten Jahrhun derts ausmachen – im klaren. In nahezu all seinen Geschichten, die einen dramatischen, des öfteren unangenehmen Realismus aufweisen, sind diese Kräfte für das Entstehen von zukünftigen Gesellschaften verantwortlich. Es mag an der Grimmigkeit die ser Visionen liegen, daß sie unter den heutigen Lesern, die möglicherweise optimistischere Texte bevorzugen, nicht mehr populär sind. Eine von Kornbluths ersten Geschichten war The Rocket of 1955, die 1941, als er noch ein Teenager war, publiziert wurde. Während andere Autoren sich in romantischer Form damit be schäftigten, die zukünftigen Abenteuer des Menschen zwischen den Sternen zu beschreiben, nahm Kornbluth in zynischer Form das Weltraumprogramm (fünfzehn Jahre bevor es überhaupt existierte!) als günstige Gelegenheit für Schwindler aufs Korn. Die Geschichte ist eine Beichte: Der Erzähler beschreibt, wie er 174
mittels Erpressung die Unterstützung „des alten, strubbeligen Wieners, den der Mob auf allen Kontinenten verehrt“ (eine re spektlose Anspielung auf Einstein?) gewann und – um seinen patriotischen Plan publik zu machen – Werbezeit im Rundfunk belegte, „damit das rotweißblaue Banner auf marsianischem Boden flattert“. Das Ergebnis dieser Werbekampagne, die durch die Mitwirkung eines anerkannten Wissenschaftlers den Anstrich der Legalität erhält, besteht darin, daß alle Welt sich daran beteiligen will. So billig wie möglich – aus Blech – baut man ein Raumschiff, das kurz nach dem Start explodiert. Wäh rend die Journalisten von der „Tragödie“ berichten, zählt der Erzähler seinen mehrere Millionen Dollar hohen Profit … bis „Einstein“ enthüllt, welche Rolle er in dieser schmutzigen Affäre gespielt hat und der Erzähler sich einem Mob gegenübersieht, der ihn per Lynchjustiz hängen will. Der Zynismus dieser Geschichte, ihre elitäre Verachtung für die einfältigen Massen, ihre Beschreibung der Macht der Medien und der lapidare, knappe Stil, in dem sie geschrieben ist – all das ist von einer bemerkenswerten Qualität und wieder auffind bar in Kornbluths späteren und bekannteren Erzählungen, z. B. in Der Marsch der Idioten (1951; dt. in Herold im All, 1969). In dieser schreiend elitären Warnung vor dem Untergang haben die proletarischen Großfamilien die Geburtenkontrolle prakti zierende Intelligenz mit katastrophalen Ergebnissen an Kopf zahl überrundet. Es bedarf der widerwärtigen Taktiken eines korrupten Immobilienkaufmanns (den man ohne Schwierigkei ten aus der Vergangenheit zu neuem Leben erweckt), um eine Endlösung nach Hitlerschem Muster durchzuführen. Kornbluth, ein jüdischer Intellektueller, kratzt an unserer Aufnahmefähig keit, indem er den Völkermord als praktische Lösung eines un erträglichen sozialen Problems veranschaulicht; trotzdem de monstriert er weniger, wie man den Satan mit dem Beelzebub austreibt, als das Böse das Böse hervorbringt und die dazugehö 175
rigen Konsequenzen, denen wir uns morgen gegenübersehen, wenn wir uns heute in sozialer Hinsicht dumm verhalten. Die Schwächen der menschlichen Natur kehren in seinem Werk stets wieder. Die kleine schwarze Tasche (1950; dt. in Herold im All, 1969) ist möglicherweise Kornbluths bekannte ste Erzählung: darin findet ein aus der Ärztekammer ausge schlossener, nun als Wermutbruder herumstreunender Medizi ner eine Arzttasche, die aus einer technisch weiterentwickelten Welt der Zukunft per Zeitreise in die Vergangenheit geraten ist. Unter Zuhilfenahme der in dieser Tasche enthaltenen Instru mente und dem cleveren Geschäftssinn eines gerissenen Mäd chens aus dem Getto wird „Doc“ zum einzigen Quacksalber der Stadt, dessen Mittel wirklich helfen. Am Ende kommt er zu der Entscheidung, daß er seine herrliche Entdeckung der Wissen schaft zugänglich machen muß; aber Kornbluth, der sich nie unrealistische oder sentimentale Happy Ends zugestand, sorgt dafür, daß die habgierige junge Frau den gutmütigen alten Mann umbringt, bevor seine Uneigennützigkeit überhand nimmt. Das Gute triumphiert eben nicht über das Böse … Aber gleichzeitig schlägt sich in Kornbluths Werk das Böse selbst. Der Gedankenfresser (1950; dt. in Herold im All, 1969) ist die Fabel von einem modernen Vampir, der sich nicht von Blut, sondern von geistigen Qualen ernährt. Er ist die Inkarnati on des Bösen, und seine unbegründeten, sadistischen Untaten gegenüber unschuldigen Menschen (er erzeugt die Folterqualen auf telepathischem Wege), sind von erschreckender Lebendig keit. Sein Leben jedoch ist der Tod seiner Opfer; und als er zu weit gegangen ist, treiben die Bewohner der Stadt den Gedan kenfresser in die Enge und machen seinem Dasein auf altherge brachte Weise ein Ende. Kornbluths Beschäftigung mit dem Bösen ist weniger eine morbide Besessenheit als ein ehrliches Bemühen um Ethik. Manchmal kommt dies in seinem Werk aber auch weniger gut 176
heraus. In der Erzählung The Godly Creatures (1952) wird ein Werbemanager, der einen jungen Korrektor einstellt, der gerne „ein Poet des Raumfahrtzeitalters“ geworden wäre, zu der Ein sicht gezwungen, daß er seine einstmals idealistische Einstel lung zur Literatur verraten hat. In der Geschichte Mit diesen Händen (1951; dt. in Herold im All, 1969), ist Europa in einem Atombombenregen untergegangen. Die „Kultur“ ist mithin tot, und der letzte Künstler von einer computergesteuerten Maschi ne brotlos gemacht worden: Er begibt sich auf eine selbstmör derische Reise durch die radioaktive Ödnis, um einen letzten Blick auf ein wirkliches Kunstwerk zu werfen. Solche Bot schaften sind bedrückende Spielereien mit der Idee, aber es gibt keinen Zweifel, daß diese Fabeln ehrlich gemeint sind – und niemand kann ihre Ausdruckskraft bestreiten. Kornbluths soziales Gewissen ist eine Erweiterung seiner ethischen Bemühungen. Er beschäftigte sich mit Ausbeutung, Korruption und gewissenloser Habgier, als hielten ihn diese Fehler der Gesellschaft von anderen Themen ab. Opfer für die Menschheit (1952; dt. in Herold im All, 1969) handelt von ei nem jungen Astronauten, dessen Tätigkeit als Angestellter einer Großfirma, seiner Gesundheit abträglich ist und ihn deformiert. Es stellt sich heraus, daß sein Thekennachbar, ein Alkoholiker, der die ganze Geschichte in ironischen Worten erzählt, der Er finder des Raumschiffantriebs ist, der die interplanetarischen Reisen überhaupt erst ermöglicht hat. Also ist der Astronaut das Opfer des wissenschaftlichen Genius’ des Erzählers, dessen Arbeit man wiederum skrupellos verwertet. Die Männer sind beide von Mächten ausgebeutet worden, gegen die sie nicht bestehen können. In der Realität ist das Weltraumprogramm natürlich anders verlaufen, aber jeder, der mit den psychologi schen Krisen jener Astronauten vertraut ist, für die es bei der NASA nichts mehr zu tun gibt, und jeder, der zum Beispiel weiß, wie es um die Lebenserwartung von Bergleuten bestellt 177
ist, wird verstehen, mit welcher grimmigen Akkuratesse Korn bluth ein Bild der Mächte des Kapitalismus im zwanzigsten Jahrhundert und wie sie auf das Individuum einwirken, ge zeichnet hat. Gleichzeitig zeigte er in anderen Erzählungen – und beson ders in seinem Roman Not this August (1955) – einen starken Patriotismus und totale Bindung an die Freie Welt. Im Jahre 1973 konnte ich mit seiner Witwe, Mary Kornbluth, die nun zurückgezogen in den Adirondacks bei New York lebt, ein Ge spräch führen. Eine der ersten Fragen, die ich stellte, bezog sich auf die eklatanten Widersprüche im Werk ihres Mannes, der sein Land einerseits liebte und andererseits mit wütendem Ab scheu auf die Verbrechen des Kapitalismus reagierte. „Ich glaube, daß Cyril, als wir einst über diese Dinge spra chen, die Ansicht vertrat, daß Kritik und Patriotismus notwen digerweise nicht voneinander zu trennen sind“, erwiderte sie. „Cyril und ich haben während der dreißiger Jahre – damals wa ren wir noch Teenager – eine Menge Zeit damit verbracht, auf diese sogenannte wackere, neue Welt zu warten, von der man glaubte, daß sie der Depression folgen würde. Es war damals eine ziemlich kreative Zeit in Amerika; trotz aller Katastrophen herrschte Aufbruchstimmung. Cyril fing in dieser Zeit mit dem Schreiben an. Er entwickelte sich. Später waren wir beide etwas desillusioniert. Wir waren beispielsweise stark auf gewerk schaftlichem Kurs; da machte es einem natürlich zu schaffen, wenn man sah, wohin sich die Gewerkschaften entwickelten. Man hat von ihnen erwartet, daß sie das Leben für den kleinen Mann besser machen würden – stattdessen jedoch versanken sie in Korruption.“ Was waren Kornbluths politische Ansichten? Konnte man ihn – aus heutiger Sicht gesehen – als Liberalen oder als Kon servativen einstufen? „Am meisten diskutierte er über die Jeffersonsche Demokratie. 178
Cyril war kein Liberaler, schon aufgrund seines großen Interes ses an der Semantik. Es ist unmöglich, gleichzeitig Semantiker und liberal zu sein. Andererseits wäre es zu simpel, ihn als Konservativen zu etikettieren. Er hat sich mit allen Dingen ein zeln auseinandergesetzt, wenn ich es genau besehe. Seine allgemeine Ansicht über den Kapitalismus war die, daß er zwar nicht das idealste System darstellt, das man sich vor stellen kann, aber das am besten funktionierende. Er stand auf einer ethisch extrem hochstehenden Position und hatte Prinzipi en. Er glaubte nicht nur an seine Prinzipien, sondern handelte auch danach, deswegen war er auch der Meinung, man könne den Kapitalismus verbessern.“ War er optimistisch in bezug auf die Zukunft? „Er war gewiß nicht der Ansicht, daß eine Vergangenheit mit schlechten Zähnen, Sklaverei, Kinderarbeit und dem ganzen Rest etwas Gutem entsprach. Aber er hatte auch nicht das Ge fühl, daß wir auf etwas Besseres zusteuern. Ich erinnere mich beispielsweise an den Tag, an dem man zugab, Verschleißteile in Autos einzubauen. Cyril kam in die Küche, wo ich damit be schäftigt war, eins der Kinder zu wickeln, und sagte: ‚Schaust du dir das mal an?’ Er hatte aus der Zeitung einen winzig klei nen Abschnitt herausgeschnitten. Ich maß ihm anfangs nicht sonderlich viel Bedeutung bei, aber ein paar Minuten später konnte ich mich der Sache nicht mehr entziehen, weil er ein besonderes Talent hatte, einen auf etwas aufmerksam zu ma chen … Ich will damit sagen, daß unsere Müllkippen, unsere internationalen Ölkäufe, unsere Erzladungen aus Afrika zu sammen mit den Zerstörungen, die in unseren Wäldern stattfin den, ausnahmslos Aspekte dessen sind, was er voraussah und damals niederschrieb. Er sah alles voraus, kaum daß sie zuge geben hatten, daß man die amerikanische Gesellschaft mit Ver schleißteilen durchsetzt hatte. Er sagte: ‚Die Amerikaner mögen es nicht, Dinge aufzubewahren’. Ich erinnere mich, daß ich 179
mich damals ein wenig beleidigt gefühlt habe. Aber er hat alles vorausgesehen, mit erschreckender Genauigkeit.“ Wie sah sein familiärer Hintergrund aus? „Sein Vater war ein Jude der zweiten Generation und betrieb eine kleine Schneiderei. Er scheint ein autoritärer Mensch gewe sen zu sein. Cyril glaubte stets, daß sein Vater alles besser wisse. Er (Cyril) war ziemlich frühreif, lernte im Alter von drei Jahren lesen, ging mit dreizehn mit einem Abschluß von der High School, bekam mit vierzehn ein Stipendium am City College und wurde herausgeworfen, weil er einen Schulstreik angeführt hatte. Im Alter von ungefähr sieben Jahren fing er an zu schreiben. Als er sechzehn war, schrieb er ganze Magazinausgaben allein.“ Ich weise darauf hin, daß ich gehört habe, er solle zweimal aufs College gegangen sein. „Das stimmt. Aber er brach es beide Male ab. Er konnte ein fach keinen Nutzen darin sehen. In dieser Hinsicht unterschie den wir uns nicht. Wir hatten keinen Draht zu dieser Art von Erziehung. Wenn jemand Plattitüden drosch, langweilte ihn das entsetzlich – und davon hatte er auf dem College eine Menge gehört. Er interessierte sich schon für Semantik, als noch kein Mensch wußte, was das überhaupt war. Seine frühesten Übun gen als Dichter machte er, als er sieben, acht oder neun war. Das war in der Grundschule. Wir haben uns damals gegenseitig Gedichte geschrieben. Ich gab mir die größte Mühe, die kom pliziertesten Dinge darin unterzubringen. Wenn mir das nach harter Arbeit und einer heruntergebrannten Nachttisch-Öllampe dann gelang und ich es ihm gab, schrieb er sofort etwas, das noch viel komplizierter war.“ Hat er sich in seiner Funktion als Schriftsteller je über Ein mischungen der Redaktionen beschwert? „Ich habe keine Ahnung, ob Sie wissen, wieviel Bearbeitung seine Texte bekamen. Die Science Fiction war – unter diesem Gesichtspunkt gesehen – sicher nicht das lohnendste Genre, in 180
dem man arbeiten konnte. Man wollte grundsätzlich, daß er das Ende seiner Geschichten umschrieb. Cyril war am besten, wenn er die ganze Sache allein machen konnte und er keinen redak tionellen Restriktionen unterworfen war. Das ist auch der Grund, weswegen ich seine Kurzgeschichten für besser halte. Ich sage das nicht, weil ich seine Romane für weniger gut halte, sondern weil sie zu oft von anderen Leuten beeinflußt wurden. Ich möchte niemandem namentlich an die Karre fahren … aber wenn man ihn nach seinem eigenen Geschmack hätte vorgehen lassen, wären auch seine Romane anders ausgegangen. Wissen Sie, er hielt nicht viel von Happy Ends.“ Und was seine Story Der Gedankenfresser angeht: „Als er sie schrieb, besuchte er gerade die Universität von Chicago. Es herrschte eine ziemliche Zimmerknappheit, deswegen hausten wir bei den Schlachthöfen in einer phantastisch alten Umge bung. Dort lebten viele alte Polen, die im Gedankenfresser er wähnt werden. Als die Geschichte fertig war, hielt ich sie für die exakte Wiedergabe dessen, was einmal hätte passieren kön nen. So stellte ich mir einen echten, modernen Vampir vor. Da ich allerdings damals ein wenig naiver war als heute, sagte ich ihm, daß das Leben nicht unbedingt so werden müsse, wie er es beschrieben hatte. Aber Tatsache ist nun einmal, daß er auch hier nicht danebenzielte. Jetzt, wo ich meine Erfahrungen in einer Reihe von Wortgefechten gesammelt habe (Mrs. Korn bluth hat gegen den Plan, einen Highway durch die unberührte Natur zu führen, Einspruch erhoben), kann ich nur noch sagen, daß ich mit ihm einer Meinung sein muß. Er hatte recht. Er sagte, daß die Leute, die die Zerstörung wollen, sich nicht von seinem Gedankenfresser unterscheiden, und jetzt, wo ich einige von ihnen kennengelernt und mit ihnen geredet habe, muß ich zugeben, daß die Zerstörung ihnen wirklich Spaß macht. Und je schöner die Sache ist, die sie zerstören können, desto mehr Spaß haben sie dabei.“ 181
Also hat er diese Geschichte nicht nur irgendwie ausgetüftelt, sondern aus einem Anliegen heraus geschrieben? „Ja, das hat er.“ Die Dialogauszüge entstammen einem aufgezeichneten Tele fongespräch. New York/Northville, im Sommer 1973
182
Bibliographische Anmerkungen Wie viele Kurzgeschichtenautoren hatte auch Kornbluth Schwierigkeiten beim Produzieren eines gut durchkonstruierten, ebenmäßig fließenden Romans. Von den drei Romanen, die der Science Fiction zuzurechnen sind, krankt Takeoff! (1952) an der Tatsache, daß er zu schnell geschrieben wurde. Schwarze Dyna stie (1953; dt. 1974) geht von der amüsanten Vorstellung aus, daß die Mafia die völlige Kontrolle über die USA besitzt und aus Amerika ein Utopia macht. Leider ist dieses Konzept nicht voll durchgeführt worden. Der Roman Not This August (1955), flaut nach einem vielversprechenden Anfang in eine episodi sche Suche ab. Der letzte Titel ist möglicherweise der erinne rungswürdigste, stellt allerdings eine extrem hysterische Vision des Themas einer sowjetrussischen Invasion der USA in den späten fünfziger Jahren dar. Nahezu alle Kurzgeschichten Kornbluths, die in den fünfziger Jahren geschrieben wurden, kamen auch in Buchform heraus und haben trotz der Tatsache, daß inzwischen fünfundzwanzig bis dreißig Jahre vergangen sind, nichts von ihrem Flair verloren. Die Worte des Guru (1958; dt. 1975) ist eine exzellente Kurz geschichtenauswahl. Viele der darin enthaltenen Erzählungen wurden wiederveröffentlicht in dem Band The Best of C. M. Kornbluth (1976), den Frederik Pohl zusammengestellt hat. Pohls Einführung beschreibt seine Verbindung mit Kornbluth, bleibt aber frustrierend vage und oberflächlich.
183
Algis Budrys Ich bin ein Fremder in diesem Land; was anderen normal er scheint, kommt mir seltsam vor. Hier, in Chicago, ist man in einer ganz anderen Welt als in New York, das ebenso weltweit von meiner britischen Kleinstadtherkunft getrennt ist. Da die hiesige Kultur Bequemlichkeit jedoch schätzt, kann man die Sache leicht nehmen. Komisch ist es trotzdem. In der Nähe des Flughafens hole ich meinen Mietwagen von einem eingezäunten Parkplatz. Dann geht es – bei feuchter Hit ze – über eine Betonstraße, und ich folge den Anweisungen, die Algis Budrys mir säuberlich auf einen Zettel getippt hat. (Er ist ein gewissenhafter Mensch, und wie ich – nur noch mehr ein Fremder in diesem Land.) Ich durchquere die Chicagoer Vor städte durchkreuzenden Durchfahrtsstraßen und bewege mich auf Evanston zu, das genau am Rande dieser Metropolis liegt. Obwohl die Umgebung absolut irdisch ist, rast eine fremdartige Szenerie an den Wagenfenstern vorbei: Photomat, Wendy’s Hamburgers, das ‚White Hen’-Speiselokal; die Mira-Kleen
184
Reinigung, eine Handtuchfabrik, und Futuristic Fashions. Der Aufkleber auf dem roten Chevrolet vor mir fragt mich ‚Hast du heute schon deine Kinder umarmt?’ Als Ausländer ist man nicht skeptisch. Man glaubt alles. Das Andersartige ist die Würze des Lebens. Man erwartet, über rascht zu werden. Gleichzeitig wird man von dem Mißtrauen befallen, daß nichts so ist, wie es zu sein scheint, daß Perma nenz nicht existiert und – schlußendlich – nichts die Realität wiedergibt. Das ist ein stets wiederkehrendes Thema in Algis Budrys’ Texten. Hinter einem verfallenen Einkaufszentrum und einer Unzahl von Eisenbahnschienen liegt Evanston mit seinen 79 300 Ein wohnern. Der Ort sieht grüner und weniger industrialisiert aus als seine ebenfalls vor der Großstadt liegenden Nachbarbezirke. Ich sehe Tennisplätze und Baseballstadien; vor dem Häuser block, in dem Budrys lebt, stehen zahlreiche Bäume. Hinter den Bürgersteigen wächst Gras. Der Vorgarten besteht aus einem erfreulich undiszipliniert vor sich hinwachsenden, leuchtend gelben Löwenzahnteppich. Budrys hält sich im Keller auf, umgeben von einer Unzahl von Fahrrädern, Werkbänken, Nockenwellen, ausgeschlachte ten Waschmaschinen, Bücherstapeln, Gartenwerkzeugen, auf gerollten Seilen und alten Regenmänteln. Es sieht aus wie in einem von einem Automechaniker betriebenen Billigladen. In einem Teil davon arbeitet er, vom Rest nur durch eine kahle Ziegelwand getrennt. Hier stapelt sich das Papier in den Rega len und auf dem Boden. Budrys sitzt auf einem Bürostuhl und schneidet mit einem scharfen Messer ein Passepartout zurecht, hinter dem er eine große Schwarzweißfotografie unterbringen will. Dies ist ein Teil seiner Werbekampagne für einen Chica goer Edelsteindesigner, denn wie bei den sanften und nach denklichen Charakteren in seinen Romanen ist auch Budrys’ Wissen nicht nur auf ein Thema beschränkt. Was er kann, be 185
treibt er methodisch. Heute nimmt er die Rolle eines freiberufli chen Medienberaters ein und konzipiert in seinem staubigen, vollgestopften Keller eine Werbestrategie von A bis Z. Er ver faßt die dazu nötigen Texte, wählt die Medien aus, in denen sie erscheinen sollen, überwacht die photographischen Aufnahmen, und kümmert sich um Details, wie zum Beispiel die Wahl des richtigen Bildausschnitts. Und das tut er jetzt unter dem fluo reszierenden Licht der Schreibtischlampe. Diese Arbeit ist ziemlich weit von der SF-Schreiberei entfernt, aber genauge nommen verbringt Budrys mit dem Letzteren nur wenig Zeit. Das hat Gründe, die er mir später erklärt. Bevor er den Keller verläßt, stellt er fest, daß ein Bügel sei ner Brille lose ist. Er öffnet eine Schublade und fördert eine Schachtel mit Optikerwerkzeugen ans Licht. Er wählt den pas senden Schraubenzieher aus und schraubt den defekten Bügel sorgfältig wieder fest. Einen Moment lang sehe ich in ihm Mar tino, den mit Prothesen versehenen Helden seines Romans Who?, der gerade einen Vortrag über die richtige Handhabung und Wartung von Maschinen hält. Man bedarf nur eines feinen Gespürs und der richtigen Werkzeuge, um diese Arbeit zu tun – und muß seine Hilfsmittel natürlich sauber geordnet halten. Budrys ist ein schüchterner Mann, der sich, wenn er mit Fremden redet, in eine Position zurückzieht, die förmlich ist, ohne ihm zu gefallen. Wie er mir allerdings später mitteilt, sieht er sich in der Science Fiction doch unter Brüdern. Ich, der Fremde, werde in seinem Heim willkommen geheißen und sei ner Frau und zweien seiner blonden, sonnengebräunten Söhne vorgestellt. Natürlich lerne ich auch die große, schwarze Haus katze kennen, die zwar keinen Namen hat, dafür aber registriert ist. Die Budrys-Familie, die an der örtlichen Politik nicht unin teressiert ist, ist der Meinung, daß es eine städtische Verord nung geben sollte, die die Registration von Katzen zur Pflicht macht und setzen sich dafür ein. Sie sind offensichtlich ein ak 186
tiver Bestandteil der Gemeinschaft, in der sie leben. Trotzdem bezeichnet sich Algis Budrys, wie ich schon ausführte, als Aus länder. Er besitzt keinen Paß. Er ist Bürger von Litauen. Seine Identität ist so komplex wie die Martinos – oder die seiner an deren Protagonisten, die in solchen Welten nach der Ultimaten Wahrheit suchen, in denen sie im Endeffekt doch nichts Hand greifliches erwarten. Die Räume im Parterre sind schattig und heiß und voller Bü cher. Es ist ein großes, komfortables Haus. Nach dem Essen unterhalten wir uns auf der Vorderveranda. Budrys spricht sehr langsam, achtet ständig auf die Wahl seiner Worte und die ge naue Bedeutung jedes einzelnen Satzes. Er redet, als seien die Bestandteile dessen, was er sagt, wie mechanische Komponen ten, die er sorgfältig auswählt und zusammenstellt, als müßten seine Äußerungen druckreif sein und eine bestimmte Reihen folge einhalten, um effektiv zu sein. Später, als ich das Inter viewband abspiele, ist es mir fast unmöglich, Stellen zu finden, aus denen ich überflüssige Worte streichen kann. Budrys wie derholt sich nur dort, wo er glaubt, sich beim erstenmal nicht klar genug ausgedrückt zu haben. Ich muß oft feststellen, daß die Herkunft eines Autors aus seinem Werk nicht zu erlesen ist. In vielen der in diesem Buch versammelten Porträts habe ich den Hintergrund der Befragten so kurz wie möglich angerissen. Aber das, was Budrys sagt, hat unweigerlich mit seiner Vergangenheit zu tun, weil sein Hinter grund nicht nur erklärt, wer er ist, sondern auch was er schreibt und wie er die Welt betrachtet. Mit seinen eigenen Worten: „Ich bin in erster Linie bäuerlicher litauischer Abstammung; hinter mir liegen buchstäblich Jahrhunderte landwirtschaftlicher Tätigkeit. Ich könnte zwar für einen Amerikaner der Mittel schicht durchgehen, aber das bin ich nicht. Ich wurde von El tern erzogen, die ziemlich viel ertragen mußten und in mich eine ganze Reihe kultureller Hemmungen eingebaut haben. Ich 187
glaube, daß die am offensten auftretenden die sind, daß man sich abplacken soll, daß man keine Gelegenheit verstreichen läßt, etwas Solides zu schaffen, und daß es grundsätzlich kei nem gut bekommt, wenn er nicht bei seinen Leisten bleibt. Mit anderen Worten, man soll nicht nach Dingen streben, die nicht für einen geschaffen sind, im Land bleiben und sich redlich nähren. Ich kann über all diese Sachen zwar laut lachen, aber das verändert nicht das, was sich in meinem Kopf abspielt. Als meine Mutter achtzehn oder neunzehn Jahre alt war, hatte sie im Geheimdienst der litauischen Armee bereits eine extrem hohe Position erklommen. Sie stammte aus einem Haus mit einem Zinndach, das ihrem Vater gehörte. Er war der Dorf schneider und Totengräber der örtlichen katholischen Kirche. Ich glaube nicht mal, daß sie fließendes Wasser hatten; jeden falls besaßen sie draußen einen Brunnen, und Gemüse und alle anderen Sachen, die sie zum Leben brauchten, zogen sie selbst. Der Grund, aus dem sie das Land verließ und in die Großstadt zog, war darin zu suchen, daß sie Geld verdienen wollte, um es nach Hause zu schicken und ihren Leuten das Leben zu erleich tern. Mein Vater kam im wesentlichen aus den gleichen Kreisen, mit der Ausnahme, daß sein Vater es bereits zu einer gewissen Position im kaiserlich-russischen Beamtentum gebracht hatte. Zu dessen Lebzeiten war Litauen eine Provinz des Zarenrei ches. Mein Vater wurde ebenfalls Beamter, er hat die tollsten Abenteuer erlebt. Als die russische Revolution ausbrach, war er als Angehöriger des zaristischen Militärgeheimdienstes in Wla diwostok stationiert; als er wieder nach Litauen zurückkehren wollte, mußte er sich etwas einfallen lassen. Er brauchte drei Jahre dazu und durchquerte dabei China. Als er starb und ich mir seine Versicherungspapiere näher ansah, fand ich darunter eine lange Liste von Verwundungen, die er sich bei dieser Reise zugezogen hatte. Er hatte eine ganze Reihe von Schußwunden 188
und Säbelnarben abbekommen, und ich weiß, daß er einmal nahe daran war, an Typhus zu sterben. Seine Motivation be stand darin, nach Litauen zurückzukehren und seine Pflicht zu tun. Später habe ich ihn dann in der Gestalt des Colonel Azarin in Who? verewigt. Man muß sich Azarin nur ein wenig lächeln der vorstellen und ihm eine Frau und ein Kind unterschieben, auf das er stolz war, für das er aber zu wenig Zeit hatte – dann wird aus Azarin mein Vater. Nach 1927 wurde mein Vater dem litauischen diplomati schen Corps überstellt. Er und meine Mutter gingen dann aus dienstlichen Gründen nach Ostpreußen. Wir haben unsere ge samte Zeit in einer feindlichen Umgebung gelebt. Die einzigen Menschen, mit denen ich immer sprechen konnte, waren meine Eltern; um uns herum lebten ausschließlich Deutsche. Es waren nette, freundliche Leute, sehr nachbarschaftlich eingestellt, und sie mochten mich – das sehr arisch aussehende Bübchen – gut leiden. Mein Haar war aschblond – es war nicht einfach nur blond, sondern regelrecht weiß –, und ich hatte große, blaue Augen und wie gemeißelt wirkende Gesichtszüge. Das war na türlich vor der Zeit, in der ich anfing, zweihundertfünfzig Pfund zu wiegen. Ich sprach Deutsch mit einem dicken, ostpreußi schen Akzent und führte mich auf wie ein kleiner Soldat. Die Leute hingen mit der reinsten Affenliebe an mir. Aber dann passierte etwas, das mein gesamtes Leben veränderte. Adolf Hitler fuhr ein paarmal an unserem Haus vorbei – und die Leute drehten durch. Ganze Horden von deutschen Haus frauen und ihren Ehemännern – Leute, die ich kannte, die alle in dem gleichen Wohnhaus lebten – standen auf dem Bür gersteig, sahen dem Mann zu, der an ihnen vorüberfuhr und verloren den Verstand. Sie standen nicht einfach nur da, riefen Hurra und applaudierten ihm – sie machten eine dermaßen un glaubliche Verwandlung durch, daß ich den Eindruck hatte, einige von ihnen litten unter epileptischen Anfällen. Andere 189
kackten in unsere Büsche; sie konnten einfach ihre Darmmus keln nicht mehr kontrollieren. Ich war damals vier Jahre alt, aber ich erinnere mich an einen Burschen, der – die Hose auf den Knien – über unseren Rasen hüpfte und verzweifelt versuchte, sich die Unterhose herunter zuziehen und in die Büsche zu gelangen. Männer und Frauen wälzten sich auf dem Boden herum und klammerten sich anein ander. Es war ein schrecklicher Anblick. Ich stehe also da und mir wird plötzlich bewußt, daß ich über die Welt nichts anderes weiß, als daß sie ausnahmslos von Ungeheuern – Werwölfen – bewohnt wird. Aufgrund dieser Erfahrung hing ich mich natür lich noch fester an meine Eltern. Aber meine Mutter hatte die ihrer Position gemäßen Pflichten, und mein Vater hielt sich in einem feindlichen Land auf und tat sein Bestes, um ein Über springen der Nazi-Revolution auf Litauen zu verhindern. Er hatte eine ziemlich verantwortungsvolle Aufgabe zu bewältigen und war sich stets darüber im klaren, daß der erste scharfe Wind dazu führte, daß die Sowjetunion Litauen wieder besetzte. Er impfte mir Selbstdisziplin und Patriotismus ein. Schon im Alter von fünf oder sechs Jahren hörte ich mir seine langen und leidenschaftlichen Reden an, die stets mit dem Satz endeten ‚lch habe Klaipeda (ein Seehafen, den er dem unabhängigen Litauen angeschlossen hatte) befreit, du wirst Wilnjus befreien.’ Es sollte meine Lebensaufgabe werden, sobald ich das nötige Alter hatte, in Litauen etwas zu bewerkstelligen.“ (Das Land war inzwi schen von Polen annektiert worden). „Als kleines Kind verbrachte ich einen großen Teil meiner Zeit in Autos und auf Zügen. Ich war mit Fremden zusammen und unterhielt mich in den unterschiedlichsten Sprachen. Aber wir ließen uns nirgendwo nieder. Die Deutschen mochte ich nicht, denn ihre Gouvernanten hassen die Kinder, die sie erzie hen sollen, und in der Nacht konnte ich, wenn ich aus dem Fen ster sah, sehen, wie sie mit Hakenkreuzen bemalte Ziegelsteine 190
um sich warfen. Dann saß ich im Dunkeln auf dem Schoß meiner Mutter. In der ganzen Wohnung war das Licht ausgeschaltet, nur das kleine, grüne Licht auf dem Radiogrammophon brannte. Mein Vater hatte eine Pistole auf dem Schoß und wartete darauf, daß die Braunhemden bei uns eindrangen. Und dann zogen wir nach New York, wo ich einen Haufen zu lernen hatte. Von 1936 bis 1964 war mein Vater der General konsul Litauens in den Vereinigten Staaten. Er brachte mir bei, wie wichtig es ist, etwas von der Werbung zu verstehen. Er starb schließlich an seinem Schreibtisch. Er war fünfundsiebzig Jahre alt geworden und hatte sein Leben lang jeden Tag sechzehn Stunden gearbeitet. Der achte Herzanfall brachte ihn um. Jedesmal, wenn sie ihn wieder aus dem Krankenhaus entlassen hatten, ist er sofort zu seinen Sechzehn-Stunden-Tagen zurückgekehrt. Ich kam also in dieses Land, als ich sechs war. Ich habe mir sehr schnell den Akzent und die Verhaltensweise eines gebore nen Amerikaners angeeignet. Was meine Erziehung angeht, so hat sie nahezu total hier stattgefunden. Ich bin mit dieser hüb schen amerikanischen Lady verheiratet und habe prächtige, in Amerika geborene Söhne, von denen keiner auch nur ein Wort litauisch spricht. Aber ich stamme nicht aus der Ecke, aus der die meisten Menschen dieses Landes kommen. Ich habe stets in dem Bewußtsein gelebt, längerfristigen Zie len nachzustreben und Verpflichtungen übernommen zu haben, die über die eigene Familie hinausgehen. Auf diese Weise ver bringt man sein Leben in den Diensten eines Ideals, für das man sich abrackert. Ich glaube dies war auch die Ursache für die Naivitäten, die ich mir leistete, als ich in den frühen Zwanzi gern war. Dies erklärt auch bis zu einem gewissen Grad, wieso mich die Science Fiction fesselte. Sie war eine ganz besondere Sache und brachte mich auf den Gedanken, daß es möglich ist, mit den Veränderungen zu leben, auch wenn sie noch so einen starken Einfluß auf das Dasein haben. 191
Daß ich mich überhaupt näher mit der Science Fiction be schäftigte, lag an einer Reihe von quasi-mystischen Ideen, die mir als Kind gekommen waren und die der Natur des Genres entsprachen. Ich bin jetzt achtundvierzig Jahre alt und glaube, meine erste SF-Geschichte mit acht gelesen zu haben. Die Bü cher, die ich vorher kannte, hatten – soweit ich mich an sie er innern kann – mit der Fliegerei zu tun. Außerdem kannte ich die von Defoe geschriebene, vollständige Ausgabe des Robinson Crusoe – nicht diese Kinderversion. Meine Schwester fing an, mir aus diesem Buch vorzulesen, aber sie war zu langsam, des wegen wurde ich immer ungeduldiger. Ich wünschte mir, recht bald selbst lesen zu können, um in Erfahrung zu bringen, wie diese Geschichte ausging. Als ich etwa zehn oder elf war, kam ich auf den Gedanken, es müsse eine bombige und wundervolle Sache sein, Science Fiction selbst zu produzieren; ich konnte mir etwas Besseres nicht vorstellen. Ich war der Meinung, daß diese ScienceFiction-Autoren einem ganz besondern Menschenschlag ange hörten und im Überfluß lebten. Ich war fest davon überzeugt, daß sie alle in einem Rolls Royce herumfuhren und Häuser in Kalifornien besaßen, weil es ihnen gelungen war, namentlich auf den Umschlägen von Planet Stories und Thrilling Wonder Stories erwähnt zu werden. Ich kam nicht etwa auf diese Idee, weil ich annahm, sie würden für ihre Arbeit gut bezahlt und legten ihre Honorare gut an – ich war einfach der Meinung, daß all diese Dinge ihnen einfach zustanden. Ich bin in vielen Dingen von einer erschreckenden Dummheit; noch heute traue ich vielen meiner harterworbenen Fähigkeiten nur deswegen nicht, weil sie sich nicht mit den Vorstellungen decken, die ich als Kind entwickelte. Ich bin ein Romantiker, der glaubt, daß alles einen Wert haben muß. Eine Frage, die ich mir immer wieder stelle, wenn ich die Idee für eine Kurzgeschichte habe, ist folgende: Für irgendeinen anderen mag es ja in Ordnung 192
sein, diese Story zu schreiben – aber ist sie auch meiner wür dig? Als ich von Long Island nach Manhattan kam und gerade ein paar Stories losgeworden war, hatte ich überhaupt keine Be denken, irgend jemanden, der mir praktisch fremd war, anzu sprechen und zu fragen, hast du was dagegen, wenn ich für eine Weile zu dir ziehe? Das lag daran, weil wir eine verschworene Science Fiction-Gemeinde waren. Man muß sich das als großes Haus vorstellen, in dem nur Leute leben, die mit der Science Fiction zu tun haben und jeder das Recht hat, sich irgendwo niederzulassen. Und das taten wir auch. Es ist erstaunlich, wie tolerant die Welt sein kann. Meine erste Geschichte nahm Campbell an; ich hatte es geschafft und war sofort eine große Nummer. Irgendwie machte mir das klar, daß ich mir einen Stammplatz erobert hatte. In den sechziger Jahren ging dann das Gerücht um, ich hätte die Science Fiction satt und wolle mit ihr nichts mehr zu tun haben. Als Projekt Luna nicht mit dem Hugo als bester Roman aus gezeichnet wurde … den Preis bekam Lobgesang auf Leibowitz, der in jenem Jahr als Nachdruck erschien und für meine Begriffe nicht hätte wählbar sein dürfen … war ich ausgesprochen wü tend. Projekt Luna hatte mich nicht nur sehr große Anstrengun gen gekostet, sondern scheint mir – offengestanden – auch das bessere Buch zu sein, als Roman gesehen. Die Originalerzäh lung, nach der Lobgesang auf Leibowitz geschrieben wurde, na schön; aber die Romanversion halte ich nicht für so gut. Ich war also wütend und habe in bestimmten Kreisen aus meinem Zorn keinen Hehl gemacht. Möglicherweise sind die Leute deswegen zu der Ansicht gelangt, ich hätte der SF den Rücken gekehrt. In Wirklichkeit jedoch stand im Januar 1962 die Geburt unseres vierten Kindes bevor, und das war mehr, als sich ein freiberufli cher Autor leisten konnte. Ich mußte mir einen festen Job suchen. 193
Und wenn ich einen solchen Job habe, gehe ich vollständig darin auf. Bis zum Januar 1974 habe ich nur Dinge getan, die mit der Science Fiction nichts zu tun hatten. Und das sehr inten siv. Wenn man zum Beispiel die Verpflichtung eingeht, das Prospektmaterial für einen neuen Lastwagentyp zu texten, ist die Arbeit nicht einfacher, als die Konzeption eines Romans, die man zu Papier bringt. Ein neues Lastwagenmodell kann so gar für ein Multimillionen-Dollar-Untemehmen die Pleite be deuten – andererseits natürlich auch das große Geschäft; mit der Herstellung von Familienautos kann man das nicht vergleichen. Wenn man in der Lastwagenbranche etwas auf den Markt bringt, dem man nachweisen kann, daß es nicht besser ist als das Produkt der Konkurrenz, sitzt man vor einem ernsthaften Pro blem. Dann kann es passieren, daß es Jahre dauert, bis man sich seine Marktposition wiedererobert hat. Ich sah mich also stets gezwungen, das Informationsmaterial, das man mir gab, ernst hafter auszuwerten, als die Notizen, die man sich für einen Ro man macht. Es war eine Knochen- und Geistesarbeit; aber es gab dabei auch Momente, in denen ich von Stolz erfüllt war, weil ich damit zurecht kam. In einen Science Fiction-Roman steckt man zwar auch einen Haufen Arbeit hinein, aber da man sich mit die ser Materie auskennt, hat man nicht das Gefühl, über sich hi nauswachsen zu müssen. Bei der Arbeit an Projekt Luna versetz te ich mich allerdings in einen solchen Erschöpfungszustand, daß ich anfing, Geräusche zuhören; aber das, was ich tat, brachte et was hervor, ich machte dabei so etwas wie geistige Erfahrungen. Erst als ich über vierzig war, wurde mir klar, daß diese ver dammten Dinger keine Geschichten sind, sondern daß ich mir mit ihnen Luft machte. Manchmal gelangen diese Geschichten aufs Papier, ohne daß ich etwas dazu tue. Ich sitze dann nur an der Schreibmaschine und schaue zu, wie sich meine Finger be wegen. Es überrascht mich sehr oft, wie die Handlung eines Textes sich entwickelt. 194
Ich glaube, ich habe jede Science Fiction-Geschichte ge schrieben, von der ich glaubte, daß sie es wert sei, geschrieben zu werden – und gleichzeitig die richtige Zeit dafür war. Ich habe es Gott sei Dank nicht mehr nötig, auf irgendeiner festen Gehaltsliste zu stehen, einfach deswegen, weil inzwischen eine Menge Zeit vergangen ist und ich soviel Material (Bücher und Kurzgeschichten) angesammelt habe, daß praktisch immer ir gendwo etwas nachgedruckt wird. Im allgemeinen geben wir weniger Geld aus als die meisten Leute, weil wir unseren Lebensstandard ziemlich niedrig halten und trotzdem glücklich dabei sind. Was die Arbeit in der Wer bung, das Texten und Bearbeiten und so weiter angeht, so tue ich das gerne. Ich glaube auch, eine ziemlich geschickte Hand für solche Dinge entwickelt zu haben. Ich bin ziemlich schnell und gewandt, bei mir kommen die Sachen stets überdurch schnittlich raus, weil ich halt ein besserer Beobachter und Be richterstatter bin, als der Durchschnittstyp, der in der Werbung beschäftigt ist. Außerdem habe ich eine Menge Training in der Disziplin aufzuweisen, die richtigen Worte und Sätze zu finden. Das einzige, was passiert, ist, daß manche Arbeit im Bereich der Science Fiction nicht mehr so schnell hinhaut, wie sie hinhau en könnte, auch wenn ich nur dann damit anfange, wenn mir die Zeit richtig erscheint. Nehmen wir zum Beispiel Michaelmas: Die ersten sechzig Seiten des 240-Seiten-Manuskripts entstan den im Januar 1965 in einem Zeitraum von achtundvierzig Stunden. Hätte ich in ungefähr diesem Tempo an der Sache dranbleiben können, wäre sie aller Wahrscheinlichkeit nach noch im gleichen Jahr fertiggeworden, ohne sich substantiell von der Endversion zu unterscheiden. Aber wie es der Zufall nun mal wollte, mußte ich diese Arbeit für ein Jahrzehnt unter brechen und andere Dinge tun. Aber es gab auch kein anderes Buch, das sich danach drängte, in diesem Zeitraum auf die Welt zu kommen. 195
Es ist ein einfacher Test: Wenn eine Science Fiction-Idee nicht richtig rüberkommt und nicht geschrieben wird, war sie auch nicht gut genug. Es gibt im Moment keine weiteren Science Fiction-Bücher, die ich zu schreiben beabsichtige, obwohl ich den Gedanken nicht loswerde, Michaelmas könne eine Fortset zung vertragen. Der Gedanke ist mir nicht ganz geheuer, weil ich mehreren Leuten erzählt habe, daß ich keine Fortsetzung schreiben will. Aber jetzt denke ich, es müßte ganz interessant sein, die Geschichte vom Standpunkt eines Nebencharakters – eines sehr interessanten Burschen, der all das miterlebt und kaum redet – aus weiterzuerzählen. Irgendwann wird Michael mas ja sterben müssen, und dann muß sich Domino nach einem Nachfolger für ihn umsehen. Ich halte alle Formen der Literatur und Kunst in erster Linie für Überlebenstechniken. Obwohl sie weit davon entfernt sind, die Rüschen und Verzierungen einer vorgeblich praktisch orien tierten Welt zu sein, stellen sie doch die praktischsten Dinge dar, die es gibt. Sie bestehen aus einer Reihe von Interpretatio nen und Negationen der konventionellen Realität und prüfen die verschiedenen Facetten der Wirklichkeit. In dieser Hinsicht spielt die Science Fiction eine geradezu einmalige Rolle: Man kann in ihr ernsthaft über Dinge und wichtige Situationen spre chen, die anderswo nicht anzubringen sind. Als ich Projekt Luna schrieb, konnte ich in einer Form über Liebe und Tod reden, die die konventionellen Erzählungen nicht ermöglichen; die ganze Sache wird durch die Situation am Laufen gehalten, daß ein Mensch fortgesetzt dem Tod gegenü bersteht und ihn wiederholt erfährt, gleichzeitig aber über die essentielle Natur der Unsterblichkeit reden kann, die die Liebe erzeugt: jene Unsterblichkeit, die dadurch zustande kommt, daß man aus den Erinnerungen desjenigen, der einen liebt, nicht verschwindet. Wer diese Erinnerungen hat, gibt Unsterblich keit, ohne darüber nachzudenken, daß das Objekt seiner Liebe 196
nicht der gleiche Mensch ist, der er gestern war. Es ist möglich, die Illusion der Realität als ein Artefakt der Erinnerung zu be sehen, wenn der Charakter einer solchen Geschichte sich für den Menschen hält, der er gestern war, ohne es jedoch wirklich zu sein. Und ich glaube, das macht die Science Fiction aus. Sie ist – und das ist meine Definition – ein Drama, das mittels so zialer Extrapolation relevanter gemacht worden ist als das her kömmliche, das die Realität nur bedingt wiedergibt.“ So wie hier verlief sein Monolog natürlich nicht. Budrys hat nicht un unterbrochen vor sich hingeredet; aber seine Worte waren der maßen klar gegliedert, daß ich mir sagte, sie müßten ohne meine Zwischenfragen am besten zueinander passen. Nachdem ich die Budrys-Familie verlassen habe, denke ich über das, was er gesagt hat, nach. Sein Pflichtgefühl, das war mir immer schon klar, kann man aus allen Hauptcharakteren der Romane und Erzählungen, die Budrys je geschrieben hat, he rauslesen; es ist auch offen ersichtlich in seinem Schreibstil. So ruhig und gelassen wie seine lediglich von einem beinahe ab strakten Gefühl moralischer Verpflichtung motivierten Helden ist auch seine Schreibweise: ruhig und gewissenhaft. Man kann ihr anmerken, daß Budrys sich mit dem Gefühl der Science Fic tion als ihr zugehörig empfindet, daß sie für ihn eine andere Welt darstellt; eine Welt, der man sich würdig erweisen muß und die Anforderungen an seinen Patriotismus stellt. Paradoxerweise ist es ausgerechnet der Loyalität, die Budrys dem Genre gegenüber empfindet, zuzuschreiben, daß er so we nig Science Fiction produziert und sich statt dessen einen Beruf im kommerziellen Journalismus und der Werbebranche gesucht hat. Trotz seiner sicher rationalen Argumentation (z. B. der Be hauptung, daß eine Geschichte, die nicht fertig wird, auch nicht gut sein kann) habe ich fast das Gefühl, als würde er das SFSchreiben meiden, wo immer er nur kann. Aber vielleicht stellt das Genre für ihn ein dermaßen spezielles Gebiet dar, daß seine 197
Arbeit in ihm den Wert verlieren würde, würde sie zu einem Teil der täglichen Routine. Es ist, als würde er sich das SFSchreiben nur an Geburtstagen und Nationalfeiertagen gestat ten, als zwänge ihn etwas dazu, sich den Rest des Jahres die Finger schmutzig zu machen und sich irdischen Tätigkeiten zu widmen – „etwas Solides zu schaffen“, wie er es nennt, und „bei den Leisten bleiben.“ Er hat sich ausgebreitet und Wurzeln geschlagen – und das in jedem Gebiet, auf dem man als kom merzieller Autor tätig sein kann. Für jene unter uns, die sein Werk aufgrund seiner ungewöhnlichen Tiefe, seiner Mensch lichkeit und seinem politischen Anspruch schätzen, ist das fru strierend. Man kann nur hoffen, daß Budrys, wenn er sich den nächsten Roman vornimmt, nicht das gleiche tut wie mit Mi chaelmas, und das halbfertige Manuskript für zehn Jahre beisei te legt, bevor er die Zeit hat, es zu beenden. Evanston, im Mai 1979
198
Bibliographische Anmerkungen Die Romane, die Algis Budrys möglicherweise am bekannte sten gemacht haben, sind Who? (1958) und Projekt Luna (1960; dt. 1965). Beide beschäftigen sich mit menschlichen Identitäts krisen und der Technologie als Eingriffsfaktor in die Psyche. In dem Roman Who? muß ein mit Hilfe von Prothesen unkennt lich gemachter Physiker beweisen, daß er kein sowjetischer Spion ist; seine einfühlsam beschriebenen emotionalen Schwie rigkeiten stehen neben einer mit Akkuratesse vermittelten poli tischen Spieltheorie. In Projekt Luna, einer dichten, psychologi schen Studie, die im Stil eines filmhaft wirkenden, quälenden Melodramas geschrieben ist, plagt sich ein Wissenschaftler mit den ethischen Implikationen seines Materietransmitters herum, dessen Nebenwirkung einen vom Tode besessenen Testpiloten, der die Maschine dazu benutzt, ein geheimnisvolles, außerirdi sches Bauwerk auf dem Mond zu erforschen, ununterbrochen tötet und zu neuem Leben erweckt. 1977 kehrte Budrys mit dem Roman Michaelmas (dt. 1979) wieder in den Schoß der Science Fiction zurück. Dieses Buch ist die beeindruckendste Vision, die das Genre zum Thema Mensch und Maschine in der nahen Zukunft bisher hervorge bracht hat: Es bietet einen formvollendeten und weitsichtigen Einblick in die Arbeitsweise moderner Elektronik und Kommu nikation. Budrys’ aktuellste Kurzgeschichtensammlung ist Blood and Burning (1978).
199
Philip José Farmer Um uns herum ist der Verkehr zum Stillstand gekommen. Trotz des leisen Motorengebrumms hörte ich Dudelsackmusik. Die Klänge werden lauter. Man spielt „When the Saints Go Mar ching in.“ Ich sehe Philip José Farmer an, der neben mir sitzt. „Was, zum Teufel, geht da vor?“ „Müssen die Shriners sein“, antwortet er. Ich steige aus und klettere auf das Wagendach. Ein Stück vor uns, an einer Kreuzung, hat die Polizei den Verkehr angehalten, und über die Kreuzung bewegt sich gerade eine Prozession, deren Anblick mich stutzen läßt. Zuerst kommen die Dudelsackpfeifer in voller Schottenmontur, sie haben sogar Bärenfellmützen auf. Dann folgt eine Phalanx von Männern in den mittleren Jahren. Sie tragen rosa und oran gefarbene Turbane, auf denen in großen Buchstaben MOHAM MED steht. Dann kommt eine komplett aus Männern bestehende
200
Blaskapelle, dem eine Schwadron von Männern folgt, die mit Anzügen bekleidet sind und regenbogenfarbene „Beanies“ (Käppchen mit Propellern) tragen. Dann kommt eine Formation von Männern in Sportjacken, die Mopeds fahren und einander – als gäben sie irgendeine Ballettvorstellung – umkreisen. Schließlich nähert sich der Kreuzung eine Reihe absolut identi scher, dunkelblauer Volkswagen – mindestens ein Dutzend. Warum Volkswagen? Warum blaue? Und warum, frage ich mich als nächstes, fahren da Clowns auf Fahrrädern vorbei und ziehen angemalte Holzdackel hinter sich her, deren Beine sich – als wären sie echt – beim Laufen bewegen? Was wollen diese orientalisch angehauchten Krieger in ihren farbenprächtigen goldenen und roten Roben, die mit Silberbronze bemalte Holz schwerter schwingen? Wozu dient dieser Schulbus voller Män ner, die sich singend und Papierfähnchen schwenkend aus den Fenstern lehnen? „Wo gehen die alle hin?“ frage ich. „Oh, zum Mohammedanertempel“, antwortet Farmer, als sei das alles ganz offensichtlich. „Aber – warum?“ „Na, so genau weiß ich das auch nicht“, erwidert er, als hätte er sich diese Frage noch nie gestellt. Man kann wohl sagen, daß sich in der überraschend konven tionellen Stadt Peoria in Illinois allerlei bizarre Dinge abspie len. Vielleicht ist der Konventionalismus sogar Schuld daran. Wie dem auch sei: daß Farmer hier lebt, paßt wie die Faust aufs Auge. Denn er ist sowohl ein konventioneller als auch ein bi zarrer Typ. Als ausgesprochen ruhiger Vertreter ist er stets respektabel gekleidet, bescheiden, zuvorkommend und fleißig. Er scheint alle Tugenden Horatio Algers in sich zu vereinigen. Anderer seits ist er aber auch der Mann, der die Science FictionHerausgeber in den fünfziger Jahren damit schockte, daß er Ge 201
schichten voller Sex verfaßte. Er war der erste, der außerirdi schen Charakteren ein Liebesleben verpaßte, das sie heiter mit menschlichen Lebewesen praktizierten, zum Beispiel in seiner klassischen Geschichte Die Liebenden. Außerdem schrieb er Der Sonnenheld, eine hemmungslos lüsterne Fantasy, und A Feast Unknown, in der Tarzan und Doc Savage, zwei Helden aus sei nen Kindertagen, mit übermenschlichen Geschlechtstrieben ausgestattet sind. In diesem Buch hat er kein Blatt vor den Mund genommen. Das erinnert mich an eine andere Szene. Als ich Farmer zum ersten Mal traf – vor zehn Jahren –, war ich noch nie in Amerika gewesen und verhielt mich dement sprechend zurückhaltend und schüchtern. In dem Raum, wo wir uns aufhielten, befanden sich noch zahlreiche andere Leute, die sich kannten und sich miteinander unterhielten. Farmer und ich saßen schweigend nebeneinander – wie ein paar Mauerblüm chen beim ersten Tanzball. Schließlich machte ich den mir am logischsten erscheinenden Vorstoß, um ein Gespräch in Gang zu bringen und fragte: „Woran arbeiten Sie gerade?“ Er sah mich an, als stelle er sich die Frage, ob er mich in seine Kreise einbeziehen solle. „Nun, wissen Sie, Charles“, begann er dann vorsichtig, „ich glaube, daß Tarzan wirklich gelebt hat.“ „Hä? Tatsächlich, Phil?“ „Wissen Sie, ich glaube, daß er entfernt mit Jack the Ripper verwandt war.“ Und so weiter. Wie in Peoria spielt sich auch in Philip José Farmer allerhand Phantastisches ab. Das meiste davon beruht auf den Mythen seiner Kindheit, die in ihm noch heute so le bendig sind wie damals. Während meines Aufenthalts in Peoria bezieht er sich ständig auf die Landschaft, die sein neues Haus umgibt, wo er in seinen Kindertagen am Waldrand gespielt hat. Wir wandern an einem Eisenbahngleis vorbei, dessen Reparatur sich nicht mehr lohnt, und er redet davon, daß hier in der Nähe 202
ein Sumpfgebiet ist, an das er besondere Erinnerungen hat. Tat sächlich überprüft er jede Vertiefung in der Hinsicht, ob sie auch die richtige ist. Als er jung war, haben seine Schulfreunde ihn „Tarzan“ genannt, weil er auf den Bäumen herumkletterte und sich im wahrsten Sinne des Wortes von Ast zu Ast schwin gen konnte. Er erinnert sich auch daran, mit den Indianern ge spielt zu haben. Er hat sich aus Baumstämmen ein Floß gebaut und Robinson Crusoe gespielt. Selbst jetzt, wo er in den Sech zigern ist, erweckt er einen jungen Eindruck. Er hat immer noch ein athletisches Äußeres, ist groß, stark und sieht gut aus. Er zählt auf, welche Tiere hier früher in den Wäldern gelebt haben: Wölfe, Pumas, Bären, Luchse, und sogar – wie er behauptet – Sittiche. Und ich erfahre, daß es hier früher einen Indianerstamm gab, der außergewöhnliche Bräuche pflegte – einschließlich den, daß man dort die Kleider des anderen Geschlechts trug. Ich muß ihn zweimal ansehen, um mir darüber klar zu wer den, ob er mich auf den Arm nehmen will. Er scheint es nicht vorzuhaben. Ich versuche, hinter den Sinn dieser Sache zu kom men. Warum sollten in einer Region, in der die ansässigen Ge schäftsleute heutzutage Turbane, Roben und Kilts tragen, ir gendwelche Indianer nicht in Frauenkleidern herumgelaufen sein? Das Waldgebiet hat man zu einem Großteil abgeholzt. Nun stehen dort Häuser; Häuser wie jenes, in dem Farmer nun mit seiner Frau Bette lebt. Es hat nur ein Stockwerk, ist sehr mo dern, mit neuen Möbeln ausgestattet, von einem Raum zum an deren ausgelegt und hat einen Keller, in der sich eine Bar mit imitierter Marmortheke befindet. Die Wände sind holzgetäfelt, aber auch hier findet man da und dort ein Plastikding, das vor gibt, aus Schmiedeeisen zu sein. Das im Wohnzimmer stehende Radio ist auf einen Sender eingestellt, der Schmalzmusik aus strahlt, die im Inneren des Hauses herrschende Vorstadtstim mung zum Klingen bringt und die Einrichtung geradezu er 203
gänzt. Die in allen Räumen angebrachten Luftauffrischer ergän zen wiederum die Musik. Farmer scheint sich dieser Dinge nur am Rande bewußt zu sein: zweifellos ist seine Frau dafür verantwortlich. Sein Ar beitsraum liegt unten; man kann ihn erreichen, wenn man einen langen Kellergang hinter sich bringt und um eine Ecke biegt. Dort stößt man auf einen kühlen, fensterlosen Verschlag. Auch hier sind die Wände holzgetäfelt – jedoch ganz anders deko riert. Ich sehe zum Beispiel erotische Kunst, Zeichnungen, die entstanden, um seine frühen Arbeiten zu illustrieren. Und Rega le – endlose Regale – voller Sekundärliteratur, die seine Faszi nation in bezug auf Sprachen, Mythen und Legenden wider spiegeln. Und zusätzlich eine Reihe seiner eigenen Schriften – sie ist etwa eineinhalb Meter lang. In Freudscher Terminologie (die Farmer in seinem Werk oft benutzt hat): Dies ist sein Versteck; hier arbeitet er, und hier hat er sich vergraben, wie das Unterbewußtsein unter dem konven tionellen amerikanischen Heim. Farmers schriftstellerische Motive und Kreativitätsquellen sind gleichermaßen gut vergraben und nicht leicht ans Tages licht zu zerren. Selbst nachdem ich mich zwei Tage lang in sei nem Haus aufgehalten und mit ihm geredet habe, weiß ich im mer noch nicht, in welchem Maße er bewußt arbeitet und wann er naiv seinen Instinkten folgt. Als ich ihn nach diesen Dingen frage, bekomme ich zwar sachliche Antworten, aber sie sind so allgemein gehalten, daß sie fast schon wieder Plattheiten dar stellen. Zum Beispiel: „Man muß die Leser mit der Geschichte bei der Stange halten; selbst wenn man ein ernstes Thema hat, muß man immer dafür sorgen, daß die Sache sich weiterbewegt. Man muß die Charaktere so realistisch wie möglich zeichnen … Ich setze mich niemals mit dem Plan hin, daß ich die Leute un terhalten muß; ich schreibe die Geschichte einfach so, wie ich sie haben will.“ Und so weiter. 204
Teilweise, denke ich, stimmt das; er legt wirklich einfach los, ohne sich vorher über die Richtung im klaren zu sein. Anderer seits aber fällt es ihm nicht leicht, über sich selbst zu reden; be sonders dann nicht, wenn ein Kassettenrecorder vor ihm steht. Bevor wir mit dem Interview anfangen, schüttet er sich etwas Glenfiddich-Whisky ein, setzt sich ein bißchen steif hin und sagt: „Ich warne dich. Ich neige dazu, mich von solchen Dingern ein schüchtern zu lassen.“ Er sieht das Mikrophon mit mißtraui schen Blicken an. Sobald er dazu ansetzt, meine Fragen zu be antworten, verdoppelt sich das Volumen seiner Stimme, als würde er vor Publikum sprechen. Farmer wählt seine Worte sorgfältig aus, als wolle er vermeiden, daß das, was er sagt, später gegen ihn verwendet werden kann. Was am Ende dabei herauskommt, ist die einfache Geschichte einer harten Schufterei und fortgesetzter Enttäuschungen; der Versuch, sich Wissen anzueignen, um weiterzukommen – und ein Idealismus von solcher Reinheit, daß er schon an Naivität grenzt. „Ich wurde im Januar 1918 geboren“, fängt Farmer etwas steif an. „Das ist das Jahr, in dem von Richthofen abgeschossen wurde“, fügt er mit einem schüchternen Lächeln hinzu und er wähnt damit eine weitere seiner legendären Lieblingsgestalten. „Ich wollte eigentlich Zeitungsreporter werden, was mir heute, wenn ich zurückblicke, ziemlich lächerlich vorkommt, weil ich gar nicht die aggressive Persönlichkeit bin, die man in einem solchen Beruf sein muß. 1936 machte mein Vater ein Nebenge schäft auf, um meine Collegeausbildung zu finanzieren. Bald darauf ging er pleite. Ich hatte das College wieder zu verlassen, weil ich dabei helfen mußte, die Schulden zu bezahlen, die er gemacht hatte. Obwohl mein Vater in Konkurs gegangen war, bestand er darauf, jeden Pfennig, den er sich geliehen hatte, zu rückzuzahlen. Ich arbeitete dann für die Elektrizitätsgesellschaft Illinois Power and Light und reparierte Stromleitungen. 205
Manchmal hatte ich auch auf dem Land zu tun, wenn Hoch spannungsmasten aufgestellt wurden. Als der Krieg vor der Tür stand, ging ich, bevor man mich einzog, als Flugschüler zur Luftwaffe. Nach viereinhalb Mona ten warf man mich wegen mangelnder Flugfähigkeiten aus dem Lehrgang. Daraufhin nahm ich einen Job bei der Keystone Steel and Wire Company an und wartete darauf, daß man mich ein zog. Aber sie haben mich nie geholt. Ich blieb also elf Jahre in diesem Stahlwerk und machte dort die heißeste und schwerste Arbeit, die man sich vorstellen kann. Gewiß, ich hätte mich auch nach einem anderen Job umsehen und die Stelle wechseln können. Aber was sollte ich tun? Ich hatte ja nicht einmal eine richtige Ausbildung.“ Bei jedem Wort, das Farmer sagt, bleibt er sachlich. Er spricht langsam, mit tiefer Stimme und beschreibt seinen Le bensabschnitt als junger Erwachsener als eine Periode frustrier ter Erwartungen und Opfer. Er würde allerdings nie so reden, daß man es ihm anmerkt. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, daß er sich in seinem Leben oft beschwert hat. „In diesen elf Jahren schrieb ich etwa zehn Kurzgeschichten. Nur zwei davon waren Science Fiction; und nur eine der ande ren konnte ich verkaufen. Weißt du, ich hatte gar nicht vor, Science Fiction-Autor zu werden. Ich wollte mich in der allge meinen Literatur betätigen. Meine Stories schickte ich an die Saturday Evening Post und Redbook. Aber nicht einmal dort habe ich mich sehr um eine Veröffentlichung bemüht. Wenn eine meiner Geschichten zweimal abgelehnt wurde, schickte ich sie überhaupt nicht mehr weg. Im Jahre 1949 gingen Bette und ich wieder aufs College zu rück. Ich arbeitete immer noch achtundvierzig Stunden pro Woche, schlug mir bei Keystone die Nächte um die Ohren und riß nebenbei noch siebzehn Unterrichtsstunden ab – was bedeu tete, daß ich sechs Nächte in der Woche arbeitete, nach Hause 206
ging, frühstückte, bis gegen ein, zwei Uhr die Schulbank drück te, meine Hausaufgaben erledigte und wieder zur Arbeit ging. Das lief etwa eineinhalb Jahr lang so. Ich war ein fleißiger Leser. Ich schaffte es sogar, während der Arbeitszeit zu lesen, als ich in der Qualitätskontrolle tätig war. Da kamen sechs bis sieben Meter lange Eisenblöcke auf einer Rutsche an mir vorbei; meine Aufgabe bestand darin, mir ihre Enden anzusehen und zu prüfen, ob sie in Ordnung waren. Ich hatte immer etwas Zeit, bis der nächste Block kam, da las ich etwa eine halbe Seite, kehrte an die Arbeit zurück – und fing das Spiel von neuem an. Als ich an den Hochöfen arbeitete, konnte ich mir auch immer ein bißchen Zeit nehmen. Trotz der dort herrschenden Hitze und der schweren Arbeit gelang es mir immer, dreißig Minuten des achtstündigen Tages zum Lesen abzuzweigen. Auf diese Weise habe ich auch gelernt. Als die eineinhalb Jahre um waren, litt ich an nervöser Erschöpfung. Ich feierte zwei Wochen krank, dann zog ich wieder los und beschaffte mir einen anderen Job.“ Er lacht. ,,1952 schickte ich dann die Kurzversion meines späteren Romans Die Liebenden ab. John W. Campbell, der sie für ‚ekelhaft’ hielt, lehnte sie ab. Die Reaktion von Horace L. Gold – dem damaligen Herausgeber von Galaxy – war ähnlich. Schließlich schickte ich die Geschichte an Sam Mines, der die Magazine Startling Stories und Thrilling Wonder Stories he rausgab. In Startling wurde sie dann veröffentlicht. Ich nahm mir vor, freier Schriftsteller zu werden. Der Verlag Shasta Publications, ein kleines Unternehmen in Chicago, hatte mit dem Verlag Pocket Books die Abmachung getroffen, einen internationalen Fantasy-Preis zu vergeben. Es ging dabei um eine Summe von 4000 Dollar, was 1952 eine ziemliche Menge Geld war. Ich setzte mich hin und tippte jeden Tag zwischen zwölf und sechzehn Stunden. Ich ging dann die ganze Sache noch einmal durch und korrigierte sie. Bette und eine Nachbarin 207
schrieben dann die Endversion noch einmal ab. Ich sandte das Manuskript ein. Es kam gerade noch pünktlich, und ich hatte gewonnen.“ Damit fing allerdings eine neue Reihe von Enttäuschungen an. Der Verlag Shasta Publications bediente sich dermaßen be trügerischer Methoden, daß Farmer von seinem Preis nicht das geringste zu sehen bekam und die Rechte an seinem Roman für Jahre blockiert wurden. Schließlich hatte er keine andere Wahl mehr, als sich eine Existenz als freier Schriftsteller aus dem Kopf zu schlagen. „Der Mann, dem Shasta gehörte, hatte das Geld, das Pocket Books ihm für mich gegeben hatte, einfach behalten und ohne unser Wissen in ein anderes Projekt gesteckt, das sich im nach hinein als Fehlschlag erwies. Er behielt nicht nur das Geld, son dern hüllte sich auch gegenüber Pocket Books in Schweigen, die mein Manuskript niemals in die Finger bekamen. Ich blickte da nicht mehr durch. Und um mich hinzuhalten, sagte er, man sei bei Pocket Books nicht ganz zufrieden mit meinem Roman – ich sollte ihn noch einmal komplett überarbeiten. Ich tat es. Aber natürlich verdiente ich in dieser Zeit durch die Schreiberei überhaupt kein Geld. Der Bursche hat nicht nur mich betrogen, sondern auch John Campbell, Murray Leinster und Raymond F. Jones. Und als er dann bankrott machte, hatte es keinen Sinn mehr, ihn zu verkla gen. Uns hat das unser Haus gekostet, denn wir mußten es ver kaufen und in ein kleineres ziehen. Schließlich suchte ich mir wieder einen Job – diesmal in der örtlichen Molkerei. Ich brachte zwar hin und wieder etwas zu Papier, aber nicht viel. Diese Betrugsgeschichte hatte mich wirklich am Boden zer stört.“ Später versuchte Farmer sich in den unterschiedlichsten Be rufen: Er arbeitete als „technical writer“ für General Electrics – mehrere Jahre lang. Dann zog er nach Arizona, wo er sieben 208
Jahre lang für die Firma Motorola tätig war. Schließlich ging er nach Los Angeles, wo er als „technical writer“ für McDonnellDouglas arbeitete. Aber: „Als die Gelder für das Weltraumprogramm spärlicher zu fließen begannen, lag ich 1969, einen Monat vor der ersten Mondlandung mit Tausenden von anderen auf der Straße. Ich habe mitgeholfen, das Raumschiff auf den Mond zu bringen, aber trotzdem sägten sie mich ab. Es war eine miese Zeit, in der Ingenieure mit Doktortiteln an irgendwelchen Tankstellen job ben mußten. Einige begingen sogar Selbstmord. Ich hielt die Augen zwar offen, fand aber dennoch keine Stelle. Na gut, dachte ich mir, dann kannst du ja abends und an den Wochen enden zumindest wieder schreiben. Ich spielte wieder mit dem Gedanken, freiberuflich tätig zu werden. Vielleicht hatte ich ja diesmal mehr Glück. Nun ja, auch dies waren keine Zeiten zum Zuckerlecken: Als wir wieder nach Peoria zogen, mußten wir erst mal zusehen, sechs Monate lang ohne das Geld auszukom men, das diverse Verleger mir schuldeten. Ich biß die Zähne zusammen und blieb bei der Stange. In den letzten fünf Jahren ist meine Situation stets besser geworden. Im Moment kann ich mich über nichts beklagen.“ Das von Farmer angesprochene Frühwerk, das den interna tionalen Fantasy-Wettbewerb gewann, war der erste Teil seiner Flußwelt-Serie … Im Grunde genommen hat mir dieser Verleger noch einen Gefallen getan, denn damals existierte noch gar kein Markt für einen 150 000 Worte umfassenden Science Fiction-Roman. Ich legte das Manuskript also erst einmal auf Eis. Viele Jahre später kramte ich ihn dann wieder hervor und gab ihn dem Verlag Bal lantine. Betty Ballantine, die Verlegerin, schickte es allerdings mit der Bemerkung zurück, sie sehe darin lediglich einen Aben teuerroman. Ich schickte ihn dann an Fred Pohl, der damals ge rade Galaxy herausgab. Er meinte, ihm gefiele zwar die Idee, 209
aber er halte sie für zu groß, um sie in einem Roman zum Tra gen kommen zu lassen. Schließlich fragte er mich, ob ich keine Lust hätte, ein paar Erzählungen für die Magazine zu schreiben und sie später zusammenzufassen. Und genau das passierte dann auch. In den neuen Flußwelt-Romanen, die ich geschrie ben habe, ist – abgesehen vom Grundkonzept – nicht mehr viel vom damaligen Originalmanuskript enthalten.“ Die Flußwelt-Bücher sind Farmers bisher bekanntesten Ver öffentlichungen. Die Flußwelt der Zeit wurde 1972 mit dem Hugo Award ausgezeichnet. Zwanzig Jahre nachdem man ihn um seinen Preis betrogen hatte, erreichte er endlich das Publi kum, das er verdiente – und das wiederum zollte Farmers Ar beit Anerkennung. „Alles, was ich gemacht habe, habe ich langsamer gemacht als die anderen. Ich führe das aber nicht auf eine geringere In telligenz zurück, sondern auf mein Temperament. Als ich zur High School ging, hatte ich mit Mädchen nichts zu tun. Ich war einfach zu gehemmt. Ich habe erst mit neunzehn den ersten Schnaps getrunken. Ich war auch sehr naiv. Und eine Leseratte. Gleichzeitig interessierte ich mich allerdings für Leichtathletik, besonders das Laufen. Ich bin 440 und 220 Yards gelaufen und habe Weitsprung trainiert. Aber was kann man lernen, wenn man nur Leute kennt, die ununterbrochen die Hanteln schwin gen? Ich glaube, ich bin trotz meiner jetzt einundsechzig Lebens jahre nicht im geringsten eingerostet. Im Gegenteil: Ich ent wickle mich weiter. Und wenn ich in zehn Jahren noch lebe, werde ich ein weitaus besserer Schriftsteller sein als jetzt. Ich kann nicht behaupten, rundum zufrieden zu sein, weil ich das, was ich ursprünglich tun wollte, noch nicht getan habe. Ur sprünglich hatte ich ja vor, mich in der allgemeinen Literatur zu betätigen; vielleicht tue ich das noch – hin und wieder. Ich möchte die Befriedigung erleben, dazu fähig zu sein. Ich glaube, 210
wenn Fire and the Night die Verbreitung und Anerkennung ge funden hätte, die dem Roman zustand, als ich ihn schrieb, wäre ich möglicherweise in die allgemeine Literatur übergewechselt.“ (Das Buch beschreibt in spannender Form die Geschichte einer Liebesaffäre zwischen den Angehörigen zweier verschiedener Rassen; es hat symbolische Obertöne und spielt vor dem Hinter grund eines Stahlwerks. Es pflegt eine ausdrucksvolle Sprache, aber das Thema war zum Zeitpunkt des Erscheinens ziemlich heikel). Ich frage Farmer, ob er mit der Arbeit, die er bisher geleistet hat, zufrieden ist. „Jedesmal, wenn ich mir eines meiner Bücher vornehme und darin lese – was ich allerdings nicht sehr oft tue, weil es mir zu große Schmerzen bereitet –, fällt mir auf, was ich hätte besser machen können. Das passiert mir unzählige Male. Aber es ist sinnlos, sie noch einmal zu überarbeiten, denn wenn ich das täte, verlören sie die primitive Urwüchsigkeit, mit der sie ge schrieben wurden. Statt dessen sollte man sich weiterentwickeln und neue, bessere Sachen machen. Es hat Fälle gegeben, in denen ich das Zeug nur so herunterras selte, und das merkt man nicht nur an der Sprache, sondern auch am Aufbau und der Charakterisation. Ich bin zu sehr darauf aus gewesen, mein Leben als Science Fiction-Autor bestreiten zu können – deswegen mußte ich mir so viele Verträge wie möglich an Land ziehen. Bei manchen Arbeiten habe ich mir allerdings mehr Zeit gelassen. Zum Beispiel bei Riders of the Purple Wage (einer langen, experimentellen Erzählung, die in der von Harlan Ellison herausgegebenen Anthologie Dangerous Visions er schien). Da hat das Schreiben Spaß gemacht, ohne nach Arbeit zu schmecken. Und dann habe ich noch Venus on the Half-Shell (un ter dem Namen Kilgore Trout, eines fiktiven Charakters, den Kurt Vonnegut erfunden hat) geschrieben. Das ist zwar sehr schnell gegangen, aber mit dem Ergebnis bin ich trotzdem zufrieden.“ 211
Was die Entstehung dieses Titels angeht, hat Farmer noch einige Anmerkungen zu machen: „Möglicherweise wird Vonnegut heutzutage so tun, als habe er Schwierigkeiten, sich an meinen Namen zu erinnern, aber ich bin sicher, daß er mich sehr gut kennt. Wir haben mehrmals miteinander telefoniert. Er hat mich mindestens einmal auf ei nem Vortrag erwähnt. Und wir haben Briefe gewechselt. Venus on the Half-Shell hat ihm angeblich eine Menge unnötiger und masochistischer Qualen eingetragen. Ich schrieb dieses Buch (und zwar mit großem Enthusiasmus und Feuereifer), weil ich mir vorstellte, daß die Leute ausflippen würden, wenn sie einen Roman von Kilgore Trout, der ja eine erfundene Gestalt ist, zu Gesicht bekämen. Mein zweites Motiv bestand darin, daß ich dem Autor, den ich damals am meisten liebte und wertschätzte, meinen höchsten Tribut zollen wollte. Und ich identifiziere mich mit Trout. Vonnegut sagt, er habe die Absicht gehabt, von vielen Leuten Trout-Bücher schreiben zu lassen. In einer anderen Publikation hat er durchblicken lassen, daß er mit dem Gedanken gespielt hat, ein solches Projekt selbst durchzuziehen. In allen Gesprä chen und Briefen, die zwischen uns zustandegekommen sind, hat er davon nie etwas erwähnt. Ich glaube, er ist erst später darauf gekommen. Wie Billy Pilgrim (der Held in Schlachthof 5) wirft auch Vonnegut die Zeiten durcheinander. Ich glaube, daß Vonnegut in dem Interview, das für diesen Porträtband gemacht wurde, hauptsächlich deswegen sauer auf mich ist, weil ich mich zu enthüllen weigerte, daß Venus von mir stammt. Aber Vonnegut sollte es besser wissen. Als er vor schlug, daß ich den Leuten einen Tip geben sollte, habe ich mein bestes getan, um dem zu entsprechen. Wenn ihm der Ge danke unsympathisch war, mit dem Roman identifiziert zu wer den, warum hat er dann mein Angebot abgelehnt, im Vorspann des Buches bekanntzugeben, daß er nicht der Autor sei? 212
Aber jegliche Spekulationen über Vonneguts ausgeprägte Neigung, die Vergangenheit auf dem Kopf zu stellen, wären an dieser Stelle wohl fehl am Platze.“ Man kennt Farmer heute als einen zu allerlei Scherzen aufge legten Schriftsteller, der sich alle möglichen Namen aus der Geschichte und der Weltliteratur ausgeliehen hat. Manche da von benutzt er als Pseudonym, andere benutzt er, um von ihrem Standpunkt aus Märchen zu erzählen. Er erklärt, daß ihm diese Idee kam, als er nichts mehr zustandebrachte und an Einfallslo sigkeit litt. Sobald er die Identität einer Gestalt der Weltliteratur annahm, schmolzen die Schwierigkeiten dahin. Als die Zeiten der Einfallslosigkeit vorbei waren, machte es ihm Spaß, die Identitäten anderer anzunehmen. Am meisten allerdings erinnert man sich bei der Nennung seines Namens an einen Science Fiction-Autor, der es wagte, über Sex zu schreiben und seine erotischen Phantasien schließ lich in Romanen wie The Image of the Beast und A Feast Unknown zu einem unerwarteten Höhepunkt brachte. Ich frage ihn, was er von literarischer Zensur hält. „Nichts. Ich bin der Meinung, daß man alles veröffentlichen dürfen sollte. Man macht sich in erster Linie Sorgen um die Jugend, weil sie durch allzu offenherzige Schilderungen Scha den nehmen könnte, aber man vergißt dabei, daß alles, was für die Jugend zu erwachsen aussieht, für sie nicht von Interesse ist. Es langweilt sie. Ich glaube, man sollte jeden das sagen lassen, was er will. Ich kann nicht einsehen, wieso die Pornographie – von welcher Art auch immer – den Leuten schaden könnte. Es ist doch eine literarische Sache. Ich meine, es wird einfach ge lesen; da geht doch anschließend niemand auf die Straße, wenn er erregt ist und vergewaltigt jemanden.“ Ich frage ihn, wieso er sich dessen sicher sein kann. „Sicher bin ich mir nicht, aber ich gehe davon aus.“ Er scheint dieser Theorie aber sehr stark anzuhängen. 213
„Klar. Aber bisher hat auch noch niemand bewiesen, daß das Lesen von Pornographie oder Gewalt sich auf die Leute über trägt. Mithin verbreitet auch die Gegenseite nur Theorien.“ Er gibt bereitwillig zu, in der Vergangenheit Fehlurteile ab gegeben zu haben – was möglicherweise damit zusammen hängt, daß sein Glaube an die menschliche Vernunft zu groß war: „Im Jahre 1953 hielt ich auf einem Science Fiction-Kongreß in Philadelphia eine Rede, in der ich mich ziemlich engagiert über sexuelle Unterdrückung und Tabus ausließ. Und wie sieht es heute aus? Unsere Einstellung zum Sex ist zwar viel liberaler und großzügiger geworden, aber gleichzeitig verzeichnen wir einen gleichbleibenden Anstieg bei den Sexual- und Gewaltde likten. Als ich 1953 meine Rede hielt, ging ich davon aus, daß Leute, die mehr über Sex wissen, auch unerwünschte Schwan gerschaften und Geschlechtskrankheiten vermeiden können. Und was ist statt dessen dabei herausgekommen? Ist es etwa so, daß heutzutage nur noch eins von zehn Mädchen eine uner wünschte Schwangerschaft hat? Und das ist nicht nur in den Städten so.“ Er klingt enttäuscht; als könne er einfach nicht begreifen, warum manche Leute keine Lust verspüren, sich auf die gleiche Weise weiterzubilden wie er und sich von der Vernunft leiten zu lassen. Ich frage ihn, was er getan hätte, wenn er kein Schriftsteller geworden wäre. „Ich wäre aufs College zurückgegangen und hätte in den Fä chern Anthropologie und Linguistik einen Abschluß gemacht. Ich wäre gern Linguistikprofessor geworden und hätte Spra chen, ihren Aufbau und phonetische Vergleiche zu anderen Sprachen studiert. Ich hätte auch sehr gerne eine indianische Sprache gelernt, weil sie von unserem abendländischen Blick punkt so weit entfernt ist.“ 214
Mir gehen die Fragen aus. Es ist offensichtlich, daß das In terview sich dem Ende nähert. Farmer scheint unzufrieden zu sein. „Ich habe nicht das Gefühl, daß alles gesagt worden ist“, merkt er an; er scheint sich aber über das, was fehlt, nicht im klaren zu sein. Ich lasse den Namen Tarzan fallen – den ich bisher in mei nen Fragen überhaupt noch nicht erwähnt habe. Ich erinnere Farmer an das, was er mir bei unserem ersten Treffen erzählt hat – daß er an die Existenz dieser mythischen Heldengestalt glaubt. „Nun, in einem gewissen Sinne glaube ich wirklich, daß er gelebt hat, denn ich fing schon sehr früh mit dem Lesen von Burroughs’ Büchern an. Sie waren ein Bestandteil meines Le bens. Da ich in gewisser Hinsicht ein Romantiker bin, gefällt mir natürlich die Idee vom edlen Wilden. Obwohl Tarzan in Wirklichkeit kein Wilder war, sondern nur ein ungebildeter Mensch. Die Anthropologen benutzen das Wort ‚wild’ übrigens nicht mehr, wenn es sich um Frühmenschen handelt. Tarzan wurde von sogenannten Menschenaffen aufgezogen, die ir gendwo zwischen den Affen und den Menschen stehen. Unter diesem Aspekt betrachtet, zählte er also nicht zu den Wilden … Der Gedanke, in der Wildnis zu leben und sich seine eigenen Gesetze zu machen, fasziniert viele Amerikaner. Selbst wenn ich die Sache realistisch betrachtete und mir klarmachte, daß ein solches Leben nicht durchführbar ist, gefiel sie mir. Tarzan war einer der letzten Helden des alten, goldenen Zeitalters der Mythologie. Manchmal weiß ich wirklich nicht, ob er nicht doch existiert. Als ich noch klein war, habe ich häufig Tarzan gespielt. In der Schule hat man mich mit seinem Namen gerufen, weil ich ewig auf irgendwelchen Bäumen herumhing. Ein paarmal bin ich auch böse abgestürzt. Ich wohnte damals am Waldrand – es war noch eine halbe Wildnis- und spielte Büffeljäger oder In 215
dianer. Als Indianer kämpfte ich gegen die weißen Pioniere im Ostwald. Na ja, solche Sachen halt. Wir spielten auch John Carter vom Mars … Aber Tarzan spielte ich am allerliebsten. Ich war wirk lich ein sehr guter Kletterer, schwang mich von Ast zu Ast und griff auch manchmal daneben.“ Er lacht. „Einmal bin ich der maßen böse abgestürzt, daß ich mehrere Stunden lang ohne Be sinnung war. Und …“ Er hält plötzlich inne. „Tut mir leid, manchmal gerate ich einfach ins Schwafeln.“ Ich glaube, dies ist das erstemal während des ganzen Inter views gewesen, daß er die Gegenwart des Kassettenrecorders vergessen hat. Später gehen wir zum Essen aus. Farmer schlägt ein neues Restaurant vor, das er ausprobieren möchte, das Blue Max. Da ihn die legendären Fliegerasse des Ersten Weltkriegs schon immer fasziniert haben und er gehört hat, daß das Lokal mit allerlei Reliquien aus dieser Zeit dekoriert sein soll, will er es unbedingt aufsuchen. Außerdem, fügt er hinzu, als genüge die ses Motiv nicht, soll man dort wirklich gut essen können. Als wir dort ankommen, erleben wir den nächsten bizarren Eindruck. Auch hier stoßen wir auf die ausgeflippte Welt der Stadt Peoria, ohne daß irgendjemand auch nur den Hals reckt oder etwas ungewöhnlich findet. Über der Bar hängt das Modell eines lebensgroßen Fokker-Dreideckers. Er ist knallrot ange strichen. An den Wänden sind Sandsäcke aufgestapelt – als sei dieses kahle, moderne Gebäude beschlagnahmt und in eine Art Bauhaus-inspirierten Führerbunkers verwandelt worden. Hinter der Kasse entdecke ich das schreiend bunte Wandgemälde einer brennenden (etwa Dresden?) Stadt. Während wir die deutsche Küche genießen, sitzen wir auf Stühlen, deren Rückenlehnen deutsche Militärkreuze aufweisen. Über jedem Tisch hängt ein deutscher Stahlhelm, der als Lampenschirm dient. Aber dabei handelt es sich nicht um die altbekannten Pickelhauben – nein, 216
es scheinen Nazihelme zu sein. Wir sitzen da und essen unter Naziheimen, aus denen man Lampenschirme gemacht hat. Nach dem Essen gehen wir. Das Restaurant ist erst vor so kurzer Zeit gebaut worden, daß man bisher noch nicht dazu ge kommen ist, seine Umgebung von den Schutthalden zu befreien. Überall schlammiger Unterboden. Eine umgepflügte Ödnis. Ja, es kommt mir vor wie ein echtes Schlachtfeld, als würde der Eindruck, den das Lokal von innen macht, sich über die ganze Umgebung erstrecken. Nun ja, möglicherweise ist das Leben in Peoria nicht immer so rätselhaft und verwirrend wie heute. Vielleicht reagiere ich nur zu stark auf das, was ich sehe und es handelt sich wirklich nur um eine ruhige, kleine Stadt, die bar jeder ungewöhnlichen Psychosen ist. Aber dennoch denke ich an dieser Stelle, daß es an der Zeit ist, weiterzuziehen; weg von den Szenaristen der Mythen und Legenden. Es ist Zeit, nach Westen zu gehen, in jene Gegend, die ich nur als die relative Normalität Kaliforniens bezeichnen kann. Peoria, im Mai 1979 P. S.: Philip José Farmers Anmerkungen, die den Roman Venus on the Half-Shell betreffen, wurden nicht während des Inter views aufgenommen, sondern diesem später auf Wunsch des Autors hinzugefügt.
217
Bibliographische Anmerkungen Farmers kontroverse und tabubrechende Erzählung Die Liebenden erschien erstmals 1952. Sie wurde 1961 (dt. 1978) in Buchform veröffentlicht. Obwohl das Buch heutzutage niemanden mehr schockieren würde, ist es dennoch ein Meisterwerk einer detail reichen biologischen Extrapolation geblieben – und darüber hinaus von einer herrlichen Romantik. Weitere Erzählungen Farmers, die das Thema der Sexualität aufgreifen, findet man in der Sammlung Strange Relations (1960). Auch hier bezieht der Autor sich auf Freud. The Alley God (1962), eine ausgezeichnete Sammlung längerer Erzählungen, reflektiert einige von Farmers anderen Interessen. Die Verehrung seiner Lieblingshelden kommt in Tarzan Alive (1972) und Doc Savage: His Apocalyptic Life (1973) zum Ausdruck; beide Bücher gehen von dem Standpunkt aus, daß die legendären Charaktere wirklich gelebt haben. Farmer zieht darin die ganze Sache „wissenschaftlich“ auf und weist anderen „Biographen“ Fehler und Ungenauigkei ten nach. Das Resultat ist auf jeden Fall witzig und unterhalt sam, auch für Außenseiter. The Image of the Beast (1968) war Farmers erste Möglichkeit, einen unzensierten erotischen Fan tasy-Roman zu schreiben. 1969 erschien dann A Feast Unknown, worin Tarzan auf Doc Savage trifft. Auch dieser Roman ist voller Sex und Gewalt. Die Flußwelt-Serie begann in Romanform mit dem Titel Die Flußwelt der Zeit (1971; dt. 1979): Die Handlung spielt auf ei nem Planeten, auf dem die gesamte menschliche Rasse am Ufer eines scheinbar unendlichen Flusses zu neuem Leben erweckt wird. In dieser unterhaltsamen Fantasy läßt der Autor keine Möglichkeit verstreichen, sich historischer Persönlichkeiten zu bemächtigen und sie zu Bestandteilen seiner Phantasie zu ma chen.
218
A. E. van Vogt Sonnenstrahlen brechen sich auf glitzernden Wagen. Weiße Highways, blauer Himmel; weiße Strände, blaue See, weiße Gebäude. Auf den dunstigen, malvenfarbenen und braunen Hü geln liegen Häuser verstreut. Nackte Füße, blondes Haar, son nengebräunte Körper, verwaschene Jeans. Man ist ununterbro chen in Bewegung; im Tal der Fieberträume wimmelt es von Leben. Rasensprenger erzeugen Regenbogen; bunte Vögel sitzen auf den Hochspannungsleitungen; in den Eingängen räkeln sich Eidechsen in der Sonne. Beton, Stahl und Glas inmitten der reichlich vorhandenen Vegetation: Alles ist saftig und grün, eine Dschungellandschaft, die von der ewigen Sonne am Leben erhalten wird. Der Belden Drive ist ein schmaler Betonweg, der sich in die Hügel hinaufschlängelt. An jedem Knick, den die Straße macht, stehen von Büschen, Stauden und Kakteen umgebene Häuser.
219
Die Luft vibriert. Sie ist voll von summenden und brummenden Insekten. Das Haus, in dem A. E. van Vogt lebt, ist eine spanische Villa mit roten Dachpfannen und Stuckwänden. Es steht unterhalb des alten HOLLYWOOD-Schriftzugs in einer Abhangnische, und von seiner Veranda aus kann man über das saftige Grün hinweg auf das breite, flache Tal von Los Angeles sehen. Für meine an die Großstädte des Ostens gewöhnten Augen ist die Umgebung ein pazifisches Paradies, das Reichtum und Techno logien in eine Art Zukunftswelt umgewandelt haben. Ich habe den Eindruck, daß van Vogt von seiner Umgebung weit weniger beeindruckt ist. Er ist kein Kalifornier, er könnte ebenso gut in einer Blockhütte oder einer Höhle leben. Die son nige Szenerie der Westküste scheint für ihn und seine Arbeit irrelevant zu sein, weil das, was er hier zu sehen bekommt, im Vergleich mit seinen Phantasien nur trivial ist. Sein Bewußtsein hat da ganz andere Landschaften in petto. Natürlich neigen viele Phantasten dazu, die Welt, die sie um gibt, zu negieren. Aber für van Vogt ist das geradezu typisch. Erstens läßt er in dem, was er tut, das Unterbewußtsein viel mehr sprechen als die meisten anderen Autoren, und zweitens hat er einen großen Teil seines Lebens damit verbracht, nach innen zu blicken und Psychologie und menschliches Verhalten zu studieren – hauptsächlich mit Hilfe von Dianetik und Hyp nose. Er redet wie ein Theoretiker und bezieht sich sehr oft auf Sy steme, Methoden und andere Formen des organisierten Den kens. Seine Science Fiction-Texte beschäftigen sich ebenfalls mit den Mächten der Rationalität und Disziplinen wie der all gemeinen Semantik. In Wirklichkeit aber hat sein Talent mit Wissenschaft oder Logik nichts zu tun: Es ist intuitiv und un kontrollierbar (und drückt sich, daran kommt man nicht vorbei, gleichzeitig durch eine oberflächliche, fast mechanisch wirkende 220
Schreibweise aus). Van Vogt ist für seine Außergewöhnlichkeit bekannt: Er ist eine unwiderstehliche Erscheinung; seine Augen haben einen zwingenden, leicht überdreht wirkenden Glanz – und wenn er schreibt, besteht das Ergebnis aus einer irren, be eindruckenden Reise in die symbolischen Tiefen der Psyche. Wenn man einen seiner Romane aufschlägt, dringt man in das Unbewußte vor. Van Vogt zeichnet Träume auf. Und mit einer ungewöhnlichen Methode träumt er das, was er schreibt. Zuerst beschreibt er, wie er Schriftsteller wurde. Es war noch in Kanada (wo er 1912 zur Welt kam), und er war ziemlich jung. „Ein Mann namens John W. Gallishaw schrieb ein Buch mit dem Titel The Only Two Ways to Write a Short Story (Die bei den einzigen Möglichkeiten, eine Kurzgeschichte zu schreiben). Ich lieh mir das Buch in der Stadtbibliothek von Winnipeg aus und las es in einem Zug durch. Es war unwahrscheinlich schwer zu lesen und ist sehr lang. Aber es versorgte mich mit allen möglichen Beispielen. Der Autor hatte darin zwanzig Kurzge schichten zusammengetragen, die er Zeile für Zeile analysierte. Seine Idee bestand darin, Kurzgeschichten in Szenen von etwa je achthundert Worten zu schreiben. Dabei sollte jede Szene fünf Stadien durchlaufen. Wenn das nicht hinhaut, ist mit der Szene etwas nicht in Ordnung. Zuerst läßt man den Leser wis sen, wo die Handlung spielt. Dann stellt man fest, welches Ziel der Hauptcharakter hat und offenbart, welchen Zweck die Sze ne erfüllt. Der Leser weiß dann gleich, daß die gegenwärtige Tätigkeit des Helden dazu dient, ihn seinem Ziel näherzubrin gen. In der vierten Stufe macht man dem Leser klar, ob der Held sein Ziel erreichen wird oder nicht. In der fünften Stufe offenbart man dann, daß die Lage – ungeachtet aller früheren Szenen und der Tatsache, daß er sein Ziel nun erreicht hat oder nicht – noch problematischer für ihn werden wird.“ Van Vogt hat sich dieses System zu eigen gemacht. Er hat es 221
sein Leben lang benutzt und ist dadurch zu einem der wenigen erfolgreichen Professionellen geworden, die ihre schriftstelleri sche Karriere einem populären Ratgeber verdanken. Außerdem lernte er, das zu schreiben, was Gillishaw „genrespezifische Sätze“ nannte: „Jeder Kurzgeschichtentyp hat seine eigenen genrespezifi schen Sätze. Das erste, was ich schrieb, waren sogenannte ‚Be kenntnis’-Stories für die Frauenzeitschriften. Von diesen Ge schichten verlangt man, daß sie mit jedem Satz Gefühle anspre chen. Man sagt nicht etwa, ‚Ich wohnte in der Grand Street Nummer 323’, sondern drückt das folgendermaßen aus: ‚Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich an mein kleines Zimmer chen in der Grand Street dachte’. Dann kommt der nächste Satz, und dann der übernächste. Genauso ging ich bei der allerersten Geschichte, die ich für diese Zeitschriften schrieb, vor. Ich nannte sie ‚Lived in the Streets’ es ging dabei um ein Mädchen, dem während der Depression das Zimmer gekündigt wird. Ich ging jeden Tag in die Bibliothek und schrieb eine Szene. Vor her hatte ich für das Einwohnermeldeamt in Ottawa Listen für die Volkszählung verteilt. Das war 1931.“ Es kostete van Vogt neun Tage Arbeit in der Stadtbibliothek, dann war seine Erzählung fertig. Er verkaufte sie für 110 Dollar, und es dauerte nicht mehr lange, bis er regelmäßig Material an die „Bekenntnis“-Magazine lieferte. „Ich schrieb eine Geschichte für einen Wettbewerb und ge wann damit den ersten Preis. Es waren 1000 Dollar; die Story hatte einen Umfang von 9000 Worten. Ich würde sagen, das müßten automatisch zwischen 1000 und 1200 Sätze gewesen sein. Es ist nicht unmöglich, 1000 oder 1200 emotionale Sätze zu Papier zu bringen. Für jemanden, der einfach ins Blaue hi neinschreibt, ist es vielleicht unmöglich, aber nicht für einen Autor, der sich an ein System hält.“ In den dreißiger Jahren waren 1000 Dollar für van Vogt na 222
türlich ein Riesenerfolg – er hatte in seinem vorherigen Beruf ungefähr das gleiche in einem ganzen Jahr verdient, Trotzdem fing die Arbeit an, ihn zu langweilen. Er verlegte sich auf Hör spiele für den kanadischen Rundfunk, die ihm zehn Dollar pro Stück einbrachten. Und dann, ein paar Jahre später, entschloß er sich beinahe willkürlich dazu, es in der Science Fiction zu ver suchen. Seine erste SF-Erzählung wurde von Analog ange nommen – dem Magazin, das den größten Namen hatte. Und wieder entwickelte er ein System. „In der Science Fiction muß jeder Satz den Leser ein bißchen hinhalten. Nehmen wir mal folgendes Beispiel: Der Held blickt auf eine Tür.“ Van Vogt deutet auf die vom Sonnenlicht be schienene Verandatür. „Er hört ein Geräusch, das von dort he rüberkommt. Und etwas tritt ein. Es sieht aus wie ein Mensch, der einen Umhang trägt. Man weiß noch nicht, was auf einen zukommt. Dann wird einem klar, daß es sich nicht um ein menschliches Wesen handelt. Dieses Geschöpf da, dieses We sen hat lediglich menschliche Umrisse. Und jetzt greift es in etwas hinein, das aussieht wie eine Hautfalte. Es zieht einen glänzenden Gegenstand aus Metall hervor und zielt damit auf den Helden. Ist es eine Waffe? Es sieht wie eine Waffe aus, aber er weiß es nicht mit Sicherheit. Das ganze ist ein Hinhalten, verstehen Sie? Der Autor läßt den Leser im Unklaren; er hält ihn mit jedem Satz ein bißchen länger hin.“ Während er – beinahe hypnotisch – geredet hat, hat er eine derartige Veränderung der Stimmung hervorgerufen, daß mir der kalifornische Sonnenschein einen Moment lang weit weni ger hell vorkommt und seine traumähnliche Beschreibung an den Ecken der Realität zu knabbern beginnt. Van Vogt würde möglicherweise sagen, daß dies an der Durchschlagskraft seines Systems liegt, aber ich glaube, es hat mehr mit der Kraft seiner Persönlichkeit und seiner intuitiv-akkuraten Wortwahl zu tun, daß ich die Bilder, die er beschreibt, vor mir sehe. Ein System 223
ist immer dumpf und mechanisch ohne die Inspiration, die es antreibt. Van Vogt fährt fort und schildert, wie ihm die Idee kam, die Quelle seiner Inspirationen besser auszunutzen. „Zuerst war mir gar nicht klar, was ich tat. Ich schrieb Science Fiction für nur einen Cent pro Wort. Und da ich langsam arbeite, wurde ich nachts oft wach und fragte mich nervös, wie ich meine Story ans Laufen kriegen konnte. Ich schlief zwar wieder ein, aber jedesmal, wenn ich wieder aufwachte, hatte ich die Geschichte im Kopf. 1943 in Toronto kam mir dann eine Idee. So lange hatte ich gebraucht, um mir darüber klar zu werden, was ich in all diesen Jahren gemacht hatte. Wäre ich Cyril Kornbluth (der im Alter von fünfunddreißig Jahren starb) gewesen, hätte ich vielleicht niemals herausgefunden, wie ich schrieb. Es ist eine wahre Freude, daß mein Leben über einen bestimmten Punkt hinausgegangen ist! Ich nahm mir den Familienwecker und legte mich in der fol genden Nacht ins Gästebett. Den Wecker stellte ich auf andert halb Stunden ein. Von da an ließ ich mich, wenn ich gerade an einer Geschichte arbeitete, alle anderthalb Stunden wecken. Ich zwang mich zum Wachwerden und dachte über die Geschichte nach. Auch wenn ich darüber wieder einschlief – ich arbeitete mich so der Lösung entgegen. Am nächsten Morgen war sie dann da und schuf das Problem, in das ich mich verbissen hatte, aus der Welt. Ich glaube, wir haben es hier mit einem Eindrin gen in das Unterbewußtsein zu tun. Ich habe diese Methode mit solch großem Erfolg angewendet, daß ich glaube, man wird in dreißig Jahrhunderten in dieser Hinsicht nicht weiter sein.“ So hat van Vogt seine Inspiration durch den Schlaf empfan gen, seine Science Fiction-Abenteuer mit phantastischen Bil dern gefüllt und seine symbolhaften Protagonisten mit einem gleichbleibenden Drang zum Entschlüsseln von Geheimnissen versehen, dem sie – niemandem verpflichtet – nachgehen (wo bei sie von den telegraphischen 800-Wort-Szenen, die das 224
Schrittempo vorgeben, geführt werden). Manche Kritiker – et wa Damon Knight – haben sich darüber beschwert, daß van Vogts Erzählungen in sich unlogisch sind und seine Bücher deswegen als untauglich eingestuft. Dieses Argument scheint mir aber ebenso närrisch zu sein wie das Verlangen, daß Träu me ein logisches Ende haben müssen. Träume sind in ihrer Wirkung gerade deswegen so stark, weil sie voller Szenen wechsel und Widersprüche sind und die Gesetze des alltägli chen Lebens auf den Kopf stellen. Im Gegensatz zur Kritik wa ren die meisten Leser jedoch dazu bereit, über den „Fehler“ der Unlogik hinwegzusehen: Sie genießen van Vogts Werke wegen ihrer imaginativen Kraft – mit dem Ergebnis, daß seine frühen Titel noch heute, dreißig Jahre später, in vielen Ländern Neu auflagen erleben. Dennoch hat er das Schreiben von Science Fiction in den fünfziger Jahren erst einmal aufgegeben. Ich frage ihn nach sei nen Beweggründen. „Wie ich schon sagte, bin ich ein Systemdenker. Mir war aufgefallen, daß es Autoren gab, deren Stern sank, weil sie den Lesern altmodisch erschienen. Ungefähr alle zehn Jahre ist eine neue Lesergeneration da. Als ich meine ersten zehn Jahre hinter mich gebracht hatte, dachte ich, na gut, jetzt hast du einen Zy klus abgeschlossen. Du kannst jetzt nur noch … Ich war noch ganz in der alten Realität gefangen, als eine neue heraufzog, die die Leser als die ihre ansehen würden. Es war die Realität des Jetzt. Ich fragte mich, was ich jetzt tun sollte. Unter anderem schrieb ich für einen Psychologen ein Buch mit dem Titel The Hypnotism Handbook. Das war gegen Ende 1949, aber es kam erst 1950 heraus. Nachdem ich damit fertig war, glaubte ich, ein wenig über menschliche Verhaltensweisen erfahren zu haben, denn die Arbeit hatte mir etwas gegeben. Dann fing L. Ron Hubbard (der Science Fiction-Autor, der das Therapiesystem Dianetik und die offiziell als Kirche eingetra 225
gene Scientology-Sekte erfand) an, mir Briefe zu schreiben. 1950 fing er dann an, mich anzurufen. Ich bekam jeden Morgen einen Anruf aus New Jersey, der eine ganze Stunde dauerte und mich für die Dianetik interessieren wollte … Diese Art des Te lefonierens … Gespräche über eine solche Distanz hinweg, ge hörten einfach nicht zu meinen Erfahrungen. Ich konnte es ein fach nicht fassen, daß es da jemanden gab, der so oft und lange bei mir anrief und dabei über 3000 Meilen von mir entfernt wohnte. Etwa bei unserem siebzehnten morgendlichen Gespräch sagte Hubbard zu mir: ‚Wir stehen mit allen möglichen Leuten in Kontakt, die an irgend jemanden Geld überweisen wollen, es ist bloß niemand da, der es annehmen kann.’ Daraufhin erwiderte ich: ‚Sagen Sie den Leuten, sie sollen es an mich schicken, dann werde ich es für Sie bewachen!’ Und in den folgenden Monaten kamen so über 3400 Dollar zusammen, die für einen Kursus bestimmt waren, den die Dianetiker hier draußen abhal ten wollten. Drei Tage später kam ein Brief, in dem man mich zum Leiter der kalifornischen Dianetik-Bewegung ernannte. Die Organisation gab innerhalb von neun Monaten 500 000 Dollar aus, dann ging sie pleite, da sie einer ungewöhnlich ho hen Zahl von Angriffen ausgesetzt war. Wir (in Kalifornien) waren die einzige Zweigstelle, die nicht bankrott ging, denn ich hatte keine Lust, in eine solche Sache verwickelt zu werden. Ich machte mich mit einem befreundeten Rechtsanwalt auf und be suchte jeden unserer Gläubiger. Da sie ausnahmslos mit einem Vergleich einverstanden waren, gaben wir ihnen zurück, was wir noch hatten und machten den Laden zu. Einer der Gründe, weswegen mich das Buch Dianetik beein druckte, bestand in der Tatsache, daß es nicht eine Zeile Mysti zismus enthielt, den ich entdecken konnte. Ich wußte damals noch nicht, daß John W. Campbell Hubbard davon abgeraten hatte, so etwas zur Sprache zu bringen. Wissen Sie, ich hatte 226
Hubbard 1945 kennengelernt; wir haben mit einem Dutzend Leuten irgendwo gegessen, und da war er mir als sehr mystisch orientiert erschienen. Da ich also später keine einzige mystische Zeile in seinem Buch fand, dachte ich, mein Gott, es muß allein schon deswegen ein gutes System sein, weil es ihm den Mysti zismus ausgetrieben hat!“ Seitdem ist die Dianetik für van Vogt „eine Frühphase“ ge wesen, „die in den Rahmen der Scientology eingebettet ist und die man durchlaufen muß.“ Die Bewegung interessiert ihn auf grund ihrer mystisch/religiösen Aspekte nicht mehr, aber er ist noch immer von ihren Grundsätzen überzeugt und immer noch Vorsitzender der kalifornischen Dianetik-Autorenvereinigung. Er gibt ein paar persönliche Erfahrungen mit dem System zum besten: „Meine Frau (E. Mayne Hull) war krank gewesen und mußte sich alle zwei Jahre irgendwelchen Operationen unterziehen lassen. Die Sache hatte 1939 angefangen, kurz nach unserer Heirat. Während dieser Zeit hat sie mindestens sechs mal ihr Testament geschrieben. Wenn ich mit den Ärzten sprach, be kam ich nichts anderes zu hören als: ‚Es sieht aus wie Krebs’. 1951 untersuchte sie ein anderer Arzt, und auch der nahm mich beiseite und sagte: ‚Wir müssen vorsichtig sein, es sieht wirk lich nach Krebs aus’. Aber sie hatte kaum die erste Dianetik-Sitzung hinter sich gebracht, als sich das ganze Problem in Wohlgefallen auflöste, als hätte es nie existiert. Sie war nicht mehr krank, sie brauchte zu keinem Arzt mehr gehen. Das ging so, bis wir zum Begräbnis eines Freundes gingen, der 1970 in Phoenix an Krebs gestorben war. Auf dem Rückweg sagte sie: ‚Es ist wie das Ende einer Ära’, dann brach sie in Tränen aus. Einen Monat später hatte sie Blut im Urin. Man untersuchte sie ein weiteres Mal, und dies mal hieß es: Es ist Krebs … Ich will damit sagen, daß die Dia netik-Sitzungen ihre Krankheit irgendwie beiseitegeschoben 227
hatte. Die Dianetik basiert im wesentlichen auf der Freudschen Behandlungstherapie, nur daß Freud seinen Patienten freie As soziationen gestattete und sich nie auf ein Ereignis allein kon zentrierte. Die Dianetik konzentriert sich auf nur ein Ereignis und spielt das immer wieder durch. Wenn man das mitgemacht hat, scheinen die Probleme sich aufzulösen. Gewisse Ereignisse, denen meine Frau ausgesetzt gewesen war, schienen der Grund dafür zu sein, daß sie sich unwohl fühlte.“ Van Vogt erinnert sich an seine Arbeit in Hubbards Dianetic Research Foundation: „Hubbard, der bei der Marine gewesen war, rief seinen Stab täglich um sieben Uhr in der Frühe zu einer Sitzung zusammen, die er gegen dreizehn Uhr, nach vielen Stunden, schloß. Dann ging ich nach Hause und war so er schöpft, daß ich mich gegen 17.30 Uhr ins Bett legen mußte. Nachdem die Organisation pleite gegangen war, entschlossen Mayne und ich uns dazu, ein eigenes Dianetik-Zentrum in Los Angeles zu eröffnen. Ich unterstützte das Projekt teilweise da durch, daß ich meine früheren Kurzgeschichten zu Sammelbän den zusammenfaßte, denn das Zentrum brachte mir nicht viel ein. Wir nahmen für einen dreißigstündigen Kursus nur fünf undsiebzig Dollar. Gegen 1961 gab ich die Sache dann ganz auf.“ Aber van Vogt hat niemals aufgehört, über Psychologie nachzudenken. Er hat sogar eigene Theorien aufgestellt. Ir gendwann ist ihm aufgefallen, daß sein System des Unterbe wußtsein-Anzapfens, das er zum Schreiben von Science Fiction benutzt hat, ebenso als eine Art Therapie dienen kann. „Wenn man in ein Ereignis verwickelt worden ist, das in ei nem traumatische Emotionen erzeugt und man sich alle andert halb Stunden aufweckt, darüber nachdenkt, die Sache in seinem Bewußtsein hin und her wendet und darüber wieder einschläft, dauert es etwa zwei Wochen, bis man darüber hinweg ist. Ich habe hier ein Buch, das ich mir vom Gesundheitsministe 228
rium habe schicken lassen. Es behandelt das Thema Schlafen und Träumen. Als ich die Aufzählung aller Entdeckungen stu dierte, die man in diesem Bereich gemacht hat, wurde mir zum ersten Mal klar, daß mein Neunzig-Minuten-Zyklus der richtige ist. Ich war ganz automatisch darauf gekommen, weil mir eine Stunde zu kurz erschien. In den ersten anderthalb Stunden be schäftigt sich das Gehirn mit den Ereignissen des vergangenen Tages: Und wenn Sie die Menschen aufwecken, haben sie ge nau davon geträumt. In den nächsten Neunzig-MinutenAbschnitten geht es dann in die Geschichte zurück, bis in die Kindheit. Ich würde meinen, daß das Bewußtsein den Versuch unternimmt, den Schock der Vergangenheit abzuschütteln; da bei springt es von einem zum anderen und von dort zum näch sten, ohne je einen davon zu fassen zu kriegen. Als es mir ge lungen war, endlich ein angsterzeugendes Erlebnis aus meiner Kindheit in den Griff zu kriegen, hatte ich den Eindruck, eine wichtige Entdeckung gemacht zu haben. Meine Angst schwand. Ich wandte mich dem nächsten Trauma zu und verfuhr damit wie gehabt. Und so ging es dann weiter. Die Effektivität dieser Methode ist nicht leicht zu veran schaulichen, aber ich sage Ihnen mal, was geschah, als ich ein Buch las, das mich über Neapel informieren sollte, da ich gerade an dem Roman Chaos über Diamantia schrieb. Darin kommt ein Planet gleichen Namens vor, der viele Lichtjahre entfernt ist und von Italienern bewohnt wird, die in einer Art nachgebautem Italien leben. Es gibt dort einen Ort, der Neu-Neapel heißt und gleich unterhalb des Vesuv II steht, und so weiter. Ich mußte also etwas über Neapel lesen, und was ich las, war eine Ge schichte voller Massaker und Meuchelmorde, eine Aufzählung fortgesetzten, grausamen Tötens. Das störte mich aber nicht, denn über die menschliche Natur hatte ich schließlich schon so manches gelesen. Aber dann stieß ich auf eine Stelle, die mir zusetzte. Man hatte zwei vierzehnjährige Jungen als Verräter 229
verurteilt und enthauptet. Aus Gründen, die ich jetzt nicht mehr weiß, verstörte mich das. Am nächsten Tag konnte ich nicht weiterschreiben. Ich war mit den Gedanken ganz woanders. Am übernächsten und überübernächsten Tag gab es keine Verände rung. Als schließlich zwei Wochen vergangen waren, dachte ich, mein Gott, die ganze Sache geht dir immer noch im Kopf herum – und auch noch in deutlichen Bildern. Und dann sagte ich mir, warum versuchst du es in diesem Fall nicht mal mit der Traumtherapie? Diesmal setzte ich allerdings keinen Wecker ein, sondern eine automatische Uhr und einen Kassettenrecorder. Einen Wecker muß man aufziehen und neu einstellen, während eine automati sche Uhr einen alle anderthalb Stunden weckt.“ Ich unterbreche ihn, um zu fragen, was der Kassettenrecorder tut, wenn die Uhr ihn einschaltet. „Zuallererst sagt er ein paarmal Wach auf und Erinnere dich, du machst eine Traumtherapie, und dies hier ist dein Thema. Das muß so sein, denn manchmal wacht man auf und hat nicht die geringste Ahnung, was überhaupt los ist. Jedenfalls durchdachte ich den Fall dieser beiden Exekutio nen von allen Seiten und schlief wieder ein. Die Geschichte wiederholte sich; um sechs Uhr früh hatte ich die Sache über wunden. Ich litt nie wieder darunter. Das ist nur ein kleines Beispiel, was die Effektivität meines Systems angeht. Ich habe es mir selbst ausgedacht, ganz allein und ohne irgendwelche Hilfe.“ Ich frage ihn, ob er den Dianetikern oder Scientologen je den Vorschlag gemacht hat, sein System auszuwerten. „Nein. Und ich kann Ihnen auch gleich sagen, warum. Es gibt nämlich niemanden, der es bezahlen würde!“ Er lacht. „Es bringt großen Organisationen mit hohen Ausgaben nichts ein. Man könnte es höchstens innerhalb der alltäglichen Psychothe rapie benutzen. 230
Ich bin selbst der Meinung“, fährt er fort, „daß man die Psychiatrie unbedingt erhalten muß. Vielleicht werde sogar ich derjenige sein, der sie erhält, wenn Sie gütigst verzeihen wol len, daß ich … äh … Es gibt da einen Arzt, der hin und wieder unter dem Namen T. J. Bass Science Fiction schreibt. Er hat ein Buch mit dem Titel Die Ameisenkultur verfaßt, das voll von ausgezeichneten Informationen ist. Bass läuft jeden Tag dreißig Meilen und behandelt hauptsächlich Greise. Wenn sie zu ihm kommen, sind sie kaum dazu in der Lage, sein Büro zu durch queren. Aber sie haben von ihm und seinem System gehört. Anfangs laufen sie fünfzig Meter und machen schlapp, aber nach einem bestimmten Zeitraum bringen sie – zusammen mit Bass – täglich dreißig Meilen hinter sich. Ich habe einmal eine Anfrage an eine Reihe von Science Fiction-Autoren geschickt, um herauszufinden, ob einer von ihnen eine neue Wissenschaft entwickelt hat. Die Antwort, die Bass mir schickte, lautete: ‚Ich bin auf dem Wege, die Unsterblichkeit wahr werden zu lassen.’ Wissen Sie, ich hatte 1968 eine hübsche, einjährige Hündin. Wenn sie morgens um acht Uhr hinauswollte, kam sie zu mir herein und weckte mich. Ich wäre, ehrlich gesagt, von allein nie auf den Gedanken gekommen, um diese Zeit aufzustehen. Aber dann dachte ich, na schön, so habe ich wenigstens mal die Ge legenheit, das Experiment durchzuführen, das ich seit fünfzehn Jahren plane. Das Übungsexperiment. Ich ging also um acht Uhr morgens mit dem Hund hinaus, denn wenn einem jemand um diese Tageszeit ohne Unterlaß das Gesicht ableckt, wird wohl jeder munter. Na gut, dachte ich, vielleicht ist das genau der richtige Zeitpunkt für ein Experiment. Wir gingen also hin aus. Meine Theorie besagte, daß Erschöpfung von einem unange nehmen Ereignis hervorgerufen wird, das man in der Vergan genheit gehabt hat; das ist im Grunde eine Theorie, die sich auf Freud bezieht. Wir fingen an zu laufen. Nach fünfzig Metern 231
war ich am Ende meiner Kräfte. Theoretisch hätte ich mich nun hinsetzen und eine Weile ausruhen müssen. Aber meine Theo rie sagte nein – der Streß, dem du in diesem Moment ausgesetzt bist, beruht auf einer vergangenen Erfahrung. Ich fragte mich, welche Erfahrung dafür verantwortlich sein konnte. Es mußte irgendeine Sache sein, die von der Vergangenheit her auf mich einwirkte wie auf jemanden, der Lampenfieber bekommt, wenn er vor Publikum sprechen muß. Dann erinnerte ich mich an ei nen Vorfall, den ich im Alter von elf Jahren erlebt hatte. An einem ziemlich heißen Samstagnachmittag war ich mit meinen Freunden draußen gewesen. Wir waren ziemlich weit gelaufen, und als ich auf dem Rückweg war, litt ich plötzlich unter hefti gen Seitenstichen. Da ich kaum noch stehen konnte, setzte ich mich an den Straßenrand und rührte mich eine ganze Stunde lang nicht von der Stelle. Ich war völlig erschöpft. Als mir die ser Vorfall wieder bewußt wurde, spielte ich ihn mit Hilfe der Dianetik-Methode mehrere Male hintereinander durch – und das Gefühl des Ausgelaugtseins verschwand! Fünfzig oder siebzig Meter weiter überkam mich dann die nächste Erschöp fungswelle. Es war ein ganz anderes Gefühl, und ich fragte mich, welche Ursachen wohl dafür verantwortlich waren. Nach und nach dachte ich an alle Krankheiten, die ich je gehabt hatte und erinnerte mich daran, daß ich einst im Alter von zweieinhalb Jahren aus einem Fenster gestürzt war. Es war ein schwerer Sturz aus dem zweiten Stock; ich war anschließend zweieinhalb Tage besinnungslos. Nun, jedenfalls lief ich weiter, den ganzen Belden Drive entlang, bis nach Beechwood hinunter. Ich hielt nur an, als der Hund stehenblieb und wir den Fuß des Hügels erreicht hatten, auf dem mein Haus steht. Ich sah mir den Hügel an und dachte, vergiß nicht, daß man ein menschliches Herz nicht schon am ersten oder zweiten Tag der größtmöglichen Belastung aussetzen soll, und so weiter. Deswegen ging ich den Berg hinauf. Unterwegs hielt ich sechsmal an, weil ich mich 232
erschöpft fühlte. Und jedesmal fragte ich mich, welcher Grund dafür verantwortlich sein konnte. Ich beschäftigte mich damit, indem ich die Bilder aus der Vergangenheit vor meinem inne ren Auge ablaufen ließ. Aber kommen wir wieder auf das Thema der Rettung der Psychiatrie zurück. Sehen Sie, ich halte nichts davon, jeden Tag dreißig Meilen zu laufen. Schon allein der Gedanke daran läßt mich erschauern. Ich müßte ständig daran denken, daß der Weltrekord für diese Strecke bei etwa zwei Stunden und fünf undvierzig Minuten liegt. Ich habe keine Lust, in so etwas ein bezogen zu werden, Dabei kämen nämlich mehr als viereinhalb Stunden heraus. Und das jeden Tag zu tun, hört sich absolut verrückt an! Wenn ein Psychiater allerdings ein halbes Dutzend Patienten hätte, die diese Zeit schaffen und ihre Fälle während des Lau fens mit ihm bereden und dann in den Nachtstunden die Traum therapie anwenden, so daß dabei eine Kombination dieser bei den Dinge herauskäme, könnten sie, glaube ich, eine Menge bewerkstelligen. Ein Dauerlauf ist, wenn man ihn schafft, eine Situation, die einem automatisch etwas einbringt: Man wird auf alle Fälle ein bißchen gesünder dadurch, egal was im Kopf des Läufers vor sich geht. Ich glaube, das ist eine Richtung, die die Psychiatrie einschlagen sollte.“ Ich stelle mir eine Gruppe von Patienten vor, die um die Hü gel von Hollywood herumlaufen und dabei von ihrem Thera peuten begleitet werden; ein dauerlaufender Neurotiker nach dem anderen erfährt dabei, was Erschöpfung ist und praktiziert daraufhin einen ihn erleuchtenden geistigen Sprung in seine ihn quälenden Kindheitstraumata, die dann in einem plötzlichen Aufflackern der Erkenntnis ausgemerzt werden. Aber dieses Szenarium der Jogging-Therapie scheint mir an einem prakti schen Problem zu kranken. Ist es nicht ganz schön schwer, gleichzeitig neben seinem Psychiater herzurennen und mit ihm 233
zu reden? Und selbst wenn es einem gelingt, die Symptome herauszukeuchen – was tun inzwischen die anderen Patienten? Ein dermaßen weltlicher Einspruch kann van Vogt nur in ge lindes Erstaunen versetzen. „Nun, sie können für einen Moment anhalten und auf der Stelle laufen, wenn der Psychiater mit ei nem von ihnen redet. Sie können auch auf und ab laufen, bis die ganze Gruppe sich wieder in Bewegung setzt.“ Aber dieses Thema scheint uns ziemlich weit von der Science Fiction zu entfernen. „Anfang der sechziger Jahre lernte ich Frederik Pohl kennen, und er fragte mich, ob ich nicht einmal etwas für Galaxy (des sen Herausgeber er damals war) schreiben wolle. Also schrieb ich zuerst Die Entbehrlichen und dann Achtung, Supermann! Zwischendurch arbeitete ich an einem Buch, das The Money Personality hieß. Ich war nämlich auf ein neues System gesto ßen, nachdem ich entdeckt hatte, daß drei Männer, die ich als Jugendlicher gekannt hatte, in Kanada sehr reich geworden wa ren. Da mir das unglaublich vorkam, stellte ich mir die Frage: Wie kommt es, daß diese Leute im Geld schwimmen und du immer noch sechzehn Stunden am Tag arbeiten mußt?“ Ich versuche erneut, das Gespräch auf die Science Fiction zu lenken. Hat er vor, den Vorteil in Los Angeles zu leben, ir gendwann auszunutzen und den Versuch zu starten, für die Filmindustrie zu schreiben? „Ich arbeite mit Systemen, und so lange ich kein System habe, mit dem ich Drehbücher erstellen kann, werde ich solche Dinge auch nicht tun. Ich habe mehr als einmal mit Produzenten und Regisseuren beim Essen zusammengesessen, aber jedes Mal haben sie nach einem Exposé (einer Inhaltsangabe des noch zu schreibenden Drehbuches) gefragt. Ich habe es zwar stets ver sucht, bringe aber keine Exposés zustande. Immer wenn ich ihnen das gab, was ich für ein Exposé hielt, blickten sie über haupt nicht mehr durch. Wenn mir die Sache dann ein paar Jahre 234
später wieder in die Hände fiel, dachte ich, na gut, du kannst ebenso eine Kurzgeschichte daraus machen, und das tat ich dann auch. Ich weiß auch nicht, wo das Problem liegt. Wissen Sie, wenn ich an einer Kurzgeschichte arbeite, entwickelt sie sich während des Schreibens …“ Und es gab keine Möglichkeit, auf dieser Basis ein Exposé abzufassen? „Nein, dazu bin ich offenbar nicht fähig. Es entspricht nicht meiner Vorgehensweise. Aber am Anfang dieses Jahres bin ich dem Schriftstellerverband beigetreten. Er hat einen Kursus ver anstaltet, der einmal monatlich lief und bei dem die besten Drehbuchautoren den Leuten erklärten, wie man eine solche Sache anfaßt. Ich schnappte mir meinen Freund, den mittlerweile pensionierten Rechtsanwalt, und hörte mir das alles an. Einiges von dem, was ich gehört habe, ist zu mir durchgedrungen.“ Er klopft sich gegen die Stirn. „Ich fange an, ein System zu ent wickeln. Wenn je etwas daraus werden sollte, kann die Filmin dustrie sich auf etwas gefaßt machen!“ Nach dem Interview lädt van Vogt mich in einem Talrestau rant zum Essen ein. Er hat gerade einen fetten Tantiemenscheck für seine in Frankreich veröffentlichten Bücher erhalten. Dort ist er ein sehr populärer Schriftsteller. Ich habe den Eindruck, als wolle er jemanden großzügig daran teilhaben lassen. Des weiteren habe ich das Gefühl, daß er heutzutage nicht mehr all zu viel Besuch bekommt und ihm das Haus seit dem traurigen Tod seiner Frau etwas leer erscheint. (Dieses Interview wurde aufgenommen, bevor er 1979 eine zweite Ehe einging). Und so begeben wir uns zu seinem Wagen hinaus – einem al ten, schwarzen Cadillac, der genug Jahre auf dem Buckel hat, um noch die früher üblichen, mächtigen Heckflossen aufzuwei sen. Auf dem Nummernschild steht NOT A („Bin kein …“), und van Vogt erzählt, daß man ihn im Straßenverkehr ständig 235
fragt „Was sind Sie nicht?“ Aber natürlich bezieht sich diese Buchstabenkombination auf seine beiden Romane über die „non-aristotelische“ (d. h. mehrfach deutbare) Logik – noch ein System, für das er sich stark macht. Wir fahren in seinem großen, alten Wagen mit äußerster Vorsicht die enge und kurvenreiche Straße hinunter. Van Vogts vorsichtiges Lavieren mit der Außenwelt bestärkt mich in dem Eindruck, daß er der kalifornischen Landschaft und dem uns umgebenden Menschengewimmel nicht sonderlich viel abge winnt. Während des vorzüglichen, neutralen amerikanischen Essens bekennt er: „Hätte ich nicht die Science Fiction entdeckt und mein Bewußtsein ein wenig erweitert, wäre ich ein einfacher Angestellter der kanadischen Regierung geworden.“ Wie stets klingt er auch bei diesen Worten logisch und sach lich, aber ich weiß, daß dieser Eindruck trügt, denn van Vogt definiert Logik ganz anders als ich, und das gleiche gilt auch für die Realität. Aber damit noch nicht genug – denn wie wir im nächsten Porträt sehen werden, haben seine Visionen auch noch andere Science Fiction-Autoren beeinflußt. Die bizarren Träu me van Vogts, die die Welt in verzerrter Form darstellen, haben anderen Leuten zum Ausgangspunkt für Erzählungen gedient, die noch weiter in die Bereiche der Metaphysik vorstoßen – und trotzdem paradoxerweise gleichzeitig dem alltäglichen Leben nahekommen. Los Angeles, im Mai 1979
236
Bibliographische Anmerkungen Van Vogts erster Roman, der in gebundener Form erschien, war Slan (1946; dt. 1967), der möglicherweise noch heute sein po pulärster ist. Slan verwendet das klassische Konzept einer mit Superkräften ausgestatteten Mutantenrasse, die sich versteckt, da sie den Haß der sogenannten „Normalen“ fürchtet – eine Situation, mit der sich viele SF-Leser identifizieren. Laut van Vogt entstammt die Idee einem Buch, das er in seiner Kindheit gelesen hat: The Biography of a Grizzly. „Es geht darin um ei nen kleinen Bär, der seine Mutter verloren hat und sich nun al lein durchschlagen muß.“ Die Waffenschmiede von Isher (1946; dt. 1967) und Die Waffenhändler von Isher (1951; dt. 1967) behandeln gewaltige galaktische Abenteuer und sind Omnipo tenz-Phantasien, die allerlei Elemente des Spannungsromans verwenden. Die Welt der Null-A (1948; dt. 1958) und Kosmi scher Schachzug (1956; dt. 1958) nehmen sich wieder des Themas eines jugendlichen Helden an, der symbolisch „Er wachsenenfähigkeiten“ erringt und endlich irgendwelche my steriösen Vaterfiguren entlarvt und überwindet. Beide Titel sind phantasiereich und voller Action. Kinder von Morgen (1970; dt. 1972) war van Vogts erster Roman nach seiner Rückkehr zur SF. Kampf um die Ewigkeit (1971; dt. 1972) war erfolgreicher. Darin geht es um den unausweichlichen Supermann, den eine Odyssee durch eine dekadente Galaxis führt.
237
Philip K. Dick Das Ziel eines spekulativen Schriftstellers müßte darin liegen, das zu sehen, was andere nicht gesehen haben. Die wenigen Au toren, die das vollbringen, bieten mehr als bloße Unterhaltung, mehr als reine Erfindungsgabe. Sie geben dem Leser ein Gefühl von Offenbarung. Man braucht entweder eine Spur Genie oder eine Spur Wahnsinn, um das zu sehen, was niemand sonst gesehen hat, und es bedarf eines unglaublichen Schreibtalents, um solche Visionen anschaulich, in menschlichen Begriffen, darzustellen. Philip K. Dick besitzt dieses Talent, und einen Hauch von Ge nie – oder Wahnsinn, oder beidem. Seine besten Bücher sind alle in einem fast mythischen Sinne offenbarend. Er wird stark unterschätzt (vor allem in seinem heimatlichen Amerika), weil er ein unprätentiöser Mann ist, der erst noch die Reputation erlangen muß, in den sechziger Jahren einige höchst vorzügliche Romane veröffentlicht zu haben. Gewiß schrieb er in dieser Zeit eine Menge Bücher sehr rasch hintereinander; aber selbst seine oberflächlichsten Werke beinhalten grundle gende Fragen der Wahrnehmung, Philosophie und Religion, und seit seinen letzten, ehrgeizigsten Büchern zählt er zu den wenigen Science Fiction-Autoren, deren Einsichten nur noch als profund zu bezeichnen sind. Er weist eine unendliche Lei
238
denschaft für seine Charaktere auf; ihre Situationen mögen in der Science Fiction verwurzelt sein, aber ihre Probleme sind real, und Dicks Prosa forscht schmerzhaft aber behutsam nach grundlegenden Lebensfragen, die uns alle betreffen. Gleichzei tig verspottet er sich selbst mit einem kühnen, exotischen Sinn für das Absurde. Fast alle seiner Romane beginnen mit der grundlegenden Voraussetzung, daß es keine einzige, objektive Realität geben kann. Alles ist eine Frage der Wahrnehmung. Der Boden schwankt einem unter den Füßen. Seine Protagonisten finden heraus, daß sie in dem Traum einer anderen Person leben, oder sie betreten einen drogenbeeinflußten Zustand, der in der Tat mehr Sinn ergibt als das wirkliche Leben, oder sie stürzen völ lig in ein anderes Universum. Das Gesetz der Schöpfung unter liegt plötzlichen Revisionen (durch Gott, oder wer auch immer diese Rolle gerade einnehmen mag), und es gibt vielschichtige Wahrheiten. Diese surrealistischen Ideen und die halluzinogene Qualität seiner Werke trugen Dick das Etikett eines „Drogen“-Autors ein. Seine besessene Furcht vor den Kräften der politischen Un terdrückung stempelte ihn als „paranoid“ ab. Einige Andeutun gen auf mystische Einflüsse in sein Leben, die er kürzlich ge äußert hat, brachten ihm sofort den Vorwurf der „geistigen Zer rüttung“ ein. Ich besuchte ihn in Santa Ana, südlich des gewaltigen Mo lochs Los Angeles, mit der Absicht, Licht in diese Vorwürfe zu bringen. Dummerweise versuchte ich dabei die objektive Ein ordnung eines Mannes, der sich nicht einordnen läßt. Ein paar Stunden später verließ ich ihn mit dem Gefühl, mein Verstand sei durch den Fleischwolf gedreht worden. Genau wie eine Ge stalt in einem von Dicks paradoxen, unauflösbaren Romanen blieb ich am Ende mit mehr Fragen zurück, als ich am Anfang stellen wollte. 239
Mr. Dick ist ein würdevoller, nachdenklicher und durchaus stattlicher Mann mit schwarzem Haar, ergrauendem Bart und zwangloser, aber vornehmer Erscheinung. Er ist gebildet und geradezu erschreckend gut belesen, weist aber nicht das anma ßende oder versponnene Gehabe eines Akademikers auf. Er lebt in einem kleinen, bescheidenen Apartment mit zwei Katzen, modernem Mobiliar mit leichten Gebrauchsspuren, Bergen von Nachschlagewerken und einer kostspieligen Stereoanlage. Als ich meinen Kassettenrecorder auspacke, sehe ich, daß er schon seinen eigenen aufgebaut hat; auf dem Rauchglastisch steht ein erstklassiges Shure-Mikrophon, und er wird mich aufnehmen, während ich ihn aufnehme. Das scheint ihn etwas verlegen zu machen, und er erwähnt beiläufig, er lasse immer sein eigenes Tonband laufen, wenn er interviewt wird. Mir liegt es fern, ihm ein paranoides Benehmen zu unterstellen, aber es sieht so aus, als wolle er mich kontrollieren, nachlesen, ob meine Bandnie derschrift korrekt ist – oder bin ich jetzt paranoid? Schon jetzt fällt es mir schwer, die Wirklichkeit der Situation einzuschät zen. Wir fangen an mit ein paar Bemerkungen über sein Leben, wie er mit dem Schreiben von Science Fiction begann und gleichzeitig als Student aushilfsweise in einem Radiofachhandel als Verkäufer arbeitete. „Ich war in einer ganz komischen Situation. Ich hatte Scien ce Fiction seit meinem zwölften Lebensjahr gelesen und war richtig süchtig danach. Ich liebte die SF ganz einfach. Ich habe auch gelesen, was die intellektuelle Gemeinde Berkeleys las, etwa Proust oder Joyce. So lebte ich in zwei Welten, die sich normalerweise nicht berührten. Da ich in dem Laden arbeitete, wußten die Leute, daß ich Radios verkaufte und reparierte; sie hielten mich für einen ganz besonderen Menschen, weil ich überhaupt gelesen habe. Ich trieb mich in allen möglichen un 240
terschiedlichen Gruppen herum; ich kannte ziemlich viele Ho mosexuelle; damals, in den vierziger Jahren, gab es in der Bay Area eine starke homosexuelle Bewegung. Ich kannte ein paar hervorragende Dichter und war sehr stolz, sie als meine Freunde betrachten zu können; sie aber hielten mich für komisch, weil ich nicht schwul war, und die Leute in meinem Laden hielten mich für komisch, weil ich Schwule kannte und Bücher las, und meine kommunistischen Freunde hielten mich für komisch, weil ich nicht der kommunistischen Partei beitreten wollte. Und so machte es mir nicht viel aus, in der Science Fiction zu stecken. Das war nur eine kleine Besonderheit, im Vergleich zu meinen vielen anderen. Henry Miller beschrieb in einem seiner Bücher, wie die anderen Kinder mit Steinen nach ihm warfen, wenn sie ihn sahen. Ich hatte das gleiche Gefühl. Mir gelang es, mich überall unbeliebt zu machen, wohin ich auch ging. Ich muß da bei wohl direkt aufgeblüht sein, denn später passierte mir das immer wieder. Ich heiratete mit neunzehn Jahren und begann kurz darauf zu schreiben. Ich heiratete mit einundzwanzig zum zweiten Mal. Es kam ein Punkt, da begann ich zu fühlen, wie wichtig die Science Fiction doch war. Van Vogts Die Welt der Null-A – das Buch hatte etwas faszinierendes an sich. Es besaß eine geheim nisvolle Beschaffenheit, es spielte auf unsichtbare Dinge an, es brachte Rätsel, die nie vollends gelöst wurden. Ich entdeckte eine ganz eigenartige Beschaffenheit darin; ich begann die Vor stellung vor einer geheimnisvollen Beschaffenheit des Univer sums zu entwickeln, mit der man sich in der Science Fiction befassen konnte. Heute weiß ich, daß ich damals eine metaphy sische Welt gesehen habe, ein unsichtbares Reich halbwegs durchscheinender Komponenten, genau das, was die Leute im Mittelalter für die transzendente Welt, die nächste Welt hielten. Ich besaß keinen religiösen Hintergrund. Ich bin in einer QuäkerSchule erzogen worden – die Quäker sind so etwa die einzige 241
Gruppe in der Welt, gegen die ich keinen Groll hege; es gibt keine Meinungsverschiedenheiten zwischen mir und den Quä kern, aber die Lebensauffassung der Quäker ist ganz einfach ein Lebensstil. Und in Berkeley gibt es überhaupt keinen religiösen Geist. Ich weiß nicht, ob van Vogt meiner Behauptung, er befasse sich hauptsächlich mit dem Übernatürlichen, zustimmen würde, aber damals hatte ich jedenfalls den Eindruck. Ich begann zu spüren, daß das, was wir wahrnehmen, nicht wirklich existiert. Ich war von Jungs Spiegelungstheorie fasziniert – was wir als Äußerlichkeit wahrnehmen, ist vielleicht eine Spiegelung aus dem Unterbewußtsein, und das heißt natürlich, daß sich die Welt einer beliebigen Person von der aller anderen Menschen in irgendeinem Punkt unterscheidet, da die Inhalte des Unterbe wußtseins eines Menschen bis zu einem gewissen Grad einzig artig, einmalig sind. Ich begann eine Reihe von Geschichten zu schreiben, in denen die Menschen Welten wahrnehmen, die Spiegelungen ihrer eigenen Psychen waren. Meine erste veröf fentlichte Story ist dafür ein ausgezeichnetes Beispiel.“ Eine Zeitlang versuchte Dick, sowohl im Genre Science Fic tion als auch außerhalb davon zu arbeiten: „Ich schrieb einige Romane, die weder Science Fiction noch Fantasy waren. Sie alle enthielten das Element des gespiegelten persönlichen Un terbewußtseins oder des gespiegelten kollektiven Unterbewußt seins, wodurch sie für den Leser einfach unbegreiflich wurden, weil sie von ihm die Einsicht meiner Prämisse verlangten, daß jeder von uns in einer nur einmal vorhandenen Welt lebt.“ Solche Romane erwiesen sich als schwierig zu verkaufen. Einer, Confessions of a Crap Artist, erschien schließlich im Jahre 1975; die anderen wurden nie veröffentlicht. „Drüben in der Universitätsbibliothek von Fullerton liegen neun oder zehn wei tere Manuskripte“, sagt er, anscheinend ohne Groll. Ich frage ihn, ob er die Situation wirklich so gelassen nimmt, wie er sich 242
gibt. „Nun, als Confessions of a Crap Artist erschien, wurde der Stachel aus der Wunde gezogen, und jetzt fühle ich mich nicht mehr so schlecht. Aber ich brauchte immerhin neunzehn Jahre, um den Roman zu veröffentlichen. Das war ein langer Weg; aber die Science Fiction bot mir andere Wege, all das zu veröf fentlichen, was ich schreiben wollte. Mozart für Marsianer ist genau das, was ich schreiben wollte. Der Roman beschäftigt sich mit der für mich so wichtigen Prämisse, daß wir nicht nur in der nur einmal vorhandenen Welt unserer eigenen psycholo gischen Inhalte leben, sondern daß die subjektive Welt einer ziemlich starken Persönlichkeit auf die Welt eines anderen Menschen einwirken kann. Wenn ich Sie die Welt sehen lassen kann, wie ich sie sehe, dann werden Sie automatisch zu den gleichen Gedanken kommen wie ich. Sie werden zu den glei chen Schlüssen kommen. Und die größte Macht, die ein Mensch auf andere ausüben kann, liegt in der Beherrschung ihrer Wahrnehmung der Realität und in der Einwirkung auf die Integrität und die Individualität ihrer Welt. In der Psychotherapie macht man zum Beispiel Gebrauch davon. In Kanada durchlebte ich die Angriffstherapie. Da sind eine Menge Leute, die einen alle anschreien, und plötzlich wird einem das Geheimnis der Moskauer Säuberungsaktionen von 1930 völlig klar – was kann zum Beispiel einen Menschen dazu bewegen, aufzustehen und Verbrechen einzugestehen, auf die die Todesstrafe steht? Nun, die Antwort liegt in der unglaubli chen Macht einer gewissen Gruppe von Menschen, in die Welt anderer Menschen einzudringen und das Bild dieser Leute von sich selbst zu bestimmen, so daß er schließlich der Auffassung, die ja eigentlich die ihre ist, Glauben schenkt. Bei dieser Dro gentherapie erinnere ich mich an einen Franzosen, der ständig adrett gekleidet war. Sie warfen ihm vor, homosexuell zu sein. Nach einer halben Stunde hatten sie ihn davon überzeugt, ho mosexuell zu sein. Er begann zu weinen. Mir kam das komisch 243
vor, da ich wußte, daß der Bursche kein Homosexueller war. Und doch weinte er und gestand alles ein – nur damit die Be schimpfungen nicht aufhörten, damit die Leute ihn weiterhin anschreien konnten. Du Schwuchtel, du warmer Bruder, du Homo, sag doch, was du bist! Indem er es eingestand, brachte er die Leute nicht dazu, mit den Beschimpfungen aufzuhören, keineswegs, sie schrien noch lauter und begannen zu jubeln. Wir hatten recht, wir hatten recht! Er begann einfach, mit ihnen übereinzustimmen. All das kann man politisch oder psychologisch betrachten. Ich habe es in meinen Werken dramatisiert, als die grauenhafte, unheimliche Invasion der Welt eines Menschen durch die Welt eines anderen. Wenn ich in ihre Welt eindringe, werden sie wahrscheinlich etwas Fremdartiges spüren, denn meine Welt unterscheidet sich ja von der Ihren. Sie müssen natürlich dage gen ankämpfen. Aber oft kämpfen wir nicht dagegen an, weil diese Invasion zu gefühlvoll vor sich geht. Wir erfahren nur andeutungsweise, daß man in unsere Welt eindringt, wir wissen nicht, woher diese Invasion unserer persönlichen Unversehrt heit kommt. Im allgemeinen kommt sie von Autoritätsfiguren. Die größte Bedrohung im 20. Jahrhundert ist der totalitäre Staat. Er kann viele Formen annehmen: Linksfaschismus, psy chologische Bewegungen, religiöse Bewegungen, Drogenreha bilitationszentren, mächtige Menschen, manipulierende Men schen; oder er kann im Verhältnis mit jemandem stehen, der psychologisch betrachtet mächtiger ist als man selbst. Im Prin zip vertrete ich die Belange aller Schwachen. Wenn ich selbst stark wäre, würde ich das wahrscheinlich nicht als solch eine Bedrohung ansehen. Ich identifiziere mich mit den Schwachen; das ist ein Grund dafür, weshalb die Protagonisten in meinen Romanen immer Antihelden sind. Sie sind fast immer Verlierer, und doch versuche ich, sie mit Eigenschaften zu versehen, durch die sie überleben können. Gleichzeitig will ich verhin 244
dern, daß sie aggressive Gegentaktiken entwickeln, wodurch auch sie zu Ausbeutern und Manipulatoren werden.“ Ich frage ihn nach seiner Meinung zu dem Vorwurf, er sei gegenüber Autoritätspersonen überängstlich und ganz einfach paranoid. Als Antwort bezieht er sich auf die fortwährenden Belästigungen, denen er während seiner Zeit als aktiver Kriegs gegner ausgesetzt war und die ihren Höhepunkt in dem bizarren Einbruch in sein Haus nahmen, über den Nachforschungen an zustellen sich die lokalen Polizeibehörden weigerten. „Man sagte mir, ich sei paranoid, bevor man in mein Haus einbrach. Dann erinnere ich mich daran, wie ich die Tür öffnete und überall nur noch Trümmer vorfand. Die Fenster und Türen waren einge schlagen, die Schubladen aufgebrochen, all meine Papiere fehl ten, all meine geplatzten Schecks waren verschwunden, meine Stereoanlage auch, und ich weiß noch, wie ich dachte: Ver dammt, das ist ein höllisches Durcheinander, aber soviel zu der Theorie, ich wäre paranoid. In der Tat bestätigte mir ein ziemlich guter Analytiker, nicht kaltblütig genug zu sein, um paranoid sein zu können. Sie sind melodramatisch und voller Illusionen über das Leben, sagte er zu mir, aber Sie sind zu sentimental, um paranoid zu sein. Ich unterzog mich einmal einem mehrphasigen PsychoprofilTest und stellte mich dabei als paranoid und zyklothymisch und neurotisch und schizophren heraus … Bei manchen Skalen er reichte ich so hohe Werte, daß die Kurve bis zu den Anleitun gen emporstieg. Aber das Testergebnis besagte auch, daß ich ein notorischer Lügner bin! Wissen Sie, dabei wird einem ein und die gleiche Frage in mehreren unterschiedlichen Fassungen gestellt. Die erste lautet etwa? Es gibt eine göttliche Macht, die die Welt beherrscht. Und ich stimme zu, ja, wahrscheinlich doch. Später dann heißt es: Ich glaube nicht, daß es eine göttli che Macht gibt, die die Welt beherrscht. Und ich äußere mich dazu: Das ist wahrscheinlich richtig, es sprechen eine Menge 245
Beweise dagegen, daß es solch eine Macht gibt. Und dann heißt es: Ich bin nicht sicher, ob es eine göttliche Macht gibt, die die Welt beherrscht. Und ich meine dazu: ja, das ist genau richtig! Bei jeder Antwort war ich völlig aufrichtig. Ich glaube, philosophisch gesehen, passe ich zu diesen Leu ten, die vor Sokrates lebten, etwa in der Zeit von Zeno und Diogenes, den Zynikern im griechischen Sinne, die ein Hunde leben führten. Ich werde unausweichlich von jedem Argument überredet, das auf den Tisch kommt. Wenn Sie mir jetzt vor schlagen würden, chinesisch essen zu gehen, würde ich sofort zustimmen. Das ist die beste Idee, die ich je gehört habe! Ich würde Sie sogar dazu einladen. Wenn Sie aber plötzlich sagen, glauben Sie nicht, daß chinesisches Essen zu teuer ist, einen zu geringen Nährwert hat, daß wir sehr lange bis zum Restaurant gehen müssen, und wenn wir mit dem Essen wieder zurück kommen, ist es längst kalt, dann würde ich Ihnen zustimmen, ja, Sie haben recht, ich kann das Zeug auch nicht ab. Das ist wohl ein Anzeichen für ein sehr schwaches Ego. Aber wenn meine Ansicht zutrifft, daß jeder Mensch seine ei gene Welt besitzt, und Sie behaupten, chinesisches Essen wäre gut, dann ist es in Ihrer Welt gut. Und wenn ein anderer be hauptet, es wäre schlecht, dann ist es in seiner Welt schlecht. Was die Antwort auf die Frage betrifft: Ist chinesisches Essen gut oder schlecht? so ist sie semantisch für mich völlig bedeu tungslos. Aber das ist meine Meinung. Wenn Sie meine Mei nung für falsch halten, könnten Sie sogar rechthaben. In diesem Fall stimme ich Ihnen gerne zu.“ Er lehnt sich zurück, zufrieden mit seiner kleinen Übung in der Auslöschung einer jeden Grundlage für eine objektive Struktur der Werte. Er hat schnell und engagiert gesprochen, als ob ihn sein eigener Monolog gut unterhalten hätte. Viele seiner Aussagen klingen gleichzeitig spielerisch, wo sie auch völlig ernst gemeint zu sein scheinen. 246
Ich frage ihn, inwieweit sein Denken durch Erfahrungen mit LSD beeinflußt wurde und welches seiner Bücher, falls über haupt, dem Drogentrip entstammt. „Ich schrieb Zeitlose Zeit in den fünfziger Jahren, lange be vor ich überhaupt von LSD gehört hatte. In diesem Buch geht ein Bursche zu einem Getränkekiosk im Park, und der Kiosk entpuppt sich als Blatt Papier, auf dem Getränkekiosk steht, und er steckt den Zettel ein. Verdammt noch mal, das ist eine ‚Dro generfahrung’. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sa gen, daß dieser Autor jede Menge Trips geschmissen hat und sein Universum aus allen Fugen bricht – er lebt offenbar in ei ner Scheinwelt. In diesem Roman wollte ich die Unterschiedlichkeit der Wel ten zum Ausdruck bringen, in denen die Menschen leben. Da mals hatte ich noch nicht Heraklit gelesen, kannte sein Konzept vom ideos kosmos, der privaten Welt, gegenüber dem koinos kosmos, der Welt, die wir alle miteinander teilen, noch nicht. Ich wußte damals noch nicht, daß die Präsokrater diese Dinge voneinander zu unterscheiden begonnen hatten. Es gibt eine Szene in dem Roman, in der der Protagonist sein Badezimmer betritt, im Dunkeln nach einer Lichtschnur greift und plötzlich merkt, daß es gar keine Lichtschnüre mehr gibt, daß da ein Schalter an der Wand ist, und er kann sich nicht dar an erinnern, wann er zum letzten Mal ein Badezimmer gesehen hat, in dem eine Lichtschnur hinabhing. Nun, das passierte mir wirklich und brachte mich auf die Idee, diesen Roman zu schreiben. Das erinnert mich an eine Idee, mit der sich van Vogt beschäftigt hat, in Die Welt der Null-A, die Idee von ei nem künstlichen Gedächtnis, von falschen Erinnerungen, die man dem Helden eingepflanzt hat. Ziemlich viel von meinen Arbeiten, die unter Drogeneinfluß zustande gekommen zu sein scheinen, rühren in Wirklichkeit daher, daß ich van Vogt zu ernst genommen habe! Ich glaubte van Vogt, ich meine, er 247
schrieb das, verstehen Sie, er war eine Autoritätsperson. Er sag te, ein Mensch kann ein anderer sein als der, für den er sich hält, und das fand ich faszinierend. Ich leide unter einer uner meßlichen Leichtgläubigkeit.“ Ich frage ihn, bis zu welchem Rahmen er wirklich Drogen konsumierte. ,,Die einzigen Drogen, die ich regelmäßig nahm, waren Am phetamine. Ich nahm sie, um soviel schreiben zu können, wie ich mußte, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich bekam so wenig für einen Roman, daß ich eine ganze Menge an Romanen produzieren mußte. Ich hatte eine äußerst kostspielige Frau und Kinder … wenn meine Frau ein neues Auto sah, das ihr gefiel, kaufte sie es einfach … Nach kalifornischem Gesetz war ich dazu verpflichtet, für ihre Schulden aufzukommen, und so schrieb ich wie verrückt. Ich glaube, einmal hatte ich in fünf Jahren einen Ausstoß von sechzehn Romanen. Ich schrieb täg lich sechzig Seiten in Endfassung, und die einzige Möglichkeit, soviel zu produzieren war eben, mir Amphetamine verschreiben zu lassen. Schließlich nahm ich dieses Zeug nicht mehr, und jetzt schreibe ich nicht mehr so viel wie damals. Ich erwecke öfter den Anschein, Drogenerfahrung zu besit zen, aber in Wirklichkeit nahm ich nur zwei Mal Drogen, und beim zweiten Mal war die Dosis so gering, daß ich noch nicht einmal wirklich eine Droge geschluckt haben mochte. Beim ersten Mal nahm ich jedoch Sandoz, eine riesige Kapsel, die ich an der Universität auftrieb. Ich teilte sie mit einer Freundin, es muß ein ganzes Milligramm gewesen sein, wir bezahlten fünf Dollar dafür, und soll ich Ihnen sagen was passierte? Ich fuhr direkt zur Hölle, das passierte! Die Landschaft gefror, überall lagen große Geröllbrocken herum, und ich hörte ein tiefes Hämmern, es war der Tag des Zorns, und Gott verurteilte mich als Sünder. Das dauerte tausend Jahre, und es wurde nicht bes ser, nur noch schlimmer. Ich verspürte schreckliche körperliche 248
Schmerzen dabei und konnte nur noch Latein sprechen. Sehr ärgerlich, denn das Mädchen, mit dem ich die Droge genom men hatte, dachte, ich wollte sie damit ärgern. Ich winselte wie ein armer Köter, den man die ganze Nacht draußen im Regen gelassen hatte, und schließlich bellte das Mädchen, wau wau, und verließ angewidert das Zimmer. Etwa einen Monat später erhielt ich die Druckfahnen meines Romans LSD-Astronauten zum Korrekturlesen. (Der Roman trägt im Original den Titel The Three Stigmata of Palmer Eldritch; die Droge wird im Originaltitel nicht erwähnt, und Dick bezieht sich im folgenden natürlich auch nicht darauf. Anm. d. Überset zers.) Und ich dachte, oh nein, das kann ich nicht lesen, das ist ja furchtbar! Das Buch ist natürlich mein klassischer LSDRoman, obwohl ich, als ich es zu schreiben begann, nur einen Artikel von Aldous Huxley über LSD gelesen hatte. Aber all die furchtbaren Ereignisse, über die ich geschrieben hatte, schienen unter der Droge wahr geworden zu sein. Das war im Jahre 1964. Ich pflegte die Leute zu bitten, keine Drogen zu nehmen. Da war ein Mädchen, das eines Abends zu mir herüberkam, und ich machte mit ihr spaßeshalber einen amateurhaften Rorschach-Test, und sie sagte, ich sehe in diesen Tintenklecksen eine böse Gestalt, die mich töten will. Du bist eine verdammte Närrin, wenn du Drogen nimmst, sagte ich, und sie nahm keine mehr, aber später fing sie wieder damit an, und sie unternahm einen Selbstmordversuch und kam ins Kranken haus und litt von da an unter einer chronischen Psychose. Ich sah sie erst 1970 wieder, und ihr Verstand war fort, und das brachte sie langsam um. Sie gestand mir ein, daß der Drogen konsum sie vernichtet hatte. Ich sah Drogen als gefährlich und möglicherweise sogar töd lich an, aber ich war neugierig wie eine Katze. Mein Interesse am menschlichen Verstand erweckte auch mein Interesse an psychotropischen Drogen. Ein grundlegend religiöses Streben 249
bildete sich in mir. Als LSD-Astronauten erschien, war ich zum Glauben der episkopalischen Kirche bekehrt worden …“ Ich unterbreche ihn für einen Moment. Warum gerade die bi schöfliche Kirche? Er schlägt einen barschen Tonfall an, als wolle er mich ver arschen – oder vielleicht genau das Gegenteil … vielleicht ist er sich aber auch nicht wirklich sicher. „Meine Frau drohte mir an, mir die Nase einzuschlagen, wenn ich nicht in die Kirche ein treten würde. Wenn wir Richter und Bezirksanwälte und all die wichtigen Leute kennenlernen wollen, meinte sie, dann müssen wir in die bischöfliche Kirche eintreten.“ Wenn diese Anekdote auch halbwegs spaßhaft erzählt wird, dann stellt sie jedenfalls den letzten Scherz in diesem Gespräch dar, denn von diesem Punkt an fährt Dick fort, als wolle er ein Geständnis machen, und ich glaube, er wartete lediglich bis hierher, um in Erfahrung zu bringen, welche Reaktion er von mir, einem völlig Fremden, zu erwarten hatte. „Ich ging eines Tages spazieren.“ Sein Ton ist jetzt völlig ernst. „Ich schaute zum Himmel empor, und da starrte dieses Gesicht auf mich hinab, ein riesiges Gesicht mit Schlitzaugen, das Antlitz, das ich in LSD-Astronauten beschreibe. Das war 1963. Es war ein böses, furchtbar aussehendes Gesicht. Ich habe es nicht deutlich erkannt, aber es war vorhanden. Jahre später identifizierte ich es schließlich. Ich blätterte in einer Ausgabe von Life und stieß auf ein paar Bilder von französischen Befe stigungen aus dem Ersten Weltkrieg. Da waren eiserne Panzertürme mit Schießscharten, durch die die Soldaten den Feind ausmachen konnten. Mein Vater hatte in der zweiten Marne schlacht gekämpft, er war im fünften amerikanischen Marine korps gewesen, und als ich ein kleiner Junge war, zeigte er mir immer wieder mal seine militärische Ausrüstung. Dann legte er die Gasmaske an, und seine Augen verschwanden, und er er zählte mir von der Marneschlacht und von all den Schrecken, 250
die er durchlebt hat. Er erzählte mir, einem kleinen vierjährigen Jungen, von Männern mit hervorquellenden Eingeweiden, und er zeigte mir sein Gewehr und das alles und erzählte mir, daß die Soldaten ihre Gewehre abfeuerten, bis sie rotglühend waren. Er hatte Gasangriffe mitgemacht und erzählte mir von der schrecklichen Furcht, daß das Gas die Teerkohle in den Masken sättigen könne, und die Soldaten in Panik geraten und ihre Masken abreißen könnten. Mein Vater war ein großer, stattli cher Mann, er hatte Football und Tennis gespielt. Ich habe gele sen, was die amerikanischen Marineeinheiten in diesem Krieg alles überstanden haben, und diese Bauernjungen standen durch, was Remarque in Im Westen nichts Neues als unaus sprechlichen Mut und unaussprechliches Grauen bezeichnete. Und da schaute sie im Jahre 1963 auf mich hinab, eine gottver dammte Marnefestung. Soweit ich weiß, hatte mein Vater sogar noch Zeichnungen oder Fotos davon gemacht. Ich habe wirklich vor dem, was ich am Himmel sah, Zuflucht im Christentum gesucht. Da ich das Gesicht als böse Gottheit gesehen hatte, suchte ich die Bestätigung, daß es auch eine noch mächtigere, wohlgesonnene Gottheit gibt. Und mein Priester sagte mir allen Ernstes, daß ich vielleicht Lutheraner werden solle, da ich die Anwesenheit Satans wirklich gespürt hätte. Und von da an quälte mich die Verkündung, der Gott dieser Welt sei böse. Buddha, der all das Böse in der Welt gesehen hat, kam zu dem Schluß, daß es keinen Schöpfer geben könne, denn wenn es ihn gäbe, müßte es auf der Erde anders aussehen, könnte es nicht so viel Elend und Leid in der Welt geben. Aber ich war zu dem Schluß gelangt, daß es einen Gott auf dieser Welt gab und daß er böse sei. Ich habe dieses Problem immer und immer wieder in meinen Romanen wie Irrgarten des Todes und Ubik und LSD-Astronauten und Und die Erde steht still formuliert. Während des Zweiten Weltkrieges, als ich noch ein Kind 251
war, habe ich im Kino in einer Wochenschau einen japanischen Soldaten gesehen, den ein amerikanischer Soldat mit einem Flammenwerfer getroffen hatte. Der Japaner hatte tödliche Verbrennungen erlitten und rannte und brannte und rannte und brannte und rannte und brannte, und das Publikum jubelte und lachte, und ich dachte, irgendwas stimmt hier nicht. Jahre spä ter, ich war knapp über dreißig und lebte auf dem Land, mußte ich eine Ratte töten, die ins Kinderzimmer eingedrungen war. Ratten sind schwer zu töten. Ich stellte eine Falle auf, und in der Nacht lief sie hinein. Als ich am nächsten Morgen aufstand, hörte sie mich kommen und begann zu schreien. Ich trug die Falle mit einer Mistgabel nach draußen aufs Feld und ließ die Ratte hinaus, und sie sprang mit gebrochenem Genick aus der Falle. Ich nahm die Mistgabel und trieb die Zinken in die Ratte, und sie starb immer noch nicht. Da war also diese Ratte, und sie hatte nur versucht, im Haus Futter zu finden, und ich hatte sie vergiftet, ihr das Genick gebrochen, sie mit der Mistgabel durchbohrt, und sie lebte immer noch. Da wurde ich einfach verrückt vor Grauen. Ich lief ins Haus und füllte einen Eimer mit Wasser und ertränkte sie. Und ich begrub sie und nahm die St. Christopher-Medaille, die ich trug, und begrub sie zusam men mit der Ratte. Und die Seele dieser Ratte trug ich von da an immer bei mir, als Frage und Anklage über die Lebensbe dingungen der Geschöpfe dieser Welt. Ich konnte den Geist dieser Ratte, die so grauenhaft gestorben war, nicht austreiben. In meinem Roman Eine andere Welt nähern sich bewaffnete Polizeieinheiten einem Gebäude, in dem Jason Taverner in ei nem dunklen Raum eingeschlossen ist. Er hört sie kommen und schreit, und das ist die Ratte, die schrie, als sie mich kommen hörte. Selbst 1974 erinnerte ich mich noch an den Schrei dieser Ratte. Und dann, mitten in meinem Leben, als ich nur noch unaus weichliches Leiden sah, erschien mir eine seligmachende Vision, 252
die all meine Gefühle des Schreckens und meine Furcht vor der transzendenten Macht des Bösen von mir nahm. Meine seeli sche Qual wurde einfach von mir genommen, wie durch einen göttlichen Befehl, in einer Einmischung einer psychologisch mystischen Art, wie ich sie in meinem Roman Valis beschreibe. Eine transzendente göttliche Macht, die nicht bösartig, sondern gütig ist, griff ein, um meinen Verstand wieder in Ordnung zu bringen, meinen Körper zu heilen und mir einen Begriff von der Schönheit, der Freude, der Harmonie in der Welt zu geben. Daraus habe ich ein Konzept geschmiedet, das relativ einfach ist und in der Theologie wahrscheinlich als einzigartig dasteht. Darin sehe ich das Irrationale als uranfängliche Schicht des Universums, es steht am Anfang aller Dinge und stellt in der Ontologie den Ursprung dar. Und diese Irrationalität entwickelte sich zur Rationalität. Die Geschichte des Universums ist eine Bewegung von der Irrationalität – Chaos, Grausamkeit, Blind heit, Sinnlosigkeit – hin zu einer rationalen Struktur, die auf ordentliche und wunderbare Weise harmonisch miteinander verbunden ist. Aus unserem Standpunkt heraus war der ur sprüngliche Schöpfer geistig gestört. Als Menschen stehen wir in der Evolution über der ursprünglichen Gottheit, wir sind Zwerge, aber wir stehen auf den Schultern von Riesen, so daß wir mehr sehen können als sie. Wir Menschen wurden zwar erschaffen, und doch sind wir rationaler als der Schöpfer selbst, der uns ausgeheckt hat. Diese Auffassung basiert nicht auf Glauben allein, sondern auf einer wirklichen Begegnung, die ich im Jahre 1974 erfuhr, als meine Seele das Eindringen eines anderen transzendenten Geistes erlebte. Es kam mir vor, als wäre ich mein ganzes Le ben lang verrückt gewesen und plötzlich wieder geheilt, normal. Inzwischen ziehe ich die Möglichkeit tatsächlich in Erwägung, seit meiner Geburt im Jahre 1928 psychotisch gewesen zu sein, bis zum März 1974. Aber ich glaube nicht so recht daran. Ich 253
mag über Jahre hinweg etwas ausgeflippt und exzentrisch ge wesen sein, aber nicht verrückt, denn ich habe alle möglichen Rorschach-Tests und so weiter über mich ergehen lassen. Dieser rationale Geist war nicht menschlich. Er war eher eine künstliche Intelligenz. Donnerstags und Samstags könnte ich ihn für Gott halten, Dienstags und Mittwochs für einen Außer irdischen, und manchmal möchte ich meinen, daß das einfach nur die russische Akademie der Wissenschaften war, die ihren psychotronischen telepathischen Mikrowellensender getestet hat. Ich versuchte es mit allen möglichen Theorien, ich dachte an die Rosenkreuzer, ich dachte an Jesus Christus … Er trat in meinen Verstand und beanspruchte die Kontrolle meiner moto rischen Zentren und erledigte das Handeln und Denken für mich. Ich war nur ein Zuschauer. Er machte sich daran, mich zu heiraten, mich und meinen vier Jahre alten Jungen, der einen nicht diagnostizierten, lebensbedrohenden Geburtsfehler hatte, von dem niemand etwas wußte. Dieser Geist, dessen Identität mir völlig unbekannt war, besaß ein kolossales technisches Wissen – Ingenieurswesen, Medizin, Kosmologie, Philosophie. Er besaß Erinnerungen, die über zwei Jahrtausende zurückda tierten, er sprach Griechisch, Hebräisch, Sanskrit, es gab nichts, was ihm unmöglich schien. Er ließ mich sofort meine Angelegenheiten in Ordnung brin gen. Er feuerte meinen Agenten und meinen Verleger. Er brachte meine Schreibmaschine in Ordnung. Er war sehr praktisch ver anlagt und kam zum Beispiel zu dem Schluß, daß ich mein Apartment in letzter Zeit nicht mehr ordentlich gelüftet hatte. Er entschied, daß ich keinen Wein mehr trinken solle, wegen der Ablagerungen – es stellte sich heraus, daß ich unter einem Überschuß von Urinsäure litt – und ließ mich zu Bier über wechseln. Ihm unterliefen grammatikalische Fehler, er sagte zum Beispiel ‚die Hund’ und ‚der Katze’. Damit verärgerte er meine Frau; er nannte sie übrigens ständig ‚Madam’.“ 254
Ich unterbreche ihn, um mich zu vergewissern, daß ich ihn richtig verstanden habe: die Wesenheit, die Stimme, die er in seinem Kopf vernahm, ergriff die Kontrolle über seinen Körper, sein Reden und seine Entscheidungen? „Genau.“ Im ersten Moment will ich mich einer Meinung enthalten, dann suche ich nach weiteren Anhaltspunkten. Im März 1974 war Mr. Dick verheiratet gewesen; was hielt seine Frau davon? „Meine Frau war beeindruckt“, sagt er, „weil ich diesen schrecklichen Druck in meinem Kopf auf die Leute aus meinem Beruf übertrug und so in kurzer Zeit sehr viel Geld einnahm. Wir begannen Schecks über Tausende von Dollar einzusam meln – Geld, das man mir schuldete, von dem diese Intelligenz wußte, daß es in New York lag, aber noch nicht beansprucht worden war. Und er schickte mich zum Arzt, der meine ver schiedenen Leiden bestätigte, die er diagnostiziert hatte … Er machte alles, nur die Wände tapezieren nicht. Er sagte, er würde mich als mein Schutzengel begleiten. Ich mußte ‚Schutzengel’ erst nachschlagen, um zu begreifen, was er meinte. Ich habe darüber Notizen von fast 500 000 Worten geschrie ben. Normalerweise äußere ich mich nicht darüber. Ich habe mit meinem episkopalischen Priester darüber gesprochen und mit ein paar Freunden. Als ich versuchte, mit Ursula K. LeGuin darüber zu diskutieren, ließ sie das ganze Material, das ich ihr geschickt hatte, mit der Bemerkung ‚Sie sind ja verrückt!’ zu rückgehen. Eine Menge davon findet man natürlich in meinem Roman Valis (Vast Active Living Intelligence System – Anm. d. Übersetzers). Valis stellt den Versuch dar, meine Vision in einer rationalen Struktur zu formulieren, die von anderen Men schen verstanden werden kann.“ Seine Worte verwirren mich zutiefst. Ich habe ihn aufge sucht, um einfach ein weiteres Interview über das Geschäft, Science Fiction zu schreiben, aufzunehmen, und nun finde ich 255
mich in einer Dickschen Realitätsschleife gefangen. Ich habe etwas gehört, das wie die Ausgeburt einer verrückten Phantasie klingt, aber wie ein Tatsachenbericht vorgetragen wurde, mit klarer, bescheidener Aufrichtigkeit. Ich weiß nicht, was ich da von halten soll; meine Welt – mein ideos kosmos – wurde von seiner angegriffen, als wäre ich zu einer Gestalt in einem seiner Romane geworden, und er ist Palmer Eldritch, der eine neue Realität erträumt, in der ich leben soll. Aber ich kann nicht darin leben, weil ich sie nicht akzeptie ren kann. Ich kann nicht auf einmal an außerirdische Wesen glauben, die in den Geist eines Menschen eindringen. Ich kann nicht daran glauben, die Geheimnisse des Universums zu erfah ren, indem man einen Science Fiction-Autor in Santa Ana be sucht. Und doch klingt er glaubwürdig. Gedruckt mag es absurd wirken; aber während ich hier saß und seinen schüchternen Tat sachenberichten über Ereignisse, die für ihn nichts als die Wirk lichkeit darstellen, lausche, suche ich nach einer Möglichkeit, seine Worte zu akzeptieren, und wenn auch nur, weil ich ihn für äußerst liebenswürdig halte und Respekt vor seinem Intellekt habe. Wie seine letzten Bücher unter Beweis stellten, besitzt er einen praktischen, klaren Einblick in die Beschaffenheit der Welt. Er ist keineswegs ein Seher oder ein „Parapsychologe“, der eine messianische Botschaft oder ein Erlösungspatent ver kündet. Er gesteht seine Neigung sofort ein, das Leben zu dra matisieren, aber im Grunde ist er ein vorsichtiger, rationaler Mensch, der jedes Gedankengebäude mit bestechender Logik angreift. Er zeigt sich durchaus bereit, die Möglichkeit zu dis kutieren, sein übersinnliches Ergebnis sei nichts weiter als eine Unterhaltung seiner beiden Gehirnhälften untereinander; er zö gert jedoch, diese Erklärung zu akzeptieren, nur weil sie nicht alle Einzelheiten seines Erlebnisses in ausreichendem Maß zu erklären vermag. Und es gibt viele solcher Einzelheiten. Eine Aufzählung 256
würde zu weit führen. Er hat fünf Jahre mit dem Phänomen der Erscheinung, die zeitweilig in seinen Verstand eingedrungen ist (und dann und wann immer noch mit ihm kommuniziert) ge lebt. Er hat Notizen und Aufzeichnungen zusammengetragen, die den Anschein einer Forschungsarbeit erwecken, und gleich gültig, welche Frage man ihm stellt oder welchen Einwand man einbringt, er ist einem immer schon voraus mit seinen unbarm herzig logischen Schlüssen und Tatsachen aller möglichen Co leur. Ich selbst habe nie einen Beweis gesehen, der mich an über sinnliche Phänomene oder Pseudo-Wissenschaften glauben las sen könnte, von der Telepathie bis zu den UFOs. Ich glaube an ein zufälliges und gottloses Universum. Ich wäre der letzte, der an eine höhere Intelligenz glaubt, und daran, daß Philip K. Dick mit ihr in Verbindung steht. Ich glaube jedoch, daß etwas Be merkenswertes mit ihm geschehen ist, wenn auch nur auf psy chologischem Gebiet; und ich glaube daran, daß diese Erfah rung eine wundervolle Vision des Universums (oder des koinos kosmos) und ein seltsames, einzigartiges Buch hervorgebracht hat, das das Leben seiner Leser bereichern kann. Zumindest das muß man Dick zugestehen. Es wäre verfehlt, seine „geistige Stabilität“ zu diskutieren; es kommt nur auf den Wert seiner Einsichten an, ohne Berücksichtigung ihrer Quelle. Es gab gei stig zerrüttetere Menschen als Dick, die trotz allem große Kunst von anhaltender Bedeutung für das Leben von Millionen geistig unzerrütteter Menschen geschaffen haben. Dick ist die gleiche Persönlichkeit wie vor seiner Vision ge blieben. Er hat sich nicht in einen religiösen Eiferer verwandelt. Seine Auffassungsgabe und sein ironischer, skeptischer Humor sind so scharf wie zuvor. Ein paar Tage nach diesem Interview kehre ich zu einem bloßen Höflichkeitsbesuch zu ihm zurück, ohne Tonbandgerät (mein restlicher Bericht entstammt also rein dem Gedächtnis). 257
Während unseres Gesprächs erwähne ich eine schrullige Vor stellung, an der ich Gefallen gefunden habe: Wenn ich von ir gendetwas weit entfernt bin und es nicht sehen oder berühren kann, dann existiert es gar nicht wirklich. „Aber sicher“, sagte er, „sie bauen nur soviel von der Welt auf, wie sie brauchen, um einen zu überzeugen, daß es sie auch gibt. Wissen Sie, das ist so wie bei einer Unternehmung mit geringem Budget: diese Länder, von denen man immer liest, wie Japan oder Australien, die existieren gar nicht wirklich. Da draußen ist gar nichts. Außer, man entschließt sich, dorthin zu fahren, und in diesem Fall bauen sie alles schnell auf, die ganze Szenerie, die Gebäude und die Menschen, gerade noch rechtzei tig, daß man sie sehen kann. Sie müssen wirklich sehr schnell arbeiten.“ Ich erhebe einen vorsichtigen Einwand. „Nun mal im Klar text“, sage ich. „Was Sie da jetzt beschrieben haben, ist das ein literarisches Konzept, wie es in einem Ihrer Bücher vorkommen würde? Oder ist das … ernst gemeint?“ „Meinen Sie, ich würde daran glauben?“ fragt er, offensicht lich überrascht. „Nein, natürlich nicht. Man müßte verrückt sein, um an sowas zu glauben.“ Und er lacht. Santa Ana, im Mai 1979
258
Bibliographische Anmerkungen Philip K. Dick hat so viele gleichermaßen beeindruckende Ro mane geschrieben, daß eine Auswahl der bedeutendsten Titel schwerfällt. Mit Das Orakel vom Berge (1962, dt. 1973, voll ständige Neuübersetzung 1980) gewann er einen Hugo-Award. Dieser wohl bekannteste Parallelweltroman ist eines seiner zu gänglichsten, klarsten Werke der sechziger Jahre. Sein klassi scher „Drogen-Roman“ LSD-Astronauten erschien 1964 (dt. 1971); ein äußerst beunruhigendes Buch. Als leichtere Lektüre empfehle ich Das Labyrinth der Ratten (1967, dt. 1979), ein mindestens satirisches gemeintes Buch. Seine Kurzgeschichte erschienen in Die besten Stories von Philip K. Dick (1977, dt. 1981) und The Book of Philip K. Dick (1973). Confessions of a Crap Artist (1975) ist keine Science Fiction, bietet aber interessante Einblicke auf den Autor; der Roman ist bis zu einem gewissen Grad autobiographisch. Eine andere Welt (1974, dt. 1977) beschäftigt sich mit einigen seiner frühe ren Auffassungen über die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit, ist aber wesentlich reifer und in genau bemessener Prosa ge schrieben; Der dunkle Schirm (1977, dt. 1980) ist kaum noch Science Fiction, eher ein bewegender Roman über die Drogen kultur der sechziger Jahre und gleichzeitig ein Roman mit viel Humor und genauen Beschreibungen. Valis (1981) ist weniger ein Roman als eine enthüllende Botschaft in Romanform, die auf den Erfahrungen basiert, die ich in meinem Gespräch mit dem Autor beschrieben habe.
259
Harlan Ellison Das Haus ist voll – jede Nische ist ausgenutzt, und auf allen zur Verfügung stehenden Flächen stehen oder liegen Bücher, Kunstdrucke, Ornamente, Skulpturen, Schallplatten, Kinkerlitz chen, Preise, Objekte, Sammlerstücke, Nippsachen, Andenken, Trophäen, Spielzeuge, Geschenke, Krimskrams, Schmuck stücke und Trivialitäten. Viele der Wände werden komplett von Gemälden verborgen, die neben- und übereinander hängen. Ei nige hat man sogar an der Decke befestigt. Und dann sind da noch die 37 000 Bücher, von denen eine ganze Reihe ein Schubladendasein fristen muß, weil die Regale bereits jetzt überquellen. Und ein paar Dinge, über die man tiefschürfende Gespräche führen kann: eine Musikbox aus den vierziger Jah ren; ein Bonbonspender, den man einer Original-Untergrund bahn nachempfunden hat; eine Photographie des Planeten Mars, in eine rote Neonröhre eingerollt – und ein vollständiger, eben
260
falls eingerahmter Satz Meinungsknöpfe, hergestellt von der Firma Kellog’s. Im Schlafzimmer des Hausherrn steht ein Wasserbett auf ei nem Quadrat aus roten Zottelteppichen; im sich daran anschlie ßenden Badezimmer finden wir eine Art-Deco-Lampe von Jacuzzi und aus Italien importierte Fliesen. Es gibt ein Gäste zimmer, ein Büro für die Sekretärin (auch das ist vollgestopft, und zwar mit zufällig erstandenen Plastikbausätzen und japani schem Monsterspielzeug), ein Wohnzimmer (mit bizarren mo dernen Skulpturen, einem Riesen-TV-Schirm und zwei Video recordern) und eine eingebaute Bibliothek, in der ein Billard tisch steht, dessen Farben auf die der Wände abgestimmt sind. Und hier ist auch das Archiv. Untergebracht in langen Regalreihen stoßen wir auf unzählige Ausgaben von Playboy und Esquire (komplett in Sammelordnern) und jede Menge alter Marvel-Comics. Hinter einem der Bücherschränke befindet sich eine geheime, schalldichte Grotte mit Wänden aus echtem Vul kangestein und einem weichen Teppich. Er ist beinahe so dick und nachgiebig wie eine Matratze. Wenn man die Treppe hi naufgeht, gelangt man in den Arbeitsraum des Autors, mit ei nem erhöhten Platz für den Schreibtisch, einer Reihe von Abla gekästen und seinen literarischen Auszeichnungen (siebenein halb Hugos, drei Nebulas, zwei Jupitern und einem Edgar). Daneben gibt es noch Urkunden, mit Unterschriften versehene Photos, Plaketten und Ehrengaben. Draußen auf dem Dach, hin ter dem Paolo-Soleri-Glockenspiel und einem echt britischen Dartboard, endet unser Weg im ‚Robert-Silverberg-MemorialKaktusgarten’. Das tägliche Leben in Los Angeles besteht aus einem Hin und Her aus Besuchen und Telefongesprächen, Täuschungsma növern und Diskussionen, Frauen, Speisen im Restaurant, plötz lichen Streitigkeiten, impulsiv gefaßten Entscheidungen und nervenzerfetzenden Besorgungen. Während die Gärtner damit 261
beschäftigt sind, Pilzvernichtungsmittel auf den Rasen zu sprü hen und Netze über die Pfirsichbäume ziehen, debattieren an derswo Hersteller und Händler über die architektonisch immer komplexer werdenden Einbauküchen, die mittlerweile unter 20000 Dollar nicht mehr zu haben sind, dafür aber aus Glasbau steinen bestehen, rostfrei sind und Neonbeleuchtung aufweisen. In der Regel hält sich in Ellisons Haus ein Gast auf, der längere Zeit bleibt (entweder ein Kollege oder ein Protektionskind); seine zahlreichen Bekannten sind nur für kurze Zeit da. Ellison läßt ab und zu eine geistreiche Bemerkung vom Stapel, raucht eine seiner 400 exotischen, geschnitzten Pfeifen und spielt mit Linda Steele, seiner Ganztags-Assistentin, Billard. Dann hat er eine Konferenz mit seinen Anwälten, denn aus steuerlichen Gründen wird aus der Person Harlan Ellison demnächst die ‚Ki limanjaro Corporation’ werden. Dann trifft er sich mit einem Gebrauchsgraphiker, der das neue Firmenzeichen entworfen hat. Der Tag, erfüllt von zahllosen Kleinigkeiten, scheint endlos zu sein – aber dennoch geht er schnell herum. Plötzlich ist es 17.00 Uhr, und Ellison trägt immer noch sei nen braunen Bademantel, auf dessen Rücken Fall mir nicht auf den Wecker steht. Aber sie fallen ihm trotzdem auf den Wecker, und zwar ununterbrochen. Man kappt seine Telefonleitung, man überschwemmt seinen Briefkasten mit Drucksachen, man spricht ihn an, man nörgelt an ihm herum, man legt sich mit ihm an – und dabei ist alles, was er will, nur etwas Ruhe und Frieden. Und schon ist er wieder damit beschäftigt, sich seine Ruhe und seinen Frieden zu sichern: Er ruft den Vertrieb eines gratis verteilten wöchentlichen Anzeigenblattes an, das den Bewohnern dieser Gegend regelmäßig auf die Treppenstufen geworfen wird. Ellison kann die Zeitung nicht ausstehen. Er wird wütend. Er verlangt, daß man aufhört, ihn mit diesem Blatt zu belästigen. Er hat diese Leute schon öfters angerufen. Man hat zwar einmal aufgehört, ihn mit der Zeitung zu beliefern, 262
aber dafür lagen einen Tag später plötzlich Hunderte von Gummibändern in seiner Garageneinfahrt. Und jetzt liegt auch wieder die Zeitung auf seiner Treppe. Es macht ihn wahnsinnig, er kann das nicht ertragen. Er spricht eine Warnung aus, er wird die Leute verklagen, wenn sie nicht aufhören, in seine Privat sphäre einzudringen. Wenn sie nicht aufhören, ihn mit ihrer Zeitung zu belästigen … Dann folgt eine zweite Billardpartie. Das Telefon klingelt. Ellison hebt ab; der andere Teilnehmer hängt ein. Sowas pas siert ihm regelmäßig. Irgend jemand in San Francisco scheint sich einen Spaß daraus zu machen, Harlan Ellison auf den Wecker zu fallen. Aber warum? Warum können diese Irren ihn nicht in Ruhe lassen? Einmal, sagt er, hat er in einiger Entfer nung – auf den Hügeln – eine Gestalt ausgemacht, die die Rückseite seines Hauses beobachtete und – als er sich gerade in der Küche aufhielt – mit einer Flinte auf ihn zielte. Ellison mußte sich verdünnisieren und einen Haken schlagen, um von hinten an den Burschen heranzukommen. Dann hat er alle seine Fenster mit einer Spezialbeschichtung ausstatten lassen. Nun sehen sie von außen wie Spiegel aus, und er kann sicher sein, in Zukunft keine Zielscheibe mehr abzugeben. Aber dann kommt der nächste Telefonanruf – es handelt sich um irgendeine durchgedrehte Frau, die sich seine Adresse aus dem Telefon buch herausgesucht hat, auf seine Geschichten gestoßen ist und intuitiv erfaßt, daß er mystisch inspiriert ist – genau wie sie selbst. Ob sie ihn vielleicht besuchen dürfe …? Freundlich lehnt er ab und hängt ein. Dann geht die Türklingel. Seine Verabredung für heute Abend, ein hollywoodeskes Geschöpf in hautengen Jeans und einer roten Satinbluse ist gerade im eigenen Porsche vorgefah ren. Ellison empfängt sie mit nichts als einem Handtuch um die Hüften und erklärt, daß er gerade auf dem Weg zur Dusche sei – zuvor müsse er aber noch in der Bibliothek eine seiner Kurz 263
geschichten fotokopieren. Sie begleitet ihn folgsam, nimmt zö gernd Platz und beobachtet, wie er das Kopiergerät füttert. Klick, klack geht es; klick, klack. Sie sitzt da und wartet. Klick, klack. Hin und wieder wechseln sie ein Wort miteinander, aber den größten Teil der Zeit sitzt sie herum und beobachtet ihn. Schließlich macht sich Ellison auf den Weg zur Dusche, aber zunächst muß er noch einmal in die fleckenlose Küche, um ein paar Dinge, die jemand achtlos herumgeschoben hat, wieder in die richtige Position zu bringen. Er richtet die Küchenmesser auf dem Magnetbrett so aus, daß ihre Schneiden alle in die glei che Richtung zeigen und – was ist das? Ameisen sind in sein Haus eingedrungen. Ellison zertritt eine nach der anderen, dann hält er inne, um die Oberfläche des weißen Keramikofens mit einem Spezialreiniger zu säubern. Schließlich öffnet er ein Fach seines Gefrierschranks, das mit einer obskuren, gelben Bonbon sorte vollgestopft ist, die ihm als Kind besonders gut ge schmeckt hat. Als Ellison hörte, daß der Hersteller vor ein paar Jahren Pleite gemacht hat, hat er ihm sämtliche Restbestände abgekauft. Was also von dieser Bonbonsorte noch existiert, be findet sich nun in seinem Gefrierschrank. Er schiebt sich eins in den Mund. Das Telefon klingelt. Ein paar Freunde aus New York sind in der Stadt … Kann man sich zum Abendessen tref fen? Ein Vierer … Er kennt das beste Grillrestaurant im ganzen Tal … Und so weiter. Da stellt man sich natürlich die Frage, wann kommt der Schriftsteller Harlan Ellison überhaupt zum Schrei ben? Manchmal schreibt er in den Schaufenstern von Buchhand lungen – Ellison ist nämlich mehr als nur ein Schreiber; er ist ein Entertainer. Es ist für ihn ebenso wichtig, die Leute, die ihn lesen, in Person zu treffen. Er ist ein aggressiver, sogar feindse liger Mensch – er beleidigt sein Publikum, macht sich über des sen simple Gedanken und Geschmäcker lustig und beschwert 264
sich über seine Aufdringlichkeit –, aber sein Dasein ist dennoch so eingerichtet, daß er nur selten allein ist. Seine Feindseligkeit scheint beinahe eine Art des Hofhaltens zu sein: Je schlechter er über sein Publikum redet, desto mehr liebt es ihn. Ich habe ge sehen, wie er 5000 Science Fiction-Fans sagte, daß sie dumm und ungebildet seien; sie dankten es ihm mit einem stehenden Applaus und umringten ihn, um ein Autogramm zu ergattern. Man sagt ihm nach, er behandele seine Gäste, als seien sie frisch eingezogene Rekruten und er ein militärischer Ausbilder; mit dem Resultat, daß sie ihn bitten, noch eine Woche bleiben zu dürfen, um die Grundausbildung fortzusetzen. (Ellison weiß nur deshalb, daß er 37 000 Bücher besitzt, weil er irgendwann einem untätigen Gast aufgetragen hat, sie für ihn zu zählen.) Indem er sich mit der Schreibmaschine in das Schaufenster einer Buchhandlung setzt oder das gleiche im Inneren einer Plastikpyramide auf einem Science Fiction-Kongreß tut, hat er sogar den ansonsten einsamen Akt literarischen Schaffens öffentlich gemacht – und das Publikum in seine Schranken ver wiesen: Ich befinde mich auf dieser Seite der Schreibmaschine – du nicht. Bei solchen Gelegenheiten sammeln sich die Neugie rigen um ihn und murmeln „Was glaubt der eigentlich, wer er ist?“ Aber sie kommen; Ellison weiß das. Seine Geschichten selbst schreien geradezu nach einer Ant wort durch die Öffentlichkeit. Sie sind oft melodramatisch, zor nig und in ihrer Verteidigung des Extremismus widersprucher weckend. Der Stil, dessen er sich befleißigt, ist direkt und gibt sich alle Mühe, den Leser anzusprechen. Ellisons Texte sind redselig wie Monologe, die man im Stehen von sich gibt (und tatsächlich liest er seine Geschichten oft vor Publikum). Regel mäßig gehen seinen Veröffentlichungen Einführungen voran; schließlich hat es jeder Entertainer gern, wenn das Publikum bei seinem Erscheinen schon ein wenig angeheizt ist. Was sein Bedürfnis angeht, den Leser zu erreichen, ist Elli 265
son ganz offen. „Es ist unerläßlich, daß ich mit meiner Arbeit durchschlage. Der schwachsinnigste Vorwurf, der je gegen mich erhoben wurde, war ‚Ach, das hast du doch nur geschrie ben, um die Leute zu schocken.’ Na klar, du Idiot, habe ich dar aufhin gesagt, natürlich habe ich es deswegen geschrieben. Er wartest du etwa von mir, daß ich dich einlulle und dir irgendeine falsche Sicherheit vermittle? Ich will, daß den Leuten beim Lesen meiner Erzählungen die Haare zu Berge stehen – egal ob es sich dabei um eine Liebesgeschichte, eine sanfte Erzählung über die Kindheit oder etwas Dramatisches mit Gewalt handelt.“ Er sitzt auf der Platte seines Schreibtisches und betrachtet das großartige Panorama des oberen Teils seiner Bibliothek. Ich sitze auf der anderen Seite in einem zerbrechlich wirkenden, hölzernen Stuhl. Obwohl ich mir in dieser Position ziemlich klein und häßlich vorkomme, bietet sie mir die einzige Mög lichkeit, meinem Interviewpartner nahe zu sein. Die einzige Alternative bestünde darin, mich auf einer Ausziehcouch nie derzulassen, aber die steht fünf Meter von uns entfernt und ist mindestens dreißig Zentimeter niedriger. Ich frage ihn, ob es ihn stört, wenn die Leute sich darüber amüsieren, daß er in der Öffentlichkeit schreibt oder auf seine Vorstellungen mit den Worten reagieren „Was glaubt der ei gentlich, wer er ist?“ „Ich halte mich für den Burschen, der eine Geschichte schreiben kann, die ebenso gut ist wie ‚Count the Clock That Tells the Time’ – und wenn ich dabei noch einmal in einer gott verdammten Pyramide sitzen muß und sich Tausende von Leu ten alle Mühe geben, mich zur Schnecke zu machen“, gibt er kurzangebunden zurück. „Ich halte mich für keinen anderen, und du kannst deinen Arsch darauf verwetten, daß ich dieser Bursche auch bin. Es macht mir einfach Spaß, den Brüdern et was vorzumachen, was sie selbst nicht fertigbringen, ich liebe es geradezu, Mann. Ich meine, die Phantasien, die ich habe, 266
sind nicht von der Art, daß ich … daß ich mit dem ganzen Mädchenchor der Radio City Music Hall schlafen möchte. Sie sind … von der Art, daß ich plötzlich, wenn irgendeine Jazz band spielt, aufstehen und dem Saxophonisten sagen möchte: ‚Kannst du mir mal für ’ne Minute deine Kanne leihen?’ Und dann fange ich an, besser als Charlie Parker zu blasen. Oder: Jemand hat ein Seil über die Niagara-Fälle gespannt, und ich sage ‚Entschuldigt mal einen Moment’ und marschiere da rü ber. Meine Phantasien gehen dahin, daß ich Dinge machen möchte, von denen jeder sagt, sie seien unmöglich. Das gibt mir was; aber die Leute macht das wütend, weil es ihnen nicht paßt, wenn jemand solche Dinge zustandebringt. Wenn sie nämlich mitansehen müssen, daß jemand wirklich großartige Sachen macht, wird ihnen bewußt, wie wenig sie sich selbst fordern. Es macht mir ungeheuren Spaß, zu diesen Leuten zu sagen: ‚Was seid ihr doch für arme Säcke. Ihr hättet es genauso machen können. Ihr hättet nur die Initiative ergreifen müssen, aber das habt ihr nicht getan.’ Und die Geschichten, die ich in den Schaufenstern schreibe, sind gute Geschichten, Mann. Es sind gute Geschichten, nicht irgendwelcher Scheißdreck. Als ich im Schaufenster des Buch- und Plattenladens Words and Music in London saß, schrieb ich The Diagnosis of Dr. D’Arque Angel, einen Text, der zu meinen besten gehört. Hitler Painted Roses, Herrjemineh, die allerhand Sprengstoff enthält, schrieb ich wäh rend einer Radiosendung innerhalb von zwei Stunden in einem Studio. Die Geschichte wurde vor ein paar Monaten in dem Magazin Heavy Metal veröffentlicht. Flop Sweat, eine andere Geschichte, entstand an einem Nachmittag; abends mußte ich sie dann im Rundfunk vorlesen. Wenn die Leute glauben, lachen zu müssen, na schön. Dann sollen sie es mal selbst versuchen, dann merken sie, wie leicht das ist.“ So rauflustig wie er redet, handelt er manchmal auch. Im Alter von fünfundvierzig Jahren hat Ellison sich einen bemerkens 267
werten Ruf als Kämpfer aufgebaut: Das gilt nicht nur für seine Texte, sondern auch für ihn als Person. Vorsicht und Kompro misse passen nicht zu seinem Lebensstil, und es kommt kaum vor, daß er sich mal einen Rückzieher gestattet. „Ich stamme aus Painesville, Ohio. Das war zwar ein sehr ruhiges Städtchen, aber was mich angeht, hatte ich dort eine Menge Gemeinheiten zu ertragen. Man hat mir ziemlich übel mitgespielt. Ich halte das zwar nicht für eine Sache, die nur mir passiert ist, denn auf die eine oder andere Art passiert sowas vielen Leuten, aber als ich klein war, gab es für mich keine Möglichkeit, diesen Gemeinheiten auszuweichen. Ich war nie in der Situation, mich zufrieden zu fühlen. Ich habe sehr früh ge lernt, Risiken einzugehen und Dinge zu tun, die Kinder tun, um zu zeigen, daß sie da sind, wenn sie beweisen wollen, daß sie den anderen in nichts nachstehen. Und dabei habe ich erkannt, daß man mir nichts tun kann. Man kann mich zwar für einen Moment verletzen, mir emotionalen Schmerz zufügen und mir das Herz brechen – aber wie ich neulich schon einmal gesagt habe: Der reale Schmerz dauert nur zwei Minuten; die übrige Zeit verbringt man damit, sich vor sich selbst zu rechtfertigen, um das, was man durchgemacht hat, stichhaltig und wichtig erscheinen zu lassen. Ich bin also immer Risiken eingegangen, und sobald ich sah, daß sich die Leute darüber das Maul zerris sen, trieb ich es nur noch schlimmer – schließlich war ich ein Kind, das Aufmerksamkeit suchte. Ich bin mit baren Händen und einem Lasso an einem sechzehnstöckigen Gebäude hoch geklettert – aus purem Übermut –, und man alarmierte die Feu erwehr. Ich habe es immer darauf angelegt, bemerkt zu werden. Jetzt, wo ich erwachsen bin, ist das eine sehr üble Sache. Wer um Aufmerksamkeit ersucht, ist äußerst kindisch. Ich gebe es aber trotzdem nicht auf. Nur manifestiert es sich heute in ande ren Bereichen.“ Ein großes Risiko, das er am Anfang seiner Karriere als 268
Schriftsteller einging, war der Entschluß, in Brooklyn einer Jugendbande beizutreten, um über das Leben und die Kämpfe derartiger Gruppen schreiben zu können. Die Sache endete mit einer blutigen Messerstecherei, bei der er beinahe umgekom men wäre. „Daß ich mich der Bande anschloß, schien mir völlig natür lich zu sein; schließlich hatte ich Hemingway gelesen, der ge schrieben hat: ‚Man sollte nie über Dinge schreiben, die man nicht kennt.’ Also sagte ich mir, wenn du über Jugendkriminali tät schreiben willst, dann geh hin und tu’s. Anderen Leuten kommt das wie eine Todessehnsucht vor oder dergleichen, aber das ist es nicht. Für mich war es einfach die Frage, die absolu ten Grenzen meiner Fähigkeiten zu erkennen und herauszufin den, wo ihr Endpunkt lag. Es ist mir ein dringendes Bedürfnis, Risiken einzugehen; überall um mich herum sehe ich nur Men schen, die dazu nicht bereit sind; sie beten die Sicherheit und den Komfort an – und das ist für mich ein Totsein vor dem Sterben. Wenn die Menschheit mit dem zufrieden wäre, was sie bereits hat, würde sie lethargisch werden und in ein Stadium übergehen, in dem sie nur noch im Chor ‚Hm’ sagt. Ich glaube, daß die Entropie die Gesellschaft auf dem Weg hält, den sie ihr vorschreibt und die großen Systeme und Einheiten, die multina tionalen Konzerne, Armeen und Regierungen das ihrige dazu beitragen, daß niemand aus der Reihe tanzt und es nur noch gelegentliche Feuersbrünste und Störenfriede sind, die all das aufrütteln und ein paar Leute zum Nachdenken bringen. Es sind Einzelgänger, die die Geschichte bestimmen. Sicher kennst du den Ausspruch von Thoreau: ‚Wer dem Staat am kritischsten gegenübersteht, dient ihm am meisten.’“ Ich frage, ob er jede Art von Radikalismus gutheißt und ob er überhaupt persönlich an Veränderungen interessiert ist. „Es gibt Veränderungen, die zum Guten oder zum Schlech ten hinführen, aber ich bin der Meinung, daß grundsätzlich alle 269
Veränderungen die eine oder andere Art von Fortschritt mit sich bringen. Clausewitz hat gesagt: ‚Jede Bewegung ist besser als gar keine.’ Wenn man stillsitzt, stirbt man; man geht ein und die Beine fallen einem ab. Nebenbei bemerkt bin ich nicht der Ansicht, so wichtig zu sein, daß jede Veränderung, die ich be wirkt habe, die Dinge durcheinanderschütteln. Ich bin weder Ralph Nader, noch Marie Curie oder Jeanne d’Arc. Ich bin ein bezahlter Lügner, dessen Ansichten über die Welt im Vergleich mit den Arbeiten großer Autoren – wie Isaac Bashevis Singer oder Tom Disch – nun wirklich unwichtig sind.“ Dieser plötzliche Anflug von Bescheidenheit überkommt ihn oft, aber trotzdem halte ich ihn für überlegt. Wie ein unverbes serlicher Sünder, der sich hin und wieder seinem Pastor offen bart, geht auch Ellison gelegentlich mit sich selbst ins Gericht. Wenn seine Bescheidenheit zum Durchbruch kommt, ist sie sicherlich ehrlich gemeint, denn es gibt tatsächlich Schriftstel ler, deren Arbeiten ihm noch besser gefallen als seine eigenen. Diese Autoren zitiert er unablässig, „weil sie weiser sind als ich und sich auszudrücken verstehen“. Und tatsächlich hat er auch sein Haus („Ellison Wunder land“) nach einem großen Phantasten benannt, während seine Firma sich auf den Titel einer Hemingway-Erzählung bezieht. Ellison ist ein Individualist, der fieberhaft bestrebt ist, sich seine Unabhängigkeit zu bewahren. Der Stil, in dem er Stimmungen beschreibt, ist einmalig – und doch erstarrt er in Ehrfurcht vor den Worten anderer Autoren; das kann sogar soweit gehen, daß er ihre Epigramme auf kleine Zettel tippt und über seinem Schreibtisch an die Wand heftet. Es ist, als brauche er die Weisheit gestandener literarischer Persönlichkeiten bei der Ar beit. So zollt er seinen Idolen Tribut; für jene jedoch, die den Sprung über den eigenen Schatten nicht wagen, hat er nur schnaubende Verachtung übrig. Es stinkt ihm, daß die Leute, 270
die ein langweiliges, phantasieloses Leben führen, dabei auch noch glücklich sind. „Sind sie das wirklich? Das glaube ich nicht. Wer kleinere Ziele hat als das, den Mond zu erreichen, oder mit einem Ge mälde zufrieden ist, das dem an der Decke der Sixtinischen Ka pelle nicht nahekommt, oder keine Lust hat, an einer Reise ins Innere der Erde teilzunehmen, gibt sich mit weniger zufrieden, als die Welt für ihn bereithält. Wer Unwissenheit als Glückse ligkeit empfindet, ist in der gleichen Weise zufrieden wie eine Drohne … Ich sehe die Sache anders. Es liegt an den Umstän den, den Indoktrinationen und dem mangelnden Selbstwertge fühl, daß die Leute dem Ruf ihres Blutes nicht folgen. Ich habe gesehen, daß die kleinsten Leute die großartigsten Dinge voll bringen können. Nehmen wir doch nur den Watts Tower (eine riesengroße Skulptur, die in einem Hintergarten im WattsDistrikt von Los Angeles steht). Da hat ein ungebildeter Tage löhner, der weder lesen noch schreiben kann und Simon Rodia heißt, etwas mit seinen eigenen Händen geschaffen, das als große Kunst anerkannt wird. Man braucht nichts anderes zu tun, als sich das mal anzusehen und sich zu sagen, jeder könnte das. Ich glaube wirklich fest daran, daß in jedem menschlichen We sen von Geburt an die Kapazität steckt, auf die eine oder andere Weise nach den Sternen zu greifen. Tun wir das nicht, verleug nen wir unser Erbe und verspielen das, was wir sein könnten. Diesem Ziel strebe ich nach. Ich habe in meinem Leben in allen möglichen Berufen gear beitet; ich war nicht immer Schriftsteller. Als Junge war ich ein außergewöhnliches Schauspieltalent; ich hätte sogar an den Broadway gehen können. Ich war Sänger und kann immer noch singen. Ich hätte als Sänger leben können – zwar nicht im Über fluß, aber gut genug, um durchzukommen. Ich kann auch mit meinen Händen viel anfangen – ich habe als Maurer gearbeitet, was ja auch ein ehrenwerter Beruf ist. Es gibt nichts, was ich 271
mit den Händen nicht hätte fertigbringen können, und das liegt daran, weil es etwas gibt, wonach ich strebe: Qualität. Als ich noch sehr jung war und die Bücher von Robert A. Heinlein las, erkannte ich, was seine Geschichten ausmacht: die Vorstellun gen eines kompetenten Mannes. Und das ist immer mein Ideal gewesen. Ich habe versucht, ein sehr kompetenter Mann zu werden. Wenn ich etwas vermassle, was regelmäßig vorkommt, gehe ich mit mir selbst viel härter in den Clinch als mit allen anderen, weil ich das Gefühl habe, über solch dämlichen Feh lern und Irrtümern stehen zu müssen.“ Man hat in der Tat den Eindruck, daß Ellison sich permanent selbst bewertet und kritisiert. Man stellt sich dabei unweigerlich vor, wie die anderen möglicherweise diesen Mann sehen, dem es gelungen ist, seinen Ambitionen und ethischen Grundsätzen treu zu bleiben. Auf zweierlei Ebenen ist er um gutes Ankom men bemüht: Einerseits ist er der stadtbekannte Quälgeist mit dem unnachahmlichen Image, andererseits der „nette Junge“, der ganz bewußt keinerlei Unrecht begangen hat. Mehrmals hat er darauf hingewiesen, „das Richtige“ zu tun, und zwar in aller Öffentlichkeit. Er hat demonstrativ Partei ergriffen für die Anti kriegsbewegung der sechziger Jahre, die Bürgerrechte der Schwarzen in den Südstaaten, das Schußwaffenkontrollgesetz und – erst letztlich – für die ERA, eine Bewegung, die per Ge setz verankern will, daß die amerikanischen Frauen die gleichen Rechte haben wie ihre Männer. In seiner Eigenschaft als Ehren gast des 1978 in Arizona abgehaltenen SF-Weltkongresses machte Ellison die Tatsache publik, daß Arizona dieses Gesetz noch nicht ratifiziert hat und riet den Kongreßteilnehmern, ei gene Zelte mitzubringen, statt ihr Geld für Hotelzimmer aus zugeben (er schlief selbst in einem Lieferwagen vor dem Ta gungshotel und gab in Arizona keinen Pfennig für irgendetwas aus). Des weiteren benutzte er die Tagung, um Propaganda für die ERA zu machen und Geld für eine ortsansässige Femini 272
stenorganisation zu sammeln. Immer mehr Leute aus der Science Fiction-Bewegung hassen ihn zwar, weil er Politik in ihre Do mäne hineinbringt, müssen aber zugleich zugeben, daß Ellison ein Mensch ist, der für seine Überzeugungen auch einsteht. Was Ellison selbst angeht, so legt er – dieses Ereignis betref fend – keinerlei falsche Bescheidenheit an den Tag. „Ich kehrte mit dem sicheren Wissen zurück, etwas heroisches getan zu haben. Ich fühlte mich wirklich wie ein gottgetreuer Held. Ich war für meine Überzeugung auf die Barrikaden gegangen; ich hatte etwas getan, von dem ich im Innersten meiner Seele wußte, daß es für die Menschheit von unschätzbarem Wert ist. Ich war aus der Reihe getanzt und hatte mich von nichts aufhalten lassen. Der Kongreß war ungeheuer erfolgreich; wir sammelten 2000 Dollar für die ERA-Frauen von Arizona und haben eine wahr haft gute Sache durchgezogen. Es war wirklich eine gute Sache, die wir gemacht haben, und es erfüllt mich mit unheimlichem Stolz, daß ich dazu fähig war. Es gibt nur wenige Gelegenhei ten, bei denen man sich dermaßen klar für die Frage zu ent scheiden hat, ob man sich jetzt mutig oder feige verhält. Und ich zeigte Courage. Aber ich will das nicht allein für mich in Anspruch nehmen: Wäre Linda Steele nicht gewesen, hätte ich möglicherweise doch gekniffen. Aber sie hat mich regelmäßig rangenommen, weswegen ich ihre Freundschaft auch hoch ein schätze. Sie ist eine Frau mit Gewissen und hat überhaupt keine Angst, mir zu sagen, ‚Du benimmst dich wie ein Feigling; wenn du A sagst, mußt du auch B sagen’.“ Er fügt hinzu, daß Fragen der Ethik ihn regelmäßig beschäf tigen – im Leben ebenso wie in seinen Erzählungen. „Ich lege aber nicht viel Wert aufs Moralisieren; anständiges Benehmen ist mir wichtiger.“ Ich frage ihn, ob man ihn je auf ethischer Grundlage wegen seines Lebensstils kritisiert hat, den manche Leute sicher als extravagant oder verschwenderisch bezeichnen würden. 273
„Nun, ich glaube, ich habe es mir redlich verdient. Ich kom me aus armen Verhältnissen. Mein Vater starb verschuldet; ich arbeitete alles ab. Ich habe meine Mutter in den letzten zehn oder elf Jahren ihres Lebens unterstützt und weiß somit, was Armut ist. Ich weiß auch, daß es eine Lüge ist, wenn man be hauptet, daß Armut adelt und man ein viel größerer Künstler sein kann, wenn man statt in einem schönen Haus in einem Hühnerstall wohnt. Wenn ich gute Leistungen erbringen will, muß ich auch in einer Umgebung leben, die mich erfreut. Ich habe mir ein Heim und ein Nest erschaffen und es angefüllt mit meinen Spielzeugen und meiner Musik. Und wenn ich das Be dürfnis dazu habe, kann ich immer wieder hierher zurückkeh ren. Das Haus ist meine äußere Schale. Jene Leute, die sagen, Manomann, wenn er wirklich so ein großer Humanist ist, würde er wie Gandhi oder Albert Schweizer leben, sind mir absolut schnuppe. Was sie sagen, ist ein Scheißdreck. Ich lebe über haupt nicht übertrieben. Ich mache zwar ein Schweinegeld, aber ein Großteil davon geht jedes Jahr dorthin, wo es meiner Mei nung nach Nutzen bringt.“ An Wohltätigkeitsorganisationen? „Heutzutage weiß man nie, was man unterstützt. Jede Orga nisation gehört jemandem. Da investiere ich lieber in Individuen, wie etwa Dawn Johanson, die die Skulptur draußen im Garten gemacht hat. Ich habe sie ihr abgekauft und sie mit dem Geld auf die Kunstschule geschickt. Octavia Estelle Butler, die Auto rin – ich habe ihre Arbeit unterstützt, ihr den Weg geebnet und sie zum Clarion-Workshop geschickt. Jetzt ist sie eine erfolg reiche Schriftstellerin. Es gibt gegenwärtig keine Organisatio nen, denen ich beitreten oder größere Geldmengen geben würde; aber reich möchte ich auch nicht sein, wirklich nicht. Früher habe ich gedacht, 10 000 Dollar im Jahr seien ein hübsches Sümmchen; mehr habe ich gar nicht erwartet. Es erschreckt mich geradezu, wieviel ich jetzt verdiene. Man hat mein dies 274
jähriges Einkommen auf 200 000 Dollar geschätzt; da blieb mir keine andere Wahl, als aus mir eine Firma zu machen. Da habe ich mein ganzes Leben damit verbracht, Firmen zu mißtrauen und zu bekämpfen“, lächelt er, „und jetzt bin ich selber eine. Persönlich finde ich das ganz schön zermürbend.“ Dies von einem Mann, der für 20 000 Dollar seine Küche vergrößert hat. Und doch – der Architekt, der das Projekt durchgezogen hat, ist eine Frau, die gerade das College beendet hat. Ellisons Kü che war ihr erstes Projekt und die einmalige Chance, ganz nach eigenem Geschmack arbeiten zu können. Der Mann, der die handwerklichen Arbeiten ausgeführt hat, betreibt ein kleines Geschäft und gehört zu Ellisons Freunden. Ein junger Chicano, der ganz neu in der Branche ist, ist angeheuert worden, sein Talent bei den schmiedeeisernen Arbeiten unter Beweis zu stel len. Und so weiter. Ellisons Haus ist voll von Kunstgegenstän den und Artefakten, die er von Künstlern, die ohne sein Mäze natentum nicht überleben könnten, in Zahlung genommen oder gekauft hat. Es stimmt, er investiert sein Geld in Individuen. Vielleicht mag er das Etikett nicht, aber so wie ihn stellt man sich einen mit sozialem Gewissen ausgestatteten Kapitalisten vor. Das ist eine altmodische Ansicht, aber in gewisser Beziehung ist Ellison altmodisch. Er bezieht sich oft auf die Kultur der fünfziger Jahre (die Rockettes, Charlie Parker); er kann Mode torheiten nicht ausstehen (er macht sich über Skateboardfahrer lustig und mag den größten Teil der modernen Rockmusik nicht); er ist zwar im Sinne der Playboy-Philosophie ein aufge klärter Mensch, wirkt aber so nüchtern wie die PenthouseLeserschaft. Dennoch ist er natürlich modischer angezogen und widerspiegelt den Zeitgeist viel deutlicher als die meisten seiner Autorenkollegen, die er aufgrund ihrer altmodischen Attitüden und dem Widerstand, den sie Veränderungen entgegenbringen, 275
verspottet. Das ist ein weiterer Widerspruch, aber schließlich kann man Entertainern nur selten mit ein paar simplen Defini tionen beikommen. Das Bedürfnis, vom Publikum geliebt zu werden, hat er, auch wenn er es abstreitet. Ebenso braucht er den täglichen Wahnsinn und ist darauf festgelegt, Eindruck zu erwecken, ohne daß man merkt, daß er danach strebt. Am Ende unseres Interviews lehnte er sich zurück und sagte erschöpft und enttäuscht: „Ich hatte damit gerechnet, daß Sie mit einer abscheulichen Enthüllung hier auftauchen, die ich dann einfach so vom Tisch hätte wischen können.“ Obwohl er das beste aus sich herausgeholt hat, ist es noch immer nicht gut genug gewe sen, um seinen eigenen Standards gerecht zu werden. Es ist keine Frage, daß die Belohnungen für sein fleißiges Arbeiten herrlich sind: Er lebt gut, ist für Tausende seiner Leser selbst schon für eine mythische Gestalt geworden, wird aner kannt und geschätzt und nimmt dort, wo er aktiv gewesen ist – der Science Fiction, Film und Fernsehen – eine einmalige Posi tion ein. Sein Talent und sein Charme, seine Lebhaftigkeit und Direktheit, seine Integrität und Großzügigkeit – all das ist be kannt, hat ihm Freunde gewonnen und Menschen beeinflußt. Selbst wenn es mal nicht so klappt – wenn das Schreiben ihm nicht so leicht von der Hand geht oder er private Probleme hat; wenn er trotz der zahlreichen Namen, die in seinem großen Adreßbuch stehen, das Gefühl hat, nur wenige echte Freunde zu haben und zufälligerweise niemand bei ihm zu Gast ist, mit dem man reden kann; wenn keine Assistentin oder ein Inspira tor zugegen ist, die ihm Auftrieb geben könnten – und nicht einmal ein Mädchen da ist, das über Nacht bleibt; sogar dann kann er wieder zu sich finden. Weil das Haus in einem solchen Fall trotzdem voll bleibt. Es ist voll mit 37 000 Büchern, deren Titel von den Regalwänden herabschreien. Es ist angefüllt mit Objekten aller Art – von Tieren und Cartoonfiguren bis hin zu Zwergen und Gnomen. Und es ist voller Bilder, auf denen meist 276
menschliche Gestalten und Gesichter zu sehen sind. Das Haus ist immer voll – voll von Gesichtern, die ein ewiges Publikum abgeben und von jeder Wand herabsehen. Los Angeles, im Mai 1979
277
Bibliographische Anmerkungen Der größte Teil von Ellisons Frühwerken kam in den siebzi ger Jahren neu auf den Markt; darunter waren auch Web of the City und Memos from Purgatory (Erstveröffentlichungen 1958 bzw. 1961). Diese Titel gehören nicht zur Science Fic tion. Es sind gute, harte Dokumentationen, die das Leben in einer New Yorker Jugendbande mit Authentizität und Kraft beschreiben. Von den vielen Kurzgeschichten, die Ellison geschrieben hat, befinden sich einige der besten in den Sammlungen Alone Against Tomorrow (1971) und Strange Wine (1978). Im erstge nannten Titel kehren die Themen der Rebellion, Entfremdung und Gewalt als Charakteristika der sechziger Jahre, in denen die meisten dieser Geschichten erstmalig erschienen, ständig wie der. Der neuere Band schlägt zwar nicht unbedingt zartere Töne an, hat aber an Reife sichtlich gewonnen. The Glass Tear (1969) ist eine Sammlung engagierter Kom mentare zum amerikanischen Fernsehprogramm. Die einzelnen Kapitel wurden zuvor in Form von Tagebucheintragungen in der Zeitung Los Angeles Free Press veröffentlicht und sind das Abbild einer Zeitepoche. Bemerkenswert sind die Offenheit und der Idealismus, den das Buch widerspiegelt. Man findet ebenso komplexe Analysen wie auch simple Ja/Nein-, Gut/SchlechtBeurteilungen. Darüber hinaus hat Ellison noch zwei Anthologien herausge geben, die sich als Meilensteine der neuen Science Fiction er wiesen: Dangerous Visions (1967) und Again, Dangerous Visi ons (1972). Beide Anthologien enthalten wortreiche und erklä rende Einleitungen des Herausgebers, die oftmals ebenso inter essant sind wie die Geschichten, auf die sie sich beziehen. Eine dritte Anthologie, The Last Dangerous Visions, befindet sich 278
seit mehr als zehn Jahren in Vorbereitung; ihr Veröffentli chungsdatum bleibt auch weiterhin problematisch.
279
Ray Bradbury Ray Bradburys Geschichten sprechen mit einer einzigartigen Stimme. Man kann sie mit den Werken anderer Autoren einfach nicht verwechseln. Und Bradbury selbst ist genauso unver wechselbar: ein charismatischer Individualist von eindringli chem, überschwenglichem Wesen und einer Art weit gefaßter, epischer Hingabe an die Kräfte der Kreativität, des Lebens und der Kunst. Er hat nichts übrig für das kommerzielle Schreiben, das see lenlos für den Massenmarkt produziert wird: „Das ist alles Dreck, alles Dreck, und ich mache da gar kein Hehl draus, ich reagiere darauf, wie es mir meine Emotionen und Bedürfnisse vorschreiben; eines Tages wird man darunter leiden, wenn man sich von dem abgewendet hat, was man ei gentlich ist. Wenn man nur für den Markt schreibt, wird man eines Tages aufwachen und es bedauern. Ich kenne eine Menge Drehbuch-Autoren; sie schreiben immer nur Sachen für andere
280
Leute, für Geld, weil es ihr Job ist. Anstatt zu sagen, ‚He, das sollte ich wirklich nicht tun’, greifen sie zu, weil es ein schnel ler Job ist und zu ihrem Ansehen beiträgt. Aber keiner erinnert sich später daran. Fragen Sie mal irgendwelche etablierte Auto ren in Los Angeles: ‚Wer hat das Drehbuch für Vom Winde verweht geschrieben?’, und sie können es Ihnen nicht sagen. Oder das Drehbuch für Der unsichtbare Dritte? Oder das Dreh buch für Psycho – selbst ich könnte Ihnen das nicht sagen, und ich habe den Film achtmal gesehen. Diese Leute sind die Lauf burschen des Marktes; sie werden alt und einsam und neidisch, und sie werden nicht geliebt, weil sich keiner an sie erinnert. Bei Romanen und Kurzgeschichten, Essays und Gedichten ha ben Sie unvermeidlich kein solch großes Publikum, aber Sie haben eine ständige Gruppe von Anhängern, die Sie lieben, Leute, die irgendwann einmal in Ihr Leben treten und Sie mit so strahlendem Gesicht und so strahlenden Augen anschauen, daß Sie diese Liebe gar nicht in Frage stellen können, sie ist da, man kann sie nicht vortäuschen. Wenn man über die Straße geht und jemanden trifft, den man seit Jahren nicht mehr gesehen hat – dieser Blick! Man sieht einen, und dieses Licht, es ist plötzlich da und sagt, Mein Gott, da bist du ja, Herr im Himmel, es ist fünf Jahre her, komm, ich gebe dir einen aus … Und man geht in eine Bar, und … und diese wunderschöne Sache, die die Freundschaft einem gibt, das ist es doch, was wir wollen, eh? Das ist es, was wir wollen. Und der ganze Rest ist Dreck. Wirk lich. Das ist es, was wir vom Leben haben wollen …“ Er schlägt mit der Faust auf die Glasplatte seines großen, kreis förmigen Kaffeetisches. „Wir wollen Freunde. Im ganzen Le ben haben die meisten Leute nur einen oder zwei anständige Freunde, ständige Freunde. Ich habe fünf, vielleicht sogar sechs. Und eine anständige Ehe, und Kinder, und die Arbeit, die mir wirklich Spaß macht, und die Fans, die sich um diese Ar beit scharen – mein Gott, das ist das ganze Leben, nicht wahr? – 281
Aber die Drehbuchautoren haben dies nie, und es schmerzt, das zu sagen. Oder die Harold Robbinse der Welt – ich meine, wahrscheinlich ist er ja ein ganz netter Kerl. Aber das kümmert keinen, keinen kümmert es, daß er diese Bücher geschrieben hat, weil es kommerzielle Bücher sind, und es liegt kein Mo ment der Wahrheit in ihnen, der ans Herz geht. Es fehlt die Er habenheit und die Erheiterung gewisser Tage … diese prächti gen Tage, an denen man hinausgeht und es ist genug, einfach zu leben, das Sonnenlicht fährt einem in die Nase und kommt ei nem aus den Ohren wieder heraus, hah? Darauf kommt es an. Und der Rest … an dem Konzept ba steln, wie man einen Bestseller schreibt … wie langweilig! Mein Gott, ich würde mich umbringen, wirklich, ich könnte so nicht leben. Und ich meine jetzt nicht aus moralischen Grün den. Ich spreche von der eigentlichen Triebfeder des Nervensy stems. Ich könnte das nicht, und nicht etwa, weil es von der Moral her falsch und nicht tugendhaft ist, sondern weil ich es nicht verkraften könnte, im Endeffekt dem Grundsatz vom Ge schenk des Lebens zuwiderzuhandeln. Wenn man sich von den natürlichen Werten abwendet, die Gott einem gegeben hat, oder die das Universum einem gegeben hat, wie immer man sich ausdrücken will, dann wird man zu schnell alt. Man wird verbit tert, man wird zynisch über das, was man getan hat. Man wird sterben, bevor man stirbt. Das ist keine Art zu leben.“ Er hält diese begeisterte Strafpredigt mit voller, kräftiger Stimme – fast im Ton eines Gospel-Sängers. Für dieses Inter view mag er sich eines leicht schärferen Tonfalls als üblich be fleißigen und etwas übertreiben, um seine Ansichten zu ver deutlichen, aber es besteht kein Zweifel an seiner Aufrichtig keit. Diese Abschnitte der ekstatischen Prosa in seinen Werken, Hommagen an die vibrierenden Bilder der Kindheit, den präch tigen Zorn der aufblitzenden Raketen, das erlesene Geheimnis des Mars, überhaupt die allgegenwärtige wunderbare Beschaf 282
fenheit des Universums – er scheint das Leben wirklich in die sen Begriffen zu erfahren, ungehindert, rückhaltlos. Auch intellektuelle Kontrolle und kalte, harte Vernunft ha ben einen Platz; doch während des kreativen Prozesses müssen sie dem Gefühl weichen. „Ich brauche einen Tag, um eine Kurzgeschichte zu schrei ben. Am Ende des Tages frage ich mich, welche Teile aufgehen und welche nicht. Nun, da ist eine Szene, die stimmt einfach nicht, was fehlt ihr? Gut, der Intellekt kann einem da helfen. Und am nächsten Tag kehrt man zu der Geschichte zurück und explodiert erneut, auf den Grundlagen dessen, was man abends zuvor durch seinen Intellekt erfahren hat. Aber es muß eine völ lige Explosion sein, die in ein paar Stunden vorüber ist, wenn sie ehrlich sein soll. Nur auf den Intellekt zu vertrauen, ist sehr gefährlich. Er kann einem völlig den Weg verbauen. Der Intellekt soll uns davor schützen, uns selbst Schaden zuzufügen – von einem Ab hang zu stürzen oder eine schlimme Erfahrung durchzumachen, eine Liebesbeziehung einzugehen, vor der uns nur unser Verstand bewahrt. Dafür ist der Intellekt da. Aber er sollte nicht zum Mittelpunkt aller Dinge werden. Wenn man den In tellekt zum Mittelpunkt des Lebens macht, verdirbt man sich doch den ganzen Spaß, nicht wahr? Man steigt aus dem Bett von Leuten, bevor man überhaupt zu ihnen ins Bett gestiegen ist. Und wenn es soweit kommt … die ganze Welt würde ster ben, wir hätten überhaupt keine Kinder mehr!“ Er lacht. „Man würde überhaupt kein Verhältnis mehr eingehen, man würde sich vor jeder Freundschaft fürchten und paranoid werden. Wenn man nicht aufpaßt, kann der Intellekt einen in jeder Hin sicht paranoid werden lassen, einschließlich der Kreativität. Warum denken wir also nicht, bis es geschehen ist? Das tut keinem weh.“ Ich bemerke, daß Bradburys Weltanschauung – und seine 283
Geschichten – schamlos romantisch sind. Doch mit diesem Be griff scheint er ganz und gar nicht einverstanden zu sein. „Ich bin nicht ganz sicher, ob ich weiß, was er bedeutet. Was kann man dafür, wenn einen gewisse Dinge lachen oder weinen lassen? Sie beschreiben damit nur einen Prozeß. Als ich vor drei Jahren zum ersten Mal Cape Canaveral besuchte, dachte ich, ja, das ist meine Heimatstadt! Hier komme ich her, und alles wurde in den letzten zwanzig Jahren hinter meinem Rücken errichtet. Ich ging in den Versorgungsturm der Raumkapseln, der über hundertzwanzig Meter hoch ist, und fuhr mit dem Fahrstuhl hinauf und blickte hinab – und die Tränen schossen mir aus den Augen. Sie schossen mir wirklich aus den Augen. Die gleiche Ehrfurcht habe ich verspürt, als ich den Chartres oder den Notre Dame oder die St.-Peters-Kirche besichtigt habe. Die Größe dieser Kathedrale, von der die Raketen zum Mond starten, ist so gewaltig. Ich weiß nicht, wie ich sie beschreiben soll. Bei der Rückfahrt drehte ich mich tränenüberströmt zu meinem Fahrer um und sagte: ‚Wie zum Teufel kann ich darüber schreiben? Es war, als sei ich in Shakespeares Kopf herumspaziert.’ Und so bald ich das gesagt hatte, wußte ich, daß ich meine Metapher gefunden hatte. An diesem Abend setzte ich mich im Zug hinter meine Schreibmaschine und schrieb ein siebenseitiges Gedicht, das in meinem letzten Gedichtband erschienen ist, über meine Erfahrungen auf Canaveral, bei denen ich in Sheakespeares Kopf herumgegangen bin. Wenn das romantisch ist, wurde ich eben mit romantischen Genen geboren. Ich weine wohl viel … mir kommen die Tränen schnell, aber ich lache auch schnell, ich versuche, damit zu le ben und es nicht zu unterdrücken. Wenn das romantisch ist, dann bin ich wohl ein Romantiker, aber ich weiß ehrlich nicht, was dieser Begriff bedeutet. Diesen Begriff verwendet man bei Leuten wie Byron, der in vieler Hinsicht ein schrecklicher Narr war, besonders, als er schließlich Selbstmord beging. Ich hasse 284
es, wenn ich sehe, daß jemand sinnloserweise der Welt verlo rengeht. Wir hätten ihn noch fünf Jahre haben sollen … oder wie wäre es mit zwanzig Jahren? Ich glaube schon, daß er ein törichter Romantiker war, aber so genau kenne ich sein Leben auch wieder nicht. Ich bin ein schwieriger Fall. Ich halte George Bernard Shaw zwar nicht für einen Romantiker, und doch bin ich ein großer Anhänger von ihm. Shaw hat mich tief beeinflußt, genau wie Shakespeare oder Melville. Ich bin ganz verrückt nach Shaw; ich trage ihn überall bei mir. Ich habe sei ne Einleitungen immer wieder gelesen.“ Ganz abgesehen von der romantischen Weltauffassung, die ich Bradbury unterstelle, wird sein Werk gekennzeichnet von einem immer wiederkehrenden Sinn für Nostalgie. Viele seine Geschichten blicken auf vergangene Zeiten zurück, in denen alles noch viel einfacher war und die Technik noch nicht die Grundlagen des Kleinstadtlebens in Mitleidenschaft gezogen hat. Ich frage ihn, ob er sich über die Quelle dieser Hingabe für das Einfache bewußt ist. „Ich wuchs in Waukegan, Illinois, auf, einer Stadt mit 32 000 Einwohnern, in der man sich als Kind überall auskannte. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr hatten wir keinen Wagen. So bin ich nicht viel in Autos gefahren, bis ich mit vierzehn westwärts nach Los Angeles zog. Wir hatten kein Telefon in unserer Fa milie, bis ich etwa fünfzehn und auf der High School war. Wir hatten eine ganze Menge nicht; wir waren eine sehr arme Fami lie. So fängt man mit dem Einfachen an, und man respektiertes. Man nimmt es in Kauf, zu Fuß zu gehen, man nimmt eine Kleinstadt in Kauf, man nimmt die Bibliothek in Kauf, in der man sich seine Bildung zulegt … von meinem neunten oder zehnten Lebensjahr an war ich ständig in der Bibliothek. Ich war schon immer ein guter Schwimmer und gut zu Fuß und gut mit dem Fahrrad. Jedesmal, wenn ich niedergeschlagen oder aus irgend einem Grund bedrückt war, hat mir das Schwimmen 285
oder Wandern oder Radfahren darüber hinweggeholfen. Das säubert das Blut und klärt den Verstand, und danach ist man bereit, mit seiner Arbeit fortzufahren.“ Er erzählt über seine früheren Ambitionen: „Ich hatte schon immer viele Interessen. Ich wollte immer Comiczeichner werden und meinen eigenen Comic Strip haben. Und ich wollte Filme machen und auf der Bühne stehen und ein Architekt sein … ich war schrecklich in die Architektur der Zu kunft verschossen, die ich auf den Fotos der vielen Weltausstel lungen sah, die meiner Geburt vorausgegangen waren. Und als ich dann mit zehn oder elf Edgar Rice Burroughs las, wollte ich Marsgeschichten schreiben. Und als ich dann mit zwölf zu schreiben begann, war das das erste. Ich habe eine Fortsetzung zu einem Buch von Edgar Rice Burroughs geschrieben. Mit siebzehn habe ich immer die Science-Fantasy-Treffen in Los Angeles besucht. Wir gingen in Clifton’s Cafeteria; Forrest Ackerman und seine Freunde trieben die Clique dort jeden Donnerstag Abend zusammen, und man konnte dort Henry Kuttner begegnen, und C. L. Moore, und Jack Williamson, und Edmond Hamilton und Leigh Brackett … mein Gott, war das schön, ich war siebzehn, ich wollte Helden haben, und sie be handelten mich wunderbar. Sie akzeptierten mich. Ich kenne noch immer praktisch jeden im Genre, zumindest von den alten Zeiten her. Ich liebe sie alle. Als ich neunzehn war, war Robert Heinlein mein Lehrer … aber man kann nicht ewig dabei blei ben, eine Familie wird erwachsen. Wenn man seine Kinder in die Welt entläßt – ich habe vier Töchter –, kann man auch nicht sagen: ‚Hier ist die Grenze, du kannst nicht dort hinaus gehen.’ Und so wurde ich mit neunzehn erwachsen. Mit zwanzig gesellte ich mich zu kleinen Theater-Gruppen und begann mit anderen Literaturformen zu experimentieren. Ich hielt meine Kontakte zu den Science Fiction-Gruppen noch, aber ich wußte, daß ich es nicht einfach dabei bewenden lassen durfte. 286
Mit vierundzwanzig versuchte ich Geschichten an Collier’s und Harper’s und The Atlantic zu verkaufen, und ich wollte in The Best American Short Stories erscheinen. Aber das gelang mir nicht. Ich hatte einen Freund, der einen Psychiater kannte. ‚Kannst du mir mal deinen Psychiater für einen Nachmittag leihen?’ fragte ich ihn. Eine Stunde kostet zwanzig Dollar! Ich verdiente in der ganzen Woche soviel wie dieser Bursche in einer Stunde. Ich suchte ihn also auf, und er sagte: ‚Mr. Bradbury, was für ein Problem haben Sie?’ Und ich sagte: ‚Na, zum Teu fel, es passiert einfach nichts.’ Und so fragte er: ‚Was soll denn geschehen?’ ‚Nun’, sagte ich, ‚ich will der größte Schriftsteller aller Zeiten werden.’ ‚Aber dazu braucht man doch etwas Zeit, oder?’ meinte er. ‚Haben Sie schon einmal in einer Enzyklopä die gelesen? Dann gehen Sie mal in die Bibliothek und lesen über das Leben von Balzac und Du Maupassant und Dickens und Tolstoi nach, wie lange sie brauchten, um zu dem zu wer den, was sie geworden sind.’ Und ich ging in die Bibliothek und las nach und fand heraus, daß auch ich zu warten hatte. Und ein Jahr später begann ich an den American Mercury und an Collier’s zu verkaufen, und mit sechsundzwanzig erschien ich in The Best American Short Stories. Ich machte noch immer nicht viel Geld damit, aber ich bekam die Anerkennung, die ich brauchte, die Liebe, die ich von den Leuten haben wollte, zu denen ich emporsah. Die intellektuelle Elite Amerikas meinte jetzt: ‚He, du bist in Ordnung, du wirst es schaffen.’ Und dann sagte mir meine Freundin Maggie das gleiche. Und dann war es mir egal, ob die Leute um mich herum über mich spotteten. Ich war bereit zu warten.“ In der Tat muß Bradbury in den späten fünfziger und sechzi ger Jahren mehr kritische Würdigungen erhalten haben als jeder andere Science Fiction-Autor. In seinem Werk benutzte er ei nen sehr spärlichen technischen Jargon, was es für „Outsiders“ leichter machte, ihn zu lesen, und er erwarb sich eine Reputation 287
als Stilist, wenn auch nur, weil zu dieser Zeit nur sehr wenige Science Fiction-Autoren überhaupt ein stilistisches Bewußtsein zeigten. Im Science Fiction-Feld selbst hatte Bradbury jedoch nie so viel Zuspruch erhalten, gemessen (zum Beispiel) an Hugo- oder Nebula-Preisen. Ärgert ihn das? „Es ist sehr gefährlich, darüber zu reden.“ Er überlegt. Bis zu diesem Moment hat er bereitwillig und voller Selbstvertrauen gesprochen, doch jetzt scheint er zu zögern. „Ich verließ die Familie, verstehen Sie? Und darin liegt eine Gefahr … für sie. Weil sie das Haus nicht verlassen haben. Es ist so, als würde Ihr älterer Bruder plötzlich aus dem Haus gehen … Wie kann er es wagen, mich zu verlassen? Mein Held, von dessen Schutz ich völlig abhängig war. Dieses Gefühl ist da. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Aber sobald man aus dem Haus gegangen ist und zurückschaut, und sie drücken die Nasen gegen die Fen sterscheiben, dann will man sagen, ‚Hey, kommt schon, es ist gar nicht so schwer, kommt doch auch heraus!’ Aber ein jeder besitzt zu einer gewissen Zeit eben mehr oder weniger Toll kühnheit. Man braucht eine gewisse Tollkühnheit … das ist kein Wagemut, das ist die Bereitschaft, etwas neues auszupro bieren. Denn im Prinzip bin ich wirklich ein Feigling. Ich fürch te mich vor Höhen, ich fliege nicht, ich fahre nicht Auto. Ich kann also wirklich nicht von mir behaupten, besonders tapfer zu sein. Aber der Teil von mir, der ein Schriftsteller ist, wollte es draußen in der größeren Welt versuchen, und ich konnte mir einfach nicht helfen, ich mußte hinausgehen. Ich wußte, daß ich etwas besonderes schreiben und die Gele genheit am Schopfe ergreifen mußte. Drei oder vier Jahre lang, von meinem neunzehnten bis zu meinem zweiundzwanzigsten, dreiundzwanzigsten Lebensjahr verkaufte ich Zeitungen an der Straßenecke. Ich machte damit zehn Dollar die Woche, und das war gar nichts, und das hieß, daß ich keine Mädchen ausführen 288
und mit ihnen einen halbwegs anständigen Abend verbringen konnte. Ich konnte ihnen eine Malzmilch für zehn Cent ausge ben, und sie für einen der billigen Plätze im Kino einladen und sie dann nach Hause bringen. Den Bus konnten wir nicht neh men, ich hatte kein Geld mehr. Wie gesagt, das war keine be sondere Tugendhaftigkeit meinerseits, das war reiner Instinkt. Ich wußte genau, wie ich meine Schäfchen ins Trockne zu brin gen hatte. Als ich Mitte Zwanzig war, begann ich für Weird Tales zu schreiben, verkaufte meine Kurzgeschichten dorthin, bekam zwanzig oder dreißig Dollar das Stück dafür. Stellen Sie sich vor, alle Geschichten aus den Marschroniken, bis auf zwei, ver kaufte ich ursprünglich für vierzig, fünfzig Dollar das Stück. Mit fünfundzwanzig traf ich Maggie. Sie arbeitete in einer Buchhandlung in der Innenstadt von Los Angeles, und sie hatte die gleichen Ansichten wie ich … sie interessierte sich für Bü cher, für Sprache, für Literatur … und sie interessierte sich nicht dafür, einen reichen Freund zu bekommen; toll, denn ich war alles andere als reich. Wir heirateten zwei Jahre später, und in den 32 Jahren unserer Ehe hatten wir nur ein einziges Mal ein Problem mit dem Geld. Bei einem Spiel, ein kleiner Zwi schenfall. Die restliche Zeit haben wir nicht einmal über Geld gestritten. Wir wußten, daß wir kein Geld auf der Bank hatten, warum sollten wir also über etwas streiten, das wir nicht hatten? Wir wohnten einige Jahre in Venice, Kalifornien, in unserer kleinen Wohnung für 30 Dollar den Monat, und als unser erstes Kind kam, machten wir uns schreckliche Sorgen, weil wir kein Geld hatten, und dann begann Gott einzugreifen. Als das erste Kind kam, ging mein Einkommen von 50 Dollar die Woche auf 90 Dollar die Woche hoch. Mit 33 verdiente ich 110 Dollar die Woche. Und dann kam John Huston und gab mir Moby Dick (den Film, für den Bradbury das Drehbuch schrieb), und in die sem Jahr kletterte mein Einkommen steil in die Höhe – und fiel 289
dann nächstes Jahr wieder ab, weil ich mich entschlossen hatte, die nächsten drei Jahre keine Drehbücher zu schreiben und mir eine Reputation aufzubauen, war bewußt und intuitiv zugleich. Denn, wie ich schon sagte, heute weiß keiner mehr, wer die Filmfassung von Moby Dick geschrieben hat. Los Angeles hat mir sehr weitergeholfen, weil ich hier mit Hollywood – den großen Filmen – und bestimmten Technologien zusammenstieß. Ich bin seit dem dritten Lebensjahr ein großer Filmfan. Ich bin kein reicher Science Fiction-Autor, im Grunde meines Herzens bin ich ein Filmfanatiker, und mein gesamtes Werk wird davon heimgesucht. Viele meiner Kurzgeschichten könnten vom Manuskript weg verfilmt werden. Als ich vor acht oder neun Jahren Sam Packinpah kennenlernte und eine Freundschaft zwischen uns entstand und er Das Böse kommt auf leisen Sohlen verfilmen wollte, sagte ich: ‚Und wie packst du das an?’ ‚lch reiße die Seiten aus deinem Buch’, meinte er, ‚und stecke sie in die Kamera.’ Und er hat völlig recht. Da ich ein unehelicher Sohn von Erich von Stroheim und Lon Chaney bin – ein Kind des Kinos, ha! – ist es nur natürlich, daß fast alle meine Arbeiten photographisch sind.“ Ist er mit der Verfilmung seiner Geschichten zufrieden? „Ich war zufrieden mit Fahrenheit 451. Das ist ein wunder barer Film mit einem prächtigen Ende. Einem hervorragenden Ende von Truffaut. Den Illustrierten Mann habe ich verab scheut; ein schrecklicher Film. Ich habe jetzt die Rechte zu rückerhalten, und wir werden ihn irgendwann in den nächsten Jahren neu drehen. Moby Dick … dieser Film bewegt mich un geheuer. Ich bin sehr glücklich damit. Ich sehe Dinge, die ich jetzt, fünfundzwanzig Jahre später, besser machen könnte, ganz einfach, weil ich sie besser verstehe, über Shakespeare und die Bibel, die, alles in allem, Melville zu schreiben gelehrt haben. Ohne die Bibel und Shakespeare würde Moby Dick niemals ge boren worden sein. Nichtsdestotrotz, mit all den Schwachpunk 290
ten, mit all den Problemen, weil Gregory Peck nicht ganz der richtige Mann für den Ahab war … ich hätte jemanden wie Oli vier gewollt; mit Olivier wäre der Film ganz phantastisch ge worden … aber von all dem abgesehen, bin ich immer noch sehr zufrieden damit.“ In den letzten Jahren hat sich Bradbury in immer stärkerem Maße von den Kurzgeschichten hin zu den Gedichten gewandt. Nicht alle seine Gedichte wurden so gut aufgenommen. Leidet er unter der höchst irritierenden Kritik, daß seine früheren Wer ke besser gewesen sein sollen? „Oh ja, und die Kritiker … die irren sich natürlich. Steinbeck mußte sich auch damit befassen. Ich weiß noch genau, wie er das gesagt hat. Und das ist Blödsinn. Ich schreibe jetzt in mei nen Gedichten, was ich vor 30 Jahren niemals hätte schreiben können. Und ich bin sehr stolz darauf. Einige der Gedichte, die in den letzten beiden Jahren aus meinem Kopf geströmt sind, sind einfach unglaublich. Ich weiß nicht, woher zum Teufel sie kommen, aber … aber bei Gott, sie sind gut! Ich habe zumin dest drei Gedichte verfaßt, die in siebzig, in hundert Jahren noch bestehen werden. Nur drei Gedichte, sagen Sie? Aber die Reputation der meisten großen Dichter basiert auf einem oder auf zwei Gedichten. Ich meine, wenn Sie an Yeats denken, dann denken Sie an Sailing to Byzantium, und dann sagen Sie mir mal, außer, Sie sind ein Yeats-Fachmann, sechs andere Ge dichte von ihm. Nur ein Gedicht im Leben zu schreiben, von dem man weiß, daß es so gut ist, daß es Bestand haben wird … und mir ist das gelungen, verdammt, mir ist das gelungen … Zumindest drei Gedichte … und eine Menge Kurzgeschichten. Vor einem Jahr schrieb ich eine Kurzgeschichte, Gotcha, Mann, verdammt, die ist dermaßen gut, einfach toll! Ich habe sie gelesen und wußte sofort, die ist gut. Und noch eine, The Burning Man, die ich vor zwei Jahren geschrieben habe … und dann mein neues Stück, 291
das neue Fahrenheit 451, ein völlig neues Schauspiel, das auf dem beruht, was meine Charaktere mir an der Schreibmaschine geben. Ich habe keine Kontrolle über sie. Sie leben ihre Leben wieder von neuem, 29 Jahre später, und sie sprechen gute Dia loge. Solange ich die Kanäle zwischen meinem Unterbewußt sein und meinem äußeren Selbst aufhalten kann, werde ich gute Sachen schreiben. Ich habe keine Ahnung, wie ich meine Gedichte schreibe. Sie kommen instinktiv, von den Jahren und Jahren und Jahren, da ich Shakespeare gelesen habe, und Pope – ich bewundere Pope sehr – und Dylan Thomas, oft weiß ich nicht, was zum Teufel er da meint, aber bei Gott, es klingt gut, Jesus Christus, das bringt etwas zum Schwingen. Das ist so klar wie Kristall. Und dann schaut man näher hin und sagt, es ist Kristall – aber ich habe keine Ahnung, wie er geschliffen ist! Aber es kümmert einen nicht. Für mich liegt das im Unterbewußtsein. Die Leute kommen und sagen, oh, Sie haben hier ein alexandrinisches Verspaar geschrieben. Ja, wirklich? Ich war so dumm, ich dachte, ein Alexandriner hätte etwas mit Alexander Pope zu tun! Aber wenn man jeden Tag im Leben Lyrik gelesen hat, dann greift man Rhythmen auf, dann greift man den Takt auf, dann greift man die inneren Rhythmen auf. Und dann macht einem sein Unterbewußtsein an irgendeinem Tag in seinem fünfund vierzigsten Jahr eine Überraschung. Man bringt endlich etwas anständiges zustande. Aber ich mußte dreißig, fünfunddreißig Jahre lang schreiben, bevor ich ein Gedicht schrieb, das mir auch gefiel!“ Man kann diesem Mann seine Energie und seinen Enthu siasmus nicht absprechen. Er drückt ihn auf so direkte und so ziellose Art aus, daß man ihn einfach mögen muß, ob man nun seine Ansichten und Meinungen mit ihm teilt oder nicht. Er gibt eine Mischung aus Unschuld und Aufrichtigkeit von sich; beim Sprechen sieht er einen direkt an, als wolle er einen packen und 292
veranlassen, seinen Enthusiasmus mit ihm zu teilen. Er ist ein sonnengebräunter, stattlicher Mann mit weißem Haar und oft weißer oder heller Kleidung; als ich ihm zum ersten Mal auf irgendeinem Science Fiction-Con begegnete, wirkte er fast kö niglich in seinem weißen Anzug, umgeben von einem Schwarm kaum erwachsener Fans in schlampigen T-Shirts und Jeans. Und doch schien er auf einer Wellenlänge mit ihnen; trotz sei nes erhabenen Äußeren schien er nicht auf seine jüngeren Be wunderer hinabzublicken, vielleicht, weil er selbst sich im Her zen immer noch so jung fühlt (und auch so aussieht). Auf ge wisse Art lebt er ständig in den Phantasien, die er schreibt, über die nostalgischen Momente der Kindheit. Er kann sich noch wundern wie ein Kind und betrachtet die Welt staunend mit einem naiven, idealistischen Geist. Er ist der Science Fiction oder ihrem hauptsächlichen Kernthema, der Weltraumfahrt, nicht müde geworden, hat seine Illusionen nicht verloren. „Es ist schon erstaunlich, wie die Kinder der Welt in den letzten zehn Jahren begannen, ihre Lehrer zu erziehen, indem sie sagten: ‚Hier haben Sie Science Fiction; lesen Sie das mal!’ Und die Lehrer haben die Science Fiction gelesen und gesagt, ‚He, das ist nicht schlecht’. und damit begonnen, SF zu lehren. Erst in den letzten sieben oder acht Jahren hat die Science Fic tion Anerkennung gefunden. Orwells 1984 erschien diesen Sommer vor dreißig Jahren. Keine Erwähnung der Raumfahrt darin, als eine Alternative zum Großen Bruder, als Möglichkeit, ihm zu entkommen. Das beweist, wie myopisch die Intellektuellen der dreißiger oder vierziger Jahre über die Zukunft dachten. Sie wollten etwas so Aufregendes und Seelenöffnendes und Enthüllendes wie die Raumfahrt einfach nicht sehen. Weil wir entkommen können, können wir entkommen, und ein Entkommen ist für den menschlichen Geist sehr wichtig, stärkt ihn. Wir entkamen Eu ropa vor 400 Jahren, und alles war zum Besten, und aus dem, 293
was wir aus dieser Flucht lernten, konnten wir zurückkehren und sagen, ‚He, jetzt werden wir euch erneuern, wir haben un sere Revolution gehabt, und vielleicht können wir uns jetzt zu sammen gegen gewisse Dinge auflehnen’. Ich will darauf hin aus, daß sich der intellektuelle Snobismus überall verbreitet hat, alle Romane eingeschlossen, außer in der Science Fiction. Erst seit den letzten zehn Jahren können wir zurückschauen und sa gen, ‚oh mein Gott, diese Leute haben uns die ganze Zeit am Haken gehabt, und es ist ein Wunder, daß wir überlebt haben’.“ „Aber“, so werfe ich ein, „die mythische Beschaffenheit der Raumfahrt ist doch jetzt, wo die NASA sie zu einer alltäglichen Realität gemacht hat, größtenteils verloren gegangen“. „Ich glaube, jede große Tat wird irgendwann einmal eine Menge Leute langweilen“, gibt er zurück, „und dann hängt es von uns ‚Romantikern’ ab, hm“ – (er macht deutlich, daß er die sen Begriff noch immer nicht schätzt) – „das Unternehmen fort zusetzen. Denn mein Enthusiasmus bleibt bestehen. Damals, als ich meine ersten Weltraumbilder auf den Covers von Science and Invention oder auch Wonder Stories sah, ich war gerade acht oder neun … dieses Zeug steckt immer noch in mir. Carl Sagan, ein Freund von mir, er ist ein ‚Romantiker’, er liebt Edgar Rice Burroughs … ich weiß es, er hat es mir gesagt. Und Bruce Mur ray, noch ein Freund von mir, der Präsident der Jet Propulsion Laboratories – zum ersten Mal, daß ich jemanden kenne, der ir gendwovon Präsident geworden ist! – und er ist ein Mensch, und darauf kommt es in erster Linie an, und in zweiter Linie ist er zu fällig der Präsident einer großen Firma, die unsere Raketen zum Jupiter und zum Mars schickt. Ich glaube nicht, daß die Raumfahrt entmystifiziert wurde. Ich glaube, eine Menge Leute waren von Anfang an nicht bezaubert davon, und das ist eine Schande.“ Ist Bradbury zufrieden mit dem Wachstum der Science Fic tion? Mag er die moderne kommerzielle Ausnutzung des Gen res – in Filmen wie etwa beispielsweise Krieg der Sterne? 294
„Krieg der Sterne – schwachsinnig aber wundervoll, ein prächtiger dummer Film. Wie wenn man in eine wirklich dumme Frau verliebt ist.“ Er lacht kurz, erheitert von dieser Metapher. „Aber man kann seine Hände nicht von ihr lassen, genau wie von Krieg der Sterne. Und dann kommt Geheimnisvolle Begeg nung der Dritten Art, und der Film hat Verstand, und so steigt man mit einem wundervollen Film ins Bett. Und dann kommt sowas wie Alien, ein Horrorfilm, der im Weltraum spielt, und er hat etwas ganz prächtiges an sich, etwas wirklich prächtiges. Wir akzeptieren also jede Hilfe, die wir bekommen können, aber der Traum bleibt der gleiche: Überleben im All, Eroberung des Alls, und wir nehmen die ganze Geschichte der menschli chen Rasse mit uns, unsere ganzen Dummheiten, all die dum men Dinge, die wir sind, die schwachsinnigen Geschöpfe, die zerbrechlichen, gebrochenen Geschöpfe. Ich versuche das zu akzeptieren, ich sage, na gut, in uns steckt auch das Erbe von Shakespeare, Plato, Euripides und Aristoteles, Macchiavelli und DaVinci, und einer Menge erstaunlicher Menschen, die alles gegeben haben, um uns zu helfen. Und das gibt mir inmitten all dieser Dummheit noch Hoffnung. Wir sollten auch versuchen – und das tun wir auch – zum Mond zu gelangen, zum Mars zu gelangen, nach Alpha Centauri zu gelangen, und das werden wir in den nächsten 500 Jahren schaffen, ein sehr kurzer Zeit raum; vielleicht auch schon früher, in 200 Jahren. Und dann auf ewig überleben, darauf kommt es an. Oh, mein Gott, wie gern würde ich alle 100 Jahre zurückkommen und uns beobachten. Und das ist das Wesen des Optimismus’ – zu glauben, daß wir es schaffen werden, und daß wir stolz sein können. Wir werden immer noch dumm sein und all die dummen Fehler ma chen, und zeitweise werden wir uns selbst hassen, aber die an dere Zeit werden wir feiern.“ Los Angeles, im Mai 1979 295
Bibliographische Anmerkungen Ray Bradburys bekanntestes Buch ist wahrscheinlich Die Marschroniken (1950, dt. 1972), eine umfassende Sammlung von Geschichten, die das Inventar der harten Science Fiction (Raketenschiffe, die Kolonisation des Planeten Mars durch den Menschen) benutzen, aber diese Ideen in einem phantasievollen Geist erforschen, der im Gegensatz zur rein vorhergesagten Realität steht. Bradburys Vision der „verlorenen Rasse“ der Marsianer war stark genug, um alle anderen zu überstrahlen und zur Tradition zu werden, der viele andere Science FictionAutoren mit ihren nachfolgenden Romanen gefolgt sind. Der illustrierte Mann (1951, dt. 1962) präsentiert Fantasyund Horror-Stories, die durch das etwas künstliche Hilfsmittel von in den Tätowierungen auf dem Körper eines Mannes, der anscheinend durch die verschiedenen Ereignisse gereist ist, ver körperten Schlüsselszenen miteinander verbunden sind. Fah renheit 451 (1953, dt. 1956) ist ein Roman, der eine Zukunft der Unterdrückung zeigt, in der alle Bücher verbrannt werden müssen und die Feuerwehrmänner die Brände legen, anstatt sie zu löschen. The October Country (1955) ist eine Sammlung von phantastischen und makabren Geschichten. Das Böse kommt auf leisen Sohlen (1962, dt. 1969) ist ein Roman, der eine fried liche, unschuldige Kleinstadt ausmalt, die von einem düsteren Jahrmarkt besucht wird, der das reine Böse mit sich bringt. Bradburys neueste Gedichte, von denen sich viele mit Science Fiction-Themen beschäftigt, erschienen in letzter Zeit in einer Vielzahl von Sammlungen.
296
Frank Herbert Der Wüstenplanet: Ich habe ihn nicht gelesen. Jetzt ist es heraus: Ich habe das Schreckliche gestanden. Und nun stehe ich da wie ein Bluffer, wie ein Schwindler. Ich habe Science Fiction geschrieben, ich bin ein hingebungsvoller Fan dieser Literaturgattung gewesen, ich habe Science Fiction an einem College gelehrt, ich habe für zwei New Yorker Verlage Science Fiction herausgegeben, ich habe ein Science FictionMagazin redigiert, ich habe Science Fiction rezensiert – und nun habe ich sogar Frank Herbert interviewt, ohne auszuspre chen, daß ich unverzeihlicherweise seinen bekanntesten Roman gar nicht kenne. Und das, obwohl es sich dabei garantiert um den bekanntesten Science Fiction-Roman handelt, den irgend ein Autor in den vergangenen fünfzehn Jahren veröffentlicht hat. Aber ich kenne andere Bücher, die aus Herberts Feder stam men, angefangen mit seinem Klassiker Atom-U-Boot S1881, als
297
ich noch ein Teenager war. Ich schätze sein Werk. Ich hatte das Magazin Analog abonniert, als sein Roman dort in Fortsetzun gen abgedruckt wurde – ich habe sogar versucht, ihn zu lesen. Später (und ebenso erfolglos) versuchte ich es noch einmal. Das war 1970, und einer meiner Freunde, der bei der UNO arbeitet, sagte mir, daß Der Wüstenplanet das meistdiskutierte Buch un ter allen Anthropologen sei, die er kenne. Ein paar Jahre später, als die College-Klasse, die ich über SF informierte, beschloß, das Buch in ihre Leseliste aufzunehmen, machte ich nochmal einen Versuch. Aber alle Anstrengungen, die ich unternahm, verliefen im Sande. Der Wüstenplanet hat mich – wie andere umfangreiche Epen, etwa Das geschenkte Leben und Dhalgren – stets ge schafft. Etwa eine Woche bevor ich mich aufmachte, Frank Herbert zu treffen, gab ich mir noch einmal einen Stoß. (Sie können sich sicher vorstellen, daß mich das Gewissen plagte.) Ich machte es mir bequem, bereitete mich mit allerlei Kissen hinter dem Rücken auf ein paar lange Lesestunden vor und legte das Buch auf die Knie. Ich glaube, irgendwo auf Seite sechs muß ich eingeschlafen sein. Also las ich am Tag darauf statt dessen Der JesusZwischenfall (Herberts neuesten Roman zu diesem Zeitpunkt – er ist in Zusammenarbeit mit Bill Ransom entstanden). Das ge fiel mir; die Sache machte Spaß. Der Roman war kürzer als Der Wüstenplanet und keinesfalls von dessen umfassendem Detail reichtum. Aber genug von meinen persönlichen Unzulänglichkeiten. Wenden wir uns denen dieses Interviews zu. Ich hatte geplant, Frank Herbert in seinem Refugium in Port Townsend, an der nördlichen Spitze des Staates Washington, aufzusuchen. Von Los Angeles aus wollte ich an der Küste entlang nach Norden fahren und unterwegs noch ein paar andere Autoren treffen. 298
Die Zeit, die ich an der Westküste verbrachte, fiel jedoch un vorhergesehen mit der Treibstoffkrise von 1979 zusammen. Ich hatte keine Möglichkeit, eine Rundreise zu machen, die 3000 Meilen lang war, und mehrere Flüge, zwischen denen ich mir in mehreren Städten einen Wagen mieten mußte, erlaubte mein Budget nicht. Mir blieb nichts anderes übrig, als meinen Plan aufzugeben. Die einzige Chance, Frank Herbert zu treffen, bestand darin, in Los Angeles auf ihn zu warten, wo er gegen Monatsende auf einer Nationalen Buchmesse erscheinen und vier Tage lang sei ne Bücher promoten wollte. Ich hatte zwar keine große Lust, inmitten einer dermaßen hektischen Atmosphäre wie einer Buchmesse ein Interview zu machen – aber eine andere Mög lichkeit existierte nicht. Herbert schlug vor, daß wir uns am Sonntag um 8.00 Uhr zum Frühstück in seinem Hotelzimmer treffen sollten. Was mich jedoch angeht, so scheint mir die richtige Frühstückszeit doch eher zwischen 10.30 und 11.30 Uhr zu liegen, weil man dabei halbangezogen herumsitzen, die Post lesen und telefoni sche Gespräche mit den Herausgebern führen kann, bevor sie ihre dreistündige Mittagspause antreten und ihre Büros verwai sen. Der Gedanke, um 8.00 Uhr in der Frühe schon wach und klar zu sein, um diesen Mann (dessen bekanntesten Roman ich noch immer nicht gelesen hatte) zu treffen, war ganz und gar nicht nach meinem Geschmack. Aber war ich in der Position, an seiner Entscheidung herumnörgeln zu können? Mr. Herbert ist schließlich ein vielbeschäftigter Mann mit vollen Terminka lendern. Frühstück um acht? Aber klar! Ich erinnere mich daran, zu irgendeiner ungewöhnlichen Stunde aus dem Bett gekrabbelt zu sein. Das Sonnenlicht kam aus einem ganz ungewöhnlichen Winkel. Auf den Straßen war alles leer. Ich fuhr zu irgendeiner alptraumhaft-futuristisch aus sehenden Hotelfestung, deren Türme direkt aus grauem Fels 299
herausgeschlagen schienen. Das Gebäude war mit diesen ent setzlichen Glaskabinen-Aufzügen ausgestattet, die an den Au ßenwänden hochfahren und in einem das Gefühl erzeugen, die Schwerkraft sei plötzlich abhanden gekommen und man fliege unkontrolliert am Himmel herum. Und das um acht Uhr mor gens. Mr. und Mrs. Herbert entpuppten sich als hellwach, geistig rege und ausgesprochen lustig und charmant, als ich ihnen in ihrem ulkig-futuristischen, keilförmigen Zimmer gegenüber stand. Ich stellte mein Mikrophon auf einem Frühstückswagen ab. Unser Gespräch hatte mehrere lange Pausen, in denen Mr. Herbert seine Kantalupe aß, seinen Tee trank und mehrere Scheiben Toast verzehrte. Dies in eine Beziehung zu einem Au tor zu bringen (dessen bekanntesten Roman ich noch immer nicht gelesen habe), verlangt allerdings intimere Kenntnisse seiner Gesinnung und Motivation. Aber genug der Entschuldigungen. Allen widrigen Umstän den zum Trotz halte ich das Interview für ausgesprochen gut – sogar unter dem Gesichtspunkt betrachtet, daß wir gar nicht so viel über Das Buch gesprochen haben. Frank Herbert hat einen Bart wie der Heilige Nikolaus und ein rundes, fröhlich wirkendes Gesicht. Als Ex-Zeitungsmann scheint er gerne Menschen kennenzulernen. Das heißt aber nicht, daß er ein Luftikus wäre – hinter seinem freundlichen Benehmen sind Mauern, die seine Privatsphäre durchaus ab schirmen. Er ist eine starke Persönlichkeit und hat großes Ver trauen in die traditionellen amerikanischen Ideale von Selbsthil fe und Unabhängigkeit. Außerdem hält er viel von der Freiheit eines ungestörten Daseins und leidet keinesfalls unter jenen Menschen, die er für Narren hält. „Ich bin ein Junge vom Land. Das ist sehr interessant; wenn man nämlich aufzudecken versucht, welche Bevölkerungsgrup pe am ehesten zur Selbsthilfe neigt, wird man feststellen, daß 300
dies mehr oder weniger bei Leuten der Fall ist, die in einer ländlichen Umgebung aufgewachsen sind. Wenn die Zeit vor der Tür steht, das Heu einzufahren, und das Ding, mit dem man die Heuballen macht, den Geist aufgibt und zu allem Übel auch noch Wochenende ist und der örtliche Reparaturbetrieb ge schlossen hat, sagt man nicht einfach ‚Na, dann wird’s in die sem Jahr eben kein Heu geben’, sondern man macht sich auf die Socken und repariert es. Man stellt nicht einmal die Frage, ob man es reparieren kann. Man kann es einfach. Mein Vater war ein meisterhafter Mechaniker; ich bin praktisch mit dem Schraubenzieher in der einen und der Flachzange in der anderen Hand groß geworden – na ja, Sie wissen schon. Die Schlosserei hat mich immer interessiert, und ich hatte keinen Zweifel, daß ich sie begreifen würde. Ich bin der Mei nung, daß die Selbstbeschränkung den meisten Leuten auf die ser Welt die hauptsächlichen Grenzen setzt. Die Leute können weitaus mehr, als sie glauben. Man hat ihnen eingeredet, ihre Begrenzungen einfach hinzunehmen – je nachdem, wie man sie in der Familie und anderswo erzogen hat. Wer untätig bleibt, ist viel leichter zu regieren; man will einfach nicht, daß zu viele Leute irgendwelche Sachen machen und neue Dinge produzie ren, weil diese sich für jene, die die Macht haben, manchmal als gefährlich erweisen. Ich habe einen Grundsatz, und der lautet: Alle Regierungen lügen. Glaubt ihnen nicht, was sie euch erzählen. Und die Kon zerne sind nur andere Formen von Regierungen. Ist man sich überhaupt der Tatsache bewußt, daß es mehr als zwanzig multi nationale Konzerne auf der Welt gibt, deren Budget größer ist, als der Staatshaushalt Frankreichs? Es sind nur verdammt we nig Leute, die das so sehen. Ich stehe auf der Seite von John Kenneth Galbraith: Ich glaube nicht, daß es so was wie einen freien Markt noch gibt. Ich glaube, er hat überhaupt nicht lange existiert. Die Vereinigten Staaten geraten bei jeder Energiever 301
knappung aus dem Häuschen; aber das wirkliche Problem liegt doch darin, daß wir uns in eine äußerst fühlbare Abhängigkeit begeben haben, für die es überhaupt keinen Grund gibt, wenn man an die Struktur unserer Gesellschaft oder die uns zur Ver fügung stehenden Ressourcen denkt. Ich mußte beispielsweise nicht mal sonderlich lange suchen, um zu entdecken, daß das Kuratorium für ausländischen Besitz während und nach dem Zweiten Weltkrieg vom I. G. Farben-Kartell Patente und andere Materialien beschlagnahmt hat, die Hydrogenisationsprozesse betreffen. Zusammen mit den gegenwärtigen Entwicklungen auf dem Gebiet der Lasertechnologie würde uns das die beiden entscheidenden Werkzeuge liefern, um zu einem vernünftigen Preis das Öl aus dem Tonschiefer von Montana und den ande ren umliegenden Gebieten zu holen. Wir könnten innerhalb von drei Jahren eine volle Produktion aufziehen und uns damit eine Quelle erschließen, die die Nation – selbst dann, wenn sie wie geschätzt zunimmt – schätzungsweise 400 Jahre lang versorgen könnte. Im besten Fall schätze ich, daß man uns, zögen wir ein solches Programm durch, aufgrund unserer Abhängigkeit (von den ausländischen Ölquellen) unter Druck setzt. Im Augenblick sind wir jedenfalls größtenteils von Öllieferungen abhängig, die von außerhalb unserer Grenzen kommen. In dem Augenblick allerdings, wo es uns gelänge, ein solches Programm durch einen Kongreß zu bringen, der Mitglieder aufweist, die dieses Kartell – diese monopolitische Gruppierung – gekauft hat, käme das zweite Stadium. Das würde sich dann auf den Barrikaden ab spielen, und dann wären wir tatsächlich vom Nachschub abge schnitten. Ich glaube, daß die Ölkonzerne die politischen Konsequen zen dieser Sache bereits korrekt durchgespielt haben. Ich befin de mich in der kuriosen Lage, einerseits weder an eine gemeinwirtschaftlich orientierte Industrie und andererseits ebensowe nig an die Wirtschaftsmanager zu glauben. Eine von Managern 302
gesteuerte Wirtschaft erfordert immer Kompromisse. Da wer den riesige Bürokratien aufgebaut, um die ganze Sache zu ver walten, und die begehen dann die unvermeidlichen Fehler. Nun pflegen Bürokratien aber ihre Fehlentscheidungen zu verschlei ern, weil damit die Karrieren von Menschen verbunden sind, deswegen sind sie auch die perfekten Institutionen für fortge setzte Fehlhandlungen. Da halte ich ein regulierbares kapitali stisches System für besser, da es an seiner eigenen Maßlosigkeit zerbricht. Macht es zu viele Fehler, fällt es auseinander; dann muß man die ganze Sache wieder auf Vordermann bringen. So sehe ich – etwas vereinfacht ausgedrückt – die Sache. Was sich nur die wenigsten Leute klarmachen, ist, daß Kar telle entstehen können, ohne daß es dazu irgendwelcher Ge heimkonferenzen in Amsterdam, Genf oder sonstwo bedarf. Kartelle brauchen nichts anderes, als die Erkenntnis, daß man gemeinsame Probleme gemeinsam löst. Auf diese Weise ist auch das Ölkartell entstanden, das sich – wie überall, wo es um Räuberei geht – nur wenig um die Menschen kümmert, die es ausplündert. Die Frage, bis zu welchem Grad sich die Bonzo kratien in Öl- und Automobilindustrie überschneiden, gehört ebenfalls zu den am meisten übersehenen Elementen des gan zen Problems. Ich hatte mehrmals die Gelegenheit, mich mit einigen Leuten aus der Motorbranche zu streiten, die behaupten, daß die Öffentlichkeit nach benzinfressenden Maschinen ver langt. Und dabei gibt die Industrie Millionen von Dollar für eine Werbung aus, die die Öffentlichkeit davon überzeugen soll, wie sexy es ist, einen Benzinfresser zu fahren, und daß sie unbe dingt solche Schlitten haben muß, wenn sie nicht als unsportlich gelten will. Welch eine Heuchelei! Man kann diese Leute tat sächlich am besten mit Raubtieren vergleichen. Die Industrie hat sich selbst zwar nie in diesem Licht betrachtet, aber das sollte sie. Wenn in einem natürlichen System – oder besser ge 303
sagt, in der Wildnis, denn die Formulierung ‚natürliches Sy stem’ könnte uns auf eine falsche Fährte locken –, wenn in der Wildnis die Bevölkerung abnimmt, von der sich die Raubtiere ernähren, wird auch die Anzahl der Raubtiere kleiner. Oder sie fangen an, sich gegenseitig aufzufressen! Ich bin überzeugt da von, daß diese Analogie absolut paßt. Es passiert jetzt schon: Kleinere Unternehmen werden von den großen einfach ge schluckt.“ Das ist harter Diskussionsstoff für eine dermaßen frühe Mor genstunde. Aber von einer Diskussion kann man schwerlich sprechen, denn das, was Herbert von sich gibt, ist eher eine Vorlesung. Und wenn ich mir überlege, wie er sich ausdrückt, kann ich nur zu dem Schluß gelangen, daß er dies schon viele Male gesagt hat. Er wirkt rechtschaffen und überzeugend in seinem Vortrag über das einsame Individuum im Kampf gegen das Big Business, und weist immer wieder auf Dinge hin, „über die sich nur wenige Leute im klaren sind“. Aber sein Monolog hat mehr Autorität als viele ähnliche Ge schichten, die ich von anderen gehört habe, denn Herbert hat in den Bereichen, über die er spricht, Erfahrungen aus erster Hand gesammelt. Die Zeit, die er als Journalist verbracht hat, haben ihn mit den unterschiedlichen Aspekten der Politik zusammen gebracht, und sein sicherer Glaube, die Heuballenmaschine so zusagen eigenhändig reparieren zu können, hat ihn dazu über gehen lassen, interessante Anstrengungen zu unternehmen, die Energiekrise durch eigene Forschungsarbeit anzugehen. „Ich arbeitete mit John Ottenheimer, dem letzten Schüler Frank Lloyd Wrights, zusammen. John und ich haben uns die Literatur angesehen, die es zu diesem Thema gibt und sind zu der Erkenntnis gelangt, daß es eine richtige Windmaschine noch nie gegeben hat. Zwar ist man stets auf eine korrekt er scheinende Weise an die Sache herangegangen, aber man hat in den letzten 1500 Jahren viel mehr über Aerodynamik herausge 304
funden, als den Leuten zugänglich war, die das gegenwärtige Windmaschinenmodell bauten. In der Frage, wie man den Wind in die Maschine hineinkriegt und daraus Energie gewinnt, konnten wir einen Durchbruch erzie len, den wir uns haben patentieren lassen. Es ging dabei um das physikalische Problem, das man hat, wenn man den Versuch un ternimmt, einem rotierenden Objekt Energie zu entziehen, wenn der Wind, der das Objekt passiert und die internen Turbulenzen einem hintenherum die Pläne wieder durchkreuzen. Wir haben ein mechanisches System, das dieses Problem beantwortet. Wir haben ein paar ziemlich große Modelle gebaut. Dazu nahmen wir uns einen wracken Lieferwagen – die Karre hatte zwar einen schweren Unfall hinter sich, aber ihre mechanischen Teile befanden sich noch in ausgezeichnetem Zustand. Wir ha ben das Modell auf dem Wagen installiert, denn unsere Nach forschungen hatten ergeben, daß ein Windtunnel einem keine akkuraten Informationen über Windmaschinen gibt.“ Daraufhin entschlossen Herbert und sein Partner sich zu dem Schritt, die Maschine in freier Natur durch den Wind zu bewegen, um ihr System zu testen, da sie andererseits unter schwer kontrollierba ren Bedingungen Wind durch sie hätten blasen müssen. „Wir bauten sie also auf den Wagen und baten die örtliche Polizei, mit ihrem Radarwagen unseren Tachometer zu eichen, damit wir wußten, wann wir fünfzig Meilen in der Stunde draufhatten. Dann fuhren wir hin und her, um ein paar Durchschnittswerte der uns umgebenden Luftströmungen zu bekommen. Wir bau ten uns einen mechanischen Dynomometer und kauften einen Digitalstab, damit wir ersehen konnten, wie schnell wir waren und wie viele Pfund wir pro Zoll dadurch erreichten.“ Herbert meint, daß die Leute sich durch einen solchen Jargon nicht abschrecken lassen sollten und macht die von der Mathe matik keine Ahnung habende Lehrerschaft und deren Ausbil dungsmethoden dafür verantwortlich, daß die Öffentlichkeit 305
weghört, wenn Technologien zur Sprache kommen. Wie er sagt, hat er selbst auch keine große Ahnung von den Wissen schaften. „Ich war Zeitungsreporter, Fotograf, Redakteur, und seit meinem siebzehnten Lebensjahr Mädchen für alles. Neben bei habe ich mir dann etwas technisches Wissen angeeignet. Sie werden es kaum glauben, was man bei der Zeitung alles so am Rande mitbekommt. Man muß nur einfach an die Türen klopfen. Wenn man etwas anzubieten hat, das die Leute gebrauchen können, werden Sie überrascht sein, wie viele große Namen sich darüber freuen, daß Sie auf der Schwelle stehen und sich für ihre Arbeit interes sieren. Einige der Leute, für die ich gearbeitet habe … wenn Sie deren Namen wüßten, wären Sie gewiß sehr überrascht.“ Er sagt dies mit einigem Stolz und großer Befriedigung. „Ich habe folgende Methode angewandt: Ich habe den Leu ten gesagt, ‚Sie wissen etwas, das ich auch wissen möchte. Ich habe folgende Talente: Ich kann gut schreiben und organisieren. Wenn Sie also irgendwelche Veröffentlichungen getippt oder Research-Arbeiten erledigt haben wollen, bin ich Ihr Mann. Und als Gegenleistung möchte ich gerne, daß Sie …’ Es gibt niemanden, der einen unter diesen Bedingungen ablehnt. Man fragt die Leute dann einfach aus, und sie führen einen in jede noch so esoterische Materie ein.“ All dies hat seine Urziele allerdings nur am Rande berührt: „Schon als Kind in der Grundschule war mir klar, daß ich – Gänsefüßchen unten – Schriftsteller – Gänsefüßchen oben – werden wollte. Einen anderen Beruf konnte ich mir nicht vor stellen. Ich habe gar nichts anderes in Betracht gezogen, son dern sofort einen Entschluß gefaßt. Mir war klar, daß man mit Kurzgeschichten am ehesten in den Markt einbrechen konnte, und das war richtig. Zunächst habe ich mir mit den Kurzge schichten einen Namen erschrieben, dann bin ich zu Romanen übergewechselt, weil die lukrativer sind und man auch mehr 306
darin bringen kann. Aber während ich schrieb, hatten wir auch Kinder großzuziehen. Hauptsächlich lebten wir von dem Geld, daß meine Frau Bev verdiente. Ich blieb zu Hause, kümmerte mich um die Kinder, kochte, wusch und schrieb, weil zu Hause die Schreibmaschine stand. Bev arbeitete in einem Büro und sorgte dafür, daß etwas zu essen auf den Tisch kam. Ich finde es interessant, daß die Gesellschaft mehr und mehr dazu übergeht, solche Dinge zu akzeptieren – auch wenn es noch Widerstand dagegen gibt und die Männer glauben, über der Hausarbeit zu stehen. Aber ihre Ansichten stammen noch aus sehr primitiven Zeiten, als die Lebensbedingungen ganz andere waren. Momen tan leben wir in einer Zeit des Umbruchs, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Das Militär, das wir bisher gekannt haben – als Staat im Staate –, ist tot; es ist ihm nur noch nicht aufgefallen. Heute kann sogar ein Einzelner die gleiche zerstörerische Macht aus üben, wie alle militärischen Streitkräfte der Welt. Und es gibt keinen Weg, dies wieder zu stoppen. Die Computer machen dabei nichts anderes, als die Sache noch zu beschleunigen; in den Vereinigten Staaten stehen wir einer regelrechten Compu ter-Invasion gegenüber. Man kann heute schon für 6000 Dollar einen Computer kaufen, der mehr leistet als jener, für den man 1962 mehr als 200 000 Dollar hätte hinblättern müssen. Und der ist so klein, daß man ihn bei sich tragen kann, wie eine Rei seschreibmaschine. Die meisten Menschen halten Computer lediglich für Rechenmaschinen, aber die Leute, die ihnen einge redet haben, dies zu glauben, verfolgen Ziele, die ganz klar im Erhalt ihres Monopols liegen. Und ihr Monopol haben sie sich damit erworben, indem sie den Eindruck erweckten, es sei un geheuer schwer, einen Computer zu bedienen und es gebe auch keinen Weg, dies zu ändern. Das stimmt gar nicht! Schon jetzt haben die Computer-Freaks sie eines Besseren belehrt. Bev und ich entwickeln zu Hause gerade ein Bedienungssy stem, das ganz auf uns zugeschnitten ist. Es kann gut möglich 307
sein, daß daraus einst der stärkste Wortprozessor wird, den es gibt, denn durch das Mischen mehrerer Chips werde ich dann in der Lage sein, eine Reihe von Dingen sehr schnell zu erledigen. Dann kann ich in Nullkommanichts jede Textstelle erreichen, ohne eine Minute oder auch nur dreißig Sekunden herumzusit zen und warten zu müssen, bis die Maschinerie sie gefunden hat. Dann geht die Sache im Ruckzuck-Verfahren. Man wird das Gerät dann wohl nur noch zur Textproduktion einsetzen können, aber die Zeitersparnis wird beträchtlich sein, und au ßerdem kann es noch unsere Haushaltsbücher führen. Ich habe da einen Elektronik-Ingenieur an der Hand, einen brillanten Mann. Ich habe ihm gesagt, welche Arbeiten der Computer er ledigen soll, und die wird er dann auch tun. Der Mann baut ihn für mich um – er macht mir sogar ein neues Gehäuse.“ Wieder einmal, so scheint es, hat eine aus dem persönlichen Bereich heraus gestellte Frage am Frühstückstisch einen Ge dankensprung bewirkt, der in eine Diskussion über politische und soziologische Makrosysteme übergeht und dann in die jargonerfüllte Sprache der Technologie mündet. Es ist so, als hielte sich Herbert am liebsten in dieser Gesprächszone auf. Da ich selber an Computern interessiert bin, dringen wir tiefer in die technischen Details des Geräts ein, das er gerade seinen Be dürfnissen anpassen läßt. Aber mir wird klar, daß nicht jeder unbedingt erfahren will, worum es dabei im einzelnen geht – deswegen kann ich der Tatsache nicht länger ausweichen, daß es wohl zweckmäßiger ist, das Phänomen anzusprechen, das es Herbert überhaupt erst ermöglicht hat, sich derart exotischer Technologien zu bedienen. Ich rede natürlich von seinem Buch Der Wüstenplanet. Zur Zeit dieses Interviews schreibt er gerade an dem Drehbuch für den gleichnamigen Film. Hat er sich am Anfang überhaupt träumen lassen, daß der Roman dermaßen erfolgreich und ihm aufgrund der unterschiedlichsten Ausgaben und Fortsetzungen so viel Geld einbringen würde? 308
„Ich habe nie darüber nachgedacht. Ich habe es einfach nie in meine Berechnungen miteinbezogen. Wissen Sie, das Buch wurde von allen wichtigen Großverlagen abgelehnt. Wir haben einen riesigen Schwung von Ablehnungsbescheiden. Wenn man die Telefonanrufe noch mit hinzuzählt, die mein Agent geführt hat und mit der Antwort endeten, es habe nicht einmal Sinn, ihnen das Manuskript vorzulegen, haben zweiundzwanzig Ver lage die Geschichte nicht haben wollen. Schriftlich wurde das Buch insgesamt elfmal abgelehnt.“ Ich frage ihn, ob ihm das etwas über die Verlagsindustrie sagt. Die Antwort, die ich daraufhin bekomme, ist mehr oder weniger die, die ich von einem Menschen, der großen Organisa tionen mißtraut, erwarte: „Es war ein entsetzlicher Schock für mich, in New York City zu sein. Ich bin immer ein naiver Junge aus dem Westen gewe sen, der glaubte, in dieser Stadt müsse Gott leben.“ Er lacht. „Nun, sagen wir besser, ich hielt einiges von dieser Stadt. Ich kam pünktlich hier an, hatte eine Aktentasche an der Hand, ei nen großen, breitkrempigen Hut auf und starrte die Wolken kratzer an. Und dann bat man mich, bei einer Redaktionskonfe renz dabei zu sein, wo man über den Werbeetat meines Buches sprechen wollte. Ich werde Ihnen nicht sagen, bei welchem Verlag das war; es ist ja auch schon lange her. Aber es war nicht Berkley (sein jetziger Verlag). Die Konferenz lief noch keine zehn Minuten, da wurde mir klar, daß ich mehr über den Markt und das, was dort vor sich ging wußte, als all diese Ex perten, die am Konferenztisch saßen. Ich wußte auch mehr dar über, wie man an diesen Markt heranging. Ich kam mir vor wie ein Betrogener, als hätte ich etwas ver loren, denn ich fühlte mich plötzlich ganz allein. Da saß ich nun und dachte, diese Leute müßten eigentlich wissen, was sie tun – aber sie haben keine Ahnung!“ Er lacht wieder. Sein Gelächter wird zu einem belustigten Kichern und bricht schließlich ab. 309
„Also gingen wir unsere eigenen Wege. Ich zog mich still aus dieser ganzen Sache zurück und fing an, Vorträge zu halten, wo man wirklich Rede und Antwort stehen muß, besonders an den Colleges und Universitäten. Mein lieber Mann, dort entlarvt man die Bluffer auf der Stelle! Ich machte also meine eigene Sache und wünschte New York zum Teufel. Sie hatten keine Ahnung. Ihre hochnäsigen Signierreisen, die man absolvieren mußte, um die Kritiker kennenzulernen … Es gibt, glaube ich, mich selbst eingeschlossen, überhaupt keinen Kritiker, dessen Geschmack das absolute sine qua non ist. In Wirklichkeit haben sie gar keine Macht über den Markt. Der Markt läuft auch ohne sie, und das kann man am Beispiel des Romans Der Wüsten planet am besten beweisen. Wissen Sie, daß die Kritik das Buch ausnahmslos in die Pfanne gehauen hat?“ Ich muß zugeben, daß mir das unbekannt ist. „Es hat keinem gefallen“, sagt Herbert. „Aber irgendwann später hat Arthur Clarke uns eine Rezen sion aus Indien geschickt“, erinnert ihn seine Frau. „Und die war positiv.“ Herbert nickt … Bev hat recht. Sicher hat es in Ohio auch ir gendein Provinzblättchen gegeben, dessen Literaturkritiker noch jung war und möglicherweise, weil er noch auf das örtliche Gymnasium ging, Gefallen an dem Buch fand.“ Hat Herbert wenigstens von seinen Lesern eine befriedigende Reaktion erhalten? „Das Feedback war wirklich sehr erfreulich. Da man mir al lerlei Fragen stellt, war ich dazu in der Lage, die Aufmerksam keit direkt auf das zu lenken, was ich tue, damit man mich nicht mißversteht. Man fragt mich beispielsweise ‚Wollten Sie einen neuen Kult begründen?’ Darauf kann ich nur antworten, um Gotteswillen, nein! Genau das Gegenteil – werden Sie bloß nicht zu Jüngern! Leute, die Kulte ins Leben rufen, haben im besten Falle keinen Blick für die Realität. Sie führen 900 Men 310
schen in den Selbstmord; sie bringen ihre Anhänger auch in eine Arena, damit sie von den Löwen gefressen werden. Welch ein Wahnsinn, wirklich. Meine Parole lautet: G.B.M.V.F. – Gott bewahre mich vor Fanatikern. Die Botschaft, die ich in meiner Trilogie verbreite, hat fol genden Wortlaut: Mißtraut den Helden. Es ist viel besser, wenn man seinem eigenen Urteil traut und seine Fehler selbst macht.“ Ein gutes Schlußwort. Das Frühstück ist beendet, aber ich bin sicher, daß Mr. Herbert mindestens noch eine weitere Stunde über die Aspekte von Politik, Geschäft und Technologie hätte reden können. Aber leider muß er jetzt auf die Buchmesse, um seine Bücher zu signieren und die kommerziell ausgerichtete Medienmaschinerie zu ölen. Zumindest als Schriftsteller hat er bewiesen, daß das Einzel individuum bessere Urteile fällen kann als jene Leute, die man für Experten hält. Ob seine Fähigkeiten sich auch auf andere Gebiete erstrecken – etwa auf die Entwicklung alternativer Energiegewinnung –, muß erst noch überzeugend demonstriert werden. Bis dahin jedoch wird ihm das Gefühl seines großen Erfolges – den er ohne die Mitwirkung des ungenannt gebliebe nen New Yorker Verlages und der unzufriedenen Kritiker er rungen hat – große Befriedigung verschaffen. Los Angeles, im Mai 1979
311
Bibliographische Anmerkungen Frank Herberts erster Roman, Atom-U-Boot S 1881, wurde 1956 (dt. 1967) publiziert. Es ist ein psychologischer Thriller, der in der beengten Welt eines technisch hochentwickelten Un terseeboots spielt. Sein Stil ist knapp und ökonomisch. Dune World erschien zwischen 1963 und 1964 in Fortsetzungen in Analog und bildete später zusammen mit The Prophet of Dune den Roman Der Wüstenplanet (1965; erste vollständig dt. Aus gabe 1978). Dieser Roman wurde in der Kategorie „bester Ro man“ sowohl mit dem Hugo- als auch mit dem Nebula-Award ausgezeichnet. Dabei handelt es sich um eine detaillierte Studie in Sachen Religion, Ökologie, interstellarer Politik und Kriegs führung. Demgemäß ist die außergewöhnliche Länge. Fortset zungen dieses Romans sind Der Herr des Wüstenplaneten (1969; erste vollständige dt. Ausgabe 1978) und Die Kinder des Wüstenplaneten (1976; dt. 1978). Damit ist das Ende des Zyklus aber noch nicht erreicht. Es gibt einige Leser (offenbar aber nur eine Minorität), die Her berts andere Arbeiten bevorzugen, und zwar besonders die Er zählungen in dem Band The Best of Frank Herbert (1975) und Romane wie Das Dosadi-Experiment (1977; dt. 1980), in dem es Herbert gelang, die verschiedensten Versatzstücke der Science Fiction miteinander zu verquicken. Neben einem komplexen Haupthandlungsstrang geht es in diesem Buch unter anderem um diverse außerirdische Lebensformen und deren (im Detail beschriebene) Lebensprozesse, die Auswirkungen eines auf grund von Überbevölkerungsproblemen vorgenommenen Expe riments und Bewußtseinsübertragungen der Hauptcharaktere.
312
Kate Wilhelm und Damon Knight Kate Wilhelm ist die einzige Science Fiction-Autorin, die in die sem Buch vorgestellt wird. Ein paar Leute haben sich deswegen bereits bei mir beschwert. Man fragt mich, warum ich nur eine Frau interviewt habe. Ist Charles Platt etwa ein heimlicher Sexist? Ich glaube nicht, daß ich das bin. Während der verschiedenen Redaktionsjobs, die ich im Laufe der Zeit innegehabt habe, ist es mir gelungen, eine ganze Reihe von Büchern zu publizieren, deren Verfasser Frauen sind – darunter sogar einen Erstlings roman und mehrere Erstlingsgeschichten. Lediglich als „Porträ tist“ bin ich auf Schwierigkeiten gestoßen. Das Problem liegt einfach darin, daß die bekanntesten Auto ren (also gerade jene, die man in einem Buch dieser Art gerne vorstellen möchte) beinahe ausnahmslos Männer sind. Sogar unter den jüngeren, weniger prominenten SF-Schreibern sind die Männer stärker vertreten als Frauen. Außerdem tendieren die Frauen mehr zur Fantasy als zur Science Fiction. Und wie ich eingangs schon sagte, beschäftigt sich dieses Buch mit Science Fiction- und nicht mit Fantasy-Autoren. 313
Ich hatte gehofft, ein paar Autorinnen mehr aufnehmen zu können – aber nicht, weil mich das Gewissen dazu gezwungen hätte oder ich einem gewissen Proporz folgen mußte, sondern einfach weil ich ihre Werke schätze. Ich hätte beispielsweise sehr gerne Ursula LeGuin interviewt – aber sie hatte persönli che Gründe, meine Bitte abzulehnen. Der Gedanke, eine Frau nur deswegen zu interviewen, weil sie eine Frau ist, behagte mir überhaupt nicht, denn diese Art von Logik scheint mir doch sehr fragwürdig zu sein und dem Sexismus und Rassismus, den es zu vermeiden gilt, recht nahe zu kommen. Wenn man jemanden auswählt, seine Erzählungen studiert und ihn dann nicht aufgrund der Qualität seiner Texte oder der Größe seines Namens interviewt, sondern weil die fragliche Person weiblichen Geschlechts ist … Wäre ich so vorgegangen, hätte dies nicht nur die Interviewten beleidigt; es wäre auch eine ausgesprochen dumme Art gewesen, dieses Buch zu konzipieren. Im folgenden Interview tauchen Kate Wilhelm und Damon Knight (die miteinander verheiratet sind) gemeinsam auf. Sie (nicht ich) entschieden sich, so vorzugehen, was teilweise auf ein paar haarsträubende Umstände zurückzuführen ist. Die 1979 ausgebrochene Benzinknappheit hielt mich nämlich davon ab, nach Oregon zu fahren und die beiden persönlich aufzusuchen, und da sowohl die Knights als auch ich oft auf Reisen sind, sah es sehr unwahrscheinlich aus, daß wir uns irgendwo anders be gegnen würden. Hätte ich meine Fragen mit der Post geschickt, wäre das ein Widerspruch im Gesamtkonzept dieses Buches geworden. Schließlich hatte Damon Knight eine grandiose Idee: Ich sollte ihm meine Fragen auflisten, dann würden Kate Wil helm und er sich gegenseitig interviewen und mir das Band an schließend zuschicken. So wurde also gewissermaßen dieser Abschnitt des Buches von anderen gefertigt. Ich habe lediglich die Fragen gestellt und 314
das Manuskript bearbeitet – was mir aber auch nicht wenig Spaß machte, denn fünfzehn Jahre zuvor hat Knight ein Manu skript lektoriert, das von mir stammte: Er war es, der (als er für den Verlag Berkley tätig war) meinen eher schwachen Erstling kaufte und lesbar machte. Aber natürlich hat er sich schon weitaus früher in den Gefilden der Science Fiction herumgetrieben: Seit den dreißiger Jahren, die er mit Frederik Pohl, Donald Wollheim, Cyril Kornbluth und anderen Mitgliedern der New Yorker „Futurians“ (wie sie sich damals nannten) verbrachte, schreibt er und gibt Bücher heraus. Damon Knight hat einen großen Einfluß auf das Science Fiction-Genre ausgeübt: Er ist der Stammvater des Schriftstel lerverbandes Science Fiction Writers of America, der mit dem Ziel gegründet wurde, die SF professionell respektabler zu ma chen und höhere literarische Maßstäbe zu setzen; er hat Auto renkonferenzen initiiert, bei denen sich bekannte Schriftsteller für eine Woche zusammenfanden und einander kritisierten und analysierten. Sitzungen dieser Art haben nicht nur das Denken der Beteiligten beeinflußt, sondern auch zur Evolution des Gen res beigetragen. Des weiteren schuf Damon Knight mit den von ihm herausgegebenen Orbit-Anthologien eine Publikationsmög lichkeit für neuere Autoren, neuere Schreibtechniken und expe rimentelle Prosa. Er ist auch seit langer Zeit in den ClarionWorkshops tätig, die Interessierte zu SF-Autoren ausbilden. Kate Wilhelm ist gleichermaßen an der kritischen, analyti schen und weiterbildungsmäßigen Seite der Science Fiction beteiligt gewesen. Obwohl sie erst viel später mit dem Schrei ben angefangen hat als ihr Mann, hat seine Reputation die ihre nie im geringsten überschattet. Die Arbeiten von Kate Wilhelm sind einmalige und unnachahmliche Beispiele einer Bewußt werdung, und in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren hat sie ungleich mehr publiziert als ihr Mann. Heute gilt sie als eine der besten Autorinnen, deren Texte zu den Randgebieten der SF 315
zählen. Was immer sie auch schreibt: Nahezu überall spürt man ihre Menschlichkeit und ihr soziales Bewußtsein. Als engagiertes Paar sind Knight und Wilhelm an allen Aspekten des Produktionsprozesses, der eine gute Prosa her vorbringt, interessiert. Sind sie zufrieden mit dem, was sie er reicht haben? Wie sahen ihre ursprünglichen Ziele in der Science Fiction aus? Knight: „Als ich mit der Schreiberei anfing, wollte ich nur irgendwo publiziert werden. Ich hatte das Gefühl, vor einer vier Meter hohen Mauer zu stehen, die ich überwinden mußte. Dann wollte ich, daß mehr von meinen Sachen gedruckt wurden; ich wollte mehr Geld dafür kassieren und mir einen Namen ma chen. Ein paar Jahre später hatte ich dann andere Ziele. Ich schrieb damals für Horace Gold (der das Magazin Galaxy he rausgab) und hatte intuitiv erfaßt, welches Material er von mir wollte. Ich schrieb ihm die Sachen, weil sie mir damals Spaß machten, aber ich glaube nicht, daß ich das Gefühl hatte, für irgendwelche Märkte zu arbeiten. Ich schrieb einfach für Horace Gold. Als ich dann zu Sachen überwechselte, die schwieriger waren, mir aber interessanter erschienen, verlor ich ihn. Komi scherweise ärgerte mich das, obwohl ich derjenige gewesen war, der ihm plötzlich andere Sachen lieferte.“ Wilhelm: „Erwartest du von einem Herausgeber, daß er das, was du tust, toleriert, und alles was du machst, hinnimmt?“ Knight: „Ja. Als ich selbst Herausgeber wurde, war es mein Ideal, jemand zu sein, der einen guten Stoff nicht deshalb ab lehnte, weil er von einem Autor kam, von dem man etwas ande res erwartet hätte. Aber dann mußte ich feststellen, daß ich auch nicht anders reagierte. Denn wenn man so verfährt, kann man die Linie eines Magazins nicht einhalten.“ Wilhelm: „Ich glaube, ein anderes Problem ist, daß wir alle mit einer Hand an die kommerzielle Seite der Verlagsbranche gefesselt sind, und die Verleger erwarten, daß ein gewisser Teil 316
ihrer Investitionen wieder hereinkommt. Andererseits hängen wir der Idee nach, daß die Kunst – einschließlich der Schrift stellerei – frei ist. Mit diesem Widerspruch haben wir uns unun terbrochen auseinanderzusetzen. Wir müssen immer einen Kompromiß finden.“ Knight: „Wir sind dermaßen daran gewöhnt, daß es nur schwer möglich ist, die Sache objektiv zu betrachten. Im ver gangenen Jahr haben wir in Bogota und Medellin einen Work shop für kolumbianische Autoren abgehalten, den die amerika nische Botschaft finanziert hat. Die Schriftsteller, denen wir in Kolumbien begegneten, wußten mit dem, was wir über dieses Problem sagten, überhaupt nichts anzufangen. Die Verlagsindu strie in Südamerika besteht hauptsächlich aus regierungseige nen Unternehmen; da erwartet man, daß man subventioniert wird und braucht sich um kommerzielle Erfolge nicht im ge ringsten den Kopf zu zerbrechen. Möglicherweise ist dies ein besseres System, aber ich kann mir nicht vorstellen, unter sol chen Bedingungen zu arbeiten. Ich glaube, daß man dann auf ein gewisses Feedback verzichten muß … Das Wort gefällt mir zwar nicht, aber man würde es in der Weise verlieren, indem man nicht mehr erfährt, ob man nur noch einen elitären, ge schliffenen Unsinn zu Papier bringt, der zufälligerweise irgend einem Menschen in diesem regierungseigenen Verlagshaus ge fällt. Was mir ein kommerziell eingestellter Herausgeber sagt, würde mich viel nachdenklicher machen.“ Und weiter: „Als ich in den fünfziger Jahren den Versuch machte, Romane zu schreiben, war ich ziemlich entmutigt, als sich herausstellte, daß ich zu langsam war, um davon leben zu können. Man zahlte einfach zu wenig dafür. Weißt du, 2000 Dollar für einen Roman reichten einfach nicht. Man kam nicht mal damals damit über die Runden. Ich war ziemlich verstört und verärgert über diese Entdeckung und dachte, daß man solch tolle Romanciers wie mich wirklich besser entlohnen sollte.“ 317
Wilhelm: „Was hältst du von Stipendien für Schriftsteller?“ Knight: „Ich wäre überglücklich gewesen, wenn ich eins be kommen hätte. Hätte mir jemand 5000 Dollar gegeben und ge sagt ‚Schreib einen Roman’, wäre ich ohnmächtig umgefallen. Aber es hat auch Zeiten gegeben – und zwar vorher –, in denen mir ein solches Stipendium nicht den geringsten Dienst erwie sen hätte. Wäre da jemand aufgetaucht, hätte mir 5000 Dollar zugesteckt und gesagt, ‚Schreib einen Roman’, wäre ich zwar den Versuch eingegangen, hätte aber die Sache entweder nicht zu Ende gebracht oder irgendeinen unlesbaren Schund abgelie fert. Im vergangenen Jahr gehörte ich einem Komitee an, das für eine Künstlerstiftung in Oregon Stipendien vergab. Dabei entwickelten sich in mir ziemlich zwiespältige Gefühle. Einer seits wollte ich, daß irgend jemand, der das Geld gebrauchen konnte, auch dazu kam, aber andererseits fragte ich mich, ob ich die ganze Angelegenheit überhaupt gutheißen konnte.“ Wilhelm: „Ich weiß auch nicht, ob ich es gutheißen würde. Ich weiß allerdings, wie schwer man es als Schriftsteller ohne anderweitiges Einkommen hat. Man steht unter dem ständigen Druck, etwas produzieren zu müssen, das sich auch verkauft. Man will einerseits die Schreiberei nicht aufgeben und sich ei nen festen Job suchen, muß aber andererseits von etwas leben. Das setzt die Leute unter einen ständigen Druck. Und dazu kommt dann noch der Druck, dem man in der realen Welt aus gesetzt ist, wenn man seiner Rolle als Hausfrau, Mutter, Auto rin, Chauffeur oder Kindermädchen gerecht werden will. Auch damit ist nur schwer fertigzuwerden. Für eine Frau ist es un gleich schwieriger, als Schriftstellerin zu arbeiten, wenn sie verheiratet ist und Familie hat. Ein Mann, der in seinem Büro verschwinden kann, hat es da leichter, denn die Kinder sind darauf abgerichtet, ihn dort nicht zu stören. Wenn kleine Kinder sich aber in den Finger schneiden oder ihre Nase läuft, gehen sie zur Mutter.“ 318
Knight: „Ich möchte was zu dem Druck sagen, unter dem die Männer zu leiden haben. Ich glaube, daß er in den Reihen jener Autoren, die verheiratet sind, Kinder haben und vom Schreiben zu leben versuchen, kaum weniger stark spürbar ist. Wer näm lich nicht das Gefühl hat, die Kohle einzubringen, muß sich ständig mit dem Gedanken auseinandersetzen, die ganze Sache aufzustecken und etwas anderes zu tun, um Geld zu verdienen.“ Wilhelm: „Oh, sicher. Ich könnte mir vorstellen, daß es sogar noch schlimmer ist, wenn man unter einem solchen psychologi schen Druck steht. Ich könnte mit den physischen Auswirkun gen – wenn die Kinder an die Tür klopfen – jedenfalls eher fer tig werden als mit den psychologischen, die dann auf den Ge danken hinauslaufen ‚lch bin ein Versager, weil meine Familie dieses und jenes nicht hat.’“ Knight: „Ich bin ein bißchen neidisch auf die heutigen SFAutoren. Es sieht so aus, als sei es heutzutage viel einfacher als früher, von Science Fiction leben zu können. Manche Leute kriegen heute einen Vorschuß von 15 000 Dollar für ihren er sten Roman. Davon kann man schon leben. Selbst wenn man pro Jahr nur ein Buch schreibt, kommt man damit ganz gut hin. In den fünfziger Jahren bekam man ganze 2000 Dollar – und davon konnte man nicht leben.“ Wilhelm: „Ich habe für meinen Erstling nur 1000 bekom men.“ Knight: „Na ja, es gibt auch heute noch Leute, die nur 1000 für einen Roman kriegen. Aber ich glaube trotzdem, daß man es heute in der SF besser und leichter hat. Einerseits freut es mich ja, wenn eine junge Schriftstellerin die Chance hat, sich auf das Schreiben konzentrieren zu können und dabei zurecht kommt. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, denken zu müs sen ‚Warum sollen diese jungen Spunte mehr kriegen als ich?’ Jemand sollte eine Reise in die Vergangenheit machen und mir auch 15 000 für einen Roman hinblättern.“ 319
Wilhelm: „Ich wäre heute reich. Nein, ist gar nicht wahr – ich hätte es sicher ausgegeben.“ Knight: „Die Frage des Geldes hat mich auch so lange vom Schreiben abgehalten. Ich wußte einfach, daß aus mir nie einer jener routinierten, kommerziellen Autoren werden würde, die jedes Jahr einen Roman ausstoßen, in dem dann haufenweise Raumschiffe und Außerirdische auftauchen. Romane sind mir immer sehr schwergefallen. Sie fallen mir immer noch schwer. Ich habe stattdessen angefangen, Anthologien herauszugeben, und war damit sehr erfolgreich. Ich habe jedes Jahr drei oder vier Stück gemacht. In einem Jahr sogar acht. Aber ich entdeck te, daß ich nicht Anthologien herausgeben und nebenbei noch Romane schreiben konnte. Und dann war ich für eine geraume Zeit geistig blockiert, wie es bei Schriftstellern schon mal der Fall ist. Da hing ich an diesem verdammten Roman The World and Thorrin fest.“ Wilhelm: „Ich bin froh, daß du ihn beendet hast, denn die Gerüchteküche war ein paar Jahre lang sehr aktiv. Es hieß, Da mon Knight hat die Schreiberei aufgesteckt, weil er Kate Wil helm geheiratet hat’.“ Knight: „Woher weißt du von diesen Gerüchten?“ Wilhelm: „Man hat sie mir erzählt.“ Knight: „Wie schön es ist, Freunde zu haben. Ich hatte jeden falls das Gefühl, diesen Roman zu Ende schreiben zu müssen, wenn ich je wieder einen anfangen wollte. Und schließlich – nachdem ich ihn mir wiederholt vor den Kopf gehauen hatte – stellte ich ihn in einem Rutsch fertig. Ich habe jetzt das Gefühl, alles schreiben zu können, was ich will; bloß sieht es so aus, als sei das, was ich schreiben möchte, keine Science Fiction. Ich bin in der Mitte einer langen Erzählung über einen Briefträger in Eugene, Oregon. Ich möchte auch einen Roman über ein paar Leute schreiben, die ich in Eugene kenne. Und in Portland ha ben mich ein paar junge Spunte auf Gedichte gebracht: Ich habe 320
in vierzehn Tagen zwölf Gedichte geschrieben. Ich habe zwar keine Ahnung, wo ich das Zeug anbringen soll, aber glückli cherweise machst du ja einen Haufen Geld.“ Wilhelm: „Ich halte den Gedanken an irgendwelche Märkte für so deprimierend, daß ich nicht einmal Lust habe, darüber zu reden. Die Hälfte der Sachen, die ich gemacht habe … Ich glaube, als ich schwanger war, hat sich eine Veränderung erge ben. Ich hatte ein Jahr lang nichts geschrieben, und als ich es hinter mir hatte, dachte ich darüber nach und wurde mir darüber klar, daß ich von nun an andere Sachen machen wollte. Seitdem hat die Hälfte meiner Geschichten mit Science Fiction nichts mehr zu tun. Es gibt einen großen Mythos, auf den man immer wieder stößt, und der besagt, daß man aus den Kategorien nicht ausbrechen kann: Wenn man deinen Namen in diesem Genre kennt, kannst du nicht in ein anderes überwechseln. Es ist ein Mythos, weil ich meine SF ebenso publiziert habe, wie die Ge schichten, die außerhalb des Genres angesiedelt sind. Wenn man SF-Autor ist, ist das kein Hinderungsgrund. Ich bin der Meinung, man sollte sich über sowas keine Sorgen machen. Wie Jim Blish schon vor Jahren sagte: ‚Wenn es gut ist, wird es auch veröffentlicht.’ Ich neige dazu, ihm zu glauben. Wenn ich schreibe, verschwende ich keinen Gedanken an Märkte. Ich könnte es auch gar nicht. Erst wenn ich mit der Arbeit fertig bin, denke ich an den Leser – das erklärt auch, warum meine Geschichten so oft an diesem oder jenem Markt vorbeizielen. Das, was ich mache, liegt einfach dazwischen. Ich denke nur sehr selten darüber nach, wie es auf den Leser wirkt. Ich frage mich höchstens ‚Wie wirkt es auf dich selbst?’ Wenn die Sache mir gefällt, wird sie auch einem anderen gefallen. Ich nehme an, daß ich unterbewußt so denke; bewußt jedenfalls nicht.“ Knight: „Ich gehe da ganz anders vor. Als ich noch ein Jüng ling war, hatte ich eminente Schwierigkeiten mit der Technik. Ich hatte keine Ahnung, wie ich vorgehen sollte. Bestimmt hat 321
mir mein Job als Assistent des Herausgebers bei Populär Publi cations den Weg geebnet, denn da mußte ich alle Stories lesen, die wir gekauft und abgelehnt hatten. Bei der Lektüre dieser Sachen sah ich natürlich den Unterschied zwischen den ange kauften und abgelehnten Manuskripten, und ich glaube, daß ich damals ein instinktives Gefühl für das entwickelt habe, was den Leser bei der Stange hält. Wenn ich etwas schreibe, denke ich jedesmal, wenn du jetzt nicht das oder das tust, laufen dir die Leser davon. Einerseits führt das dazu, daß man nie ins Schwa feln gerät, aber andererseits wird man sich dessen, was der Markt verlangt, in einem Grade bewußt, daß es einem nur hin derlich wird. Dann sagt man sich möglicherweise ‚Wenn in die ser Story kein Roboter vorkommt, wird sie abgelehnt’, und ehe man sich versieht, hat man einen kleinen Blechkumpel in sie eingebaut, bloß um zu verhindern, daß sie einem die Geschichte zurückschicken … Irgendwann sieht sich jeder, der die Schrift stellerei zu seinem Beruf machen will, der Frage gegenüber, ob er seinen Interessen oder denen des Lesers entgegenkommen soll.“ Wilhelm: „Ich meine, daß wir, die wir ja schon eine ganze Weile schreiben und wissen, daß da draußen Leute sind, die unsere Texte lesen werden, es uns eigentlich erlauben könnten, in bezug auf unsere Arbeit etwas mehr Arroganz an den Tag zu legen. Ich habe schon immer den Eindruck gehabt, daß die Be friedigung meiner eigenen Bedürfnisse zuerst kommt. Ich frage mich nie, ob sie mit denen des Lesers übereinstimmen. Mein zweiter Roman hat sich deswegen nie verkauft, weil er weder ein Kriminalroman war, noch in die Kategorie Science Fiction hineinpaßte. Er war weder das eine noch das andere. Wenn ich mich schon früh an das, was der Leser will und der Markt er fordert, angepaßt hätte, wäre ich heute vielleicht viel erfolgrei cher.“ Knight: „Jeder junge Schriftsteller steht eines Tages vor ei 322
ner Art krauser Barriere, die er durchbrechen muß: Man produ ziert Texte, die sich am Rande des Genres dahinbewegen und in alle Richtungen zielen, ohne dahinterzukommen, warum es manchmal hinhaut und manchmal nicht. Irgendwie, wahr scheinlich ganz unbewußt, eignet man sich dann eine Nase für das an, was die Industrie haben will.“ Wilhelm: „Nun, ich schreibe noch immer Sachen, die in kei ne Kategorie passen. Die beiden letzten Geschichten, die ich geschrieben habe, gehören auch dazu: Sie passen weder zur Science Fiction, noch zur allgemeinen Literatur. Sie passen in keine Schublade, aber ich hoffe trotzdem, daß sie sich verkau fen werden. Und ich hoffe, daß sie von Leuten gelesen werden, die nichts dagegen haben, wenn sie dazwischenstehen … Wie du weißt – ich habe es schon öfter gesagt –, kann ich meine Ge schichten nach der Veröffentlichung nicht mehr ausstehen. Wenn sie herausgekommen sind, fallen mir die ganzen Fehler auf, die ich gemacht habe, und dann sehe ich, daß ich das, was ich eigentlich tun wollte, doch nicht getan habe. Ich sehe dann das, was ich hätte besser machen können, wenn ich geduldiger gewesen wäre oder mehr Zeit oder Grips in die Sache investiert hätte. Ich bin der Meinung, daß meine Sachen auf die eine oder andere Weise alle durchgefallen sind. Ich kann sie nicht mehr ausstehen.“ Knight: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie man damit fertig wird.“ Wilhelm: „Nun, das heißt, daß ich meine eigenen Sachen nicht lese. Ich lese das, was die anderen schreiben.“ Knight: „Ich kann alles, was ich ungefähr seit 1949 geschrie ben habe, mit Freuden lesen.“ Wilhelm: „Das macht mich ungeheuer neidisch. Ich bin in der Tat mein strengster Kritiker. Noch nie ist jemand so hart mit mir ins Gericht gegangen, wie ich selbst. Ich halte den größten Teil meiner Kritiker für sehr freundlich.“ 323
Aber was geschieht, wenn ein Kritiker oder Leser die Mei nung äußert, Kate Wilhelms Texte seien ‚selbstverliebt’ und ‚bedeutungslos’? „Im allgemeinen werde ich nicht viel darauf erwidern, denn ich bin der Meinung, daß dieses Problem mich nicht in erster Linie betrifft. Ich glaube, daß das Problem beim Leser liegt, da er die falsche Sache liest. Es hört sich zwar ziemlich arrogant an, aber ich schreibe nun mal nicht für jeden. Würde ich das tun, schriebe ich Krieg der Sterne, Drachengeschichten oder irgendwelche x-beliebigen Abenteuererzählungen. Das tue ich aber nicht. Die Leute, die mitkriegen, was ich will, sind genau diejenigen, die ich zu erreichen wünsche. Hin und wieder wün sche ich mir, die anderen sollten sich entweder mehr Mühe ge ben oder die Klappe halten. Ich weiß auch nicht, warum sie meine Sachen weiterhin lesen und sich anschließend darüber beschweren. Weißt du, die Erfahrung sagt einem doch, wann es an der Zeit ist, andere Sachen zu lesen – warum tun die Leute das nicht? Ich glaube, daß ich die Leute provoziere. Larry Ni ven hat mal eine meiner Kurzgeschichtensammlungen – Somer set Dreams – rezensiert. Er war über die meisten Geschichten in diesem Band ganz schön sauer und gab zu erkennen, daß er nicht verstünde, was sie überhaupt sollten. Des weiteren sagte er aber auch, daß sie ihn gewaltig ärgerten. Sie hatten ihn be eindruckt, und er war der Meinung, irgendwas in seinem Inne ren müsse ihn nun dagegen aufbringen. Ich kann also nur an nehmen, daß er die Geschichten besser verstanden hat, als er zuzugeben bereit war. Er war nur nicht fähig, sich zu artikulie ren. Manchmal ist das gar nicht schlimm: Man muß auch nicht immer dazu in der Lage sein, genau zu sagen, worum es sich in dieser oder jener Geschichte dreht, um etwas von dem mitzu kriegen, was der Autor eigentlich sagen will.“ Knight: „Ich glaube, es gibt da eine allgemeine Regel. Wenn eine Geschichte einen ärgert, ohne daß sie ausgesprochen 324
schlecht geschrieben ist –, wenn man eine Geschichte um ihrer selbst willen haßt, steckt etwas in ihr drin.“ Wilhelm: „Das ist ein Gebiet, in dem sich viele Leute nach außen hin abblocken. Sie meinen ‚Wenn ich eine Geschichte nicht verstehe, dann deswegen, weil es daran nichts zu verste hen gibt, schließlich bin ich ja ein Kritiker oder Leser, der was von der Materie versteht’.“ Knight: „Und dann kommt ‚Schließlich lese ich ja schon seit zwanzig Jahren Science Fiction …’ Ja, davon können wir ein Liedchen singen. Wir kriegen es beispielsweise von Rezensen ten wie Darrell Schweitzer zu hören. Schweitzer ist aber nun keinesfalls ein Schwachkopf. Er ist sogar ziemlich intelligent – aber halt eben begrenzt. Sobald er auf etwas stößt, das er nicht versteht, geht er automatisch davon aus, daß es auch nichts zu verstehen gibt. Aber was mich betrifft, so habe ich unter sol chen Problemen nie gelitten. Man hat mich immer verstanden – bis auf ein- oder zweimal vielleicht. Eine meiner Erzählungen – sie heißt Down There – wurde absolut kommentarlos hinge nommen, weil sie, wie ich glaube, außer Barry Malzberg nie mand verstanden hat.“ Wilhelm: „Wenn nun acht von zehn deiner Geschichten so aufgenommen würden, wie würdest du dich dann fühlen? Bei mir ist das nämlich so.“ Knight: „Nun, du hast auch viel mehr drauf als ich.“ Wilhelm: „Aber wie würdest du dich fühlen, wenn die Leute einfach nicht kapieren, was du sagen willst?“ Knight: „Ich würde sie allesamt für Trottel halten.“ Als Schriftsteller haben Damon Knight und Kate Wilhelm offensichtlich ganz andere Entwicklungen durchgemacht. Knight: „Ich habe schon versucht, Science Fiction zu schrei ben, als ich – na, wie alt war ich denn? Fünfzehn ungefähr … – noch keine Ahnung hatte, wie das überhaupt vor sich geht. Ich fing mit irgendeinem Satz an und baute darauf auf, ohne zu 325
wissen, wohin ich überhaupt wollte. Wenn ich mir über mein Ziel im klaren war, kamen dabei in der Regel nicht mehr als 2000 Worte heraus. Ich hatte keinen Schimmer, wie man etwas längeres auf die Beine bringt. Aber aus einem puren Zufall her aus – es war eine irre Sache, wirklich! – wurde eins dieser Din ger dann von Don Wollheim veröffentlicht. Die Geschichte er schien – natürlich ohne Bezahlung – in der ersten Nummer des Magazins Stirring Science Stories. Ich war damals achtzehn. Die Sache stärkte mir natürlich unheimlich den Rücken. Dann folgte erst mal eine lange Zeit gar nichts, aber dann schlug ich wieder und wieder zu. Schlußendlich bekam ich den Job bei Populär Publications, und das machte alles sehr viel leichter.“ Wilhelm: „Ich war eine Hausfrau mit zwei Kindern. Nach dem ich eine Anthologie gelesen hatte, legte ich sie beiseite und sagte mir ‚Das kannst du auch’. Dann schrieb ich „Das meilen lange Raumschiff“ und verkaufte es.“ Knight: „Anschließend kaufte sie die Schreibmaschine, die sie sich zum Tippen dieser Geschichte gemietet hatte und legte los.“ Wilhelm: „Meine Antwort hätte vielleicht nicht so flüssig ausfallen sollen, denn jetzt wird mir bewußt, was aus mir hätte werden können. Als Kind hatte ich zwar schon mal daran ge dacht, später zu schreiben, aber als Erwachsene war mir die Idee abhanden gekommen. Ich glaubte den Leuten nicht so recht, die mir sagten, ich hätte Talent zum Schreiben. Ich glau be, es lag an der seinerzeitigen Situation auf der High School, daß ich ihnen nicht glaubte; ich weiß es auch nicht mehr genau. Und so wurde aus mir eine sehr unglückliche Hausfrau. Es ging mir miserabel, ich hatte Migräne und litt an Schlaflosigkeit. Ich war überhaupt nicht bei der Sache. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich tun sollte. Ich beschäftigte mich mit allem, half in der Schule und bei Wohltätigkeitsveranstaltungen, war überall freiwillig dabei, und hätte möglicherweise mein ganzes 326
Leben so bestritten. Vielleicht wäre ich eines Tages Alkoholi kerin geworden. Ich habe keine Ahnung. Vielleicht hätte ich auch Selbstmord begangen. Es ist schwer zu sagen. Schriftstel ler hielt ich für Götter; ich dachte, sie müßten eine ganz beson dere Art von Menschen sein. Etwas, das ich nicht war.“ Knight: „Deswegen sind die Clarion-Workshops und die Milford-Konferenzen auch für jene Autoren so ungeheuer wich tig, die völlig isoliert vor sich hinarbeiten und noch nie andere Schriftsteller getroffen haben. Es ist eine große Erleichterung, wenn man auf Kollegen trifft und feststellt, daß sie auch nur mit Wasser kochen.“ Wilhelm: „Für mich war das wichtig.“ Knight: „Ebenso wichtig ist es, wenn einem die anderen Pro fessionellen bestätigen, daß man selber auch das Zeug zum Schriftsteller hat.“ Wilhelm: „Deswegen glaube ich auch, daß mein Leben ganz anders verlaufen wäre, hätte ich im Alter von achtzehn oder neunzehn die Möglichkeit gehabt, an einem Workshop teilzu nehmen. Ich fing erst zehn Jahre später mit dem Schreiben an, und manchmal meine ich, dadurch zehn Jahre meines Lebens verloren zu haben. Ich habe in diesen zehn Jahren gar nichts getan. Ich habe gearbeitet. Ich hatte Kinder. Ich kümmerte mich um den Garten. Ich kochte … und so weiter, aber ich habe nichts getan, was greifbar gewesen wäre. Ich fühle mich ein bißchen deprimiert, denn ich habe zehn Jahre meines Lebens einfach weggeworfen, weil ich meinen Lehrern nicht glaubte.“ Knight: „Ich glaube, es besteht kein Zweifel daran, daß Workshops den Leuten helfen. Ein professioneller Schriftsteller findet im Laufe der Zeit so viele kleine Dinge heraus, von de nen die Anfänger nichts wissen … Man kann den Leuten zwar keine Schreibmotivation beibringen – so was kann man nie mandem einbläuen –, aber man kann ihnen zeigen, wie man die meisten Schwierigkeiten umgehen kann.“ 327
Wilhelm: „Wenn man über die Frage spricht, ob Workshops die Gefühle von Schriftstellern verletzen oder verletzen können, müßte man sich auch fragen, ob Kritik den Leuten hilft. Man che Menschen reagieren auf Kritik ziemlich verschnupft – und daran wird sich dann auch nichts ändern. Wie sie mit negativ ausfallenden Rezensionen fertigwerden, ist mir ein Rätsel; viel leicht werden sie auch gar nicht damit fertig. Andere Leute hin gegen nehmen Kritik bereitwillig an, entnehmen ihr alles, was sie weiterbringt und profitieren davon. Im Voraus kann man natürlich nie wissen, mit wem man es zu tun bekommt – und das gilt ganz besonders für die, deren Werk noch nie in einem Workshop zerpflückt worden ist. Ich glaube, daß einige dieser Leute sich wirklich tief getroffen fühlen, wenn man sie kriti siert, und dann keine Lust mehr verspüren, den Kursus noch weiter mitzumachen. Aber das erfährt man erst immer hinter her.“ Knight: „Manche dieser Probleme haben wir im ClarionWorkshop jedes Jahr. Manche der Teilnehmer haben ein unge heures Schreibtalent: Sie schreiben gute Dialoge und skizzieren interessante Charaktere. Und doch – wenn man ihre Geschich ten zu Ende gelesen hat, stellt man fest, daß sie gar keine Aus sage haben. Sie haben keinen Plot. Ich habe den Eindruck, daß manche Autoren sich möglicherweise nur auf die Schreibtech nik konzentrieren und dabei völlig vergessen, daß man auch ein Thema haben muß; am besten ein solches, das einen tief be wegt. Die Geschichten sind in gewisser Beziehung leer. Die Leute versuchen sich an der Technik und vergessen dabei die Substanz – und das geht nun mal nicht. Es kann passieren, daß man mit Leuten arbeiten muß, die auf gewissen Gebieten groß artige handwerkliche Fähigkeiten besitzen und trotzdem nur Leere abliefern: Wie jenes Mädchen, das wir vor ein paar Jahren hatten. Sie war eine ausgezeichnete Stilistin, hatte aber keine Ideen. Es war eine ärgerliche Angelegenheit, sowohl für sie als 328
auch für uns. Schließlich brach sie in Tränen aus und sagte: ‚Mein Problem ist, daß ich keine Probleme habe’.“ Womit wir schlußendlich auf das Thema Orbit zu sprechen kommen – jene Anthologienreihe, die Knight lange Jahre hin durch herausgegeben hat. Welche Gründe zwangen ihn, das Projekt schließlich einzustellen? Knight: „Ich glaube, Orbit hat nie genug Leser gefunden, die das, was die Autoren machten, verstanden. Daß ich die Reihe einstellen mußte, hat teilweise damit zu tun, daß ich nicht zu den Leuten gehöre, die es verstehen, auf sich und ihre Arbeit aufmerksam zu machen. Ich habe nicht die Fähigkeit, mich – wie beispielsweise Harlan Ellison – zu vermarkten. Seine An thologie Dangerous Visions ist ungeheuer erfolgreich gewesen, aber ich kann trotzdem nicht sehen, daß die darin veröffentlich ten Geschichten qualitätsmäßig über denen in Orbit stehen sol len. Zudem mußten wir immer auf Risiko arbeiten: Wenn Orbit überleben wollte, waren wir auf gebundene Ausgaben, Ta schenbuchnachdrucke und Buchklubeditionen angewiesen. Nachdem Berkley nicht mehr mitspielte, hatten wir alles zu gleich nie. Harper & Row, die die gebundene Ausgabe heraus brachten, fanden einfach keinen neuen Taschenbuchverleger. Und im Buchklub waren wir nur selten vertreten. Ich habe mit Orbit versucht, eine Science Fiction-Renaissance einzuleiten, glaube aber nicht, daß ich damit Erfolg hatte. Orbit hatte einen gewissen Einfluß – und heute ist die Science Fiction viel offe ner als früher, wie ich mit den Anthologien anfing. Ich bin aber nicht ganz glücklich mit der Entwicklung, die das Genre ge nommen hat. Ich bin der Meinung, daß man ein paar ausge zeichnete Sachen, die in Orbit veröffentlicht wurden, übersehen und daß das Publikum besonders in den letzten fünf, sechs oder meinetwegen auch zehn Jahren einer Menge Bluffergeschichten applaudiert und Preise verliehen hat. Aber ich schätze, daß ich von den Leuten, die ich für meine Zielgruppe hielt, einfach zu 329
viel erwartet habe. Wenn man gute Prosa schreiben will, erfor dert das harte Lehrjahre – und ebenso erfordert es harte Lehr jahre, gute Prosa zu verstehen.“ Wilhelm: „Ich habe immer angenommen, daß eine gute Prosa viel leichter zu lesen ist und sie deswegen den Lesern auch bes ser gefallen müßte. Aber anscheinend ist das nicht der Fall. Ich habe einen von diesen Bestsellern – Coma – gelesen, und das war eine absolut abscheuliche Erfahrung. Der Stil, in dem es geschrieben ist, ist entsetzlich. Ich kann nicht mal beschreiben, wie schlecht er ist. Anscheinend wollten die Leute nichts ande res, als eine Antwort auf die Frage ‚Und wie geht es nun wei ter?’ Ich glaube, das war ein Grund dafür, daß Orbit erfolglos blieb. Die Leute interessieren sich gar nicht für gute Prosa oder eine gute Sprache. Manchmal frage ich mich, ob es nicht über haupt unsinnig ist, wenn man über die Fehler, die Studenten oder gar Schriftsteller machen, ins Haarespalten gerät. Viel leicht ist das alles völlig unwichtig.“ Knight: „Nun, ich werde jedenfalls damit weitermachen. Ich könnte wirklich manchmal durchdrehen, wenn ich sehe, daß einem aus jeder Zeile die Fehler nur so entgegengrinsen. Ich habe eine interessante Erfahrung gemacht: Viele Science Fiction-Fans sind sich zwar der Tatsache bewußt, daß es so et was wie ein literarisches Niveau gibt – aber sie wollen es trotz dem nicht in der Science Fiction haben. Sie wollen nicht, daß man ihnen mit einem Stil kommt, der große Aufmerksamkeit beim Lesen erfordert. Sie wollen etwas, das sie Ruckzuck he runterlesen können – eben eine Geschichte. Setzt man ihnen eine Räuberpistole vor, die sorgfältig geschrieben und durch dacht ist, würde sie das ärgern, weil sie dann langsamer lesen und den einzelnen Sätzen und Abschnitten viel mehr Aufmerk samkeit widmen müßten, als sie zu investieren bereit sind.“ Wilhelm: „Gelegentlich kommt es vor, daß ich ein Buch an fange, daß man anderenorts in den höchsten Tönen gelobt hat – 330
oder das mir ein Verleger schickt, damit ich dazu einen Kom mentar abgebe. Und dann stelle ich fest, daß ich über die erste Seite nicht hinauskomme, weil der Stil sich einfach zwischen mich und die Geschichte – oder um was es sich immer dreht – schiebt. Natürlich weiß ich, daß es noch andere Leute gibt, die dieses Zeugs nicht lesen können, aber wir sind eine dermaßen kleine Minderheit, daß wir gar nicht ins Gewicht fallen.“ Knight: „Das hört sich fast ein wenig verbittert an. Aber ich meine, daß wir uns glücklich schätzen können, überhaupt zu überleben. Es ist ganz schön irritierend, wenn man in Publi sher’s Weekly erfährt, welche gigantischen Honorarvorschüsse Autoren kriegen, die wir bestenfalls für mittelmäßig gehalten haben. Man kann sich zwar nicht völlig von dem absondern, aber ich glaube, wir leben gewissermaßen am Arsch der Welt. Es gibt niemanden, der uns besondere Aufmerksamkeit widmet, ohne daß uns dies etwas ausmacht. Wir leben außerhalb der Gesellschaft, wie Kriminelle. Und ich glaube, daß wir uns glücklich schätzen können, so zu leben.“ Eugene, Oregon, im Juli 1979
331
Bibliographische Anmerkungen Damon Knights Kurzgeschichten sind stets erfolgreicher gewe sen als die wenigen Romane, die er in den fünfziger und frühen sechziger Jahren veröffentlichte. Seine Geschichten sind sorg fältig geschrieben, gehen sparsam mit den Worten um und be schäftigen sich thematisch oft mit menschlichen und sozialen Belangen. Auch seine ersten Veröffentlichungen sind heute noch lesbar und wirken in keiner Weise altmodisch. Seine Kurzgeschichtensammlungen bestehen unter anderem aus den Titeln Babel II (1961; dt. 1976), In Deep (1963), Off Center (1965) und Turning On (1966). Da er in den späten sechziger und den siebziger Jahren nur wenig publiziert hat, ist Knight in dieser Zeit eher als Kritiker und Anthologist bekanntgeworden. Seine frühen kritischen Es says sind gesammelt in dem Band In Search of Wonder (1956). Seine Anthologienreihe Orbit startete 1966 mit Orbit 1 und lief bis 1979. Sein neuester Roman, The World and Thorrin, er schien 1980. Die ersten beiden Romane Kate Wilhelms entstanden in Zu sammenarbeit mit Theodore L. Thomas: Der Klon – Wesen aus Zufall (1965; dt. 1973) gehört zu jenen SF-Romanen, die sich der Klon-Thematik als erste annahmen; Das Jahr des schweren Wassers (1970; dt. 1978) ist ein Katastrophenroman, in dem zähflüssiger werdendes Wasser die Erde bedroht. Keines dieser Bücher entwickelt oder dramatisiert sein Thema in besonders ungewöhnlicher oder neuartiger Form, aber 1976 hatte Kate Wilhelm sich dermaßen weiterentwickelt und in die Feinheiten der Schriftstellerei eingearbeitet, daß ihr Roman Hier sangen früher Vögel (1976; dt. 1978), der das Klon-Thema auf eine ungleich höheren Niveau abhandelt, ihr sowohl den Hugo als auch den Jupiter Award einbrachte. Der Clewiston-Test (1976; dt. 1980) und Fault Lines (1977) beschäftigen sich in tiefschür 332
fender Form mit menschlichen Belangen und haben sich weit gehend von der Science Fiction entfernt. Diese Romane (das gleiche gilt für die meisten ihrer kürzeren Erzählungen) gehört strikt genommen keinem Genre mehr an, sondern sind der all gemeinen Literatur zuzurechnen. Die bemerkenswertesten und aktuellsten Erzählungen Kate Wilhelms sind in dem Band The Infinity Box (1975) enthalten.
333
Michael Moorcock In der Science Fiction-Szene ist Michael Moorcock am besten für die Rolle bekannt, die er Ende der sechziger Jahre innehatte. Es war eine tolle Zeit, als man jung war und in London lebte. Swinging England … die Renaissance der modernen Künste, Anerkennung für die populäre Kultur … Piratensender vor der Küste, die heiße Musik von den Beatles bis zu Hendrix sende ten … die verrückte Mode der Carnaby Street … die Zukunft schien sich aufgetan zu haben. Alles war möglich. 1964 war ich nach London gezogen und hatte Moorcock kennengelernt, als er gerade Herausgeber des englischen Science Fiction-Magazins New Worlds geworden war. In den nächsten Jahren arbeiteten wir in den verschiedensten Positionen daran mit. Das Magazin scharte eine lose Gruppe von Autoren um sich, darunter Bal lard, Aldiss, Sladek, Disch und Spinrad, die (wie Moorcock) mit den alten Erzählformen und dem Mangel an psychologi scher Tiefe der Science Fiction unzufrieden waren. Sie teilten 334
eine radikale Gesinnung und drangen in neue Gebiete vor; das Ergebnis wurde als „New Wave“, als die neue Welle in der Science Fiction bekannt. Mit New Worlds an der Front hoffte diese Bewegung, die Science Fiction zu revitalisieren, sie abenteuerlicher, experi menteller und für die wirklichen Menschen in der wirklichen Welt relevanter zu gestalten. Moorcock trug viel zu diesem idealistischen Geist bei; er war ein charismatischer, begeistern der Herausgeber, bilderstürmerisch und flamboyant – einer von den Leuten, die man automatisch für großzügig und witzig hält, die gut leben und große Trinkgelder geben. Er ermutigte neue Talente und brachte bekannte Autoren dazu, trotz der geringen Honorare an dem Magazin mitzuarbeiten. In der ganzen Sache lag ein Anflug von Bedeutung und Bestimmung. Soweit wurde alles bereits in den verschiedenen geschichtli chen Überblicken und Nachschlagewerken wie der Encyclopedia of Science Fiction aufgeführt. Aber diese Zusammenfassungen entsprechen den Geschichtsbüchern, die die „Stimmung der Epoche“ erläutern, ohne je auf die Lebensbedingungen der Bauern einzugehen oder darauf, was die oberen Klassen zum Frühstück aßen. Das eigentliche menschliche Element fehlt. In Wahrheit war Moorcock hinter seiner charismatischen Art müde und verzweifelt. Er genoß die anscheinenden Belohnun gen, die zentrale Gestalt in einer literarischen Bewegung zu sein; er schien auch seine „Messias“-Rolle und die Aufmerk samkeit der Öffentlichkeit zu genießen. Aber das Magazin ko stete ihn horrende Beträge an Geld, Zeit und Energie und ver schärfte seine familiären Probleme. 1967 kaufte er den Titel und wurde sowohl Verleger als auch Herausgeber – und das trotz seiner offensichtlichen Unfähigkeit für organisatorische und geschäftsführerische Belange. Das Leben wurde schnell zu einem Alptraum aus fehlenden Manuskripten, unberechenbaren Terminen und unbezahlten 335
Rechnungen. Bald darauf hatten wir drei Bankkonten, denn wir richteten immer ein neues ein, sobald die Finanzen des letzten so hoffnungslos verstrickt waren, daß sie niemand mehr durch schauen konnte. Manche Beiträge wurden zweimal bezahlt, an dere gar nicht, und an eine Reihe von Druckereien hatten wir alptraumhafte Schulden; wir gingen jedesmal zu einer neuen Firma, wenn wir bei der alten keinen Kredit mehr hatten. Unser Stab gewöhnte sich daran, das Licht auszuschalten und nicht ans Fenster zu gehen, um so vorzugeben, nicht zu Hause zu sein, wenn irgendein Gläubiger anklingelte und hoffnungsvoll durch den Briefschlitz rief – vergeblich natürlich. Die „Büros“ des Magazins lagen in einer schrecklich alters schwachen Mietskaserne in London, deren leckes Dach und feuchte Grundmauern das Klima einer nassen Berghöhle er zeugten. In diesen Häusern hängen die Tapeten von den Wän den und enthüllen reiche Vorkommen exotischer Schädlinge. Das Betriebskapital – wenn man es so nennen konnte – kam zum einen Teil aus einer literarischen Zuwendung von 200 Pfund monatlich, die das englische Arts Council gewährte, und zum anderen Teil aus Tantiemen, die Moorcock für schnell und mit Verzweiflung und Abscheu dahingeschriebene FantasyRomane erhielt. Erstaunlicherweise hatte dieser Hickhack mehrere Jahre Be stand. Das Magazin erschien regelmäßig jeden Monat und wurde im ganzen Land vertrieben. Die das ehrgeizige Endprodukt zu Gesicht bekamen, mußten es für eine Kraft halten, mit der man rechnen mußte – und das Magazin erfüllte schließlich sogar einige seiner Versprechen, das Science-Fiction-Genre zu beein flussen. Diese Beeinflussung war nicht überall willkommen. Es gab offene Konfrontationen zwischen den „New Wave“-Radikalen und dem Science-Fiction-Establishment (schließlich schrieben wir ja die späten sechziger Jahre). Es lag Feindschaft in der 336
Luft, zum Beispiel im Globe, einem mittelmäßigen, obskuren Pub in Holborn, wo sich die nicht tot zu kriegenden englischen Science-Fiction-Fans regelmäßig am ersten Donnerstag im Mo nat zusammenfanden. Die meisten von ihnen sahen aus wie Flüchtlinge aus einem Pornoshop: abgerissen wirkende Männer mittleren Alters in Regenmänteln, die Vorkriegsmagazine tauschten und über das goldene Zeitalter der „Science Fiction“ sprachen; fette, schlampige College-Studenten mit pickligen Gesichtern, die über Monsterfilme und Popmusik debattierten. Es war einfach schrecklich. In dieser seltsamen Szene wirkte Moorcock irgendwie fehl am Platz – groß, mit voller Stimme, langen Haaren und Bart, elegant in seinem hellbraunen Anzug, dem Lavendelhemd, der breiten Krawatte und dem breitkrem pigen Filzhut. Der restliche Stab trug ähnlich farbige Kleidung (wir schrieben die späten sechziger Jahre) und wurde ähnlich unfreundlich aufgenommen. Einmal schlug mich ein Fan, dem man es nie richtig machen konnte und der zufällig gerade mit einem Gipsbein herumhum pelte, mit seiner Krücke an den Kopf; aber im allgemeinen wurden die Dinge nicht so weit getrieben. Wir waren nur den ständigen Angriffen von verbitterten Fans ausgesetzt, die Moorcock in rüdem Ton vorwarfen (und ihn deshalb verdamm ten), „ihr“ Science-Fiction-Magazin ruiniert zu haben, indem er es in ein elitäres pseudointellektuelles Gebilde voller Selbstmit leid und poetischer Zügellosigkeit verwandelt hatte. Als E. J. Carnell das Magazin in den fünfziger Jahren herausgegeben hatte, konnte man noch all die guten Stories von Autoren wie John Rackham und James White und E.C. Tubb darin finden – Stories mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende (in die ser Reihenfolge!), Stories, die man noch verstehen konnte. Daraufhin pflegte Moorcock sich das Haar zu raufen und dumpfe, kehlige Geräusche wie ein in die Enge getriebener Hund von sich zu geben, oder er beschimpfte und beleidigte sie 337
oder drohte ihnen heftig. Keine dieser Taktiken konnte diese einseitigen, verärgerten Leser jedoch ablenken. Sie hatten die Trägheit auf ihrer Seite. Wenn der Pub um 23 Uhr schloß und die väterlichen Figuren sich zerstreuten, blieb die New-Wave-Coterie mit einem dump fen, finsteren Groll gegen den Rest der Science-Fiction-Welt zurück, der so konservativ und neuen Unternehmungen über haupt nicht aufgeschlossen war. Es folgte eine verzweifelte Heimfahrt in betrunkenem Zustand, bei der Moorcock (der sich gern chauffieren ließ) die leeren Straßen mit heiterer Unbe kümmertheit betrachtete und seine Version von Yellow Subma rine sang: „Wa all live in a failing magazine, we all live in a failing magazine …“ Am nächsten Tag ging es dann zurück in die Welt der un dichten Dächer und unbezahlten Drucker – zurück zu dem bankrotten verzweifelten Kreuzzug für die Sache eines sehr seltsamen literarischen Idealismus. Und jetzt haben wir Juni 1979, 11.30 Uhr vormittags, um ge nau zu sein, und Michael Moorcock lehnt sich im Bett zurück. Seine Frau Jill Riches malt unten an einem Bild, aber Moorcock scheint es (wie der verstorbene Lyndon Johnson) zu genießen, Besucher in einer informellen Umgebung zu empfangen, wie zum Beispiel in seinem Schlafzimmer; und so baue ich mein Tonbandgerät auf seinem Bett auf und frage ihn: „Bist du so weit?“ Er zwinkert und stopft noch ein Kissen unter seinen Kopf. „Wenn du soweit bist, mein Bester.“ Aber das ist natürlich eine pro-forma Bonhomie – lediglich eine Andeutung, daß ihm noch der Sinn fürs Absurde erhalten geblieben ist, irgendwo, zehn Jahre nach diesen schrecklich trunkenen Abenden, wo man mit der Welt nur fertigzuwerden schien, wenn man ihr seine fehlgeleitete Wut und Unvernunft entgegenschlug. 338
Ja, zehn Jahre sind verstrichen. Wir haben den traurigen Nie dergang von den swinging sixties zu den senescent seventies erlebt – von den Universitätsunruhen zum Koma an der Univer sität, von Kaftanen zu Overalls, von Trips zu Seconal. Die New Wave hat ihre Triebkraft verloren, genau wie andere radikale Bewegungen während dieser Zeit untergingen. New Worlds wurde von monatlicher auf vierteljährliche Erscheinungsweise umgestellt und stellte dann für mehrere Jahre das Erscheinen ganz ein. Die Autoren, die oftmals ohne Bezahlung daran gear beitet hatten, wandten sich eigenen Karrieren zu, genau wie Moorcock selbst. Das Leben scheint heutzutage ein wenig vernünftiger, aber auch langweiliger zu sein. Der literarische Status quo wurde von der Bewegung, die Moorcock anführte, niemals ernsthaft angegriffen. Aber mit der Herausstellung der Erfolge seiner Bewegung ist er schnell zur Hand: „Die New Wave hat die Dinge in England und bis zu einem gewissen Grade auch in Amerika verändert. Wir haben die Ar beiten von Autoren wie Disch, Sladek, Spinrad oder M. John Harrison gefördert und die Verleger dazu ermutigt, Risiken ein zugehen, die ihnen vorher undurchführbar erschienen. Was seitdem schiefgelaufen ist, ist klar: die meisten Leute glauben, es gibt eine Formel, der man einfach folgen kann. Anstatt jetzt der Analog-Magazin-Formel zu folgen, haben wir heute die Clarendon – na, wie heißen sie noch – Clarion-Schreibschul Formel-Geschichten. Es gibt nie viele eigentliche Talente; es laufen aber jede Menge Leute herum, die von den Ideen anderer angemacht werden und sie dann zu wiederholen versuchen; und natürlich sind das oft die erfolgreichsten Autoren, denn sie pro duzieren eine modifizierte Form des Zeugs, das sonst zu über spannt für einen Massenmarkt wäre.“ Wer sind diese erfolgreichen, aber nicht originellen Autoren? „Ich glaube nicht, daß ich in meinem jetzigen Toleranzemp 339
finden dazu bereit bin, Christopher Priest zu erwähnen.“ Er lä chelt vergnügt; dann konzentriert er sich aus irgendeinem Grund auf Larry Niven. „Ich glaube nicht, daß Niven einen ein zigen Absatz von innerer Beständigkeit schreiben kann. In dem einzigen Roman von Niven, den ich mir bis zum Schluß durch gelesen habe, handelten die Charaktere mit einer unglaublichen Unbeständigkeit, nur um den Bedürfnissen eines offensichtlich zusammengeflickten Handlunggerüsts Genüge zu tun, und sein Erfindungsreichtum war ganz einfach kindlich und geklaut. Aber das scheint seine Leser nicht zu stören, und mich kümmert es überhaupt nicht. Von einem Kind, mit dem man sich verbun den fühlt, hofft man, daß es mit der Zeit auf etwas besseres stößt; aber wenn es überhaupt keine Anzeichen psychologischer Reifung zeigt und damit fortfährt, Larry Niven zu lesen oder Arthur C. Clarke oder wen sonst auch immer, dann …“ Er zuckt die Achseln. „Schon gut. Die meisten dieser Schreiberlin ge sind Entertainer der amerikanischen Mittelklasse, und mir hier in London fällt es sehr schwer, sie zu verstehen. Das sind keine sehr guten, das sind beliebte Autoren auf der gleichen professionellen Ebene wie ein durchschnittlicher Kri mi-Autor, und man findet genau die gleichen Elemente bei Agatha Christie – die Sicht der Mittelklasse, die ständig hervor gebrachten Vorurteile der Mittelklasse. Das wird nicht verderb lich, weil es einfach nicht genug Energie enthält; wenn man aber Heinlein nimmt, der ein energiegeladenes, verrücktes Buch produziert, und andere Verrückte wenden sich dem zu, dann geht der Ärger los. Science Fiction ist keine gewöhnliche Lite ratur; sie zieht Leute an – Charles Manson ist ein sehr dramati sches Beispiel dafür –, die danach leben. Aber je autoritärer ein Buch von, sagen wir, Heinlein ist, je mehr es einem sagt, wie man leben und seine Probleme lösen soll, desto weiter entfernt es den Leser von der Wirklichkeit, mit der er zurechtzukommen versucht. Ich halte diese Art von Science Fiction, die vorgibt, 340
Probleme zu lösen oder Antworten zu geben – man könnte sie die Campbell’sche Science Fiction nennen – für ziemlich ge fährlich, weil sie die Jugend verwirrt, die ja schließlich den Großteil der Leser stellt.“ Moorcock verunglimpft die „herkömmliche“ Science Fiction heute also genauso sehr und ebenso radikal wie in den sechziger Jahren. Aber wie unterscheidet sich die „New Wave“ wirklich von diesem Status quo? „Diese Arbeiten hatten kaum eine Chance, irgendwo anders als in New Worlds veröffentlicht zu werden. Entweder waren ihre Strukturen unkonventionell, oder das Material war einfach zu andersartig. Die meisten Autoren benutzten romantische Idiome, Symbolismus, bildliche Sprache und Ironie. Das waren mutige Geschichten von Leuten, die oft auf verwirrende Art einen mutigen Versuch boten, sich mit großen Themen ab zugeben. Wenn es schon einen typischen New Worlds-Autor geben muß, dann mußte er das zu bieten haben – einen Zwang, die Gefahren bloßzustellen und gewisse Wirklichkeiten beim Namen zu nennen. Zu dieser Zeit gab es keine Science FictionMagazine, die diese Geschichten veröffentlichen konnten, und keine literarischen Magazine, die auch nur einen blassen Schimmer von der Materie hatten, obwohl sie schon mehr oder weniger seit Beginn unseres Jahrhunderts vorhanden war und viele Formen benutzte oder wiederentdeckte, die es ebenso lang schon gab.“ Moorcock vergleicht die Reaktion des literarischen Esta blishments von England auf die Art von Literatur, die er veröf fentlichen wollte, mit der Reaktion auf William Burroughs Ro man The Naked Lunch, als er in England erschien: „Da gab es diese Debatte im Times Literary Supplement, die als die ‚IgittDebatte’ bekannt wurde. Ich nahm daran teil, und Edith Sitwell nahm daran teil, und sie sagte, sie wolle nicht den Rest ihres Lebens – der nicht mehr sehr lang war – mit der Nase in der 341
Toilettenschüssel verbringen, und Victor Gollancz sagte, er ha be das Buch nicht gelesen, aber er sei überzeugt, es wäre völlig widerwärtig … eine lächerliche Debatte. Sie glich den Kom mentaren der Leute zu Oliver Twist: ‚Mr. Dickens hat in seinem liebenswerten Buch Die Pickwicker von fröhlichen Menschen geschrieben, und nun zieht er uns in die Gosse Londons.’ Ja, Dickens wurde genauso abgefertigt. ,In die Gosse’ – eine häufig vorkommende Metapher! – es ist nach allgemeiner Auffassung deprimierend und pessimistisch. Aber jemand muß in die Gosse, in das Kanalsystem hinabstei gen, wenn auch nur, um nachzusehen, warum es verstopft ist, oder um die Ratten zu töten oder auch nur, um das tierische Le ben dort zu katalogisieren. Außerdem haben wir uns in New Worlds nicht so sehr auf die Gosse konzentriert, eher auf menschliche Wesen in Situationen der Anspannung. Die Leute denken häufig, daß wir mit New Worlds genau das angestellt haben, was Harlan Ellison in seiner Anthologie Dan gerous Visions versucht hat. Aber wir wollten niemanden schockieren; wir setzten voraus, daß es eine Leserschaft für das Material gab, das wir veröffentlichten. Und wir haben immer nur darauf gesehen, daß dieses Material so gut war, wie es sei nen eigenen Bedingungen nach nur sein konnte. Wir hatten Glück, daß die soziale Stimmung Mitte der sech ziger Jahre die beste Zeit für solch einen Versuch war, weil je dermann in diesen Begriffen dachte und wir in dieser Hinsicht Teil unserer Generation waren. Die heutige Generation ist in jeder Hinsicht eher vorsichtiger und macht sich leider – mit Ausnahme der Punks, deren Haltung ich sehr aufgeschlossen gegenüberstehe – viel zuviele Sorgen, über die Atomenergie etwa, und was auf uns zukommt – das Blei wird uns alle vergif ten! – und so weiter.“ Ich frage ihn nach fortschrittlichen Kreisen in der amerikani schen Verlagsszene. 342
„Es gibt nur sehr wenige davon. Je größer die Unterhaltungs industrie wird, desto weniger Freiheiten haben die einzelnen Herausgeber, desto bürokratischer werden sie, desto weniger Flexibilität gibt es, und desto weniger kommerzielle Entwick lung gestehen sie sich zu, weil keiner mehr das Risiko eingehen will und kann. Mit anderen Worten, die Buchhaltungen beherr schen die Verlage zu sehr, und die Firmen sind zu groß, und so sinkt die Moral der Herausgeber, und sie verlieren das Vertrau en in ihre eigene Urteilskraft.“ Unterschätzen sie die Leserschaft? „Es ist sehr schwer, die amerikanische Leserschaft der Mit telklasse zu unterschätzen; das bringt einen ja so auf … Eine Ursache für die großen Unterschiede zwischen englischer und amerikanischer Science Fiction liegt darin, daß die Autoren in Amerika ihre Schlachten eher kämpfen, um eine Gruppe von Leuten mit extremen Vorurteilen für sich zu gewinnen, Leute mit religiösem Hintergrund, die vielleicht von – na, sagen wir – der episkopalischen Kirche zu den Dianetikern übertreten, aber im Grunde doch sehr naive Bauern sind. Die amerikanischen Autoren – zumindest die meisten – haben nicht die Tradition der nötigen Arroganz, die den europäischen zugestanden wird. Wenn ein europäischer Schriftsteller im Kölner Dom ‚Scheiße’ sagt, geht er kein besonderes Risiko ein. Wenn ein amerikanischer Schriftsteller in einer Kleinstadt in Arizona ‚Scheiße’ sagt, wird er sehr wahrscheinlich eins auf die Nase bekommen – denn er gibt sich mit unwissenden Bauern ab.“ Als Schriftsteller bringt man Moorcock heutzutage mit Wer ken hoher literarischer Ambition in Verbindung und nicht mehr mit den schnell dahingeschriebenen Fantasy-Romanen, die er in großer Menge für schnelles Geld produzierte. In der Tat schei nen seine höchst indirekten, experimentellen Romane ein wenig zu viel von der „literarischen Arroganz“ aufzuweisen, die er schätzt, als daß seine „bäurische“ Leserschaft, die er zutiefst 343
verdammt, sie verstehen könnte. Manche Leser halten Moor cocks Werke für unnötigerweise obskur und elitär, und wenn sie falsch verstanden werden, hat Moorcock die Schuld nur sich selbst zuzuschreiben. Stimmt er dieser Auffassung zu? „Nein. In Amerika wurden 75 000 Exemplare von den Cor nelius-Chronicles verkauft, nicht sehr viel, aber auch nicht schlecht für ein Buch dieser Art, und ich glaube, damit hat wohl niemand gerechnet. Offensichtlich verstehen sie einige Leser falsch, aber ich glaube, daß diese vier Bücher (die vier Romane, die in einem Band als The Cornelius Chronicles herausgegeben wurden) heute relevanter sind und besser aufgenommen werden als zu der Zeit, wo sie erstmals erschienen, und sie werden in Zukunft noch besser aufgenommen und noch mehr geschätzt werden, vielleicht aus den falschen Gründen, aber dafür kann ich nichts, ich kann nur das darstellen, was mir als einleuchtend erscheint.“ Fühlt er die innere Verpflichtung, sich in seinen Werken kla rer oder wesentlich deutlicher auszudrücken? „Ich war der Meinung – und das war naiv von mir –, daß ich nur den Schalter liefern mußte, auf den die Leute dann drücken würden, und daß ihre Vorstellungskraft den Rest dazutun würde. Vielleicht war das nicht ganz fair von mir.“ Er denkt darüber nach und reagiert ein wenig gereizt. „Aber eine Menge Leute mögen diese Bücher, ich meine, ich habe einen Preis dafür be kommen, ich würde sich nicht als Nieten bezeichnen.“ Und seine jetzigen literarischen Ambitionen sind keineswegs bescheiden: „Ich steuere letztendlich darauf zu, so etwas wie einen DickensRoman zu produzieren, oder eine besondere Art von George Me redith-Roman, oder Krieg und Frieden, etwas, das große soziale Belange mit besonderen psychologischen Dingen kombiniert.“ Das klingt danach, als erwarte er, in Zukunft ein bedeutender englischer Romancier vom Status eines, sagen wir, Angus Wil son zu werden. 344
„Das könnte schon gut eintreffen. Ich glaube, ich mache et was, wozu andere Leute nicht in der Lage gewesen sind, und ich habe eine stilistische Bandbreite, um die mich die meisten Schriftsteller beneiden. Ich habe sie durch sehr harte Arbeit entwickelt, indem ich viel geschrieben habe. Und wenn mein neues Projekt so erfolgreich ist, wie ich hoffe, wird es einen wichtigen Beitrag zur modernen Literatur darstellen.“ London, im Juni 1979
345
Bibliographische Anmerkungen 1964 wurde Michael Moorcock Herausgeber des Magazins New Worlds. Der vorhergehende Herausgeber war E. J. Carnell ge wesen, der Moorcock als seinen Nachfolger vorgeschlagen hatte. Obwohl Moorcock sich mehrere Male von dem Magazin zu rückgezogen hat, ist er New Worlds immer aktiv oder passiv verbunden geblieben und besitzt dessen Titel. Seine Jerry Cornelius-Romane mit ihrer „Mythengestalt des 20. Jahrhunderts“ sind Miss Brunners letztes Programm (1968), Das Cornelius-Rezept (1971), Ein Mord für England (1972) und Das Lachen des Harlekin (1977, dt. alle 1981 bzw. 1982). In den USA erschien eine einbändige Ausgabe, die alle vier Romane enthält, 1977 als The Cornelius Chronicles; in der Bundesrepublik Deutschland erschienen die Romane getrennt, sind aber auch als die Jerry-Cornelius-Chroniken bekannt. Der erste Roman ist am leichtesten zu lesen und leidet nur unter dem Tempo, mit dem er geschrieben wurde. Der letzte Roman verbindet die Serie und gewann in England einen Preis, den Guardian Prize. John Clutes hervorragende Einführung zu Miss Brunners letztes Programm ist für Leser, denen die Romane unbegreiflich vorkommen, eine ausgezeichnete Interpretations hilfe. Moorcocks Die Zeitmenagerie (1972, dt. 1976) ist wahr scheinlich sein unterhaltsamster, witzigster und phantasiereich ster Roman. Die Fortsetzungen weisen diesen Erfindungsreich tum allerdings nicht auf. Moorcock gewann einen Nebula-Award für die Kurzge schichtenversion seiner religiösen Fantasy I.N.R.I. oder Die Reise in der Zeitmaschine (1969, dt. 1972), in der ein junger Jude in der Zeit zurückgeht und die Position Jesus’ einnimmt.
346
J. G. Ballard Rückkehr in die Ewigkeit. Heute werde ich zu einer Reise aufbrechen, die mich in die verzauberte Landschaft der Rätsel und der Stasis bringen wird. Ich werde ein private Odyssee zu den Lagunen machen, in denen sich unter den Strahlen einer wiedergeborenen Sonne die Leguane aalen; ich gehe an Strände der archäopsychischen Zeit, wo die einsame Gestalt eines Flie gers, eines Versprengten aus einer abgeschnittenen Zukunft neben den dunklen Wassern wandelt, als verfolge sie innerhalb ihres eigenen Bewußtseins eine unsichtbare Kontur. Es zieht mich unausweichlich hin – zu den Schlammlöchern, Sandbän ken, Dünen und ausgetrockneten Seen, in das Terrain der fun damentalen Resonanzen und apokalyptischen Erfüllung. Mein Hypothalamus rührt sich, als sei er an einen kosmi schen Zeitschalter angeschlossen; mein Unterbewußtsein wirft Bilder dieser mythischen Zone auf: eine kodierte Landschaft. Es ist die Landschaft von Shepperton in Middlesex.
347
Die Architektur der Entropie. Und so hole ich an einem wol kigen Sonntagmorgen mein Fahrrad heraus und mache mich – beladen mit einem Tornister, in dem sich der Kassettenrecorder, etwas Wegzehrung mit Brot und Käse, eine Landkarte und das für alle Fälle mitgenommene Flickzeug befinden – auf den Weg. Shepperton liegt etwa fünfzehn Meilen von der kleinen Wohnung entfernt, die ich in London besitze. Shepperton, ein Ort, der in den Werken J. G. Ballards glorifiziert und unsterb lich gemacht wurde, ist wie ein Nirwana surrealer Träume. In Wirklichkeit besteht der Ort aus ein paar kleinen Straßen mit eintönigen Doppelhäusern, Bungalows, ein paar handgefer tigten Schuppen, einem in der Nähe liegenden Flugplatz und Kiesgruben, deren rostende, verstreut herumliegende Arbeitsge räte in öligem Schlick versinken. Der Besucher, der Ballard gelesen hat und eine Welt inspirierender Phantasie erwartet – in denen Eilande des Todes und zinnoberroter Sand vorkommen –, fühlt sich enttäuscht. Es gibt hier nur eine Gestalt, die in die Phantasien des Besu chers hineinpaßt: Ein Messias, der die privaten Zonen des glit zernden, facettenartigen Lichts und die fremdartigen Symbole der Apokalypse durchwandert. Der Prophet von Shepperton: Ballard höchstpersönlich. Locus Solus. Mit dem Fahrrad dauert meine Reise etwas mehr als eine Stunde. Ich halte nach Westen, auf einen extremen Ausläufer von Groß-London zu. Das Land ist hier flach. Man ist umgeben von einander kreuzenden Straßen, an deren Rän dern zweistöckige Gebäude stehen. Da und dort ist eine Tank stelle oder ein Kiosk, der das Zeichen einer Eiskremfirma trägt oder vor dem ein paar gelangweilte Jugendliche auf dem Bord stein sitzen. Hin und wieder fährt ein roter Doppeldeckerbus vorbei, manchmal auch ein Taxi. Dann kommt eine Straße mit kleineren Geschäften: eine Wäscherei, ein Wimpy-Laden, ein 348
Elektrohändler, ein Tabakladen, ein Wettbüro, das Postamt, eine Drogerie. Heute ist Sonntag, da haben sie natürlich alle geschlossen. Flankiert von den Häusern seiner nichtsahnenden Vorort nachbarn wirkt das Gebäude, in dem Ballard lebt, unaufdring lich. Das einzige, was es von den anderen unterscheidet, sind ein paar kleine, abstrakte (von der Straße aus unsichtbare) und selbstgemachte Zementskulpturen, die wie enigmatische Dele gierte einer Nation, die aus Angehörigen einer surrealistischen Kunst bestehen, den Hintergarten zieren. Sie scheinen zu war ten und ihn zu beobachten, wenn er in seinem Wohnzimmer am Fenster sitzt und arbeitet. Dabei läßt er sich in einem alten Holzstuhl an einem Eßzimmertisch aus den fünfziger Jahren nieder. Hier, wo er den Eindruck eines Campers in selbstge zimmerter Unterkunft macht, beschwört er Visionen von mythi scher Schönheit und betörender Kraft – die literarischen Gegen stücke der Gemälde Ernsts und Dalis. Sie haben doch gewiß nicht die Absicht, hierzubleiben, Doktor? In Ballards frühen Erzählungen tauchen immer wieder stati sche Visionen auf, in denen man die Zeit als fühlbare Größe wahrnimmt, die die Landschaft überflutet. In seinen vier ersten Romanen wird die Welt von verschiedenen Naturkatastrophen heimgesucht, die die Zivilisation ausradieren und die Uhr im wahrsten Sinne des Wortes zurückdrehen. Seine Helden waren Einzelgänger, die der Apokalypse ihre Aufwartung machten und schließlich von ihr absorbiert wurden. Für Ballards Helden war die private, mystische Union mit einer ruinierten Welt stets attraktiver als das geheuchelte „normale“ Leben unter den or ganisierten Banden der Überlebenden. Seit den sechziger Jahren haben sich Ballards Themen aus geweitet und behandeln nun moderne Mythen (Kennedy, 349
Monroe, Reagan) und zeitgenössische Szenarien: Automobile, Beton und perversen Erotizismus. In seinen Texten hat er die sexuellen Verbrechen der Technologie aufgelistet und laborato riumsmäßig die Todesträume von Mannequins und Hausfrauen analysiert. Seine Helden allerdings bleiben so gelassen und ab gesondert wie immer und optieren weiterhin für die Isolation – ebenso wie Ballard sich der geselligen Welt Zentral-Londons verweigert und sich dazu entschlossen hat, in seinem Shepper toner Refugium allein zu bleiben. Die verlassene Stadt. „Ich habe alle Sympathien für die anti technologische Bewegung verloren“, erklärt mir Ballard. „An gefangen vom Club of Rome bis zu den Freunden der Erde – all diese Untergangsprediger und Echolauscher – ihre Voraussagen in bezug auf Katastrophen kommen mir ganz einfach faktenmä ßig falsch und erschreckend defätistisch vor. Ich glaube, sie drücken eine Art latenter Angst vor dem Versagen aus. Ich bin in bezug auf Wissenschaft und Technologie sehr optimistisch. Dennoch haben meine Texte fast ausschließlich das Gegenteil vertreten, da in ihnen nur diese entropischen Universen vor kommen, in denen sich alles dem Ende zuneigt. Ich glaube, das hat viel mit meiner Kindheit in Shanghai zutun. Das war wäh rend des Krieges. Shanghai war eine gewaltige, weit offene Stadt voller politischer Gangster, Krimineller aller erdenklicher Kategorien und ein Schmelztiegel, in dem sich Flüchtlinge aus Europa und Weißrussen herumtrieben, die vor der russischen Revolution stiften gegangen waren. Es gab in dieser Stadt prak tisch gar keine Begrenzungen. Da wurde gespielt und erpreßt und der Prostitution nachgegangen, und außerdem fand dort alles statt, was aus dem Widerspruch zwischen arm und reich erwächst. Es gab dort Tausende von Millionären – und sehr, sehr arme Leute. Das Proletariat von Shanghai war das ärmste der Welt. Und über all dem stand noch der Zweite Weltkrieg. 350
Als Sohn eines Geschäftsmannes, der ziemlich gut zurechtkam, war meine Kindheit an sich nicht übel, aber nach dem Angriff auf Pearl Habour holte man uns plötzlich aus unseren geräumi gen Häusern – und dann saß meine Familie in einem Zimmer, das ungefähr halb so groß war wie dieses.“ Er deutet auf sein kleines Wohnzimmer. „Und da lebten wir drei Jahre. In einem Lager. Als der Krieg dann endete, kam der nächste Tiefschlag. Die Zeiten, die auf Hiroshima folgten, wa ren noch viel konfuser als alles, was vorher gewesen war; die Amerikaner brauchten ziemlich lange, bis sie endlich da waren und die Dinge stabilisierten. All das, und die außergewöhnlichen Umstellungen, die laufend stattfanden … Ich meine, ich erinnere mich an einen kleinen Jungen namens Patrick Mulvaney; er war mein bester Freund und wohnte in einem Wohnblock im fran zösischen Teil. Ich erinnere mich, einmal dorthin gegangen zu sein und das Haus völlig leer vorgefunden zu haben. Ich wan derte durch die ganzen leeren Wohnungen, in denen immer noch die Möbel standen, aber alles war absolut still, nur die Fenster schwangen im Wind auf und zu … Es ist nicht einfach, herauszufinden, inwiefern all das einen bleibenden Eindruck auf mich gemacht hat. Ich meine, all diese leeren Swimming Pools, die in meinen Texten auftauchen, hat es wirklich gegeben. Ich kann mich daran erinnern, um sie herumgegangen und zu Dutzenden gesehen zu haben. Sie waren ausgetrocknet. Oder ich ging ans Meer hinunter, wo nebeneinander die Großbanken, Hotels und Geschäftshäuser standen. Sie lagen direkt an der Strandpromenade. An einem Tag sah man die alt bekannte Szenerie der Frachter und kleinen Dampfer, die dort vertäut lagen, und tags darauf waren die verdammten Dinger alle abgesoffen, weil die Japaner sie versenkt hatten, um den Leuten mal zu zeigen, was eine Harke ist. Ich erinnere mich daran, zu diesen Schiffen hinausgerudert zu sein. Ich bin auf den Decks herumgelaufen, während das Wasser meine Füße 351
umspülte. Der Gesellschaft, in der wir nun leben, ist das alles nur schwer zu vermitteln. Man muß sich dazu etwas ähnliches wie den Watts-Aufruhr vorstellen – nur in einem kontinentalen Maßstab. Diese Auseinandersetzungen haben die Vereinigten Staaten ganz schön aus der Bahn geworfen, aber wie lange dau erten sie an? Zwei oder drei Tage? Ich habe von meiner Geburt im Jahr 1930 in Shanghai gelebt, bis ich 1946 ging; das ist ein Zeitabschnitt, in dem mehrere Kriege stattfanden, einschließlich des Zweiten Weltkrieges, und in dem es zu großen Umwälzun gen und der Veränderung einer Riesenstadt kam … Ich glaube, ich habe all das in mich aufgesogen, und als ich anfing Science Fiction zu schreiben und in die Zukunft blickte, tendierten die imaginativen Elemente, die ich aus den vorgegebenen Situatio nen herauszuhalten versuchte, dazu, sich mit meinen früheren Erfahrungen zu vermischen.“ Eine Sprache des Unbewußten. Ballard äußert sich freimütig und spricht energisch, als wolle er die Worte, auf die es ihm be sonders ankommt, gleich in Kursivschrift von sich geben. Und er macht oft Pausen, um das passendste Bild oder die kraftvollste Metapher zufinden. Ähnlich geht er auch in seinen Texten vor: Er ist ein freimütiger, energischer Schreiber, der in seinem ganzen Leben noch keine schwache oder unambitiöse Geschichte erzählt hat. Seine Texte mögen manchmal obskur erscheinen, aber selbst dann, wenn der Leser die wahre Bedeutung einer Ballardschen Arbeit nicht genau zu erkennen vermag, kann er sich ihrer Stim mung und Bildhaftigkeit nicht entziehen. Ballard drückt sich mit überzeugenden, surrealen Symbolen – oder Methapern – aus, die einem wie sich wiederholende Träume erscheinen. Seine Dünen und Autowracks, seine enigmatischen Frauen, verlorenen Astro nauten und verlassenen Gebäude stehen als Signale, die man als Schlüssel der Bedeutung der Technologie und der Struktur des Unbewußten einer verheißenden Zukunft sehen soll. 352
Realität durch Umkehrung; Erfüllung durch Vergessen. „So wie – sagen wir mal – die Vernunft die Realität für uns ra tional macht, so überdeckt das herkömmliche Leben alles mit seiner eigenen Glasur, einer Art Lack, unter dem die Realität nur noch verschwommen wahrnehmbar ist. Die Stadt Shanghai, die für mich die gewöhnliche Welt darstellte, war lediglich auf gemacht wie eine Bühne, deren Ensemble über Nacht ver schwinden konnte; gleichermaßen erkannte ich die Zerbrech lichkeit und Durchschaubarkeit in allem anderen – und gewis sermaßen auch die Realität, die zum Vorschein kam, wenn man sie ihres Lacks beraubte. Ich glaube, man kann die gleiche Er fahrung machen, wenn man durch einen stillgelegten Betrieb – oder eine verlassene Fabrik – geht. Selbst ein Unfallwagen be sitzt eine Realität, Schärfe und dermaßen einmalige Identität, wie sie ein Vorführwagen niemals aufweisen kann. In dem Roman, den ich derzeit schreibe – er spielt 100 Jahre in der Zukunft –, sind die Vereinigten Staaten verlassen und die Menschen kehren dorthin zurück. Dabei stoßen sie auf Lincoln, der in seiner Gruft sitzt und dem der Sand bis an die Beine reicht, und dergleichen mehr. Ich glaube, dies zeichnet ein ge naueres Bild der Lage, in der sich die Vereinigten Staaten heute befinden.“ Ungeachtet der Gründe, aus denen er sich auf Szenarien des Verfalls und der Verwüstung begrenzt, hat man Ballards Visio nen unausweichlich mit dem Attribut „pessimistisch“ versehen – besonders deswegen, weil die Helden solcher Bücher wie Karneval der Alligatoren und Kristallwelt sich den Katastro phen opfern, die die Welt heimgesucht haben. Ballards Antwort darauf: „Der größte Teil meiner Texte, in welcher Umgebung sie auch immer spielen mögen, ist nicht pessimistisch. Sie be handeln die psychologische Erfüllung. Die meisten Leute glau ben, daß meine Stories keine Happy Ends aufweisen, aber das 353
stimmt gar nicht. Der Held im Karneval der Alligatoren, der nach Süden geht, der Sonne und dem Vergessen entgegen, be geht eine sensible Handlung, deren Resultat ihm die absolute psychologische Erfüllung einbringen wird. In gewissem Sinn hat er sowas ähnliches wie das Große Los gezogen! Das hat er; und er hat einen psychologischen Wettbewerb gewonnen. Ich bin der Meinung, daß das Buch gar keinen Sinn ergibt und das Verhalten des Helden bedeutungslos ist, wenn man die Sache anders sieht. Das gleiche gilt für Crash (seinen traumatischen Roman über Perversion, Gewalt und Automobile). Die ganze Dynamik dieses Buches, glaube ich, führt auf den Ultimaten Autounfall zu, den wir alle irgendwie erwarten. Alle meine Texte beschreiben das Aufgeben des Ichs in der Ultimaten Me tapher, im Ultimaten Bild, und das ist psychologisch erfüllend. Mir scheint dies das einzige Glücksrezept zu sein, das wir ken nen.“ Innenraum. Ballard fing in den fünfziger Jahren mit dem Schreiben an und verkaufte seine ersten Erzählungen an das britische Magazin New Worlds. Diese frühen Geschichten waren noch der orthodoxen Science Fiction verhaftet; der Stil, in dem sie geschrieben waren, schien sich an wendigen Amerikanern wie Pohl und Bester zu orientieren. Aber Ballard hat nie irgend welches Interesse an den üblichen Versatzstücken des Genres gezeigt: Raketen, Außerirdische und andere Planeten kommen bei ihm so gut wie nicht vor. Obwohl der erste Sputnik bereits die Erde umkreiste und damit zur Eröffnung des Weltraumzeit alters beitrug, ignorierte Ballard das All und konzentrierte sich auf das, was er „Inner Space“ – Innenraum – nannte. E. J. Carnell, der New Worlds in den fünfziger Jahren redigierte, ermutigte Ballard darin, seinen eigenen Weg zu gehen und ignorierte die Proteste jener Leser, die an dieser Art von Innovation keinen Spaß hatten. Ein paar Jahre später merkte man, daß Ballard 354
Kurzgeschichten schrieb, die sich von denen der anderen radikal unterschieden. Daß sie weiterhin in Science Fiction-Magazinen veröffentlicht wurden, lag ganz einfach daran, daß die SF das einzige Genre war, mit denen sie überhaupt Ähnlichkeit hatten. Ein unerforschter literarischer Kontinent. „1953 ging ich mit der britischen Air Force nach Kanada, wo ich in Kasernen bei Moose Jaw und in Saskatchewan und so weiter festsaß. Es gab da kaum was zu lesen, nur ein paar kanadische Zeitungen und ein paar Nachrichtenmagazine. Time galt als hochintellek tuelle Lektüre. Schließlich entdeckte ich, daß die Stände an den Kiosken sämtlicher Bushaltestellen und in der KasernenCafeteria mit Science-Fiction-Magazinen vollgestopft waren, deren Inhalte viel besser waren, als ihre Umschläge suggerier ten. So verbrachte ich also sechs Monate mit dem Lesen von Science Fiction, hörte damit auf und fing selbst an zu schreiben. Als Sputnik I gestartet wurde, schien das die jahrzehntelangen Träume der Science Fiction der dreißiger und vierziger Jahre zu bestätigen, aber ich war – der ganzen Offensichtlichkeit dieser Sache zum Trotz – davon überzeugt, daß diese Phase bereits vorbei war und die moderne Science Fiction ihr Pulver ver schossen und an diesem Tag ihre Vitalität und Relevanz verloren hatte. Ich interessierte mich für bildende Kunst, und kurz nachdem ich mit dem Schreiben anfing, wurde in England die Pop-Art geboren. Ich ging zu dieser bekannten Ausstellung, die unter dem Titel „Das ist das Morgen“ in der Whitechapel-Galerie ablief. Eduardo Paolozzi stellte dort aus, und ich glaube, daß Richard Hamilton dort das allererste Pop-Gemälde überhaupt vorstellte. Es hat mir einen gehörigen Schlag versetzt, als ich entdeckte, daß die Pop-Art-Maler genau das an der Science Fic tion so interessant fanden, was zur Science Fiction der dreißiger und vierziger Jahre gehörte – und nicht das, wie es hätte der 355
Fall sein sollen, was aus den fünfzigern kam. Die Science Fiction hatte ihr Pulver verschossen und reproduzierte sich nur noch. Wenn man anfing, sie zu lesen, konnte man, wenn der erste Reiz des Neuen verflogen war, sofort sagen, oh, Gott, jetzt spulen sie schon wieder irgendeine Zeitreisenvariante oder sowas ab; dann las man nur noch so vor sich hin.“ Ich frage Ballard, ob es je Science-Fiction-Autoren gegeben hat, die sein Frühwerk beeinflußt haben. „Das glaube ich, ehrlich gesagt, nicht. Möglicherweise Brad bury, aber das weiß ich auch nicht mehr so genau, da ich seine Sachen seit zwanzig Jahren nicht mehr gelesen habe. Ein Ein fluß war, glaube ich, Bernard Wolfes Limbo 90. Das Buch er mutigte mich zum Weitermachen, denn es hatte Niveau, steckte voller Ironie und besaß eine eigenständige imaginativ literarische Dimension, die um ihrer selbst willen erforscht wurde und sich schon deswegen von allen anderen unterschied. Bradburry war ziemlich naiv, und von einem naiven Schriftstel ler erwartet man kaum ironische oder selbstbewußte Aussagen. Limbo 90 bekräftigte mich in dem Gefühl, es müsse möglich sein … innerhalb der kommerziellen Science Fiction etwas zu bewirken; diese Erkenntnis war sehr wichtig für mich, denn ich wollte Erzähltechniken anwenden, die ein großes Publikum er reichen sollten. Ich fühlte mich wie jemand, der sich auf einem größtenteils unerforschten literarischen Kontinent aufhielt. Hier war eine einmalige Literaturform, die allerlei für sich verbuchen konnte: Sie war populär, setzte großes Zutrauen in starke Erzählelemen te und hatte äußerst traditionelle Formen und Schreibtechniken vorzuweisen, die Maupassant, O. Henry, Tschechow oder den Viktorianischen und edwardianischen Autoren von Geisterge schichten näherstanden als den sich im Kreise drehenden, mo dernen Kurzgeschichten, die der New Yorker abdruckt. Sie hatte populäre Bildhaftigkeit und handelte von der realen Welt. Die 356
Transformation der Gegenwart und Zukunft durch Wissenschaft und Technologie war etwas, das jeden angehen mußte, während das, was die sogenannten Mainstream-Romane ansprachen, der Gesellschaft im ganzen nichts sagte. Die Science Fiction war also per Definition eine populäre Kunstform. Das hielt ich für ungeheuer aufregend – aber gleichzeitig war ich der Meinung, daß sich ihr bis dahin niemand in ernsthafter Weise angenom men hatte. Ich kam mir vor wie jemand, der in eine Spielhalle geht, wo alle Leute mit Flugzeugen, elektrischem Licht und Computern herumspielen, während es außerhalb dieser Halle keine Fliegerei und keinen Strom gibt. Damals war ich der An sicht – und ich habe sie noch heute –, daß die Science Fiction eine Art Spielplatz darstellt, einen riesigen Vergnügungspark, in dem es allerlei tolle Spielzeuge gibt, die man mit in die reale Welt hinausnehmen und dort anwenden müßte. Ich reagierte auch ziemlich bewußt gegen die seinerzeit in Großbritannien herrschende Sterilität der Literatur. Mitte bis Ende der fünfziger Jahre erschienen dann die zornigen jungen Männer auf der Szene: John Osborn mit Blick zurück im Zorn, Kingsley Amis mit Glück für Jim. Allan Sillitoe und all die an deren … Ich hielt sie für ein völlig provinzielles Phänomen, auf jeden Fall haben sie dem literarischen Establishment nicht son derlich wehgetan. Und bald haben sie sich dann ja auch einspannen lassen. Ich glaubte … ich glaube immer noch, daß diese angeblich realistisch geschriebenen sozialen Romane, die man seit dem Zweiten Weltkrieg in England publiziert hat, ei nen Schuß des Adrenalins vertragen können, die jene Bücher aufweisen, die auf dem Markt verkauft und angeboten werden. Ebenso könnte das Kino ungeheuer davon profitieren, wenn es einen Spritzer jenes Adrenalins bekäme, der etwa einen Holly wood-Thriller ausmacht. Ich habe immer fest an die Kraft einer Geschichte geglaubt. Ich halte nichts von Erzählungen, die nur aus Schattierungen bestehen.“ 357
Quantenbild. Im Jahre 1964 erschien The Terminal Beach, Ballards bisher experimentellste Erzählung, denn sie beschrieb die Träume und Erinnerungen eines Bomberpiloten, der auf einem verlassenen Atoll im Pazifik gestrandet ist – einer ehe maligen atomaren Teststation. Diese ungewöhnliche, unheil verkündende Reise durch eine Landschaft, die das Armageddon vorwegnimmt, wurde in unzusammenhängenden Abschnitten geschrieben – wie ein Film, der aus verschiedenen, langen Ein stellungen besteht, von denen einige Rückblenden sind. Diese Geschichte zeigte an, daß Ballard sich in einer Umbruchphase befand und bald in eine andere überwechseln würde. Er ent wickelte seine impressionistischen Techniken aber noch viel weiter – bis er die Bande, die ihn an die orthodoxe Science Fic tion und Fantasy ketteten, zerriß. Im Juni 1966 publizierte New Worlds den Text You: Coma: Marylin Monroe, ein erstes Teilstück dessen, was Ballard (in typischem Overstatement) „komprimierte Romane“ nannte und aller traditionellen Erzählelemente entledigt war: Die Charaktere bewegten sich nicht mehr herum, sagten nichts mehr und hatten keine Konflikte, die sie lösen mußten. Was übrigblieb, waren Bilder, Metaphern, Landschaften und Mythenfiguren – einige davon waren der Phantasie entwachsen, andere kamen aus der zeitgenössischen Welt der Medien: der Werbung, des Films und des Fernsehens. Schließlich wurden fünfzehn dieser „komprimierten Romane“ in einem Band zusammengefaßt, der Liebe & Napalm = Export USA hieß. Fast alle dieser Geschichten bestanden aus kurzen Textabschnitten, denen fettgedruckte Überschriften voranstan den (wie die, die ich mir für dieses Porträt ausgeliehen habe). Die Textabschnitte waren Scheiben der Raumzeit; Erfahrungs werte, die auf einer Seite koexistierten wie Erinnerungen eines Bewußtseins. Der übergreifende Effekt war eine Montage, des 358
sen Einzelteile sich überschnitten; ein übergreifendes State ment, das sich von mehreren unterschiedlichen Perspektiven ablitt. Umstellung. „In den frühen sechziger Jahren hatte ich das Ge fühl, nun genug extrapolative Erzählungen geschrieben zu ha ben, die in einem verlassenen London der Zukunft oder ge heimnisvollen Forschungsstationen in der Wüste spielten. Mitte der sechziger Jahre war die Zukunft wahr geworden, und so kam ich auf die Idee, daß ein Science-Fiction-Autor hauptsäch lich die Gegenwart zu seinem Thema machen sollte. Und ich glaube, daß ich recht hatte. Wir waren wirklich in der Zukunft angelangt, und ich meinte, nun darüber schreiben zu müssen. Die einzige Möglichkeit schien mir die Form zu sein, in der ich die Liebe & Napalm-Geschichten schrieb. Auf eine andere Weise wäre ich mit dem gesamten Material gar nicht fertig ge worden. Diese Texte waren sehr stark von den Umstellungen und Kommunikationsüberlagerungen beeinflußt, die von 1965 bis 1970 jeder zu spüren bekam. Wir haben uns von einer Periode hochgradiger Nervosität in ein Zeitalter der Gelassenheit be wegt, und es fällt jüngeren Leuten sehr schwer, sich klar zu ma chen, wie flach heutzutage das Leben verläuft und wie langwei lig die Menschen leben. Führende Politiker, Gewerkschaftsfüh rer … Wenn sie in den Wahlkampf ziehen, sollte man doch er warten können, daß sie wenigstens ein bißchen ihre Phantasie walten lassen, wenigstens wie Kennedy, aber stattdessen reden sie alle nur davon, wie man die Inflation von siebzehn auf zwölf Prozent herunterdrücken kann. Es ist wie bei der Aktionärsver sammlung einer großen Versicherungsgesellschaft, wo die Leute einem Haufen geschwätziger Buchhalter zuhören, die sich um Dezimalstellen streiten. Heutzutage ist alles viel flacher; die siebziger Jahren waren ein Ausbund an Flachheit; und die 359
Technik, die ich bei den Liebe & Napalm-Geschichten anwandte, kommt mir für heute viel zu gedrängt vor. Ich glaube, wenn die sechziger Jahre sich fortgesetzt hätten, statt in die siebziger zu münden, würden die Geschichten heute weniger fremdartig wirken. Ein weiterer Grund, weswegen diese Geschichten heute wir ken wie mißlungene Experimente, ist, daß wir heutzutage gei stig träger sind. Ich glaube, wenn Borges in diesen Tagen zum ersten Mal publiziert würde, würden die Leute sagen, er sei viel zu literarisch und zu kompliziert. Es ist gut, daß er sich seine Reputation schon in den späten sechziger Jahren erschrieben hat. Damals hatten die Leute noch nichts dagegen, sich ein biß chen anzustrengen. Heute sind sie von einer bewundernswerten Faulheit; man kann sich nur schwer vorstellen, daß ein Film wie Krieg der Sterne in den sechziger Jahren den gleichen Erfolg gehabt hätte wie in den Siebzigern. Damals, glaube ich, hat man noch kritischer geurteilt.“ Katastrophengebiet. In Großbritannien und anderen europäi schen Ländern (besonders in Frankreich und der Bundesrepu blik Deutschland) hat Ballard eine große Leserschaft, loyale Jünger und einen ausgezeichneten Ruf. Fast alle seine Romane und Kurzgeschichtensammlungen sind in Taschenbuchausga ben zu haben. Weit weniger erfolgreich ist er ironischerweise in Amerika gewesen, obwohl – oder weil – viele seiner Visionen und Themen die amerikanische Szene widerspiegeln. Ich frage ihn, ob er weiß, weshalb seine Werke vom amerikanischen Pu blikum nicht so gut aufgenommen werden. „Es ist mir ein Rätsel; ich habe wirklich keine Ahnung. Sie kennen die amerikanische Szene doch besser als ich. Ich glaube, daß ein englischer Schriftsteller wie ich, der die amerikanischen Verleger und Leser nicht so besonders gut kennt, die literari schen Interessen eines dermaßen großen Marktes leicht über 360
schätzen kann. Ich glaube, daß die allgemeine Leserschaft – und dies gilt für die Leser von Erzählstoffen allgemein – in den Vereinigten Staaten weitaus weniger empfänglich und offen ist, als man hier drüben glaubt. Das hört sich vielleicht frech an, aber das ist nicht meine Absicht. Aber ich lese amerikanische Romanciers, die einen ausgezeichneten literarischen Ruf genie ßen – sagen wir mal, Leute jener Schule, aus der Vonnegut und Roth kommen. Die New York Review of Books lobt sie über den grünen Klee, das Magazin Time vergleicht sie gar mit Heming way und Faulkner. Aber das sind nur Mittelklasse-Autoren, die die Phantasie ihrer Leser nicht einmal stark beanspruchen. Se riöse Schriftsteller sind sie in dem Sinne, in dem jemand wie Daphne DuMaurier seriös ist – oder die Autoren der dreißiger Jahre, zum Beispiel A. J. Cronin. Ich habe den Eindruck, daß man hierzulande möglicherweise tatsächlich die Aufnahmefä higkeiten des amerikanischen Marktes überschätzt.“ Brückenkopf. Dank einiger wichtiger Hardcover-Verlage kommen Ballards Werke auch in Zukunft in Amerika heraus. Und er schreibt weiterhin ehrgeizige, kraftvolle Romane. Es ist mehr als zwanzig Jahre her, seit seine erste Erzählung gedruckt wurde, ohne daß man sagen kann, ihm sei die Luft ausgegan gen. Im Gegenteil. Seine drei Kinder besuchen die Universität; Ballard (ein alleinerziehender Vater) hat nun genug Zeit zum Schreiben. Er scheint glücklich darüber zu sein, daß er dort draußen in seinem Sheppertoner Refugium allein ist. Er ist lie benswürdig und (trotz seiner kompromißlos vorgebrachten An sichten) etwas schüchtern. Und er ist auch nicht sehr gesellig: „Ich brauche keinen Trubel. Ich fahre schätzungsweise einmal pro Woche nach London: da leben die meisten meiner Freun de.“ Er behauptet, daß Shepperton in seinen Augen tatsächlich ei ne Welt voller Strände und Lagunen ist und über eine inspirie 361
rende, rätselhafte Umgebung verfügt. Und in der Tat – genauso beschreibt er den Ort in seinem metamorphosischen und mes sianischen Roman The Unlimited Dream Company. Für mich jedoch wird Shepperton stets der eher schlampige, kleine Vor ort bleiben, der von einem herrenlosen Ödland umgeben ist. Aber Ballard ist schließlich ein Visionär. Man kann zwar seinen Stil imitieren und seine Obsessionen verspotten – aber seine Phantasie und sein Einblick sind einmalig. Seine surrealen, schwingenden Bilder von der apokalyptischen Erfüllung dauern an – als Bereicherung des Lebens und ungewöhnliche Art der Prophetie. London, im September 1979
362
Bibliographische Anmerkungen Die Stories in The Best Science Fiction of J. G. Ballard (1977) sind eine ideale Einführung in seine Kurzgeschichten, denn sie reichen von der Periode des Anfangs bis in die Zeit hinein, in der die „komprimierten Romane“ erschienen. Der Band enthält kurze, aber nützliche Einführungen des Autors; die Auswahl der Erzählungen hat er selbst vorgenommen. Es gibt aber noch zahlreiche andere Sammlungen von Ballards frühen Kurzwer ken. Seine aktuellste Sammlung, Low-Flying Aircraft (1976) enthält eher experimentelle Texte. Liebe & Napalm = Export USA (1970; dt. ebenfalls 1970) enthält sämtliche „komprimier ten“ Werke. Von seinen ersten vier Romanen sind Karneval der Alligato ren (1962; dt. 1970) und Kristallwelt (1966; dt. 1969) unbestrit tene Klassiker von visionärer Kraft. Man könnte darüber strei ten, ob diese Bücher gewonnen hätten, wenn sie etwas kürzer ausgefallen wären, aber Ballard scheint sich in diesen Längen besser zu tun, da seine Zwangsvorstellungen sich eher auf Landschaften statt auf gewöhnliche menschliche Beziehungen erstrecken. Crash (1973) war sein erster Roman nach einer Pause von acht Jahren und ist ein radikaler Trennungstrich. Wo Ballards frühere Titel exotische Landschaften von surrealer Schönheit beschreiben, ist Crash neurotisch, abstoßend und dem Leser so nah wie die abendliche Tagesschau. Es ist allerdings ein Mei sterwerk des Grauens. Der Block (1975; dt. 1981) entspricht zwar gleichermaßen dem Zeitgeist, ist aber viel unterhaltsamer geschrieben und enthält Szenen voller ironischen Komödianten tums. The Unlimited Dream Company (1979) ist eine unterhalt same Fantasy über Lebenszwänge und Erfüllung, die in charak teristisch surrealen Bildern beschrieben wird.
363
E. C. Tubb Legen wir bei der Diskussion über bildliche Sprache und Ge staltung und Symbolismus und so weiter eine kurze Pause ein. Stellen wir die „New Wave“ für einen Moment beiseite, zu sammen mit ihrer sozialen Bedeutung, ihren grundlegenden Aussagen, ihren einseitigen Feststellungen und all der Last der sogenannten „bedeutenden Romane“ (eine in zunehmendem Maße immer bedeutungslosere Phrase). Kehren wir zu den Grundlagen zurück, begeben wir uns in das gute alte Getto der Science-Fiction. Sprechen wir über die grundlegenden Tradi tionen: Action und Abenteuer. Trotz allem – Flash Gordon lebt, genau wie Perry Rhodan oder auch Luke Skywalker. Noch immer werden jede Menge Bücher zur reinen Unterhaltung geschrieben, ohne jeden An spruch, ohne jede Ambition. Ein starker Plot, aufblitzende Ra keten, galaktische Kriegsführung, eine schöne Frau, ein ent schlossener Held – das sind die eigentlichen Grundlagen, auf der die Science Fiction basiert. Und wenn wir uns gehen lassen, 364
können sich die meisten von uns nicht einmal heute dieser Ro mantik verschließen. Die Autoren dieser fesselnden Geschichten von Suche und Kampf bleiben größtenteils anonym. Sie erhalten weder kriti schen Würdigungen noch Hugos. In der Tat wird sich diese Art von Schriftstellern aller Wahrscheinlichkeit nach verächtlich oder zynisch über diese Symbole des literarischen Ruhms äu ßern. Mein Buch wäre nicht komplett, wenn es nicht die Ansichten eines solchen Autors enthalten würde. Sein Name ist nicht be rühmt. Er hat keine Bestseller oder „Klassiker“ des Genres ge schrieben. Aber seine ordentlichen, erdgebundenen Ansichten stellen einen guten Kontrapunkt zur extravaganten Rhetorik unserer Propheten und Poseure dar. Und seine Eignung als pro filierter Geschichtenerzähler steht außer Frage. Sein Name ist E. C. Tubb. In den dreißig Jahren, die er schon schreibt (fast immer nebenberuflich), hat er Hunderte von Kurzgeschichten und einhundertundzwei Romane verfaßt („Nicht viel“, meint er achselzuckend.) Tubbs Arbeiten er schienen hauptsächlich unter anderen Namen; von Charles Grey (oder Gray) bis zu Volsted Gridban (Sie lesen richtig, Volsted Gridban) reichen seine Pseudonyme. In letzter Zeit hat er unter seinem wirklichen Namen in England und Amerika eine Reihe von Abenteuern über Dumarest von Terra veröffentlicht: ein großer, schlanker Held mit schwärmerischen Augen und einem Blaster an der Hüfte, der nach der mythologischen, vergessenen Heimatwelt der menschlichen Rasse sucht. Bislang liegen ein undzwanzig Dumarest-Romane vor, und die Suche des Helden ist noch längst nicht vorbei. Für Tubb ist das Schreiben von Science Fiction keine inten sive kreative Erfahrung oder Hinwendung zur Kunst. Für ihn stellt sich einfach das Problem, seine Arbeit zu tun, und das als erfahrener Geschichtenerzähler so gut, wie es ihm möglich ist. 365
Schriftstellern gegenüber, die mehr als das für sich beanspru chen, ist er äußerst mißtrauisch. In seinen eigenen unnachahm lichen Worten: „Es gibt drei Arten von Schriftstellern. Da ist zuerst einmal der Bestseller-Autor, der ein Buch schreibt und von den Einkünften aus diesem Buch leben kann. Dann gibt es den Vielschreiber (zu denen Tubb sich selbst auch zählt), der zum reinen Broterwerb acht Stunden täglich schreibt, wie in einem Büro-Job, und es sich nicht leisten kann, nur ein einziges Buch zu produzieren. Und da ist noch der ‚künstlerische’ Poet, der drei Jahre in einer Hütte in Schottland leben muß und dabei ein Buch über eine Eule produziert, das keiner kauft … aber er schreibt für sich selbst. Man sollte annehmen, niemand könne sich ein solches Leben leisten, aber diese Leute scheinen immer wieder Freunde zu haben, die ihnen ihre Hütte leihen. Und sie haben Frauen, die für sie arbeiten gehen und ihnen die Wäsche selbst nähen. Gott allein mag wissen, worauf sie schreiben – auf Toilettenpapier aus öffentlichen Bibliotheken? Oder auf Zucker tüten aus dem Abfall? Und wenn das Buch erscheint, starten sie es immer mit einer Verlagsparty, und alle Kritiker loben es über den Klee. Einmal lief im Fernsehen ein Bericht über so einen Burschen, und ich habe mitgerechnet, er schrieb ein Wort pro Tag. Selbst ich schaffe da mehr.“ Tubb arbeitete erfolgreich als Verkäufer, und er spricht noch immer mit dem schnellen, fließenden Zungenschlag dieser Be rufsgattung. Aber er wird befangen und bescheiden, wenn man ihn bittet, über sich selbst zu erzählen. In der Tat ist er bis zu diesem Sommerabend, wo ich meinen Kassettenrecorder in seiner Wohnung im Südwesten Londons aufgestellt habe, noch nie um ein Interview gebeten worden. Er beginnt mit der Bemerkung, daß er das Interview für eine abwegige Idee hält, da es für den Leser gar nicht relevant sein könne, etwas über die Details aus dem Leben eines Autors zu erfahren: 366
„Ich habe die Briefe von diesen Leuten, die mein Geburts datum, den Hochzeitstag meiner Großeltern und ganz einfach alles über mich erfahren wollen, immer zurückgehen lassen. Ich halte das für ausgesprochenen Unsinn. Wen zum Teufel interes siert das schon? Wenn ein Autor mit vierzehn Jahren ein Bor dell in Istanbul geleitet hat – verbessert das seine Schreibe? Na türlich nicht. Die Leute sind neugierig, wie alt dieser Mann ist; was haben sie davon, wenn sie einen wirklich guten Sword and Sorcery-Roman lesen und dabei wissen, daß der Autor ein tat teriger alter Achtzigjähriger ist, der kleinen Mädchen hinterher schnüffelt? Aber im Ernst, ich begann kurz vor dem Krieg mit dem Schreiben, verkaufte 1950 die erste Geschichte, und dann lief es fast wie von selbst. Ich begann, wie so viele Autoren, zuerst aus Liebe zu schreiben, dann des Geldes wegen; und ich fürchte, das Geld blieb bestehen, während die Liebe zu verblas sen begann, wie bei der Mehrheit aller Schriftsteller.“ Ich unterbreche ihn mit der Frage, ob er wirklich die Mehr heit aller Autoren meine. „Wenn man danach geht, wie sie reden, ja. Man kann alle möglichen beliebigen Autoren zusammentrommeln, und wor über unterhalten sie sich? Nicht, wie sie ihre Werke verbessern können, sondern nur über die Höhe des Vorschusses, den sie aus dem Verleger herauspressen können. Natürlich leisten sie etwas, keine Frage; das Problem ist nur, genau wie bei den Poli tikern, sie blähen ihren eigenen Wert immer mehr auf, bis sie schließlich verlauten lassen: ‚lch schreibe kein einziges Wort, bevor ich dafür nicht einen so und so hohen Vorschuß bekom men habe!’ Warum zum Teufel die Verleger diese Tour mitma chen, bleibt mir ein Rätsel. Wie kann der eine – sagen wir – 1000 Pfund bekommen und der andere 100 000? Sein Buch ist nicht hundert Mal besser. Das kann es nicht sein. In der Tat sind manche der sogenannten Bestseller verdammt schlecht. Und wenn die Autoren erst einmal dem Glauben verfallen, daß sie 367
hervorragend sind, weil sie soviel dafür bekommen, dann leben sie in einem falschen Paradies. In der SF kommt man leicht an Reputation. Irgendeiner schreibt ein Buch, und dann scheint sich eine Verschwörung zu bilden, die zum Ausdruck bringt, wie gut dieses Buch überhaupt ist. Niemand hält sich aber da mit auf, erst einmal zu lesen, was der Mann geschrieben hat. Ich meine wirklich zu lesen. Alle sehen nur auf den Namen. Hein lein ist ein perfektes Beispiel dafür. Ich erwähne ihn, weil ich glaube, daß er sich damit einen schlechten Dienst erwiesen hat. Das mag sauertöpfisch klingen, aber ich mochte Heinlein – ich mochte ihn. Ich erinnere mich daran, wie ich Ein Mann in einer fremden Welt las und mir ständig einredete, Heinlein hat das geschrieben, das muß gut sein, ich werde viel davon haben, wenn ich mich durch diese christusähnliche Legende gequält habe … und leider hatte ich nichts davon. Ich glaube nicht, daß Heinlein selbst dafür verantwortlich zu machen ist. Ich bin der Ansicht, daß es zu viele Lobhudler gibt und er ihnen abgekauft hat, daß Ein Mann in einer fremden Welt oder die Bücher, die danach kamen, gut sind. Sie sind nicht gut. Er hat jeden kriti schen Blick verloren, wenn er sie für gut hält. Ich glaube, ge nauso ein Fall ist Samuel Delany mit seinem Dhalgren, diesem Monument der Unlesbarkeit. Mir kommt es vor, daß man, wann immer man ein Buch liest, das für den Nebula Award ausge wählt wurde, sich diese Wahl nur erklären kann, wenn man weiß, wie sie zustande kam. Da sitzen zwölf Leute in einem zigarettenverqualmten Zimmer und sagen: ‚Ach, zum Teufel mit Sam, er taugt nichts, aber keiner hat was gegen Harry, also geben wir Harry den Preis.’“ Hält Tubb das Preissystem wirklich für so korrupt? „Korrupt in dem Sinn, daß es nicht ehrlich ist. Es kann nicht ehrlich sein. Keiner kann alle Neuerscheinungen lesen und dann eine vorurteilsfreie Wahl treffen. Ich erinnere mich genau dar an, wie ich Mitglied der Science Fiction Writers of Amerika 368
war (der Organisation, die den Nebula-Preis vergibt) und mit der Post die Wahlformulare erst bekam, als der Rücksendeter min schon längst verstrichen war. Mit dem Schiff brauchten diese Formulare sechs Wochen bis nach England. So konnte ich also nicht wählen, eine bequeme Möglichkeit, um sicherzuge hen, daß ich bestimmt nicht wähle. Nein, ich unterstelle keine böswillige Absicht. Aber damals wie heute gab es so etwas wie Luftpost, glaube ich. Ich bin der Ansicht, daß die Nebulas unheimlich aufgebläht wurden, was ihre Bedeutung betrifft, und sie sind in der Hinsicht von Bedeutung, daß jeder Verlag sein Titelbild mit ‚Nebula preisträger’ pflastert. Ich halte das für einen Nachteil, weil wir alle in einem kleinen Feld schreiben. Früher waren wir alle ehr lich genug, uns einzugestehen, daß die Hälfte unserer Produkti on reiner Schund war. Daran schuld war der finanzielle Aspekt, obwohl man vielleicht auch mochte, was man da schrieb. In den frühen Tagen war die Bezahlung unglaublich schlecht, aber ge nau da sollte man heute einmal ansetzen. Eine Menge junger Autoren haben heutzutage keinen blassen Schimmer davon. Sie sind in einen Markt eingedrungen, der für sie von Anfang an höher bezahlte. Ich kann nicht sagen, ob das gut oder schlecht ist, aber wenn man eine gewisse Summe für sein erstes Buch bekommen hat, dann tut man sich schwer damit, für das nächste weniger zu nehmen. Und damit wird der Vorschuß zum Status symbol. Wie hoch war sein Vorschuß? Na, wieviel hat er heraus geschlagen?“ Wenn diese Schmährede den Eindruck erweckt, E. C. Tubb sei neidisch oder verbittert, dann muß ich dem widersprechen. Er bringt seine Anschuldigungen trocken und ungezwungen vor, mit einem Achselzucken und einem Grinsen. Wenn er einen erfolgrei chen, bekannten Kollegen erwähnt, wünscht er ihm normalerweise immer alles Gute, denn eigentlich kann nichts daran falsch sein, immer die höchstmögliche Summe herauszuschlagen. Tubb selbst 369
scheint bequem von seinen Einkünften als Schriftsteller und seiner sonstigen Arbeit leben zu können; der Hauch des Wohlstands der gehobenen Mittelklasse liegt in seiner Wohnung, mit den neuen Möbeln und Gardinen, dem Videorecorder unter dem Farbfernse her und Teppichboden in allen Zimmern. Natürlich war es nicht immer so leicht. „Zugleich mit dem Schreiben begann ich meine Arbeit als Verkäufer von Druckmaschinen. In den nächsten siebzehn Jah ren bin ich das mit Unterbrechungen geblieben. Schließlich wollte man mich überreden, den Posten des Geschäftsführers anzunehmen; das trieb mich bald in den Wahnsinn. Dann machte ich Verkaufsvorführungen, erreichte meine Spitze bald als Ver käufer von Messern und Küchengeräten. Darin war ich ganz gut. Ich empfand es als großen Vorteil, gleichzeitig zu arbeiten und zu schreiben. Ich bin kein hundertprozentiger Berufsautor. Dabei verbraucht man sich, und es ist verdammt langweilig, allein mit der Welt, seiner Vorstellungskraft und seiner Schreibmaschine in einem Zimmer zu leben. Man kann jeder zeit mit dem Job aufhören, wenn man eine andere Einkom mensquelle hat. Und was das Schreiben betrifft, kann man ein fach sagen: ‚Heute nicht!’ Wirklich, das ist die einzige Mög lichkeit, nicht durchzudrehen. Die Erkenntnis, ein Schriftsteller zu sein, lähmte mich ir gendwie immer. Ich nehme an, das ist ein Minderwertigkeitsge fühl, das in mir entstanden ist, weil ich niemals eine anständige Erziehung genossen habe. Ich versuchte nicht nur, Englisch zu lernen und zu buchstabieren, sondern auch zu schreiben. Mit vierzehn Jahren ging ich von der Hauptschule ab und suchte mir Arbeit. Ich gab meinen Eltern mein ganzes Geld, egal, wieviel es auch war, zwölf Schilling die Woche, und sie gaben mir zwei als Fahrgeld zurück, und das ging so weiter, bis der Krieg kam und alles durcheinander brachte. Ich habe schon immer gern und oft Science Fiction gelesen. Wir lasen Science Fiction als 370
Fluchtmöglichkeit, denn vor dem Krieg war das Leben sehr erdrückend. Ich glaube, das unterscheidet die Menschen meiner Generation von den jungen Science Fiction-Lesern – wir hatten einen ganz anderen Leseanreiz. Damals lebten wir insofern in einem goldenen und glücklichen Zeitalter, als daß wir für ein paar Groschen in Welten der Phantasie und Zukunft flüchten konnten, die sonst nirgendwo erhältlich waren. Kurz nach dem Krieg trat ich aus der Armee aus und heirate te … Es ist immer komisch, davon zu sprechen, denn alle halten einen für einen maßlosen Übertreiber. Sogar meine Kinder. ‚Wie hast du damals angefangen?’ fragen sie mich. Nun, wir haben mit einem Zimmer angefangen, nicht größer als das hier, etwa acht Quadratmeter. In der einen Ecke war die Wiege mit dem Baby, in der nächsten ein Ausguß; ein Gasherd in der drit ten, und ein Doppelbett, und das war unser ganzes Heim. Das war damals allgemein üblich. Wenn man heute davon erzählt, heißt es immer: ‚Unmöglich, so könnt ihr nicht gelebt haben, das hätten die Behörden niemals erlaubt!’ Genauso könnte man sagen: ‚Für so wenig Geld habt ihr doch nicht arbeiten können – von der Sozialhilfe hättet ihr mehr bekommen!’ Nur gab es damals keine Sozialhilfe, keine bequemen Unterstützungen. Ich glaube nicht, daß diese Lebensweise tugendhaft ist, aber ich glaube ganz bestimmt, daß sie den Charakter formt. Genauso ist das mit dem Wurf ins tiefe Wasser: Man haßt ihn, aber man lernt schwimmen, Herrgott noch mal! Wenn man nichts ge schenkt bekommt und sich alles allein verdienen muß, dann verdient man es sich eben. Wenn Sie so wollen, wiegt die Ent wicklung, die man so macht, all das Elend wieder auf. Damals, als ich an die Magazine verkaufte, war ich ein äußerst fruchtbarer Autor. Ich habe zwar kein Magazin von Anfang bis Ende gefüllt, aber es kommt der Wahrheit verdammt nahe. Ted Carnell brauchte Material, und so brachte er zwei oder drei mei ner Geschichten in einer Ausgabe und erfand schnell ein paar 371
Namen für mich, darunter Charles Grey. Da er drei Magazine gleichzeitig laufen hatte und ich weit mehr als drei Geschichten pro Monat schrieb, pflegte er häufig Pseudonyme zu verwenden. Als ich Herausgeber von Authentic wurde (ein mittlerweile ein gestelltes britisches Magazin), war es mir nicht möglich, meine eigenen Geschichten zu veröffentlichen, so mußte ich wieder Pseudonyme verwenden. Ich schrieb eine Ausgabe praktisch von vorn bis hinten allein, nicht wegen des Geldes, sondern – und das hätte ich nie geglaubt, bevor ich den Job annahm – weil man nur Schrott zugeschickt bekam und die Drucktermine immer näher rückten. ‚lch muß irgendwas schreiben’, sagte ich mir, ‚um diese zehn Seiten zu füllen’, und so schrieb ich eben eine Story. Wir bezahlten damals ziemlich schlecht, und ich konnte mich immer noch billiger verkaufen, um das Budget zu strecken. Ich schrieb die Buchbesprechungen und die Artikel umsonst, und für alles andere bekam ich auch nicht viel. Danach fing ich an, billige Taschenbücher zu schreiben. Ich wurde über’s Ohr gehauen, aber aus seinen Erfahrungen muß man lernen. In den frühen fünfziger Jahren lernte ich in einer Kneipe einen Burschen kennen, der für Curtis Warren als Lek tor arbeitete. ‚Du schreibst die Sache’, sagte er, ‚und ich gebe sie als meine eigene aus, und damit ist sie todsicher gekauft.’ Na, das ist einer der ältesten Tricks. Er behielt das Geld, und ich wurde nur für eins von drei Büchern bezahlt. Er schuldet mir immer noch 54 Pfund, wo er auch stecken mag. Nicht 54 Pfund pro Buch – für beide zusammen! Da steckten wohl vier Wochen Arbeit drin. Auf jeden Fall war das meine erste Erfah rung – man kann niemandem trauen! Später brauchten sie einen Ergänzungsnamen zu Vargo Stat ten (ein Pseudonym, das der englische Autor John Russell Fearn jahrelang benutzte), und so erfanden sie Volsted Gridban für mich. Ich schrieb Western und Gott weiß was alles – einer meiner ersten Romane handelte von der Fremdenlegion. Ich 372
hatte absolut keine Ahnung davon, hatte nur Beau Geste gele sen. Ich kannte also nur den Ausdruck ‚Mon Capitain’. Das schrieb ich alles unter falschem Namen. Ich verfaßte sogar ei nen Kriminalroman, einen ziemlich schlechten, drittklassigen Chandler. Ich hatte die Geschichte geschrieben und mochte sie, aber ich sah keine Möglichkeit, wie irgendeiner das Verbrechen begangen haben konnte. Ich mußte die Hälfte wegschmeißen und einen Charakter einfügen, der mir als Schurke diente. Sonst hätte keiner den Mord ausführen können, alle besaßen Alibis. Und so fiel mir auf, daß meine Schwäche die Plots waren. Und meine Schwäche sind die Plots, das ist der ganze Ärger. Ich schreibe die Story einfach drauflos und muß sie dann planen, während ich weiterschreibe, und das ist gleichbedeutend mit eine Menge Überarbeitungen. Wenn ich sechs Wochen für ein Buch brauche, ist das für mich schon schrecklich lang. Moment, natürlich schreibe ich nicht alle sechs Wochen ein Buch, dazwi schen liegen schon Pausen. Im Moment arbeite ich. Ich habe einen ganz gewöhnlichen Job, den ich wohl bald leid sein werde. Ich arbeite, bis ich es so satt habe, daß ich ein Buch schreiben will. Das habe ich auch schon vorher gemacht. Da habe ich zwei Jahre lang kein einzi ges Wort geschrieben. Ich bin verheiratet, habe zwei Kinder, fünf Enkelkinder und glaube ehrlich gesagt nicht, daß sich irgendwer dafür interes siert. Es gibt keinen besonderen Grund, weshalb ich meine bio graphischen Daten nicht freigeben sollte, aber wenn sie für mich schon so uninteressant sind, dann müssen sie andere Leute doch teuflisch langweilen. Man kommt sich so unzugänglich vor, wenn man nichts bedeutendes geleistet hat. Ich werde mich immer an den äußerst deprimierenden Moment erinnern, als ich John W. Campbell auf einem Con begegnete. Er sah mir in die Augen – und ich hatte an diesen Mann verkauft, obwohl ich nicht damit rechnete, daß er sich noch an mich erinnerte – und 373
er sagte, ‚Tubb’, sagte er, ‚erzählen Sie mir was von sich!’ Und ich erschauderte. Wie kann man solch eine Frage beantworten und dabei ehrlich bleiben? Solche Leute müssen diese Frage täglich stellen. Die Antwort ist ihnen egal. Zum einen habe ich all die Dinge getan, die man von einem Schriftsteller erwartet. Und dann habe ich in all diesen anderen Berufen gearbeitet – in jenen Tagen arbeitete man in einer Men ge Jobs, weil man nirgendwo lange blieb. Wenn man kein braver Junge war, wurde man gefeuert, und ich war kein guter Junge. Ich lieferte ein Handtuch am Vordereingang ab, und als ich zur Firma zurückkam, wurde ich entlassen – weil man Handtücher nicht am Vordereingang abliefert, sondern am Dienstbotenein gang. Das ist mir wirklich passiert. Dann habe ich Teller gewa schen und in Hotels gearbeitet und war Aushilfskoch – buchstäb lich – aber immer nur zehn Tage lang, bis ich den Laufpaß be kam. Aber das ist immer noch nicht genug. Wenn man das alles erzählt, dann denken die Leute: ‚Nein, das kann ich nicht glau ben, das ist ein Klischee, das ist getürkt.’ Also rede ich nicht gern darüber. Ich versuche, mir etwas anderes auszudenken … Nun, was ich auch sage, man muß sich etwas einfallen lassen. Warum soll ich mir darüber den Kopf zerbrechen? Schriftsteller sind pro fessionelle Lügner; alles, was man über sie liest, muß schließlich Teil einer Lüge sein. Man muß sich ein wenig herausputzen, die die Dinge etwas aufpolieren. Etwa so: ‚lch habe eine wunder schöne weißrussische Gräfin geheiratet, sie wurde meine erste Frau; ich war sechzehn und sie einundzwanzig, und sie versprach mir einen Landsitz in Estland … das arme Mädchen, ich werde den roten Fleck unter dem Bus nie vergessen.’ Und dann spielt die Balalaika, und die Leser sagen: ‚Ah, der Mann hat ein Leben geführt, der hat wirklich gelebt!’“ London, im Juni 1979
374
Bibliographische Anmerkungen E. C. Tubb hat so viele Abenteuerromane unter so vielen Na men geschrieben, daß es mir schwerfällt, eine kurze Auswahl zu treffen. Von den einundzwanzig bislang veröffentlichten Dumarest-Romanen war Gath, Planet der Stürme (1967, dt. 1969) der erste. Die Serie benutzt als Hintergrund ein galakti sches Reich, das in tiefe Dekadenz gestürzt ist und von zombie ähnlichen Menschen, die telepathisch mit einem Computer ver bunden sind, beherrscht wird. Dumarest befindet sich auf der ewigen Suche nach der Wiederentdeckung des vergessenen Planeten Erde. The Space Born (1965) schätzt Tubb von seinen Büchern am meisten. Auf einem interstellaren Generationenschiff angesiedelt, deutet der Roman an, daß die Bevölkerung einer solch geschlos senen, künstlichen Gesellschaft durch die „Todeskontrolle“ im Gegensatz zur Geburtenkontrolle begrenzt gehalten werden könnte – ein Konzept, das Tubb für originell und zu wenig be achtet hält. Ein weiterer früher, bekannter Roman ist Die Marskolonie (1955, dt. 1961), eine starke, dramatische Geschichte über inter planetare Forschung. Der Roman liest sich nach über zwanzig Jahren noch immer gut, obwohl die Entwicklung der Technik einige der Annahmen des Romans über die Weltraumfahrt überholt hat.
375
Ian Watson Oh, Grauen des Universitätslebens! Belesen wirkende Disserta tionen, formale Analysen, Fußnoten, Exkursionen, inhaltsbezo gene Debatten, qualifizierte Schlußfolgerungen, all diese Pe danterie und Gelehrtenhaftigkeit, die so oft Unverständliches sagt – und das in einer elaborierten, aufgesetzten Sprache, deren Kruste, wie die von weichem Weißbrot, einen überhaupt nicht ernährt, wenn man sie erst einmal verinnerlicht hat. Immer wenn ich mich auf den Straßen von Oxford oder Cambridge wiederfinde, umzingelt mich das Grauen des Uni versitätslebens. Die gepflegten alten Steingebäude, die so wür dig und geschichtsträchtig aussehen und ein Teil unseres briti schen Kulturerbes sind, sagen einem sofort, daß man jeden, der hier wohnt, ausgesprochen ernstnehmen muß. Hier stellt sich das schwerfällige Erbe der Formalausbildung und des höheren Lernens zur Schau – mit dem vorprogrammierten, versimpelten und homogenisierten Stoff, den sie auf den provinziellen Uni versitäten verteilen, hat man hier nichts am Hut. Dies hier ist authentisch, die wahre Sache, komplett mit Tweedjackett und 376
Bruyerepfeife. Oh je, und da kommt mir auch schon auf diesem altmodisch gepflasterten, von Wind und Wetter mitgenomme nen Bürgersteig jemand entgegen, der wirklich ein Tweedjac kett trägt und eine Bruyerepfeife raucht. Da bin ich kaum eine Minute in dieser Universitätsstadt, und schon läuft mir ein Bil derbuchakademiker über den Weg. Ich gehe jede Wette ein, daß er seinen M. A. gemacht hat. Und da drüben kommt der näch ste. Er fährt auf einem Fahrrad. Aber Fahrräder fahren sie doch alle, oder nicht? Herrlich exzentrisch und aufregend, diese Bri ten. Sie staken den Fluß weit hinunter, schauen sich begeistert ein Rugbyspiel (im Winter) an und spielen Cricket (im Som mer). Hin und wieder genehmigen sie sich auch einen Tropfen Sherry oder einen Schluck Portwein – und all diese Klischees stimmen – man führt sie mir todernst vor. Natürlich habe ich meine Vorurteile, denn ich habe Cam bridge selbst den Rücken gekehrt. Nein, das ist eine Untertrei bung. Cambridge trieb mich in alkoholische Depressionen und selbstmörderische Verzweiflung. Ich bin schreiend davonge rannt. Das ist natürlich Jahre her … und inzwischen muß sich auch in dieser alten Universitätsstadt etwas getan haben … Ich meine, als ich mein College verließ, hatte man gerade den Plan gefaßt, beide Geschlechter zusammen zu unterrichten (man fing mit dreißig Studentinnen an, das war ein gewagtes „Experi ment“). Heutzutage, habe ich mir sagen lassen, braucht man nicht einmal mehr eine Robe anzuhaben, wenn man in der Ca feteria des Colleges das Mittagsessen zu sich nimmt! Oxford und Cambridge sind zweifellos dabei, in die nächstjüngste Ver gangenheit vorzustoßen. Was also macht Ian Watson, der in Oxford lebt? Ist dieser strahlende, neue Science Fiction-Autor, der einzige britische Neuling, der während der siebziger Jahre einen Eindruck auf dem amerikanischen Markt hinterlassen hat, ein Angehöriger der akademischen Klasse? Nun, Watson hat zwar seinen Abschluß 377
in Oxford gemacht und kann in gewisser Weise als ernsthafter Akademiker gesehen werden, aber er ist nicht altmodisch. Er ist sowohl brüsk als auch einnehmend. Und im Inneren des altmo dischen kleinen Terassenhauses aus Stein, in dem er mit seiner Frau Judy und seiner fünfjährigen Tochter wohnt, ist alles zeit gemäß und auf dem modernsten Stand. Die einzige Charaktereigenschaft, die Watson am ehesten mit anderen Universtitätsabsolventen teilt (oder die man ihm dort anerzogen hat), ist seine Neigung, in theoretischen Termini zu denken und zu argumentieren. Am besten scheint er sich zu fühlen, wenn er mit konzeptuellen Abstraktionen spielen kann. Obwohl dies eine Schwäche sein kann (Leute, die viele Abstrak tionen benutzen, sind selten stark, wenn sie einen Charakter beschreiben müssen), ist dies bei Watson nicht der Fall. Seine eher unvoreingenommene Perspektive hat ihn dazu befähigt, eine Reihe von Romanen zu schreiben, die durch ihre originellen Ideen ziemlich bemerkenswert sind. Wenn man Watsons Texte liest, gewinnt man den Eindruck, daß einem nicht einmal ein besessener Universitätstheoretiker – etwa ein junger Fred Hoyle –, der über Tee und Keksen in der Mensa über die Realität und das Universum diskutiert, eine größere intellektuelle Stimulans verabreichen könnte. Wer ist Ian Watson? „Ich wuchs bei Tyneside auf. Irgendwann wollte ich ganz feste Wissenschaftler werden. Ich habe drei Disziplinen abgerissen bis zum geht nicht mehr. Aber da ich keine große Leuchte war, bin ich zu Latein, Geschichte und Englisch übergewechselt. Als ich sechzehn war, hatte ich die Chance, in Oxford englische Sprache und Literatur zu machen und anschließend – wie jeder – in die Forschung zu gehen. Ich war ganz gut, also machte ich – wie alle – Researcharbeit und hängte mich an die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Damals hatte ich mir schon vorgestellt, einmal Schriftsteller zu werden. Ich hatte bloß keine Ahnung, über was ich schreiben 378
sollte. Ich hatte schon ziemlich lange Science Fiction gelesen. Ich bin schon sehr früh korrumpiert worden, möglicherweise waren die Eagle-Comics dafür verantwortlich, daß ich 1953 auf SF umstieg. Ich habe damals aber nicht daran gedacht, Science Fiction-Autor zu werden. Ich liebte das Genre zwar, aber die Literatur war doch was ganz anderes, eher etwas Heiliges. Ich hielt sie jedenfalls für etwas besonders Heiliges, und wenn man nach Oxford kommt, wird man in dieser Ansicht natürlich noch bestärkt. Ich flegelte mich also auf der Wiese herum und las die ziemlich gewaltigen romantischen Ästheten des späten neun zehnten Jahrhunderts – und solche Sachen wollte ich dann auch schreiben. Als ich in Oxford war, schrieb ich dann einen gewal tigen Schrott, und als ich die Research-Phase hinter mir hatte, brachte ich es fertig, zwei Kurzromane hinzukriegen; es war eine ziemlich gestelzte Prosa, die sich auf die damals gegenwär tige Realität bezog. Den ersten schickte ich an Calder (einen britischen Hardcover-Verleger). Man bekundete zwar Interesse, aber dann wurde er doch abgelehnt. Im Jahr 1965 bekam ich dann eine Anstellung bei der Uni versität von Ostafrika; das übliche, was einem angeboten wird, wenn man seinen Research-Abschluß bekommen hat in Oxford – man wird dann in den Bildungskreislauf des Commonwealths eingespeist. Ich war damals schon verheiratet; ich war schon als Student verheiratet. Wir gingen also nach Tansania, und ich behandelte dort Jane Austen und James Joyce. Es war gleichzei tig eine langweilige und heiße Erfahrung, denn dort fing ich erstmals an, über Politik nachzudenken. Gleichzeitig las ich alles, was mir an Science Fiction zwischen die Finger kam. Erst als ich nach Japan kam, wurde mir klar, daß die Science Fiction mein Thema war. Ich hatte mich um einen Universitäts job in Kamerun beworben, aber die Leute von der Vergabestelle sagten: ‚Wir sind der Meinung, daß Sie nicht dorthin gehen sollten. Wir würden lieber jemanden nach Kamerun schicken, 379
der von vornherein einen ernsthaften Dachschaden hat. Es wäre besser für Sie, wenn Sie nach Tokio gingen. Wenn Sie nach Kamerun gehen, werden Sie durchdrehen.’ Und so bekam ich diesen Job in Tokio, wo ich englische Literatur und englische Lebensweise unterrichtete. Als ich in Japan war, wurde mir vollends klar, daß die Science Fiction das war, was ich schreiben sollte, denn da war ich einer Umgebung ausgesetzt, die das ultimate 21. Jahrhundert verkör perte. Ich ging dort unter in all den im Überfluß vorhandenen technischen Spielereien; es war ein wahres Durcheinander von traditioneller Kultur und futuristischem Ichweißnichtwas. Und gleichzeitig lebte ich in einem Katastrophengebiet; die zogen da einen Wolkenkratzer nach dem anderen aus dem Boden, ob wohl die Gegend dort ständig von Erdbeben geschüttelt wird und schon die Wände der Neubauten Sprünge aufweisen, denn erdbebenfest wird da nicht gebaut. Das Technologie-Bombarde ment, das dort auf das tägliche Leben einer ungeheuren Menge von Menschen einwirkt, treibt die tollsten Blüten – es gibt zum Beispiel Taxis, die mit Münzfernsehern ausgerüstet sind. Wäh rend ich durch Tokio fuhr, sah ich mir die Watts-Unruhen auf dem Bildschirm an. Und dann all die Monsterfilme, Verrückt heiten und über einem wegfliegenden Ballons – und der schie re Spaß, den man dabei empfindet, ist gleichbedeutend mit dem reinen Tod, der langsamen Vergiftung der Luft. Unter diesen Umständen, so schien mir, sollte es keine Schwierigkeit sein, einen anspruchsvollen Endzeit-Roman zu Papier zu brin gen. Einiges von dem Material, das ich in Japan sammelte, ist in Der programmierte Wal (Watsons zweiten Roman) aufgegan gen. The Embedding (sein Erstling) enthält ein bißchen von Tansania, aber der größte Teil spielt in Brasilien. Es macht mir Spaß, mich in Kulturen hineinzufinden, die ich vorher nicht kannte, denn wie kann man sich in seiner Phantasie einen frem 380
den Planeten ausmalen, wenn man sich nicht mal vorstellen kann, wie es auf anderen Stellen der Erde aussieht?“ Bevor er dazu überging, Romane zu schreiben, hat Watson – noch in Japan lebend – seine ersten Kurzgeschichten produziert. Da das einzige Science Fiction-Magazin, das er einigermaßen kannte, New Worlds war, schickte er seine Texte dorthin. In New Worlds gab er auch sein Debüt – zusammen mit seiner Frau, einer talentierten Graphikerin. Watson weist allerdings darauf hin, daß er die „Neue Welle“ in der Science Fiction, für deren Durchsetzung New Worlds sich stark machte, nicht son derlich enthusiastisch aufgenommen hat. „Ich hielt all diese Sachen für prätentiöse Schaumschlägereien. Wenn wir das Magazin lasen, gingen wir jedesmal an die Decke. Dann hieß es: Guck dir diesen prätentiösen Quark an! Da können wir doch viel bessere Sachen machen. Und wir werden auch bessere Sachen machen!’ In diesem Sinne bin ich also kein Autor der Neuen Welle. Ich habe lediglich darauf reagiert. Viele der Texte, die die Neue Welle geschaffen hat, kamen mir gera dezu abscheulich weinerlich und aufgeblasen vor. Als ich die erste Geschichte an New Worlds verkaufte, dachte ich natürlich, nun, vielleicht ist doch noch nicht alles verloren … Als ich aus Japan zurückkam, kam mir Großbritannien wie das neunzehnte Jahrhundert vor, wie ein Land voller Autos mit altmodischen Benzinmotoren, das man durch eine zwei Meter dicke Glasscheibe sieht. Als ich The Embedding schrieb, befand ich mich in einem Zustand blanker Wut. Das monatlich erscheinende New Worlds hatte aufgegeben (Michael Moorcock gab zu diesem Zeitpunkt in unregelmäßigen Abständen Anthologien im Taschenbuch format heraus, die den alten Titel trugen). Etwa sechs Monate später bekam ich einen Zettel von Moorcock, auf dem stand: ‚Kann deine Story leider nicht brauchen; versuch’s später noch mal.’ Das bedeutete, in sechs Monaten, bis er die nächste 381
Nummer in Angriff nahm, die dann wieder seine Freunde füllen würden. Ich schrieb The Embedding in einem Anfall von Weiß glut; die Urversion zeigt das viel deutlicher, sie wäre ein Schlag ins Gesicht einer jeden Leserschaft gewesen. Ich schickte sie an Gollancz, und dort sagte man, in dem Ding steckt eine interes sante Story, können Sie sie vielleicht in einem einfachen Eng lisch herausarbeiten?“ The Embedding war ein ungewöhnlicher Roman, der zwar im Aufbau einige Schwächen aufweist, aber sehr phantasiereich ist. Obwohl Watson ein unbekannter und obskurer britischer Schriftsteller war, brachte ihm dieses Buch in Amerika sofort eine große Anhängerschar ein. Ich frage Watson, ob er weiß, wie das passiert ist, da man ihm den Weg weder mit Promotion noch mit irgendwelchen Anzeigenkampagnen geebnet hat. „Ich bin mir da nicht ganz sicher. Ich schätze, daß das Buch gute Kritiken bekam. Michael Bishop hat es in Locus bespro chen, und es bekam auch eine gute Rezension in der New York Times – von Gerald Jonas. Damals wußte ich einfach noch nicht genug, um mir klarzumachen, daß da so etwas wie ein Wunder geschah. Das Buch kam auch in Frankreich gut an; es hat da den Prix Apollo gewonnen. Seither haben sich die Franzosen als sehr empfänglich für meine Sachen erwiesen. Jetzt, im Nachhinein, bin ich eher verwundert; ich hätte mir wirklich nie träumen lassen, daß jemand diesem Buch dermaßen viel Auf merksamkeit schenken würde. Ich bin ziemlich eng mit dem Verlag Gollancz verbunden – besonders mit John und Sheila Bush (John Bush ist der Verlags leiter von Gollancz). Sobald sie ein neues Manuskript zu sehen bekommen, fallen sie darüber her und verlangen, daß ich eine ganze Menge ändere. Alle Bücher, die ich bisher für sie ge schrieben habe, mußte ich später noch einmal umarbeiten. In der Regel haben John und Sheila bei allem, was sie geändert haben wollen, Recht. Sie setzen mir mächtig die Daumen 382
schrauben an. Das heißt aber nicht, daß ich faul wäre – tatsäch lich verbessere ich meine Manuskripte ununterbrochen. Jedes Buch wird mindestens fünfmal neu abgeschrieben. Aber mein Fehler ist es wohl, daß ich zuviel in sie hineinpacke, das man auch herauslassen könnte, und bei der ersten Version gelingt mir das einfach nicht. In der Regel gehe ich mit den Bushs essen, dann köpfen wir eine Flasche, und dann legen sie los. Sie lesen tatsächlich alle Bücher – sogar zwei- oder dreimal – und machen sich dann Zettel voller Notizen. Meine strengsten Kritiker sind nicht die Kritiker, sondern meine Verleger. Aber sie haben aus nahmslos Recht.“ Ich frage Watson nach seinem Geschmack als Leser. „Ich mag Philip K. Dick sehr gern – oder seine mittlere Peri ode, wo die Realität stets aus den Fugen gerät. Frank Herbert fasziniert mich wegen der Themen, denen er sich widmet. Die Tatsache, daß er sie oft in einem Ruckzuck-Cowboy-und lndianer-Stil abhandelt, stört mich weniger als es mich stören sollte, weil ich mich mehr für die Struktur der Dinge interessiere, die er erforscht. Seine Themen interessieren mich ungeheuer stark, aber gleichzeitig erkenne ich natürlich seine Besessen heit, die schlechte Politik und die Fehler, die er begeht. Piers Anthony interessiert mich auch. Auch er gehört zu die sen entsetzlichen Autoren, die sich mit höchst interessanten Themen beschäftigen. So weit ich es beurteilen kann, stößt er jede Woche eine neue Trilogie aus, aber ich lese sie alle, trotz der abscheulichen Fehler, die er begeht. Er ist wirklich sehr in teressant.“ Und wen mag Watson nicht? Es fällt ihm sichtlich schwer, sofort mit einem Namen auf zuwarten. „Es gibt eine Menge Science Fiction, die ich mag“, erklärt er. Und dann: „Heinlein finde ich völlig unlesbar. Ob seine Sachen nun alt oder neu sind, sie sind alle abscheulich, sie bedeuten mir nichts, überhaupt nichts.“ 383
Watson redet schnell, und ebenso sind seine Bewegungen. Er ist von einer deutlich wahrnehmbaren Ausstrahlung intellektu eller Agilität umgeben und geht an jede Frage mit einem brüs ken, aber kooperativen Geist heran. Ich habe das Gefühl, daß man ihn alles fragen kann, egal wie persönlich die Fragen auch immer ausfallen, und er wird in der gleichen abgeklärten und kultivierten Art und Weise Antwort stehen, ohne Böses dabei im Sinn zu haben. Aber andererseits hält mich seine Gelassen heit auch davon ab, zu persönlich zu werden. Ich komme mir deplaziert vor – wie ein Biertischpolitiker in einer Expertenrunde: unvorbereitet, schlecht in Form und nicht ausgelastet. Es ist leichter, über Watsons Arbeit zu sprechen als über ihn selbst, speziell unter dem Gesichtspunkt, daß viele der Ideen, die er in seinen Science Fiction-Romanen verarbeitet, solche sind, bei denen er sich etwas gedacht hat. Sein fünfter Roman macht da keine Ausnahme: „Zur anderen Seite des Mondes ist ein Roman, der die Frage zu beantworten versuchte, was UFOs möglicherweise sind. Es gibt ein UFO-Phänomen; es ist in dem Sinne schwer verständ lich, daß es die Leute einerseits anspricht, ihnen aber anderer seits jede Art eines schlagenden Beweises für ihre Existenz verweigert, obwohl es körperliche Spuren hinterläßt, etwa als Echos auf Radarschirmen und dergleichen. Es scheint sich bei dieser Sache gleichzeitig um ein psychisches oder psychologi sches Problem zu handeln, das irgendwo zwischen der Realität und dem Vorstellungsvermögen liegt. Und auf diese Weise habe ich das Phänomen zu analysieren versucht. Die Idee, die ich in Zur anderen Seite des Mondes entwickelte, erscheint mir richtig … Es war eine plausible, nichtkranke Sichtweise, auch wenn sie weit hergeholt erscheint … Aber das trifft auf einen Teil der modernen Physik ebenso zu. Vielleicht sollte man die Jungsche Erklärung (des UFO-Phänomens) so auffassen, daß er einfach nicht ganz mit der Sprache herausrücken wollte. Er wollte ein 384
fach nicht allzu tief in die ganze Materie eindringen. Seine Er klärung, daß die Leute ihr kollektives Wunschdenken damit ausdrücken, ist schon in Ordnung, aber ich finde trotzdem, daß man noch einen Schritt weitergehen und aussprechen soll, daß Wunschvorstellungen nicht ohne Auswirkungen auf die Realität bleiben und sich selbst aus dem Verkehr ziehende, selbstmörde rische Formen annehmen können. Soweit es mich betrifft, ent halten die UFOs jedenfalls keine Extraterrestrier. Sie spiegeln höchstens extraterrestrische Lebewesen vor, die die gleichen Rollen spielen wie die Feen in den Märchen und andere unge wöhnliche Erscheinungen. Ich habe versucht, eine allgemeine Theorie zu entwickeln, die auch zu den Hauptthemen meiner Bücher paßt und die Überlappung von Realität und Bewußtsein betrifft: Zu welchem Grad hat das reale Universum bei unserem realen Vorstellungsvermögen Pate gestanden? Ich versuche dahingehend auf meine Leser einzuwirken, daß ich sie gegenüber den Steuerungsprogrammen, die ihre Gehirne am Laufen halten, bewußter mache – ich tue also das, was John Lilly als ‚metaprogramming’ bezeichnet. Es interessiert mich, Denkstrukturen zu untersuchen und den Lesern dann Geschich ten vorzusetzen, die sie dazu bringen, etwas über die Muster nachzudenken, nach denen ihr Denken abläuft und welche al ternativen Denkstrukturen sie annehmen könnten. Ich bin der Meinung, daß Science Fiction davon handeln sollte. Sie sollte einem ein alternatives Realitätsmuster vorsetzen, eine andere Möglichkeit, die Realität und das Universum konzeptuell zu erfassen. In der orthodoxen Science Fiction – in der nur irgendwelche heldenhaften Kleingeister durch das Environment stolpern – tendiert man dazu, die objektiven Wechselbeziehungen des Fremdartigen aufzuzeigen, ohne die darunterliegende psycholo gische Andersartigkeit mit einzubeziehen. Was ich wirklich tun möchte, ist das Erforschen fremder Gedankenstrukturen, denn 385
wenn man in der Science Fiction fremde Lebewesen auftauchen läßt, kommt man daran gar nicht vorbei. Mein Fehler ist aller dings, daß ich dazu neige, philosophisch-abstrakte Bücher zu schreiben und deshalb meine alten Schwächen – ästhetische Frivolität, dekadente Prosa und detaillierte Überzogenheit – unter Kontrolle halten muß. Indem ich in der Science Fiction arbeite, die ja starke Aben teuerelemente beinhaltet, wird mir das gelingen. Vielleicht kann ich hier sogar eine klarere Botschaft abgeben als anderswo.“ Oxford, im Juli 1979
386
Bibliographische Anmerkungen Die Hauptthemen in Watsons zuerst veröffentlichtem Science Fiction-Roman, The Embedding (Das Babel-Syndrom, 1983) (1973), sind die Anthropologie und die Auswirkungen, die eine experimentelle Psychologie auf die Leute hat, die sie studieren. Darin ist die Realität eine Funktion des mentalen Vokabulars. Das Buch geht von der Prämisse aus, daß eine isolierte Gruppe von Kindern, die man zu einer anderen Denkweise erzogen hat, in einer Realität leben, die sich von der unserigen nicht nur un terscheidet, sondern auch andere Naturgesetze hat. Ähnliche Konzepte vertreten auch Watsons spätere Bücher, etwa Der programmierte Wal (1975; dt. 1977) und Das Mars-Koma (1977; dt. 1980), die beide das Thema anderer oder höherer Realitätsebenen behandeln, die man mittels Drogen oder Kom munikationstheorien erreichbar machen kann. Sein momentan aktuellster Roman ist God’s World (Die Himmelspyramide, 1983). Es gibt aber auch noch ein Watson sches Frühwerk, das bisher in englischer Sprache noch nicht erschienen ist. In Frankreich ist der Roman unter dem Titel Or gasm Machine publiziert worden; sein Originaltitel lautet The Woman Factory. In dieser (in Zusammenarbeit mit seiner Frau Judy entstandenen) Science Fiction-Satire beschreibt Watson eine weibliche Rebellion gegen ein totalitäres, von Männern beherrschtes Zukunftsregime. Der sexuelle Inhalt des Buches hat eine Veröffentlichung in England bisher unmöglich ge macht.
387
John Brunner Viele der in einer nahen Zukunft spielenden Romane John Brunners handeln von Amerika. Sie sind in einem ‚amerikani schen’ Stil geschrieben, verdeutlichen die Krisen des Stadtle bens und erforschen die Zukunft einer technologisch hochent wickelten Gesellschaft. Paradoxerweise ist Brunner Brite und lebt in einem stillen, altmodischen Dörfchen in der südwestlichen Ecke Englands – umgeben von Bauernhöfen und Äckern. Wenn er mit dem Hund Gassi oder einkaufen geht, grüßt er die anderen Dorfbewohner, die ihm auf der Straße begegnen, mit Namen. Hier gibt es keine Krisen – das einzige, was ihm aufregende Stunden verschafft, ist das Folk-Music-Festival, das seine Frau Marjorie einmal im Jahr organisiert. John Brunner lebt zurückgezogen in einer friedlichen Umgebung. Sicher, er ist ab und zu in Amerika – und keinesfalls von
388
London abgeschnitten, aber es scheint, als würde er das Leben am heimatlichen Herd und die Entfernung von dem, das er fort gesetzt in seinen Büchern beschreibt, bevorzugen. Er hält seine Themen stets eine Armlänge von sich. Dieser Abstand ist natürlich auch ein Weg, um unabhängig zu bleiben und die Kontrolle über sich zu bewahren. Seine Le bensart unterscheidet sich sehr stark von der eines Harlan Elli son, der es nicht ausstehen kann, von der Action abgeschnitten zu sein und die radikale Philosophie seiner Texte auch im wirk lichen Leben auslebt. Auch ist Ellisons Schreibe oft dramatisch und attackiert soziale Probleme durch aggressiven Aktivismus, während Brunners Werke ihren Themen stilistisch angemessen sind und diszipliniert die gleichen Probleme auf der Basis von Diskussion und Diplomatie abhandeln, anstatt mit dem Brechei sen anzukommen und den Leuten die Schädel einzuschlagen. Brunner erweckt in einem beinahe den Eindruck, als würden unsere Probleme erst gar nicht aufkommen, wenn wir uns nur dazu durchringen könnten, rationaler zu leben und uns kulti vierter zu verhalten. ,,lch sehe mich gern als eine ausgeglichene Person“, erzählt er. „Als ich noch ein kleiner Junge war, war ich stets derjenige, den man hänselte, bloß um ihn explodieren zu sehen. Aber ich kam dann zu der Ansicht, daß dies nicht gut sei, wie immer man auch dazu stehen mochte, und gab es auf. Im Laufe der Jahre, in denen ich mich besser kennengelernt habe, ist es mir gelungen, die Welt ein wenig ausgeglichener und nicht mehr so leiden schaftlich zu interpretieren.“ Er unterhält sich mit mir in ruhigem Tonfall im ziemlich ele ganten Wohnzimmer seines hübschen, alten Hauses (das, wie er zurückhaltend sagt, „früher das Dienstbotenquartier des Land hauses nebenan“ war.) An den pastellfarbenen Wänden hängen moderne abstrakte Gemälde im Großformat; in der Ecke stehen ein mächtiges Piano und bequeme Armsessel. Über den Blu 389
menmusterteppich wandert eine Siamkatze. Im Nebenraum: Ein Radio, das klassische Musik spielt. Ein plötzlicher Geistesblitz schlägt mich in seinen Bann: Die Tür fliegt auf. Drei militante schwarze Amerikaner aus dem Getto stürzen herein. Sie sind mit Flinten, Gasmasken und Handgranaten beladen. Ihre Klei der sind zerfetzt und verschmiert, und sie sehen gemein und zu allem entschlossen aus. Einer von ihnen richtet seinen Kracher auf Brunner und sagt: ‚Die Flossen hoch, Männeken! Wir kommen, um unseren Anteil abzuholen! Unsereins wirst du nicht mehr ausbeuten, Schätzchen!’ Und John Brunner (stelle ich mir vor) läßt sich gar nicht aus der Ruhe bringen. ‚Ich weiß, daß die kulturelle Unterdrückung Schuld an dem verzweifelten Zustand ist, in dem ihr euch jetzt befindet. Aber ihr seht doch wohl ein, daß Gewalt nicht not wendigerweise auch der beste Weg ist, um gleiche Rechte zu erlangen. Meine Frau und ich haben die Bürgerrechte immer unterstützt. Und wir haben sogar den Martin-Luther-King-Preis institutionalisiert. Wollt ihr also nicht lieber die Waffen ablegen und zum Essen bleiben? Vielleicht finden wir für heute Nacht sogar noch einen Schlafplatz für euch. Na, wie wärs?’ Woraufhin die Guerillas – vielleicht – ausrufen: ‚He, das ist ja kernig, Mann! Richtig cool! Du bist ja in Ordnung, Baby!’ Und wieder einmal hat der Kompromiß über die Unvernunft triumphiert. Kultivierte Umgebungen wie diese, über die auch noch ein bescheidener und freigeistiger Hausherr gebietet, verleiten mich immer zu derart subversiven Phantasien. In Wahrheit hat John Brunner allerdings verdient, daß man ihn ein bißchen ernster sieht. Er hat tatsächlich den Martin Luther-King-Gedächtnispreis gestiftet, der alljährlich für ein literarisches Werk vergeben wird, das die Beziehungen zwi schen den Rassen fördert. Und er ist ernsthaft bestürzt über alle Arten von Vorurteilen. „Ich halte es für ziemlich alarmierend“, 390
sagt er in der für ihn typischen Milde, „daß es Leute gibt, die andere hassen, obwohl sie ihnen nie begegnet sind und alles, was sie über sie wissen, aus der rechten Presse beziehen. Es gibt erstaunlich viele Vorurteile gegenüber Farbigen, sogar hier auf dem Dorf. Aber wenn man einen Farbigen zu Besuch hat, zeigt sich das nie offen. Ich muß schon sagen, daß solche An sichten mich ziemlich enttäuschen.“ Als Science Fiction-Autor hat John Brunner sich zunächst einen Namen als Verfasser spannender Weltraumabenteuer ge macht, in denen soziale Themen überhaupt nicht angeschnitten wurden. Der Wendepunkt kam für ihn erst 1968, als er seinen bis dato ehrgeizigsten Roman vorlegte: Morgenwelt. „Ich war der Meinung“, erinnert er sich, „daß ich dem Weg, den ich bis dahin gegangen war, nicht mehr weiter folgen konnte. Ich hatte hauptsächlich Brot-und-Butter-Klamotten für den Verlag Ace geschrieben. Ace war im wahrsten Sinne des Wortes der Verlag, dem ich verdankte, daß ich mich ernähren konnte. Als ich anfing, für Ace zu schreiben, brachten sie etwa sechzig Science Fiction-Titel pro Jahr heraus. Ich schulde ihrem bemer kenswerten System, einen neuen Autor zusammen mit einem etablierten zu verkaufen, eine Menge.“ (Ace brachte damals Taschenbücher heraus, die man von beiden Seiten lesen konnte, da sie zwei Romane enthielten). „Hin und wieder, in Intervallen von einem Jahr oder so, ver suchte ich, die geradlinigen Abenteuerromane mit ehrgeizigeren Stoffen zu durchsetzen. Die besten Beispiele dafür sind, glaube ich, meine Romane Die Plätze der Stadt und Der ganze Mensch, in dem ich das Thema einer Gesellschaft behandelte, in der die Telepathen Funktionen ausübten statt Ausgestoßene oder ‚Slans’ zu sein. Indem ich mich selbst diesen unregelmäßigen Übungen ausgesetzt hatte, kam ich zu der Ansicht, meine handwerklichen Fähigkeiten bis zu einem gewissen Punkt weiterentwickelt zu haben. Was ich nun wirklich brauchte, war eine größere Heraus 391
forderung, denn ich wollte nun genau wissen, wieviel ich in meinen Lehrjahren gelernt hatte. Mein damaliger literarischer Agent in London brachte mir dann einen Auftrag des Verlags Penguin Books, für den ich für einen garantierten Vorschuß von 1500 Pfund zwei Bücher schreiben sollte. Man wollte mich in vierteljährlichen Raten bezahlen. Bei den damaligen Honoraren war das natürlich ziemlich großzügig, und so dachte ich mir, jetzt, wo du weißt, wie es geht, hast du endlich eine Chance. Ich machte Vorschlä ge für drei Bücher, von denen der Verlag die beiden auswählte, die ich am liebsten machen wollte, und ich verbrachte das Jahr 1966 damit, sie zu Papier zu bringen. Das erste war Treibsand, das zweite Morgenwelt. Der Verlag hat sie dann beide abge lehnt – im letzteren Fall blieb er sogar länger auf dem Manu skript sitzen, als ich daran gearbeitet hatte.“ Schließlich aber fand sich ein anderer britischer Verleger, und in Amerika bekam Morgenwelt den Hugo Award für den besten Roman des Jahres 1968. Brunner sagt „Ich bekam eine Menge ausgezeichneter Besprechungen – nicht nur in der Science Fiction-Presse, sondern auch in der allgemeinen, die ich aber lieber nicht zitieren will, obwohl einige davon zu mei nen bestgehütetsten Schätzen gehören. Als ich erfuhr, daß man mir den Hugo verliehen hatte, war ich platt. Offenbar habe ich mit diesem Buch ganz schön in einer offenen Wunde herumge stochert. Als ich es konzipierte, begann ich mit der Frage: An genommen, in einer total überbevölkerten Welt, in der die Leute nach einigem Zögern dazu übergegangen sind, die ‚Erbgesund heitslehre’ zu akzeptieren, taucht plötzlich jemand auf, der eine Möglichkeit entwickelt hat, aus einem Embryo das Optimum herauszuholen? Mir wurde klar, daß ich, um eine zukünftige Welt wie diese überzeugend darstellen zu können, etwas ma chen mußte, das sich radikal von all meinen bisherigen Arbeiten unterschied. Und dann begriff ich, daß ich gar keine eigene 392
Schreibtechnik zu entwickeln brauchte. Ich konnte mir nämlich eine klauen, und zwar die, die John Dos Passos in seiner USATrilogie angewendet hat.“ Ich frage ihn, ob es ihm Probleme bereitet hat, sich etwas auszudenken, mit dem er nach Morgenwelt weitermachen konn te. „Ich hatte ein Problem, und das ist auch der Grund, weswe gen Morgen geht die Welt aus den Angeln, mein nächstes Werk von größerer Bedeutung, nicht so gut war. Ich machte mich zu hastig an die Arbeit und fragte mich dabei ständig, ‚Schreibe ich das Buch nun, weil es danach schreit, geschrieben zu wer den, oder schreibe ich es, weil die Methode bei der Morgenwelt so gut hingehauen hat?’ Ich bin also der Meinung, daß Morgen geht die Welt aus den Angeln ein Buch ist, das Mängel hat.“ Und dann folgte ein Titel, der möglicherweise Brunners fin sterste Prophezeiung enthält: Schafe blicken auf. Auch dieses Buch ist von bemerkenswerter sozialer Relevanz. „Ich wollte etwa alle zwei Jahre eine solche Arbeit in Angriff nehmen“, sagt Brunner. „Öfter ist es mir nicht möglich, denn daß ich mich lebensmäßig darauf einstellen muß, ist eine notwendige Tatsache. Ich habe hinterher eine Anzahl von Büchern ge schrieben, die ich immer noch als Unterhaltung einstufe; kleinere Sachen, wie Das Geheimnis der Draconier, aber ich bin nie wieder in das blasterbewehrte Feld der Space Opera zurückge kehrt, das zwar – wie Krieg der Sterne – spektakuläre Erfolge möglich macht, einem im Endeffekt aber zum Halse heraus hängt. Seit Schafe blicken auf habe ich nur einen tatsächlich sub stantiellen Roman geschrieben, und das war Der Schockwellen reiter, der auf einigen Themen basiert, die ich Alvin Tofflers Zukunftsschock entlehnt habe. Dieser Roman ist seit fünf Jahren der einzige Science Fiction-Stoff gewesen, den ich in einen Umschlag gesteckt und abgeschickt habe. Nachdem ich hierher 393
– nach Somerset – gezogen war, geriet ich in eine ziemlich schlechte Periode. Ich hatte Kopfschmerzen, und mit meinem Blutdruck war auch etwas nicht in Ordnung. Es stellte sich her aus, daß ich an chronisch überhöhtem Blutdruck litt, und dar aufhin setzte man ein Medikament auf mich an, das ein Jahr meines Lebens ausradierte. Es hatte ernsthafte Auswirkungen auf mich: Ich verlor grundlos die Nerven, litt unter Schlaflosig keit, hatte praktisch keine Verdauung mehr und jede Art von Kreativität verloren. Meine Phantasie verließ mich. Und so ver ging zwischen den Science Fiction-Romanen eine lange Zeit. Ich nahm mir schließlich vor, etwas ganz anderes zu schrei ben, mir eine Motivation zu geben: einen Roman über ein Dampferrennen auf dem Mississippi. Ich verbrachte ziemlich viel Zeit mit der Researcharbeit. Schließlich brachte ich ein Manuskript von 1200 Seiten zustande, ohne daß ein Ende abzu sehen war. Ich hatte mich in die Falle locken lassen, in die viele Autoren geraten, wenn sie zum erstenmal einen historischen Roman in Angriff nehmen. Das Hintergrundmaterial, das ich verwendete, faszinierte mich derart, daß es sich schließlich zwi schen mich und die Geschichte schob. Irgendwann werde ich mir die Sache noch einmal vornehmen und alles herausstreichen, das die Geschichte nicht wirklich in Bewegung bringt, auch wenn es mich schmerzt.“ Also das ist die Erklärung für die in den letzten fünf, sechs Jahren seltener gewordenen Science Fiction-Bücher Brunners. Er scheint aber auch nur wenig Lust zu haben, in Zukunft mehr zu tun. „Die Science Fiction war meine liebste Unterhaltung, als ich ein Kind war. Als ich schließlich dazu ansetzte, Schriftsteller zu werden, schien es mir nur natürlich zu sein, das zu Papier zu bringen, was ich am liebsten gelesen hatte. Meine Kindheit ver lief eher einsam; meine Eltern zogen häufig um, besonders während des Krieges. Ich hatte nie eine echte Möglichkeit, enge 394
Freundschaften einzugehen, und natürlich verbrachte ich acht Jahre meiner Kindheit in Schulen, die nur Jungen erzogen, was ja kaum eine Vorbereitung auf das Leben in der realen Welt ist. Als ich die Schule mit siebzehn verließ, hatte ich natürlich ge wisse Vorstellungen von dem, was ich erreichen wollte: Ich wollte von der Schriftstellerei leben können, einen Hugo be kommen, ein nettes Zuhause haben, glücklich verheiratet sein, und alles, was sonst noch dazugehört. Dann vergingen zwanzig Jahre, und plötzlich wurde mir klar, daß ich all das, was ich im Alter von siebzehn hatte erreichen wollen, erreicht hatte. Und da stand ich nun, ging auf das zu, was man ‚die mittleren Jahre’ nennt und war dazu verdammt, mir einen kompletten Satz neuer Ziele zu stecken. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich mir in zwischen über das klar geworden bin, was ich mit dem Rest meines Lebens noch anfangen soll. Ich suche immer noch nach etwas, auf das ich meine Fähigkeiten konzentrieren kann. Ich nehme an, daß dies vielen Leuten so ergeht, die ein Alter errei chen, in dem man früher Stammesältester geworden wäre.“ Hat er sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, was aus ihm geworden wäre, wenn sich seine Kindheitsträume nicht erfüllt hätten? „Ich erinnere mich, daß man mir als Kind erzählte, es gäbe absolut keine Hoffnung, daß ich mit der Schriftstellerei mein Leben bestreiten könne. Daraufhin schlug ich mit dem cleveren Argument zurück, dann würde ich eben zum Rundfunk gehen. Und tatsächlich, ich glaube, ich hätte auch das gern getan. Aus mir wäre sicher ein guter Nachrichtensprecher geworden.“ Ist es wichtig für ihn, ein Publikum zu haben? „Wenn ich die Möglichkeit habe, die Leute zu beeinflussen, tue ich das – aber ohne ihnen Predigten zu halten.“ Gilt das auch für seinen Entschluß, sich der Tagespolitik nicht zu entsagen? „Ich bin nie direkt in irgendeiner politischen Maschinerie 395
dringewesen, wenn man davon absieht, daß ich die Bewegung für atomare Abrüstung unterstützt habe. Aber das war eher eine Ad-hoc-Organisation. Ich habe nie einer formellen politischen Partei angehört. Wenn man mich einstufen müßte, müßte man mich irgendwo in die Umgebung der Sympathisanten der ‚idea listischen Anarchisten’ einreihen. Ich bin jemand, der glaubt, daß die Welt besser aussehen könnte als sie ist, und nach einem Weg sucht, dafür etwas zu tun. Schade ist nur, daß ich noch keine politische Gruppierung gefunden habe, die mich von der absoluten Richtigkeit ihrer Ideologie überzeugt hat. Ich halte es aber für möglich, Gruppen beizutreten, die kein festgelegtes Programm haben. Ich gehöre beispielsweise zwei Schriftstellerverbänden und anderen professionellen Organisa tionen an. Erst kürzlich bin ich der Folklore-Gesellschaft beige treten, und in der Herb-Gesellschaft bin ich ein Leben lang. Die Anzahl der Mitgliedskarten, die ich mit mir herumschleppe, ist beinahe haarsträubend. Aber ich fürchte, ich bin in all diesen Organisationen nicht sonderlich aktiv, es sei denn, eine von ih nen macht etwas, das nach einem einmaligen Projekt aussieht, von dem ich glaube, daß ich ihm meine Aufmerksamkeit lange genug zuwenden kann, ohne dabei desillusioniert zu werden. Ein solches Projekt findet demnächst hier auf dem Land statt. Wir sitzen im Organisationskomitee eines Künstlerfestivals, das 1981 stattfindet. Das sind exakt die Veranstaltungen, die mir Spaß machen, denn ich habe den Eindruck, daß ich mit den Leuten, die ich bei solchen Gelegenheiten kennenlerne, wun derbar auskomme. Und natürlich bin ich auch noch für die Öf fentlichkeitsarbeit unseres örtlichen Folk-Festivals zuständig, das Marjorie aus der Taufe gehoben hat. Wir haben das dritte gerade hinter uns; es sind über hundert Akteure aufgetreten und viel, viel mehr hierher gekommen, um sich die Sache anzuse hen. Es hat allen gut gefallen und lief reibungslos ab. Es sieht ganz so aus, als würde es nun zu einer regelmäßig hier stattfin 396
denden Veranstaltung werden, und das erfüllt einen natürlich mit Zuversicht.“ Des weiteren pflegt John Brunner noch ein hausbackenes Hobby: „Was meinen anderen Interessen momentan den Rang ab läuft und mir zum Lieblingshobby geworden ist: Ich habe ent deckt, daß ich kochen kann. Irgendwie ist mir gedämmert, daß es unfair ist, sieben Tage in der Woche immer nur Marjorie die Frage aufzubürden, was wir zu Abend essen. Jetzt bin ich dazu übergegangen, das Abendessen einmal allein pro Woche zu machen, egal ob wir allein sind oder Gäste haben. In dieser Zeit kann sie tun, was ihr Spaß macht – fernsehen, Piano spielen, lesen, sich um den Garten kümmern, alles. Es gefällt mir wirk lich. Beim Kochen gibt es keine redaktionellen Anfragen, das Publikum gibt sein Urteil sofort ab, und außerdem braucht man keine aufwendigen Revisionen zu tätigen, wenn man etwas ver patzt hat. Was fertig ist, ist fertig. Das gefällt mir.“ Und so sind wir erneut weit von den Zukunftvisionen der städtischen Krisen und finsteren Warnungen vor dem ökologi schen Kollaps entfernt. Das Leben, das John Brunner in seinem Dorf führt, ist von den Szenarien und Botschaften seiner Erzäh lungen tatsächlich Lichtjahre entfernt. Für ihn ist das aber nicht unbedingt ein Paradox oder ein Widerspruch. „Mir ist vor langer Zeit klar geworden, daß ich schreibend viel mehr Leute erreichen kann, als wenn ich mit einem Banner in der Hand die Straße hinunterlaufe“, erklärt er. „Aber was über allem steht, ist mein berechtigtes Interesse, daß es über haupt eine Zukunft gibt, über die ich schreiben kann. Ich will nicht, daß wir alle in einem atomaren Krieg draufgehen, und ich will auch nicht, daß wir alle unter einer solchen Revolution zu leiden haben, bei der das Blut die Gullys überflutet. Ich möchte einen netten, bequemen Fortschritt – einer besseren Zukunft entgegen als jener, auf die wir gegenwärtig zusteuern. Meine 397
revolutionären Freunde schätzen mich deswegen als halbherzig ein, während meine konservativen Freunde mich für einen Roten der übelsten Sorte halten. Und deswegen“, zieht er mit einem zufriedenen Lächeln den Schluß, „muß ich mich offenbar irgend wo in der richtigen Gegend aufhalten.“ Sommerset, im Juli 1979
398
Bibliographische Anmerkungen Von der zweiten Hälfte der fünfziger bis in die sechziger Jahre hinein veröffentlichte John Brunner eine große Anzahl kompe tent geschriebener, auf den amerikanischen Markt abgestimmter SF-Abenteuer, die entweder im Weltraum spielten oder mit der Weltraumfahrt zu tun hatten. Viele dieser Bücher erschienen innerhalb der Ace-Doppelromane zusammen mit Titeln anderer Autoren. Die Plätze der Stadt (1965; dt. 1980) und Der ganze Mensch (1964; dt. 1978) demonstrieren, daß Brunner als Schriftsteller gewachsen und den üblichen Restriktionen der simplen, aben teuerlichen Unterhaltung entwachsen ist. Der zweite Titel ist das psychologische Porträt eines mißgestalteten Menschen mit telepathischen Kräften; der erste ein symbolisches Schachspiel. Morgenwelt (1968; dt. 1980) ist ein komplexer Roman über eine nahe Zukunft und wurde nach dem Konzept von John Dos Passos USA-Trilogie entwickelt. Morgenwelt ist ein Skizzen buch voller futuristischer Szenen und Bilder und wurde in un terschiedlichen Stilen geschrieben. Etwas aktueller ist Schafe blicken auf (1972; dt. 1978), eine finstere Beschreibung des ökologischen Zusammenbruchs, der den Motiven von Politi kern und anderen machtausübenden Persönlichkeiten tiefes Mißtrauen entgegenbringt.
399
Gregory Benford Viele Science Fiction-Autoren scheinen im Leben Versager gewesen zu sein. Ein solches Pauschalurteil abzugeben ist zwar nicht ungefährlich, aber ein Großteil der in diesem Buch vorge stellten Autoren haben beispielsweise darauf hingewiesen, daß sie sich als Kinder nicht anerkannt fühlten und Einzelgänger waren. Das Schreiben von Science Fiction war für sie eine Möglichkeit, sich eine private Zuflucht zu schaffen, in der sie ungehindert der Freiheit und dem Spiel mit den Möglichkeiten frönen konnten. Es gibt aber auch Leute, die die gleichen Erfahrungen ma chen, indem sie Science Fiction lesen. Ich meine jetzt nicht die Menschen, die einmal im Monat zu einem utopischen Roman greifen, sondern jene, die ein starkes Bedürfnis dazu treibt, sich mit dieser Materie zu beschäftigen. Leute dieser Art kann man in jedem SF-Buchladen beim fieberhaften Durchwühlen der
400
Neuerscheinungen beobachten. Sie widmen sich der Science Fiction, ohne je Langeweile dabei zu verspüren und lassen die reale Welt schon deswegen links liegen, weil sie die Erfor schung anderer Planeten weit mehr interessiert. Man kann sich also den Science Fiction-Autor, der dem Genre verfallen ist, als leicht introvertierten, kauzigen Individualisten mit lebhafter Phantasie und einem gewissen Sendungsbewußt sein vorstellen. Der fanatische Leser hingegen steht eher als besessener Träumer und manischer sozialer Außenseiter da. Und jetzt stellen wir uns etwa fünfzig solcher Autoren und vier tausend dieser Leser vor, die gemeinsam vier Tage und Nächte lang in einem gigantischen Hotel herumwieseln und weniger Wert auf die Konventionen als auf die Tatsache legen, daß sie gut mit Getränken versorgt werden. Nun können Sie sich in etwa vorstellen, wie es auf einem SF-Kongreß vor sich geht – und besonders auf dem, der 1979 stattfand. In der Regel findet der jährlich abgehaltene SF-Weltkongreß in Amerika statt, aber 1979 war Brighton in England an der Reihe. Ich fuhr hin, sah mir die seltsame Meute an und fühlte mich ihr manchmal sogar zugehörig. Sie bevölkerte die Hotel korridore, überfüllte die Aufzüge, sah sich Nonstop-Filme an, lauschte den Vorträgen von Arthur C. Clarke bis Fritz Leiber, kaufte Bücher ein, besuchte Zimmerfeten, wanderte durch eine SF-Kunstgalerie, schaute sich die Zeremonie der HugoPreisverleihung an und besuchte ein SF-Kostümfest. Es war, als hielte man sich inmitten einer Minderheit auf, die plötzlich aus der Anonymität heraustritt und entdeckt, daß das Versteck, in dem sie sich bis dahin aufgehalten hat, die Dimensionen eines Hotels annimmt, und einem gestattet, zu spielen, mit wem man will. Was mich anging, so lieferte dieser Kongreß mir die Mög lichkeit, die letzten Autoren zu treffen, die in dieses Buch auf genommen werden sollten. Obwohl das Menschengewimmel, 401
die Parties und Spezialveranstaltungen es manchmal nicht ein fach machten, jemanden zu finden, schaffte ich es schließlich doch noch, mit Robert Silverberg und Gregory Benford zu sprechen. Silverberg hatte ich in Kalifornien nicht ausfindig machen können; Benford sah ich in England zum ersten Mal. Benford ist ein amerikanischer Physiker, der nicht in das Kli schee vom SF-Autor hineinpaßt. Es gibt nur wenige Wissen schaftler, die Science Fiction schreiben, und von denen, die es hin und wieder tun, kümmern sich die wenigsten um stilistische Feinheiten. Bei Gregory Benford ist das anders – er arbeitet dermaßen stark an seinem Stil, daß er sogar dazu übergegangen ist, seine frühen Werke noch einmal anzugehen und neu zu schreiben. Er macht kein Hehl daraus, daß ihm die Mängel sei ner früheren Prosa bekannt sind; er ist bewußt darauf aus, sein Können zu verbessern. Benford hat einen sauber gestutzten Bart, ist kurzhaarig und von der kalifornischen Sonne gebräunt. Er wirkt drahtig und körperlich fit, und was seine geistigen Fähigkeiten anbetrifft, so macht er einen energischen Eindruck. Wenn er redet, kann er beinahe hyperaktiv sein, aber er erwähnt dann nicht nur die Wissenschaften, sondern weist auch regelmäßig auf literarische, soziale und historische Belange hin. Als ich ihn zum ersten Mal ansprach, antwortete er mit einer ganzen Reihe witziger Einzei ler und pointierter Bonmots, die das SF-Genre betrafen und darauf ausgerichtet waren, einem klarzumachen, wie arm es in bezug auf Finesse und Kreativität doch ist. Dann ist der Kassettenrecorder eingeschaltet. Benfords satiri scher Humor löst sich auf und wird durch eine ausgeglichenere, reifere und tolerantere Sichtweise auf seine berufsmäßigen Zeitgenossen ersetzt. Wie er selbst ausführt, neigen Wissen schaftler in der Gegenwart von Tonbandgeräten dazu, sich alles, was sie aussagen, nicht nur zweimal, sondern dreimal zu über legen. 402
Das Interview findet in einer luxuriösen Hotelsuite statt, die der Verlag Berkley für die Dauer des SF-Kongresses angemie tet hat. Schwere Vorhänge rahmen ein großes Panoramafenster mit Seeblick ein. Im Süden kann man den Strand und das Meer sehen. Auf den Wellen glitzert goldenes Sonnenlicht. Der alte, elegante Raum erweckt eine beinahe vornehme Atmosphäre. Benford streckt sich in voller Länge auf einem Plüschsofa aus, und ich frage mich, ob er möglicherweise gleich einschla fen wird – da wir alle an einem Kater leiden, den der Samstag abend uns eingebracht hat. Aber später, als ich das Band abspiele, entdecke ich, daß mein Mißtrauen unbegründet gewesen ist – während sich meine eigene Stimme anhört, als befände ich mich in einem Zustand tiefer, hypnotischer Trance, klingt Ben ford, der irgendwelche geheimnisvollen Kraftreserven zu besit zen scheint, nicht schlimmer als jemand, den die bei Atlantik flügen auftretende Zeitverschiebung ein wenig mitgenommen hat. Er erzählt mir, daß er 1964 mit dem SF-Schreiben angefan gen hat. „Das war während meiner Zeit auf der Universität von Kalifornien, in San Diego. Ich schrieb, um mich zu entspannen, weil der Arbeitsdruck ungeheuer stark war. Ich habe mich zu erst mit allgemeiner Physik befaßt und in dieser Disziplin auch meinen Doktor gemacht, aber dann ging ich in die PlasmaPhysik und die relativistische Atomphysik über – extragalakti sche Radiosignale, Pulsarstrahlungstheorie und Laborkram. Ich bin jetzt Leiter einer kleinen Laboreinheit. Das ist ziemlich ab wechslungsreich. In England machte ich einen Forschungsurlaub. Ich arbeite an der Stabilität und Dynamik der immensen Ströme relativisti scher Partikel, die aus entfernten Galaxien kommen – den größ ten im Universum. Sie sind hundertmal größer als eine Galaxis. Riesige Partikelströme. Möglicherweise werden sie von den Black Holes ausgestoßen. Ich habe ihre Stabilität erforscht und festgestellt, was man über ihr Entstehen erfahren kann. 403
Ich bin ein ziemlich visueller Denker. Wenn ich wissen schaftlich arbeite, stelle ich mir die Dinge bildlich vor, bevor ich an die Mathematik herangehe. Den größten Teil meiner Zeit bin ich mit der Mathematik beschäftigt. Wenn ich schreibe, tendiere ich ebenfalls dazu, in Bildern zu denken. Gemälde be einflussen mich stark. Ich neige auch dazu, das Meer als Ver gleich heranzuziehen, denn ich bin in der Nähe der See aufge wachsen. Das Meer bietet mir viele Vergleichsmöglichkeiten. Ich gehe auch oft Surfen und Tauchen. Die Analogie zwischen dem Weltraum als einem Ozean und den Forschungsfahrten, die das moderne Zeitalter eingeläutet haben, ist mir bewußt geblie ben – ebenso wie Arthur C. Clarke, der sich mit den gleichen Themen auseinandersetzt. Im letzten Jahrzehnt habe ich mich am meisten dafür interes siert, wie man gutes Schreiben lernt; ich meine, soweit es dabei um den Stil geht. Nach der High School hatte ich nie wieder irgendwelchen Literaturunterricht. Im College meldete ich mich in diesem Fach einfach zur Prüfung an, weil ich so einen Hau fen Geld sparen konnte. Ich hatte lediglich einen Schwung Hawthorne gelesen; den machte ich dann zu meinem Prüfungs thema. Jetzt sieht es so aus, daß ich herumlaufe und die Leute frage, was ich als nächstes lesen soll. Insgeheim bin ich bösartigerweise zu der Erkenntnis ge kommen, daß es eine Menge Science Fiction gibt, deren Lektüre sich nicht lohnt. Ich finde sehr viele angeblich großartige Werke – besonders die von Edgar Rice Burroughs und E. E. Smith – absolut unlesbar. Und ebenso Asimovs Foundation-Serie. Ich konnte sie nicht mal als Jugendlicher lesen; die Geschichten kamen mir einfach zu unwahr und unrealistisch vor. Ich kann mich daran erinnern, daß mir damals alle Sinne sagten, dies ist ganz offensichtlich eine Zukunft, die niemals wahr werden wird. Ich bevorzuge entweder Geschichten, die durch eine vor sätzlich angewandte Schreibtechnik etwas erreichen wollen 404
oder realistische Erzählungen, die einem das Gefühl vermitteln, so könnte es wirklich einmal kommen. Wenn ich auf unrealisti sche Stoffe stoße, habe ich stets den Eindruck, ich hätte es mit Geschichten zu tun, die nicht auf Lebenserfahrungen, sondern auf anderen Geschichten basieren; als bezögen ihre Verfasser ihre Weisheiten nicht aus dem Leben selbst, sondern aus ein paar hundert Astounding-Seiten. Ich finde die meiste Science Fiction unlesbar. Aber das gilt auch für den größten Teil der allgemeinen Literatur. In der Science Fiction kommt es aber öfter vor, daß ich ein Buch nicht beende, denn in der allgemeinen Literatur weiß man eher, was auf einen zukommt. Wenn man sich auf die besten Werke von Faulkner stürzt, ist die Chance, daß einem dabei etwas Gutes in die Hände fällt, ziemlich hoch. Bei vielen prominenten Autoren der Science Fiction ist das aber nicht unbedingt der Fall. Ich nehme an, daß die Gründe überwiegend ökonomischer Natur sind. Der Qualitätsstandard ist momentan nicht so hoch, wie er sein könnte.“ Ich frage ihn, ob er jenen Lesern gegenüber, die mit dem Status quo zufrieden sind und kein Interesse an Experimenten haben, Ungeduld empfindet. „Das würde beinhalten“, erwidert Benford, „daß ich von ih nen etwas verlange, das sie nicht zu geben bereit sind. Die Antwort darauf ist nein. Ich bin mir ihrer Begrenzungen jedoch bewußt. Ich würde einfach nicht auf sie einreden. Ich bin mir sicher, daß ich für sie dann eine Unbekannte sein würde – und sie das gleiche für mich. Wir suchen lediglich nach anderen Dingen. Ich meine, daß das Science Fiction-Publikum ruhig ein wenig erwachsener werden könnte, aber das Problem liegt dar in, daß es sich ständig verändert. Es gibt wirklich eine Menge Leute, für die die SF nur ein Zwischenstadium ist. Wenn ihnen die Sache keinen Spaß mehr macht, schauen sie sich abends halt wieder ‚Starsky und Hutch’ im Fernsehen an. Das Publikum 405
wechselt und ist ziemlich jung. Die großen Filmspektakel der letzten fünf Jahre haben einwandfrei den Beweis erbracht, daß die Science Fiction-Interessenten hauptsächlich Siebzehnjährige sind, die mit dem Medium gerade erst Bekanntschaft geschlos sen haben. Ich glaube, wir müssen diese Tatsache so lange hin nehmen, bis die Welt sich ändert und mehr Leute Science Ficti on lesen. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer Veränderung ist, weiß ich nicht; aber ein Weg, um die Ansprüche des Lesers zu erhöhen, kann darin bestehen, daß man intelligente Romane schreibt, die zwar im Grunde Science Fiction sind, aber auch jene Leserschichten ansprechen, die das Genre nicht kennen. Ich habe immer die Meinung vertreten, dies müsse möglich sein. Aber ich habe mich nie für den Autor gehalten, der damit anfangen kann, weil ich keine Ahnung hatte, wie man dabei vorgehen muß. Aber das Buch, das ich gerade geschrieben habe, kann vielleicht etwas in dieser Hinsicht bewirken – wenn es erfolgreich ist. Es heißt Timescape und beschreibt hauptsäch lich, wie man mit der Wissenschaft zu Werke geht. Es ist mög lich, daß dieser Roman auch Leute anspricht, die keine Science Fiction lesen. Ich habe, wie viele andere auch, ebenfalls Romane geschrie ben, die sich mit der Erforschung des Weltraums beschäftigen. Sie waren nicht immer sonderlich originell. Ich würde gerne viel mehr Texte schreiben, die mehr von meinen eigenen Erfah rungen wiedergeben. J. G. Ballards Ausspruch, daß die Science Fiction keine Literatur sei, die aufgrund von Erfahrungen ent steht, bedeutet mir einiges; ich finde, daß man sich mit einer Sache nur dann richtig auseinandersetzen kann, wenn man ei gene Erfahrungen in sie hineinbringt. Irgendwann hat mir gedämmert, daß das Leben eines Wissen schaftlers – und die Wissenschaft selbst – ein Gebiet darstellt, das nur darauf wartet, daß man darüber schreibt. Aber niemand tut das. Es gibt ein paar Romane von C. P. Snow, ein paar 406
Memoiren wie The Double Helix, oder einige Autobiographien, aber die Leute, die aktiv in den Wissenschaften tätig sind und in diesem Feld eine Karriere gemacht haben, schreiben schon deswegen keine Erzählungen, weil sie sich lieber mit Zahlen als mit Worten beschäftigen. In dieser Hinsicht bin ich wohl eine Ausnahmeerscheinung; weniger deswegen, weil ich ein bißchen erzählen kann – sondern wegen meines komischen Hintergrun des. Ich stamme ursprünglich aus den Südstaaten, wo ich zwi schen eher ungebildeten, fast analphabetischen Leuten auf wuchs. Da mein Vater beim Militär war, lebte ich sehr oft im Ausland. Ich bin also, wo immer ich mich auch aufhalte, eine Art Außenseiter. Schließlich wurde mir langsam klar, daß es das wissenschaftliche Betätigungsfeld ist, das die Leute mögli cherweise an der Science Fiction interessiert. Es gibt ihnen ge wissermaßen den Reiz des Neuen. Man bringt ihnen die Wun der der Wissenschaft mit Worten nahe, und der Wissenschaftler selbst ist regelmäßig eine Heidengestalt, auch wenn er auf eine irreale Weise beschrieben wird und die Wissenschaft selbst so von Melodramatik und Sentimentalität trieft, daß sie – beson ders im Bewußtsein der Autoren und möglicherweise dem des Publikums – unlösbar miteinander verbunden sind. Man hat also das Gute mit dem Schlechten gepaart, und das Schlechte schlägt schließlich jene Leser in die Flucht, die einen guten Stil lesen wollen. Wem die Wissenschaft eh schnuppe ist, wird da von angezogen. Jedenfalls ist das eine Möglichkeit. Ich weiß nicht, ob sie stimmt. Ich will auch nicht sagen, daß die gesamte Science Fiction Scheiße ist; ich versuche nur zu analysieren, warum ein großer Teil der SF schlecht ist. Die Science Fiction ist einfach empfänglich dafür, jedermann zu erlauben, ein Totem für etwas Reales zu halten, ohne daß man es sich näher ansehen muß. Als Science Fiction-Autor kann man einen ganzen Koffer voller Schemata mit sich herum schleppen und vorzeigen –,Galaktische Imperien’, oder was 407
auch immer. Und natürlich finden wir solche Totems auch in der Neuen Welle, etwa den kafkaesken Horror gegenüber der Technologie und die unvorhergesehenen Nebenwirkungen. Aber auch das führt immer wieder zu jener SF-Story zurück, die auf Seite eins mit einem Burschen beginnt, der den Müllei mer rausschleppt und schließlich das Geheimnis des Univer sums entschlüsselt, wobei er spätestens auf Seite 192 mit dieser Erkenntnis etwas angefangen hat. Von den sternenumspannen den Sagen ganz zu schweigen. Als Heinlein Geschichten dieser Art schrieb, ließ er einen die Dinge zumindest aus der Nähe sehen. Er zog nicht einfach nur alle zehn Seiten irgendein Schema aus der Tasche. Er hat sich etwas dabei gedacht. Ich habe ein Buch geschrieben, das denen Heinleins sehr ähnelt und in seiner ersten gedruckten Version Das Jupiter-Projekt hieß. Ich schreibe es gerade neu und werde ihm wohl einen anderen Titel geben. Es handelt sich dabei um den Versuch, ein Buch über einen Siebzehnjährigen zu schrei ben, der auf einem Forschungssatelliten in der Umlaufbahn Ju piters lebt. Es erinnert wirklich sehr an Heinlein, was daran liegt, daß ich viele seiner Ansichten teilte. Immerhin war ich der Sohn eines Armeeoffiziers, der im Fronteinsatz gewesen war und zum Stab General MacArthurs gehörte. (Was auch ein Grund ist, weswegen ich in Japan lebte und man meinen Erzäh lungen orientalische Einflüsse anmerkt.) Schließlich entfernte ich mich aber doch von einigen dieser Standpunkte, wenngleich einige davon ihren Wert für mich noch nicht ganz verloren ha ben. Ich schrieb dieses Buch als eine Hommage an mein frühe res Ich. Wenn ich mit der zweiten Version fertig bin, wird es wahrscheinlich ganz anders aussehen.“ Glaubt Benford persönlich so stark an die Technologie wie Heinlein in seinen Erzählungen? „Ich glaube, wir können technologisch alle Probleme lösen, denen wir uns gegenüber sehen. Aber natürlich werden wir in 408
fünfzig Jahren ganz andere Probleme haben. Ich glaube, daß wir unsere Probleme durch mehr Charakterfestigkeit leichter lösen könnten, aber daran hat es ja wohl schon immer außeror dentlich gemangelt. Das Energieproblem der Vereinigten Staa ten könnte beispielsweise durch ein wirklich intelligent ausge tüfteltes Sparprogramm gelöst werden, das darauf basiert, daß wir unseren Lebensstil ein wenig zum Besseren und Gesünde ren hin ändern. Unter diesem Aspekt könnte man auch viele soziale Probleme durch einfache und rationale Planung lösen. Nicht von oben nach unten, sondern indem man geistig flexibler und wettbewerbsmäßig auf kleinereren Ebenen arbeitet. Was dies angeht, so könnte man mich einen Vertreter des Kapitalis mus nennen; nicht weil ich an das Privateigentum glaube, son dern weil ich der Meinung bin, daß man mit kleineren Einheiten sinnvoller umgehen kann. Ebenso leicht könnte man mich einen Anarchisten nennen, denn ich glaube beispielsweise, daß man das Drogenproblem viel leichter in den Griff bekäme, wenn man die Drogen legalisieren und lizenzieren würde. Ebenso die Prostitution. Aber das sind natürlich keine neuen Lösungsvor schläge, und die Tatsache, daß sie scheinbar funktionieren, wenn man sie angewandt hat, hat offenbar keinen Einfluß dar auf, ob man sie auch anderswo anwenden will oder nicht. Des wegen halte ich auch die Ignoranz für eines der größten Pro bleme der Menschheit. Aber oftmals sind unsere Probleme auch durch Expansion gelöst worden; das ist die einzige Sache, bei der wir bewiesen haben, daß wir etwas können. Ich würde vor schlagen, diesen Weg so lange weiterzugehen, bis uns jemand einen anderen zeigt – aber nicht, ohne nachzudenken. Ich habe den Eindruck, daß zahlreiche Kritiker den Glauben an die Expansion für eine jugendliche Schwärmerei halten, die sich wieder legt, wenn man heiratet, Kinder bekommt und Hy potheken abträgt. Aber ich halte das für einen Unsinn, denn die Menschen, die die neue Welt entdeckten, waren keine Sech 409
zehnjährigen. Ebensowenig traf das auf Darwin und all die an deren zu, die in neue Bereiche vorstießen. Es war der schwär merische Geist, der in Opposition zur damaligen europäischen Weltmüdigkeit stand. Weltmüdigkeit ist keine große Hilfe, wenn man nicht gerade versucht, damit offensichtlich überflüs sige Exzesse zu bekämpfen. Wenn sie einen nur dazu bringt, die Probleme wegzuschieben, hat sie überhaupt keinen Wert. Die offensichtlichen Fehler in jenen Science FictionGeschichten, die vorgeben, Lösungen anzubieten, ist der, daß ihre Lösungen oft gar keine sind. Die meisten Geschichten die ser Art kranken daran, daß sie sich auf Probleme stürzen, die so immens und so riesig sind, daß man sie gar nicht lösen kann. Und dann rückt man ihnen mit dem Deus-ex-Machina-Effekt zu leibe und bringt am Ende einfach jemanden um … Das ist aber keine Lösung, sondern nur ein Zwischenstopp. Aber es gibt in diesen angeblich Probleme lösenden Geschichten noch etwas, das einen im Hinblick auf die Natur der Wissenschaft auf eine falsche Fährte lockt. Die Wissenschaften sind gar nicht fähig, Probleme als Ganzes zu lösen. Sie können einem lediglich das gegenwärtig beste Modell anbieten. Alle Leute – und auch die Science Fiction-Autoren – neigen aber dazu, Gewißheiten ha ben zu wollen. Sie möchten Probleme haben, denen man mit einem Patentrezept zu Leibe rücken kann. Aber ein Wissen schaftler sollte sich ständig darüber im klaren sein, daß es keine hundertprozentige Antwort gibt und sein Modell zu einem ge wissen Grad Fehler hat. Es wäre unvorstellbar, daß wir bei spielsweise alle Grundlagen der Physik auf einmal verstehen könnten. Und dieser Bewußtseinsstand – daß es nur Teillösun gen gibt und man selbst höchstwahrscheinlichen Theorien ge genüber skeptisch sein muß – kommt in der Science Fiction nicht zum Ausdruck, weil jeder versucht, mit den Problemen im Ganzen aufzuräumen, damit er am Ende ein sauberes Gesamt bild vorweisen kann. 410
Im wirklichen Leben wird man beispielsweise dem gesamten Energieproblem nur mit kleinen zwei-, drei- oder fünfprozenti gen Lösungen beikommen – und nicht indem man eine dicke Sache erfindet, die dann alles zurechtbiegt. Tatsächlich sind wir ja in diese Krise hineingeraten, weil wir geglaubt haben, diese tollen Technologien, die mit allem fertigwerden, schon zu be sitzen. Als wir das Öl aufspürten, haben wir die Windmühlen und die Kohle aufgegeben – Dinge, die wir jetzt dringend wie der brauchen.“ Das meiste von dem, was Benford sagt – zumindest während dieses Interviews – behandelt Dinge, die man untersuchen, dis kutieren und wie bei einem Laborexperiment in objektiver Wei se bewerten kann. Wenn das Thema eine persönliche Ebene erreicht oder anstelle von Systemen Menschen betrifft, scheint er sich weniger wohl zu fühlen (was möglicherweise an seiner gegenwärtigen Verfassung liegt). Aber ich bin durchaus bereit, mir anzuhören, was dem Interviewten auf dem Herzen liegt; schließlich sagt dessen bevorzugtes Gesprächsthema ebensoviel über ihn aus, wie die Kommentare, die er dazu abgibt. Verlas sen wir Gregory Benford also mit dem Eindruck, daß er ein eher ernsthafter Charakter ist, der – wie von einem Gewissen – dazu getrieben wird, die SF-Schreiberei nicht nur als Entspan nung anzusehen, sondern sich dabei auch noch Mühe zu ma chen. Er scheint ziemlich darin aufzugehen. Eine Anekdote läßt den seriösen Wissenschaftler allerdings in völlig neuem Licht erscheinen: „Vor etwa einem Jahr habe ich ein Buch über die SFBewegung im New York der vierziger Jahre gelesen. Offenbar hatte Donald Wollheim (ein langjähriger Redakteur von Ace Books, jetzt Verleger und Herausgeber der DAW Books) da mals den Tick, sich einen Leuchtkugelschreiber in die Nase zu schieben und dann – klick – anzuschalten. Vor ein paar Monaten hatte ich nun einen Traum, in dem ich mich in einem überfüllten 411
Zimmer aufhielt. Es war wie auf einer Zimmerfete, wie sie auf SF-Kongressen stattfinden, aber es brannte kein Licht. Es war ziemlich eng und stickig – die Leute atmeten mir ins Gesicht. Dann tauchte vor mir ein mattes Licht auf und jemand sagte mit einem dicken New Yorker Akzent: ‚Die Welt von morgen – klick – hier ist sie schon!’ Und das Licht kam aus dem Inneren eines Gesichts. Es war ein sehr deutlicher Traum. Ich weiß zwar nicht genau, was er bedeutet, aber ich glaube, er gibt irgendwie die Ausgeglichenheit wider, die ich dem Erbe der Science Fic tion gegenüber empfinde.“ Brighton, im August 1979
412
Bibliographische Anmerkungen Da Gregory Benford hauptberuflich Physiker ist und nur in sei ner Freizeit SF schreibt, hat er noch nicht viel veröffentlicht. Da er plant, seine früheren Werke neu zu schreiben und sie sich mithin derzeit in einem Zwischenstadium befinden, ist es wohl nicht angebracht, zuviel über sie zu sagen. Er ist aber davon überzeugt, daß sein neuer Roman Timescape sein wichtigstes Werk ist – eine Annahme, die offenbar auch seine Verleger teilen, wenn man weiß, wie hoch sein Honorar vorschuß für diesen Titel war. Wenn dieser Interview-Band er scheint, müßte Timescape bereits auf dem Markt sein. Im Meer der Nacht (1977; dt. 1980) ist ein Roman aus zu sammenhängenden Erzählungen, der die Erde einer nahen Zu kunft beschreibt, die einen vorläufigen Kontakt mit Außerirdi schen aufnimmt. Benford hat sich darin der Mühe unterzogen, alltägliche Ereignisse detailliert zu beschreiben. Das Resultat ist von bemerkenswerter Authentizität. If the Stars are Gods (1977) entstand in Zusammenarbeit mit Gordon Eklund; die Kurzversion des gleichen Buches erschien drei Jahre zuvor und erhielt 1975 den Nebula Award. The Stars in Shroud (1978) ist einer der populäreren Romane, die Benfords Timescape voran liefen.
413
Robert Silverberg Anfang der Siebziger Jahre nahm Robert Silverberg seinen Ab schied von der Welt der Science Fiction. Er sah keine Zukunft mehr darin, für Leser zu schreiben, die sein Werk ständig schlechtmachten und falsch interpretierten. Der schöpferische Prozeß selbst war schmerzhaft, sinnlos und nicht mehr lohnend geworden. Silverberg war wohlhabend genug, um völlig mit dem Schreiben aufzuhören, und genau das hatte er vor. Diese Nachricht wurde nicht allzu gut aufgenommen. Die Science Fiction-Fans mögen es nicht, wenn man ihnen im Prin zip einen myopischen Geschmack vorwirft und die Fähigkeit zur kritischen Rezeption abspricht. Noch konnten sie Silverberg persönlich leiden. Er ist ein sehr zurückhaltender Mensch, der niemals die Beherrschung zu verlieren scheint. Er macht kein Geheimnis daraus, wohlhabend zu sein und scheint mit seinem Lebensstil fast selbstzufrieden. Und ihn umgibt der Anflug gelassener Langeweile, wie bei 414
einem Intellektuellen, der ohne Unterlaß dazu gezwungen ist, Dummköpfe um sich herum zu ertragen. Ich glaube nicht, daß dieser Eindruck gewollt ist, aber er ist unauslöschbar, egal in welcher Umgebung Silverberg sich befindet. Er wirkt wie ein gelehrter Intellektueller, der in aller Höflichkeit sein Bestes gibt, um mit dem Proletariat auszukommen. Ich glaube, er würde sich immer so geben, ob er nun einen Con besucht oder zu einem Empfang im Weißen Haus eingeladen ist. Aber seine Ernüchterung über die Science Fiction ist weder Snobismus noch Affektiertheit. Es ist ihm sehr ernst damit. „Ich habe mein ganzes Leben in der Welt der Science Fiction verbracht“, sagte er, „zuerst in meiner Jugend als Leser, dann als Vielschreiber und dann als recht ernsthafter Schriftsteller. Ich lebte nach einer letztlich doch sehr trügerischen Theorie: Während die handwerklichen Fähigkeiten und die Kunst und all das eines Schriftstellers wachsen und sich vertiefen und ausbil den, muß er jemanden haben, der seine Arbeit schätzt. Das wäre eine Belohnung – und ich meine das nicht im finanziel len Sinn – für seine Anstrengung. Nun, natürlich halten die Leser irgendwie von meinen Büchern heute nicht mehr das, was sie vor zwanzig Jahren davon gehalten haben. Aber dum merweise erwartete ich, die Leserschaft aufschreien zu hören: Da ist es, na also, er hat alles zusammengebracht und genau das geschrieben, was wir von ihm erwartet haben! Nun, ich habe nicht das geschrieben, was sie von mir erwartet haben. Sie wollten immer mehr von dem gleichen alten Zeug. Brian Aldiss mußte das auch durchstehen, und Moorcock, und Elli son. Wir haben erwartet, mehr Applaus für schwierigere Ar beiten zu bekommen, und das ist albern, das ist einfach nicht eingetreten. Zuerst war ich verwirrt von den Reaktionen meiner Leser schaft. Es gibt Passagen in Es stirbt in mir oder Schwingen der Nacht, 415
die ich für rein ekstatische Schwanengesänge halte, aber die Leute haben mich gefragt: Warum schreiben Sie so bedrückende Bücher? Da hat etwas ganz einfach nicht gestimmt, entweder mit meinen Wahrnehmungen oder mit ihrer literarischen Rezep tion. Ich weiß immer noch nicht, was es war, aber das interes siert mich auch nicht mehr. Mittlerweile kommt mir meine Re aktion darauf wie pure Torheit vor. Ich habe in meinen eigenen Anthologien, in meinen kriti schen Aufsätzen – wenn es davon auch nur wenige gab – und Reden auf den Science Fiction-Cons versucht, die Leute aufzu rütteln. Ich habe gesagt: Schaut mal, E. E. Smith war ein netter alter Mann, aber in der Science Fiction steckt mehr als nur ein E. E. Smith. Nun, diesen Drang habe ich mittlerweile verloren; jeder geht seinen eigenen Weg, und der Weg derjenigen, die sich damit begnügen, den Lensmen-Zyklus zu lesen, ist nicht der meine. Vielleicht betreten sie ihn eines Tages von sich aus, aber ich werde sie nicht an die Hand nehmen und führen.“ Und so steht Silverberg seiner Leserschaft heutzutage eher gleichgültig als verärgert gegenüber. Sein Gefühl der Ernüchte rung scheint abgeflacht zu sein. „Sagen wir einmal, ich habe es unterdrückt. Ich hege immer noch ernsthaften Zweifel an der Lebensfähigkeit der Science Fiction als ernsthafter Literatur. Um drei Namen zu nennen, die mir gerade einfallen, ich sehe bei Ballard, Aldiss oder Disch keinen großen kommerziellen Erfolg, zumindest nicht in den Vereinigten Staaten; mir kommen sie vor wie Einzelkämpfer. Ich bewundere diese Autoren, ich fühle auch eine gewisse Ver wandtschaft mit ihnen. Wir haben versucht, die Versatzstücke der Science Fiction zu verwenden und das Genre näher an die Literatur heranzutragen. Ich weiß nicht, wieso ich glaubte, dies könne Erfolg haben. Heute erscheint mir der Gedanke fast när risch, denn die Science Fiction ist im Prinzip Unterhaltung für die Massen – und wir haben versucht, daraus etwas Elitäres zu 416
schaffen. Wenn man einen elitären Anspruch erhebt, hat man automatisch ein kleineres Publikum. Also sind meine Gefühle wie das Genre im Prinzip indiffe rent geblieben. Aber in den vier Jahren, in denen ich nichts ge schrieben – und das auch deutlich betont – habe, lösten sich viele der Gründe auf, aus denen ich nicht mehr schrieb – politi sche Gründe, persönliche Gründe- und brachten mich in die kuriose Lage, einfach nicht mehr zu schreiben, weil ich nicht mehr schrieb. Auf dem Nebula-Award-Bankett im Frühjahr 1978 in San Francisco waren alle Herausgeber aus New York anwesend und tanzten um die anderen Autoren herum und machten Geschäfte mit ihnen, und ich kam mir deshalb ein we nig verlassen vor; irgendwelche großen persönlichen Ausgaben standen ins Haus, und gleichzeitig hatte ich die Idee für ein Buch, die mir unwiderstehlich erschien. Auch verspürte ich eine gewisse Neugierde. Als zum ersten Mal große Vorschüsse für Science Fiction-Autoren gezahlt wurden, fragte ich mich nach dem Wert, den ich auf dem Markt wohl noch haben mochte. Die einzige Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, war ein Sprung ins kalte Wasser. Und so entwarf ich plötzlich, an einem einzigen Nachmittag, dieses Buch – Krieg der Träume – und überwand meinen festen Vorsatz, nie mehr zu schreiben.“ Er verkaufte das Buch für einen sehr hohen Vorschuß an einen Hardcover-Verlag – eine Summe, die groß genug war, um einen gewissen Neid in Silverbergs Kollegen entstehen zu lassen. Aber: „Ich habe meine finanzielle Lage dadurch wirklich in keiner Hinsicht bedeutend geändert. Das Geld glitt mir sofort durch die Hände, um meine großen persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Ich war vorher gut dran, und ich war nachher gut dran, eigentlich hat sich nichts geändert. Ich habe zwar keine Privatyacht, aber der Vorschuß besaß eine symbolische Bedeu tung für mich und hat auch einige symbolische Nachwirkungen mit sich gebracht. Ich wollte einen symbolischen Erfolg haben – 417
all diese Bücher, die ich in meiner fruchtbarsten Periode he rausgebracht habe, habe ich fast umsonst geschrieben. Für Schwingen der Nacht bekam ich 2500 Dollar, und so weiter. Als ich also den Entschluß zur Rückkehr gefaßt und mir den Weg durch den ganzen Ballast der Verstimmungen, Verärge rungen und politischen Stellungnahmen gebahnt hatte, wollte ich den riesigen Vorschuß als eine Art Ausgleich, als Bedürfnis, als Befreiung von dem Gefühl, fürchterlich unterbezahlt gewe sen zu sein. Ich wollte einmal fürchterlich überbezahlt werden. Mein Standpunkt in Krieg der Träume ist gewiß nicht der aus meinen Büchern der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. Der Roman ist viel zugänglicher, heiterer und offener, auch, weil ich selbst heute viel zugänglicher, offener und heite rer bin als zu der Zeit, da ich diese ziemlich düsteren Bücher schrieb, aber auch, weil ich mit Es stirbt in mir und Bruder schaft der Unsterblichen und Mit den Toten geboren die Mög lichkeiten erschöpft hatte. Ich konnte in dieser Richtung nicht mehr weitergehen, außer in einer echten Auseinandersetzung mit der Leserschaft. Nach Krieg der Träume werde ich mir wohl ein oder zwei Jahre der Ruhe und Erholung gönnen, und danach kommen entweder ein paar Kurzgeschichten oder ein Roman, dessen Struktur wohl eher Es stirbt in mir gleichen wird. Ich bezweifle jedoch, daß er die emotionelle Intensität und, wenn Sie so wol len, den bedrückenden Tonfall dieser Periode haben wird. Ich hoffe nicht, denn ich glaube wirklich, daß ich mich selbst jetzt in einem anderen Zustand befinde. Ich glaube jedoch, daß ich in einigen Jahren zu recht ernster und leidenschaftlicher Literatur zurückkehren und die Konsequenzen einfach ignorieren werde. Das wird eine ganz neue Phase sein, wenn ich mich nicht mehr darum kümmere, wie meine Bücher aufgenommen werden.“ Wir unterhalten uns in Silverbergs Hotelzimmer auf dem Science Fiction-Weltcon 1979. Er sitzt auf einem ungemachten 418
Bett, und ich hocke auf dem anderen. Eine scheußliche Umge bung für ein ernsthaftes Gespräch, besonders, da ich das Inter view mit gemischten Gefühlen angegangen bin. Silverberg hat schon so eindeutige und umfassende Stellungnahmen seiner Ansichten zur Science Fiction veröffentlicht, daß ich befürchten mußte, er habe nichts mehr über das Thema zu sagen und ich damit enden würde, verzweifelt nach Gesprächspunkten zu su chen. Auch habe ich seine kühle, beherrschte Haltung dahinge hend interpretiert, daß man im allgemeinen nur schwer mit ihm reden kann. Aber sobald wir mit dem Interview begonnen hatten, begriff ich, wie leicht man seine Haltung mißverstehen kann, denn er antwortet offen und spontan und keineswegs herablassend auf meine Fragen. Vielleicht spricht er manchmal mit dem Anflug eines elitären Geistes, aus der stillschweigend vorausgesetzten Stellung eines würdevollen literarischen Status’ herab, von dem er annehmen muß, daß er ihn sich mit seinen Werken verdient hat. Schließlich hat er sehr viel veröffentlicht: Er hat nicht nur ehrgeizige, ernsthafte Romane geschrieben, sondern in seinen frühen Jahren auch einen großen Ausstoß an Unterhaltungslite ratur und später dann eine Anzahl bedeutender Sachbücher. Ich frage nach den Zeiten der Vielschreiberei, als er, wie er sich ausdrückt, einen Roman in zwei oder drei Wochen ausstieß und jeden Tag hart arbeitete, wie in einem Ein-Mann-Produk tionsbüro. Wahrscheinlich wundert es ihn nicht, daß er so viel schreiben konnte; eher wundert es ihn, daß andere Autoren das nicht konnten. „Genau. Und später habe ich mich dann natürlich gefragt, wie ich soviel schreiben konnte, als ich mir einige der Bücher vornahm, die ich in zwei Wochen produziert hatte. Aber es hängt auch viel von der Konzentrationsfähigkeit ab. Beim Krieg der Träume, der drei Mal so lang ist wie die meisten meiner anderen Romane, brauchte ich fünf Monate für den ersten Ent 419
wurf. Ich habe jeden Tag daran gearbeitet, fünf Tage die Wo che, mit der alten Hingabe, jeden Tag etwas geschafft zu be kommen, ohne mir irgendwelche Skrupel, Selbstprüfungen, Selbstmitleid oder Ablenkungen zu gönnen. Wenn ich es ge wollt hätte, hätte ich den Roman in der Hälfte der Zeit schrei ben können, einfach, indem ich mich mehr gesputet hätte. Aber bei Gott, das wollte ich nicht, und ich habe es auch gar nicht erst versucht. Das ist jetzt vorbei.“ Silverberg ist der Meinung, die Wandlung seiner Ansichten hingen auch mit seinem Umzug von New York nach Kalifornien zusammen. „Ich lebe jetzt seit etwa zehn Jahren dort. Die fri sche Luft und eine Gesellschaft, die sich imstande hält, sich auch einmal zusammenzureißen, haben einfach eine große Ver änderung in mir bewirkt. Ich kam aus New York, wo man glaubte, sich im Zusammenbruch zu befinden. Es ist sehr schwer, in einer zusammenbrechenden Gesellschaft zu leben, ohne das Gefühl zu bekommen, auch selbst zusammenzubre chen. Wenn man an einem Januartag an den Strand gehen und unter einer goldenen Sonne herumlaufen kann, ändert man schon seine Ansichten vom Universum. Ich lebe wohl nur einmal. Also will ich ein ertragreiches, ein interessantes Leben führen. Ich habe mein Leben im Prinzip immer nach dem Grundsatz organisiert, das zu tun, was man tun muß. Das ist nicht ganz das gleiche, als wenn ich sagen würde, ich hätte das getan, was ich tun wollte; da gibt’s einen kleinen Unterschied. Aber für mich ist das die wahre Freiheit: das tun, was man tun muß. Als Junge war ich schrecklich schüchtern und unsicher; ich war der jüngste in der Nachbarschaft und lange Zeit auch der kleinste, und der intelligenteste, was einem in der Gemeinschaft seiner Freunde überhaupt nicht hilft. Aber ich habe mich da durchgekämpft, und das schafft Vertrauen. Und selbst als ich diese Schwierigkeiten durchzustehen hatte, bin ich immer ir 420
gendwie dorthingelangt, wohin ich wollte, wenn auch nicht immer auf dem direktesten oder ehrenhaftesten Weg. Aber ich habe es immer geschafft. Vierzig Jahre lang habe ich es jetzt immer geschafft, und langsam glaube ich, daß darin vielleicht der Lauf meines Lebens liegt. Nebenbei, mir sind die Gefahren der Hybris bekannt, und ich habe mir immer meine innerliche Anständigkeit bewahrt. Ich habe ganz einfach nicht das Bedürf nis, lauthals herumzuschreien, daß es nur noch unter diesen Be dingungen noch ein Morgen für mich gibt. Aber bislang ist’s ganz gut gelaufen. Ich habe wohl fast alle meine früheren Ziele erreicht. Mit sechzehn oder siebzehn hielt ich es für eine tolle Sache, ein berühmter Science Fiction-Autor zu sein; sicher bin ich auch einer geworden, wenngleich es mich mit ein wenig Verle genheit erfüllt, daß ich – zumindest nicht bis zu meinem drei ßigsten Lebensjahr – nicht viel von der Science Fiction ge schrieben habe, die ich als sechzehnjähriger Fan gern gelesen hätte. Nun, damit habe ich mich später befaßt. Ich wollte auch ein freiheitliches Leben führen, das es mir ermöglichte, alles einmal auszuprobieren; auch das habe ich jetzt verwirklicht. Es ist schon befremdlich, all die Phantasien auszuleben, die man als Heranwachsender hatte. Früher kam ich mir immer wie ein Betrüger vor, weil ich vor jedem Trauma des Lebens floh, alles auf dem silbernen Präsentierteller gereicht bekam und schon so früh aufs Ziel zusteuerte, um mit einigen Metaphern zu spre chen. Ich verlor dieses Gefühl nach drei sehr schlimmen Ereig nissen in den sechziger Jahren, als mein Haus in New York nie derbrannte. Aber diese Ereignisse waren wichtig für mich. Ich habe es gehaßt, sie durchstehen zu müssen, aber nur so konnte ich zu demjenigen werden, der ich jetzt bin. Schon morgen könnte ein furchtbares Unglück geschehen, und ich habe Angst davor. Das große Erdbeben, das Flugzeug, das auf meinen Hinterhof abstürzt, und so weiter. Aber man 421
darf sein Leben nicht davon beherrschen lassen. Man ist macht los dagegen. Es ist sinnlos, sich darin aufzureiben, gegen das Unvermeidliche anzukämpfen. Und so habe ich ein ganz gutes Leben gehabt, es hätte nicht besser sein können, wenn das Drehbuch von mir selbst ge schrieben worden wäre. Ich bin jetzt sehr zuversichtlich, eben weil alles so gut geklappt hat.“ Er sagt dies alles mit einer sanften, nüchtern klingenden Stimme, nicht besonders betonend oder herausfordernd, er spricht ganz einfach die Wahrheit, wie er sie sieht. Ist ihm be kannt, wie sehr seine ruhige, zufriedene Bestimmtheit die Leute außer Fassung oder gegen ihn aufbringt? Er zuckte die Achseln. „Die Leute haben mir schon immer sehr seltsame Gefühle entgegengebracht. Ich bin auf gewisse Weise sehr offen und irgendwie auch zurückhaltend und selbst zufrieden. Das und das Geld und … ich muß wohl eine gewisse Selbstzufriedenheit ausdrücken, wenn ich behaupte, daß ich mit dem, was ich heute bin und tue, sehr zufrieden bin. Das muß die Leute verärgern. Ich bin wohl ein Materialist; aber Geld ist für mich Freiheit, und Freiheit ist lebenswichtig. Geld macht es möglich, daß mein Leben jetzt mir gehört und ich mir nicht jeden Morgen eine Krawatte umbinden und ins Büro fahren muß.“ Wir haben uns ausführlich darüber unterhalten, wie Silver berg und sein Werk vom Science-Fiction-Feld aufgenommen werden. Aber wie sieht Robert Silverberg den jetzigen Stand der Science Fiction? „Die Science Fiction erscheint mir kommerziell äußerst ge sund. Das kann man wohl nur begrüßen. Ihr Autoren habt es jetzt sicherlich leichter als wir zu meiner Zeit. Als ich einund zwanzig war, hat mir keiner den Hof gemacht oder mich gebe ten, Romane für 10 000 oder 15 000 Dollar für ihn zu schrei ben. Ich kam mit den Herausgebern damals jedoch gut aus, weil 422
ich so zuverlässig war. Wenn mir einer sagte: ‚lch brauche nächsten Dienstag eine Story’, dann hatte ich sie am Dienstag fertig. Aber ich bekam nur 50 Dollar dafür. Je größer die Welt der Science Fiction wird, desto größer wird wohl auch ihr Spektrum. In der New Wave-Epoche, der revolutionären Periode von 1969 oder so, passierten die wunder barsten und verrücktesten Sachen. Heutzutage ist davon nicht mehr viel übriggeblieben; wir leben in einer konservativeren, aber nicht unbedingt kläglicheren Epoche, in der die Feuerwerke schon abgebrannt sind und wir auf ruhigere Art immer noch unter ihrem Schein arbeiten. Wir haben all diese Explosionen integriert und eine Synthese erstellt – beachten Sie ja diese Me tapher! – und ich habe das Gefühl, daß die Zeit für die Science Fiction heute besser ist als selbst in den späten Sechziger Jah ren, als ich meine besten Arbeiten hervorgebracht habe und als alle anderen über Nacht ebenso wunderbare und seltsame Sa chen produzierten. Die Zeiten sind heute ruhiger, und ich bin in gewissem Sinne auch ruhiger. Ich mag all diese ständigen Ex plosionen nicht. Ich mag keine Überraschungen. Ich mag Wun der. Ich mag ein gewisses Ausmaß an Aufregung, aber in Ma ßen.“ Fühlt er sich nun weit entfernt von diesen eindringlichen Bü chern, die er geschrieben hat und die die Science Fiction-Leser so gänzlich mißverstanden haben? „Ich kann normalerweise keines meiner Bücher von außen angehen, so wie die restliche Welt. Aber als ich gerade eine britische Ausgabe von Es stirbt in mir durchblätterte (an den Verkaufsständen der Buchhändler auf dem Con) ging es doch. Ich habe darin gelesen und dachte, nun, das ist sehr gut ge schrieben und sehr schmerzhaft in seiner Genauigkeit. Ich kam mir merkwürdig schuldig vor – ich wünschte fast, das würde nicht auf Band aufgenommen! – solch ein Buch geschrieben und diese Begabung, dieses Talent, einfach liegengelassen zu 423
haben und nicht mehr auf diese Ebene zurückgekehrt zu sein. Aber damals war für eine Rückkehr nicht die richtige Zeit. Wenn sie gekommen ist, werde ich hoffentlich zurückkehren.“
424
Bibliographische Anmerkungen Robert Silverberg hat unter eigenem Namen und unter mehreren Pseudonymen über siebzig Romane, sechzig Sachbücher und zweihundert Kurzgeschichten geschrieben. Seine zahlreichen Frühwerke waren nach gängigen Mustern gestrickt und litten unter mangelnder Originalität; in den sechziger Jahren begann er wesentlich gehaltvollere Romane zu schreiben, mit Themen, die die Fragen des Lebens und der menschlichen Psyche an packten. Der Gesang der Neuronen (1967, dt. 1971) beschäftigt sich mit psychischem Vampirismus und ist eine stilisierte Stu die der Entfremdung. Schwingen der Nacht (1969, dt. 1971) beschreibt in lyrischer Weise die Eroberung der Erde. Kinder der Retorte (1970, dt. 1975) beschreibt einen neuen Turm zu Babel und den Kampf von Androiden um die Anerkennung als Menschen. Bruderschaft der Unsterblichen (1972, dt. 1980) ist kaum Science Fiction; eher, wenn überhaupt, Fantasy. Der Roman ist die Charakterstudie von vier jungen Amerikanern, die einem Unsterblichkeitsmythos nachspüren. Es stirbt in mir (1972, dt. 1975) ist eine eindringliche, düstere Studie über einen Telepathen, der seine psychischen Kräfte verliert; dieser Roman markiert das Ende von Silverbergs „ernster Periode“ in der Science Fiction. Krieg der Träume, ein umfangreicher Roman, der den Be ginn einer neuen (aber noch nicht kategorisierbaren) Periode darstellt, erschien 1980.
425
Brian W. Aldiss Es war Brian Aldiss, der mich einst in einen Kleiderschrank einschloß, weil ich eins seiner Bücher verrissen hatte. Ist er der Kritik gegenüber empfindlich? Nicht unbedingt. Aber Tatsa che ist, daß es viele angriffslustige, selbsternannte, einund zwanzigjährige Kritiker (wie ich damals einer war) verdienen, in einen Kleiderschrank gesperrt zu werden. Es ist geradezu schade, daß es nur so wenige Schriftsteller gibt, die mit einer solch schlagfertigen Initiative dermaßen prompt zur Gegenak tion schreiten. Es liegt nicht in meiner Absicht, Brian Aldiss mit dieser Anekdote aus der Fassung zu bringen. Es wäre überhaupt schwer, einen Menschen in Verlegenheit zu bringen, dessen spontaner Charakter so viele ungewöhnliche Vorfälle provo ziert hat. Ja, und da fällt mir schon wieder einer ein. Es war auf dem SF-Weltkongreß von 1979, auf einer Cocktailparty in einer exklusiven Hotelsuite. Aldiss stand am Kaffeetisch und 426
brüllte, und ein ziemlich aggressiver Amerikaner namens Pour nelle drohte … Aber wir wollen nicht vom Thema abweichen. Was Brian Al diss angeht, so sollte man sich – obwohl er in jeder Hinsicht ein Gentleman ist – nicht von seinem respekteinflößenden, briti schen Gehabe täuschen lassen. Er ist nämlich ebenso ein impul siver Charakter, ein Ikonokiast, der über genug Energie verfügt, einen Schritt nach vorn zu tun und die schlußendliche Gebärde zu machen, auch wenn er dabei das Risiko eingeht, hinterher als Narr dazustehen. Sein impulsiver Geist hat ihn schon in wichti gere Situationen gebracht als diesen eher komischen Tumult. Er hat ihn beispielsweise dazu verführt, loszugehen und die Regie rung dazu zu überreden, das SF-Magazin New Worlds zu sub ventionieren (in der überraschenden Form einer finanziellen Unterstützung durch das Arts Council). Und er hat ihn dazu gebracht, unvorhersehbare, unkonventionelle Bücher zu schrei ben, die eine Zickzack-Karriere markieren, die nach amerikani schen Kriterien nach kommerziellem Selbstmord ausgesehen hätte. Und dennoch hat sich irgendwie am Ende immer heraus gestellt, daß sich sogar Aldiss’ schrulligsten Arbeiten verkau fen, was ihm die Befriedigung gibt, seiner spontanen Natur treu bleiben zu können, ohne jemals Kompromisse eingehen zu müssen. Er ist möglicherweise unser in allen Gebieten belesenste Science Fiction-Autor, wenn man ihn an seiner Sprachbeherr schung und seinen kritischen Fähigkeiten mißt. Er hat eine lite raturhistorische Betrachtung der phantastischen Literatur – Der Millionen-Jahre-Traum – geschrieben und war Mitherausgeber eines kleinen, kritischen Journals tätig, lange bevor der Rest der Welt sich ernsthaft mit dem SF-Genre auseinandersetzte. Lange Jahre hat er als Kritiker regelmäßig für die Oxford Mail gear beitet. Eine weitere Einmaligkeit, die Aldiss auszeichnet, ist die 427
Tatsache, daß er sich ebenso gewandt in den höheren Zirkeln des literarischen Establishments bewegt wie inmitten seiner SF schreibenden Kollegen. Er ist allerdings kein literarischer Snob. Ganz im Gegenteil: „Nachdem ich bei einem Dinner anläßlich der Verleihung des Booker-Preises festgestellt hatte, wer angeblich die großen Nummern sind, dachte ich, welche Gelegenheiten sich die all gemeine Literatur doch entgehen läßt. Und dann spürte ich sehr intensiv, welche Werte die Science Fiction doch hat. Der BookerPreis ist die höchste literarische Auszeichnung, die unser Land für ein literarisches Werk zu vergeben hat. In dem Jahr, als ich an der Preisverleihung teilnahm, ging er an Iris Murdoch für The Sea, The Sea. Sie hatten eine Menge Tische aufgebaut, und an jedem saßen zehn Personen. An meinem Tisch hatte ich von den sechs Nominationen einen gelesen. Jemand anders hatte, glaube ich, zwei gelesen, und die anderen Leute kannten die Bücher, über die es zu befinden galt, gar nicht. Die Leute waren gelangweilt und uninteressiert, und die Reden, die dort gehalten wurden, hielt ich für äußerst jämmerlich. Die Reserviertheit der Preisrichter gegenüber den Kandidaten kam mir entsetzlich herablassend vor; man wollte um Gotteswillen keinen Enthu siasmus zeigen. Ich konnte einfach nicht anders, ich mußte diese Zeremonie mit der Verleihung der Hugo Awards vergleichen, auf die man möglicherweise deswegen heruntersieht, weil sie ein Teil der Science Fiction-Familie – oder wie auch immer man das nennen mag; meinetwegen auch Stamm – sind. Aber wenn man zur Hugo-Verleihung geht, hat jeder Anwesende die zur Preisverteilung anstehenden Romane gelesen, und die Leute sagen, mein Gott, wenn X diesmal nicht gewinnt, werde ich mich erschießen. Diese Partisanenhaftigkeit ist bemerkenswert. Das mag falsch sein, aber sie ist da. Und als ich den BookerPreis hinter mir hatte, dachte ich, daß wir in der Science Fiction diesen Leuten um Längen voraus sind, und zwar in mancherlei 428
Hinsicht. Na komm, ich meine, nimm nur mal den Weltkongreß in Brighton. Wie viele Leute haben daran teilgenommen? Vier tausend? Wo gibt es etwas vergleichbares? Der Enthusiasmus ist außergewöhnlich. Einer von den BBC-Leuten, die dort ge filmt haben, sagte zu mir ‚lch kann mich nicht erinnern, je auf einer Veranstaltung gewesen zu sein, auf der so viele intelligen te und interessante Leute herumliefen, mit denen ich sprechen wollte.’ Nun, bei einem Booker-Preis-Dinner sicher nicht. Das muß ich schon sagen. Weißt du, ich habe lange Zeit der ‚Laß den-Mainstream-in-Frieden’-Brigade angehört. Ich will nicht sagen, daß ich meine Einstellung geändert habe, aber … Nun, vielleicht habe ich sie doch geändert.“ Und in der Tat, Aldiss scheint heute ein bißchen abgeklärter zu sein als früher. Vor zehn Jahren stand er den vielen Mängeln der konventionellen Science Fiction noch extrem kritisch gegenüber und hat den radikalen Geist, der die Neue Welle im allgemeinen und das Magazin New Worlds im besonderen ausmachte, tatkräftig un terstützt. „Ich glaube, das hatte einen hilfreichen Effekt“, sagt er. „Ich bin der Überzeugung, daß das, was New Worlds tat, nicht in der Erschaffung eines neuen Publikums bestand. Das Publikum war schon vorhanden; ihr habt ihm nichts anderes gegeben, als ein Medium, auf das es sich konzentrieren konnte. Der Himmel möge uns beistehen, aber all das ist mit der Situation zu ver gleichen, in der sich 1926 Hugo Gernsback befand, als er das erste Science Fiction-Magazin startete! Auch er fand heraus, daß das Publikum dafür schon existierte. Und in den sechziger Jahren war die Situation nicht anders.“ Wie Aldiss es sieht, ist die Science Fiction jetzt kein abge schlossenes und alleinstehendes Genre mehr. Es hat von äuße ren Einflüssen profitiert. Er ist jetzt der Ansicht, daß man durch eine Umkehrung dieses Prozesses auch einen Teil der Main stream-Literatur „revitalisieren“ könne: 429
„Ich kann einfach nicht verstehen, wie jemand mit dem Ta lent einer Iris Murdoch seinen Büchern keinen breiteren Hinter grund gibt, statt sie mit Landhaus-Dramen zu füllen11. Ich bin der Meinung, daß diese Leute ganz enorm von den Hintergrün den profitieren könnten, die für uns in der Science Fiction gang und gäbe sind. Ich kenne diese Dame, sie ist sehr nett und intel ligent, aber ich meine, das ist es, was man spürt, wenn man der Science Fiction gegenüber loyal eingestellt ist.“ Aldiss unterhält sich mit mir in meiner Wohnung in London. Hin und wieder besucht er diese Stadt. Unser Gespräch ist eher eine formlose Unterhaltung als ein Interview. Er ist wie üblich in humoriger Stimmung und bevorzugt anstelle eines sorgfältig formulierten Frage-und-Antwort-Spiels ganz offensichtlich die Plauderei. Er fragt mich nach den anderen Leuten, die ich inter viewt habe und wir reden über den gemeinschaftlichen Geist, der zwischen Science Fiction-Autoren und ihren Lesern herrscht – über das, was Algis Budrys „Bruderschaft“ nennt. Ich erwähne die spontane Gastfreundlichkeit jener Autoren, die ich nie zuvor gesehen habe. Auch an dieser Stelle kann Aldiss es sich nicht verkneifen, Vergleiche mit der Welt der ernsthaften Literatur anzustellen. „Angenommen, du würdest ein Buch mit Profilen moderner englischer Schriftsteller machen“, sagt er. „Das würde doch ganz anders aussehen, nicht wahr? Ich meine – schlafen mit Beryl Bainbridge? Aber das käme wohl nicht in Frage. Aber ich kann dir sagen, daß ich Mainstream-Autoren kenne, die sich über das Verständnis, das unter Science Fiction-Autoren herrscht, freuen würden. J. G. Farrell – er hat übrigens auch den BookerPreis bekommen. Ich bin ihm ein- oder zweimal begegnet. 1
Siehe Seite 428
430
Damals mußte ich als Beobachter der P. L. R. (Public Lending Rights – eine Organisation, die dafür sorgt, daß Schriftsteller von öffentlichen Bibliotheken eine Ausleihtantieme erhalten) im Unterhaus an einigen Sitzungen teilnehmen. Farrell war auch da. Er ist ein intelligenter, aber einsamer Mensch, denn er kannte keinen der anwesenden Autoren und war der Meinung, mit ihnen nicht die geringsten Gemeinsamkeiten zu haben. Ich glaube, für einen Science Fiction-Schreiber wäre es ganz schön hart, in einer solchen Isolation zu leben. Ich meine … Geh hin, wo willst, wenn du mal aus Versehen in Tokio landest, gehst du einfach zum nächsten Science Fiction-Fan – und damit hat sich die Sache. Der Teufel kümmert sich schon um die seinen.“ All diese Worte über Einheit und Brüderlichkeit wärmen ei nem zwar die Seele, können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in bezug auf Anspruch und Methode zwischen Aldiss und den meisten amerikanischen Science Fiction-Autoren ganz offensichtliche Differenzen gegeben hat. Sicher, die Beleidi gungen und Schmähungen sind längst erstorben; aber einige Differenzen bestehen, wie Aldiss zugibt, immer noch: „Ich bin der Meinung, daß in der Science Fiction, die wir in den vergangenen zwei oder drei Jahrzehnten gesehen haben, zwei Schreibmethoden existieren, die nach der Vorherrschaft streben. Eine davon gewinnt immer – und zwar die, die das Erbe der Pulp-Magazine vertritt. Sie weist einen wirklichen Plot auf: Da ist irgendein Bursche in Schwierigkeiten, die er überwinden muß. So lautet die Formel. Sie erfordert einen Leseanreiz auf Seite eins, einen Haufen Aufregung – und schließlich ein über raschendes Ende. Meiner Meinung nach besteht die andere Möglichkeit, auf eine Geschichte oder einen Roman zuzugehen darin, sich Szenen einfallen zu lassen, die etwas aussagen, an das sich der Leser erinnert. Und man muß Figuren haben, die für ihn irgendwie erinnerungswürdig sind. Nein, das ist das fal sche Wort. Man muß sie voneinander unterscheiden können. 431
Das erfordert etwas mehr Können als das Ausdenken eines Plots, aber ich glaube, daß daraus ein Plot erwachsen kann, wenn man eigenständige Charaktere und starke Szenen hat – auch wenn er dem Rest untergeordnet bleibt. Das ist der Unter schied. Ich bevorzuge es, nach der zweiten Methode zu arbei ten. Hin und wieder habe ich mir zwar auch Plots ausgedacht, aber die Resultate waren, glaube ich, weit weniger gut.“ Ich frage Aldiss, welchen Science Fiction-Autoren er sich besonders verbunden fühlt. „Ich glaube, es gibt eine Menge Leute, denen ich mich kame radschaftlich – ist das der richtige Begriff? – verbunden fühle. Wahrscheinlich ist es das richtige Wort. Nach einer langen Tätigkeit weiß man, wer seine Freunde und Gegner sind, was aber nicht heißt, daß sie damit beendet wäre. Aber ich will die Leute, die mir nahestehen, gerne auflisten. Wahrscheinlich sollte ich mit Jimmy Ballard und Mike Moorcock anfangen, denn sie gehören an den Anfang. Was Jimmy machte, hat mir immer gefallen, und außerdem haben wir beide in der gleichen Klit sche angefangen: in New Worlds, als Carnell es noch heraus gab. Im Gegensatz zu vielen anderen Geschichten, die das Blatt publizierte, konnte man die seinen immer lesen. Und was die weiter draußen Wohnenden angeht – die Leute, die ich in dem Band Hell’s Cartographers (einem Essayband, in dem SF-Autoren über sich und ihre Arbeit berichteten) ver sammelte … auch für sie hege ich starke Sympathien. Da von vornherein bereits feststand, daß das Buch nicht viel Geld ein bringen würde, war uns klar, daß wir ‚kooperieren mußten, um Schlimmeres zu vermeiden’, wenn ich van Vogt mal zitieren darf.“ Aldiss lacht belustigt. „Also Fred Pohl – den ich schon seit langer Zeit kenne –, Bob Silverberg und Damon Knight. Obwohl ich in Damons Haus eher aus der Rolle gefallen bin, fühle ich mich ihm herzlich zugeneigt. Und Alfie Bester. Das waren die Leute, von denen ich hören wollte, was sie zu sagen 432
haben. Fred Pohls Ansichten zur Science Fiction sind meinen ziemlich ähnlich. Auch er weiß die Freiheit zu schätzen, daß der Erfolg ihm erlaubt, häufig herumzureisen. Wie ich interessiert auch er sich für die anderen Teile der Welt. Dies sollte an sich ein Charakterzug aller Science Fiction-Autoren sein. Mein Gott, wenn sich jemand für die Marsianer interessiert, müßte er sich dann nicht noch stärker für die Mayas interessieren? Sollte dieser Charakterzug nicht allen SF-Autoren zu eigen sein? Weit gefehlt. Meine Erfahrungen haben gezeigt, daß die Leute ganz anders sind. Es gibt eine Unmenge amerikanischer Schriftstellern, die ihr Land noch nie verlassen haben. Höchstens, daß sie mal eine Tagestour nach Tijuana gemacht haben. Ähnliches gilt für die britischen Autoren. Was mir an Ballard besonders gefällt, ist die Tatsache, daß er überzeugend fremdartige Umgebungen schildern kann. Das ist natürlich eine Folge seiner Erfahrungen im Fernen Osten; er hat sie nützlich ausgewertet. Was mir anfänglich an der SF gefiel, waren ihre ungewöhnlichen Hintergründe, etwa in den frühen Sachen Ray Bradburys. Aber nach einer gewissen Zeit bin ich dann dahintergestiegen, daß er in Wirklichkeit über Dinge redete, die sich auf seinem Hinterhof abspielen. Damit war der Reiz des Neuen natürlich vorbei. Das gleiche gilt für Clifford Simak: Ich hielt seine Romanhintergründe für phantastisch. Und dann kam ich darauf, daß sie einander alle glichen und nichts anderes waren, als sein Hinterhof – oder sein Vorgärtchen.“ Aldiss selbst fing in den fünfziger Jahren mit dem Schreiben an. Hatte er damals einen besonderen Ehrgeiz? Er denkt zwar darüber nach, scheint sich aber nicht entschei den zu können. „Egal was ich auch sage“, erwidert er, „es wird sich ausgeschmückt anhören und kommt der Wahrheit in kein ster Weise nahe. Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Ich glaube, daß ich gleichzeitig bescheiden und ambitioniert bin. Ich wollte Dichter werden, aber als ich dann anfing, moderne 433
Poesie zu lesen, sagte ich mir, na schön, das kannst du verges sen. Weißt du, ich hatte das Glück, daß Faber (ein britischer Hardcover-Verleger) mir schrieb und mich bat, meinen ersten Roman zu schreiben. Außergewöhnlich, wie? Aber vielleicht ist das der Grund, aus dem ich seither immer meinen Launen ge folgt bin. In Wirklichkeit hätte ich gerne Gesellschaftskomödien geschrieben. Und wenn Kingsley Amis nicht schon ein paar Jahre früher dagewesen wäre, hätte ich das vielleicht auch ge tan. Mein erstes Buch, The Brightfound Diaries, war eine Ge sellschaftskomödie; es war portionsweise in einer Zeitschrift erschienen. Und dann schrieb Faber mir einen Brief und fragte: ‚Hätten Sie Lust, die Sachen aneinanderzureihen und ein Buch daraus zu machen?’ Und es vergingen keine sechs Wochen, da lagen mir von sechs anderen Verlegern die gleichen Anfragen vor. Erstaunlich! Als ich dann das erste Buch gemacht hatte, sagte Faber: ‚Was wollen Sie uns als nächstes vorlegen?’ Darauf ich: ‚Nun, ich schreibe auch Science Fiction-Geschichten.’ – ‚Oh, prima!’ sagten sie daraufhin. Wir sind Science FictionFans.’ Und das entsprach der Wahrheit, denn sie waren es: Sir Geoffrey Faber, Ann Faber und Charles Montieth.“ Angesichts des Gedankens, wie einfach damals alles war, schüttelt Aldiss sich vor Lachen. Ich frage ihn, ob er im großen und ganzen mit dem Weg, den seine Karriere genommen hat, zufrieden ist. Schlagartig wird er wieder nüchtern. „Da sei der Himmel vor“, erwiderter. „Ich arbeite nämlich immer noch an ihr. Ich glaube, ich habe ziemlich viel Glück gehabt. Ich habe aber auch immer eine Nase dafür gehabt, wie man der Sklaverei entgeht. Ich habe zehn Jahre in einer Buchhandlung gearbeitet, bis ich das Benzin geld zusammenhatte, um aus dieser niederdrückenden Umge bung zu flüchten. Und davor bin ich aus dem Textilgeschäft meines Vaters geflohen, der altbackene Gentlemen ausstattete. Auf die gleiche Weise bin ich mit einem Satz aus dem Archi 434
tektenbüro meines Onkels entwischt. Es gab nicht viele Berufe, für die ich qualifiziert gewesen wäre; man hätte mich nicht mal beim Straßenbau verwenden können. Aber das Bedürfnis zum Schreiben hatte ich schon immer. Und das habe ich nun seit wer weiß wie vielen Jahren, na ja, jedenfalls eine geraume Zeit lang auch getan. Fünfundzwanzig Jahre? Einundzwanzig? Es hat mir immer Spaß gemacht. Und glaub mir, es macht immer noch Spaß.“ Gleichzeitig hat Aldiss natürlich auch seine Probleme gehabt – besonders in Amerika, wo sich einige seiner Bücher nicht so gut verkauften und man ihn weitgehend noch immer unter schätzt. „Nun, es ist richtig, daß ich Schwierigkeiten hatte“, gibt er zu, „aber die hatten, glaube ich, eher etwas mit meiner hochnäsigen Einstellung zu tun. Hauptsächlich habe ich das beim MalaciaGobelin zu spüren bekommen. Vorher war ich der Meinung, es läge an den anderen, aber wenn man so denkt, ist das nicht gut. Wenn man zu einem Höhenflug ansetzt, und die Sache geht den Bach hinunter, ist man am Ende selber schuld. Ich hielt den Malacia-Gobelin für ein gutes Buch. Es kam zuallererst bei Harper & Row heraus. Es verkaufte sich nicht sonderlich gut und niemand wollte die Taschenbuchrechte haben. Schließlich gingen sie sehr billig an Ace. Nun, Ace hat sich mit dem Buch alle Mühe gegeben, aber um ganz offen zu sein, ich hatte plötz lich ein Gefühl des Dejà vu im Hinterkopf, weil ich wieder dort publiziert wurde, wo ich zwanzig Jahre vorher angefangen hatte. Und der Honorarvorschuß war fast der gleiche geblieben. Wenn solche Dinge eintreten, ist es an der Zeit, nachzudenken. Ich nehme an, daß ich in gewissem Sinne, wenn auch eher langsam, dabei bin, mich selbst zu reformieren. Ich habe ein ziemlich ehrgeiziges Projekt am laufen; es handelt sich um einen schwergewichtigen Roman, der Heliconia heißen soll. Ich glaube, er wird ziemlich gut, und diesmal werde ich mich, wie es früher 435
üblich war, im Voraus an einen Verleger binden. Man muß mit der Verlagsindustrie zusammenarbeiten, nicht gegen sie. In Großbritannien ist sie immer noch eher mit der Baumwollindu strie zu vergleichen, auch wenn das seine Vorzüge hat. Aber in den Staaten ist sie mechanisiert. Ich glaube, daß mir diese Er kenntnis eingegangen ist. Ein weiteres Problem ist, daß meine Science Fiction-Romane sich nie mit hoher Technologie auseinandersetzen. Und daran kann man den Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien ausmachen. Die amerikanische Science Fiction beschäftigt sich viel mehr mit diesem Themen; das ist es, was die Sache problematisiert. Diese Sachen werden nicht nur verlangt, sie sind auch stets vorhanden. Ich halte das durch aus für einen positiven Punkt, aber die negative Seite besteht darin, daß die anderen Medien in den Staaten ziemlich viel zu sagen haben, und daß man den Leuten deswegen auch solchen Abfall wie Raumschiff Enterprise vorsetzen kann, wo die Zu kunft und die Galaxis hell und strahlend – nun, so strahlend ist sie nun auch wieder nicht – sein muß, damit sie optimistisch erscheint. Mir ist es einmal gelungen, eine ganze Folge dieser Serie ohne Unterbrechung zu sehen, und am Ende sagte Captain Kirk zu diesem – na, zu diesem Typ mit den Ohren –: ‚Dies beweist, daß die Galaxis zu klein ist, als daß weiße und grüne Menschen einander bekämpfen sollten’, woraufhin Spock nickt und sagt: ‚Das stimmt.’ Und sie klopfen sich auf die Schulter, und dann kommt die Musik. Nun, ich meine, Spock hätte sagen sollen: ‚Warum, zum Geier, sollten weiße und grüne Menschen nicht miteinander kämpfen? Platz ist doch genug dafür da!’ Li berale Plattitüden treiben mich zur Verzweiflung. Und dann erinnere ich mich noch an eine Auseinandersetzung, die ich mit einigen hochaktiven Burschen hatte, von denen einer sagte: ‚Das ist ein äußerst verderblicher Standpunkt. Sie halten das vielleicht für Plattitüden, aber in Wirklichkeit bewirken sie sehr 436
viel.’ Aber ich glaube immer noch, daß die Science Fiction sub versiv sein sollte. Sie sollte nicht in das Verkleisterungsspiel ein bezogen werden, sondern die Leute aufrütteln, weil ich glaube, daß sie, indem sie das tat, mich dazu verführt hat, sie zu lesen. Und das zählte. Sie sollte die Dinge in Frage stellen. Ich muß sagen, daß ich John W. Campbell und seinen verdammten Leitar tikeln in Analog eine Menge verdanke. Ich bin absolut der Mei nung, daß man provozieren soll, weißt du? Manchmal, wenn ich mich in einer noch manischeren Stimmung befinde, halte ich das alte Banner Campbeils immer noch hoch: Die Science Fiction soll Dinge ansprechen, von denen keiner was wissen will.“ Hat Aldiss das Gefühl, daß die amerikanische Verlagsindu strie immer mehr von den anderen Medien beherrscht wird und nur noch wenig Raum für Experimente zur Verfügung stellt? „Ich glaube, es ist schwer zu sagen, ob sich alles zum Schlechteren hin entwickelt. Es sieht zwar schlecht aus, aber wenn man erst jetzt in die Szene hineinkäme, würde man die Dinge wahrscheinlich ganz anders sehen. Es ist wie bei allem anderen: Wenn man etwas für eine geraume Weile kennt, ist der Lack ab. London kommt mir heute beispielsweise viel schreck licher vor als in den sechziger Jahren, aber wenn ich die Stadt heute erst entdecken müßte, würde ich sie vielleicht für einen tollen Ort halten. Ich kann nicht mehr sagen, als daß ich ein paar exzentrische Bücher produziert habe, die irgendwie hier und in den Staaten erschienen sind – sogar meine neue Essay sammlung, This World and Nearer Ones, wird bei St. Martin’s Press herauskommen; wenn auch in marginaler Form. Man kann also noch Hoffnungen hegen. Wie du weißt, glaube ich daran, daß man das tun soll, was man selbst für am besten hält. Wenn man im Untergang noch aus allen Rohren feuert – entgeht man ihm vielleicht noch mal. Und außerdem haben wir da noch das gute Beispiel John Wyndham. Wann war es doch gleich, 1952? Irgendwo auf dem 437
Weg nach Damaskus sah er plötzlich das Licht und hörte auf, John Beynon Harris, der Zeilenschinder für amerikanische Ma gazine, zu sein. Er entschied sich dazu, John Wyndham zu wer den und einen englischen Stil anzunehmen. Ich weiß, in Wahr heit war es wohl eher ein gemütlicher Teestundenstil. Aber es war einfach erstaunlich, welchen Erfolg er mit seinem Roman Die Triffids hatte. Ich habe ihn flüchtig gekannt; er kam manchmal zu den Treffen des Science Fiction-Frühstückklubs. Das war in jenen Tagen, in denen ich mich noch nicht traute, jemanden anzusprechen. Wyndham war sehr populär. Er stand immer auf und hielt eine Rede, die darauf hinauslief, daß er fragte: ‚Wieso nennt man das eigentlich Science Fiction? Das ist doch eine abscheuliche Bezeichnung.’ Seine Reden waren stets lang, aber eine Alternative haben sie nie aufgezeigt. Wyndham war so etwas wie ein instinktiver Schriftsteller, aber er war in allem sehr überzeugend. Ich glaube, er hat ihnen sogar einreden können, daß es möglich sei, Science Fiction in einem englischen Idiom zu schreiben, was immer beim Teufel das heißen mag; ich weiß es jedenfalls nicht. Vielleicht meinte er damit, man könne sie in einem altertümlichen Tonfall schreiben. In Wellsscher Tradition? Ja, aber ich glaube, daß Wells’ Ideen wichtig waren – und die Wyndhams nicht. Aber sein Beispiel schon.“ Hält Aldiss etwas von dem gegenwärtigen Trend, die Science Fiction im Schulunterricht zu behandeln? „Meiner Meinung nach sollten Bildung und Erziehung auch die Phantasie mit einbeziehen, ohne die wir alle sterben würden. Und wenn man Science Fiction liest, wird man dermaßen mit Phantasie aufgeladen, daß sie einem zu den Ohren wieder he rauskommt. Wenn man zwölf, fünfzehn, achtzehn ist, bewegt sie einen so, daß es einem geradezu die Schädeldecke abhebt. Wenn man sie nicht per Unterricht nahegebracht bekommt, liest man sie zwar auch, aber ich glaube es ist auch eine gute Sache, wenn sie auf dem Lehrplan steht. 438
Die negative Seite dieser Medaille dürfte jedermann klar sein: Es gibt eine Menge Akademiker, die die Leute zwar über Science Fiction unterrichten, denen die Materie aber ansonsten schnuppe ist. Aber warum sollten sie sich auch im gleichen Maße mit ihr auseinandersetzen wie wir? Sie sind schließlich weit weniger mit ihr verbunden. Ich habe mal eine Dame ken nengelernt, die ein Seminar über Dryden abhalten sollte, aber da sich niemand dafür eintrug, sprach die Arme stattdessen über Heinlein und van Vogt. Nun, ich weiß nicht, ob ich eine Menge von van Vogt oder Dryden lesen möchte, aber ich kann den Im puls erkennen, der hinter diesem Unheil liegt. Des weiteren sehe ich aber noch ein anderes Unheil, und das besteht darin, daß einige Science Fiction-Autoren nach der Universitätstrommel zu tanzen anfangen, Seminare abhalten und den Leuten das Schreiben beizubringen versuchen … Weißt du, das ist ein phantastisches Phänomen; die Science Fic tion bringt einfach alles fertig. Zu ihrem eigenen Schaden. Es gibt jetzt sogar schon den Science Fiction-Universitätsroman und die John Barths in der eigenen Szene. Leute wie Delany. Das ist sehr interessant!“ Plötzlich ist ein bösartiges Leuchten in Aldiss’ Augen. „Aber ich sehe nicht, daß dies viel Schaden anrichten könnte, weißt du. Wenn man sich die Sache durch den Kopf gehen läßt, sieht man, daß sie der unausweichliche Teil eines Prozesses ist: Irgendwann, nehme ich an, wird die Science Fiction sich im gleichen Maße verknöchern wie die moderne Literatur. Und gleichzeitig werden wir uns dieses Prozesses bewußt sein. Gewiß, als New Worlds praktisch aus dem Nichts auf den Markt kam, waren wir frei, aber ich kann mich ebenso daran erinnern, daß dies der Fall zu sein schien, als Fantasy & Science Fiction und Galaxy zum erstenmal erschienen.“ Wenn Aldiss schreibt, hat er dann ein spezielles Publikum vor Augen? „Als ich mit dem Schreiben anfing, fällt mir ein, wollte ich 439
für jeden schreiben, nicht bloß für eine begrenzte Leserschaft. Mir war beispielsweise bewußt, daß die Hälfte der Einwohner schaft der britischen Inseln Frauen sind. Und wäre es nicht herr lich gewesen, wenn mehr Frauen Science Fiction gelesen hätten? Das war natürlich kein wirkliches Ziel, aber so ungefähr habe ich gedacht, als ich anfing. Ich erinnere mich, daß ich beim Schreiben des Buches Fahrt ohne Ende (seinem ersten Roman) ziemlich unsicher war, wie mein Publikum aussah. Ich baute – wie immer man es nennen will – ,human touch’ in die Ge schichte ein, weil ich das Gefühl hatte, die Science Fiction die ser Zeit würde solche Dinge vernachlässigen. Ich fragte mich dabei, wie das wohl ankäme, weil ich nicht wußte, wer das verdammte Buch neben den SF-Lesern sonst noch lesen würde. Weißt du, jetzt nähere ich mich dem John Fowles-Stadium, wo ich das ganze Ding am liebsten noch einmal neu schreiben und mit einem Vorwort versehen möchte, das länger ist als der Roman.“ Er lacht. „Aber ich glaube, das ist ein Beispiel, das auf viele meiner späteren Titel anwendbar ist. Der Gedanke einer Menschengruppe, die die Umstände gefangenhalten – in diesem Fall ist es ein gigantisches Raumschiff – ist immer eines meiner Themen gewesen. Ich weiß auch nicht warum, wirklich nicht, denn ich sehe mich selbst überhaupt nicht als von den Umstän den eingekesselt an. Aber wahrscheinlich fühlte ich mich als Kind so, und es ist ja altbekannt, daß man sich auf das Reser voir seiner Erfahrungen bezieht.“ Was hat Aldiss in letzter Zeit getan? „Ich war im vorvorigen Jahr Vorsitzender des Schriftsteller verbandes. Die Sache hat mich tatsächlich ein ganzes Jahr ge kostet, in dem ich außer Pile, einem epischen Gedicht, das mich eine Woche kostete, nichts anderes geschrieben habe. Ich war dermaßen in die Arbeit vertieft, einen Gewerkschaftsanschluß für den Verband zu erreichen – und einige andere gute und we niger gute Sachen, daß man mir auch noch einen Sitz im Litera 440
rischen Beratergremium des großbritannischen Arts Council offerierte. Da ich dachte, daß es schlimmer wohl kaum noch kommen könne, nahm ich an. Jetzt, wo meine Periode abge laufen ist, bin ich eher desillusioniert. Man kann da nicht viel machen, denn hauptsächlich scheint man im Arts Council damit beschäftigt zu sein, sein Okay dafür abzugeben, daß irgend welche Leute, die nicht arbeiten, ein Stipendium erhalten. Sie arbeiten nicht schwer, verstehst du, das ist die verdammte Ant wort, ob sie nun gut sind oder nicht. Ebenso wenig gefällt mir die Art und Weise, in der man beim Arts Council die Spreu vom Weizen trennt. Jeder der dort tätig ist, scheint schon von vornherein zu wissen, was unterstützenswert ist und was nicht. Das ist sehr langweilig. Weißt du, ich habe versucht, bei dieser Behörde etwas Geld für den SF-Weltkongreß locker zu machen; ich hielt das für eine interessante Aufgabe. Immerhin wollten viertausend Leser nach Brighton kommen, warum also nicht? Warum sollte man nicht ein paar Scheine locker machen, die man außerdem noch zurückkriegen konnte, wenn der Kongreß mit einem Plus abschloß? Ich dachte, das könne eine Art Si gnalwirkung erzielen, oder Gottweißwas. Natürlich wollten sie es nicht machen. Das Arts Council erwiderte, dazu sei man nicht ausgerüstet und es gäbe diverse Schwierigkeiten. Ich habe keine Ahnung, welche unterschwelligen Vorbehalte da im Spiel waren, aber sie interessieren mich sowieso nicht. Mein nächster Roman, der herauskommt, ist ein Gegenwarts roman und spielt sozusagen im mythischen Jahr 1978. Im Früh jahr 1980 müßte er auf dem Markt sein. Er ist sehr ambitiös, heißt Life in the West und stellt für mich etwas dar, das meine Science Fiction einen Schritt weiterbringt. Wenn man so will, ist es der Roman, den ich von Iris Murdoch erwarte. Ich habe dabei in einen gewöhnlichen Roman jene Perspektiven hinein gepackt – oder es zumindest versucht –, die ich auch in meinen Science Fiction-Romanen zum Tragen kommen lasse, rede da 441
bei über das Heute und sehe es dabei als eine ziemlich späte Periode der zweiten byzantinischen Geschichte des Westens. Ich halte das für ziemlich wichtig – aber das tut man ja immer, wenn man gerade an etwas arbeitet. Man hält es für schrecklich wichtig. Und wenn es dann schließlich erscheint und in der Flut der anderen Bücher untergeht, werde ich äußerst traurig sein. Ich könnte mir vorstellen, daß die Leute es für anmaßend halten werden. Ich persönlich kann Anmaßung nicht ertragen. Tatsächlich hasse ich es, wenn andere anmaßend werden; An maßung ist ein gutes Thema für Komödien. Aber dennoch komme ich von dem Gedanken nicht los, daß ich ebenfalls an maßend bin – weil mich das Thema so stark interessiert. Man muß schon ein bißchen davon in sich haben, wenn man sich für etwas interessiert und es vom Sockel holt. Man kann der Anmaßung ausweichen, indem man in Erzäh lungen metaphorisch wird. Ein ganzer Haufen Science Fiction ist metaphorisch: So kann man gewissermaßen ein Riesenge mälde schaffen, ohne anmaßend zu sein. Man gibt dem Leser die Möglichkeit, das Bild auf seine Weise zu interpretieren. Und das ist etwas, das mir an der Science Fiction gefällt und was ich an einem gewöhnlichen Roman ablehne: Er ist an den Realismus gebunden, deswegen fehlt ihm die metaphorische Qualität, die einen guten SF-Roman ausmacht. Weißt du, trotz all ihrer Fehler, ist die Science Fiction nicht kurzsichtig. Sie versucht die Dinge im Breitwandverfahren zu sehen. Und das mag man an ihr. Mein Gott, welchen Weg soll man sonst nehmen? Vielleicht erscheine ich deswegen heute gereifter. Ich habe gesehen, daß es noch andere Gebiete in der Literatur gibt, in denen man sich tummeln kann. Aber ich halte sie nicht mehr für viel besser.“ London, Im September 1979
442
Bibliographische Anmerkungen Brian Aldiss’ erster SF-Roman war Fahrt ohne Ende, der in England 1958 (dt. Ausgabe 1970) erschien. Es war der Versuch, eine klassische Science Fiction-Idee, die vorher Heinlein u. a. benutzt hatten, zu humanisieren. Fahrt ohne Ende handelt von einer Menschengruppe, die sich an Bord eines gewaltigen Raumschiffs aufhält, dessen Reise mehrere Generationen über dauert. Obwohl das Buch sich anmerken läßt, daß es ein Erst ling ist, besticht es durch lebhafte Phantasie und gut skizzierte Charaktere. Am Vorabend der Ewigkeit (dt. 1964) ist eine Fan tasy der fernen Zukunft, in der die Menschheit in die Primitivi tät zurückgefallen ist und zwischen überdimensionalen Ge wächsen lebt. Der aus mehreren Erzählungen zusammengesetz te Roman erhielt 1962 den Hugo Award. The Dark Light Years (1964) beschreibt die Kontaktaufnahme der Menschheit mit freundlichen Außerirdischen, die ihnen jedoch abscheulich er scheinen: ein Buch für Koprophage. Aufstand der Alten (1964; dt. 1967) ist die unterschätzte Studie einer Welt, in der es keine Kinder mehr gibt. Als die Alten aussterben, steht das Ende der Menschheit bevor. Report über Probabilität A (1968; dt. 1976) war Aldiss’ erste echte Experimentalgeschichte; ein Kurzro man, der einen je nach Standpunkt entweder amüsiert oder in den Wahnsinn treibt, da er im Zeitlupentempo und ungeheurem Detailreichtum zunehmend zur Desorientation beiträgt. Bare foot in the Head (1969) ist eine Folge von Kurzgeschichten, die in einem zukünftigen England spielen, das einen Drogenkrieg hinter sich hat; die Prosa ist entsprechend lyrisch und krumm. Frankenstein Unbound (1973) ist eine Zeitreise-Fantasy, in der Mary Shelley mitspielt, Der Malacia-Gobelin (1976; dt. 1978) eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund einer rätselhaften und ewigen Zukunftsstadt.
443
Selbstporträt Charles Platt hat fünfzehn Romane und Sachbücher geschrie ben. Nachdem er die Universität Cambridge verließ, an der er ein paar Monate lang Wirtschaftswissenschaften studiert hatte, ließ er sich als freier Schriftsteller nieder. Er kehrte der lang weiligen Kleinstadt, in der er den größten Teil seiner Kindheit verbracht hatte, den Rücken und zog nach London, wo er für das Magazin New Worlds arbeitete und nebenher mehrere Jahre lang in diversen obskuren Rockformationen die Tasteninstru mente bediente. Er machte das Layout für New Worlds, war dort als Herstel ler tätig und spielte zwischen 1965 und 1970 auch hin und wie der den Part des Herausgebers. In dieser Zeit erschienen auch seine beiden ersten Romane: Garbage World, eine spaßige Science Fiction-Satire, und The City Dwellers, die neurotische Vision zukünftiger Trends im britischen Stadtleben.
444
Platt verließ England im Jahre 1970 und ließ sich in New York nieder. Hier schrieb er, um ein ungebundenes Leben, das ihn durch ganz Amerika brachte, führen zu können, ein paar Romane, die nicht weiter auffielen. 1972 stellte der Verlag Avon Books in New York ihn als beratenden Redakteur ein. Platt stellte Avons „Rediscovery“-Reihe zusammen und überre dete den Verlag, ein paar New Worlds-Ausgaben in Buchform herauszugeben. Als der Verlag sich weigerte, Philip K. Dicks Roman Eine andere Welt zu kaufen, weil er dessen Titel nicht für gut hielt, kündigte er. Platt verbrachte einige Zeit damit, sich außerhalb der Science Fiction schriftstellerisch zu betätigen und produzierte dabei die unterschiedlichsten Stoffe, von Outdoor Survival (einem Führer für junge Leute) bis hin zu Sweet Evil (einer Fantasy von Man sonesker Dekadenz). Er war New Yorker Kolumnist für die Los Angeles Free Press, unterrichtete Abendschüler an zwei New Yorker Colleges und arbeitete sogar kurze Zeit als Zauberer. Mit Dämmerung in der Stadt (dt. 1982), einem realistischen Ausblick in eine nahe Zukunft, kehrte er zur Science Fiction zurück. Dieser Roman basiert lose auf dem früheren Titel The City Dwellers und ist Platts bisher bedeutendstes Prosawerk, wobei besonders ins Auge fällt, daß es Wirtschaftstheorien be nutzt, um darauf ein Zukunftsszenario aufzubauen. Platts größte Einflüsse waren Alfred Bester, der große Inno vator der fünfziger Jahre, und J. G. Ballard, der große Innovator der sechziger. Platt ist weiterhin an den meisten Formen des literarischen Experiments interessiert und spielt noch immer eine aktive Rolle beim Magazin New Worlds – 1979 finanzierte, redigierte und gestaltete er eine Ausgabe im Alleingang und organisierte den Vertrieb dieser und vieler anderer Nummern. Er meint immer noch, daß New Worlds die einzig echte, radika le und skeptische Stimme in der SF-Szenerie darstellt. Platt besitzt ein kleines, bescheidenes Apartment in Notting 445
Hill/London, wo früher Hippies lebten und sich jetzt der obere Mittelstand breitgemacht hat. Außerdem besitzt er ein kleines, bescheidenes Apartment im West Village von Manhattan. Wenn er es sich erlauben kann, bewegt er sich zwischen diesen Brückenköpfen mit Lakers Skytrain hin und her. Platts Hobbies sind Fahrradfahren in der Stadt, Elektronik, Gebrauchsgraphik und die Jagd auf jene paar dekadenten Neu heiten, die nicht zuviel kosten. Er ist 35 Jahre alt und geschieden. Platts Science Fiction-Kritiken und – Kommentare wurden in Magazinen wie Harpers’, Time Out, The Los Angeles Free Press, New Worlds, Ariel, Ad Astra, beim Verlag Gregg Press, Unearth und The Village Voice, aber auch in Kleinzeitschriften wie Foundation und Science Fiction Review veröffentlicht.
446
Anhang: Das Recht zur Gegenrede Es ist natürlich unumgänglich, daß einige der Leute, über die ich geschrieben habe, mit dem, wie sie dargestellt werden, nicht einverstanden sind. Ich habe eine ganze Reihe ihrer Anmerkun gen berücksichtigt und die einzelnen Profile kleinen Änderun gen unterzogen, um tatsächliche Fehler oder unzutreffende An nahmen zu korrigieren. Es hat aber auch Fälle gegeben, in de nen ich nicht davon überzeugt war, das was ich geschrieben hatte, ändern zu müssen. Stattdessen zog ich es vor, meinen Interviewpartnern an dieser Stelle das Recht zur Gegenrede ein zuräumen. Robert Sheckley wies darauf hin, daß das ihn in diesem Buch mit Schnauzbart zeigende Foto nicht den neuen, glattrasierten Robert Sheckley abbildet. Edward Bryant, der grundsätzlich mit seinem Porträt einver standen war, beschwerte sich darüber, daß er klinge wie ein hoffnungsloser Sozialfall am Rande des Verhungerns. Sein Kommentar: „Es würde mich nicht überraschen, wenn sich nach der Lektüre des Interviews ein paar barmherzige Seelen finden, die mir einige Konserven schicken. Es ist eine Schande, daß das Buch erst im Herbst 1980 erscheint – und nicht jetzt, wo ich was zu Futtern gebrauchen könnte.“ Samuel Delany gefiel nicht, daß ich auf seinen „akademi schen Habitus, Prosa und Sprache zu analysieren“ hinwies und merkte an, er habe insgesamt nur dreieinhalb Semester im aka demischen Umfeld verbracht – als Student und Lehrer. Ich meine jedoch, daß man auch einen akademischen Habitus zur Schau stellen kann, ohne allzu lange auf Colleges herumgehangen zu haben. Barry Malzberg zu seinem Porträt: „Es gefällt mir zwar stel
lenweise nicht besonders, stellt mich aber fair dar. Ich mag keine Eingebildetheit (sondern spotte lieber darüber) … aber schließ lich mag ich auch meine Karriere nicht.“ Sowohl Harlan Ellison als auch seine Assistentin Linda Steele beschimpften mich in beträchtlicher Länge, weil ich in Ellisons Porträt anstelle von „Frau“ das Wort „Mädchen“ benutzte. In diesem Falle geschah dies aber durchaus bewußt und absicht lich. Ian Watson beschwerte sich ziemlich verbissen darüber, daß ich ihn als Oxford-Akademiker hinstellte, weil er Oxford nicht ausstehen kann und jetzt in ein kleines Dorf in einem völlig anderen Landesteil übergesiedelt ist. John Brunner, der auf meinen leicht ausgeflippten Geistes blitz mit den schwarzen Stadtguerillas, die ihm plötzlich gegen überstehen, reagierte, schrieb: „Wie viele Leute kennen Sie, die zum Sunday Afternoon Blackening ins Schwarze Nationaltheater von Harlem eingeladen wurden … oder die Bewohner des schwarzen neunten Bezirks von New Orleans zum Essen mit nach Hause nahmen? Ich dachte, ich sollte das vielleicht mal erwähnen!“ Und schließlich möchte Brian Aldiss noch eine Entschuldi gung dafür anbringen, daß man ihn eventuell verdächtigen könne, er habe in seinem Interview Iris Murdoch heruntermachen wollen. Dies ist natürlich in keinster Weise seine Absicht gewesen.