S T U D I A P H I L O S O P H I C A Vol. 67/ 2008
Glaube und Wissen Croire et Savoir Zum 125. Geburtstag von Karl Jaspe...
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S T U D I A P H I L O S O P H I C A Vol. 67/ 2008
Glaube und Wissen Croire et Savoir Zum 125. Geburtstag von Karl Jaspers À propos du 125e anniversaire de Karl Jaspers Redaktion: Anton Hügli Rédaction: Curzio Chiesa Gasteditor: Steffen Wagner
Schwabe
STUDIA PHILOSOPHICA VOL. 67/2008 JAHRBUCH DER SCHWEIZERISCHEN PHILOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT ANNUAIRE DE LA SOCIÉTÉ SUISSE DE PHILOSOPHIE
SC H WA BE V E R L AG BASE L
GLAUBE UND WISSEN ZUM 125. GEBURTSTAG VON KARL JASPERS
CROIRE ET SAVOIR À PROPOS DU 125 e ANNIVERSAIRE DE KARL JASPERS
REDAKTION / RÉDACTION ANTON HÜGLI / CURZIO CHIESA GASTEDITOR / ÉDITEUR INVITÉ STEFFEN WAGNER
SC H WA BE V E R L AG BASE L
Publiziert mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften Publié avec l’aide de l’Académie suisse des sciences humaines et sociales
© 2008 by Schwabe AG , Verlag, Basel Satz: post scriptum, www.post-scriptum.biz Druck: Schwabe AG , Druckerei, Muttenz / Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2444-8 www.schwabe.ch
Inhalt / Table des matières
Glaube und Wissen Zum 125. Geburtstag von Karl Jaspers Croire et savoir À propos du 125e anniversaire de Karl Jaspers
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grußworte zum Jaspers-Symposion in Neapel Fabrizio Lomonaco, Direttore del Dipartimento di Filosofia «A. Aliotta» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anton Hügli, Präsident der Karl-Jaspers-Stiftung . . . . . . . . . . . . . . Giuseppe Cantillo, Direttore del Centro di Ateneo Scuola di Alta Formazione «Federico II» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung Reiner Wiehl : Gewissheit und Vertrauen. Zur Kosmo-Anthropologie von Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vernunft und Transzendenz Paola Ricci Sindoni : Gott unter Anklage: Jaspers und der Fall Hiob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Rentsch : Transzendenz und Vernunft: Wie lässt sich ihr Verhältnis heute bestimmen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Ringleben : Sprache und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . Francesco Miano : Phänomenologie des Gewissens. Zur Existenzerhellung bei Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudio Fiorillo : Die einende Grenze: Paradoxon, Kommunikation, Leid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt / Table des matières
Der philosophische Glaube Anton Hügli : Von der Subjektivität des Glaubens und der Objektivität des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Cesana : Philosophischer Glaube und Selbstvergewisserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurt Salamun : Der philosophische Glaube als zentrale Komponente von Karl Jaspers’ Menschenbild . . . . . . . . . . . . . . Bernd Weidmann : Philosophischer Glaube und politisches Engagement. Zivilreligiöse Motive bei Karl Jaspers . . . . . . . . . Steffen Wagner : Der philosophische Glaube zwischen Ontologismus und Transzendentalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Philosophischer Glaube und Offenbarungsreligion 15
Hans Saner : Karl Jaspers und das Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . Giuseppe Cantillo : Kierkegaard und die Existenzphilosophie von Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roberto Celada Ballanti : Die Augustin-Deutung von Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Hühn : «Tief langweilige sogenannte ‹Transzendenz›»? Zur Auseinandersetzung zwischen Karl Barth und Karl Jaspers
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Anthropologie, Psychopathologie und Pädagogik 25
Rossella Bonito Oliva : Existenz und Pathologie: Jaspers und Binswanger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Stelzer : Von Max Webers Gehäuse-Metapher zum
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Gehäuse-Begriff bei Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stefania Achella : Das Zeiterleben als Chiffre des Bewusstseins . . . Anna Donise : Karl Jaspers als Phänomenologe . . . . . . . . . . . . . . . . Angela Giustino Vitolo : Das pädagogische Planen und das Ziel der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vom Ursprung des Wissenwollens Jacques Bouveresse : Le besoin de croyance et le besoin de vérité . .
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Inhalt / Table des matières
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Buchbesprechungen / Comptes rendus
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Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter †, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Basel 1971-2007, Band 13: Register mit Volltext-CD-ROM des Gesamtwerks (Marcel Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Engel : Va Savoir! De la connaissance en général, Paris 2007 (Jonas Pfister) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Guillaume d’Ockham : Intuition et abstraction, textes introduits, traduits et annotés par David Piché, Paris 2005 (Joël Lonfat) . . Diego Marconi : Per la verità. Relativismo e filosofia, Torino 2007 (Marcello Ostinelli) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Adressen der Autoren / Adresses des auteurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Redaktion / Rédaction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Glaube und Wissen Croire et savoir 5
Vorwort 10
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Zwei große Wege bieten sich dem abendländischen Menschen an in seinem Bedürfnis nach Orientierung in dieser Welt: der Weg der Wissenschaft, der methodisch geregelten, nie abschließbaren Wahrheitssuche, und der Weg des Offenbarungsglaubens, des riskanten, durch keine Begründung einholbaren Sprungs zu der gläubigen Hinnahme ewiger Glaubenswahrheiten. Der Philosophie scheint – angesichts dieser beiden Wege – nur die Rolle einer dienstbaren Magd zu bleiben, sei es der Wissenschaft oder der Theologie oder beider. Dass Philosophie in dieser Rolle nicht aufgehen kann, zeigt sich schon darin, dass sie sich den Geltungsansprüchen dieser beiden Mächte nicht blindlings unterwirft, sondern deren Wahrheitsansprüche ihrerseits wieder zum Gegenstand einer kritischen Untersuchung machen und an ihren eigenen Wahrheitsansprüchen messen kann. Sie erschließt uns, indem sie dies tut, einen möglichen dritten Weg – den Weg hin zu einer philosophisch gegründeten Existenz. Kant hat uns diesen Weg auf exemplarische Weise eröffnet – in Form des von ihm postulierten, die Grenzen des Erfahrbaren überschreitenden «Vernunftglaubens». Karl Jaspers hat diesen Gedanken umfassend entfaltet – unter dem Begriff des philosophischen Glaubens, d. h. einem Glauben, der nicht auf einem irrationalen Sprung beruht, sondern nicht abweisbarer Glaube jedes einzelnen Menschen sein kann, der sich – in seiner geschichtlichen Situation – in seinem Denken zu orientieren sucht und nach dem Umgreifenden fragt, das alles Seiende transzendiert und sich jeder Objektivierung und Fixierung entzieht. Das Werk von Jaspers stellt die Philosophie vor die Frage, wie sie es hält mit der Möglichkeit dieses dritten Weges neben Wissenschaft und Offenbarungsreligion auf dem Boden einer universalen, alle Menschen verbindenden Vernunft. Diese Frage ist nicht nur eine Schicksalsfrage der Philosophie, sondern – in der heutigen Situation eines angeblich unversöhnlichen Kampfes der Kulturen – letztlich auch eine Schicksalsfrage der Menschheit. An einer von der Karl-Jaspers-Stiftung in Basel und dem Dipartimento di Filosofia «A. Aliotta» der Università degli Studi di Napoli «Federico II»
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Vorwort
organisierten internationalen Tagung an der Universität Neapel zum Thema «Karl Jaspers. Glaube und Wissen» im November 2007 haben Philosophen, Theologen und Psychologen aus Italien, Deutschland, Österreich und der Schweiz sich dieser Frage zu stellen versucht: zum einen durch Vergegenwärtigung des von Jaspers aufgezeigten Weges, zum andern durch Situierung seiner Position in der Tradition der abendländischen Philosophie und im Kontext des heutigen Philosophierens. Aus Anlass des 125. Geburtstages von Karl Jaspers (1883-1969) haben wir die Thematik der Tagung in Neapel in den Mittelpunkt der Studia Philosophica 67 gestellt. Dies zum Andenken an einen der wohl größten deutschsprachigen Philosophen des 20. Jahrhunderts, den die Schweiz – falls es so etwas wie nationale Philosophie überhaupt geben könnte – auch für sich verbuchen dürfte. 1948, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, ist Karl Jaspers von Heidelberg an die Universität Basel berufen worden und hat dort noch 14 Jahre gelehrt und bis zu seinem Tod – zuletzt noch als Schweizer Bürger – gelebt. Die Entwicklung seines tragenden Begriffs eines philosophischen Glaubens und seine Auseinandersetzung mit der Offenbarungsreligion war eines der Hauptthemen seiner überaus produktiven Basler Zeit. Die Internationalität des Symposions in Neapel zeugt von der Bedeutung, die seinem Werk heute noch weltweit zukommt. Dass dieses Werk eine Brücke zu schlagen vermag zwischen den völlig verschiedenartigen philosophischen Kulturen des deutschen und des romanischen Sprachraums, ist für die Schweizerische Philosophische Gesellschaft ein Grund mehr, ihm auch in ihrem Jahrbuch angemessenen Raum zu geben. Die in diesem Band gesammelten Artikel sind aus Vorträgen hervorgegangen, die an der Tagung in Neapel gehalten worden sind. Alle italienischsprachigen Beiträge sind dabei ins Deutsche übersetzt worden, zum einen, um deren Rezeption im deutschsprachigen Sprachraum zu erleichtern, zum andern, weil reziprok auch eine rein italienischsprachige Edition der Symposionsbeiträge geplant ist. Die Redaktion und Übersetzung der italienischsprachigen Artikel wäre nicht möglich gewesen ohne die Mithilfe von Steffen Wagner, der, als Deutscher in Neapel lehrend, sich schon bei der Organisation und Durchführung der Tagung als unverzichtbar erwiesen hat. Wir haben ihn, um seine Leistung und seine Verdienste für diesen Band auch angemessen zu würdigen, als Gasteditor in unser Redaktionsteam aufgenommen. Ausgespart in allen diesen – in erster Linie von der philosophischen Auseinandersetzung mit der Religion geprägten Artikeln – bleibt die Frage, woher unser Wille zu wissen und unsere Präferenz für Wissen statt für Glau-
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Vorwort
ben überhaupt entspringt. Der einzige, dafür sehr umfangreiche französischsprachige Beitrag in diesem Band geht dieser Frage nach und schafft damit auch den Bezug zu der eher analytisch orientierten Philosophie, in der diese Frage zurzeit intensiv diskutiert wird. 5
Anton Hügli
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Curzio Chiesa
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Grußworte zum Jaspers-Symposion in Neapel 5
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Ein bedeutenderes wissenschaftliches Zusammenkommen, als dieses Karl Jaspers gewidmete Symposion, hätte es in diesen ersten Novembertagen und zu Beginn meiner Leitung des Philosophischen Seminars «Antonio Aliotta» der Universität von Neapel «Federico II» nicht geben können. Für diesen wichtigen und internationalen Moment kulturellen Lebens, für seine Ideation und Organisation, bin ich meinem Freund und Kollegen Giuseppe Cantillo und seinen Mitarbeitern sehr dankbar. Es ist außerdem eine willkommene Gelegenheit, an eine große Denkerfigur des 20. Jahrhunderts zu erinnern, und zwar an Pietro Piovani. Viele neapolitanische Studierende und Gelehrte, die in ihrem Werdegang von diesem Lehrmeister geprägt wurden, sind heute in dieser Aula Magna anwesend, die seinen Namen trägt. Piovani feierte 1947 als Rezensent sein Debüt zu Anlass der italienischen Übersetzung von Über meine Philosophie, und er förderte 1969 die Veröffentlichung der Übersetzung der Philosophischen Autobiographie, in der interessanten Reihe «Athenaeum» des neapolitanischen Verlagshauses Morano. Es handelt sich bekanntlich um einen biographischen Text, der in seinem maßvollem Ton und seiner besonders strengen sittlichen Würde gerade deshalb bedeutsam ist, weil er geschickt in das Verständnis der Jaspers’schen Philosophie einleitet. Dies bezeugen die Gedanken zu einem Überblick über «das Ganze meiner Schriften», in denen Jaspers in der Erfahrung der «Grenzsituationen» und der «Erhellung der Kommunikation» die wesentlichen Kennzeichen seines Schaffens ausmacht: «Das Wesen des Menschen» – schreibt er – «wird sich erst bewußt in den Grenzsituationen. Daher suchte ich von Jugend an mir das Äußerste nicht zu verschleiern. Das war eines der Motive, warum ich Medizin und Psychiatrie wählte». In eine andere Richtung seines Gedankens fortschreitend führt er aus: Wir werden wir selbst nur in dem Maße, als der andere er selbst wird, werden frei nur, soweit der andere frei wird. Daher war mir seit der Schülerzeit die Frage der Kommunikation zwischen Mensch und Mensch zunächst die praktische, dann die philosophisch bedachte Grundfrage unseres Lebens. […] die Wahrheit selbst konnte unter den Maßstab gebracht werden: Wahrheit ist, was uns verbindet,
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Grußworte zum Jaspers-Symposion in Neapel
und unter den Anspruch: den Wert der Wahrheit an der Wahrheit der durch sie möglichen Verbindung zu ermessen. […] In diesen beiden Richtungen […] bin ich an kein Ende gelangt.1
Mir obliegt es hingegen, an dieser Stelle ein weit empirischeres und weniger bedeutungsträchtiges «Ende» zu finden und mich bei Ihnen allen für Ihre freundliche Aufmerksamkeit und Teilnahme am heutigen Abend, sowie an den folgenden Tagen dieser Veranstaltung zu bedanken. Fabrizio Lomonaco Direttore del Dipartimento di Filosofia «A. Aliotta»
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*** In meiner Funktion als Präsident der Karl-Jaspers-Stiftung will ich mich gerne dem Reigen dieser Begrüßungsworte anschließen. Die Karl-JaspersStiftung wurde kurz nach dem Tode von Karl Jaspers von der Genfer Philosophin Jeanne Hersch ins Leben gerufen mit dem Ziel, eine Institution zu schaffen, die sich für die Förderung des Werks und des Denkens von Karl Jaspers einsetzt. Die Stiftung hat dies in den mehr als 30 Jahren ihres Bestehens, erst unter dem Präsidium von Jeanne Hersch, dann unter dem unseres Ehrenpräsidenten, meines verehrten Kollegen Reiner Wiehl, auf vielfältige Weise zu tun versucht: durch Veröffentlichung einer stattlichen Reihe von Nachlassbänden und Briefeditionen, durch Tagungen, Ausstellungen und eigene Publikationen. Zurzeit steht eine ihrer schwierigsten Aufgaben an: die Edition einer kritischen Gesamtausgabe der Werke und des Nachlasses von Karl Jaspers, die an die 50 Bände umfassen wird. Die Aufgabe der Stiftung ist nicht leichter geworden. Als Folge wohl der «Emigration» von Karl Jaspers in die Schweiz und seines vernichtenden Urteils über die mentale Verfassung der Bundesrepublik ist es in Deutschland «merkwürdig still» geworden um Jaspers. Der Vormarsch der analytischen Philosophie in den deutschen Ländern hat seine Rezeption noch zusätzlich erschwert. Umgekehrt proportional dagegen wächst seine internationale Bedeutung: er ist der wohl meist übersetzte deutsche Philosoph des 20. Jahrhunderts, seine Bücher sind weltweit in mehr als 30 Sprachen verbreitet worden. Es gibt Jaspers-Gesellschaften in den USA ebenso wie in Japan. Wir 1
Karl Jaspers: Philosophische Autobiographie (München: Piper, erw. Neuausgabe 1977) S. 123f.
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Grußworte zum Jaspers-Symposion in Neapel
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sind darum dankbar für jedes Echo, das die Stimme von Jaspers in andern Teilen Europas und der Welt gefunden hat. Italien ist, unter allen Ländern Europas, dasjenige, aus dem dieses Echo am klarsten und stärksten zu uns dringt. Dies ist nicht zuletzt das Verdienst unsers werten Kollegen Giuseppe Cantillo und all der andern Kollegen, die an unserem Kolloquium hier in Neapel teilnehmen werden. Ihnen auch ist es zu verdanken, dass wir überhaupt hier und heute, in den Räumen der Università degli Studi di Napoli «Federico II» tagen können. Es ist mir darum ein ganz besonderes Anliegen, den Organisatoren vor Ort, insbesondere Prof. Giuseppe Cantillo, Prof. Francesco Miano, Dr. Steffen Wagner und dem Sekretariat, für ihre große Arbeit meinen herzlichsten Dank auszusprechen. Mein Dank gilt aber ebenso sehr auch dem Rektor, Magnifizenz Prof. Guido Trombetti, dem Präsidenten der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, Prof. Massimo Marrelli, und dem Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät, Prof. Eugenio Mazzarella, für ihre großzügige Unterstützung unseres Unternehmens und ihren warmen Empfang. Das Thema «Glauben und Wissen», um das es in dieser Tagung geht, verbindet uns alle in besonderer Weise. Ganz allgemein durch seine kaum zu bestreitende Aktualität in der heutigen Zerrissenheit der Welt zwischen Anhängern traditionaler Kirchlichkeit oder fundamentalistischer, gewaltbereiter Religiosität auf der einen Seite und den glaubenslosen, positivistischer Seichtigkeit verfallenen Massen einer westlichen Wohlstandsgesellschaft auf der anderen Seite. Die uns verbindende Schicksalsfrage ist, ob es einen gemeinsamen Boden der Vernunft geben kann, auf dem wir uns überhaupt noch treffen können, und eine Form des Glaubens, der die überlieferten religiösen Gehalte auch in einer modernen, von Wissenschaft und Technik geprägten Welt in transformierter Gestalt zu retten vermag. Bemerkenswert und ein Band besonderer Art aber ist, dass unser Gespräch hier in Italien stattfindet, dem Ursprungsland römisch-katholischer Kirchlichkeit, und dass es in diesem Gespräch gerade darum geht, der Stimme von Karl Jaspers Gehör zu verschaffen, der als Norddeutscher das nordische protestantische Prinzip der inneren Freiheit des Einzelnen – jenseits des Offenbarungsglaubens – zum Grundprinzip seiner Philosophie erhoben hat. Die Spannung zwischen Katholizität und Freiheit wird darum eine der großen Klammern sein, die unser Thema umfasst. Uns als Philosophierenden aber wird alles daran gelegen sein, nicht alte Positionen neu zu verfestigen, sondern diese Positionen zu verflüssigen im Zuge der großen Gedankenbewegung, die von Karl Jaspers und seinem Werk ausgeht und die
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Grußworte zum Jaspers-Symposion in Neapel
sich als Grundlegung versteht einer weltweiten, alle Menschen umfassenden Kommunikation der Vernunft. Diesen Geist der Offenheit unmittelbar – im Hier und Jetzt – erfahrbar machen zu können, dies allein schon, meine ich, dürfte unser Symposion rechtfertigen. Ich wünsche mir darum, dass diese bereichernde Erfahrung auch das beste Dankesgeschenk sein wird für alle, die sich an unserem Gespräch beteiligen: für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Italien ebenso wie für meine Kollegen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die sich in dankenswerter Weise bereit gefunden haben, unserer Einladung nach Neapel zu folgen.
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Anton Hügli Präsident der Karl-Jaspers-Stiftung 15
*** Mein außerordentlicher Dank gilt an dieser Stelle der Karl-Jaspers-Stiftung, in der Person ihres Präsidenten, Prof. Dr. Anton Hügli, für die Entscheidung, dieses Jaspers-Symposion zusammen mit dem Philosophischen Seminar «Antonio Aliotta» der Universität «Federico II» hier in Neapel durchzuführen. Dabei handelt es sich für uns um eine sehr große Ehre, aber auch um eine große Verantwortung, und ich hoffe, dass wir dieses Vertrauen, das die Karl-Jaspers-Stiftung in uns gesetzt hat, verdienen werden. Ich möchte mich aber auch bei den Teilnehmern der Tagung für ihr Kommen bedanken. Vor allem unsere deutschsprachigen Kollegen darf ich hier in Neapel herzlich willkommen heißen und Ihnen allen einen erfreulichen Aufenthalt in unserer Stadt wünschen. Mein Dank gilt außerdem Seiner Magnifizenz, Rektor der Universität zu Neapel «Federico II», Prof. Guido Trombetti, sowie dem Pro-Rektor Prof. Vincenzo Patalano, für die Unterstützung, die sie unserer Tagung haben zukommen lassen. Danken möchte ich aber auch dem Dekan der Fakultät, Prof. Eugenio Mazzarella, der uns die Aula Magna, sowie den schönen Kreuzgang der Fakultät zur Verfügung gestellt hat. Auch an Prof. Fabrizio Lomonaco, dem Direktor des Philosophischen Seminars «Antonio Aliotta» geht meine Dankbarkeit, an das gesamte Verwaltungspersonal, sowie auch an Frau Prof. Adele Nunziante Cesaro, der Direktorin des Seminars für Psychologie. Mein besonderer Dank gilt schließlich Prof. Francesco Miano und Dr. Steffen Wagner für ihre wissenschaftliche Zusammenarbeit, sowie er-
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neut Dr. Steffen Wagner und Frau Lucia Rizzuti, die zusammen mit Dr. Luca Scafoglio und Frau Lina Ombra die Hauptlast des organisatorischen Teils getragen haben und in diesen Tagen tragen werden. Gleiches gilt für alle anderen Mitarbeiter meines Lehrstuhls. Ein herzliches Dankeschön gilt jedoch auch meinem verehrten Lehrer, Prof. Aldo Masullo, der heute Nachmittag hier unter uns ist. Nun einige kurze Bemerkungen zum Thema unserer Tagung. Es ist eng verbunden mit dem Bewusstsein um den Ausgang des zeitgenössischen Denkens im «modernen Nihilismus» und mit der Suche – in Auseinandersetzung mit Karl Jaspers – nach einer möglichen philosophischen Antwort auf ihn. In seiner Reflexion über die Moderne geht Jaspers von der Feststellung aus, dass die Strenge und die Verifizierbarkeit – sowie das enge Band, das Technik und Wissenschaft verbindet – dazu beigetragen haben, das wissenschaftliche Weltbild als das, aus dem Blickpunkt der Vernunft, einzig vertretbare zu akkreditieren. Tatsächlich aber muss der Bereich der gegenständlichen Erkenntnis rigoros auf die bloß empirischen Wissenschaften beschränkt werden – im Wissen darum, dass ihr Begriff der Wahrheit – so sagt Jaspers – durchaus nicht die Wahrheit in ihrem Ganzen enthält, sondern vielmehr Freiraum auch für eine andere Wahrheit lässt, die nicht Gegenstände der äußeren oder inneren Erscheinungswelt betrifft, sondern sich in einem Akt der Transzendierung auf das Sein selbst, auf das Umgreifende richtet. Gerade in der Anerkennung des kognitiven Wertes der Wissenschaften setzt Jaspers eine Strategie der «Rettung der Philosophie» um, losgelöst von jedem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, indem er sie erneut ihrer ursprünglichen Berufung überantwortet: das authentische Sein zu befragen, das als «Existenz» und «Transzendenz» nie vergegenständlicht und wissenschaftlich erkannt werden kann. Als Ausübung der in der geschichtlichen Einzelexistenz verkörperten Vernunft ist Philosophie persönliche Meditation, «subjektives» Denken – um den Ausdruck Kierkegaards zu verwenden. In der Einführung in die Philosophie beginnt die Philosophie für Jaspers an den Grenzen des Verstandeswissens und ist daher ein Besinnen und ein Glauben: ein Glaube an das Sein der möglichen Existenz, ein Appell daran, sich selbst zu sein, auf das Sein zurückzugreifen, jene Wahrheit zu suchen, die nach dem Hinweis Platons nicht schriftlich mitgeteilt werden kann, sondern einzig im Denken aufleuchtet, im Akt der Kommunikation zwischen den Existenzen und dem Sich-Öffnen der Einzelexistenz gegenüber der Transzendenz. Im Konkreten der Situation und des Situationshandelns erfährt der Existierende die eigene Grenze, verspürt aber zugleich die eigene Beziehung
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Grußworte zum Jaspers-Symposion in Neapel
zur Transzendenz, als Quelle seiner Freiheit. Die Transzendenz kann nicht objektiv erkannt werden, sondern nur Teil eines metaphysischen Aufschwunges sein, der seinen Ausdruck in Symbolen und Chiffren hat, den Evokationen seiner Wirklichkeit. Daher kann die Gottesfrage allein in der negativen Theologie eine Antwort finden, auf die auch große Denker der christlichen Tradition von Augustin bis Thomas von Aquin zurückgegriffen haben, in dem Bewusstsein, dass jedes Reden von Gott als unangemessen erscheint, jedoch gerade das Bewusstsein der Unmöglichkeit der Gotterkenntnis eine Form darstellt, Gott zu denken, und zwar die einzige, der endlichen Vernunft des Menschen zugängliche Form. Hierin gründet der Unterschied zwischen philosophischem Glauben und Offenbarungsglauben und der Bezug auf den philosophischen Glauben ist Jaspers’ Antwort auf den «Tod Gottes», der die Vollendung der Moderne zu charakterisieren scheint. Zur Reflexion über den philosophischen Glauben und zur Klärung der Beziehung zwischen Glaube und Wissen werden sicherlich die Vorträge und Diskussionen unserer Tagung einen Beitrag leisten. Giuseppe Cantillo Direttore del Centro di Ateneo Scuola di Alta Formazione «Federico II»
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Einleitung
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Trust and certainty are, like belief and knowledge, basic features of Jaspers’s thought. His Existenz Philosophy unfolds as a new form of metaphysics in the ways of being of human orientation in the world, of the illumination of existence, and in the interpretation of the language of ciphers. Also new is the methodical awareness of this metaphysics in the connection of personal and supra-personal, direct and indirect communication. Instead of the traditional foundational ontology, there is a periechontologie, a teaching of the complex arrangement of the multiple meanings of the being of being, of human being and the being of truth. In this arrangement trust and certitude find their respective specific meanings: the compelling certitude of scientific knowledge is thus a different one from the certitude of trust, which emanates from love and faithfulness.
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1. Die Selbstabgrenzung der Philosophie von der Religion
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Hegels berühmter Aufsatz aus dem mit Schelling herausgegebenen Kritischen Journal der Philosophie, in dem er sich mit den maßgeblichen Gestalten der «Reflexionsphilosophie der Subjektivität» auseinandersetzt, trägt den Titel Glauben und Wissen. Der erste Satz dieser Auseinandersetzung mit Kant, Jacobi und Fichte lautet: «Über den alten Gegensatz der Vernunft und des Glaubens, von Philosophie und Religion hat die Kultur die letzte Zeit so erhoben, daß diese Entgegensetzung von Glauben und Wissen einen ganz anderen Sinn gewonnen hat, und nun innerhalb der Philosophie selbst verlegt worden ist». Mit diesen Sätzen geht es Hegel in seiner kritischen Auseinandersetzung mit den sogenannten Reflexionsphilosophien seiner Zeit um die Frage: «ob die siegreiche Vernunft nicht eben das Schicksale erfuhr […] dem Geiste nach dem Überwundenen zu unterliegen».1 Glaube und Wissen, Religion und Vernunft, dies ist auch, wie kaum ein anderes ein Thema unserer heutigen Zeit; und die zitierten Sätze Hegels, 200 Jahre vor unserer Zeit 1
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen, in ders.: Sämtliche Werke (Jubiläumsausgabe), Bd. 1 (Stuttgart: Frommann, 1958) S. 279.
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Reiner Wiehl
geschrieben, formulieren eine analoge Fragestellung: Wie steht es mit dem Verhältnis dieser beiden Grundinstanzen, in denen sich die fragliche Beziehung zwischen Vernunft und Religion, zwischen Wissenschaft, Philosophie und Theologie ausdrückt. Wem von diesen Instanzen der modernen Kultur soll, welcher muss der Vorrang vor der anderen eingeräumt werden? Von wo ist der Maßstab zu nehmen, um diese Frage nach dem Primat der einen Instanz vor der anderen zu rechtfertigen, wenn es denn einen solchen Primat gibt. Glaube und Wissen: Die Frage nach der Beziehung des einen zum anderen, die Frage nach einem möglichen, möglicherweise notwendigen Vorrang des einen vor dem anderen ist auch eine der Grundfragen der Philosophie Karl Jaspers’, der dieses Internationale Symposion in Neapel gewidmet ist. Es ist keine Übertreibung zu sagen: Diese Frage durchzieht das ganze Denken von Jaspers, schon in seiner Psychologie der Weltanschauungen, dann in seiner großen dreibändigen Philosophie und in dem großen Werk Von der Wahrheit, bis in seine späten Arbeiten hinein. In der Auseinandersetzung mit dieser Frage nach Glaube und Wissen sind es nicht die gleichen Gegenspieler wie die Hegels, mit denen Jaspers in erster Linie zu tun hat. Im Gegenteil: Es ist für ihn Kant der Maßgebliche und Vorbildliche, «der Philosoph schlechthin, keinem anderen vergleichbar in dem Adel seiner besonnenen Menschlichkeit», an dem sich sein Denken orientiert: Kant, «dessen Menschlichkeit sich offenbart als die Reinheit und Schärfe seines unendlich bewegten Denkens, durch das auf keinen Grund zu stoßen ist».2 Und wie er selbst seine geistig-philosophische Nähe zum Autor der Kritik der reinen Vernunft sieht, kommt bereits an eben derselben Stelle zum Ausdruck, wo er schreibt: «Philosophie, das Wagnis, in den unbetretbaren Grund menschlichen Selbstbewußtseins zu dringen, muß als Lehre der für jedermann ein-
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Karl Jaspers: Philosophie, Bd. I: Philosophische Weltorientierung (Berlin: Springer, 1932), Vorwort, S. VIII. Hier zählt Jaspers auch die der großen Philosophen auf, die ihm zu Wegbegleitern wurden: «Plotin, Bruno, Spinoza, Schelling, die großen Metaphysiker als Schöpfer zu Wahrheit werdender Träume; Hegel in seinem Reichtum an erblickten Gehalten, die er mit einziger sprachlicher Kraft in konstruktiven Denken zum Ausdruck bringt; Kierkegaard den in der Wurzel erschütterten, dessen Redlichkeit vor dem Nichts aus der Liebe zum Sein als dem Anderen Möglichen philosophiert; W. v. Humboldt, die Verkörperung deutscher Humanitas in der Weite einer großen Welt; Nietzsche, den Psychologen und unerbittlichen Enthüller aller Täuschungen, der in mitten seiner glaubenslosen Welt der Seher geschichtlicher Substanzen wurde; Max Weber, der der Not unserer Zeit ins Auge blickte und sie mit umfassendem Wissen erkannte, in einer zerfallenden Welt sich auf sich selbst stellend».
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sichtigen Wahrheit in die Irre gehen».3 Kant ist für Jaspers der Vordenker der menschlichen Subjektivität und der menschlichen Existenz in der Philosophie der Moderne, derjenige, der das menschliche Selbstbewusstsein in den Mittelpunkt seines Denkens gestellt hat. Er ist für ihn derjenige, der den Weg zum wahren Verständnis menschlicher Freiheit geöffnet hat: für die menschliche Freiheit im ethischen, im rechtlichen und im politischen Sinne. Kant ist für Jaspers deswegen auch der Orientierungspunkt für das hier thematische Problem von Glaube und Wissen in Form des fraglichen Zusammenhangs von praktischer und theoretischer Vernunft. Vor allem aber ist Kant hier derjenige, der in seinem Versuch einer neuen Grundlegung der Metaphysik durch die menschliche Vernunft deren Kritik nicht aus dem Auge verliert. Einer der ersten Sätze in Jaspers Philosophie lautet: «Existenzphilosophie ist Metaphysik».4 Damit bestimmt er einmal den spezifischen Charakter der von ihm entworfenen Existenzphilosophie im Konzert der existenzphilosophischen Strömungen seiner Zeit. Zugleich ist ihm dabei bewusst, dass diese von ihm angestrebte Erneuerung des Kernstücks der klassischen europäischen Philosophie nicht an Hegels spekulativer Philosophie des Absoluten, sondern an Kants Vernunftkritik anschließt. Jaspers’ Bemühung um eine Erneuerung der Metaphysik ist sich bewusst, dass das Herzstück der traditionellen Metaphysik, um dessen Neubegründung es in Hegels Philosophie des Absoluten ging, endgültig verloren war. Ich meine hier die allgemeine Ontologie, in der sich die philosophische Lehre von Gott, Welt und Mensch, aber auch der begriffliche Zusammenhang von Natur und Kultur begründete. Der Verlust der Gültigkeit einer allgemeinen Ontologie findet bei Jaspers seinen Ausdruck in seiner Chiffrenlehre. Wenn ich hier im Titel meines Vortrags von Kosmologie und nicht von Weltorientierung, von Anthropologie, nicht von Existenzerhellung spreche, so zunächst, um die Frage nach der Metaphysik, nach der Philosophie als Bedingung der Möglichkeit von Welt- und Bewusstseinserkenntnis zu stellen. Im Thema meines Vortrags sind die Begriffe der Gewissheit und des Vertrauens benannt. Diese stehen den Begriffen des Wissens und des Glaubens 3
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Ibid., Vorwort, S. VII. Zur Beziehung zwischen Jaspers auf der einen Seite und Kant und Hegel auf der anderen Seite, vgl. Karl Jaspers – Philosoph unter Philosophen, Teil 1, hg. von Richard Wisser und Leonhard H. Ehrlich, insbesondere dort die Beiträge von Andreas Cesana und Alan M. Olson (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1993). Wörtlich heißt es: «Existenzphilosophie ist im Wesen Metaphysik. Sie glaubt, woraus sie entspringt.» (Philosophie, Bd. I, op. cit. S. 27) Vgl. insbesondere auch S. 33ff.
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nahe. Sie vermögen, ähnlich wie diese, auf das bereits erwähnte Problemfeld von Wissenschaft und Religion, von Philosophie und Theologie zu verweisen. Dem zuvor sind Gewissheit und Vertrauen ursprüngliche Verhaltensweisen des Menschen in seiner Lebenswelt und ursprüngliche Bedürfnisse des menschlichen Daseins. Es gibt einen Hunger und Durst nach Gewissheit, nach Vertrauen, wie es einen Hunger und Durst nach Gerechtigkeit gibt. Beide hier thematischen Bestimmungen, Gewissheit und Vertrauen, gehören zu den Grundbegriffen der Jaspers’schen Philosophie, wenn innerhalb derselben überhaupt von Grundbegriffen zu reden erlaubt ist angesichts des historischen Verlustes einer allgemeingültigen Ontologie in universaler Begründungsfunktion. Aber auf jeden Fall sind es Grundworte, Schlüsselworte und der Jaspers’schen Philosophie entsprechend auch Signa und Chiffren. Aber neben diesen Grundworten treffen wir auch auf die ebenso gewichtigen Grund- und Schlüsselworte der Schwebe und des Scheiterns, die untrennbar mit der Philosophie der menschlichen Existenz verbunden sind und in denen die vernunftkritische Dimension dieser Philosophie zum Ausdruck kommt. Wir stehen hier schon zu Beginn dieser Betrachtungen vor der Frage, wie dies beides zusammengeht: Auf der einen Seite die unverzichtbare Bedeutung von Gewissheit und Vertrauen für die menschliche Existenz, auf der anderen Seite die untrennbare Bindung dieser Existenz an Unbestimmtheiten allenthalben und an die Konfrontation mit dem Scheitern dieser Existenz als Möglichkeit. Stehen wir hier vor einem ursprünglichen philosophischen Zusammenhang, der bei Hegel den beredten Ausdruck «eines sich vollbringenden Skeptizismus» gefunden hatte?5 Es ist Jaspers’ Kantianismus, dem sich die antinomische Struktur seines Denkens verdankt. Die Wahrheitsfunktion der Antinomie begegnet uns schon im Frühwerk, in der Psychologie der Weltanschauungen, wo sie den Ausgangspunkt für die Bestimmung der Grenzsituation bildet. Sie findet sich auch im dritten Band der Philosophie, in dem es um die Grundfragen der Metaphysik geht: In den Grenzsituationen wird offenbar, daß alles nur Positive an das dazugehörige Negative gebunden ist. Es gibt kein Gutes ohne mögliches und wirkliches Böses; keine Wahrheit ohne Falschheit, Leben nicht ohne Tod; Glück ist an Schmerz gebunden, Verwirklichen an Wagen und Verlieren. Die menschliche Tiefe, welche ihre Transzendenz zum Sprechen bringt, ist real gebunden an das Zerstörende, Kranke oder Extravagante, diese Bindung aber in unübersehbarer 5
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. von Johannes Hoffmeister (Hamburg: Meiner, 1952), Einleitung, S. 67.
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Mannigfaltigkeit ist nicht eindeutig da. In allem Dasein kann ich die antinomische Struktur sehen.6
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Jaspers war sich der Eigenheit seiner existentiellen Metaphysik wohl bewusst. Er hat für den philosophischen Umgang mit derselben einen bewussten Maßstab angelegt: «Da Philosophie nicht als objektive Gültigkeit besteht, sondern sich nur im Einzelnen als dessen denkendes Dasein verwirklicht, ist das von ihr zu objektivem Ausdruck Gebrachte für den Hörenden nur die Sprache des Anderen; sie verstehen würde ihn zu sich selbst bringen».7 In diesen Sätzen steckt beides: ein außerordentlicher Wahrheitsanspruch der Philosophie auf der einen Seite; und eine Bescheidung, eine auffällige Zurücknahme eines sehr weitgehenden solchen Anspruchs: «Das Verstehen der Sprache des Anderen», von dem hier die Rede ist, ist mehr als nur eine hermeneutische Bemühung, mehr als nur die Sache einer methodisch bewussten gelingenden Interpretation dieser Sprache. Philosophie ist für Jaspers etwas einmalig Persönliches und zugleich etwas einmalig Überpersönliches: eine indirekte Mitteilung eines existierenden Menschen an einen anderen: «Keine Philosophie ist identisch übertragbar, und doch muß jede zur Mitteilung drängen; denn Philosophie ist Mittel der Kommunikation zwischen Existierenden, welche das eigentliche Sein des Philosophen sind».8 Derjenige, mit dem ich in dieser Weise philosophisch kommuniziere, kann ein Anderer in persönlicher Begegnung sein, aber auch ein mir ganz und gar Unbekannter, den die philosophische Mitteilung wie eine Art Flaschenpost erreicht. Der Anspruch der Wahrheitsgeltung und die Bescheidung gegenüber einem solchen Ausdruck – dieser Widerspruch in der philosophischen Mitteilung – finden ihre Entsprechung in der Nähe der Philosophie zur Religion, welche die Unterscheidung zwischen philosophischem Glauben und dem Glauben der Offenbarungsreligion zur philosophischen Aufgabe macht. Im Blick auf diese Aufgabe der Philosophie heißt es bei Jaspers: «Ihr Sichunterscheiden bedeutet bereits, daß sie sich unvollendet weiß. Ihre Wahrheit will wohl in ihrer Unbedingtheit alles sein, aber sie erfährt ihre Begrenzung. Es scheint, daß sie in Aufschwüngen Einzelner in Augenblicken bis in die Nähe der Religion kommt, aber es ist auch dann ein Sprung übrig, den zu
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Karl Jaspers: Philosophie, Bd. III: Metaphysik (Berlin: Springer, 1932) S. 221. Vgl. insbesondere Martin Heideggers Würdigung der Jaspers’schen Psychologie der Weltanschauungen hinsichtlich des existentiellen Begriffs der Grenzsituation in Sein und Zeit (Tübingen: Niemeyer, 81957) S. 301. Jaspers: Philosophie, Bd. I, op. cit. S. 298. Ibid. S. 299.
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tun sie sich weigert, obgleich sie in Bereitschaft bleibt.»9 Jaspers spricht in diesem Zusammenhang von der erregenden Nähe, welche zwischen Philosophie und Religion im Gebet zu finden ist, fügt aber zugleich den Hinweis auf einen gebotenen Abstand angesichts einer solchen Nähe hinzu: «Philosophie verwechselt nicht Andacht, Stimmung, auch nicht die beschwingende Gegenwart eines Lesens der Chiffre mit Gebet als einer realen Beziehung zur Gottheit.»10 Die Selbstunterscheidung der Philosophie von der Religion vollzieht sich in verschiedenen Formen: Die Philosophie hat die Aufgabe, die Religion zu bekämpfen, wo diese einem Irrglauben der fanatischen Gewalttätigkeit das Wort redet. Aber sie weiß auch den Wahrheitskern einer Religion aufzuspüren, der sie zum Respekt vor dieser Religion veranlasst. Vor allem aber fordert die Philosophie in ihrer Selbstunterscheidung von der Religion einen «Wahrhaftigkeitswillen», der sich bemüht, den hier herrschenden Gegensatz zur «größtmöglichen Klarheit zu bringen».11 Nähe und Distanz zwischen Philosophie und Religion zeigen sich für die Philosophie in dem Bewusstsein, dass in der menschlichen Existenz die Wahrheit zu suchen sei, dass diese Wahrheit der menschlichen Existenz aber immer eine Suche ist und bleibt. So heißt es bei Jaspers rätselhaft: «Würde der Theologe einwenden, man verwechsle sich mit Gott, wenn man in der Existenz die Wahrheit sehe; was der eine Mensch, Christus als Gottes Sohn durfte, das darf kein anderer Mensch, so wären das Worte, die der Philosophierende schlechthin nicht verstünde.»12 Er verstünde die Worte nicht, weil die Wahrheit der Existenz, eine immerzu erfragende, eine immer zu suchende ist und bleibt. Jaspers hat im Blick auf Nietzsche nachdrücklich die Idee einer «prophetischen Philosophie» zurückgewiesen, aber doch für die philosophische Mitteilung den Charakter einer «verhüllten Prophetie» in Anspruch genommen. Er hat hier auch immer wieder den Ausdruck des «Appellativen» verwendet, um das auszudrücken, was ihm als eine solche «verhüllte Prophetie» vorschwebte. Aber gerade weil er für die philosophische Mitteilung diesen Anspruch erhob, der diese in eine gefährliche Nähe zur Sprache des Religiösen zu rücken droht, finden wir in seinen Texten eine außerordentliche Bemühung um Gegensteuerung: Gegensteuerung in Gestalt methodischen Suchens. In dem methodischen Charakter ihrer Wahrheitssuche ist die Philosophie der Idee der Wissenschaft verpflichtet, auch wenn sie selbst nicht Wissenschaft
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Ibid. Ibid. Ibid. S. 300. Ibid.
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ist; und die Selbstunterscheidung von dieser, wie die Selbstunterscheidung von der Religion, gehört zu ihren wichtigsten Aufgaben. Wie immer man den methodischen Charakter des Jaspers’schen philosophischen Denkens umschreibt, immer sticht dabei ein besonders auffälliger Zug hervor, der das Unterscheiden und Sich-Unterscheiden zum wichtigsten Instrument philosophischer Wahrheitssuche macht. Unverkennbar ist in diesem methodischen Zug des Differenzierens die Nähe zur klassischen philosophischen Methode, die wir im Denken von Plato bis Hegel finden. Plato erprobt diese Methode in seinen späten Dialogen, so im Sophistes in Gestalt einer fortschreitenden Einteilung eines fraglichen Begriffsganzen, dessen beanspruchte Allgemeinheit sich eine Spezifikation in Form einer fortschreitenden Zweiteilung gefallen lassen muss. Diese fortschreitende Zweiteilung, in der immer jeweils eine Seite zugunsten der Gegenseite verworfen wird, bis die gesuchte Sache gefunden ist, hat in der spekulativen Methode der Hegel’schen Dialektik ihre vollkommenste Ausgestaltung gefunden. Wenn wir eine Verwandtschaft des methodischen Vorgehens in Jaspers philosophischem Denken mit dieser Tradition philosophischer Methodik konstatieren, so darf dabei nicht aus dem Blick geraten, dass die Jaspers’sche Methode des Unterscheidens nicht am Beginn einer sich ausbildenden allgemeinen Ontologie steht. Sie hat vielmehr deren Tradition und deren Vollendung in der Hegel’schen Wissenschaft der Logik bewusst hinter sich gelassen. Die Allgemeinheit des begrifflichen Seins – diese Grundvoraussetzung einer universalgültigen Ontologie – ist selbst Gegenstand einer Vernunftkritik geworden, die auf der Suche nach der Wahrheit und dabei auf der Suche nach einer neuen philosophischen Logik der Vernunft ist. Jaspers hat an die Stelle der traditionellen allgemeinen Ontologie eine Periechontologie gesetzt, eine Vernunftlogik des «Umgreifenden».13 Hier finden wir anstelle von Dihairesis und Dialektik Gliederungen, die jeweils den vorliegenden fraglichen Gegebenheiten sachlich entsprechen. Es sind Gliederungen von jeweiligen Ganzheiten, die als solche immer selbst in Frage stehen dank ihres Zusammenhangs mit anderen Ganzheiten. Diese Gliederungen sind nicht reduziert auf Unterscheidungen von begrifflichen Bedeutungen, sondern sie erstrecken sich über solche Bedeutungen hinaus auch auf grundsätzliche Überlegungen, auf Argumente des Für und Wider einer fraglichen Sache. Die aus der Periechontologie entspringende Methode kommt in einer sachlichen Nüchternheit zum Ausdruck, deren Sachlichkeit etwas Zwingendes, gelegentliche 13
Allgemein zur Idee des Umgreifenden bei Karl Jaspers. Vgl. Giuseppe Cantillo: Introduzione a Jaspers (Roma, Bari: Laterza, 2001) S. 95.
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auch etwas Zwanghaftes und Ermüdendes an sich hat. Aber diese trockene Sachlichkeit ist gewollt. Sie bildet den methodischen Gegenzug zum Appellativen. Sie ist dasjenige Element, worauf der appellative Zug des Philosophierens zielt: Ein Ethos der Sachlichkeit, das sich in methodisch bewussten Gegensatz stellt zur Rhetorik, wie sie in der philosophischen Hermeneutik zum methodischen Prinzip erhoben worden sind. Das Ethos der Sachlichkeit enthält Imperative einer Vernunftlogik, die besagen: Du sollst differenzieren, du sollst die schrecklichen Vereinfachungen und die falschen Generalisierungen vermeiden; du sollst dich vor totalisierenden Ideologien hüten.
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2. Die Frage nach dem Sein und die Frage nach der Wahrheit Es sind vor allem zwei Grundfragen, die das philosophische Denken von Jaspers in Atem halten; von seinen Anfängen in der großen Allgemeinen Psychopathologie über die erwähnte Psychologie der Weltanschauungen bis hin zu den rein philosophischen Werken, der dreibändigen Philosophie und dem großen Buch Von der Wahrheit, und zu den philosophischen Spätschriften. Diese beiden Fragen sind: die Frage nach dem Sein des Seienden und die Frage nach der Wahrheit. Im Zentrum dieser beiden Fragen steht die Frage, die untrennbar mit ihnen zusammengehört. Es ist dies die Frage nach dem Menschen, die Frage, die der denkende Mensch als Vernunftwesen niemals aufhören kann zu stellen, die Frage: Wer bin ich? Diese Frage geht der Frage nach dem, was der Mensch ist, aus Jaspers Sicht voraus. Aber diese Frage nach dem menschlichen Selbstbewusstsein gehört mit den beiden anderen Fragen, den Fragen nach dem Sein und nach der Wahrheit untrennbar zusammen. Die Frage nach dem Sein ist die Frage nach dem wahren Sein; und die Frage nach der Wahrheit ist die Frage nach dem Sein der Wahrheit. Dabei ist das Wichtigste: Diese Fragen sind untrennbar verbunden mit der Frage nach dem Menschen. Denn diese beiden philosophischen Grundfragen, die Fragen nach dem wahren Sein und nach dem Sein der Wahrheit sind Fragen des Menschen. Und deswegen schließen sie die Fragen nach dem Sein des Menschen ein, nach dessen Seinsbestimmung, dann aber auch und vor allem die Frage nach seinem wahren Sein. Und dabei zeigt sich, dass hier eine Unterscheidung eine besondere Bedeutung erlangt, die Unterscheidung zwischen dem wahren Sein und dem Wahr-Sein des Menschen. Diese Unterscheidung beruht auf der Differenz zwischen den wahren Seinsbestimmungen des Menschen als Mensch, nämlich Bestimmungen des Bewusstseins, des Daseins und des Geistes auf der einen Seite und der Bestimmung
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des Menschen als Existenz auf der anderen Seite. Die Periechontologie, die von Jaspers entworfene Lehre von der Wahrheit, geht über die klassische, auf Aristoteles zurückgehende Erörterung der mannigfachen Bedeutung des Seins des Seienden hinaus, welche den Inhalt der traditionellen Ontologie ausmacht. Sie fügt diese Erörterung mit der Untersuchung der mannigfachen Bedeutung des Sinnes der Wahrheit und des Seins des Menschen in einer umgreifenden Betrachtung des Umgreifenden zusammen. Aber diese Jaspers’sche «Periechontologie» ist keine Lehre einer reinen Wahrheit, keine Lehre des absoluten Seins und keine Lehre vom Menschen als eines endgültig in sich bestimmbaren Wesens. Vor allem: Das Sein der Wahrheit ist nicht vom Sein der Unwahrheit zu trennen, gerade weil es untrennbar mit dem Sein des Menschen verbunden ist. Wo der Mensch ist, in Form des Bewusstseins und des Daseins, als Geist und als Existenz, da gibt es auch Unwahrheit als Unaufrichtigkeit und Unwahrhaftigkeit des Menschen sich und dem Anderen gegenüber; als ein Zug der Unwahrheit im sozialen und politischen Leben, im Kampf der Meinungen um die Macht der herrschenden und der beherrschenden Meinung. Jaspers hat um die von Kant in seiner Metaphysik der Sitten geforderte Tugendpflicht der Wahrhaftigkeit herum ein realistisches Bild von der Realität des Seins der Wahrheit und Unwahrheit im Raum der Erörterung der aufgeführten drei Grundfragen gezeichnet. Aber es ist auch sein Studium der Kantischen Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft gewesen, der klare Blick auf die Seinswirklichkeit seiner Zeit, die ihn veranlasst hat, der Frage nach dem Bösen in Verbindung mit der Frage nach der Wahrheit Raum zu geben.14 Das Böse ist eine besondere Seinsweise des Unwahren. Zur Frage nach der Wahrheit in Verbindung mit der Frage nach dem Menschen gehört deswegen nicht zuletzt die Frage nach dem «Durchbruch» der Wahrheit, die Frage, wie den Neigungen zur Unwahrheit, den Mächten der Verlogenheit entgegengewirkt, der Wahrheit ein Raum eröffnet werden kann. Eine angemessene philosophische Erörterung der hier thematischen Gegebenheiten der Gewissheit und des Vertrauens bedarf im Grunde der Einbettung derselben in den logischen Raum der methodischen Unterscheidungen zwischen dem Sein des Seienden, dem Sein der Wahrheit und dem Sein des Menschen. Denn Gewissheit und 14
So in Karl Jaspers: Das Radikal Böse bei Kant. Vortrag im Lesezirkel Hottingen (Zürich 1935). Veröffentlicht in ders.: Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze (München: Piper, 1958) S. 107ff. Vgl. ferner seinen Aufsatz Das Unbedingte und das Böse, in ders.: Das Wagnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, hg. von Hans Saner (München: Piper, 1996) S. 86ff.
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Vertrauen haben ihren Ort allenthalben im Gefüge dieser vielfältigen Unterscheidungen. Sie sind Seinsweisen der Gegebenheiten des Seienden und Seinsweisen des Menschen und nicht zuletzt Seinsweisen der Wahrheit. Gerade an ihnen zeigt sich der Charakterzug der Jaspers’schen Philosophie, der in dem zu Beginn genannten großen Essay Hegels über Glaube und Wissen Gegenstand philosophischer Kritik wurde: Sie ist Reflexionsphilosophie: Die philosophische Methode der Unterscheidungen zielt auf die Gewinnung der Erkenntnis der Wahrheit. Aber die Wahrheit muss selbst Gegenstand methodischer Unterscheidungen werden. Unter den mannigfachen Bedeutungen der Wahrheit sind für die Erörterung von Gewissheit und Vertrauen vor allem die folgenden Unterscheidungen bedeutsam: Wahrheit als ein Geschehen; als etwas, das vom Menschen gesucht wird und was einen Ursprung und ein Ziel hat; Wahrheit als eine Seinsweise des Menschen, in der sich diese Seinsweise als Bewusstsein und Dasein, als Geist und als Existenz zur Geltung bringt; Wahrheit als ein Geschehen, in dem etwas klar wird, ein Geschehen der Offenbarung, in dem etwas deutlich, hell und am Ende gewiss wird.15 Dieses Geschehen der Wahrheit – ein Offenbarungsgeschehen – ist für Jaspers keineswegs an die Religion, keineswegs an eine bestimmte Religion gebunden. Diese Seinsweise der Wahrheit als ein Werden ist vorrangig ein Geschehen in der Philosophie, im philosophischen Denken. Helligkeit und Klarheit, Gewissheit und Vertrauen müssen in diesem philosophischen Denken den entsprechenden Negationen abgerungen werden. Gewissheit und Vertrauen gibt es nur, wo etwas hell wird, wo Wahrheit in einer bestimmten Weise offenbar geworden ist. Unter den methodischen Unterscheidungen des Seins der Wahrheit ist zum einen die Unterscheidung zwischen Gewissheit und Klarheit, und zum anderen die Unterscheidung zwischen Gewissheit in einem weiteren und einem engeren Sinne besonders zu unterstreichen. Von der letzteren, der Gewissheit im engeren Sinne spricht Jaspers auch als zwingender Gewissheit. Die Jaspers’sche Reflexionsphilosophie findet ihren beredetsten Ausdruck in einem Grundwort, einer philosophischen Chiffre, die die hier vorgetragenen Überlegungen ständig begleitet hat, und die untrennbar mit der Unterscheidung der mannigfachen Bedeutung des Wahrseins zusammengehört. Es ist dies der «Begriff» der Grenze. Grenzen finden sich überall, wo die philosophische Methode den philosophischen Gedankengang gliedert. Es sind Grenzziehungen in der Unterscheidung, in der sich ein Gedanke vom anderen abgrenzt. Und es sind philosophische Gedanken, 15
Vgl. Jaspers’ entworfene Methodenlehre im Nachlaß zur Philosophischen Logik, hg. von Hans Saner und Marc Hänggi (München: Piper, 1991) S. 285-371.
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in denen eine selbstgesetzte Grenze überschritten, transzendiert wird. Dass Transzendierung die Sache der Philosophie ist, wird Jaspers nicht müde zu betonen. Aber Transzendierung setzt immer Begrenzung und Grenzsetzung voraus. Existentielle Vernunftkritik ist beides: Grenzsetzung und Grenzüberschreitung. Und sie ist dabei auch ein Drittes: kritische Befragung der eigenen Grenzüberschreitung. Ich habe zu Beginn dieser Betrachtungen die wichtigste gedankliche Ausgestaltung des Zusammenspiels von Grenzsetzung und Grenzüberschreitung genannt. Es ist die der bekannteste unter allen Jaspers’schen terminologischen Prägungen der Sprache, die sogar ihren Weg über die Sprache der Wissenschaft, der Psychologie und Psychiatrie in die Alltagssprache des Deutschen gefunden hat: der Terminus «Grenzsituation». Auch Gewissheit und Vertrauen sind, wo sie Sache des philosophischen Denkens werden, an die Wahrheitsbewegung von Grenzsetzung und Grenzüberschreitung gebunden. Wenn ich hier im Ausgang von der Bedeutung der Termini «Grenze» und «Grenzsituation» auf die philosophische Auseinandersetzung zwischen Jaspers und Heidegger zu sprechen komme, so wegen ihrer Bedeutsamkeit für die Philosophie und wegen ihrer besonderen Aktualität für das gegenwärtige Bewusstsein, für die «geistige Situation» der heutigen Zeit. Aktuell ist der von Jaspers gesteckte philosophische Rahmen für das Verhältnis von Philosophie und Religion, von Wissen und Glaube. Aktuell ist nicht weniger die klare Abgrenzung zwischen einer an der Sache orientierten und auf Sachlichkeit zielenden methodischen Erkenntnis gegenüber Rhetorik und spezifischen Techniken unsachlicher Beeinflussung von Meinungen, gerade in einer Gesellschaft, die das Recht auf eigene freie Meinungsbildung unter die von ihr anerkannten Grundrechte zählt. Freie eigene Meinungsbildung gibt es nur aufgrund eines erfolgreichen Widerstandes der kritischen Vernunft gegenüber den Techniken der Manipulation, der Erzeugung und Lenkung von Meinungen zugunsten von machtwilligen Kräften des öffentlichen gesellschaftspolitischen Lebens. Die philosophische Auseinandersetzung zwischen Jaspers und Heidegger nimmt ihren Anfang mit der brillanten Rezension, die Heidegger zu Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen geschrieben und diesem persönlich zugeschickt hatte. Jaspers hat diese Arbeit des ehrgeizigen jüngeren Kollegen durchaus gewürdigt, allerdings nicht ohne diesem brieflich verstehen zu geben, dass er den bemängelten kritischen Gesichtspunkt bereits selbst erkannt hatte.16 16
Brief an Martin Heidegger vom 1. August 1921, in Martin Heidegger, Karl Jaspers: Briefwechsel 1920-1963, hg. von Walter Biemel und Hans Saner (Frankfurt a. M.: Klostermann; München, Zürich: Piper, 1990) S. 23.
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Heidegger wollte damals in Jaspers vielbeachteten Buch mehr sehen als eine ideale Typik von Weltanschauungen, nämlich den Entwurf einer Philosophie der Existenz, die ihren Mittelpunkt in dem neuen Grundbegriff der Grenzsituation hatte. Gegenstand seiner Kritik war eine Zweideutigkeit, die sich aus der Darstellung ergab: eine Zweideutigkeit resultierend aus einer der Psychologie und der herrschenden Lebensphilosophie entnommenen Begriffssprache und der Sache der Philosophie der Existenz. Der Jaspers’sche Begriff der Grenzsituation hat dann eine höchst positive Erwähnung in Sein und Zeit gefunden.17 Jaspers hat diese von Heidegger bemerkte ungewollte Ambivalenz selbst gesehen und daraus die selbstkritische Konsequenz gezogen. In seiner Philosophie kommt es einerseits zur Auflösung der Zweideutigkeit durch die Unterscheidung zwischen einem psychologisch-sozialwissenschaftlichen Zugang zum menschlichen Dasein und der Erhellung der menschlichen Existenz im Denken der Philosophie. Es wird dort aufgezeigt, unter welchen Bedingungen diese Ambivalenz eine gewisse Unvermeidlichkeit, sozusagen eine transzendentale Notwendigkeit gewinnt. Jaspers aber hat nicht nur die Berechtigung der Heidegger’schen Kritik in dessen Rezension anerkannt, nicht nur selbst gesehen, dass die bemängelte Zweideutigkeit im Verhältnis von Psychologie und Philosophie ihren Niederschlag gerade in der Darstellung der Grenzsituationen gefunden hatte, die einmal als Extremsituationen menschlicher Belastung erscheinen, die mit psychiatrischer Hilfe überwunden werden können, dann wiederum endgültige Grenzen der menschlichen Existenz sind, zu denen der Mensch in Freiheit aus sich selbst heraus eine Lebenseinstellung gewinnen muss. Es ist gewiss keine Übertreibung, wenn man feststellt: Die Philosophie von Jaspers ist sehr viel mehr als die Anerkennung der Heidegger’schen Kritik und deren Berücksichtigung im eigenen philosophischen Systementwurf. Es ist dieses Werk vielmehr die kritische Antwort auf Sein und Zeit: ein methodischer Gegenentwurf zu allen Kernstücken von Heideggers aufsehenerregendem Buch. Dieser Gegenentwurf steht ganz im Zeichen der Frage nach der Wahrheit, verfolgt demzufolge von Beginn an methodisch die Zusammengehörigkeit der Frage nach dem Sein des Seiendem, dem Sein der Wahrheit und dem Sein des Menschen, die ich zuvor als methodischen Schlüssel der Jaspers’schen Philosophie beschrieben hatte. Jaspers Kritik der «existential-hermeneutischen» Analytik des Daseins in Sein und Zeit betrifft wiederum in erster Linie die Heidegger’sche Methode, deren Mischung von phänomenologischer Deskription und Konstruktion. Sie richtet sich gegen 17
Vgl. Anm. 6.
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die voreilige Bestimmung des In-der-Welt-Seins des Menschen, in der die Fraglichkeit des Einsseins dieser Welt übersehen wird. Sie richtet sich nachdrücklich gegen den methodischen Ausgang der Erörterung der Seinsfrage von einer vermeintlichen Alltäglichkeit menschlichen Daseins aus, die eine Explikation des korrespondierenden vorontologischen Seinsverständnisses erlaube. Gegen diesen methodischen Ausgangspunkt wendet Jaspers ein, dass dabei, Hegels Bestimmung des «natürlichen Bewusstseins» vergleichbar, verkannt wird, dass der Mensch als geschichtlich existierendes Wesen durch eine jeweils bestimmte Kultur geprägt ist; und dass diese kulturelle Prägung des Menschen in der Moderne die Prägung durch die neuzeitliche empirische Wissenschaft ist. Die Wissenschaftlichkeit der modernen Welt, dies ist für Jaspers der methodische Ausgangspunkt seiner Philosophie unter dem Stichwort «Weltorientierung».18 Der schwerwiegendste Einwand, der sich aus Jaspers Philosophie gegen Heideggers Sein und Zeit herauslesen lässt, ist aber der Mangel an kritischer Reflexion, dass nämlich in der hermeneutischen Analytik des Daseins vergessen wird, dass diese Analytik sich im Medium eines philosophischen Selbstbewusstseins, im Medium begrifflicher philosophischer Erkenntnis vollzieht. Wenn Jaspers die menschliche Weltorientierung primär an die Erkenntnis in den Wissenschaften bindet, so steht im Hintergrund gewiss Max Webers These von der okzidentalen Rationalität. Wichtiger in der Sache aber ist, dass für Jaspers die philosophische Erkenntnis des Menschen ihre Normen der Gewissheit des Wissens den neuzeitlichen empirischen Wissenschaften entnimmt. Dabei gilt es vor allem zu bedenken: So fragwürdig für den Menschen aus philosophischer Sicht die Annahme eines einheitlichen Weltbildes sein muss, so fragwürdig auch die Annahme einer Einheitswissenschaft. Auch die traditionelle Systematik im Aufbau der Wissenschaften, die von der Antike tradiert, von Hegel noch in einer «Enzyklopädie der Wissenschaften» philosophisch begründet wurde, hat ihre Verbindlichkeit verloren. Jaspers verwirft ausdrücklich auch den zu seiner Zeit bereits fixierten Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften: Alle neuzeitlichen empirischen Wissenschaften sind Humanwissenschaften. Sie alle sind Wissenschaften des Menschen und sie alle sind Wissenschaften vom Menschen. Aber sie unterscheiden sich aus Sicht der Philosophie von einander in dem Maße, in dem sie etwas vom wahren Sein des Menschen in den Blick rücken. Unter diesem Gesichtspunkt spielen Psychologie und Soziologie in Jaspers Philosophie der Wissenschaften eine herausragende Rolle. Gerade weil sie 18
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das seelisch-geistige und das gesellschaftspolitische Sein des Menschen zum Gegenstand haben, stellen sie sich in eine gewisse Konkurrenz zur Philosophie. Die empirischen Wissenschaften insgesamt und die Wissenschaften der Psychologie und der Soziologie im Besonderen haben für die philosophische Erkenntnis methodische Bedeutung. Diese geht einer erdenklichen methodischen Bedeutung des alltäglichen Daseins des Menschen voraus, wie sie in Heideggers Sein und Zeit in Anspruch genommen wird. Diese methodische Bedeutung liegt in der spezifischen Seinsweise der Wahrheit, die durch die wissenschaftliche Vergegenständlichung vermittelt wird. Es ist dies die Wahrheit als zwingende Gewissheit. Das Zwingende dieser Gewissheit ist eine spezifische Art von Notwendigkeit, eine zwingende Gewissheit, die vor allem den Wahrscheinlichkeitsaussagen einen bestimmten Platz einräumt. Die methodische Bedeutung der wissenschaftlichen Vergegenständlichung für die Philosophie liegt in dem Verhältnis, welches die Philosophie zu den neuzeitlichen empirischen Wissenschaften einnimmt.19 Auch für dieses Verhältnis, für die Beziehung der Philosophie zu den Wissenschaften, gilt in Analogie zum Verhältnis gegenüber der Religion: Es ist die Aufgabe der Philosophie, sich von diesen Wissenschaften zu unterscheiden. Diese Selbstunterscheidung besagt: Die Philosophie ist nicht Wissenschaft; sie ist vor allem nicht empirische Wissenschaft. Aber sie weist eine ausgezeichnete Nähe zur Wissenschaft auf. Diese liegt schon in der Bestimmung der Selbstunterscheidung. Was die Nähe betrifft, so besteht diese in der zuvor beschriebenen Methodik der Sachlichkeit, mit der das Denken seine Gedanken in gegliederter Form entfaltet. Die Selbstunterscheidung hat aber insbesondere die Gestalt der Kritik der Wissenschaften. Es ist die Kritik an einem unverhältnismäßigen Geltungsanspruch wissenschaftlichen Wissens. Das Zwingende der wissenschaftlichen Erkenntnis kann nie die ganze Wahrheit sein. Die Schwebe, dieser eigentümliche Ausdruck zur Kennzeichnung der Distanz, die die philosophische Erkenntnis gegenüber unangemessenen Wahrheitsansprüchen geltend macht, erinnert an die kritische Einstellung der philosophischen Phänomenologie gegenüber dem gegenständlichen Sein und dem Geltungsanspruch des natürlichen Seinsbewusstseins in Form einer methodischen Urteilsenthaltung. Aber Jaspers philosophische Methode ist nicht die der Phänomenologie: weder die der
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Zu Jaspers’ Unterscheidung zwischen Philosophie und Wissenschaft, vgl. Reiner Wiehl: Die Philosophie in Karl Jaspers’ Allgemeiner Psychopathologie, in Karl Jaspers: Philosophie und Psychopathologie, hg. von Knut Eming und Thomas Fuchs (Heidelberg: Winter, 2008) S. 3ff.
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Phänomenologie Husserls noch die der phänomenologischen Hermeneutik Heideggers. Die Kritik der Philosophie gilt nicht der primären Seinssetzung eines natürlichen Bewusstseins in seinem alltäglichen Dasein, sondern den absoluten Geltungsansprüchen wissenschaftlichen Wissens. Zwingende Gewissheit ist für die Philosophie niemals das letzte Wort bei ihrer Suche nach der Wahrheit, nicht das Ganze der Wahrheit bei der Suche nach der Wahrheit des menschlichen Seins. Die Kritik der Philosophie an den Wissenschaften richtet sich nicht nur gegen den Psychologismus und Soziologismus, nicht nur gegen den Anspruch, philosophische Anthropologie zu sein. Sie richtet sich grundsätzlicher noch gegen jeden Naturalismus in den Wissenschaften, also auch gegen Biologismus und «Gehirnmythologie», soweit diese den Anspruch erheben, das wahre Sein des Menschen in den Griff zu bekommen. Die methodische Kritik der Philosophie an den Wissenschaften richtet sich gegen den Ausschließlichkeitsanspruch einer Wahrheitserkenntnis durch Vergegenständlichung, die den Erkenntnisweg der Wissenschaften leitet. Der Wissenserwerb durch gegenständliche Erkenntnis ist die unverzichtbare Voraussetzung einer philosophischen Weltorientierung. Aber diese geht über eine solche Vergegenständlichung hinaus. Ihr Zugang zur Welt in dem Bemühen um Weltorientierung entdeckt eine andere Seinsweise der Wahrheit: Diese vermag, so Jaspers, indem sie das Zwingende des wissenschaftlichen Wissens in einen Schwebezustand versetzt, eine Helligkeit der Sicht zu gewinnen, die eine ausgezeichnete Seinsweise der Wahrheit ist. Wie grundlegend die methodische Bedeutung der Psychologie und der Soziologie für die philosophische Erkenntnis ist, kann man daran ablesen, dass alle wichtigen Überlegungen zum wahren Sein des Menschen sich im Medium der Selbstunterscheidung der Philosophie von der Psychologie und Soziologie vollziehen.20 Dies gilt nicht nur für die Bestimmung der Grenzsituation, sondern vor allem für die Grundidee der Jaspers’schen Philosophie: die Freiheit des Menschen. Freiheit ist zunächst und vor allem Willensfreiheit. Ein angemessener Zugang zur Bestimmung dieser Freiheit verlangt, dass beides in seiner Zusammengehörigkeit gesehen wird: die Freiheit des Willens und der Wille zur Freiheit. Aber nicht nur die Freiheit des Willens, sondern auch der Wille zur Freiheit hat seine psychologische und soziologische Seite. Und die Wissenschaften der Psychologie und der Soziologie, nicht zuletzt auch die der Psychopathologie, liefern wichtige Beiträge zur Einsicht in die mannigfachen Beschränkungen und Hemmnisse, denen die Entfaltung des menschlichen Willens und die menschliche Freiheit unterwor20
Jaspers: Philosophie, Bd. I, op. cit. S. 200ff.
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fen sind. Aber die philosophische Einsicht ist auch hier in ihrer Selbstunterscheidung tätig. Sie macht gegenüber der wissenschaftlichen Vergegenständlichung des Seienden und vor allem gegenüber der Vergegenständlichung des Menschen eine grundsätzlich andere Möglichkeit der Einstellung sichtbar: die einzigartige Beziehung des menschlichen Bewusstseins zu sich und zum Anderen, in der ich nicht Gegenstand bin, sondern der mir und dem Anderen Begegnende. Eine solche Begegnung ist aus der Sicht wissenschaftlicher Erkenntnis unverständlich und unerklärbar. Aber es gibt diese Möglichkeit der Begegnung, durch die etwas in mir, in meiner Begegnung mit dem Anderen auf unverwechselbare und unmissverständliche Weise Helligkeit gewinnt. Diese Möglichkeit ist die der Existenzerhellung und der existentiellen Kommunikation. Hier ist der Ort, an dem die Wahrheit des Seins und die Wahrheit des Menschen in direkte Verbindung zueinander treten. Jaspers Kantianismus ist ein Dualismus: zunächst der Dualismus von empirischer Wissenschaft und Philosophie, und als solcher ein Dualismus der Wahrheiten. Nicht selten gebraucht Jaspers für diesen Dualismus die Zweiheit der Kantischen Vernunftkritik: Erscheinung und Ansich-Sein. Aber dieser Dualismus bildet im Grunde nur den Ausgangspunkt seiner existentiellen Metaphysik. Es ist die Geschichtlichkeit des menschlichen Seins, in der das wahre Sein des Menschen seine Möglichkeiten findet: die Möglichkeiten seiner Wahrheit und die Möglichkeiten seiner wahren Freiheit. Für Jaspers gehören Wahrheit und Freiheit untrennbar zusammen. Diese Zusammengehörigkeit ist die ausgezeichnete Möglichkeit wahren menschlichen Seins. Es ist diese Zusammengehörigkeit eine Idee, das Ideal, welches im Denken der Philosophie gebildet wird. Jaspers spricht vom appellativen Charakter des philosophischen Denkens in diesem Sinne. Der Appell richtet sich an den Menschen, an jeden Menschen. Er zeigt ihm diese ausgezeichnete Möglichkeit als Möglichkeit des je eigenen Seins. Diese Möglichkeit ist die Möglichkeit der Philosophie in jedem Menschen. Ich habe in meinen Betrachtungen zur Metaphysik von Karl Jaspers kein Wort über das Vertrauen gesagt. Auch über das Vertrauen kann dualistisch verhandelt werden. Aber Vertrauen gehört zum Wichtigsten. Ihm geht die Treue voraus als ein Grundwert in der Bestimmung des geschichtlichen Seins des Menschen, in seinem Selbstsein und in seiner Kommunikation mit anderen. Treue und Vertrauen gehören mit dem Geheimnis wahrer Liebe zusammen. Und das Scheitern, das Nicht-Wissen und das Unverständliche? Es gibt kein letztes Wort. Auch das Scheitern ist nicht das letzte Wort. Die wahre Zeit ist nicht die künftige Zeit, sondern der Augenblick, der Augenblick der erfüllten Zeit. Und auch dies ist nicht das letzte Wort.
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Vernunft und Transzendenz
Studia philosophica 67/2008
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Gott unter Anklage: Jaspers und der Fall Hiob
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Jaspers’s reading of Job intends to overcome both the Kantian interpretation that is bound only to an ethical stance and the theological interpretation that is willing to contest theodicy. On the level of existential clarification, the German philosopher considers Job an emblematic figure of the transcendental movement, able to establish a relationship with transcendence via a ciphered reading of Being. In a similar vein to Kierkegaard and Pascal, Jaspers sees in the revolt of the innocent man, who is hurt by undeserved evil, the highest challenge of existential freedom. The latter is addressed to transcendence, without confessional and dogmatic solutions. Jaspers’s Job is an expression of the unstable balance between existential finiteness and Being, which is only realized in the language of ciphers. Es ist genug, daß Sein ist. Karl Jaspers
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Das gesamte Buch Hiob ist der göttliche Name. Philippe Nemo 25
1. Hiob und die Philosophie
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«Das gesamte Buch Hiob ist der göttliche Name».1 Philippe Nemo rückt das biblische Buch, das zuvor Gegenstand zahlreicher irreführender Interpretationen gewesen war, erneut in den Mittelpunkt. Sein Schwerpunkt liegt dabei nicht auf der Lösung einer dramatischen menschlichen Fragestellung, die das Vordringen des Bösen betrifft, sondern vielmehr darin, Gott «mit meinem Auge zu schauen» und sämtliche Erklärungen zweiter Hand, jegliches «Hörensagen» zurückzuweisen (vgl. Hiob 42, 2). Gewiss, die Botschaft des Buches entwickelt sich aus der Verflechtung 1
Philippe Nemo: Job et l’Excès du mal (Paris: Grasset, 1978), zitiert nach ders.: Giobbe e l’eccesso del male, ital. Übers. von Antonio Maria Baggio (Roma: Città Nuova, 1981) S. 5.
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des Menschen mit dem Drama des Negativen, aus den Wirren der menschlichen Beziehungen und vor allem der Beziehung Hiob-Gott. Als Protagonist von Anbeginn und Ende steht Gott für die brennende Sehnsucht nach einem Wort, das als schmerzlich notwendig erlebt wird und doch auf sich warten lässt. Den Abschluss bildet kontemplatives Staunen angesichts der mächtigen Theophanie. Als Inbegriff von religio und ursprünglicher Bindung erträgt das Buch Hiob keine peripheren Lesarten, wie man sie beispielsweise bei Jung2 findet, der darin den Archetyp des Ganges in das Reich der Mütter sieht. Dies gilt auch für Simone Weil,3 die das universelle malheur als das große Rätsel des Menschen näher betrachtet. Oder René Girard, für den Hiob der Sündenbock auf der antiken Straße der verderbten Menschen ist.4 Gewiss ähnelt das Buch Hiob dem im Talmud beschriebenen Zelt Abrahams insofern, als es nach allen Seiten offen ist, um den Philosophen Zutritt zu gewähren: Man denke nur an Kant, Kierkegaard, Bloch und Jaspers, aber auch an Schriftsteller wie Baudelaire, Dostojewski, Heschel, Wiesel und viele andere.5 Verwiesen sei außerdem auf die umfangreiche theologische Literatur, von den Talmudschriften bis hin zur Literatur der christlichen Exegese. Wie ein Strom mit zahllosen Nebenflüssen, der sonnenversengte Landstriche fruchtbar macht, führt die Geschichte Hiobs gewissermaßen auf das einzige Meer zu, auf jenes notwendige Eine Plotins, unergründlich, dunkel und geheimnisvoll, das keine sprachlichen oder metaphysischen Einengungen toleriert.
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Vgl. Carl Gustav Jung: Antwort auf Hiob (Zürich: Rascher, 1952). Vgl. Simone Weil: Attente de Dieu (1950) (Paris: Éditions Fayard, 1966); dt.: Das Unglück und die Gottesliebe, übers. von Friedhelm Kemp (München: Kösel, 1953). Vgl. René Girard: Le bouc émissaire (Paris: Grasset & Fasquelle, 1982); dt.: Der Sündenbock, übers. von Elisabeth Mainberger-Ruh (Zürich: Benziger, 1988). Vgl. ders.: La route antique des hommes pervers (Paris: Grasset & Fasquelle, 1985); dt.: Hiob – ein Weg aus der Gewalt, übers. von Elisabeth Mainberger-Ruh (Zürich: Benziger, 1990). Eine interessante Sammlung philosophischer und narrativer Texte zum Buch Hiob findet sich in Domande a Giobbe. Modernità e dolore, hg. von Maurizio Ciampa (Milano: Mondadori, 2005), sowie in Le provocazioni di Giobbe. Una figura biblica nell’orizzonte letterario, hg. von Benedetto Calati u. a. (Genova: Marietti, 1992).
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Gott unter Anklage
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«Es ist genug, daß Sein ist», schreibt Jaspers zur Gottesvorstellung in der abendländischen Kultur, die eine zweifache Wurzel hat und aus der griechischen Philosophie wie der Heiligen Schrift schöpft.6 «Im Verlust von allem bleibt allein: Gott ist. Wenn ein Leben in der Welt auch unter geglaubter Führung Gottes das Beste versuchte und doch scheiterte, so bleibt die eine ungeheure Wirklichkeit: Gott ist.»7 Diese einzige Wahrheit, die die von Wechselfällen und Scheitern geprägte Geschichte der biblischen Propheten durchzieht, mündet schließlich glaubwürdig in den endlosen Schrei Hiobs. Dies wird auch, wie Jaspers anmerkt, durch die Überlegungen des Jeremias gestützt, der sich – im Zuge der Deportation seiner Glaubensgenossen, die JHWH im Namen des Isiskultes verleugnen, sämtlicher prophetischer Gewissheiten beraubt – mit folgenden Worten an seinen untröstlichen Anhänger Baruch wendet: «So spricht Jahwe: Fürwahr, was ich aufgebaut habe, reiße ich nieder, und was ich eingepflanzt habe, reiße ich aus, und da verlangst du für dich Großes? Verlange nicht!»8 Auch dies ist bekanntlich der Epilog des Buches Hiob, in dem die beeindruckende Theophanie, die die Erhabenheit der Schöpfung zelebriert, dem Menschen keinen Raum lässt. Auch Hiob nicht, der sich durch über 40 Kapitel hindurch am Rande des Abgrunds seine Fassungslosigkeit über das zu Unrecht erlittene Leid und seine Qual angesichts des Schweigens Gottes von der Seele schreit. Das gesamte Buch Hiob verdeutlicht somit, was Jaspers in Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung in seinen Ausführungen zum Manne im Lande Uz schreibt: «Kategorien von Recht und Unrecht, von Sinn und Unsinn hören auf, wo Gott selbst befragt wird».9 Es ist daher schwierig, die Jaspers’schen Überlegungen zu Hiob in jenem moralischen Rahmen zu betrachten, den Kant in Über das Mißlingen aller Versuche in der Theodicee10 entwirft: Das fromme Aufbegehren des leidenden Gerechten, seine «gerade Freimüthigkeit, die sich so weit von falscher Schmeichelei entfernt», seine Ehrlichkeit und pietas scheinen darin auf einem unumgänglichen moralischen Apriori zu gründen, nämlich auf der Gewissheit, dass Gott auf jeden Fall gut ist.
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Vgl. Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie (München: Piper, 1971) S. 32. Ibid. Ibid. Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (München: Piper, 1962) S. 342. Immanuel Kant: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee, in Kants gesammelte Schriften, AA 8, S. 266.
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Obwohl die Autoren das Ausmaß der Auflehnung betrachten, beruht Kants Hiob – und mancher meint, auch der Jaspers’sche Hiob11 – auf einer ethisch unumstößlichen Instanz, deren Religiosität aus der Sittlichkeit heraus erkennbar wird. Um bei Kant zu bleiben: Die notwendige Differenzierung zwischen der ethischen und der religiösen Ebene, die sich mitunter vermischen und doch grundverschieden sind, zwingt dazu, den Glauben Hiobs an den belohnenden Gott, dem er sich ausliefert, als eine auf Moralität gründende Überzeugung zu begreifen. Dabei ist allerdings dahingehend zu differenzieren, dass «er nicht seine Moralität auf den Glauben, sondern den Glauben auf die Moralität»12 gründet. Unternimmt man dagegen den Versuch, den Jaspers’schen Hiob im Kontext der philosophischen, das Transzendieren ermöglichenden Bewegung zu betrachten, die der Existenzerhellung in der Dynamik der Freiheit zueigen ist, bemerkt man Folgendes: Jaspers stellt im Rahmen seiner Gedankengänge das Buch Hiob auf die Probe. Dabei nähert er sich weniger Kant als vielmehr Kierkegaard, Pascal, ja Plotin. Bezüglich Hiobs ungerechten Leidens unterstellt er jene theoretische Dimension des «Jenseitigen», die stets zur antinomischen und niemals versöhnlichen Überwindung der Reflexion über Wahrheit und Gerechtigkeit drängt.
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2. Hiob zwischen Grenzsituation und Transzendenz Im Hintergrund des Jaspers’schen Kommentars zum biblischen Buch steht de facto nicht die explizite ethische Prüfung der Fragen des Guten und der Gerechtigkeit, die das moralische Gewissen des Mannes im Lande Uz belasten, sondern vielmehr eine ausführliche philosophische Reflexion, gleichsam als Widerhall seiner noch weiter ausholenden Betrachtung in Band II und III von Philosophie: Existenzerhellung13 und Metaphysik.14 Darin untersucht er das Verhältnis von Existenz und Transzendenz (wobei letztere oftmals 11
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Die These einer substantiellen ethischen Interpretation (nach Kants Manier) der Jaspers’schen Hiob-Lektüre wird vertreten von Roberto Celada Ballanti: Fede filosofica e libertà religiosa. Karl Jaspers nel pensiero religioso liberale (Brescia: Morcelliana, 1998) S. 168-179. Siehe auch Giovanni Moretto: Giustificazione e interrogazione. Giobbe nella filosofia (Napoli: Guida, 1991). Kant: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee, op. cit. S. 267. Karl Jaspers: Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung (Berlin: Springer, 31956). Karl Jaspers: Philosophie, Bd. III: Metaphysik (Berlin: Springer, 31956).
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mit Gott gleichgesetzt wird)15 mit Bezugnahme auf die existentielle, das Transzendieren ermöglichende Bewegung, deren Ausgangspunkt der «Sprung» in das Risiko der eigenen Freiheit und die Verwurzelung im Sein selbst ist. Auch und gerade angesichts der Ausweglosigkeit, die ja den Grundzug des Scheiterns darstellt, gelingt es dem Menschen nicht, von sich aus zur Freiheit zu finden und er selbst zu sein: «Das eigentliche Selbstsein kann sich nicht durch sich selbst allein halten; es kann sich ausbleiben und vermag sich nicht herbeizuzwingen».16 Für die Selbstwerdung benötigt der Mensch etwas, das ihm das Selbstseinkönnen ermöglicht: Dort, wo ich wirklich ich selbst bin, bin ich nicht nur ich selbst.17 Das bedeutet, dass der Mensch seine Freiheit und sein Selbstseinkönnen als ihm geschenkte Wirklichkeiten erlebt: Ich bin nicht durch mich allein in meinem Entschluss, sondern das Existieren ist mir ein Geschenktsein in meiner Freiheit. Im «unbegreiflichen Aufgefangenwerden»,18 in dem die Existenz wie von äußeren Kräften zermalmt scheint, in den Engpässen der «Grenzsituationen», erfährt die Existenz Transzendenz, indem sie sich als der Freiheit geschenkt gewahrt. Freiheit und Selbstsein enthüllen sich für Jaspers als der Weg, auf dem sich der Mensch seines Verwurzelt-Seins in der Transzendenz bewusst wird. «Freiheit ist ein Sichgegebenwerden aus der Transzendenz»,19 sowie an anderer Stelle: «Indem ich frei bin, erfahre ich in der Freiheit […] die Transzendenz».20 In diesem Zusammenhang definiert der deutsche Philosoph in aller Klarheit das Wesen der religio als essentieller Verbindung zwischen Existenz und Transzendenz: «Sie ist Freiheit nicht ohne die Transzendenz, durch die sie sich geschenkt weiß».21 «Existenz ist nur in bezug auf Transzendenz oder gar nicht.»22 Dieser Gedanke ließe sich weiterführen: Jaspers legt in seinem umfangreichen philosophischen Werk vielerorts diesen roten Faden aus, der seinen 15
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Zu den Unterschieden und Ähnlichkeiten zwischen den Begriffen Gott und Transzendenz siehe Wilhelm Weischedel: Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 31975, Sonderausgabe 1998). Jaspers: Philosophie, Bd. III, op. cit. S. 221. Ibid. S. 356. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 184. Jaspers: Der philosophische Glaube (München: Piper, 1948) S. 114. Jaspers: Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 198. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 118. Jaspers: Philosophie, Bd. III, op. cit. S. 94.
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Gedankengängen Kohärenz verleiht: Auch in der Analyse des Falles Hiob stellt Jaspers mehrmals einen Bezug zwischen der traumatischen Erfahrung des Mannes von Uz und der existentiellen Prüfung her, die «im Grunde der menschlichen Möglichkeiten liegt».23 Hiob steht somit als Chiffre für die Existenz, die in ihrem dumpfen, unverdienten Schmerz ein Einbrechen in die Beziehung zur Transzendenz fordert und erreicht, wobei sie sich die Freiheit aus dem Leibe schreit, sich sämtlichen trostspendenden Lösungen zu verweigern, die Glaube und Dogmatismus auf unauthentische Weise miteinander vermengen. Der Kampf Hiobs ist somit der Kampf zwischen Dogma und Freiheit, denn «ohne Überlieferung der Lehre, aus Eigenem will Hiob Gott begreifen».24 «Er will nicht Menschenweisheit, sondern Gott selber»,25 getreu der hartnäckigen Forderung, der ursprüngliche Wert seiner Erfahrung, die er mitnichten der Theologie, sondern Gott allein anvertraut, möge ernst genommen werden. Unerträglich für den Mann von Uz ist, dass die erdrückende Last seiner Fragen von den Theologen-Freunden in «Lehre» verwandelt wird, was einer «Verführung zum Selbstmißverständnis» gleichkommt.26 Das Schlimmste an Hiobs Unglück ist somit die Isolation. Hiob wünscht sich zutiefst den Dialog mit den ihn aufsuchenden Freunden, aber «seine Worte zielen auf Gott».27 Zu Gott steigt sein fragender Schrei auf, zu demjenigen, dessen Existenz Hiob keinen Augenblick lang in Frage stellt: «Nur eins will er: seinen Wandel vor Gott darlegen».28 Ihn klagt Hiob an: «Warum verbirgst du dein Antlitz und hältst mich für deinen Feind?» (Hiob 13, 24). Er lehnt sich gegen Gott auf, um ihn neu zu finden und ihm entgegen zu treten. Er erhebt sich gegen ihn, um auf ihn zuzugehen. Für Hiob heißt es: Gott gegen Gott. «Gott, der der Wahrheit ihr Recht werden läßt, der Eideshelfer, der Zeuger, der Verteidiger gegen Gott den Despoten, vor dem ihn Angst und Grauen erfaßt».29 Besser ein grausamer und ungerechter Gott als ein gleichgültiger Gott, taub gegenüber Fragen und Bitten und der Welt des Bösen fremd, die den leidenden Gerechten umgibt.
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Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 349. Ibid. S. 348. Ibid. Ibid. Ibid. S. 338. Ibid. Ibid. S. 340.
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Der dramatische Aufprall der gegen Gott gerichteten Schreie erhellt Jaspers zufolge lediglich die den Worten Hiobs innewohnende Konsequenz. Dies gilt auch dann, als Gott schließlich antwortet und jene Schreie wieder in den endlichen Umfang der Existenz zurückführt. Dieses von Jaspers ins Spiel gebrachte entscheidende Element darf nicht unbeachtet bleiben, denn der Philosoph liest die Intentionalität, die dem biblischen Buch innewohnt, auch aus dem letzten Teil des Buches heraus (der höchstwahrscheinlich später hinzugefügt wurde):30 nämlich als Hiob seinen Standpunkt aufzugeben und sich der mysteriösen Macht des Schöpfers zu beugen scheint. Jaspers kann und will darin nicht zwei unterschiedliche und in mehrfacher Hinsicht widersprüchliche Haltungen des leidenden Gerechten sehen. Dessen Aufbegehren und Kapitulation sind eng miteinander verbunden: Der Kampf mit Gott wird durch Hiobs Vertrauen in Gott gerechtfertigt; das Aufbegehren ist bereits ein Sich-Anheimgeben, geprägt vom grundlegenden Wert des vergeblichen Austauschs mit den befreundeten Schriftgelehrten. Dies ist einer der Höhepunkte der Jaspers’schen Interpretation des biblischen Texts, auf den nun näher eingegangen werden soll.
3. Zwischen Theologie und Philosophie
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Der zentrale Teil des Buchs, in dem Hiob und die Schriftgelehrten ihre Dialoge führen, stellt zweifellos ein tragendes Element der theoretischen Intentionalität der gesamten Erzählung dar. Die Dialoge führen zum Mittelpunkt, zum generierenden Kern. Dieser wird zu Beginn und Ende des Textes vorgestellt; er wohnt der kommunikativen, unterbrochenen, erflehten und gesuchten Verbindung Hiobs zu Gott inne. Interessant ist diesbezüglich die Feststellung, dass Leser des Buches Hiob dazu tendieren, ihre Interpretation auf die Grenze und das offenkundige Scheitern dieser Dialoge und Versuche der Kontaktaufnahme auszurichten; Jaspers dagegen zeigt sich für den existentiellen Wert der Kommunikation sensibel und tendiert dazu, die phänomenologische Handlung in ihrer gesamten Tragweite auszuleuchten. Er tut dies in der Überzeugung, dass die authentischen Formen des Zwiegesprächs sorgfältig zu analysieren sind, was er ja ausführlich in Band II der Philosophie 31 getan hatte, ohne jedoch von vornherein das Scheitern des Dialogs verkünden zu wollen. 30 31
Zu diesen nicht nur in philologischer und exegetischer Hinsicht interessanten Themen siehe Gianfranco Ravasi: Il libro di Giobbe (Bologna: EDB, 2003). Vgl. Jaspers: Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 50-117.
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Es versteht sich von selbst, dass die Argumente der drei Freunde Hiobs wegen ihrer kühlen Distanz und orthodoxen Haltung berühren: Elifas will mit seinen Worten auf die unweigerliche Schuld Hiobs hinaus und bekräftigt diese durch die traditionelle Lehre vom gerechten Lohn. Bildad räumt die mögliche Unschuld des Freundes ein, macht aber keine Zugeständnisse, was den Glauben an die Allmacht und Gerechtigkeit Gottes angeht. Zofar schließlich flößt dem leidenden Gerechten den Verdacht ein, der eigenen Eitelkeit zum Opfer gefallen zu sein, indem er die Wege und Absichten Gottes ergründen wollte, die doch per Definition unerforschlich seien. Angesichts dieser Reden wendet sich, so Jaspers weiter, Hiob lieber an und gegen Gott: Es sei stets besser, direkt mit Gott zu tun zu haben als mit dessen Kommentatoren.32 Was natürlich nicht heißt, dass man dem Ganzen nicht auf den Grund gehen solle – nicht nur bezüglich der Frage, «Was» die Theologen sagen, sondern auch «Wie» sie den Versuch der unmöglichen Kommunikation anstellen. Zunächst ist festzustellen, «daß seine TheologenFreunde mit ihm reden, ohne eigentlich mit ihm zu reden».33 Ihr Mangel an echtem Mitgefühl hindert sie daran, sich in Hiobs Lage zu versetzen; sie führen abstrakte Reden, woraufhin der Mann im Lande Uz sie in seinem Leid ironisch ermahnt: «Auch ich verstünde wohl wie ihr zu reden, wäre eure Lage nur der meinen gleich». Er fügt hinzu, auch er spräche gerne in wohlgesetzten, kraftvollen Worten, die dem Schmerz und tiefer Empathie Ausdruck verleihen. Doch die vermeintlichen Freunde ziehen sich auf ihre sicheren Positionen zurück und leiden nicht wirklich mit Hiob mit; vielmehr zeigen sie «eine Frömmigkeit ohne Erschütterung, im Gottesglauben auf Grund der Lehre der Väter zufrieden, ohne Hiobs Leidenschaft».34 Dennoch ist die Möglichkeit existentieller Kommunikation, wie Jaspers in Philosophie schreibt, niemals an die harmonische Zustimmung zur selben Weltanschauung gebunden, die im geordneten Zusammenspiel von Sympathie, Teilnahme und gemeinsamem Handeln eine transparente, aber dabei unbewegliche und in sich festgefahrene Gemeinschaft bildet.35 Der authentische Kommunikationsimpuls rührt vielmehr von der Unsicherheit desjenigen her, der weiß, dass er die Wahrheit der Bindung aus sich selbst heraus nicht besitzt. Desjenigen, der nicht dafür kämpft, seinen eigenen Gesichtspunkt aufzudrängen, sondern dafür, den Impuls einer existentiellen Authentizität
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Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 348. Ibid. S. 350. Ibid. Jaspers: Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 105ff.
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mitzuteilen, die niemals auf einer endgültigen Geborgenheit beruht: «die endgültige Geborgenheit in selbst-losen Objektivitäten: in der Autorität eines Staats und einer Kirche, in einer objektiven Metaphysik, einer gültigen sittlichen Lebensordnung, einem ontologischen Seinswissen fehlt».36 Die Entscheidung für die authentische Kommunikation gilt daher dem Weg, den man zwischen lebendigen Gedanken und nicht zwischen intellektuellen Alternativen zurücklegt – Gedanken, die in der Lage sind, die Existenz eines jeden auf das Bewusstsein des Ursprungs zurückzuführen, das in der Entscheidung errungen und in seiner zu Grunde liegenden Unbegreiflichkeit erfasst wurde. Doch zurück zu Hiob: Das «Schlimmste in seinem Unheil ist für ihn seine Isolierung».37 Freunde und Verwandte haben ihn verlassen, sein Diener gehorcht ihm nicht mehr, selbst seine Frau verletzt ihn durch die sarkastische Aufforderung, seinem Leben ein Ende zu setzen. Hiob hungert es nach ehrlichen Beziehungen und menschlichem Kontakt, die seine Zurückgezogenheit und den Schmerz durchbrechen. Als die Freunde eintreffen, ist er bereit, sie aufzunehmen: «Hört doch, wie ich mich verantworte, und merkt auf die Streitsache, von der ich rede!» (Hiob 13, 6). Der leidende Gerechte hat keine Furcht davor, in Kontakt mit seinen Gesprächspartnern und deren traditionellen Lehren zu treten: «Was ihr wisst, das weiß ich auch, und ich bin nicht geringer als ihr.» (Hiob 13, 2). Er fleht sie lediglich an zuzuhören, bevor sie sprechen, und mitzufühlen, bevor sie urteilen. Allerdings ist er bereit, so Jaspers weiter, ein Minimum an Kommunikationsmöglichkeiten zu erhalten, einen gewissen Kontakt zwischen Existenzen, die versuchen, sich einander zu öffnen.38 Was Hiob anstelle der dogmatischen Predigt erfleht, ist der Dialog, der als freie Form sprachlichen Ausdrucks nicht so sehr auf ein einfaches Verstehen, als vielmehr auf eine wahre Verwirklichung der Existenz ausgerichtet ist, da sie auf die Gesamtheit von Sein und Transzendenz Bezug nimmt, in dem sie die Voraussetzungen für eine Kommunikationsmöglichkeit schafft.39 Dagegen kommt es zwischen Hiob und seinen Freunden keinesfalls zu einer lebendigen intersubjektiven und nach dem Ursprünglichen dürstenden Begegnung: Der Mann von Uz versteht das nur zu gut, schmerzerfüllt und hochsensibel für menschliche Kontakte, wie er ist. Fremdheit ist es, die
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Ibid. S. 106. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 337. Vgl. Jaspers: Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 113ff. Ibid. S. 116ff.
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Hiobs Ansprechpartner kalt und gleichgültig scheinen lässt: Sie haben nichts als eine Lehre zu bieten und stellen diese wie einen Schutzschild zwischen sich und den gequälten Freund. Als unauthentische Argumentation mit leeren, toten Worten stehen die Zwiegespräche Hiobs sinnbildlich für verfehlte menschliche Kommunikation. Eine Kommunikation bar aller gemeinsamer Bezüge, in deren Rahmen sich Stille und Abwarten, Bestürzung und Staunen, Mitleid und Ehrlichkeit miteinander verbinden und tiefe Anteilnahme erzeugen. Dies fordert Hiob und nicht theologische Erklärungen. Ein Grund mehr, sich direkt an Gott zu wenden: «Zu Gott spricht er, der ihm nicht antwortet, an dessen Dasein er aber nie zweifelt».40 Er wendet sich fortwährend an Gott, um seiner Seelenpein Ausdruck zu geben: «Ich schreie zu dir, aber du antwortest mir nicht; ich stehe da, aber du achtest nicht auf mich. Du hast dich mir verwandelt in einen Grausamen und streitest gegen mich mit der Stärke deiner Hand» (Hiob 30, 20-21). Er will nur Eines: sein Tun vor Gott tragen, das sei für ihn bereits Hilfe und Erleichterung: «Dann rufe, ich will dir antworten, oder ich will reden, dann antworte du mir! Wie groß ist meine Schuld und Sünde? Lass mich wissen meine Übertretung und Sünde. Warum verbirgst du dein Antlitz und hältst mich für deinen Feind?» (Hiob 13, 22-24). Zwischen Hiob und den Schriftgelehrten treten so zwei radikal verschiedene Formen der Kommunikation mit Gott zu Tage, auch wenn beide aus einer gläubigen Haltung heraus agieren. Zwei entgegengesetzte Verhaltensweisen gegenüber der Transzendenz, zwei Waagschalen gleich, die ein unmögliches Gleichgewicht anstreben. Hiob selbst verwendet diese suggestive Metapher: «Wenn man doch meinen Kummer wägen und mein Leiden zugleich auf die Waage legen wollte! Denn nun ist es schwerer als Sand am Meer; darum sind meine Worte noch unbedacht.» (Hiob 6, 2-3) Dieses problematische, unwahrscheinliche Gleichgewicht beider Waagschalen – die dogmatische Wahrheit einerseits und die philosophische Wahrheit andererseits, die Hiobs quälende Fragen zu beantworten versuchen – bildet für Jaspers den Mittelpunkt der Interpretation-Aneignung 41 des biblischen Buches, das ein herausragendes Symbol für die gesamte jüdisch-christliche Offenbarung ist. An dieser Stelle sei kurz auf Qualität und Gewicht der beiden unterschiedlichen Waagschalen eingegangen, die ein anderer existen40 41
Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 338. Hierzu wichtige Betrachtungen in Alberto Caracciolo: Studi jaspersiani, hg. von Roberto Celada Ballanti (Alessandria: Edizioni dell’Orso, 1996) S. 5-53.
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tialistischer Philosoph bereits 1929 problematisierte: Leo Schestow sprach wie Jaspers von zwei unvereinbaren Äußerungsformen der menschlichen Sprache in ihrem Versuch, Gott unmittelbar anzusprechen. 5
4. Die Waage Hiobs
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Angesichts der tragischen Kluft, die zwischen den Bestrebungen der Menschen und der Taubheit Gottes besteht, steht der Schmerz Hiobs als universelles Emblem für den wiedererweckten Menschen, der in der Lage ist, jenseits der unbedachten Worte das zu sehen, was am wertvollsten und jeder Rationalität griechisch-abendländischer Prägung zu begreifen verwehrt ist.42 Auf Hiobs Waage: Über die Quellen der ewigen Wahrheiten lautet der Titel eines Aufsatzes von Schestow.43 Er behandelt die beiden Waagschalen, sinnbildlich dargestellt durch Athen und Jerusalem. Die erste Waagschale, Athen, repräsentiert die wissenschaftliche Vernunft und technische Messbarkeit, deren unbestrittener Primat im menschlichen Leben und in seiner Welt eine absolute Autorität darstellt. Die zweite Schale steht dagegen im Zeichen Jerusalems als des Symbols für ein undefinierbares Streben, getragen von der Ahnung vom Reich des Unwägbaren und all dessen, was von der berechnenden Vernunft verworfen wird und stattdessen im gequälten Bewusstsein des zeitgenössischen Menschen fortbesteht. Hiob verkörpert exemplarisch den Protest gegen die Vorherrschaft Athens und gegen alles, was auf einen von der Klarheit der Lehre begrenzten Glauben verweist. Sein tragischer Konflikt beruht auf der Unmöglichkeit, die unendliche Last unverdienten Schmerzes auf einen hinreichenden Grund zurückzuführen. Das Drama des Mannes von Uz liegt laut Schestow nicht im auferlegten Leid, sondern in der Ohnmacht der Sprache – «darum sind meine Worte noch unbedacht» (Hiob 6, 3) –, wenn es darum geht, den Weg zur Kommunikation mit Gott zu finden. Dass Hiob dabei der Sprache Jerusalems zuneigt, mindert nicht das quälende Bestreben, Zuflucht in der Sicherheit rationaler, ihm von Athen eingegebener Worte zu suchen, wenn er individuelles Leid und die Dramen der Geschichte als Regeln und Gesetze der Welt beschreibt.
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Zur Interpretation des Texts von Schestow siehe Edoardo Castagna: L’uomo di Uz. Giobbe e la letteratura del Novecento (Milano: Medusa, 2007) S. 99-116. Leo Schestov: Auf Hiobs Waage: Über die Quellen der ewigen Wahrheiten, übers. von Hans Ruoff und Reinhold von Walter (Berlin: Schneider, 1929).
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Hiobs Auflehnen ist vor allem wegen der Behauptung ungehörig, die Wirklichkeit könne anders betrachtet und begriffen werden, nämlich mit kühnem Protest und dem Mut, sein Ich dem Universum entgegen zu setzen. So wird ein Bruch in der Welt Athens provoziert und eine sich der Vernunft entziehende Sinnhaftigkeit in die Wirklichkeit eingeführt. Eine Sinnordnung, durch die das problematische Übermaß der Existenz erfassbar wird und über vorgefasste theologische Schemata hinaus projiziert werden kann. Schemata, die jenseits der beruhigenden Antworten der Theodizee und der Träume der Metaphysik hin zu einer bewussten Ahnung führen, die letztlich besagt: «Es ist genug, daß Sein ist» – um erneut Jaspers zu zitieren –, es ist genug, dass der ontologische Plan den ethischen übertrifft, der philosophische Glaube den religiösen Glauben übersteigt. Für Jaspers ist der religiöse Glaube ein Gut, das die Freunde Hiobs ein für alle Mal errungen haben: Sie mahnen den Leidenden und bringen ihn zum Schweigen, während Hiob sich weigert, sich den Geboten der Lehre und der zuständigen Autorität zu unterstellen und die Kühnheit des Fragens vor eine göttliche, inzwischen in theologischen Schemata bzw. in den Schemata der verschiedenen kirchlichen Lehren erstarrten Offenbarung stellt. Hiob fordert mit Nachdruck den Zugang zu einem persönlichen, nahen und präsenten Gott, der angesichts berechtigter Forderungen seines Gegenübers zu Kompromissen bereit ist. Die Theologen-Freunde verschanzen sich hinter der starren Struktur der Unanfechtbarkeit des Gesetzes, die erfunden wurde, um sich vor der wahnsinnigen Niedertracht Gottes zu schützen, indem sie sich auf die religiöse und zugleich moralische Gewissheit stützen, die die Thora als die den Menschen auf dem Sinai auferlegte Sprache Gottes bietet. Auch Hiob scheint – obwohl selbst kein Jude – zunächst wie jeder fromme Jude dieser Weltanschauung zu folgen, ausgerichtet auf das Gesetz, das zu korrigieren versucht, was das Böse an Unvorhersehbarem, Verrücktem, Exzessivem enthält. Während ein Talmudgelehrter Hiob vorwirft, die messianische Dimension der Thora zu verkennen – die erst durch Jaspers wieder auf ihre in den Regeln des religiösen Glaubens gefangene normative Autorität zurückgeführt wird –, zwingt die kühne, paradoxe Struktur des Buchs Hiob zu einer aufmerksameren Betrachtung der zweiten Waagschale.44 Dem wesentlich stärkeren Einfluss von Lehre und Dogma noch immer unterlegen, ist der denkende Glaube des leidenden Gerechten (der der prophetischen Linie näher 44
Vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 346.
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steht als der rabbinischen) in der Lage, die Waage ins Lot zu bringen, denn er wagt es, ein neues, unerwartetes Szenarium zu eröffnen: Die Sehnsucht nach dem Absoluten, die nur in die Sprache der Chiffren übersetzt werden kann, öffnet sich darin der Transzendenz, «zur Erfüllung im umgreifenden Nichtwissen».45 Die radikale Alternative, die die Erzählstruktur des biblischen Buchs nahe legt, lautet weniger – wie Schestow meint – Rationalität oder Glaube, Welt des technischen Wissens oder fideistische Eingebung, offen für das Mysterium der Theophanie. Die Alternative besteht vielmehr, wie Jaspers bekräftigt, zwischen zwei Arten von Glauben: dem religiösen Glauben mit seinem orthodoxen Gedankenumfeld, und dem philosophischen Glauben, der die existentielle Authentifizierung durch die Verbindung zur Transzendenz begleitet, welche mit Hilfe der offenen Interpretation der Chiffren erhellbar ist. Die Offenbarung Gottes mit der das Buch Hiob schließt, zeigt, dass die Transzendenz, bar ihrer personhaften, körperlichen Dimension, ihr wahres Selbst enthüllt. Indem sie auf Distanz zum leidenden Gerechten geht, drückt sie mit feierlichen, endgültigen Worten aus, dass sie keinen blinden Gehorsam fordert, sondern die chiffrierte Neubetrachtung ihrer Hingabe im Zeichen einer erneuerten Bewusstwerdung um die Endlichkeit der Existenz.46 Hiob und Gott scheinen letztlich die Notwendigkeit einer Umwandlung von religiösem Glauben in philosophischen Glauben zu besiegeln. Dabei scheint letzterer allerdings von einer singulären religio beseelt: Auf der Suche nach von Wahrheit geprägter Kommunikation mit Gott prüft der Mann von Uz seinen Glauben durch das Streben nach Transzendenz, ungeachtet des Scheiterns jedweder theologischen Rechtfertigung, aus der Fülle einer philosophischen Vernunft schöpfend, die die Wahrheit des Seins anstrebt, ohne sich durch eingrenzende, partikularistische Gewissheiten abzuschotten.47 «Es ist genug, daß Sein ist»: Diese an Plotin erinnernde Formulierung hängt mit dem existentiellen Nutzen zusammen, den Hiob schließlich aus seinem langen, mühevollen Werdegang zieht. Sein Durst nach Wahrheit und Gerechtigkeit ist sozusagen gestillt, natürlich nicht im Zuge einer passiven Unterwerfung unter Gottes Werk, sondern dank des inneren Handelns «des glaubenden Hiob im Zusichselbstkommen, immer von neuem geboren aus Frage und Trotz».48
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Ibid. S. 351. Ibid. S. 156. Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 59. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 351.
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In Der philosophische Glaube schreibt Jaspers, dass eine Gewissheit des Seins Gottes eine Prämisse und nicht das Ergebnis des Philosophierens sei und fügt an anderer Stelle hinzu, man müsse, um zu Gott zu gelangen, auch von Gott ausgehen.49 Dies bedeutet letztlich, dass der Jaspers’sche Hiob (und darin steht er Kierkegaard wesentlich näher als Kant) Chiffre wird, Sprache der Transzendenz, umfassendes Symbol des Namens Gottes, Ausdruck des labilen Gleichgewichts der beiden Waagschalen: Die eine steht im Zeichen von Endlichkeit und Freiheit, die andere im Zeichen des Jenseitigen des Seins ist stets in der Schwebe zwischen Chiffrenpräsenz und unzugänglicher Abwesenheit.
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Übersetzung: Brigitte Stanglmeier
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Vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 29ff., sowie ders.: Schelling. Größe und Verhängnis (München: Piper, 1955) S. 189.
Studia philosophica 67/2008
THOMAS R ENTSCH
Transzendenz und Vernunft: Wie lässt sich ihr Verhältnis heute bestimmen?
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In the first part, the text develops some central aspects of a new philosophical theology: the transcendence of being, the transcendence of language and the transcendence of human existence. The equiprimordiality of these three aspects of transcendence leads to absolute transcendence, the transcendence of God. The second part compares Karl Jaspers’s concept of transcendence with my own approach. In particular, it investigates Jaspers’s fundamental concepts of failure (Scheitern) and cipher (Chiffren) as language of transcendence.
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1. Transzendenz in einer philosophischen Theologie heute 20
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In der philosophischen Theologie muss eine völlige Drehung und Umkehrung funktionaler und instrumenteller Sichtweisen erfolgen.1 Eine Orientierung an Gott im authentischen Sinne kann auch weder als ein Fürwahrhalten absurder Tatsachen begriffen werden, noch als ein bloßes Vermuten, es könne ja vielleicht so sein. Eine solche Orientierung kann nur eine lebenstragende Grundgewissheit sein, ein Sinn eröffnendes und Hoffnung gewährendes Grundvertrauen. Die Tradition unterschied hier sehr präzise zwischen der Sicherheit, der securitas in weltlich-empirischen, und der gewissmachenden Grundgewissheit, der certitudo in existentiellen, personalen, geistlichen Dingen. Meine zentrale These lautet: An der Grenze der philosophischen Vernunfterkenntnis beginnt das Verstehen der Rede von Gott. Da, wie Hegel lehrt, eine Grenze zu denken, heißt, sie zu überschreiten, gelangen wir so zunächst zu einem Transzendenzverständnis inmitten der humanen Welt und ihrer Sinndimensionen. Dieses Transzendenzverständnis ist konstitutiv mit unseren Möglichkeiten des Transzendierens, des Überschreitens und somit auch des Vorgreifens auf Sinn verbunden. 1
Ausführlich habe ich die folgenden Analysen durchgeführt in Thomas Rentsch: Gott (Berlin, New York: de Gruyter, 2005).
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1.1 Die Transzendenz des Seins (der Welt) (Die ontologisch-kosmologische Transzendenz) Ein erster, grundlegender Transzendenzaspekt, der sich uns bei solchem selbstreflexivem Transzendieren zeigen mag, ist die Existenz der Welt. Der Transzendenz-Aspekt ist keine Erfahrung, er kann sich nur an und in unseren alltäglichen Erfahrungen ‹indirekt› zeigen – wenn man auf ihn überhaupt jemals aufmerksam wird. Dass die Welt überhaupt ist, dass es überhaupt etwas gibt und nicht nichts – das kann man nicht direkt erfahren und nicht als normale Tatsachenbehauptung mitteilen. Direkt erfahren und mitteilen kann man Erlebnisse und Tatsachen in der Welt. Die Ebene des Dass der Welt ist auch nur behelfsmäßig als «Ebene» zu bezeichnen. «Ebenen» im wörtlichen Sinne lassen sich räumlich lokalisieren und einander zuordnen. Eie Ebene des Dass der Welt, ontologisch die des Seins des Seienden, übersteigt, überschreitet alle solchen Ebenen. Das Sein der Welt, das Dass des Seins, übersteigt und überschreitet unsere Erkenntnis und Erfahrung völlig und grundsätzlich. Dass die Welt ist, können wir weder erklären noch von irgendwelchen innerweltlichen Tatsachen ableiten. Wenn wir selbst auf diese definitive Grenze unserer Erkenntnis und unserer eigenen Existenz stoßen, erreichen wir mit der Sinngrenze auch einen Aspekt des realen, konkreten Sinngrundes unserer Welt und unserer selbst. Die Unerklärlichkeit des Seins – dass überhaupt etwas ist, die völlige Unverfügbarkeit, die transpragmatische, weder räumlich noch zeitlich zu begreifende Vorgängigkeit des Seins und mithin auch des Universums mit Milliarden Galaxien bildet einen Grund allen möglichen und allen wirklichen Sinns – faktisch und praktisch. Es gibt, anders gesagt, keine Immanenz ohne ontologisch-kosmologische Transzendenz. Die Struktur der Transzendenz lässt sich als einzigartiger Prozess explizieren. Die traditionelle theologische und religiöse Sprache verwendet daher in unserem Zusammenhang aus guten Gründen den Begriff der Schöpfung. Unserer Analyse entspricht es, wenn nicht nur von einer Schöpfung aus Nichts (creatio ex nihilo) die Rede ist, sondern ebenso von einer permanenten Schöpfung (creatio continua). Denn so wird das authentische Wunder nicht auf irreführende Weise verortet, verräumlicht oder verzeitlicht. Es zeigt sich die konstitutive Verbindung von (absoluter) Unerklärlichkeit, Unerkennbarkeit (Negativität) und Sinn: Denn alle Ausmalungen des Schöpfungsvorgangs in realistischen Bildern oder auch in szientifischen Modellen (Urknall) unterlaufen auf simplifizierende, naive, innerweltlich-innerseiende Weise den völlig unerklärlichen ontologisch-kosmologischen Transzendenzprozess.
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Transzendenz ist mithin nicht als ein abstraktes Jenseits im Himmel begreifbar, sondern als ein wahrhaft kreativer Prozess des Hervorgangs der unendlich komplexen und differenzierten Wirklichkeit allen Seins ‹aus Nichts›. Die Rede von der Schöpfung als einzigartigem Wunder und andauerndem Prozess – «Gott sah, dass es gut war» – ist eine diesem Aspekt absoluter Transzendenz gerecht werdende Vergegenwärtigungsweise. Bereits am Aufweis dieses Transzendenzaspektes wird im Übrigen sichtbar, wie reduktionistisch, um nicht zu sagen beschränkt, funktionale oder entfremdungstheoretische Religionsphilosophien oder Transzendenzverständnisse sind. Dass Seiendes ist, das hat keine noch irgend von uns zu eruierende ‹Funktion›, dass die Welt überhaupt geworden ist und ständig wird, entspringt wohl kaum unseren Entfremdungserfahrungen oder illusionären Projektionen. Kurz: ein Wunder im strengen Sinne ist schlechterdings nicht erklärbar und hat überhaupt keine Funktion. Wir können hier vom unsagbaren Geheimnis der Wirklichkeit erkenntniskritisch begründet sprechen und negativ-sinnkriterial den unausschöpflichen, unabschließbaren Charakter der Wirklichkeitserfahrung in jedem Augenblick mit Wahrheits- und Geltungsanspruch aufweisen. Dass diese Dimension in existentiellen Erfahrungen, in personalen Beziehungen, in Erfahrungen des Erhabenen in der Natur, in meditativer Praxis auf besondere, intensive Weise aufleuchtet, zugänglich wird und gestaltet werden kann, das zeigt nur, dass Transzendenz vorgängig ist und stets augenblicklich neu eröffnet wird, wenn man nur auf sie aufmerksam wird. Die Verstellung und Verdeckung authentischer Transzendenz durch eigene menschliche Gerätschaften und Vorrichtungen ist ein Thema, auf das ich hier nicht eingehen kann. Es sind aber keine exzeptionellen Sondererfahrungen, in denen absolute Transzendenz der erläuterten Art gründet oder gar besteht. Vielmehr sind die Transzendenzaspekte des Seins der Wirklichkeit ganz fundamentale Züge all unserer Welterfahrung und der Alltäglichkeit unseres Lebens, die aufgrund ihrer übergroßen Nähe und Selbstverständlichkeit in diesem oft verdeckt und verborgen bleiben.
1.2 Die Transzendenz der Sprache (des Logos) Die Sprache ermöglicht unsere Sinngrenzreflexion und in eins die Sinngrunderkenntnis. Dass – und wie – wir sprechen können, ist eine unerklärliche, uns vorgängige Bedingung der Möglichkeit und Wirklichkeit unserer
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humanen Welt. Dass wir Sätze verwenden können, wahre Behauptungen treffen und bestreiten, Urteile über gut und böse, schön und hässlich fällen können, das ist eine uns und unsere Welt einschließlich unserer Vernunft und Selbsterkenntnis real ermöglichende Dimension, die wir nicht erklären oder von anderem ableiten können, ohne sie selbst schon verwenden und in Anspruch nehmen zu müssen. Gleichwohl ist das Wunder der Sprache und der sprachlichen Erschlossenheit der Welt wiederum nichts außergewöhnlich oder übernatürlich Mysteriöses, sondern ebenso alltäglich, jedermann bekannt, universal zugänglich wie auch die Transzendenz des Seins und aller Wirklichkeit. Den Hervorgang der Sinnbedingungen unserer Welt konnten wir bereits als kreativen Prozess charakterisieren. Der Prozess führte inmitten der materiellen Endlichkeit zur Entstehung des Lebens, des menschlichen Selbstbewusstseins und der Sprache. Das heißt: das kreative Transzendieren und seine realen Möglichkeiten setzt sich in die menschliche, kreative, Entwurfspraxis hinein fort. Die uns real ermöglichende Transzendenz des Seins und der sich prozessual auf einzigartige Weise ereignende Weltprozess führen zum Hervorgang sprach- und handlungsfähiger Wesen, der Menschen. Zur prozessualen Transzendenz des Seins und der Existenz der Welt tritt der Transzendenzaspekt des Logos. Ohne die reale Möglichkeit, ganze Sätze in ganzen, als Einheit vorverstandenen Lebenssituationen zu formulieren und zu begreifen, ohne die reale Möglichkeit, Behauptungen aufzustellen, zu begründen und nach wahr oder falsch zu beurteilen, wäre unsere humane Existenz undenkbar. Weder ein Sinn von Sein noch eine humane Welt wäre ohne kommunikative Selbsttranszendenz auch nur möglich. Wie bereits die Analyse der ontologisch-kosmologischen Transzendenz, so erschöpft sich auch die Analyse der Transzendenz der Sprache nicht in der Unerklärlichkeit ihrer Existenz, sondern sie setzt sich fort in der uns und unsere gesamte Weltwirklichkeit auch mit ermöglichenden, permanenten Sinneröffnung.
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1.3 Die anthropologisch-praktische Transzendenz (Existentiell-interexistentielle Transzendenz) 35
Wir sind Sinn entwerfende und Sinn antizipierende Wesen. Es sind kommunikative Lebensformen, die auch unser praktisches Selbstverhältnis konstituieren und formen: einem Anderen zuhören, jemandem helfen, sich miteinander beraten, an jemanden denken, auf jemanden warten, jemandem etwas
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beibringen, Freundschaft und Liebe. Kommunikative praktische Lebensformen sind durch Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Vertrauen, gegenseitige Hilfe und die Bemühung um Klarheit und Verständlichkeit möglich – die Verfehlungen und defizienten Modi werden so mit ermöglicht. Zu den transpragmatischen, auch transethischen Sinnbedingungen unseres Lebens gehört, dass wir dessen singuläre Totalität nicht als ganze vergegenständlichen, «erkennen» oder gar in aller Tiefe seiner wenig oder kaum bewussten Schichten durchschauen können. Nur von unserer zeitlichendlich-diskursiven, je gegenwärtigen Lebenspraxis aus, die wir von der antizipierten Zukunft her verstehen, können wir Aspekte unseres bisherigen Lebens erinnern, thematisieren, reflektieren und beurteilen. Unsere praktische Selbsterkenntnis ist endlich und begrenzt wie unsere empirischen und theoretischen Erkenntnismöglichkeiten. Es ist gerade diese pragmatische, konstitutive Nichtobjektivierbarkeit, die unsere personale Integrität und die Perspektive autonomen Transzendierens eröffnet und ermöglicht. Solange wir leben, sind wir augenblicklich noch im Entwurf einer konkreten Lebenssinngestalt begriffen, die aus nichts Vergangenem kausal determiniert gedacht oder abgeleitet werden kann. Selbsterkenntnis im praktischen Sinne, auch wenn sie Erfahrungen des Versagens, des Scheiterns und des Bösen aus der Vergangenheit einbezieht, steht in dieser offenen, nicht objektivierbaren Dimension. Unsere praktische Möglichkeit der Selbsttranszendenz beruht somit auf der Unerkennbarkeit unserer selbst bzw. unseres Wesens in einem objektivistischen, abschließbaren Sinne. Die Transzendenz unserer selbst und unserer eigenen Existenz erschließt uns die Potentiale ekstatischen Transzendierens unserer Selbst- und Situationsverständnisse. Existentielle Transzendenz als Sinngrenze allen Erkennens bildet den Sinngrund personaler Freiheit und Würde. Der Sinngrund selbst ist nur negativ zu erfassen. Die Unableitbarkeit und Uneinholbarkeit der existentiellen Transzendenz lässt sich aber im Kontext interexistentieller Transzendenz in ihrer wirklichen Tragweite angemessen analysieren und begreifen. So wie wir uns selbst nicht objektivieren können, so ist uns auch der Andere nicht verfügbar und kann uns gerade so in seiner eigenen personalen Würde begegnen. Wir stoßen mit diesen Analysen auf die sinnkonstitutiven Grenzen unserer Existenz und des Mitseins mit Anderen. Sie ermöglichen die unbedingte Achtung und Anerkennung der Mitmenschen als Personen mit irreduzibler Würde ebenso wie ein authentisches Selbstverhältnis in Freiheit und als Freiheit. Die transpragmatische und transethische Dimension der Nichtobjektivierbarkeit, der Unverfügbarkeit und Entzogenheit gründet und trägt
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personale und moralische Verhältnisse. Die Rede von der «Unantastbarkeit» des Menschen in seiner Würde artikuliert diesen Transzendenzaspekt. Die praktische Anerkennung der existentiellen und interexistentiellen Transzendenz als der unbedingten Grenze und dem Grund unseres eigenen Transzendierens eröffnet erst die nahe, reale Möglichkeit eines freien, verantwortlichen und moralischen Selbstverständnisses. Transzendenz in der Immanenz bedeutet nicht, dass Transzendenz in Immanenz aufginge oder verschwände, auf sie reduziert oder von ihr abgeleitet werden könnte. Vielmehr ist Immanenz in ihrer Tiefendimension nur aus der Transzendenz zu begreifen. Transzendenz als bloß abstraktes Jenseits wird der Realität des Transzendenzgeschehens in unserem Leben ebenso wenig gerecht wie ein Lebensverständnis, das um das Wunder des unableitbaren, dennoch wirklichen Sinns des Seins der Welt, der Sprache und des eigenen Lebens gebracht würde.
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1.4 Philosophische Theologie – die absolute Transzendenz Gottes und der Status des Wortes «Gott» Entscheidend für die Explikation und Entfaltung einer genuin systematischen theologischen Perspektive ist im Blick auf die aufgezeigten Transzendenzaspekte die Einsicht in ihre Gleichursprünglichkeit. Diese führt zur Perspektive einer Einheit, genauer: der Einzigartigkeit des Seins des Sinnes. Der Artikulation dieser Perspektive dient die Rede von Gott, der Orientierung an dieser Perspektive dient der praktische Lebensbezug zu Gott. Dieser Zugang wird möglich, wenn wir uns die Gleichursprünglichkeit der bisher explizierten Aspekte der Transzendenz vergegenwärtigen. Die unerklärliche, unfassbare, aber sich ständig realisierende Transzendenz des Seins, der Welt, der Sprache und unserer eigenen Existenz mitsamt ihrem prozesshaften Hervorgang und ihrer Gegenwart bildet eine für uns zwar intern differenzierbare und auch differenzierungsbedürftige, aber völlig untrennbare Einheit, die wir keinesfalls summativ oder additiv begreifen oder depotenzieren können. Die Gleichursprünglichkeit der bisher aufgezeigten Aspekte der Transzendenz erweist sich in der vorgängigen Einheit jeder Lebenssituation und jedes praktischen Sinnentwurfs, in denen die Aspekte zusammenspielen und so konkreten Sinn überhaupt erst ermöglichen. Die Einheit ihres Zusammenspiels ermöglicht so unsere eigenen Sinnentwürfe, den Entwurf eines leitenden Selbstverständnisses und einer praktischen, existentiellen Sicht des ganzen Lebens. Das Sein der Welt, die Dimension sprachlichen Sinns und
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unser eigenes, aus dem Transzendenzprozess auf unbegreifliche Weise hervorgegangenes Sein und Selbstverständnis bilden eine unvordenkliche Einheit, die sich in jeder Lebenssituation zeigt und die unsere endliche, freie und vernünftige Praxis ermöglicht. Diese Einheit wurde traditionell ontologisch, metaphysisch, mystisch, transzendental- und bewusstseinsphilosophisch auf metasprachliche Weise zu artikulieren versucht. Mit Wittgenstein (und wohl auch Heidegger) können wir sagen, dass sich diese Einheit eigentlich auf unsagbare Weise zeigt. Die ursprüngliche und vorgängige Einheit dieser sinneröffnenden Transzendenz nannte die Tradition das Eine, das Absolute oder Gott. Es wird verständlich, dass Gott als namenloser Grund allen Seins sowohl negativtheologisch in der Perspektive der absoluten Unerkennbarkeit und eher dem Nichts angenähert gedacht, andererseits mit maximalistischen Hyperformeln zu erfassen versucht wurde. Damit ist verbunden, dass über die Grenze des Dass der Welt (des Seins des Seienden), des gleichursprünglichen Dass des Seins des Sinns der Sprache und des unerklärlichen Dass unserer eigenen, konkreten Existenz hinaus nichts gedacht werden kann. Alles jedoch, was wir sind und erfahren, ist nur möglich und wirklich in, mit und durch das einzigartige, vorgängige, prozessuale Transzendenzgeschehen, welches uns Vernunft und Freiheit, Wahrheit und Gutes eröffnet. Diese Stiftung, Eröffnung und Schöpfung aber, dieser Hervorgang ist real und konkret. Die Transzendenzdimension erschließt die innere Unendlichkeit der Wirklichkeit, sie ermöglicht unser eigenes Transzendieren – auf selbst unfassbare, unerklärliche Weise, denn alles Fassbare und alles Erklärliche wird durch sie erst möglich. Der einzigartige Name «Gott» bezieht sich auf das unfassbare, authentische Wunder des Seins und des Seins des Sinns, welches den Ursprung des gesamten Universums ebenso einbegreift wie jeden konkreten, gelebten Augenblick in unseren je einzigartigen Lebensvollzügen. Philosophische, kritisch-hermeneutische und sinnexplikative Theologie kann bis zu dieser einzigartigen Seins-, Sinn- und Schöpfungsdimension verstoßen, von der wir, recht verstanden, in jedem Augenblick leben: Im Atmen und Fühlen, im Sehen und Hören, in den Erfahrungen der Erfüllung und Versagung, in den Modi kommunikativer Hilfe und wechselseitiger Anerkennung, in den Möglichkeiten des Denkens. Begreifen wir als wirklich nicht krude Gegenständlichkeit: Steine, Atome, Dinge, szientifisch reduzierte Quantitäten, sondern begreifen wir das Wirkliche als die konkrete Lebenswirklichkeit, in der Menschen im höchsten Maße vernünftige, freie, Sinn erfahrende und entwerfende Wesen sind und sein
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können, dann ist uns Gott nirgends näher als in authentischer existentieller und interexistentieller Praxis: wenn wir uns selbst transzendieren in Richtung auf authentische Sinn- und Geltungsansprüche in der gemeinsamen Wahrheitssuche, in Richtung auf Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Solidarität auch mit schwachen und hilfsbedürftigen Mitmenschen. Die uns mit diesen Richtungen erschlossene konkrete Lebenswirklichkeit lässt sich mit guten Gründen als die wahre, eigentliche Wirklichkeit bezeichnen, und somit Gott als ens realissimum. Gott ist ein Gott aller Menschen – er ist in absoluter Transzendenz völlig unverfügbar. Gott lässt sich so als Grund der Wirklichkeit authentischer Interpersonalität begreifen. Da die Wirklichkeit Gottes als absoluter Transzendenz inmitten der Immanenz im erläuterten Sinne alle konkrete Wirklichkeit hervorgehen lässt und trägt, da nicht wir diese Wirklichkeit geschaffen haben, sondern da wir uns, recht verstanden, dieser Wirklichkeit mit allem was wir haben und sind, verdanken, können alle Aspekte unserer Welt, unserer Existenz und unserer Praxis zu Paradigmen der Transzendenz werden. Religion und Theologie können wir auf diesem Hintergrund als Aufklärung über Transzendenz bzw. als Aufklärung über sinnkonstitutive Unverfügbarkeit definieren, insbesondere als praktische Einübung in angemessenes, sinnvolles Verhalten gegenüber bzw. angesichts absoluter Transzendenz. Der afunktionale Sinn des Heiligen lässt sich aus der Sicht philosophischer Theologie in seiner Tiefenrationalität begreifen und, wo dies nötig ist, rehabilitieren. Gerade weil kein funktionales, subjektiv oder objektiv vergegenständlichendes Verhältnis zu Gott, zum Absoluten, zur gleichursprünglichen Transzendenz möglich ist, sind diejenigen kulturellen Formen im Recht, die diese absolute Entzogenheit und Unverfügbarkeit bewusst machen und bewusst halten. Die Dimension absoluter, sinneröffnender Transzendenz ist kein Bereich der Beliebigkeit, sondern ein umfassender und grundlegender Bereich mit genuinen Geltungskriterien, eine Dimension, die sich allen eröffnet, die niemandem gehört und die niemand für sich funktionalisieren kann und darf. An der Grenze philosophischer Vernunfterkenntnis, die bis zur Entfaltung einer Theologie der Transzendenz in der Immanenz – auch und gerade im Blick auf ihre lebensermöglichende und lebenssinnkonstitutive Wirklichkeit und Wirksamkeit – reicht, beginnt das Verstehen und Begreifen der Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit der großen monotheistischen Weltreligionen und ihres authentischen, irreduziblen Wahrheitsgehaltes wie auch ihrer ideologischen und pervertierten Formen. Säkularisierung, westliche Moderne und technisch-wissenschaftliche Zivilisation sind solange sinnvoll, wie sie authentische religiöse Lebensformen freisetzen und nicht versuchen,
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sich auf illusionäre und ideologische Weise an ihre Stelle zu setzen. So können sich die gleichermaßen komplexen wie unverzichtbaren Traditionen des Verstandes, der Vernunft und der religiösen Tiefenaufklärung und Verkündigung erneut produktiv ergänzen. Die Dialektik von Vernunft und Transzendenz gehört zur Vernunft selbst und darf nicht in eine künstliche, dualistische Entzweiung von bloß säkularer Rationalität und bloß fundamentalistisch, fideistisch oder kirchenmystisch zugänglicher Offenbarung aufgespalten werden. Wo das produktive Ergänzungsverhältnis von religiöser und profaner Vernunftperspektive einseitig aufgelöst wird, muss es neu entwickelt und mit Leben erfüllt werden – auch durch wechselseitige Kritik.
2. Die Perspektive der Transzendenz bei Karl Jaspers aus der Sicht meiner Systematik 15
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Auf dem Hintergrund meiner (prototheologischen) Transzendenzanalysen lassen sich folgende Kernthesen und Kernaussagen von Jaspers (aus dem dritten Band seiner Philosophie, der Metaphysik) rekonstruieren und übernehmen. 2.1. «Da die Wirklichkeit der Transzendenz weder empirisches Dasein als materialisierte Transzendenz ist, noch jenseitig eine andere Welt, kommt es – sie zu erfahren – auf den Bruch der Immanenz an, worin der Existenz das Sein im geschichtlichen Augenblick entgegenkommt. Der Ort der Transzendenz ist weder diesseits noch jenseits, sondern Grenze, aber Grenze, auf der ich vor ihr stehe, wenn ich eigentlich bin. Aberglaube und Positivismus sind Feinde auf derselben Ebene».2 Allerdings tendiert Jaspers immer wieder zu einer Art negativer Dialektik: «Das empirisch Wirkliche ist vor dem Absoluten wie nicht eigentlich wirklich; das absolut Wirkliche ist vor dem empirisch Wirklichen in dessen Sinn unwirklich. Sein und Nichtsein kehren in ständigem Wechsel ihr Verhältnis um».3 Transzendenz muss meines Erachtens als Tiefe der Wirklichkeit (in ihrer unendlichen Konkretion), gerade auch in aller Alltäglichkeit, begriffen werden. Metaphysische, theologische, mythische, gnostische Sprachen – sie sind nur Hilfsmittel, um auf diese Tiefe hinzuweisen. Wenn Jaspers das meint, hat er Recht. Er schreibt: «Transzendenz ist, was uns täglich umfängt, wenn wir entgegenkommen».4 2 3 4
Karl Jaspers: Philosophie, Bd. III: Metaphysik (München: Piper, 1994) S. 12f. Ibid. S. 15. Ibid. S. 33.
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2.2. Die von Jaspers analysierten Transzendenz-Aspekte der Gegenständlichkeit, der Wirklichkeit und der Freiheit sind kompatibel mit meinen Analysen, allerdings stark an traditionellen Untersuchungen einer cartesianisch-kantischen Erkenntnistheorie orientiert. Ich folge ihm jedoch, wenn er schreibt: «Stehe ich vor der Wirklichkeit und denke sie als Weltall, so kann ich fragen: Warum ist überhaupt etwas? Warum ist nicht nichts?». «Stehe ich im Bewusstsein meiner Freiheit», so wird mir bewusst: «ich habe mich nicht selbst geschaffen; wo ich eigentlich ich selbst bin, bin ich nicht nur ich selbst. Die Frage, woher ich bin, führt in den Grund».5 2.3. Stark dualistisch in der Tendenz, aber bei genauerer Analyse doch systematisch aufzunehmen ist Jaspers’ Sicht des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit: Das Scheitern des Verstandes wird Erweckung der Existenz […]. Wenn Existenz durch die Immanenz des Bewusstseins hindurchbricht, überwindet sie die Zeit. Im Augenblick stehend offenbart sich ihr die Fülle des Seins als Transzendenz an Stelle des nur gleitenden Jetzt als Zeitatoms. Diese Transzendenz ist ihr das eigentliche Sein, durch das sie selbst ist. Sie ist ihr das Jetzt, das kein Vor und Nach hat […] sie ist jetzt als das Jetzt, das keine Folge hat, weil nichts mehr fließt, sondern alles ewig ist.6
Letztlich denkt Jaspers auch hier dialektisch Transzendenz in der Immanenz: «Das gedankliche Transzendieren über die Zeit sucht nicht die Zeitlosigkeit, sondern in der geschichtlichen Zeitlichkeit der Existenz, diese überschreitend, die Ewigkeit. Ewigkeit als Transzendenz erscheint in der Zeit, als ewige Zeit umgreifend. Ich werde ihrer inne, wenn ich nicht mehr nur das endlose Werden und Vergehen, sondern selbst seiend in allem das Sein sehe», und zwar, wie Jaspers ausführt, als «existentielle Gegenwart».7 Wenn wir diese spekulativen Sätze in Richtung der authentischen Tiefe der existentiellen Wirklichkeit in aller Alltäglichkeit unserer Lebenspraxis (s. u.) verstehen, pflichte ich ihnen bei. 2.4. Systematisch tragfähig sind von Jaspers hervorgehobene Negativitätsaspekte der Transzendenz, die er mit zentralen metaphysik-, theologieund mystikgeschichtlichen Traditionen von Sokrates bis Kant in produktive Verbindung setzt. Er betont die Bedeutung des «Wissen(s) des Nichtwissens» und den Anspruch «die Unbegreiflichkeit zu begreifen».8 Es wäre nach Jas-
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Ibid. S. 42f. Ibid. S. 56f. Ibid. S. 57f. (Hervorhebung Th. R.). Ibid. S. 78.
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pers geradezu katastrophal für den Menschen, wenn Gott erkennbar, sichtbar wäre: Die Verborgenheit Gottes ist sinnkonstitutiv. Würde die Transzendenz der Gottheit sichtbar sprechen, so bliebe nur Unterwerfung im Vergehen vor ihr. Die Frage hörte auf. Hingeschmettert vor die aus der Verborgenheit in die Erscheinung tretende Allmacht wäre ich meiner Freiheit verlustig. Weder Trotz noch Hingabe wäre möglich. Denn beide gehen auf die verborgene Gottheit in der Frage, deren Antwort des Wagnis der möglichen Existenz ist.9
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Dieser sinnkonstitutive Aspekt der negativen Theologie wird noch unterstrichen dadurch, dass nach Jaspers «die Gottheit als wahre Transzendenz» «das Selbstsein des Menschen in der Spannung» «fordert». «Der Mensch darf nicht nichts werden, weder vor dem Idol seiner selbst, wie er sich zum Bilde macht, noch vor der Menschheit, noch vor einer persönliche Gestalt gewordenen Gottheit. Er soll gegen alle diese und andere Gestalten […] sein Recht wahren, das die transzendente Gottheit aus der Ferne ihm gibt und bestätigt: Gott will als Transzendenz, daß ich selbst sei».10 Wir können dies als transrationales Wunder der Freisetzung der Freiheit bezeichnen. 2.5. Es gibt nun zwei für Jaspers’ Denken der Transzendenz ganz spezifische Aspekte bzw. Dimensionen, die es im Kern systematisch zu rekonstruieren gilt, wenn man den Anspruch erheben will, seinen Ansatz aufzugreifen und auf gegenwärtigem Reflexionsniveau zu rehabilitieren. Der erste Aspekt ist die scharfe Akzentuierung des Scheiterns des Menschen: «Das Scheitern ist das Letzte».11 Der zweite Aspekt ist der des denkbar engen Zusammenhangs von Transzendenz und dem, was Jaspers «Chiffren» nennt. Versuchen wir abschließend, diese Kernaspekte zu verstehen. Zunächst zum Scheitern. Im phänomenologisch-existenzphilosophischen Zugriff von Jaspers ist das Scheitern eine vielfältige, komplexe Erscheinung des Lebens. Es gibt nach Jaspers eigentliches Scheitern, wenn wir illusionslos und in freier Selbstbestimmung auf dem Hintergrund des ohnehin faktisch unabwendbaren Scheiterns unser Leben führen. Er schreibt daher: daß, was wesentlich ist, in der Erscheinung untergeht, und daß die Aufnahme des Untergangs in sich erst die Tiefe offenbart, die auf den Grund eigentlichen Seins blicken lässt. Verewigung würde daher sein: der Aufbau einer Welt im Dasein mit
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Ibid. S. 79. Ibid. S. 168. Ibid. S. 220.
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der Kontinuität eines Wollens zur Norm und zur Dauer, aber mit dem Bewusstsein nicht nur und der Bereitschaft, sondern dem Wagen und Wissen des Untergangs, in dem Ewigkeit in die Erscheinung der Zeit tritt.12
Warum, so fragt Jaspers, ist angesichts des Scheiterns und der Vergänglichkeit nicht «alles sinnlos»?13 Er gibt eine – in meiner Terminologie – konstitutionsanalytische Antwort: «Geltung und Dauer müssen brüchig sein, wenn Freiheit ist». Und ferner: «Wenn Sein als Erscheinung im Dasein eine Höhe erreicht, so ist diese als solche sogleich nur ein Punkt, der umschlägt zum Verschwinden, um die Wahrheit der Höhe zu retten, die im Bestehenbleiben verloren würde. Jede Vollendung vergeht unaufhaltsam».14 In meiner Terminologie: Sinnkonstitution ist unlöslich mit Negativität verklammert.15 (Dies meint auch Hegel, wenn er sinngemäß schreibt: Der Zeitpunkt, wo etwas seine Höhe erreicht, ist der Zeitpunkt, wo sein Untergang beginnt.) Jaspers fährt fort: «Das Schlechtere scheint daher dauernder, der Adel aus Freiheit aber besteht nicht in der Dauer; so ist die Gestaltung der Materie dauernder als Leben, Leben als Geist, die Masse als der Einzelne in seiner Geschichtlichkeit».16 Dass Negativität mit sinnkonstitutiv ist, das drückt Jaspers so aus, dass «Freiheit erst durch Natur möglich ist. Im Ideal der freien Humanität ist der dunkle Grund nicht nur gebändigt, sondern bleibt die bewegende Kraft in der Gebändigtheit». (Dies erinnert an Jakob Böhme und Schelling.) Jaspers verwendet selbst den Terminus «Negativität» in zweierlei Bedeutung: «Die Negativität kann in ihrer Überwindung Ursprung eigentlicher Wirklichkeit werden; sie kann erwecken und hervorbringen. Aber die Negativität, die nur vernichtet […], kann nicht gedeutet werden. Es gibt nicht nur die produktive Zerstörung, sondern die schlechthin ruinöse Zerstörung».17 Und ferner «Was wir geschichtlich erinnern, ist wie eine zufällige Auswahl, die alles Verlorene mit vertreten muß. Ungedeutet ist der Ruin im absoluten Vergessen». Illusionslos konstatiert Jaspers demnach als ein Fazit der Analyse des Scheiterns «die undeutbare Vernichtung», die «alles philosophierend Errungene wieder und wieder in Frage (stellt)».18 Bleibt man hier stehen, so bleibt 12 13 14 15 16 17 18
Ibid. S. 224f. Ibid. S. 225. Ibid. S. 227. Vgl. Thomas Rentsch: Negativität und praktische Vernunft (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000). Jaspers: Philosophie, Bd. III, op. cit. S. 227. Ibid. S. 231. Ibid. S. 232.
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uns radikaler Nihilismus, «so ist alles nur undurchsichtig in leerer Nacht; ohne Transzendieren ist nur zu leben in radikaler, nur das Nichts lassender Verzweiflung».19 Nach Jaspers gibt es im Schweigen eine Antwort auf das Scheitern, auf sinnlosen Ruin, zerstörte Möglichkeiten, die Unwiederbringlichkeit im Vergessen. Es klingen Motive einer strikt negativen Onto-Theologie an, wenn er schreibt: «Das Nichtsein allen uns zugänglichen Seins, das sich im Scheitern offenbart, ist das Sein der Transzendenz».20 Diese Perspektive ist bei Jaspers offenbar nicht gnostisch-dualistisch zu verstehen, sondern sie erschließt, nicht als «passives Nichtwissen», sondern als «Erfahrung des Undeutbaren» «die Gegenwart des Seins als Ursprung allen eigentlichen Seinsbewusstseins in dem unendlichen Reichtum der Welterfahrung und Existenzverwirklichung».21 Es geht darum, trotz und angesichts der bodenlosen Abgründigkeit der «letzten Angst» zu Ruhe, Dulden und Gelassenheit zu finden. «Im Dulden», so Jaspers, «ist das Nichtwissen des Glaubens, welcher tätig in der Welt ist, ohne eine gute und endgültige Welteinrichtung für möglich halten zu müssen».22 Kommt dies nicht in die Nähe der von Luther bezeichneten «resignatio ad infernum pro dei voluntate»? Ist dies ein weiterer Modus eines «Protestantismus auf dem Nullpunkt der Säkularisierung», wie er von Habermas angesichts von Heideggers Sein und Zeit konstatiert wurde? So schließt Jaspers mit einer existenzphilosophischen negativen Dialektik, die nicht fern einer theologia crucis ist: Nicht durch Schwelgen in der Vollendung, sondern auf dem Wege des Leidens im Blick auf das unerbittliche Antlitz des Weltdaseins, und in der Unbedingtheit aus eigenem Selbstsein in Kommunikation kann mögliche Existenz erreichen, was nicht zu planen ist und als gewünscht sinnwidrig wird: im Scheitern das Sein zu erfahren.23
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Die theologia crucis ist verklammert mit der theologia gloriae: «Jetzt vermag Liebe zum Dasein unermüdlich zu verwirklichen, und wird die Welt unsäglich schön in ihrem transzendent gegründeten Reichtum», obzwar angesichts der «Furchtbarkeit» und ohne «objektive Garantie».24
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Ibid. S. 233. Ibid. S. 234. Ibid. Ibid. S. 235f. Ibid. S. 236. Ibid.
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Jaspers entwickelt, um die unauflösliche Verklammerung von Negativität, Transzendenz und Sinnkonstitution zu erfassen, jenseits des Sagbaren und des Schweigens eine Fülle von literarischen Artikulationsformen und – mit Blumenberg formuliert – absoluten Metaphern, die das Unsagbare (auf stets noch missverständliche Weise) zeigen sollen. Damit weist sein Chiffren-Ansatz in die Richtung sowohl des frühen wie auch des späten Wittgenstein. Das ist im Folgenden zu zeigen. 2.6. Betrachten wir Jaspers’ Analysen zu den Chiffren, so lassen sich diese systematisch meines Erachtens am besten mit Wittgensteins Rekonstruktion authentischer existentieller, lebensformbezogener Sprachspiele ohne gegenständliche Referenz verstehen. So interpretiert Jaspers z. B. die religiöse Rede von der Hölle im Gebrauch des «freien Menschen»25 als «existentielle Sprache». Der authentische Sinn dieser Rede in Chiffren gründet nicht in gegenständlicher Referenz. Gott in diesem Sinne war und ist vernünftiger, freier philosophischer Einsicht (ohne besondere Offenbarung) zugänglich. Dass Gott nicht im Sinne gegenständlicher Verfügbarkeit existiert, besagt gerade nicht, dass es Gott nicht gibt. Dass wir uns «in unserer Freiheit» «geschenkt» werden, weist auf die Transzendenz des Seins, Gottes.26 Im Verbund mit authentischer Lebenspraxis weist die «Sprache der Transzendenz» mit der Chiffre «Gott» in diese Dimension.27 Gott als das Sein der absoluten Transzendenz ist mir einerseits «unendlich fern, ungreifbar, unerkennbar, der Grund alles Seienden, und andererseits ganz nah, wenn ich mir in meiner Freiheit geschenkt werde und auf den Weg des Mit-mir-identisch-Werdens gelange».28 In diesem Ansatz sehe ich den Anknüpfungspunkt für meine trinitarische Prototheologie: Gleichursprünglich und für alles menschliche Sein und Leben wie auch für jeden menschlichen Augenblick sinnkonstitutiv sind die Transzendenzaspekte des Seins der Welt, des Dass des Seins des Sinns (der Sprache und der Vernunft), schließlich der je einzigartigen menschlichen Existenz. Ebenso erkennt Jaspers, dass das «Eine der Transzendenz […] nicht ein allgemeines Eines (ist), sondern erfüllte Einzigkeit».29 die Einzigartigkeit personal individuierten Sinns. Hier wäre in meinem Ansatz auch der Schlüssel zu einer Rekonstruktion des personalen Eigennamens «Gott». Im Namen dieses Einen, Einzigen dann, aufgesplittert in verschie25 26 27 28 29
Karl Jaspers: Chiffren der Transzendenz (München: Piper, 31977) S. 30. Ibid. S. 48. Vgl. ibid. S. 50. Ibid. S. 52. Ibid. S. 53.
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dene Religionsgruppen, gegeneinander Krieg zu führen, ist nach Jaspers eine der fürchterlichsten Entwicklungen der Menschheitsgeschichte. Da individuierte Freiheit Grund der Personalität (damit des Wahren, Guten etc.) ist, ist sie nach Jaspers der wahre (einzige) Ort des Bezuges zur Transzendenz.30 «Der Sinn des Lebens […] liegt in dem Ernst der Praxis»31 in dieser Welt, nicht in Weltverneinung. Der Sinn der Chiffren liegt hier – in den «je geschichtlich einmaligen Augenblicken ursprünglichen Vergewisserns und Entscheidens der Existenz».32 Es geht Jaspers um «die Verwandlung aller leibhaftigen Mythen in Chiffren als Sprache der Transzendenz».33 Die wahrhaftige Klärung des Geltungssinns dieser Sprache und der Rede von Gott geht, in meiner Formulierung, dem gegenständlichen Verfügbarmachen der Transzendenz und Gottes stets voraus. Sie steht gegen «Wissenschaftsaberglaube» wie gegen bloße «kirchliche Glaubenskonvention».34 Hier ist der Ort der «zeitfreien Ewigkeit» im Augenblick: «Das Gegenwärtige ist das Einfache und Unbegreifliche», «heute und zu keiner anderen Zeit».35 2.7. Um die systematische Rekonstruktion abzuschließen, seien folgende Aspekte noch einmal akzentuiert. In genauerer Ausarbeitung ließe sich zeigen, dass eine methodologische Präzisierung des irreduziblen Konnexes von Sinnkonstitution und Negativität Jaspers’ Analysen des Scheiterns genauer fassen könnte. Ebenso kann die ungegenständliche Chiffren-Analyse mit Wittgensteins Ansatz von Sprachspielen und Lebensformen sprachphilosophisch viel reichhaltiger und genauer weiterentwickelt werden, ohne dass der Anti-Objektivismus in einen schematischen, kryptognostischen Dualismus von Transzendenz und Immanenz umschlägt. Damit würde auch der unendliche Reichtum der freigesetzten Modi des Transzendierens und ihre interne Komplexität genauer fassbar. Dann würden auch die von Jaspers auf der metasprachlichen Ebene oft unreflektiert gebrauchten literarischen Formen, Assoziationen und Metaphern, die rhetorisch suggestiven Andeutungen sprachanalytisch expliziter Thematisierung zugeführt werden können.36 Die jeweilige «Erhellung» ließe sich als zeigendes (Wittgenstein) Vergegen30 31 32
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Vgl. ibid. S. 75. Ibid. S. 95. Ibid. S. 97. Ibid. S. 99. Ibid. S. 101. Ibid. S. 108. Vgl. Ulrich Sonderfeld: Philosophie als Gesamtorientierung denkender Existenz und als Aporienreflexion – im Anschluss an Karl Jaspers (Münster, New York: Waxmann, 1989) S. 267f.
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wärtigen von Transzendenzaspekten in ihrer jeweiligen Praxisbedeutung begreifen, die Jaspers’sche existentielle Aporetik ließe sich lebensformbezogen praktisch ausbuchstabieren. Dabei bleibt die Perspektive der Negativität stets erhalten: in der Undurchsichtigkeit und den unbewussten Anteilen unserer selbst und der Lebenssituationen, in der Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen, in der Schuld. Diese Grenzen sind auch die Grenzen jeder formalprozeduralen Rationalität.37
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This article (1) reconstructs basic features of Jaspers’s understanding of language against the background of W. v. Humboldt’s thought on language. Then it is shown (2) that Jaspers’s explications on the relationship of transcendence and cipher modifies this concept in a problematic manner. The main problem is that the relationship to God and the idea of revelation are no longer linguistically grasped. Finally (3), a theological alternative is proposed with reference to Gadamer and Heidegger. This alternative thinks the relationship of word and belief in conformity to language and in this manner maintains the idea of the human incarnation of God in Jesus in terms of a linguistic theology over and against Jaspers.
Der Sprache hat Jaspers in seinem großen Werk Von der Wahrheit ein eigenes Kapitel gewidmet.1 Will man den Bezügen zwischen Sprache und Transzendenz bei Jaspers nachgehen, so ist absehbar, dass dabei seine Lehre von den Chiffren der Transzendenz in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken muss.2 Das kann ein Theologe nur so unternehmen, dass er zugleich das Verhältnis von Gott und sprachlichem Wort mit bedenkt. Ich möchte übrigens vorweg erklären, dass ich Jaspers’ Kritik an der Theologie K. Barths wie an der R. Bultmanns weitgehend teile – freilich aus theologischen Gründen.3 1
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Karl Jaspers: Von der Wahrheit. Philosophische Logik. Erster Band (München, Zürich: Piper, 1947, Neuausgabe 41991) S. 395-449. Dies Kapitel steht wegen der immer wieder betonten Bindung des Denkens an die Sprache (op. cit. S. 413ff.) sinnvollerweise zwischen den Kapiteln über das Erkennen (2. Teil; ibid. S. 225ff.; bes 382ff.) und den Kapiteln über «Wahrheit» (3. Teil; ibid. S. 453ff.). Vgl. auch Donatella di Cesare: Die Sprache in der Philosophie von Jaspers (Tübingen, Basel: Francke, 1996). Vgl. dazu Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 1022-1054; ders.: Philosophie, Bd. III: Metaphysik (Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 41973) S. 128-218; Chiffren der Transzendenz (München: Piper, 1970); Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (München, Zürich: Piper, 1962, 31984), S. 153-199 u. 201-309. Der bewegenden Klage von Jaspers über die Kommunikationsverweigerung von Theologen (vgl. Karl Jaspers: Der philosophische Glaube [München: Piper, 1948] S. 61, und: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit.
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1. Was ist Sprache? Die Grundzüge von Jaspers’ Sprachphilosophie erschließen sich meines Erachtens am besten, wenn man ihre Anlehnung an die Einsichten W. v. Humboldts zum Ausgangspunkt nimmt.4 Dieser wird auch gleich zu Anfang zitiert: «Sie [die Sprache] ist nach Humboldt eine Welt, welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände durch die innere Arbeit seiner Kraft setzen muss».5 Damit ist die Sprache als eine eigentümliche «Zwischenwelt» oder Mitte begriffen,6 auf die der Mensch (das «Subjekt») sich so bezieht (und in der er so bei sich selber ist), dass er sich zugleich auf das Andere der Welt (bzw. das «Objekt») bezieht. Nur in der Sprache und mit ihr kann er bei dem sein, was jenseits ihrer ist, dem Sein. Überhaupt wird alle Unmittelbarkeit nur in der Vermittlung durch sprachlich realisierte Bedeutungen zugänglich.7 «Dass ich so im Laut auf einen distanzierten Inhalt meinend gerichtet bin, das ist das Grundphänomen der Sprache».8 Dabei ist das Grundrätsel das «Ineinandersein» von physischem Laut und geistiger Bedeutung,9 sodass Jaspers sagen kann: «Sprache ist Geist, der ständig naturgebunden
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S. 184) wegen ihrer angeblichen «Illiberalität» bzw. «Orthodoxie» ist immerhin entgegenzuhalten, dass seine eigene stereotype Behauptung, der (christliche) Glaube sei blinder «Gehorsam» bzw. ein «sacrificium intellectus» (vgl. z. B. Karl Jaspers, Rudolf Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung [München: Piper 1954], S. 43 u. 45 sowie Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 140, 167 u. ö.) auch nicht gerade kommunikationsförderlich ist (vgl. auch unten Anm. 100). Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 397, 409, 441, 449 u. 693. Ibid. S. 397. Vgl. Wilhelm von Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in ders.: Gesammelte Schriften, hg. von A. Leitzmann, Bd. VII (Berlin: de Gruyter, 1907, ND Akademie-Ausgabe) S. 176. Vgl. ibid. S. 60, 61, 72 u. ö. und Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 428: «Mit der Sprache gewinnt der Mensch eine Welt, die Sprache aber stellt sich in der Folge wie eine eigene Welt zwischen den Menschen und das Sein». Vgl. ibid. S. 396 und besonders die Aussage über die Sprache: «sie ergreift alle objektive Bedeutung mit den von ihr hervorgebrachten Bedeutungen» (ibid.; Hervorhebung J. R.) sowie: «Erst mit den Worten werden auch die Bedeutungen zugänglich» (ibid. S. 398). Ibid. S. 397. Vgl. auch S. 412f.: «Durch die Sprache wird Mitteilung möglich, die […] sich vollzieht […] in der Intention auf Sache und Gegenstand. Am Gerüst dieser gegenständlichen Intention umfaßt die Mitteilung unendliche Möglichkeiten». Ibid. S. 396. Vgl.: «ein unzurückführbares Urphänomen» und: «nicht Gegensatz und nicht Identität von zweien» (ibid.).
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bleibt, Natur, die geistdurchdrungen ist. Das Rätsel, wie im Lautbild die Bedeutung ihren Leib hat, ist das allgemeine Rätsel der Sprache als Einheit von Natur und Geist».10 Als eigenständige «Mitte», die sprechendes (und hörendes) Subjekt und ausgesagte Sache in ihr selber miteinander vermittelt, ist die Sprache da ganz sie selbst, wo sie zugleich beim Anderen ihrer ist: «In der wahrhaften und wirklichen Sprache ist stets durch sie ein Anderes, das nicht Sprache ist, sondern durch Sprache ergriffen wird».11 Demgemäß gilt: «Worte und Sätze sind nicht nur Bezeichnung von Sachen, sondern […]: sie bringen etwas hervor, das nur mit ihnen und durch sie ist».12 Weil die Sprache derart in ihr zugleich außerhalb ihrer ist, ist auch die zweifelnde Frage, «ob denn das ‹Bedeuten› der Sprache je die Sache selbst zu erfassen gestatte» und so die Sprache uns immer nur den «Charakter des Seins für uns» geben könne,13 obsolet, wie Jaspers zu Recht betont: «Schon im Metaphorischen ist der Mensch doch auf Eigentliches gerichtet».14 Der Begriff der Sachen an sich selbst macht ja gerade den Sinn ihrer sprachlichen Vermittlung bzw. «Repräsentation» aus.15 Denn «unsere Vorstellungen und Begriffe und damit das Sein [!] werden für uns zugleich mit der Wort-
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Ibid. S. 410. «Einheit» besagt hier nicht einfach Identität, sondern dass sie sich nur aneinander voneinander unterscheiden. Zum Verhältnis von Geist und Natur bzw. Laut und Bedeutung in der Sprache vgl. auch Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, op. cit. S. 171, 213 u. 46. Auch Hegel denkt die Sprache als «das Dasein des Geistes» (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. III [Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1970] S. 478). Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 398. Vgl. auch: «Alles, was etwas ‹bedeutet›, worin zugleich ein anderes gemeint ist, wird in diesem Sinne Sprache» (ibid. S. 413) und: «überall ist der Mensch in der Sprache durch sie auf ein anderes gerichtet» (ibid. S. 411) sowie ibid. S. 439: «Im Denken der Sache vertraue ich der Sprache, daß sie sich einstellt, ohne daß ich an sie denke». Ibid. S. 404. Vgl. ibid. S. 399. Dieser (gleichsam idealistische) Einwand wiederholt nur noch einmal die eigene Art der Sprache, in sich außer sich zu sein, d. h. das Ansich der Sache als solches im sprachlichen Für-uns (bzw. Fürsich), also im internen Unterschied zu sich (als Sprache) zu haben. Ibid. Zum metaphorischen Grundcharakter der Sprache überhaupt vgl. ibid. S. 398f., 436 u. ö. «Es zeigt sich, daß der Begriff immer mitspricht, daß Worte nur vermöge eines in ihnen mitgetroffenen Begriffs einen Sinn gewinnen. Alles wird für den Menschen nur durch Begriff […] gegenwärtig» (ibid. S. 417).
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bildung klar, unterscheidbar und zum festen Besitz».16 Dieses «Zugleich» besagt, dass Wort (lauthafte Bedeutung) und Begriff (sc. der Sache selbst) sich nur aneinander voneinander unterscheiden lassen, was eben die dialektische «Einheit» von Einheit und Unterschiedensein von Sprache und Denken bedeutet. Daher gilt auch: «Sprache gibt die Anhaltspunkte für das Weiterschreiten des Erkennens»,17 das ist wiederum ein Gedanke Humboldts.18 Jaspers kritisiert daher treffend die Auffassung vom Zeichencharakter der Worte.19 Allerdings bringt er hierbei nicht den wohl entscheidenden Gesichtspunkt zur Geltung, dass die Sprache schon deswegen kein System von Zeichen (d. h. unmittelbar auf externe Signifikate gerichtet) ist, weil sie primär in sich auf sich selber zeigt bzw. verweist, so z. B. durch grammatischsyntaktische «Gelenke» im Satz (wie z. B. «indem» oder «weil» oder «sodass» u. Ä.) – durch Wörter, die nur einen innersprachlichen Bezug haben. Er hält aber im Vorübergehen fest: «Die eigentliche Bedeutung der Worte liegt nicht in ihnen allein, sondern erst in den Bewegungen der Sätze, in denen die Worte sich gegenseitig erhellen, begrenzen und bestimmen».20 16 17
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Ibid. S. 399. Ibid. S. 413. Vgl.: «Denken und Sprechen ist in einem, ihre Entwicklung ist Entwicklung des einen mit dem anderen» (ibid. S. 415). Vgl. auch: ibid. S. 407f. und Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 190 (zit. u. bei Anm. 54). «Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes von einander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken» (Humboldt: Gesammelte Schriften, op. cit., Bd. IV, 1905, S. 27). Zur Interpretation vgl. Joachim Ringleben: Arbeit am Gottesbegriff, Bd. I (Tübingen: Mohr-Siebeck, 2004) S. 138-142. Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 401-409. Vgl.: «Worte und Sätze sind nicht nur Bezeichnung von Sachen, sondern Ausdruck von Vollzügen […]: sie bringen etwas hervor, das nur mit ihnen und durch sie ist» (ibid. S. 404). Ibid. S. 409. Vgl. auch S. 407: «Vielmehr schafft die Sprache in ihrer nicht voraussehbaren Freiheit die Klarheit im Vollzug, der durch eine Reihe von Akten auf Grund sprachlicher Mitteilung Gegenwart wird». Der Satz: «So können Worte relativ gleichgültig werden vermöge des Zusammenhangs der Sätze, in denen im Ganzen erst der Sinn aufleuchtet» (ibid. S. 409) ließe sich sprachphilosophisch konkretisieren durch die eigentümliche Dialektik in jedem Satz, in dem sich bereits sein Gesamtsinn durch die Einzelworte aufbaut, die aber zugleich von seinem vollendeten Ganzen her (oft erst vom letzten Wort her) ihre endgültige Bestimmung erhalten. Was den Sinn des ganzen Satzes mit bestimmt, erfährt doch erst vom Ende her – als aufgehobenes Moment – seinen eigenen sprachlichen Sinn. Vgl. dazu Julius Stenzel: Philosophie der Sprache, in Handbuch der
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Auch die interne Bewegtheit der Sprache im Gesprochenwerden hat Jaspers im Blick: «Wir sind gebunden an die Sprache, werden von ihr, wie sie geworden ist, ständig geführt, unmerklich beherrscht […]. Aber wir gehen über die gewonnene Sprache auch hinaus, […] jedoch nur so, dass wir Sprache mit Sprache vertauschen».21 Das ist im Raum von Humboldts (von B. Liebrucks so genanntem) «Erstem Hauptsatz» gedacht: «Durch den selben Act, vermöge dessen» der Mensch «die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein».22
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Nach dieser Skizze von Jaspers’ Sprachauffassung wende ich mich den religionsphilosophischen Fragen im Verhältnis von Sprache und Transzendenz zu. 2.1. Zunächst scheint es, als rücke Jaspers beides sehr eng zusammen: «Sprache ist nicht nur empirischer Tatbestand, sondern ein Umgreifendes […]. Sie ist Erscheinung des Umgreifenden des Bewusstseins überhaupt, in dem alles andere Umgreifende hell wird».23 So heißt es abschließend, dass
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Philosophie (München, Berlin: Oldenbourg, 1934, Sonderausgabe) S. 15f., 44f. und 48f. sowie Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein, Bd. IV (Frankfurt a. M.: Akademische Verlagsanstalt, 1968) S. 132f., 262-264 u. ö. Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 419. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, op. cit. S. 60. Humboldt betont im Fortgang, dass man aus dem «Kreis» einer Sprache nur insofern herausgehen kann, «als man zugleich in den Kreis einer andren hinübertritt» (ibid.). Jaspers bezieht sich auch ausdrücklich auf die (hiermit zusammenhängende) berühmte Formel Humboldts von der Sprache, die im Sprechen nicht ἔργον, sondern ἐνέργεια ist (Von der Wahrheit, op. cit. S. 409; vgl. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, op. cit. S. 46 u. ö.). Ähnlich wie Humboldt das Verhältnis von Spontaneität und Rezeptivität in der Sprache sieht, schreibt Jaspers: «Wohl aber gibt es das Forterzeugen dieser Erkenntnisgehalte im Aneignen; ihr Neuerwerb ist zugleich ursprüngliches Selbsterfahren der geschichtlich überkommenen Worte» (Von der Wahrheit, op. cit. S. 408). Vgl. auch Jaspers zur Erfahrung von «Inspiration» (im Anschluss an Nietzsche): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 47f. Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 396; vgl. S. 403: «Sprache ist ein ständiges Klarwerden aus dem wirkenden Umgreifenden, aus dem Leben aller Weisen des Umgreifenden». Bei dem oben im Text Zitierten wäre zu fragen, was «Erscheinung» sprachlich besagt! Andernorts hat Jaspers die Transzendenz, Gott, als
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«die Sprachen das Gefäß allen Offenbarwerdens des Umgreifenden» sind, «Träger der Welten, in denen sich das Sein dem Menschen zeigt».24 Welchen Status schreibt Jaspers diesem «Gefäß» zu? Deutlich ist, dass «Offenbarwerden» hier nicht im Sinne von Offenbarung gemeint ist,25 vielmehr dies Verhältnis selber nicht mehr als ein sprachliches gedacht wird.26 Das kommt in allen den Aussagen zum Vorschein, wo Jaspers den «sprachlichen» Charakter des Umgreifenden für ein bloßes Gleichnis erklärt. Zwar sagt er: «Das Sein, das in der Sprache ergriffen wird, ist selber wie eine Sprache».27 Welchen Sinn dieses «Wie» meint, zeigen die folgenden Sätze: «Von dem schlechthin Anderen, dem Sprachlosen [d. h. dem Sein als Transzendenz], verstehe ich, was ich in Sprache verwandle. Ich lasse es sich verhalten, selber gleichsam sprechen».28 Zwar gilt: «Weil alles – gleichnisweise – Sprache ist, kann unsere Sprache es treffen»; aber wenn auch «nur was Sprache gewinnt, […] eigentlich da (ist)», so doch nur durch unser Sprechen: «Das Umgreifende wird sprechend, oder es wird durch eine Verleihung von Sprache gleichsam zum Sprechen gebracht».29 Menschliches Sprechen erst und nur dieses, macht das Sein, die Transzendenz sprachlich. Vom Seienden als einem zu uns Sprechenden können wir immer nur «gleichnisweise» reden, denn die Sprache hat allenfalls eine ganz vage bleibende «Verwandtschaft» zum Sein.30 Ich führe gegen diese unsprachliche Auffassung von Jaspers hier nur den Satz Gadamers an: «Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache».31
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das «Umgreifende alles Umgreifenden» charakterisiert (Jaspers, Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 44. Zugleich wird von ihm die «Allgegenwart» der Sprache betont (Von der Wahrheit, op. cit. S. 438, 440, 443). Ibid. S. 449. Ibid. S. 412 ist von «ursprünglich offenbar werden» die Rede. Daher wird Offenbarung zur «Chiffer» herabgestuft; vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 503-507. Humboldt hingegen hat auf die in beliebigen Sprachen mögliche Übersetzbarkeit auch der «geheimnissvollsten Lehren einer geoffenbarten Religion» hingewiesen (Gesammelte Schriften, op. cit., Bd. IV, 1905, S. 16) und so ihre Sprachlichkeit unterstrichen. Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 412 (Hervorhebung J. R.). Das «Ergreifen» wird z. B. ibid. S. 411 als ein Sprache Verleihen bestimmt. Ibid. (Hervorhebung J. R.). Ibid. S. 411 (Hervorhebung J. R.); vgl. auch ibid. S. 412 zu Nietzsche. Ibid. S. 412. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode (Tübingen: Mohr [Siebeck], 1960, 31975) S. XXII-XXIII (Hervorhebung J. R.). Der Satz besagt gerade nicht, dass alles Sein «nur» Sprache ist. Er meint vielmehr, «daß Sein nicht erfahren wird, wo
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Bei Jaspers hingegen heißt es: «Von allen Weisen des Bedeutens sagt man gleichnisweise, dass sie eine Sprache seien».32 Daher «können wir alles Sein für uns vergleichen mit einem Sprechen zu uns oder einem Aussprechen des Seins durch» uns – eines Seins, das an sich und für sich selber sprachfrei bzw. sprachlos ist.33 Jaspers fährt fort: «Dieser Vergleich mit der Sprache kann im Transzendieren einen universalen Grundzug der Erscheinung des Seins für uns – das Chiffersein – deutlich machen».34 Und überall, wo Jaspers sonst von der «Sprache» der Natur oder dem «Sprechen» der Wirklichkeit zu uns redet – und das geschieht sehr häufig –, wird die Uneigentlichkeit solcher Rede betont.35
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etwas von uns hergestellt werden kann» (ibid. S. XXIII). Das dekuvriert Jaspers’ Rede von «Verleihung von Sprache» (sc. durch uns; vgl. Von der Wahrheit, op. cit. S. 411) als unsprachlich. Vgl. auch das Rilke-Zitat, das Gadamers Werk vorangestellt ist: «Solang du Selbstgeworfnes fängst …» (vv. 1-10; 1922), in Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke, hg. von E. Zinn, Bd. II (Wiesbaden: Insel, 1956) S. 132. Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 397. Über die Erfahrung von bedeutungshaftem «Ausdruck» heißt es: «Im übertragenen Sinn hat alles in Raum und Zeit Erscheinende einen Ausdruck, den wir unwillkürlich wahrnehmen, als ob alles eine Seele hätte» (ibid.). Ibid. S. 400. Ibid. Bemerkenswerterweise redet Jaspers hier von «Chiffer» und nicht von Metapher! So ist die Rede von der «Sprache» der Dinge (Der philosophische Glaube, op. cit. S. 92), von der «Sprache» der Natur (Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit., S. 275f. («als ob»); der Sprache dieser Welt (ibid. S. 34; 93) und davon, dass die Transzendenz «spricht» (Der philosophische Glaube, op. cit. S. 126). Besonders häufig findet sich diese uneigentliche Rede in Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie (Berlin, Heidelberg: Springer, 41946) S. 68, 207 (Organe), 257, 274, 594, 630 (Sprache der Gottheit), 658 u. ö. (zur Chiffreschrift vgl. ibid. S. 455, 638, 643, 645 u. ö.). Die «Sprache» der Chiffren (vgl. Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 153155) ist zwar deutbar, ihr «Subjekt» aber bleibt unerkennbar (Der philosophische Glaube, op. cit. S. 192), denn diese Sprache ist nicht die eines Sprechenden (Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 184). Die Behauptung, dass das Sprechen der Natur etc. bzw. auch das der Chiffren nur ein «Gleichnis» sei (ibid. S. 173, 181, 183 u. 175), hat nur eine Scheinplausibilität, weil es überhaupt nur innerhalb der Sprache selber vernehmbar ist – theologisch spezifisch: innerhalb der Sprache des Wortes Gottes: Schöpfung der Welt im Wort (vgl. Gen 1, 3; Joh 1, 3) –, d. h. weil es nur aus der Sprachlichkeit (sprachlichen Verfasstheit der Wirklichkeit) überhaupt verständlich gemacht werden kann (vgl. oben bei Anm. 6).
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Zwar hebt Jaspers hervor: «Sprachphilosophie […] sucht in der Sprache den Grund der Transzendenz»,36 gleichwohl heißt es vom «transzendierenden Suchen», dass ihm «die Sprache als Chiffer der Transzendenz» erscheint37 und hier, wie z. B. bei Hamann, «die Chifferschrift, welche die Sprache ist», zu deuten versucht wird.38 Das ist zwar ein Missverständnis des Worttheologen Hamann, trifft aber für Jaspers selber zu.39 Indes ist es zumindest problematisch, die Sprache, in der es so etwas wie «Chiffren» geben mag, nun selber und als solche als Chiffer zu fassen. Wird so nicht die Sprache selbst – entsprachlicht? Denn «Chiffern» stehen bei Jaspers doch für ein Verhältnis ein, das eigentlich gerade nicht als sprachlich zu realisieren ist – den Bezug zur unaussagbaren, reinen Transzendenz. Welchen Sinn macht es, die Sprache – als das allgegenwärtige «Umgreifende» schlechthin – selber nur wieder als «Chiffre» der umgreifenden Transzendenz (Gottes) verstehen zu wollen? Hier hilft auch der allgemeine Hinweis auf «das Bildsein in aller Sprache»40 nicht weiter. Auch Bilder müssen sprachlich realisiert werden, um in ihrer Angemessenheit und Grenze erfasst zu werden. Es ist zu wenig, nur zu sagen: «Dies Bewußtsein des Bildseins [als solches] macht frei für das eigentliche täuschungslose Ergreifen des Seins selbst im Bilde».41 Diese Freiheit des Bewusstseins im Bilde vom Bilde ist entweder nur ein abstrakter, genereller Vorbehalt42 oder aber sie vollzieht sich selber in der Sprache43 36 37
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und wird durch ein Sprechen Gottes im Menschenwort gerade erst möglich. Außerdem bleibt uneinsichtig, wie das Bewusstsein sich abstrakt der Sprache «frei» gegenüberstellen können soll, da nach Jaspers das Bewusstsein (wie auch das Denken) selber erst durch Sprache zu sich kommt.44 Entsprechend zu diesem von Jaspers gemeinten Überschreiten bzw. Relativieren der Sprache im Namen eines reinen Transzendenzbewusstseins will er auch «die Dogmen, Vorstellungen, Verheißungen der Religionen» – anstatt dass sie angeblich «nur als leibhafte Realitäten geglaubt » werden können – in ihrem Charakter, «nur Bild, Gleichnis, Symbol» (d. h. Chiffren der unnahbaren Transzendenz Gottes) zu sein, aufweisen und bekanntlich so den vergegenständlichen Offenbarungsglauben durch den philosophisch «gereinigten» Glauben ersetzen. Dass sie religiös aber «nur gelten im bewegten Verwirklichtwerden» und dass gerade das Wort «Gott» nur im sprachlich bewegten Verwirklichtwerden «Gegenstand» lebendigen Glaubens sein kann, wie sich an den Gleichnissen Jesu, d. h. seiner Vergegenwärtigung des Reiches Gottes als «Sprachereignis», zeigen lässt, wird nicht einmal erwogen. Stattdessen erfüllt sich für Jaspers das Gottesverhältnis in einem «das […] Übersprachliche des Seins selbst […] erfüllenden Schweigen».45 Nicht nur die biblische Rede von Gottes schöpferischem Sprechen (Gen 1, 3), sondern auch der Satz, der die Sprache in Gott gründen lässt46 und die
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pers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 400), dann ist dies Verhältnis selber ein wesentlich sprachliches. Das heißt gegen Jaspers: wir können «alles Sein für uns» nicht nur «vergleichen» mit einem Sprechen zu uns (oder einem «Ansprechen des Seins durch uns»; vgl. ibid.) und das Sein für uns als «Chiffersein» auffassen, sondern es ist an ihm selber ein sprachliches Verhältnis. Vgl.: «Bedeutung verstehen ist der Beginn des Bewußtseins» (ibid. S. 396) und: «Während die Sprache unser Bewußtsein hell werden läßt […]» (ibid. S. 397). Vgl. auch Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 113; zitiert unten Anm. 59. Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 416; vgl. S. 195. Dass die Sprache uns «geschenkt» wird (ibid. S. 398; vgl. auch S. 442: mythisch!), die doch zugleich wie von selbst entstehender Sprachkraft sich verdankt (ibid.), ist dieselbe schillernde Redeweise, wie dass wir in der Existenz uns «geschenkt» werden (vgl. dazu unten Anm. 89). In ihr verbinden sich eine negative Implikation (sc. dass wir uns rein vorfinden und uns nicht uns selber verdanken bzw. uns nicht selber hervorgebracht haben) und – im Überschreiten dieser «Grenze» – die positive, dass wir von woanders her (bzw. von einem Anderen her) sind und uns diesem und nicht uns selber uns verdanken. Die Semantik von «(Sich) Geschenktsein» enthält klarerweise ein Mehr über die bloß negative Unbegründbarkeit von menschlicher Freiheit durch sich selbst hinaus. Freilich kann man
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Sprachlichkeit des Gottesverhältnisses von Gott her begreift, ich meine den Satz: «Im Anfang war das Wort» (Joh 1, 1),47 bringt für Jaspers lediglich das außersprachliche Rätsel des Verhältnisses von Sprache und Sein bzw. Transzendenz mythisch zum Ausdruck.48 Lässt sich aber die Sprache als «Grund unseres Seins, wo im Ursprung Sein und Denken und Wahrheit mit der Sprache in Einem gegenwärtig sind»,49 anders denken als so, dass sie in Gott selber ihren uneinholbaren Ursprung hat – als einem selbst (in unserer Menschensprache) sprechenden Gott?50 2.2. Die oben erwähnte Auffassung der Sprache als einer dialektischen Mitte findet sich auch bei Hegel: «Die Sprache aber tritt nur als die Mitte selbständiger und anerkannter Selbstbewusstsein[e] hervor».51 Das heißt, sie vermittelt die zueinander Sprechenden so miteinander, dass sie sie über sich (als sich entäußernde Mitte) gerade in ihre Selbständigkeit füreinander entlässt; sie bleiben im sprachlichen Miteinander doch frei für sich. Daraus folgt – und das ist sprachphilosophisch entscheidend gegen Jaspers zu behaupten –: das «Für uns» (alles «Erscheinens» in der Sprache) verhindert nicht nur nicht das «Ansich» (des sprachlich Erscheinenden), sondern ermöglicht es gerade: für uns.52 Ist also die Sprache (als solche) selber
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im Zusammenspiel von negativer und positiver Implikation dieser Redefigur ein Regulativ für die religiöse Sprache finden, um so quasi-empirische, verdinglichende Vorstellungen zu vermeiden. Ibid. S. 412. Liebrucks spricht vor diesem Hintergrund von Gott als dem «dauernden Korrespondenten der Sprache» (Sprache und Bewußtsein, Bd. IV, op. cit. S. 188). Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 412; vgl. S. 442 («Geschenk»!) und S. 444 («muß zuerst einmal schöpferisch gegenwärtig gewesen sein»). Auch Jaspers will sich offenhalten «für das Hören der Sprache der Gottheit in aller Wirklichkeit» (Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 43); wäre das nicht nur «gleichnishaft» zu verstehen, wäre der Gedanke der Schöpfung im Wort erreicht. Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 440. Vgl. auch das von Jaspers geforderte philosophische «Bewußtsein des tiefen Grundes der Sprache im Ganzen und für das Ganze des Menschseins» (ibid. S. 443) sowie: «Das Sprachvermögen überhaupt ist ein im Grunde unerforschbares Rätsel des Menschseins» (ibid. S. 395). Bei der Sprache geht es um die «Tiefe, in der die Seinsfrage selbst liegt» (ibid.). Entsprechend denkt Luther den «deus verbosus» (D. Martin Luthers Werke [Kritische Gesamtausgabe] Bd. XXXIX/2. Abt. [Weimar: Böhlau, 1932] S. 199): «Non habuerunt Deum mutum nec solum operatum, sed verbosum id est plenum et quotidianum suo verbo» (Z. 4f.). Hegel: Phänomenologie des Geistes, op. cit. S. 479. Vgl. Jaspers: «Dieser Grundtatbestand, daß etwas erscheint (oder anders: […] sich offenbart, […] Sprache wird), ist, so gewiß er gegenwärtig ist, so sehr im
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der spezifische Ort (des Erscheinens) von Transzendenz, so ist sie deren Gegenwart («an sich») unter den Bedingungen der «Immanenz» («für uns»). Das «von außen»53 ist nur sprachlich da, d. h. (lutherisch geredet): das Extra nos ist im sprachlichen Wort mit dem Pro nobis vermittelt. Gilt, dass «das denkende Bewußtsein […] das Ursprüngliche (weckt), das dann über das bis dahin Bewußte hinaustreibt»,54 so sind wir, sprachlich, im Bewusstsein zugleich über es hinaus,55 und wie wir «zugleich außerhalb und innerhalb» des Bewusstseins sind,56 so zumal im Gottesbewusstsein als solchem. Gott ist im Wort nur so bei uns (für uns), dass er zugleich bei sich (an sich) ist. Sprache ist der Ort, wo Gott so «immanent» sein kann, dass er «transzendent» bleibt. Es ist mithin nicht einsehbar, inwiefern es eine «Vergegenständlichung» Gottes sein soll, wenn er als sich von sich aus auf den Menschen, d. h. zunächst immer: auf die Sprache, zu bewegend, ins Wort kommend gedacht wird. Was ist eine Vergegenständlichung durch Sprache?57 Beziehungsweise inwiefern ist die Vorstellung einer Selbsterschließung Gottes schon eine Verdinglichung der Transzendenz? Denn eine sprachliche Thematisierung, ein «zur Sprache Kommen» ist als solches keineswegs schon eine falsche Vergegenständlichung; diese droht eher, wenn man, wie Jaspers «kantianisierend» tut, die Transzendenz von der Sprache abkoppelt.58 Gott wird ebenso
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Ganzen das Geheimnis» (Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 130); dazu: «Wir sind die Stätte, für die alles, was für uns ist und werden kann, seine Erscheinungsform annimmt […]. Vergegenwärtigung des Umgreifenden» (ibid. S. 132) und schließlich: «Es ist […] falsch, den der Subjektivität zu bezichtigen, der auf die zu einer spezifischen Objektivität gehörende Subjektivität hinweist, oder eine vermeintlich subjektfreie Objektivität für die Wahrheit zu halten […]. Immer gehören beide [sc. Subjekt und Objekt] zueinander und sind nicht ohne einander» (ibid. S. 138). Diese Sätze sind von der Sprache her zu reflektieren! Vgl. Jaspers, Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 50. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 190. «Ein sachlich gegenständliches Meinen soll mit sich selber über sich hinaus sein» (ibid. S. 124). Zur Frage der «Vergegenständlichung» vgl. Jaspers, Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 18! Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 204. Zur Frage der Verobjektivierbarkeit durch Sprache vgl. differenzierend M. Heidegger: Phänomenologie und Theologie (Frankfurt a. M.: Klostermann, 1970) S. 43. Der starke Einfluss Kants auf das Denken von Jaspers zeigt sich besonders deutlich schon in der Allgemeinen Psychopathologie; vgl. op. cit. S. 468 u. Anm. 1, 464, 518, 539f u. ö. (siehe auch im Register zu «Ideen» und «Kant»). Wie bei Kant Gott nur «Idee» (bzw. das Ideal der reinen Vernunft) sein kann, so für Jas-
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wenig vergegenständlicht gedacht, oder auch: Gott vergegenständlicht sich selber ebenso wenig, sein Gottsein verlierend, wenn er als (und zwar: in unserer Menschensprache!) sprechend gedacht wird, wie andererseits wir uns falsch vergegenständlichen, wenn und indem wir sprechen. Vielmehr: indem Gott sprachlich bei uns ist und wir sprachlich mit ihm umgehen, bleibt er in seinem Verhältnis zu uns in seiner Transzendenz, und wir bleiben menschlich im Verhältnis zu ihm. Gegen Jaspers ist daher sachlich (sprachphilosophisch) festzuhalten: Gott ist in der Sprache kein quasi-dingliches Objekt, weil im Sprechen und Hören von Sprache das, was sie zur Sprache bringt, für den Sprechenden nicht so da ist, wie ein empirisches Objekt für das (der Subjekt-Objekt-Spaltung unterworfene) sprachfreie Bewusstsein.59 Denn die Sprache selber (das Sprechen) ist an sich selber immer schon die Rücknahme jeder (abstrakt möglichen) Vergegenständlichung.60 Die häufige Berufung von Jaspers auf das biblische «Bilder(!)-Verbot» geht also ins Leere.61 Gilt es für Jaspers als Wahrheit der Christusreligion, «dass Gott zum Menschen durch Menschen spricht»,62 so ist die Alternative falsch, durch
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pers – von der Endlichkeit und ihren Grenzen aus – unerkennbare Transzendenz. Vgl. auch Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 46, und Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 233. Der Satz: «Wovon immer wir sprechen, es ist durch das Sprechen in die Spaltung [sc. von Subjekt und Objekt] getreten» (Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 111), ist für die Sprache zu abstrakt, zumal Jaspers – mit Herder – weiß: «Das menschliche Bewußtsein hat seinen Ursprung zugleich mit der Sprache, ist gebunden an Sprache» (ibid. S. 113). Die Behauptung: «Wenn der Mensch als mögliche Existenz denkend auf Transzendenz gerichtet ist, so geschieht dies wieder notwendig […] in einem Vorstellen und Denken von Gegenständlichkeiten im Medium der Subjekt-Objekt-Spaltung des Bewußtseins überhaupt» (ibid. S. 156), wird von Jaspers selber eingeschränkt: «Wo der Ernst der Sprache aus dem Glauben stattfindet, da wird aus dem Umgreifenden gesprochen, das aus der Objektivität des Gesagten und der Subjektivität des Sprechenden beides in eins zusammenhält» (Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 32f.; vgl. den folgenden Satz). Jaspers sieht selber: «Aber im Gegenständlichen und im Subjekt schwingt mit ein Übergegenständliches und Übersubjektives» (Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 124). Dies «Mitschwingen wäre sprachlich artikuliert zu denken! Vgl. auch das Dante-Zitat (ibid. S. 125): dass Gott «von dem, was er umschließt, selbst umschlossen scheinet» (Par. 30, 12). Vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 196, 213, 219, 483 u. ö.; Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 21. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 80.
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die Jaspers erklärt: «Die Liberalität erklärt nicht für unmöglich irgend etwas, was Gott bewirken könnte, aber sie vermag selber nichts anderes wahrzunehmen als vom Menschen vollzogenes Tun, Sprechen, Erfahren».63 Denn Gott spricht eben nicht anders als in der Sprache selber und darin von sich; dies geschieht primär und fundamental, indem das Wort «Gott» ein wirksames Wort unserer Sprache ist. Weil aber Gott nicht anders spricht bzw. nie anders gesprochen hat als in der Menschensprache, im menschlichen Wort für uns, darum verfehlt Jaspers genau diesen sprachlichen Status des Gotteswortes, wenn er schreibt: «Wenn die direkte Mitteilung Gottes in der Offenbarung als Realität da wäre, so wie eine Mitteilung von Menschen an Menschen, dann könnte sie wie andere historische Tatsachen mehr oder weniger dokumentarisch bewiesen werden».64 Ich beleuchte kurz die Folgen, die ein solches Missverständnis bei Jaspers für den Gottesgedanken (a.) und für das Verständnis der Sprache (b.) hat. (a.) Der Gedanke Gottes reduziert sich für Jaspers auf den einen Satz: «Gott ist ».65 In allen darüber hinausgehenden Aussagen darf Gott nur als «Chiffer» für die unfassbare Transzendenz genommen werden; so gilt: «Der philosophische Glaube […] hört nur die Sprache der Chiffren. Gott selber ist eben eine Chiffer».66 Dabei ist wohl schon die Rede von Gott «selber» nur in einem rein formalen Sinn zu nehmen. Insbesondere aber bleibt in solchen apodiktischen Feststellungen das Verhältnis Gottes zur Sprache ungeklärt; im Grunde wird es abstrakt verneint.67 Demgemäß kann die religiöse Rede vom «lebendigen» Gott nur als rational vergegenständlichend gelten.68 Vor allem aber ist die Rede vom «persönlichen» Gott nur als Chiffer aufgefasst noch legitim,69 denn darin chiffriert sich der Bezug des Ich auf ein Du, der
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Jaspers, Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 42. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 104. Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 109 (Hervorhebung J. R.); vgl. ebenso Allgemeine Psychopathologie, op. cit. S. 638 und Philosophie, Bd. III, op. cit. S. 199-202 (Transzendenz ist). Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 196. Vgl. dazu: «Sage ich, Gott sei eine Chiffer der Transzendenz, so wird eine bestimmte Gestalt Gottes, eine persönliche, handelnde, sprechende gemeint» (ibid. S. 486f.). Zumal «die Sprache» der Chiffren nur Gleichnischarakter hat; vgl. ibid. S. 175 u. ö. Vgl. ibid. S. 219 u. 256. Zur Trinität vgl. unten Anm. 118. Ibid. S. 219, 220, 221. Dass Gott nicht weniger als Person und zugleich mehr als eine solche sei (vgl. ibid. S. 220), ist theologisch als ein Wahrheitsmoment an Jaspers’ Überlegungen zu diesem Thema zu würdigen; vgl. ähnlich Paul Tillich:
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als wirklich genommen, «die Transzendenz doch gleichsam erniedrigt zu dem, was der Mensch ist».70 Daher bleibt wiederum die Sprachlichkeit des Ich-Du-Verhältnisses zwischen Gott und Mensch ausgeblendet.71 Kennt Jaspers, mit Gadamer gesprochen, religiös nicht «eine Wahrheit, die einem nur durch das Du sichtbar wird, und nur dadurch, dass man sich von ihm etwas sagen lässt»?72 Derart kann die Transzendenz73 nur in der Tradition einer abstrakt-negativen Theologie als das «ganz Andere» geltend gemacht werden, weil der sprachliche Gedanke nicht aufkommt, dass die Transzendenz gerade im Eintreten in die Immanenz Transzendenz (für uns) bleibt.74 Weil für Jaspers vor dem «Undenkbaren, Unanschaubaren und Unaussagbaren» der Transzendenz ihre Chiffren immer nur zurückgenommen werden können, da sie selber nicht erscheint – außer in der sogenannten «Sprache der Chiffren» –,75 ist sie eine «verborgene, schweigende Transzendenz», unbestimmt und unbestimmbar, also «schlechthin verborgen».76 Diese schlechthin verborgene Gottheit (deitas) soll sogar, wie es nivellierend heißt, über dem Gegensatz von theologiae gloriae und theologia crucis stehen.77 Zu diesen Behauptungen über das sich aller Sagbarkeit und Denkbarkeit Entziehen ist – gegen ihre Abstraktheit – zu sagen, dass das Geltendmachen des Unsagbaren selber sprachlich relativ ist; dazu wiederum Gadamer: «der nahe liegende Hinweis
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Systematische Theologie, Bd. I (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 31956) S. 283 u. 185 (Tillich spricht hier von «Symbol»). Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 220 (Hervorhebung J. R.). Daher tritt an die Stelle des Gebets die philosophische «Meditation»; vgl. ibid. S. 219f. Hinter dieser Kritik scheint eine ähnliche Verkennung der Sprachlichkeit des Gebets zu stehen wie in der bekannten Polemik Kants; vgl. zur Auseinandersetzung damit Ringleben: Arbeit am Gottesbegriff, Bd. I, op. cit. S. 150 u. 152f. Gadamer: Wahrheit und Methode, op. cit. S. XXIII (Vorwort). Zur Transzendenz in Jaspers’ Sinn vgl. insbesondere Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 213, sowie Philosophie, Bd. III, op. cit. S. 1-67. Vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 213 mit S. 164 u. 225. Vgl. ibid. S. 210, 156f. Ibid. S. 222 (223), 224 u. 256. Ibid. S. 110 ist von «der Ferne der allen Menschen aus der Verborgenheit zugewandten Transzendenz» die Rede. Vgl. ibid. S. 230. Wie zu ihr, die «mehr» ist als Liebe (ibid. S. 225), «Vertrauen» möglich sein soll (vgl. ibid. S. 222 u. 230), bleibt schwer einsichtig zu machen.
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auf das Unsagbare braucht der Universalität des Sprachlichen keinen Abbruch zu tun».78 (b.) Wegen seines unsprachlichen Verständnisses von Transzendenz ist andererseits auch zu beobachten, dass Jaspers hinter seinem eigenen Verständnis von Sprache zurückbleibt. Da findet sich die Charakterisierung der Sprache als eines «Mittels» für das existentielle Denken oder er spricht von den Kategorien als dem «Werkzeug unseres Denkens»; diese Kategorien werden im spekulativen Denken dann selber zu «Chiffren».79 Solcher Verendlichung des Denkens entspricht, dass Jaspers von «unserer Gefangenschaft in den formalen Denknotwendigkeiten» reden kann und davon, dass die Sprache unseres Denkens unser Denken verführt.80 Noch spezifischer ist Jaspers’ Kritik an der sogenannten «Leibhaftigkeit» der religiösen Sprache.81 Wenn er aber die Rede von einem offenbarenden «Sprechen» Gottes z. B. im AT als falsch-konkrete Leibhaftigkeit ausgibt,82 so wird die Sprache unter ein massives Verständnis von Leibhaftigkeit (im Sinne quasi-dinglichen, empirischen Vorhandenseins) subsummiert. Genau das aber überspringt den sprachspezifischen Sachverhalt, dass – wie Jaspers sonst weiß – : «als sinnliches Vernunftwesen» die freie Existenz «die Sprache nicht entbehren kann», weil «für die Sprache überhaupt der sinnliche Anhalt des Sprechens notwendig ist».83 Jaspers’ «Leugnung der Leibhaftigkeit des Göttlichen» – als einer «Trübung des Göttlichen» – ist also zu pauschal.84 Da «Leibhaftigkeit» nur «auf Erscheinung in Raum und Zeit» zutrifft, wie Jaspers kantianisierend behauptet, ist für ihn «die spezifische Realität Gottes in einer bestimmten Erscheinung» definitiv ausgeschlossen – aber eben damit auch die Erscheinung Gottes in der Sprache.85
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Gadamer: Wahrheit und Methode, op. cit. S. XXII. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 259 u. 231. Ibid. S. 232 u. 219. Vgl. auch die Rede vom «Leerlauf am Gängelband der Sprache» (ibid. S. 258) – als ob sie ein Gefängnis des Denkens sei (vgl. dazu oben Anm. 18). Zu Leibhaftigkeit und Wort Gottes (bei den Propheten) vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 64. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 223. Ibid. S. 169; vgl. auch S. 183. Vgl. ausführlich Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 413ff. u. 420ff. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 165 u. 488. Vgl. ibid. S. 167.
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Der eigentliche Zielpunkt dieser Kritik an einer «Leibhaftigkeit Gottes» betrifft aber den Inkarnationsgedanken. Jaspers sieht klar, dass mit dessen Triftigkeit sein Chiffern-Konzept hinfiele: «Die Offenbarung wird leibhaftig durch Inkarnation Gottes. Sie läßt nicht zu, sich in eine Chiffer verwandeln zu lassen».86 Überhaupt kann Jaspers im Offenbarungsglauben – um schließlich auch dies Thema kurz zu berühren – nur eine Verkehrung der religiösen Chiffer (in seinem Sinn) in dinghaft gegenständliche Realität erkennen.87 Freilich übersieht Jaspers bei seiner polemischen Kritik den grundsätzlichen Sinn von Offenbarung: dass nämlich der Gedanke eines Sichäußerns Gottes überhaupt und insbesondere der notwendige Gedanke von Gottes uneinholbarem Zuvorkommen die Ermöglichung eines Bezugs auf Gott durch ihn selber88 und so auch eine intrinsische Korrektur jeder vergegenständlichenden Vorstellung von Gott ist.89 Wird nicht in diesem Sinn «Offenbarung»
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Ibid. S. 166. Für Jaspers ist es lediglich der Mensch, der als sinnliches Wesen nach Leibhaftigkeit drängt (ibid. S. 167); für die christliche Theologie gilt F. Chr. Oetingers Satz von der Leiblichkeit als dem Ende der Werke Gottes (vgl. 1 Kor 15, 44). Außerdem spielt Jaspers im Zusammenhang der «Leibhaftigkeit» Ewigkeit und Zeit undialektisch gegeneinander aus (vgl. ibid. S. 173 u. 253). Vgl. ibid. S. 197 u. 164. Die Alternative: entweder «Offenbarung» als zeitlichräumlich bestimmte Handlung Gottes oder «Chiffer» (ibid. S. 174) überspringt die Sprachlichkeit der christlichen Offenbarung (vgl.: «nur im Zeichen spricht», ibid.). Vgl. die abstrakte Verallgemeinerung in der Anspielung auf 1 Kor 3, 11 (Der philosophische Glaube, op. cit. S. 88). Generell wird referiert: «von Gott weiß der Mensch nur und kann er nur wissen durch Offenbarung» (ibid. S. 65) – «Offenbarung» freilich im Sinne von Jaspers! – Dass Gott nicht darin aufgeht, bloß Korrelat unseres Bewusstseins zu sein (das wir – als selber unerreichbar – mit dem nomen «Gott» bezeichnen), sondern dass er von sich her als unser Bewußtsein von ihm ermöglichend, begründend und bestimmend verstanden werden muss, das ist auch Ausdruck unseres sprachlichen Verhältnisses zu Gott, insofern nämlich Humboldts «1. Hauptsatz» gilt (vgl. oben bei Anm. 22). Nur indem wir uns auf Gott richten, «spinnt» er uns in seine Wirklichkeit ein; vgl. dazu den Satz: «Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht» (Meister Eckehart: Deutsche Predigten und Traktate, hg. von J. Quint [München: Hanser, 31969] S. 216 [Predigt 13]). Immerhin liegt auch nach Jaspers im Wort «Gott» «wesentlich das uns Ergreifende» (Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 486), und er kann die Transzendenz auch als «das Wirksame» bestimmen, durch das wir sind (ibid. S. 157; vgl. Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 42: «bewirken»), obwohl er die Rede von einem «Handeln» Gottes kritisiert (ibid.
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ins Spiel gebracht,90 so ist nicht abzusehen, wie der Mensch in religiösem Glauben (auch als philosophischem Glauben) nicht nur in sich selber bleibt91 und «Transzendenz» nur ein gesteigertes Bei-sich-selbst-Sein des Menschen darstellt, sodass sich die Rede von Gott eigentlich erübrigt. Ist Jaspers’ Gedanke der Transzendenz tatsächlich mehr als nur eine potenzierte Wiederholung unserer selbst bzw. verändert uns nicht allein das Berührtwerden durch Gottes eigene Transzendenz wirklich, in dem mit ihr etwas Neues an uns kommt, das wir uns nicht selber sagen können?92 Angeblich «befestigt» der Offenbarungsglaube Gott in der Welt «zu einem Objektiven», und ein solches Offenbarungs-Ereignis soll «die Ab-
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S. 196). Offen bleibt, ob die häufige Wendung vom «sich geschenkt werden» der menschlichen Existenz eine vage Metapher oder mehr ist (vgl. ibid. S. 105, 109, 119, 122 [«Ursprung»], 133, 213, 220 [«woher», «von dort her»], 214); vgl. auch oben Anm. 46! Jaspers zitiert zustimmend Kierkegaards Formulierung von der «Macht», durch die das Selbst «gesetzt» ist (ibid. S. 118), und er redet sogar von «der von der Transzendenz […] geschaffenen Existenz» (ibid. S. 110). Hier liegt meines Erachtens ein grundsätzliches Problem des Jaspers’schen Transzendenzgedankens; vgl. auch unten Anm. 90! Zu Kierkegaard vgl. Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, hg. von E. Hirsch, in ders.: Gesammelte Werke, 24. Abt. (Düsseldorf: Diederichs, 1957) S. 10. Die Transzendenz «trocknet aus», wenn nicht etwas von ihr selber her dem von ihr Berührten entgegenkommt; daher die theologische Notwendigkeit von «Offenbarung» bzw. der Satz: Gott kann nur von Gott her erkannt werden. Die unumgängliche Rede von «Gott selber» bringt sprachlich und logisch zur Geltung, dass der Bezug auf eine Instanz nur dann diese selber trifft, wenn sie auch ihm gegenüber als sie selber (bzw. von ihr her) thematisiert werden kann. So weiß sich der Bezug auf Gott von Gott her als ermöglicht und bestimmt, um sich als wirklich wissen zu können. Daß Jaspers einen Bezug auf Transzendenz wesentlich in Anspruch nimmt, ohne ihn als auch vonseiten der Transzendenz wirksam bestimmt denken zu wollen, verleiht seiner Position etwas eigentümlich Schwankendes und Inkonsequentes. Jaspers redet von dem «auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen» (Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 38; vgl. aber das – sprachlich zu begreifende! – S. 43f. Gesagte). Heidegger hat das Auf-sich-Gestelltsein des Philosophierenden («freie Selbstübernahme des ganzen Daseins») klar von der gläubigen Existenzweise unterschieden (Phänomenologie und Theologie, op. cit. S. 32 u. 18-20). Vgl. dazu Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 166f. Vom «Berührtwerden» durch die Transzendenz spricht Jaspers z. B. ibid. S. 122.
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solutheit des Göttlichen selber» haben.93 Als sprachlich vermittelt ist dies Absolute aber nur in der Relativität da; es geht nicht um «Vergötzung», sondern um Dialektik.94 «Sich etwas sagen lassen von Gott» ist doch nicht ohne die Wahrhaftigkeit eigenen Hörenkönnens bzw. Erkennens des Menschen real.95 Denn christlich jedenfalls bezieht sich die Offenbarung «auf das Wort, das Gott spricht, auf Gott selbst, der erfahren wurde im Wort», das (z. B.) «der Prophet als Gottes Wort mitteilt».96 Freilich wird sie angeblich als ausgesagte verendlicht, denn – so Jaspers – «im Sprechen wird das in ihr Gemeinte verkehrt».97 Wird in solchen apodiktischen Urteilen die Sprache noch als Sprache gedacht? Es heißt bei Jaspers: «Die Wirklichkeit der Transzendenz als Objekt ist nur in der Sprache der Chiffren, nicht aber wie sie an sich selbst ist, für uns da»;98 wir haben oben gesehen, dass die Sprache eben diese Unterscheidung von «für uns» und «an sich» in sich selber austrägt, ja nur so überhaupt Sprache ist (siehe oben S. 71). Die transzendentale Besinnung auf die «Bedingung der Gegenständlichkeiten in der Struktur dessen, wie alles Sein uns gegeben wird» bzw. auf die «subjektiven Bedingungen für das Gegenwärtigwerden 93
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Jaspers, Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 41. Vgl. hier auch zu Jaspers’ eigenem Offenbarungsbegriff: «Geheimnis des Offenbarwerdens des Wahren in Sprüngen der Geschichte des Geistes» (ibid.); beide Offenbarungsbegriffe seien radikal unterschieden (ibid. S. 41f.). Eigentlich kommt der «philosophische Glaube» ohne Offenbarung aus (vgl. Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 52 u. 109f.). Bei Jaspers’ eingangs zitierter Kritik ist zu fragen: was ist ein «absolutes Ereignis» (Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 47)?! Es geht nicht um den Glauben an ein Ereignis (vgl. ibid. S. 50) im Sinne purer Faktizität, sondern um es als Gottes eigene Zuwendung zum sündenverstrickten Menschen: als sein Wort des Heils in dem Menschen Jesus. Vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 137. Überhaupt bleibt uneinsichtig, warum die «Realität einer Offenbarung, die von Gott ausgeht und doch der menschlichen Interpretation bedarf», für Jaspers «dem Gottesgedanken selber nicht entspricht» (ibid. S. 109f.). Vgl. Jaspers, Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 42, und Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 113. Vgl. die Erwägung: «Oder ist der Glaube an Offenbarung in eins und untrennbar von der Offenbarung selbst, die den Glauben bewirkt?» (Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 45). Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 63. Ibid. S. 65f. Gegen die «Fixierung» im Wort wird dekretiert: «Nirgends ist die ganze, volle, reine Wahrheit – weil sie im Satz der menschlichen Sprache […] nicht sein kann» (ibid. S. 76; vgl. S. 115). Jaspers, Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 44.
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des Sinns der jeweiligen Objektivität»,99 verlässt in abstrakter Weise die genuin sprachliche Korrelation von Wort und Glaube bzw. Sprache und Verstehen. Weil er diese Korrelation verkennt, kann Jaspers im OffenbarungsGlauben nichts anderes als «absoluten Gehorsam», als «Unterwerfung» unter eine positiv gegebene Offenbarungswahrheit finden.100
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3.1. Jaspers’ Verdinglichungskritik am religiösen Bewusstsein und seinen Gegenständen ist offensichtlich nur die Kehrseite seines abstrakten (undialektischen) Verständnisses von Transzendenz. Dabei entgeht ihm der sprachliche Zusammenhang zwischen Gottesbewusstsein und religiöser Inhaltlichkeit als solcher; daher bleibt es bei einer letzten Fremdheit und Äußerlichkeit dieser gegeneinander und sie sind nicht konkret vermittelt (oder nur einseitig subjektiv als «Lesen» der Chiffren).101 Ich möchte demgegenüber hier die These vertreten, dass die religiösen Inhalte (d. h. die Gegenstände religiösen «Wissens» im Glauben) an sich (und für das religiöse Bewusstsein selber) nicht «leibhafte» Gegenstände, sondern Formen sind, nämlich Formen des religiösen Umgangs mit ihnen, der von ihnen bestimmt wird: als Inhalte zugleich Formen für … Jaspers selber weist in diese Richtung, wenn er schreibt: «So ist für ein Denken der Transzendenz in der Seinsspekulation der Gegenstand so da, dass er doch erst im Zusammenbruch seines Gegenstandseins durch die Gedankenbewegung gegenwärtig werden lässt, was gemeint war».102 Ich behaupte, diesen «Zusammenbruch» vollziehen die genuin religiösen Gegenstände
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Ibid. Vgl. oben Anm. 3 und Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 164 u. 485. Weil die Offenbarungswahrheit nur «rational absurd» sein kann (ibid. S. 164, und Der philosophische Glaube, op. cit. S. 112), muss Offenbarungsglaube ein sacrificium intellectus sein (vgl. ibid. S. 67f. u. 113). Vgl. Jaspers: Philosophie, Bd. III, op. cit. S. 128-156, und Von der Wahrheit, op. cit. S. 1045-1054. Jaspers, Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 18. Ähnlich die Kritik falscher Vergegenständlichung: «Dogmen können nicht mehr reine Chiffern der Transzendenz sein, es sei denn, sie würden aus der Dogmenhaftigkeit ihrer Form zurückgenommen in die Bewegung des Denkens» (Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 197).
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an ihnen selber bzw. fordern ihn von sich her, indem z. B. die Offenheit des Wortes «Gott» selber eine solche Gedanken-Bewegung im religiösen Bewusstsein freisetzt und fordert. Das würde bedeuten, der Offenbarungsglaube ist nicht als solcher schon die Abgleitung in Dogmatismus, sondern er löst gerade die Offenheit religiös ein, die Jaspers für den «philosophischen Glauben» in Anspruch nimmt.103 Denn er möchte diese «Verflüssigung» des Gegenständlichen für das philosophische Denken reservieren.104 Jaspers scheint hier zu entgehen, dass auch der genuin religiöse bzw. theologische «Sinn» eben dies immer schon realisiert. Andernorts weiß auch er: «Es gibt eine fromme Anschauung dieser Leibhaftigkeit [sc. der Chiffren], als ob sie auch empirische Realität sei. Die Frömmigkeit zeigt sich darin, daß die Konsequenzen eines materialistischen, magischen, nutzenden Mißbrauchs solcher Leibhaftigkeit wie selbstverständlich ausbleiben.»105 3.2. Ich erläutere nun meine oben angedeutete These.106 Ich will dieses Beziehungsgefüge (von Form und Inhalt) – auch um seinen sprachlichen 103 104
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Vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 142; abstrakt: S. 150. Vgl. ibid. S. 132: «Wenn im Denken des Umgreifenden dieses selber unausweichlich Gegenstand wird, erzwingt der philosophische Sinn zugleich die Umwendung ins Gegenstandslose». Es ist bereits der religiöse «Sinn», der im Bewusstsein Gottes dessen inne ist, dass dieser zugleich «Gegenstand» und «mehr als» bloßer Gegenstand ist – ein Wissen, das nur sprachlich zu realisieren ist bzw. selber sprachlich ist. Jaspers, Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 22 (Hervorhebung J. R.). Bedient man sich vorläufig und heuristisch einmal der – im Übrigen nicht unproblematischen – Unterscheidung W. Herrmanns zwischen «Grund» und «Inhalt» des Glaubens (vgl. Wilhelm Herrmann: Gesammelte Aufsätze, hg. von F. W. Schmidt [Tübingen: Mohr-Siebeck, 1923] S. 268f.: der Glaube wird durch seinen Inhalt (als seinen Grund) erzeugt), so kann man sagen: Für Jaspers ist der Grund des Glaubens eigentlich reiner Transzendenzbezug; die Inhalte des Glaubens stellen allenfalls Chiffren der Transzendenz dar und sind wesentlich vom Abgleiten in dinghafte Vorstellungen bedroht. Dagegen möchte ich Folgendes geltend machen: Ist nicht eine Beziehung dergestalt denkbar, dass die «Inhalte» nicht nur einfach positiv gegebene Sachverhalte sind, sondern dass sie (1.) spezifische Artikulationen des «Grundes», d. h. der Transzendenz selbst, bieten und derart (2.) selber eine Artikulation bzw. explizite Thematisierung des Verhältnisses von Transzendenz und Existenz bzw. von Gott und Mensch hergeben? Demgemäß wären sie als eine («gegenständliche») Selbstverständigung des reinen Transzendenzglaubens zu begreifen. Dieser Glaube weiß sich und erkennt sich sozusagen als Form (d. h. als fides, qua creditur, Glaubensakt) in seinen spezifischen Inhalten
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Status zu verdeutlichen – im Ausgang von einem biblischen Wort über den Glauben zu erläutern versuchen. Paulus schreibt Röm 10, 17: ἡ πίστις ἐξ ἀκοῆς (fides ex audito; d. h.: Der Glaube kommt aus dem Hören bzw. der Verkündigung; ich ergänze: zu sich). Was Jaspers wohl nicht gesehen hat, ist demnach der Umstand, dass der Glaube in seinen ihm verkündigten Inhalten sich selber als ihre Form ergreift. Das kann er nur, weil diese Glaubens-Inhalte immer zugleich auch Artikulationsweisen des auf sie gerichteten Glaubens sind. Denn der Glaube ist die Form, die jenen Inhalten spezifisch entspricht und sich aus ihnen (als selber «Formen») entgegenkommt.107 Das besagt: beides steht einander nicht äußerlich fremd gegenüber – als formeller Gehorsamsakt und heteronome religiöse Dingwelt –, sondern indem der Glaube an seinen Inhalten seine eigene Artikulation gewinnt, kann er sich darin selbst anschauen; inhaltlich gerade gewinnt er sich selber und ist in solchen Inhalten bei sich. Somit sind die Glaubensinhalte in Wahrheit spezifische Weisen, den Glauben zu gestalten und als Glauben zu begründen, d. h. ihn in seinem Wesen – frei von verdinglichenden Abgleitungen – zu bewahren. Solche Inhalte konstituieren gerade den Glauben als Glauben, und er findet in ihnen sein Selbstbewusstsein. In diesem Sinn ist der christliche Glaube wortbezogen, indem wortabhängig und überhaupt sprachlich verfasst. Der Glaube, der wesentlich aus dem «Hören» (bzw. der Verkündigung) ist, was er ist, ist selber zugleich nur als sich artikulierender Glaube wirklich Glaube (vgl. Röm 10, 8-10; 1 Kor 12, 3b; 2 Kor 4, 13; Ps 116, 10).108 Das religiöse Vorstel-
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(d. h. als fides, quae creditur; Glaubenswahrheit) wieder und findet sich darin ausgelegt. (3.) schließlich handelt es sich um eine Artikulation des Verhältnisses zur Transzendenz von dieser selber her: um die Explikation des Verhältnisses Gottes zum Menschen von Gott aus. Sieht man es so, dann bedeuten die Glaubensinhalte die Selbstartikulation der Transzendenz als Transzendenz für …, d. h. als Glaubensgrund für den Menschen in seiner Existenz. Dadurch und nur dadurch wird der Glaube für sich selber und von jenseits seiner her selbst vergewissert und bewahrheitet. Glaube folgt, um er selber zu bleiben, dieser Selbstartikulation Gottes. Er begreift sich als spezifische Form dieser «seiner» Inhalte. Darum wurde oben S. 81 auf Jesu Rede von Gott in Gleichniserzählungen verwiesen: nur im sprachlich bewegten Verwirklichtwerden ist Gott spezifisch ein Gegenstand des Glaubens, und d. h. eben als «Form». Ist die Sprache «das Umgreifende alles Umgreifenden» (siehe oben Anm. 23), so kann der Glaube selbst «das formulierte Bekenntnis» gerade nicht verwehren bzw. entbehren (Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 144)! Vielmehr gilt vom Sprachwesen Mensch, was Luther vom Bekenntnis
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lungssystem, Dogmen und Bekenntnisse stellen soz. die «Grammatik» des Glaubens dar, und dieser bestimmt sich selber, indem er ihnen ent-spricht (in einem freien, sprachlichen Verhalten dazu). Der Glaube als solcher schaut sich in seinen Gegenständen an. Das heißt: Glaube als «Form» reflektiert sich in seinen «Inhalten», oder umgekehrt: die Inhalte des Glaubens legen ihn als solchen für ihn (bzw. sich) aus und bewahren ihn rein vor Abgleitungen ins Nicht-Religiöse. Weil das religiöse Bewusstsein sich in den religiösen Gegenständen selbst auslegt, und zwar: als von ihnen ausgelegt (!),109 kann man sagen: der Glaube vergewissert sich an seinen religiösen Inhalten seiner eigenen Sachhaltigkeit, und die spezifisch religiösen Gegenstände bewahrheiten den Glauben selber inhaltlich. Dieses Sich-ineinander-Reflektieren von «Form» und «Inhalt» des Glaubens ist ein einheitlicher Zusammenhang, der in sich doch unterschieden ist; d. h. es ist ein sprachlicher Zusammenhang, also auch nur sprachlich realisierbar. Ist das richtig, so ist gegen Jaspers einzuwenden, dass er Form und Inhalt des Transzendenzbezuges auseinanderreißt, weil bei ihm die Transzendenz an ihr selber inhaltslos («leer» bzw. rein) bleiben soll und dem «reinen» Glauben (bzw. der eigentlichen Existenz) jedweder Inhalt nur als etwas ihm Fremdes äußerlich gegenüber stehen bleibt. Die Formalität der Transzendenz entleert gerade den glaubenden Bezug auf sie. Jedenfalls verkennt Jaspers die beschriebene Logizität des Sich-ineinander-Reflektierens von Glaube und Glaubensgegenstand. Ihre Dialektik wird in einer äußerlichen Verhältnisbestimmung stillgestellt, nach der die Unterscheidung zwischen einer nur in Chiffren, d. h. immer nur vorläufig oder sogar inadäquat, im sogenannten philosophischen Glauben zu berührenden Transzendenz und der an sich unzugänglichen, unaussprechbaren und verborgenen Transzendenz selber unüberwindlich fixiert bleibt. 3.3. Diese Problematik wird vielleicht an keiner Stelle so deutlich – jedenfalls für einen christlichen Theologen –, wie an Jaspers’ Äußerungen
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in Bezug auf das 1. Gebot sagt: «also füret uns dis gepot eraus und richtet den mund und die zunge gegen Gott [d. h.: bringt […] in das richtige Verhältnis zu Gott]. Denn das erste, so aus dem hertzen bricht und sich erzeigt, sind die wort» (Luthers Werke, op. cit., Bd. XXX/1, S. 139, Z. 16-18; Großer Katechismus). Vgl. S. Kierkegaard: «Denn die christliche Wahrheit hat, wenn ich so sagen darf, selber Augen, damit zu sehen, ja, sie ist wie lauter Auge» (Einübung im Christentum, in ders.: Gesammelte Werke, op. cit., 26. Abt. [1962] S. 225). Vgl. so vom «Wort Gottes» Hebr 4, 12f.
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zum Gedanken der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Darauf will ich zum Schluss kurz eingehen. Jaspers sieht richtig, dass der christliche Inkarnationsglaube von anderen Inkarnationsvorstellungen (z. B. bei den Indern oder Griechen) «wesentlich verschieden» ist, insofern hier «diese Inkarnation zur Mitte der Auffassung von Gott, Welt und Mensch wird».110 Eben dieser spezifisch christliche Gedanke: «Jesus selber soll Mensch und als Christus zugleich Gott sein», ist für Jaspers, wie er im Anschluss an Spinoza zu verstehen gibt, «widersinnig».111 Das heißt, Jaspers liest den Gedanken, dass Gott in Jesus Christus zugleich Mensch ist, als reinen abstrakten Widerspruch (im formallogischen Sinn), ohne die interne Bewegtheit der Menschwerdung Gottes bzw. der dogmatischen Zweinaturen-Lehre zu beachten.112 Für ihn gilt apodiktisch: «Der menschgewordene Gott Christus ist philosophisch unmöglich».113 Zwar kann der Mensch «Jesus als einzigartige
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Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 226. Dies ist so, weil im Christentum nicht irgendein Gott sich (durch eine Art «Metamorphose») in einen Menschen verwandelt (sozusagen vorübergehend), sondern der «eine Gott» (ibid.) sich ein für allemal definitiv mit einem Menschen so zusammenschließt, dass er ohne diesen nicht mehr Gott ist. Dass nach christlicher Auffassung «alle anderen sogenannten Inkarnationen […] falsche» sind (ibid.), ist insofern zweideutig (und ein wenig tendenziös) formuliert, als sie am christlichen Inkarnationsgedanken gemessen eben gar keine Inkarnation (im Sinne von Joh 1, 14: als endgültige und nicht wiederholbare Selbstbestimmung Gottes in seinem Sein) sind. Insofern ist auch Jaspers’ Formulierung: «nur dieses eine Mal» (ibid.) eine Unterbestimmung, weil sie wie die unberechtigte Verabsolutierung eines kontingenten und insofern prinzipiell wiederholbaren Faktums aussieht. Ibid. S. 175. Wie der Satz: der Kreis ist Quadrat (ibid.) – eine «Ungeheuerlichkeit» (ibid. S. 227). Zum Bezug auf Kierkegaards Paradox-Gedanken (ibid. S. 227), zur kritischen Auseinandersetzung mit diesem vgl. Joachim Ringleben: Arbeit am Gottesbegriff, Bd. II (Tübingen: Mohr-Siebeck, 2005) S. 131-145. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 225. Inkarnation ist nicht denkbar (ibid. S. 164), weil eine «logische Unmöglichkeit» (Der philosophische Glaube, op. cit. S. 113), aber auch eine religiöse – wegen des Jaspers’schen Axioms «kein Mensch kann Gott sein» (ibid. S. 80 u. 103 sowie Von der Wahrheit, op. cit. S. 1052). Ganz anders, weil von der Sprache her gedacht, äußert sich Gadamer zum christlichen Inkarnationsgedanken gemäß Joh 1, 14 (Wahrheit und Methode, op. cit. S. 395-404), «der dem Sein der Sprache besser gerecht wird» (ibid. S. 395). Sprache und Inkarnation werden eng zusammen gedacht: «Das größere Wunder der Sprache liegt […] darin, daß das, was so [sc.
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Chiffer sprechen»,114 aber für das um Wahrhaftigkeit bemühte Philosophieren von Jaspers «ist es unmöglich, Christus als Chiffer zu denken».115 Als bloße Chiffer im Sinne von Jaspers ist der menschgewordene Gott sicherlich nicht zu denken, stattdessen aber als (von Gott gesetzte) Wahrheit des lebendigen Gott-Mensch-Verhältnisses überhaupt.116 Im Gedanken der Menschwerdung wird sich das menschliche Gott-Mensch-Verhältnis als in Gott selber ermöglicht und begründet «gegenständlich» anschaubar. Die glaubende «Form» eines Verhältnisses des Menschen zu Gott kommt sich im zentralen «Inhalt» dieses Glaubens: als von Gott selbst her bewahrheitet, selber entgegen. Im Gottmenschen Jesus Christus reflektiert sich der Mensch in seiner Beziehung zu Gott nach der Wahrheit dieser Beziehung, die zugleich auch den bleibenden Unterschied von Gott und Mensch einschließt (vgl. 1 Tim 2, 5). Jaspers sieht hier das verkehrte «Maximum» an Leibhaftigkeit Gottes erreicht.117 Die abstrakt festgehaltene Transzendenz des «philosophischen» Glaubens erweist sich als das Gefängnis des undialektischen Gedankens vom «ganz Anderen». Die lebendige Idee Gottes, der nur so Gott (und nicht Mensch) ist, dass er zugleich ganz bei dem Menschen (Jesus) ist, seine Ein-
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bei der Inkarnation im Sinne von Joh 1, 14] heraustritt und sich in der Äußerung äußert, immer schon Wort ist» (ibid. S. 397; vgl. Joh 1, 1). Was überhaupt gilt, gilt spezifisch bei der «Menschwerdung» des Logos: Das Wort Gottes «hat sein Sein in seinem Offenbarmachen» (ibid. S. 398). Vgl. unten Anm. 118. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 225. Zu Jesus (als Christus) vgl. auch ibid. S. 47, 54f., 81, 500-503. In seiner JesusDarstellung (Karl Jaspers: Die maßgebenden Menschen [München, Zürich: Piper, 91986] S. 165-193), die sich wesentlich an Bultmann und M. Dibelius anlehnt, ergibt sich im Wesentlichen dasselbe durch zwei Gesichtspunkte systematisch bestimmte Bild. 1. Jesus war «in jedem Augenblick Gott nahe» (ibid. S. 183) und «wie durchleuchtet von der Gottheit» (ibid.), sodass ihn eine «radikale Gottesgewißheit» auszeichnet (ibid. S. 184f.); 2. ist gleichwohl der «Christus» nur eine «Schöpfung der Urgemeinde und des Paulus» (ibid. S. 187; die alte «liberale» Meinung seit dem 19. Jahrhundert!), die ihn zum Gottmenschen «verwandelt» hat (ibid. S. 189 u. 190). Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 227. Denn anders wäre «die Transzendenz nicht mehr verborgen […], sondern als realer Gott[!] selber offenbar[!]» (ibid.). Die Selbstbegrenzung des Jaspers’schen Chiffern-Konzeptes kommt in dem Satz zutage: «Aber Christus ist als leibhaftig realer Gott nicht als Chiffer geglaubt» (ibid.). Ibid.
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heit mit sich also nur im Selbstunterschied von sich hat, muss sich hier, so scheint es, formalen Denkverboten fügen.118 In Jaspers’ Wiedergabe des spezifisch Christlichen ist der Protest gegen die Abgleitungen vom reinen Transzendenz- bzw. Gottesgedanken unüberhörbar: «Gott ist nun wirklich leibhaftig in persönlicher Gestalt gegenwärtig, ist ganz Mensch, aber zugleich ganz Gott».119 Wiederum ist in diesen Formulierungen das Niveau des Gedankens nicht erreicht, insofern «ganz Mensch, aber zugleich ganz Gott» nur im Sinne eines formallogischen (also: sinnlosen) Widerspruchs verstanden wird. Die christliche Pointe aber ist gerade, dass Gott Gott bleibt (ja erst eigentlich wird), indem er Mensch wird bzw. ist. Sodann ist die sich hier äußernde Abwehr der «leibhaftigen Realität» u. a. Ausdruck einer Unterbestimmung des christlichen Inkarnationsgedankens: es geht nicht um eine sozusagen opake empirische Person, sondern Mensch geworden ist in Jesus «das Wort », und dies ist er nur in seinen Worten, an die der Glaube sich hält (vgl. Joh 4, 41; 118
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Zur Trinität äußert sich Jaspers in Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 254-256 (weitgehend referierend); vom «lebendigen» Gott werde hier so geredet, «als ob sie [sc. die Transzendenz] eine Sache sei» (ibid. S. 256). Der Gedanke, der das «innere Leben der Transzendenz» in sich selber erhellt und zwar gerade, um so Gottes Kommunikation mit uns aus ihm selber heraus verständlich zu machen bzw. darin ewig zu begründen, wird bei Jaspers – abwegigerweise – zu etwas, das «in solcher Gestalt den Weg, den uns der Bezug zur Transzendenz weist, (versperrt)» (ibid.); vgl. auch Von der Wahrheit, op. cit. S. 1045. – Hingegen sieht Gadamer (im engen Anschluß an das oben Anm. 113 Zitierte), dass in der Trinitätslehre der Gedanke des Joh.-Prologs von der Menschwerdung des Logos seine theologische Ausgestaltung gefunden und so das philosphische Denken «eine dem griechischen Denken verschlossene Dimension» gewonnen habe (Wahrheit und Methode, op. cit. S. 396). Weil es «wirklich etwas Gemeinsames zwischen dem Prozeß der göttlichen Personen und dem Prozeß des Denkens» (bzw. dem Verhältnis von Denken und Sprechen) gibt (ibid. S. 401 u. 398), «ist (gerade) für uns das entscheidend Wichtige, daß das Mysterium dieser Einheit am Phänomen der Sprache seine Spiegelung hat» (ibid. S. 396). Zum Anschluss an Humboldt vgl. meinen Aufsatz: Trinität und Ich-Du-Verhältnis, in Ringleben: Arbeit am Gottesbegriff, Bd. II, op. cit. S. 329-349. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 226. Die Fortsetzung lautet: «Die Vorstellung der Persönlichkeit der Gottheit ist zur leibhaften Realität einer menschlichen Persönlichkeit geworden, die Gott ist» (ibid.). Vgl. auch den folgenden Satz: «Der Drang des Menschen nach Leibhaftigkeit wird hier wie nirgends sonst befriedigt» (ibid); dazu vgl. zur reduziert verstandenen Leibhaftigkeit Christi (des «Wortes»!) auch Von der Wahrheit, op. cit. S. 1035.
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5, 24; 6, 63 u. ö.).120 Das besagt: die Menschwerdung Gottes ermöglicht ein menschlich-sprachliches Verhältnis zu ihm und zielt nicht auf Gottes Verdinglichung «in persönlicher Gestalt».121 Im wirklichen Wort des Menschen Jesus weiß sich der Glaubende der Wirklichkeit Gottes vergewissert: als einer Wirklichkeit, die ihn im Zentrum seines Menschseins, sprachlich, erreicht.122
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Gott kommt in Jesus zum Menschen, insofern er in Jesus für uns «zur Sprache kommt». Der Satz: «Gottes Wirklichkeit ist dem Glaubenden durch die Leibhaftigkeit eines Menschen garantiert» (Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 226; Hervorhebung J. R.) verkennt die sprachlich-human vermittelte Vergewisserung des Glaubens von der lebendigen Wirklichkeit Gottes als einer sich ihm worthaft erschließenden Transzendenz. Die Feststellung von Jaspers, «daß in der Welt das einzig Eigentliche für den Menschen der Mensch ist» (Der philosophische Glaube, op. cit. S. 108), behält unter den Bedingungen der Menschwerdung Gottes nicht nur seine volle Bedeutung, sondern erhält sozusagen seine Wahrheit vom Absoluten her, sofern Jesus Christus das wahre Ebenbild des unsichtbaren Gottes ist (vgl. Kol 1, 15; 2 Kor 4, 4; Hebr 1, 3 mit Röm 8, 29). Redet Gott schon mit Mose wie von Mensch zu Mensch (Ex 33, 11), so erst recht der Mensch Jesus mit uns Menschen.
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Studia philosophica 67/2008
F RANCESCO M IANO
Phänomenologie des Gewissens Zur Existenzerhellung bei Karl Jaspers
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Among the numerous themes of Karl Jaspers’s philosophy, a strong interest exists in the ethical problem. This article involves his whole philosophy, even if it concerns a specific branch. Viewed under this aspect, the illumination of existence (Existenzerhellung) takes place, not only by thinking about the interpretation of what this existence is, but also by thinking what it can and must be. In this way existence is explained in its characteristic possibilities, particularly concerning the free and ethically good will, which is thanks to the moral conscience (Gewissen). The moral conscience is included in the absolute conscience (absolutes Bewusstsein); existence expresses its intimate being as a complete being, all the same opened to the unconditioned and to transcendence.
1. Eine ethische Perspektive 20
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Die historisch-kritische Forschung betont immer stärker die Zentralität der ethischen Dimension innerhalb der Philosophie von Karl Jaspers: «Das spezifische, von der Existenzerhellung ausgehende Wissen» – so Giuseppe Cantillo – «ist nur ein Mittel zum Zweck einer neuen Möglichkeit, sich selbst zu sein. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint Jaspers die Suche nach einer Wahrheit, die für mich und zugleich über mich ist, zunächst als eine praktische, ethische Aufgabe, noch keine theoretische».1 Nach Jeanne Hersch ist für Jaspers «jede echte philosophische Tätigkeit in einer ethischen, ja beinahe meta-ethischen Haltung auf existenzieller Ebene verankert».2 «Alle Sätze seiner Philosophie haben eine ethische Spur. In dieser Philosophie ist die Ethik sozusagen überall»: so Reiner Wiehl auf der Jaspers-Tagung 1999 in Neapel.3 Dieser Forschungsrichtung folgt auch der von Bernd Weidmann
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Giuseppe Cantillo: Introduzione a Jaspers (Roma, Bari: Laterza, 2001) S. 65. Gabrielle und Alfred Dufour: Schwierige Freiheit. Gespräche mit Jeanne Hersch (Zürich, Köln: Benziger, 1986) S. 36. Reiner Wiehl: La filosofia dell’esistenza come etica in Karl Jaspers, in Filosofia, esistenza, comunicazione in Karl Jaspers, hg. von Giuseppe Cantillo, Donatella Di Cesare (Napoli: Loffredo, 2002) S. 29.
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herausgegebene Sammelband Existenz in Kommunikation. Zur philosophischen Ethik von Karl Jaspers,4 sowie auch viele andere Studien der letzten Jahre.5 Immer stichhaltiger erscheint so die von Dufrenne und Ricœur in ihrer mittlerweile 60 Jahre alten Monographie entwickelte Interpretation, nach der die Existenzerhellung «eine Kritik, eine Analysis der ethischen, sowie auch der begrifflichen Bedingungen» ist: solche Bedingungen sind die «einer eigentlichen Philosophie, die kein die Zustimmung des Verstandes erforderndes System ist, sondern eine Seinserfassung, in der der Glaube eine ebenso wichtige Rolle spielt, wie die logische Zustimmung».6 Ausgehend davon, dass die ethische Frage bei Jaspers nicht als Individuation moralischer Gesetze a priori betrachtet werden kann, sondern als Suche nach der ethischen Fundierung der Existenz selbst, bzw. als Suche danach, wie die Existenz wollen kann und auch will, denke ich, dass die ethische Dimension der Jaspers’schen Philosophie einen wichtigen Leitfaden darstellt, um das fundamentale Begriffspaar Glaube-Wissen, ihre Beziehungen und auch ihre Gegensätze, neu denken zu können. Aus diesem Gesichtspunkt scheint mir eine Überlegung fruchtbar zu sein, die vor allem in Bezug auf die Existenzerhellung, aber möglicherweise auch auf das gesamte Werk von Jaspers anzustellen ist und die eine der wichtigsten Quellen seiner Ethik betrifft. Gemeint ist hier die heikle Beziehung zwischen Gewissen und absolutem Bewusstsein, dem Raum der existenzialen Freiheit und der eigentlichen Entscheidung, dem Ort einer immer problematischen Suche nach dem Guten, dem Bereich einer vom Leben unzertrennlichen Innerlichkeit, die umso bedeutender ist, je mehr sie die Existenzspannungen und die schwierige Aufgabe der Kohärenz, der Treue und der Kommunikation mit den Anderen in sich trägt.
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2. Die Freiheit im Herzen der Existenz Jaspers’ Meisterwerk Philosophie ist eine scharf erklärende Analysis zu der Tragweite, den Dimensionen und den Grenzen der Existenzwege. Es geht
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Existenz in Kommunikation. Zur philosophischen Ethik von Karl Jaspers, hg. von Bernd Weidmann (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004). Siehe Franz Peter Burkard: Ethische Existenz bei Karl Jaspers (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1982); Francesco Miano: Etica e storia nel pensiero di Karl Jaspers (Napoli: Loffredo, 1993). Mikel Dufrenne, Paul Ricœur: Karl Jaspers et la philosophie de l’existence (Paris: Seuil, 1947) S. 110.
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um eine reich gegliederte, aber zugleich einheitliche Betrachtung der Einzigartigkeit der Existenz: «Selbstsein ist die Einheit des Doppelten: auf sich zu stehen und hingegeben zu sein an Welt und Transzendenz. Allein vermag ich nichts, aber verloren an Welt und Transzendenz bin ich als ich selbst verschwunden. Ich bin als selbst zwar eigenständig, nicht aber mir selbst genug».7 Die Existenz ist ohne das Dasein, ohne ihren konkret biologischen und sozialen Zustand, nicht sie selbst: diesen «mundanen» Zustand muss sie übernehmen und damit überwinden. Die Existenz ist aber auch nicht sie selbst, wenn sie sich der weiteren Dimension der Transzendenz nicht öffnet, welche wesentlich und grundlegend für sie ist: «Machen wir den Versuch, Selbstsein weiter zu erhellen, so wird der Sinn: Selbstsein hört auf als isoliertes Ichsein; es ist in Kommunikation. Es hört auf als vertretbarer reiner Verstand; es ist nur in geschichtlicher Einmaligkeit zu dieser Zeit an dieser Stätte. Es hört auf als empirisches Sosein; es ist nur als Freiheit ».8 Gerade die Freiheit kann man als wesentlich existenzialen Kern ansehen, der trotz der unaufhörlichen Vorläufigkeit der Existenzerfahrung einen Festpunkt darstellt. Nur eine freie Existenz kann im Übrigen in Frage stellen, bzw. nach dem Guten und Bösen fragen. Die Freiheit ist in der Tat die Befreiungsbewegung, durch die der Mensch seine Grenzen übernimmt und mit ihrer Überwindung beginnt. Frei-Sein ist Frei-Werden, Sich-frei-Machen, durch die Verwandlung des Gegebenen in die ständige Aufgabe, die Existenz zu vollziehen. Frei zu sein bedeutet, zu lernen, die Notwendigkeit – d. h. die Irreduzibilität der natürlichen und sozialen Wirklichkeit – anzugehen, es bedeutet, in der Kommunikation mit den Anderen und im Bewusstsein des geschichtlich konkreten Sinnes der Existenz zu wachsen. Der Weg der Freiheit macht also keinen Halt. Eine absolute oder völlig realisierte Freiheit gibt es nicht, sie ist immer unvollkommen: «Wie sie selbst, so ist ihr Gedachtwerden nur in Bewegung. Das Bewußtsein der Freiheit ist nicht mit einem einzigen charakteristischen Ausdruck auszusprechen».9 Jaspers stimmt mit Kant in der «Unerforschlichkeit der Idee der Freiheit»10 überein, in ihrer «Unentbehrlichkeit, als problematischen Begriffs, in voll-
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Karl Jaspers: Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung (Berlin: Springer, 41973) S. 48. Ibid. S. 49. Ibid. S. 185f. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. von Wilhelm Weischedel (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974) S. 202.
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ständigem Gebrauch der spekulativen Vernunft» sowie auch in ihrer völligen «Unbegreiflichkeit».11 Die Freiheit ist also unerkennbar, aber das Bewusstsein dieser Unerkennbarkeit macht sie doch irgendwie verstehbar: «Jeder objektive Beweis für und gegen die Freiheit wird erstens widerlegt; zweitens revoltiert gegen ihn ein Bewußtsein, welches sich gewiß ist, daß mit dem Sein von Objekten nicht alles Sein erschöpft ist. […] Freiheit ist weder beweisbar noch widerlegbar. So meint es Kant, der sie unbegreiflich nannte, und unsere Einsicht mit dem Begreifen dieser Unbegreiflichkeit erschöpft sah».12 Mit anderen Worten kann man die Freiheit nicht objektivieren, sie ist das größte «Rätsel» und die stärkste Gewissheit im persönlichen Selbstbewusstsein, die Erfahrung eines Rückgangs zum Ursprung. Aber «grade im Ursprung meines Selbstseins […] bin ich mir bewußt, mich nicht selbst geschaffen zu haben […]. Wo ich eigentlich selbst war im Wollen, war ich mir in meiner Freiheit zugleich gegeben».13 Den ganzen ethisch-existenzialen Weg des Einzelnen begleitend und anregend, spricht also die Transzendenz dank der Freiheit. In ihrem tiefsten Ursprung ist Freiheit daher das Ergebnis einer persönlichen Gewinnung, aber auch die Annahme einer Gabe. Der Existenzzirkel, d. h. der Zirkel von Freiheit und Entscheidung, ist ein wahrer nur, wenn er von einer unbedingten Einstellung, von dem Sinn der Unbedingtheit beseelt wird. Es gibt weder eigentliche Freiheit, noch volle Entscheidung zum Selbstsein – und daher auch keine realisierte Existenz –, wenn das Bedingte und das Kontingente den Anspruch auf die Echtheit meines Seins verdunkeln, welches bewusst ist, für sich selbst die Verantwortung zu tragen, zugleich aber auch sich selbst gegeben zu sein. Die Unbedingtheit ist «Grund des Handelns», nicht «das, was gewollt wird, sondern das, woraus gewollt wird […]. Aus ihr erwächst daher die absolute Verläßlichkeit und Treue». Dank der Unbedingtheit kann man Freiheit und Entscheidung in der Existenz miteinander verbinden. «Das Unbedingte entscheidet, worauf zuletzt eines Menschen Leben ruht, ob es Gewicht hat oder nichtig ist. Das Unbedingte ist verborgen, nur im Grenzfall lenkt es durch stumme Entscheidung den Lebensweg, ist nie geradezu nachweisbar, während es doch in der Tat das Leben aus der Existenz allzeit trägt und
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Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, hg. von Wilhelm Weischedel (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974) S. 112. Jaspers: Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 169. Ibid. S. 199.
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ins Unendliche erhellbar ist».14 Die wesentlich unbeweisbare Unbedingtheit kann nicht ins Endliche und Bedingte des objektiv Bestimmbaren und Motivierbaren eingeschlossen werden: sie kann von keinem Dasein abhängen, sondern nur durch ein solches wirken. Die unbedingte Handlung kann sich nicht beschränken lassen, weder von bestimmten Zwecken, natürlichen Vorkommnissen oder Kalkülen, noch von bedingten Zielen, Instinkten oder biologischem Dasein. Die unbedingte Handlung verursacht einen gewissen Bruch mit der Sphäre des Daseins und des Bewusstseins im Allgemeinen: der Mensch verliert seine Sicherheiten, gewinnt aber auf diese Weise die Möglichkeit, tatsächlich er selbst zu sein. Die unbedingte innerliche Handlung vermag der äußerlichen eine unbedingte Gestalt zu geben: um wissentlich unbedingt auch in der Welt handeln zu können, soll ich die Handlung als «geboten», als eine «Pflicht» fühlen, was nur möglich ist, wenn die Handlung wirklich für die eigentlichen Möglichkeiten meiner Existenz geeignet ist. «Das Sein des Sollens ist […] das Sein, das im Sollen sich selbst findet […]. Das Sein, das sein eigenes Sollen ist, ist […] Existenz, welche, was sie unbedingt tut, als gesollt versteht ». Das vom Anspruch auf das Unbedingte geförderte Sollen wird zur «Form der Gewißheit des Unbedingten», d. h. zu einer Art Interpretation und Versicherung dieser Gewissheit. Das Sollen drückt einfach die existenziale «Forderung, seine jeweilige Unbedingtheit im Gesetz zu verstehen» aus, nämlich das Gesetz als den «Reiz, an dem ich mich bewähre»15 zu betrachten. Mit anderen Worten: der Anspruch, das Sein und das Handeln als etwas Allgemeines zu erleben, aber ein Allgemeines, das nicht «gleichsam irgendwo als Formel auffindbar», sondern vielmehr «die individuelle Gestalt des Einzelnen in Entfaltung» ist.16 Die Geltung eigenen Handelns erscheint daher als der eigentümliche Beweis für die Geltung der ethischen Entscheidungen und charakterisiert sich zugleich als jenes Streben, das jede ethische Erfahrung beseelt, die aus keiner bloßen Entsprechung mit äußerlichen Gesetzen bestehen will. Nach Jaspers ist der eigentliche Sinn der Pflicht etwas Existenziales, nur zur Existenz spricht die lebendige Stimme des Sollens. Deswegen ist das objektive Sollen nicht bloß äußerliche Achtung vor Verhaltensregeln,
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Karl Jaspers: Was ist Philosophie? Ein Lesebuch (München: dtv, 1980) S. 63. Jaspers: Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 330f. Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen (Berlin: Springer, 1946) S. 390.
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sondern erfordert die Anerkennung jener Existenz, die solches Sollen als Möglichkeit ihrer Realisierung aufnimmt. Die Anerkennung des verpflichtenden Charakters der Autorität ist selbst eine Ausübung der Freiheit, und zwar verstanden als «transzendentale Freiheit, in der ich durch Gehorsam gegen geltende Normen mich frei als mich selbst finde», denn: «keine Freiheit ohne Gesetz».17 Aber wenn das Gesetz nur ein toter Mechanismus ist, der «widerstrebenden Gehorsam» und «blinde Unterwürfigkeit» erfordert, dann ist ein solches Gesetz einer dumpfen Willkürlichkeit ähnlich, d. h. es kann keine Freiheitsvermehrung fördern. Es zeichnet sich also bei Jaspers eine besondere Idee von moralischer Autonomie ab, die sich auf der einen Seite auf die Perspektive Kants bezieht, wonach jedes «von außen» wirkende Prinzip ausgeschaltet werden muss, auf der anderen aber von Kant Abstand nimmt, sofern das einzelne Ich in ihr die wesentliche Rolle spielt: obwohl jedes Ich nach dem Allgemeinen strebt, verliert es sich nicht im «Wir» der Vernunft, mit dem das Kantische Subjekt sich identifiziert.
3. Das Böse und das Gute Ausgehend vom Gesichtspunkt dieser Beziehung zwischen Einzelnem und Allgemeinem, zwischen Freiheit und Gesetz, deren Glieder sich nicht wechselseitig ausschließen, sondern einander bestimmen, ist es möglich, Jaspers’ Überlegungen über das Gute und das Böse zu verstehen. Aus ihnen geht hervor, dass die Frage nach dem Bösen im anthropologischen Horizont der menschlichen Verantwortung liegt, im schwierigen Zusammenspiel von Freiheit und Wille. Wie wir in Philosophie und in seinen übrigen Werken erkennen können, denkt Jaspers, dass zwischen Gut und Böse nicht nur ein inhaltlicher Unterschied besteht, sondern auch ein solcher hinsichtlich der Form des Wollens, d. h. seiner Intentionalität. So schreibt Jaspers in Philosophie: «das Böse eignet keinem bestehenden Sein, keiner empirischen Wirklichkeit, und keinem idealen Gelten, sondern es ist, weil Freiheit ist. Der Wille allein ist es, der böse sein kann».18 Das Böse stammt in der Tat aus jenem Willen, der die Möglichkeit der existenzialen Realisierung ablehnt und sich schließlich gegen sich selbst richtet. Das Böse 17 18
Jaspers: Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 178. Ibid. S. 170.
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ist der an das verabsolutierte Dasein «gefesselte» Wille, aber auch der in der Selbstgefälligkeit lebende, der davon überzeugt ist, das Gute zu besitzen und es als ein objektives Faktum zu beherrschen. In Einführung in die Philosophie unterteilt Jaspers das Gute und das Böse in drei verschiedene Stufen: in die moralische, ethische und metaphysische. Auf der moralischen Stufe besteht das Böse aus einem Nachgeben gegenüber den sinnlichen Neigungen und Trieben, das Gute hingegen aus der Unterwerfung des Daseins unter das allgemeine «Gesetz des moralisch richtigen Handelns». Die ethische Stufe betrachtet die Abhängigkeit des Unbedingten vom Bedingten als das Böse und hält hingegen das Verhindern der ständigen, mit nicht reinen Motiven verbundenen Selbsttäuschung, das die ursprüngliche Würde des Unbedingten zu gewinnen sucht, für das Gute. Die metaphysische Stufe betrifft das Böse als Böses an sich, als nihilistischen, aus dem Hass stammenden Willen zur Zerstörung, und bezeichnet das Gute als das Unbedingte, den Willen zur vollen Selbstrealisierung, die Liebe: Jedesmal zeigt sich eine Alternative und damit die Forderung der Entscheidung […]. Die Entscheidung hat auf jeder der drei Stufen ihren eigenen Charakter. Moralisch meint der Mensch seinen Entschluß denkend als den richtigen zu begründen. Ethisch stellt er sich aus der Verkehrung durch eine Wiedergeburt seines guten Willens wieder her. Metaphysisch wird er sich bewußt, sich selbst geschenkt zu sein in seinem Liebenkönnen […]. Erst in der Einheit dieses Dreifachen geschieht die Verwirklichung des Unbedingten.19
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Diese Dreiteilung scheint der Kantischen Überlegung über die drei Grade der Gliederung der Tendenz zum Bösen zu entsprechen: Erstlich, ist es die Schwäche des menschlichen Herzens in Befolgung genommener Maximen überhaupt, oder die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur; zweitens, der Hang zur Vermischung unmoralischer Triebfedern mit dem moralischen (selbst wenn es in guter Absicht, und unter Maximen des Guten geschähe), d. i. die Unlauterkeit; drittens, der Hang zur Annehmung böser Maximen, d. i. die Bösartigkeit der menschlichen Natur oder des menschlichen Herzens.20
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Bei Kant ist eine solche Gliederung der Grade des Bösen Ausdruck des Prinzips des «radikalen Bösen» im Menschen, das die allen Menschen eigene 35
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Jaspers: Was ist Philosophie?, op. cit. S. 66f. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in Kants Werke, Bd. VI, hg. von Artur Buchenau, Ernst Cassirer und Benzion Kellermann (Hildesheim: Gerstenberg, 1973) S. 168f.
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Möglichkeit darstellt, moralische Gebote zu übertreten, die «Maxime», sich manchmal vom moralischen Imperativ zu entfernen. Die Tendenz zum Bösen ist in der Tat für Kant «der formale Grund aller gesetzwidrigen Tat»,21 oder, anders ausgedrückt, wie Jaspers in der Schrift Das radikale Böse bei Kant erklärt: «das radikale Böse macht die Grenze unseres sittlichen Könnens fühlbar»,22 bzw. stellt die ständige Möglichkeit des menschlichen Rückfalls in den Horizont des Bösen dar. Bei Jaspers, wie auch bei Kant, liegt die Eigentümlichkeit dieser Tendenz darin, dass sie nicht etwas Natürliches, sondern etwas die Freiheit und den Willen des Menschen Betreffendes ist. Das Prinzip des Bösen, schreibt Kant, kann «in keinem die Willkür durch Neigung bestimmenden Objekte, in keinem Naturtriebe, sondern nur in einer Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht» sein.23 Obwohl das Böse offensichtlich von der Freiheit und vom Willen des Menschen abhängt, bleibt der Ursprung seiner Möglichkeit im menschlichen Leben trotzdem unbekannt: «Das ist der Grundtatbestand, der uns zwingt, den eigentlichen Weg im Medium aller Wissbarkeiten zuletzt aus dem Ursprung eines Nichtwissens zu finden, und hier nicht nur für die einzelne Handlung, sondern für uns selbst verantwortlich zu werden».24 Diese Unbekanntheit, dieses Nichtwissen, diese Unmöglichkeit, die Freiheit der moralischen Tat durch eine beliebige Form von Wissen zu beherrschen, stellt einen weiteren Bezug auf die jede Art Denken übersteigende Transzendenz dar. Aber auch zu Beginn des Guten steht das Geheimnis, das Geheimnis der persönlichen Freiheit. Auch für Jaspers scheinen die Worten Kierkegaards zu gelten: «Das Gute ist die Freiheit. Erst für die Freiheit oder in der Freiheit ist der Unterschied zwischen Gut und Böse und dieser Unterschied ist nie im Abstrakten sondern nur im Konkreten».25 Da das Gute zur Freiheitssphäre gehört, befreit uns die Unkenntnis vom Ursprung des Guten nicht davon, es realisieren zu sollen. Wie bei Kant besteht das Gute aus einer Art gutem Willen, der nicht vom Vermögen charakterisiert wird, die natürlichen Triebe aufzuheben, sondern davon, sich von diesen entfernen zu 21 22 23 24 25
Ibid. S. 170. Karl Jaspers: Das radikale Böse bei Kant, in ders.: Rechenschaft und Ausblick (München: Piper, 1958) S. 124. Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, op. cit. S. 178. Jaspers: Das radikale Böse bei Kant, op. cit. S. 120. Søren Kierkegaard: Der Begriff Angst, in ders.: Gesammelte Werke, 11. und 12. Abt., hg. von Emmanuel Hirsch und Hayo Gerdes (Köln: GTB Siebenstern, 1983) S. 114.
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können und sie nicht als Bestimmungsgrund der Handlung gelten zu lassen. Das Gute ist ein Kampf, und zwar ein Kampf gegen die Versuchung der auf sich selbst angewiesenen sinnlichen Neigung. Böse ist nicht die Existenz der Versuchung, sondern ihr nicht widerstehen zu können. Das Gute ist letztlich die Spannung zur vollen Realisierung der Existenz, daher ist es nie befriedigendes Ergebnis, sondern ständige Erlangung, da es andernfalls zu einem neuen Mittel des Bösen würde. Das Gute ist die Unbedingtheit, der Imperativ der Echtheit, der den Existenzweg begleitet und ihn zum vollen Einklang von Sein und Handeln führt.
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4. Gewissen und absolutes Bewusstsein
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Das Unterscheidungskriterium des Guten vom Bösen, obwohl kein absolutes, ist für Jaspers das Gewissen. Im Gewissen spricht eine Stimme zu mir, die ich selbst bin. Sie ist nicht einfach jeden Augenblick da; ich muß hören können, um ihr leises Wecken zu vernehmen; ich muß in der Unbestimmtheit warten können, wenn sie schweigt; […] ich höre sie laut und habe Mühe, sie zu übertäuben, wenn ich gegen sie handeln will. Es ist wie in einer Zerspaltenheit meines Seins die Kommunikation meiner mit mir selbst, Ansprechen meines empirischen Daseins durch den Ursprung meines Selbstseins. Niemand ruft mich an; ich selbst spreche zu mir. Ich kann mir weglaufen und kann zu mir halten. Aber dies Selbst, das ich eigentlich bin. weil ich es sein könnte, ist nicht schon da, sondern spricht aus dem Ursprung her, mich in der Bewegung zu führen; es schweigt, wenn ich in der rechten Bewegung bin, oder wenn ich mich ganz verloren habe.26
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Kurz gesprochen ist «das Gewissen die Stimme am Wendepunkt, die in der Bewegung zu unterscheiden und zu entscheiden fordert», eine Stimme, die Jaspers ausführlich erörtert27 und die notwendig mit der Entscheidung verbunden ist: «Hat Gewissen mich zur Unterscheidung gebracht, fordert es, mich zu entscheiden: nicht da zu sein, wie ich nun einmal bin, sondern zu ergreifen, als was ich sein will. Aus der Möglichkeit des Vielen gehe ich im Entschluß als ich selbst hervor». Jaspers interessiert sich nicht so sehr für die von der Exaktheit der Wertbestimmungen und der mit Blick auf die Ergebnisse bedingten Entscheidung, als vielmehr für die existenziale Entscheidung, «als eigentliche Gewissensantwort», die unbedingt ist und für welche 26 27
Jaspers: Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 268. Siehe ibid. S. 268-275.
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«der Erfolg als Ausfall der Konsequenzen im Gelingen und Scheitern in der Welt [ist] kein Beweis für oder gegen» ist. Der existenziale Entschluss ist nicht mit dem Gefühl und dem Trieb gleichzusetzen und für ihn gibt es außerdem, trotz Erkenntnis und Erfahrung, kein sicheres Fundament. Der Entschluss ist vielmehr die «Reife», da sie die «Wirklichkeit nach dem Möglichen» ist: eine «Reife, die nicht Vollendung, sondern Anfang der Bewegung ist, als die sie in der Zeit erscheint. Der beweisende Erfolg ist nicht mehr der Ausfall der Glücksumstände, sondern die Treue, die sich als Bindung an den Entschluß, an Herkunft und Entscheidung in allen Situationen bewährt. Diese Bewegung ist Enthusiasmus, der noch findet und wie ewige Jugend des Entschlusses ist; sie ist die Leidenschaft, die, was möglich ist, auch verwirklichen will». Ich und mein Entschluss sind nicht zweierlei. Ich bin mein Entschluss und zugleich meine Unentschlossenheit, die oft Zerreißung ist. «Bin ich aber entschlossen, so nur ganz ». Der Augenblick der Entscheidung – jener eigentliche Augenblick des zur Zeit werdenden Ewigen, genauso wie bei Kierkegaard – ist der Keim, der als das ganze Leben sich entfaltet, das Selbstsein im ganzen, wie es in der Folge seiner Gestalten sich bestätigend wiederholt. Im Entschluß ist eine Unvertilgbarkeit als Härte in aller Verwandlung seiner Erscheinung. Aber diese Kraft der Entschlossenheit ist nicht schon als vitale Kraft und unbekümmerter Mut, wie man etwa von entschlossenen Männern spricht; sondern aus der Entscheidung die in aller Weichheit des Hörens und Regierens bleibende Entschlossenheit des innersten Selbstseins, das alles wagen kann.28
Die Entscheidung entsteht also aus dem Gewissen, das aber seinerseits nur eine formale Bestimmung hat, es ist nicht Fülle und Vollendung, weil es Hinweis auf einen anderen Ursprung ist, auf das absolute Bewusstsein, von dem es nur eine der möglichen Modalitäten darstellt. Ohne das absolute Bewusstsein scheinen die Handlungen des Gewissens leer zu sein: «Sogar positive Handlungen, die ich aus der wie von außen an mich herankommenden Forderung des Gewissens tue, bleiben so lange leer, als sich in ihnen kein absolutes Bewußtsein des zur Einheit mit sich gekommenen Selbstseins erfüllt; sie behalten den Charakter der Negativität. Wenn jedoch die Stimme des Gewissens, eins mit mir im Dasein geworden, nicht mehr zu sprechen braucht, sondern schweigt, weil ich ich selbst bin, ist die Freiheit Notwendigkeit, das Wollen Müssen».29 28 29
Ibid. S. 270. Ibid. S. 269.
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Das absolute Bewusstsein hat einen wesentlichen Orientierungscharakter für die Existenz, denn es ist ihr Ursprung. Das absolute Bewusstsein ist kein psychologisches Erlebnis oder eine verallgemeinernde und objektivierende Dimension, sondern es erscheint an der Grenze dessen, was intellektuell verständlich und psychologisch erfahrbar ist. Die volle Echtheit der Existenz selbst, die absolute Innerlichkeit, besteht gerade aus der Eigentümlichkeit dieses absoluten Bewusstseins, das heterogen und den anderen Bewusstseinsarten transzendent ist – mit logisch-psychologischen Begriffen unverständlich. «Absolutes Bewußtsein ist nicht als allgemeine Form; in ihm ist Form und Gehalt nicht trennbar. Der Gehalt selbst in seiner ursprünglichen Erscheinung ist das absolute Bewußtsein als Gewißheit der Existenz».30 Es handelt sich um keine Art des Wissens, sondern um die ursprüngliche Quelle der mannigfaltigen Verhaltensweisen und Entscheidungen, der verschiedenen Geisteseinstellungen, und als solches ist es innerliche Synthese des existenzial verwickelten Weges jedes Einzelnen: «Absolutes Bewußtsein» soll das ineinsfassende Signum für das Bewußtsein der Existenz sein. In ihm als dem Bewußtsein eigentlichen Seins aus unbedingtem Ursprung finde ich, sofern ich als empirisches Dasein haltlos und suchend bin, Halt und Befriedigung; sofern ich unruhig bin, Ruhe; sofern ich in Streit und Spannung liege, Versöhnung; sofern ich eigentlich frage, Entscheidung.31
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Die Überlegung über das absolute Bewusstsein bringt also etwas Neues zur bloß formalen, von Kant stammenden Charakterisierung des Gewissens. Das formale Prinzip ist nach Jaspers in der Tat mit der Ausleuchtung all jener besonderen Erfordernisse zu ergänzen, die nicht befriedigend von einem allgemeinen Gebot ableitbar sind, weil sie absolute Entscheidungen des «So-tun-Müssens»32 fordern. Nach Philosophie liegt also der Ursprung des absoluten Bewusstseins in jenen Bewegungen und Dimensionen, die seine Fülle zu Tage treten lassen, nämlich in der Liebe, im Glauben, in der Phantasie und in ihrem wesentlichen Zusammenspiel: Liebe ist immer aktives Vertrauen auf den Anderen und kontemplative Phantasie. Sie hilft, die Dynamik des Glaubens zu verstehen und die Horizonte der Phantasie zu fördern, und Glaube und Phantasie können nicht umhin, Liebe und Hingabe zu fördern. 30 31 32
Ibid. S. 257. Ibid. S. 258. Jaspers: Was ist Philosophie?, op. cit. S. 72.
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Liebe ist die Anwesenheit des Unendlichen im Endlichen, der Transzendenz in der Immanenz, der Ursprung von allem Wesentlichen, das jedoch unsagbar ist: «Wirkliche Liebe macht zugleich die sittliche Wahrheit ihres Tuns gewiß.»33 Glaube ist unerschütterliches Vertrauen, Hoffnung, Bereitschaft zur unbedingten Handlung, Bewusstsein vom Sein der Transzendenz und zugleich des Scheiterns jedes Versuchs, solche Transzendenz zu ergreifen. Phantasie ist dagegen Ort des Möglichen, Raum der Seinserfahrung in der Existenz, da sie intuitive oder spekulative Wahrnehmung der Schönheit und Unentgeltlichkeit ist. Die «ursprünglichen» Bewegungen des absoluten Bewusstseins brauchen einige sie verstärkende und aufbewahrende Einstellungen, wie die Ironie und das Spiel, den Rückhalt und die Stille, aber vor allem benötigen sie das Bewusstsein vom Nichtwissen. Wie im Fall der Frage nach dem Bösen, so ist auch im Bereich des absoluten Bewusstseins die Rolle des Nichtwissens wichtig, um klar zu machen, wie das Positive aus dem Negativen entsteht, wie die Anerkennung der Grenzen Reiz zur Vermehrung des Wissens ist. Für die Fülle des absoluten Bewusstseins gibt es kein Wort, der Sprache fehlen die Ausdrücke: die Distanz zwischen Wirklichkeit und Wort, die immer die Überlegung über die Existenz begleitet, wird jetzt zum Bruch. Liebe, Glaube, Phantasie, sowie auch die anderen Bewegungen des absoluten Bewusstseins, sind nicht wie «Kategorien ihrem Gegenstand adäquat, sondern nur wie Zeiger auf ein Ungegenständliches, ganz Gegenwärtiges, als Freiheit Seiendes, dem kein anderes Sein als das in seinem eigenen Tun zukommt».34 Wenn die Existenzerhellung – als jenes Leben benötigende Denken – «die Achse des Philosophierens» ist, «so trifft das absolute Bewußtsein das Innerste der Existenz selbst. Es ist zu versuchen, Zeiger zu finden, die auf diesen Ursprung weisen. Die Paradoxie des Philosophierens im Sagen und Nichtsagen, im Zirkel und im Verschwinden des Gemeinten, ist der Ausdruck der Unerfüllbarkeit der Aufgabe».35 Das absolute Bewusstsein kann also nicht zu einem Thema, einem regelrechten Gegenstand des Philosophierens werden. Vielmehr kann es Ausgangspunkt eines solchen sein, weil es den Grund meines echten Seins darstellt. 33 34 35
Ibid. S. 67. Jaspers: Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 258. Ibid. S. 260.
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Da das absolute Bewußtsein nicht als empirisches Dasein gewußt und überhaupt durch kein Wissen von ihm zum Besitz für mich wird, so kann es nur im Sicherringen sein. Das absolute Bewußtsein, das sich nur in der Bewegung hat, vollzieht sich daher mit dem Wissen der Gefahr: sich zu gewinnen oder zu verlieren, selbst zu werden oder zu zerrinnen.36 5
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Deswegen bevorzugt Jaspers Vorstellungen des absoluten Bewusstseins als etwas Dynamischen, etwas nie komplett durch definitorische Lehrsätze und «endgültiges» Wissen Verständlichen: «Existentielle Seinsgewißheit, die sich im Denken vergewissern möchte, ist ursprünglich schon ein philosophisches Tun, ein Denken, das sich im Philosophieren nachdenkt und vordenkt, um in seiner Wirklichkeit entschiedener sein zu können».37 In diesem Fall sagt das philosophische Wort kaum etwas, spielt an, weist hin, ist bloß Verweis auf das scheinbar Unbegreifliche und trotzdem auf höchste Weise Offenbare.
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Die Nichtwißbarkeit des im absoluten Bewußtsein bewegenden Ursprungs bedeutet: ich entspringe, aber kann mich nicht umwenden; ich komme her, aber kann den Grund nicht betreten. Kann ich auch weder sein Sein noch sein Nichtsein wissen, so doch als mögliche Existenz, die zu sich selbst und zur anderen Existenz sich verhält, ihn spüren. Sein Nichtsein ist in mir selbst fühlbar an der Leere, in der ich die Freiheit fliehen und mich an Objektivitäten klammern will; im Anderen, wenn die Ansprechbarkeit ausbleibt, er mir gleichsam entrinnt, als ob er gar nicht selber da wäre, wenn ich als ich selbst die Beziehung mit ihm selbst suche und immer wieder gezwungen bin, ihn zum Objekt zu machen. Was in gelingender Kommunikation im Anderen als das Absolute Bewußtsein gegenwärtig, aber nie als ein Gegenüber greifbar ist, wird im erhellenden Sprechen darüber zugleich auch verdeckt.38
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Philosophie darf sich also nicht mit dem Schweigen zufrieden geben, sondern muss sich vom Nichtwissen unterweisen lassen, das seinerseits nur eine existenziale Bewegung des Einzelnen ist, eine Gewissheit, die uns das absolute Bewusstsein in seiner Echtheit erfahren lässt, obwohl sie manchmal Schauer, Angst und Schwindel erwecken kann. Darin liegt letztlich der Sinn der Jaspers’schen Überlegungen über das absolute Bewusstsein als Wahrheitsmoment der Existenz in Bezug auf sich selbst, und zugleich auf die Transzendenz, aber auch als Ort des Zusammenspiels zwischen ethischer und meta-ethischer Dimension. 36 37 38
Ibid. S. 261. Ibid. S. 260. Ibid. S. 258f.
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Während das absolute Bewusstsein dazu befähigt, das Neue des mir Anderen aufzunehmen, die Gabe der Transzendenz anzunehmen, öffnet es die Existenz gegenüber der verantwortlichen Bemühung, die sich in der Kommunikation mit den Anderen zeigt und sich geschichtlich auch in der Auseinandersetzung mit den Grenzsituationen zeigt. Von Philosophie und von der Existenzerhellung ausgehend, führt uns eine vollständigere Untersuchung über die Formen des Gewissens und die ethische Dimension von Jaspers’ Denken zwangsläufig zu jenen späteren Reflexionen über Politik, über den philosophischen Glauben und den Offenbarungsglauben, sowie über den Zusammenhang von existenzialer Kommunikation und Kommunikation im allgemeinen Sinn, die einige der interessantesten Schwerpunkte des Jaspers’schen Denkens nach dem Zweiten Weltkrieg darstellen. Diese späten Themen Jaspers’ liegen eigentlich dem existenzialen Horizont der 1920er und 1930er Jahre näher, als man auf den ersten Blick glauben könnte.
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C LAUDIO F IORILLO
Die einende Grenze: Paradoxon, Kommunikation, Leid
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Limit, for Karl Jaspers, is not something to be overcome, simply leaving it behind (‹the Same that already was›). Nor is it something to be kept in prospect as an ulterior perspective (‹the Other›), but rather as something to ‹live in›, to dilate on and sound out in all its turns. Jaspers’s philosophy is, in its multiple facets, a great and reiterated attempt to express Limit from many possible perspectives (the medical, the scientific, the psychological, the philosophical, the theological, the political etc), because limit does not exist unless lingered on. This article, therefore, interprets Jaspers’s life along with his way of thinking and analyzes the concept of Limit in its ontological (paradox), ethical (freedom) and existential (suffering) meaning. In its existential meaning the existential peculiarity of the ‹joining limit› in particular is in evidence: the Way of Suffering (Weg des Leidens) or the lived experience of human limits as the power that pushes man to lead a ‹vita activa›, in spite of the inevitable clash against any disparate Limit. But this is possible only by hanging on to existential communication, even if in dürftiger Zeit, in time of privation.
1. Die Notwendigkeit der Frage nach der Grenze: das zu rettende «Gegenüber» 25
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1999 widmete die in Neapel veranstaltete, internationale Tagung1 drei ihrer Vorträge dem Thema der «Grenze» in Jaspers’ Werk. Es handelt sich um folgende Beiträge: Comprendere ed esistere. «Limite» e «comunicazione illimitata» in Karl Jaspers von Donatella Di Cesare, Il concetto di limite nel «Nachlass» sulla Logica filosofica von Silvia Marzano und schließlich um Consapevolezza del limite e responsabilità dell’esistere von Angela Giustino. Zu ihnen gesellen sich Reiner Wiehls Betrachtungen über das Ethos der Differenzierung, das dem Ethos der Begrenzung des Jaspers’schen Denkens2 entspricht. Unbeschadet des Dankes für die durch diese Beiträge ge-
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Vgl. Filosofia esistenza comunicazione in Karl Jaspers, hg. von Donatella Di Cesare und Giuseppe Cantillo (Napoli: Loffredo, 2002). Reiner Wiehl: La filosofia dell’esistenza come etica in Karl Jaspers, in Filosofia esistenza comunicazione in Karl Jaspers, op. cit. S. 25-40.
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wonnenen Denkanstöße, ist es jedoch sinnvoll, nach dem Grund eines solchen Beharrens zu fragen und über die eventuelle Bedeutung eines heutigen, erneuten Zurückkommens zum Thema der Grenze. Nur innerhalb des durch Jaspers’ fruchtbare Betrachtungen umrissenen Horizonts des Grenzbegriffes sind der Mensch, die Existenz und ihre Möglichkeiten, sowie die Transzendenz selbst denkbar. Und gerade um den Begriff der Grenze findet die Auseinandersetzung oder der liebende Kampf zwischen Vernunft und Glaube statt. Die Frage nach der Grenze führt denjenigen, der Jaspers’ Gedankengang weiter verfolgt, zur Ansicht, die vorrangige Aufgabe der philosophischen Betrachtung sei es, die Verbindung zwischen Grenze und Möglichkeit weiter zu denken. Ein Weiterdenken, das jedoch auch ein logon didonai erfordert, das heißt durch verschiedene Verstandeskategorien über die Realität der Grenzerfahrung Rechenschaft abzulegen. Gerade Jaspers ist es durch sein Denken, ja durch sein Leben selbst gelungen, uns von der Unausweichlichkeit einer solchen Betrachtung und von der Dringlichkeit eines tieferen Erforschens zu überzeugen, im Versuch, immer neue Paradigmen der Sagbarkeit der Grenze (also der Sagbarkeit des Menschlichen) zu finden. Grenze und Möglichkeit bilden einen Kreislauf (den wir auch hermeneutisch nennen können), innerhalb dessen ein Begriff sich in sein Gegenteil umkehrt, ohne sich jedoch zu erschöpfen. Es ergeben sich stattdessen nicht wenige fruchtbare Elemente und nur im gleichzeitigen Vorhandensein beider, in ihrer jeweiligen Andersartigkeit, geschieht etwas für das vorurteilslos forschende Denken. Meiner Ansicht nach kann das Verhältnis zwischen Grenze und Möglichkeit aus dreierlei unterschiedlichen Perspektiven gesehen werden: aus einer ontologischen, die den Weg zum Paradoxon erschließt, aus einer ethischen, die zur Kommunikation führt und schließlich aus einer existentiellen, die sich dem öffnet, was wir – mit Jaspers’ eigenen Worten – den Weg des Leidens nennen können. Bezüglich der ersten beiden Perspektiven gibt es schon eine nicht unbeachtliche Menge historischer Ergründungen; daher werde ich mich mit dem «Weg des Leidens» befassen. Ein zweiter Grund, warum es meiner Ansicht nach angebracht ist, noch einmal auf den Begriff der Grenze zurückzukommen, ist die außerordentliche, sich in ihm verwirklichende Konsonanz zwischen Materie und Form. Dem Begriff der Grenze widerfährt das, was auch seinem Inhalt widerfährt: beide erleiden das Schicksal des Unbeachtetbleibens, da man immer über sie hinausgeht: von Grenze kann nicht gesprochen werden, es sei denn im Sinne einer Grenze «von» etwas. Und sie ist Grenze nur insofern, als sie, mehr oder
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weniger direkt daran anschließend, den Platz dem Nachfolgenden freigibt; so ist der Begriff der Grenze sofort überholt und wird in gewissem Sinne vom nachfolgenden Genitiv erfüllt. Wir können also nicht umhin, von der Grenze (oder den Grenzen) des Endlichen, der Philosophie, des Menschen oder des Verstehens, usw. zu sprechen.3 Sich mit dem Thema der Grenze zu befassen bedeutet auch, die Aufmerksamkeit vom Genitivobjekt auf das Subjekt zu übertragen, das heißt, die Grenze zum Subjekt werden zu lassen. Dies ist jedoch ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, da sich die Grenze ihrem Wesen nach jedem Bestimmungsversuch entzieht, ist sie doch selbst ein Grenzen schaffender Begriff. Ähnliches geschieht auch mit dem Subjekt als solchem, das heißt dem Menschen: beide sind ein nicht zum reinen Objekt degradierbares Etwas, das jedoch nur durch die Auswirkungen seines Handelns und seiner Grenzen erklärt werden kann, durch die Bezugnahmen, die es in sich birgt und die es ermöglicht. In diesem Lichte, das man lateral nennen könnte, und in gewissem Sinne noch vor der Unterscheidung zwischen Grenze und Schranke (zwischen bewusster Grenze und verbietender Schranke, bzw. zwischen «Übergang in ein Anderes» und «Übergang in dasselbe, was vorher war» – um Begriffe aus dem Nachlaß über die philosophische Logik 4 zu verwenden), wird die Grenze zur Chiffre des Transzendierens.5 Würde ich mich auf den anschließenden Genitiv beschränken, so wäre es, als ob ich das Darüber-Hinausgehen vollenden würde, das in letzter Instanz das Philosophieren an sich ist. Es wäre ein Vollenden, das sicher mit etwas Anderem einhergehen würde (sei dies im Sinne des Anderen und der dem Begriff «Grenze» innewohnenden Transzendenz, wie auch im Sinne Desselben und des dem Begriff «Schranke» innewohnenden Sinns des Endlichen); dies würde jedoch einen nicht unbedeutenden Verlust mit sich bringen: den Verlust der Grenze, also auch der Möglichkeiten, die die Grenze eröffnet (wenn auch indem sie
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Zum Thema der Grenze in Jaspers’ frühen Werken vgl. Giuseppe Cantillo: Introduzione a Jaspers (Roma, Bari: Laterza, 2001) S. 25ff. Vgl. Silvia Marzano: Il concetto di limite nel «Nachlass» sulla Logica filosofica, in Filosofia esistenza comunicazione in Karl Jaspers, op. cit. S. 112ff. (die Bezugnahme auf den Text des Nachlasses ist auf S. 264). Chiffre eines Handelns, das in sich nicht bestimmbar ist und vielleicht auch unmöglich auszuführen ist, oder «Chiffre der Chiffre», wie Donatella Di Cesare in genanntem Essay sagt (vgl. Comprendere ed esistere. Limite e comunicazione illimitata in Karl Jaspers, in Filosofia esistenza comunicazione in Karl Jaspers, op. cit. S. 86).
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über sie selbst hinaus verlagert werden), da sie nicht mehr Dasselbe, aber auch noch nicht ein Anderes ist. Andererseits will Jaspers’ Philosophie ja eine Philosophie des Endlichen sein, der die Transzendenz nicht fremd ist: Jaspers beabsichtigt nicht, jenen Sprung in voller Spannweite zu wagen, den er jedoch immer ankündigt und vorbereitet. Er erwählt jenen sozusagen vorletzten 6 Ort als Wohnstatt, nämlich die Philosophie als Bemühung des Über-sich-Hinausgehens, der Transzendenz eben, gleichzeitig bleibt er jedoch in der Geschichtlichkeit als unumgänglichem Prinzip jedes möglichen Philosophierens verankert. Jaspers’ Philosophie des Endlichen unterscheidet sich also grundlegend von den Schranken (oder Begrenzungen) des Endlichen. Im Denken wird das Subjekt nicht in sich verschlossen, im Gegenteil, es lässt ein «Jenseitiges» aufscheinen, das es zu retten gilt. Eine auf die Grenze des Endlichen bezogene Betrachtung läuft Gefahr, eine auf das Endliche (Dasselbe) bezogene Betrachtung zu werden oder eine Betrachtung über das, was nicht endlich ist (das Andere). Die auf die Grenze bezogene Betrachtung hält das Endliche an der teilenden und einenden rätselvollen Schwelle7 zurück, hält es zurück vor dem Jenseitigen, hält die Existenz vor der Transzendenz zurück, Dasselbe vor dem Anderen, und im über die Grenze Hinausschauen ist sie fähig, gleichzeitig die Grenze und deren Möglichkeit zu denken. Jeder auf seine Weise, wie antagonistische, jedoch in der Grenze geeinte Pole, sind Endliches und Unendliches für die Existenz jene ihr «angesichts stehende» Transzendenz. Der Begriff «angesichts» taucht in Jaspers’ Werken sehr häufig auf und ist Hinweis auf eine klare philosophische Haltung: die Grenze zu denken bedeutet, sich an dieses «angesichts» zu halten, bzw. jene Distanz beizubehalten, die eine Entfaltung der Möglichkeiten des Denkens, der Existenz ermöglicht. Im gleichen Sinne sind weitere, von Jaspers verwendete Begriffe zu sehen, wie «aus der Weite» und «quer»; auch diese sind häufig wiederkehrend und der Grenze bewusst, so sehr, dass der verstorbene Giorgio Penzo – an den unsere liebevolle Erinnerung und unsere Ehrerbietung gehen – sie als Kategorien der «Durchsichtigkeit» definiert, die Penzo wiederum als Interpretation der Transzendenz versteht.8
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Vgl. Francesco Miano: Etica e storia nel pensiero di Karl Jaspers (Napoli: Loffredo, 1993) S. 75. Vgl. Karl Jaspers: Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung (Berlin: Springer, 31956) S. 41. Vgl. Giorgio Penzo: Dialettica e fede in Karl Jaspers (Bologna: Patron, 31981) S. 235-272.
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2. Die ontologische Satzung der Grenze: das Paradoxon
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Die Aufgabe, die ich mir zu dieser – wie auch bei anderer – Gelegenheit9 vorgenommen habe, ist die, das Thema der Grenze zu vertiefen, nicht so sehr im Sinne einer Schilderung der Entstehung und der daraus sich ergebenden Betrachtungen (was ja schon weitgreifend geschehen ist), sondern mit der Absicht, die bestehenden alternativen Varianten auszumachen, die abgebrochenen Fragmente, die jedoch möglicherweise fruchtbar sind und eine theoretische Aktualität aufweisen. Deshalb schrecke ich nicht davor zurück, während die Veröffentlichung der Notizen und der noch unveröffentlichten Werke von Jaspers weiterläuft, den entgegengesetzten Weg zu gehen, das heißt, zur Philosophie zurück zu kehren, ja – wenn möglich – sogar noch weiter zurück, zur Psychologie der Weltanschauungen, im Bewusstsein, dass das Denken des Vorher im Lichte des Nachher eine weitere Form der philosophischen Untersuchung ist, die durchaus weiterführende Möglichkeiten in sich trägt, auch in der Bemühung, zwischen den bereits gelesenen und allgemein bekannten Zeilen weitere Denkanstöße auszumachen. Bei einer ersten Betrachtung scheint mir, dass Jaspers die Grenze als Etwas sieht, das man nicht überwindet, indem man es einfach hinter sich lässt («dasselbe, was vorher war»), aber auch nicht als Etwas, das man sich immer vor Augen halten muss, als zukünftige Perspektive (das Andere); vielmehr ist sie Etwas, dem man innewohnen soll, das in all seinen Aspekten vertieft und ausgelotet werden muss. Jaspers’ Philosophie ist in all ihren Facetten ein einziger, wiederholter Versuch, die Grenze von verschiedenen Standpunkten aus zu beschreiben (dem medizinischen, wissenschaftlichen, psychologischen, philosophischen, theologischen, politischen …), da sie nicht besteht, sofern man nicht an ihr innehält. Ein Ansatz zur Auseinandersetzung mit der Frage nach der Grenze bei Jaspers kann nur innerhalb eines genau definierten Begriffhorizonts stattfinden, im Rahmen dessen die Frage nach der Grenze im weiteren Sinne – d. h. dessen, was ein Hindernis, einen Widerstand bildet, aber auch dessen, was wie eine Schwelle öffnet – eindeutig zentral und wiederholt ist. Von Kants Denken ausgehend, jedoch über ihn hinausweisend, kreist Jaspers’ philosophische Betrachtung um das, was bereits für Fichte ein Anstoß war, 9
Vgl. Claudio Fiorillo: Karl Jaspers e l’idea di una «fede filosofica» (Roma: Leonardo da Vinci, 1999); ders.: Fragilità della verità e comunicazione (Roma: Aracne, 2003).
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der ein Widerstand ist; dieser ist jedoch nicht als einfache, dem Subjekt innewohnende Dialektik zu sehen, und kann auch nicht als bloßes pathologisches Phänomen im Sinne Kants erachtet werden, also als rein passive Dialektik. Spricht man von Grenze, so umreißt man dabei einen Kontext der Gegensätze: innen / außen, innerlich / äußerlich, Subjekt / Objekt, Dasselbe / das Andere … Und doch will Jaspers Abstand nehmen vom Spiel der gegenseitigen Bestimmung von Subjekt und Objekt, ebenso wie vom Hegel’schen Innen-Außen-Kreislauf, der durch die Betrachtungen Victor Eremitas bei Kierkegaard existentiell bereits dementiert wurde. Im Gegenteil, Aufgabe des Denkens scheint es zu sein, die Grenze, die die gegenübergestellten Begriffe trennt (Existenz und Transzendenz in primis), zu erklären, vertiefen, beschreiben, um die getrennten Begriffe auf jeden Fall gemeinsam zu denken. Nur ein dem Paradoxon gegenüber offenes Denken ist befähigt, jenes als Eines zu denken, das in der Grenzsituation entgegengesetzt ist. Das Paradoxon ist für das Denken, was für die Existenz die erlebte Grenzerfahrung ist. Die durch das Denken stattfindende Synthese geschieht über die Ausdehnung der Schwelle, wodurch die gegenüber gestellten Begriffe in ihr, und nur in ihr, real werden. Dieser synthetische Gedanke wird jedoch zerfetzt im Widerstreit von Erfordernis und Unfähigkeit; die unvollkommene Synthese schwebt ständig in der Gefahr unterzugehen (entweder in der Sterilität des Kreislaufs oder in der Unmöglichkeit einer umfassenden Ableitung). Es geht also daraus die epistemologische Unzulänglichkeit einer theoretischen Lehre hervor, die bereits bei Kant und auch bei Fichte erforderlich macht, die Untersuchung zum Praktischen und zur Ethik hinzuwenden. In der Praxis der Existenz erlebt die Grenze ihre volle Valenz: wie bei Fichte brachte die existentielle Überwindung nicht die Annullierung des Nicht-Ichs mit sich, sondern nur des Nicht, somit die (wenn auch unvollkommene) Verwirklichung jenes unendlichen Terrains ermöglichend, das Aufgabe der Menschheit ist; so bringt für Jaspers die existentielle Überwindung der Grenze und ihre (für das Denken) paradoxe Erhaltung die Erscheinung des eigentlichsten Seins mit sich. Auf den ersten Seiten von Philosophie lesen wir: «Was äußerlich Bestimmtheit und Schranke ist, ist innerlich Erscheinung eigentlichen Seins».10
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Karl Jaspers: Philosophie, Bd. I: Philosophische Weltorientierung (Berlin: Springer, 31956) S. 16.
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3. Die ethische Satzung der Grenze: Freiheit und Kommunikation
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Das Endliche ist endlich, insofern es Grenzen hat. Es wüsste jedoch nicht um die Grenze, wüsste es nicht schon vom Unendlichen. Descartes schreibt in seinen Meditationen bereits über diese unumgängliche Verbindung zwischen Endlichem und Bewusstsein des Unendlichen. Nun besteht auch die Grenze lediglich im Bewusstsein, das der Mensch von ihr zu haben vermag, obwohl sie im Bewusstsein in gewissem Sinne bereits überwunden ist. In diesem Sinne sind sich Grenze, Bewusstsein um die Grenze und Überwindung paradoxerweise gleich. Das Wissen des Endlichen von sich selbst ist schon sein eigenes Endlich-Sein, gleichzeitig auch seine Transzendenz. Dieses Wissen kann nun negative oder positive Vorzeichen haben: Wissen um eine äußere Grenze und Bestimmung, bzw. als Bereich einer Möglichkeit. Wenn das Endliche, im Bewusstsein seiner selbst, sich ausschließlich auf die Feststellung seiner Grenzen beschränkte (wenn es sich also nur auf «dasselbe, was vorher war», konzentrierte), würde es sich auf ein bloßes Dasein beschränken, in einer Situation substantieller, existentieller Leere.11 Wo aber diese Grenzen nicht als Ausschluss gesehen werden, sondern als Möglichkeit, würde das Endliche Ausgangspunkt für einen der Welt gegenüber offenen Weg des Verstehens.12 Gerade die Erfahrung der Grenze stellt dann jene Instanz dar, die zum Bestreben führen kann, die Grenze selbst zu überschreiten und dem Dasein die Wege der Existenz zu öffnen.13 Doch dieses Streben wird nur auf der Ebene der Möglichkeit verbleiben, ohne sich je vollkommen zu verwirklichen. Der Abgang aus der Welt muss für den Menschen, der in ihr lebt, zwangsläufig mit einem durchaus besonderen «Wiedereintritt in die Welt»14 einhergehen, da die historische Situation dem Menschen als unverzichtbarer Ursprung erscheint, als unüberschreitbare Grenze, die das Ich nicht ablegen kann, auch wenn es versucht, die Welt zu transzendieren. Die Erfahrung der Grenze ist dem Philosophen kongenial, der – geht er nicht von der Perspektive des Transzendierens aus – nicht wirklich philo-
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Vgl. ibid. S. 38: «Ganz darin stehend bin ich zwar fähig, blind zu genießen, brutal zu ergreifen, aber auch ratlos im Verlust, öde im Überdruß, haltlos von Tag zu Tage». Vgl. ibid. S. 16. Vgl. ibid. S. 35: «Die Erfahrung der letzten Grenze führt zu einem Streben aus der Welt». Ibid. S. 35.
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sophiert; gleichzeitig läuft er jedoch dort, wo er versucht, die Grenze zu überschreiten, die Gefahr, missverstanden zu werden oder den Gegenstand der Transzendenz falsch zu verstehen: die «Philosophie steht als transzendierende an der Grenze» sagt Jaspers,15 das heißt die Philosophie ist da immanent, wo sich die Welt, als für den Verstand zur Verfügung stehende Ganzheit des Wirklichen, auflöst, somit einen offenen Raum schaffend für einen möglichen metaphysischen Sprung.16 Die Erfahrung der Grenze öffnet für die Erfahrung des Anderen und diese wiederum offenbart die Dringlichkeit der Kommunikation. Aber dieser Übergang (Grenze – Andere – Kommunikation) ist weder linear noch unproblematisch. Die Grenze erfahren bedeutet nicht ipso facto den Anderen zu erfahren, denn dieser ist der Andere – im Sinne von Levinas’ Begriff der autrui –, nicht Meinerselbst-Grenze. Gleichermaßen gilt: wenn ich den Anderen erfahre, ist die Grenze schon überschritten, verloren. Also ist das Erfahren des Anderen als Grenze nicht gleichbedeutend mit Erfahrung des Ich, Desselben. Es wäre ebenso unangemessen, den Anderen auf Mein-nicht-Ich zu reduzieren und mein Ich als Des-Anderen-Grenze zu sehen. Wahr ist jedoch, dass meine Grenze der Grenze des Anderen ausgeliefert ist, gleichzeitig Widerstand leistet und nachgibt, Dank der Kraft des NichtSeins (weder Desselben noch des Anderen). Und doch handelt es sich um ein Nicht-Sein, das zum Sein strebt – zum Sein Desselben oder zum Sein des Anderen, je nachdem aus welcher perspektivischen Ausrichtung die Grenze gesehen wird. Gerade diese tatsächliche Möglichkeit des Nicht-Seins bildet die Authentizität der möglichen Existenz und lässt Jaspers’ Betrachtungen zu wirklich fruchtbaren Gedanken werden.17 Sowohl das Ich als auch das Andere, das Subjekt ebenso wie das Objekt, sind Bestimmungen, die sich dem Denken entziehen, und deshalb sagt Jaspers, das Ich als mögliche Existenz sei in einer Grenzsituation. Er sagt das Ich, nicht Dasselbe, noch das Andere, da das Objekt zwar nur eine Kategorie des Verstandes ist (dem Objekt entgegengestellt), jedoch das ist, was ich bin. Als solches geht der Mensch nicht über sich hinaus, er überwindet sich selbst nur, indem er in sich verweilt und schließlich Grenze seiner selbst ist.18
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Ibid. S. 39. Vgl. ibid. S. 44. Zur Jaspers’schen Kraft des Nicht siehe Umberto Galimberti: Linguaggio e civiltà. Il linguaggio occidentale nella lettura di Heidegger e Jaspers (Milano: Mursia, 1977) S. 198ff. Vgl. Jaspers: Philosophie, Bd. I, op. cit. S. 56.
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Nun, dieselbe schlechte Fichte’sche Unendlichkeit (bzw. die undefinierte Überwindung der Grenze) ist die Grenze des Endlichen, und «wird an dieser Grenze […] [des] Sein[s] aus anderem Ursprung gegenwärtig».19 Gerade die Unmöglichkeit der Überwindung der Grenze begründet die Möglichkeit der Transzendenz im Bereich des Möglichen, das heißt des Übergehens von der Welt des einfachen Daseins zur Existenz als Welt der Freiheit, dabei auf der Schwelle der Grenze verharrend.20 Dies ist ja eigentlich gerade die antinomische Existenz der Welt: sie ist einerseits im Dasein gelagert, andererseits auf die Transzendenz bezogen, kann aber nicht gleichzeitig in beiden sein. Endlichkeit und unendliches Sich-Öffnen gestalten sich also in einzigartiger und paradoxer Weise,21 und das Erfahren der Grenze verwandelt Sein in Existenz, Verschlossenheit in Öffnung und in den Abgrund der Freiheit. Die Beziehung Grenze / Freiheit wird vom existentiellen Binom Versuch / Entscheidung weiter vertieft. Mit Hilfe des das eigene Subjekt bestimmenden Verstands erfährt der Wille seine eigenen Grenzen, bzw. erkennt er, dass das was er sich als eigenes, letztes Ziel setzt, nicht das Letzte ad absolutum ist, da er nicht über das ihn beinhaltende Umgreifende hinausgehen kann, und somit nur ein Vorletztes ist, das auf ein Jenseitiges verweist.22 So wie Wissen Nichts ist, wenn es nicht in von Mal zu Mal bestimmten Formulierungen geäußert wird, so löst sich auch die Existenz auf, wenn sie die Notwendigkeit des von sich ausgehenden Wählens nicht erkennt, wenn sie also nicht bewusst innerhalb der eigenen Grenzen handelt. Gerade im Bewusstsein der Unaufhebbarkeit dieser Grenzen «gewinnt Existenz ihre Tiefe».23 Das Bewusstsein um die Grenze verwandelt das einfache Dasein in den bewussten Ursprung einer ungewissen Zukunft: das Entscheiden in der durch die Grenzen des Endlichen gegebenen Freiheit gibt den Weg zur Transzendenz des Gegebenen selbst frei, durch ein verantwortungsvolles Vorgehen, das sich nicht über es hinweg entfaltet – und ohne Verankerung ist in einem objektiven Fundament. Als solches wird das Ergebnis dieses Philosophierens nie eine allgemeingültige Aussage sein, sondern eine Erfahrung, die nur
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Ibid. S. 103. Vgl. auch S. 70 u. 240. Vgl. ibid. S. 103. Vgl. Donatella Di Cesare: Il linguaggio nella filosofia di Karl Jaspers, in Karl Jaspers: Il linguaggio. Sul tragico (Napoli: Guida, 1993) S. 11f. «Der Wille begreift vollkommen nur das objektiv Bestimmte seiner Angriffsmöglichkeit; aber er kommt dabei überall an Grenzen» (Jaspers: Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 158). Ibid. S. 161.
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auf eine paradoxe Sprache24 oder auf die Grammatik des «philosophischen Glaubens» zurückgreifend erlebt und erzählt werden kann.25
4. Der «Weg des Leidens»: die einende Grenze Paradoxon, Freiheit und Kommunikation entsprechen ebenso vielen Möglichkeiten, von «Grenze» zu sprechen. Doch existentiell gesehen wird die Grenze «Leiden» genannt.26 «Das Gemeinsame aller Grenzsituationen ist, daß sie Leiden bedingen».27 Noch einen Schritt zurück also, wie bereits angekündigt. Diese Worte aus Psychologie der Weltanschauungen28 umreißen das existentiell unumgängliche Thema des Leidens. «Das Leiden» – schreibt Jaspers – «ist nicht eine Grenzsituation unter anderen, sondern alle werden unter dem subjektiven Gesichtspunkt zu Leiden».29 Es handelt sich um ein existentiell Transzendentes,30 das jede menschliche Erfahrung begleitet.31 Das Thema des Leidens hat bei Autoren wie Scheler, Heschel, Frankl, Levinas, Jonas, Pareyson, zu ergreifenden Schriften geführt. Gerade Letzterer scheint sich auf Jaspers’ Seite und gegen Hegel zu stellen: nicht so sehr die Grenze als Negation ist der Motor der Geschichte, vielmehr ist es die Grenze als Leiden. Die Negation ist ein Anstoß, der zum In-sich-Verschließen des Subjekts führt, wie dies ja auch in der gesamten Auffassung der Hegel’schen Idee der Fall ist; die Negation, schreibt Pareyson in Ontologia della libertà, 24 25
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Vgl. ibid. S. 162. Jaspers ist der Ansicht, den wahren Sinn der Grenze erfasst zu haben: «Die Grenze tritt in ihre eigentliche Funktion, noch immanent zu sein und schon auf Transzendenz zu weisen» (ibid. S. 204). Wenn, wie gesagt wurde, die Grenze Chiffre der Chiffre ist, dann ist das Leid, das Chiffre der Grenze ist, Chiffre in der dritten Potenz. Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen (Berlin: Springer, 61971, unv. Nachdruck 1990) S. 247 Wir haben es hier mit dem den Grenzsituationen gewidmeten Teil (3. Kapitel) mit dem Titel Das Leben des Geistes zu tun. Jaspers kommt noch mehrmals auf das Thema Leid und Schmerz zurück, so auch in Philosophie (z. B. Bd. II, op. cit. S. 230ff., und auch der an Suggestionen reiche Absatz in Band III, mit dem Titel «Trotz und Hingabe», in Philosophie, Bd. III: Metaphysik [Berlin: Springer, 31956] S. 71ff.). Vgl. Cantillo: Introduzione a Jaspers, op. cit. S. 43-47. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 247. Vgl. Emilio Baccarini: Homo patiens: il significato etico-antropologico della sofferenza, in ders.: La persona e i suoi volti (Roma: Anicia, 22003) S. 249-259. Vgl. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 247f.
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«ist nicht der Auslöser des Fortschritts, sondern der Weg in die Verdammnis». Dem gegenüber hat das Leiden die Charakterzüge der Kant’schen Idee: in ihrer Grundlosigkeit /Absurdität ist sie die «versteckte Energie der Welt, die einzige, die der zerstörerischen Tendenz entgegentreten kann und die tödlichen Auswirkungen des Bösen zu besiegen vermag».32 Doch wie gelangte man zu dieser Interpretation? Über Jaspers eben: das Leiden ist jene Grenze, die – sobald sie einmal erlebt wurde – die Existenz dazu anregt, in unterschiedlicher Weise zu reagieren (und zu leben) oder wehrlos zu bleiben und zu erdulden (und zu sterben), jedoch auch hier in unterschiedlicher Weise. Die Betrachtungen Max Schelers in Sinn des Leidens (1916) aufgreifend, macht Jaspers vier mögliche existentielle Haltungen gegenüber dem Leid aus (Resignation, Flucht, Heroismus und metaphysisch-religiöse Haltung), die ebenso vielen existentiellen Interpretationen des Grenzbegriffs entsprechen. Diese Haltungen bewegen sich zwischen zwei Extremen: einerseits haben wir Kierkegaards Ritter der unendlichen Resignation (Agamemnon, Hiob) und andererseits den Glaubensritter (Abraham). Dazwischen stehen Nihilismus und Heroismus als mögliche Auswege. Doch Jaspers geht über Kierkegaard hinaus. «Das Leiden gewinnt für den Menschen als Situation einen neuen Charakter, wenn es als Letztes, als Grenze, als Unabwendbares begriffen wird. Das Leiden ist nichts Einzelnes mehr, sondern gehört zur Totalität».33 Durch seinen existentiell transzendenten Charakter wird das Leiden zur Diskriminanten, die die Bedingungen sowohl für die Eigenbedeutung des Subjektes (wieder Dasselbe) setzt, wie auch für den Sprung zur Transzendenz (wieder das Andere). Dies scheint das von Jaspers mit diesen beiden Begriffen Gemeinte zu sein; zwei Begriffe, die ich in diesem Rahmen nebeneinander stellen und kurz kommentieren möchte: die Süße des Daseins und die Gefängnisse des Endlichen.34 Sie sind die beiden Seiten der Grenze und dem zu Folge des menschlichen Seins. Einerseits steht das Ich in der Welt als seiner Wohnstatt, andererseits weiß es, dass es zu einem Jenseitigen neigt, das es im Innersten prägt. Der eine Aspekt schließt den anderen nicht aus, im Gegenteil, in der Erfahrung der Grenze taucht das eine in das Andere ein. Das Paradoxon des 32 33 34
Luigi Pareyson: Ontologia della libertà. Il male e la sofferenza (Torino: Einaudi, 1995) S. 475f. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 251. Vgl. jeweils Jaspers: Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 225, bzw. Vernunft und Existenz (Groningen: Wolters, 1935) S. 12.
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menschlichen Seins besteht gerade in dieser Doppelköpfigkeit: die Grenze ist mein Nicht-Ich, das jedoch meines ist.35 Für den Menschen endet die Süße des Daseins auch dann nicht, wenn sich in dramatischer Weise seine Endlichkeit offenbart und zum Gefängnis wird; gleichzeitig ist keine Süße fähig, die Sorge des Seins vergessen zu lassen, die das Ich, jenseits jeder möglichen Transzendenz, immer in sich trägt. Ja noch mehr: wenn die Süße des Daseins nicht zum erdrückenden Gefängnis wird, wenn also nicht jenes sie kennzeichnende Streben nach Unendlichkeit eintritt, dann wird sich das Ich jenes besonderen Auf-Scheinens nicht bewusst, das sein eigenes Sein ist. Abwechselnd der Süße und dann der Sorge den Vorrang zu geben, würde sofort zum Verlust des Menschlichen führen; in diesen Fehler verfällt sowohl die Religiosität des Schwachen wie auch die Kraft des Nihilisten. Durch die Ausdehnung der Schwelle der Grenze, noch einmal die Süße, aber auch die Sorge in ihrer paradoxen Übereinstimmung wahrzunehmen, ist dagegen dem Denken eigen. Das Denken, das, in den Abgrund der Freiheit blickend, sich der Tragik öffnet und in diesem Moment jene unmögliche (und unverständliche) Einheit zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit erkennt, zwischen Existenz und Transzendenz, die der Mensch selber ist. Jaspers erkennt das Leiden nicht als einziges, alle Grenzsituationen einendes Element an, denn da ist noch mehr: «Das Gemeinsame ist aber auch, daß sie die Kräfte zur Entfaltung bringen, die mit der Lust des Daseins, des Sinns, des Wachsens einhergehen».36 Liest man diese Passage der Psychologie der Weltanschauungen weiter, so steht da: «Lust und Leid sind unvermeidlich aneinander gekettet. Beide sind etwas Letztes, Überwältigendes, Unüberwindbares, unserer Situation Wesenhaftes. Als Leiden erfassen wir immer nur die eine Seite, wir zählen das Wertnegative auf. Es ließe sich vielleicht auch eine Schilderung des Wertpositiven, der Freude, der Erhebungen, des Sinns versuchen. Doch besteht ein Unterschied: Für die Betrachtung, die passiv zusieht, ist die antinomische Grenzsituation, sofern sie auf das Ganze des Daseins geht, doch wieder das Letzte; während das Positive dem aktiven Leben gehört, das es vermag, zu werten, etwas wichtig zu finden, das eine dem anderen vorzuziehen, eine Wertrangordnung zu erfahren und zu schaffen, die Kräfte der Ideen zu entwickeln und aus der antinomischen Situation in unendlicher Synthese voranzuschreiten».
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So interpretiert Jaspers das Binom Süße des Daseins und Gefängnis des Endlichen.37 Mit dem Unterschied, dass die Süße zu Leid und das Gefängnis zu aktivem Leben wird. Die Grenze ist der Ort dieser Verwandlung. Sowohl die religiöse wie auch die nihilistische Lösung scheinen also unangemessen, da sie Darstellung eben so vieler Umgehungen des Weges ist, den die mögliche Existenz als eigenes Schicksal zu gehen hat: den Weg, der über die Versuchung des (wissenschaftlichen wie religiösen) Aberglaubens führt und über die Möglichkeit des Nichts, um dann in den offenen Raum der Freiheit und der Verantwortung zu gelangen, alleiniger Ort ihres wahren Seins. Was bislang gesagt wurde, wird bestätigt durch die präzise Selbstanalyse, die Jaspers 1938 in seiner Krankheitsgeschichte vorlegt, in der er sich als in der Physis Kranker, jedoch als spirituell Gesunder beschreibt (wie Saner schreibt).38 Er spricht von seinem Hang zum Selbstmord, von der Entscheidung, sich nicht von seiner Frau zu trennen, vom Bewusstsein der Grenzen eines Zwangsaufenthalts im Ausland, krank und der Landessprache nicht mächtig … Gleichzeitig jedoch auch vom klaren Bewusstsein um seine Aufgabe und seine Möglichkeiten. Am 27. März 1939 schreibt er in sein Tagebuch: Sinn und Zweck kann am Ende nur sein: Raum für die Objektivierung des Philosophierens zu haben, das erst in diesen Jahren mir ganz hell wurde […]. Diese Wahrheit unmittelbar zu machen bleibt die einzige Aufgabe, nicht das Leben als Dasein um jeden Preis, sondern das fruchtbar werdende Dasein – mit der Voraussetzung, der einzigen Voraussetzung, daß Gertrud und ich treu, nah, vertraut bleiben.39
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Jaspers’ Leben ist eine zweifache Grenzerfahrung: einmal in der Physis (die Krankheit) und einmal in der Geschichte (der Nazismus). Dieser Erfahrung sind die zeitgleichen Betrachtungen Dietrich Bonhoeffers nicht fremd; auch sie entstanden aus der Erfahrung der Gefangenschaft. Die Erfahrung der Grenze gelangt zu ihrem Äußersten für denjenigen, der – wie Bonhoeffer während der Nazi-Gefangenschaft – die Unterbrechung der eigenen Zeit erlebt: er lebt wie Klees und Benjamins angelus novus eine Gegenwart, in der die Kategorie der Realität nur in der Vergangenheit konjugiert werden kann.
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Jaspers: Vernunft und Existenz, op. cit. S. 12. Vgl. Hans Saner: Vorwort zur italienischen Fassung von Karl Jaspers’ Schicksal und Wille, erschienen unter dem Titel: Volontà e destino. Scritti autobiografici (Genova: Il melangolo, 1993), bes. S. 14. Karl Jaspers: Schicksal und Wille. Autobiographische Schriften, hg. von Hans Saner (München: Piper, 1967) S. 156.
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Claudio Fiorillo
Eine Vergangenheit, die jedoch, gerade weil unwiederbringlich vergangen, schmerzhaft gegenwärtig ist.40 Wie Primo Levi schreibt, kann es im Konzentrationslager kein Erinnern geben, da es sofort zu Verzweiflung werden würde. Und doch entscheidet Bonhoeffer im Konzentrationslager Tegel, sich zu erinnern, also zu leiden, in der Überzeugung, dass es nur im Zeichen des Leides für die Realität noch einen möglichen Raum – und eine Zeit – gibt. Gerade in ihrer Vergänglichkeit wird die Vergangenheit «meine Vergangenheit», d. h. Erbe und also gegenwärtige Realität – wenn auch unter dem Vorzeichen der Unterbrechung. Die Leere des nicht mehr Gegenwärtigen erinnert an eine Gegenwart in der Distanz und im Nicht-(mehr)-Verfügbarsein. Und doch ist die Leere nicht das Nichts, Distanz zerstört die Vergangenheit nicht und im Leid der Trennung bleibt doch etwas zurück. Wenn auch das Verbleibende nicht real ist, so ist es doch die Empfindung dieses Verbleibens. Erinnern wir uns an das Gedicht Vergangenheit, das wir in Widerstand und Kapitulation lesen können (datiert 5. Juni 1944): die Unterbrechung der Zukunft belastet die Gegenwart mit einer entscheidenden Bedeutung. Doch die Gegenwart im Lichte des durch das Leid noch klarer gewordenen Bewusstseins offenbart ihre ganze Fragilität. Sie ist nichts anderes als eine Schwelle: der Ort eines ständigen Abschiednehmens. Was an ihr real ist, ist ihr Vergehen. Doch die Unterbrechung der Vergangenheit ist die verbindende Grenze. Eine Grenze, die sich entfaltet durch und über das Leid hinaus, wie Maria von Wedemeyer sehr wohl wusste, als sie dem Verlobten schrieb: «Ich hab einen Kreidestrich um mein Bett gezogen etwa in der Größe Deiner Zelle. Ein Tisch und ein Stuhl stehen da, so wie ich es mir vorstelle. Und wenn ich da sitze, glaube ich schon beinah, ich wäre bei Dir» (26. April 1944). Es handelt sich um das Leid der Trennung, das, wenn zurückgehalten, eint; die Briefe aus dem Gefängnis sind immer ein schwaches Zeichen der Zugehörigkeit (vgl. den Brief vom 13. August 1944). Nicht die Vergangenheit zurückhalten wollen, was ja unmöglich ist, sondern die Vergänglichkeit der Vergangenheit und also das Leid, scheint die einzige Möglichkeit für 40
Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (München: Kaiser, 1970) und ders.: Brautbriefe. Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer – Maria von Wedemeyer 1943-1945 (München: Beck, 1992). Vgl. Claudio Fiorillo: Il limite che unisce. Dietrich Bonhoeffer e la sofferenza, in Rivista di Teologia Morale 150 (2006) S. 259-263, und ders.: L’esperienza del tempo come esperienza della separazione in Dietrich Bonhoeffer, in Filosofie nel tempo, hg. von Giorgio Penzo und Paolo Salandini, Bd. III/3 (Roma: Spazio Tre, 2007) S. 575-589.
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Die einende Grenze
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denjenigen zu sein, der – wie Bonhoeffer, aber auch Jaspers – in tragischer Weise in dürftiger Zeit lebt.
5. Die mögliche Grenze
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Nun muss man sich also fragen, welche Möglichkeiten das Denken hat, will es vor dem Paradoxon und der Tragödie, welche die Grenze mit sich bringt, nicht zurückweichen. Es hat den Anschein, als ob die Entscheidung genau hier zu treffen sei: entweder die Grenze umgehen, d. h. sie im Anderen der absoluten Transzendenz, oder in Demselben der Hypertrophie des in sich verschlossenen Subjekts leugnen; oder doch ihren Raum ausweiten, den «Weg des Leidens» gehen, sie erhellen, ja sogar erzählen,41 somit in ihr die Möglichkeiten des Anderen wie Desselben wahren. Nun, eine mögliche Antwort, mit der ich zum Abschluss kommen möchte, ist durch die Worte Luigi Pareysons gegeben, des großen Jaspers-Kenners und Meisters des Grenzdenkens (oder der Hermeneutik der Endlichkeit – aber jener Hermeneutik, der jedes Artifizium der Rhetorik und der Sophistik fremd ist). Luigi Pareyson schreibt in Ontologia della libertà. Il male e la sofferenza: Der Schmerz ist der Ort der Solidarität zwischen Gott und Mensch: nur im Leid können Gott und Mensch ihre Bemühungen vereinen. Es ist außerordentlich tragisch, dass Gott dem Menschen nur im Schmerz beistehen kann und der Mensch auf diese Weise erlöst wird und sich zu Gott erhebt. Gerade in diesem Miteinander-Leiden von Gott und Mensch offenbart sich der Schmerz als die einzig fähige Kraft, die des Bösen Herr zu werden vermag. […] Durch das Miteinander-Leiden erscheint der Schmerz als das lebendige Bindeglied zwischen Gottheit und Menschheit, wie eine neue copula mundi; deshalb muss das Leid als Drehpunkt des Übergangs vom Negativen zum Positiven gesehen werden, als Rhythmus der Freiheit, innerster Kern der Geschichte, Pulsschlag des Realen, Bindeglied zwischen Zeit und Ewigkeit. […] Das Leid stellt jede objektivierende und demonstrative Metaphysik in Frage, jedes System das nur nach einer harmonischen, abgerundeten Ganzheit strebt, jede Philosophie des Seins, die nur um die Grundlegung besorgt ist. Nur das Leid trägt den Sinn der Freiheit in sich und offenbart das Geheimnis jenes universellen Geschehens, das Gott mit einbezieht, den Menschen, die Welt in jener tragischen Geschichte von Bösem und Schmerz, Schuld und Sühne, Verdammnis und Erlösung.42
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Ich verweise auf die Betrachtungen meines Lehrers Ugo Perone in Il presente possibile, op. cit. Pareyson: Ontologia della libertà, op. cit. S. 478.
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Es ist das Leid, das Erlebnis unserer Endlichkeit, jene Kraft, die den Menschen zu einem aktiven Leben führt, trotz des Anstoßens gegen die unterschiedlichsten Grenzen. Jaspers schreibt diesbezüglich: «Nicht durch Schwelgen in der Vollendung, sondern auf dem Wege des Leidens im Blick auf das unerbittliche Antlitz des Weltdaseins, und in der Unbedingtheit aus eigenem Selbstsein in Kommunikation kann mögliche Existenz erreichen, was nicht zu planen ist und als gewünscht sinnwidrig wird: im Scheitern das Sein zu erfahren».43 Gerade den Weg des Leidens – die philosophische via crucis – habe ich durch diese Betrachtungen zu umreißen versucht, als besondere Form jenes hermeneutischen Wegs der Existenz, der Karl Jaspers’ fortwährend fruchtbares Denken ist – und der es sicher wert ist, noch weitergedacht, weiter vertieft zu werden. Übersetzung: Christel Galatzer
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Jaspers: Philosophie, Bd. III, op. cit. S. 236 (Hervorhebung C. F.).
Der philosophische Glaube
Studia philosophica 67/2008
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Von der Subjektivität des Glaubens und der Objektivität des Wissens Belief, according to a popular thesis (also represented by philosophers) is subjective; knowledge objective. This thesis is rejected as untenable. For each type of knowledge and belief there can be no objectivity without an accompanying subjectivity – i. e. without the knowing subject bringing itself into the relation from which the object makes itself known. Whilst this can readily be made plausible for all immanent modes of being of humans and their respective object relations, the problem remains making intelligible what this could mean for the relation to transcendence. Departing from Jaspers’s formula ‹No existence without transcendence› it is shown by means of the example of the existential decision in which manner the individual, when he grasps himself in freedom, sees himself confronted by transcendence – in the form of unconditional demands. The current actuality of this idea is shown in a comparison with contemporary theories of rather analytic provenance. So, for example, with Harry Frankfurt’s concept of inner necessity or Charles Taylor’s conception of so-called strong evaluations, which express what people finally are and which cannot be understood without transcendence. Newly appropriating again this relation to transcendence in ‹salvaging translation› of traditional religious contents is, as also Habermas emphasises not least with reference to Jaspers, the task of philosophy in the present.
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1. Objektivität des Wissens, Subjektivität des Glaubens – eine falsche Problemstellung 30
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Glaube, so lautet eine (durchaus auch von Philosophen vertretene) Allerweltsthese, sei subjektiv, Wissen objektiv. So wie die These gewöhnlich verstanden wird, ist sie entweder trivial oder in hohem Maße problematisch. Trivial ist sie, wenn man sie als Antwort versteht auf die begriffliche Frage, was wir meinen, wenn wir von Glauben und Wissen als zwei unterschiedlichen Weisen des Fürwahrhaltens von Propositionen sprechen. Als Wissen gilt uns, wenn die Gründe dafür, eine Proposition für wahr zu halten, in der Sache selbst liegen, als Glaube, wenn die Gründe eher in der betreffenden Person zu suchen sind: z. B. dass sie halluziniert, phantasiert, Dinge für wahr hält, weil sie diese gesagt bekommen
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hat oder weil sie sich wünscht, dass sie wahr wären etc. In diesem Sinne kann man, dem nicht erst in der Neuzeit, sondern schon in der Scholastik üblichen Sprachgebrauch gemäß,1 das Wissen in der Tat als objektiv, den Glauben dagegen als subjektiv bezeichnen2 – wie schwierig es auch sein mag, genauer zu bestimmen, was es denn heißt, dass die Gründe für das Fürwahrhalten in der Sache selbst liegen sollen. Problematisch wird die These von der Objektivität des Wissens und der Subjektivität des Glaubens, sobald wir Glauben im engeren Sinn verstehen als religiösen Glauben im Sinne eines Fürwahrhaltens von Propositionen über Gott, Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und dergleichen metaphysische Gegenstände mehr. Die Behauptung, der Glaube sei subjektiv, kann dann leicht zur These werden, dass die Gründe dafür, solche Propositionen für wahr zu halten, immer in der glaubenden Person selber liegen müssen – nicht bloß, weil der Glaubende diese objektiven Gründe nicht kennt, sondern weil es solche objektiven Gründe letztlich gar nicht geben könne. Religiöser Glaube bekommt dadurch den Status von Illusionen, von frommem Wunschdenken, wie dies etwa die bekannten funktionalistischen Erklärungen des religiösen Glaubens als Opium für das Volk, als Priestertrug etc. zum Ausdruck bringen. Unter der Hand hat sich die anfänglich triviale Worterklärung in die religionsskeptische These des Subjektivismus verwandelt. Wir sehen aber auch leicht, wie es zu dieser Verschiebung kommt. Durch die stillschweigende Unterstellung nämlich, dass subjektive Gründe grundsätzlich keine rechtfertigende Kraft haben und keine ehrbaren Gründe sein 1
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Vgl. Art. ‹Subjekt / Objekt; subjektiv / objektiv›, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter u. a., Bd. 10 (Basel: Schwabe, 1998) Sp. 401-407. Gestützt auf die um 1600 bereits weit verbreitete terminologische Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Gewissheit, definiert etwa der im Leibnizianismus stark rezipierte Jesuit A. A. Sarasa den Unterschied wie folgt: «Diejenige Gewißheit, die aus einer positiv vorliegenden Evidenz oder aus Gründen entspringt, welche hinreichend sind, damit man rationalerweise urteilen kann, daß es sich tatsächlich so verhält, wie es sich dem Geist darstellt, ist für ‹objektiv›, d. h. aus dem O(bjekt) entsprungen, zu erachten: Dann hängt nämlich der Verstand der Sache vermöge eines Urteilsaktes an – nicht, weil der Wille es bloß so will oder diktiert, sondern weil die Gründe von der Beschaffenheit sind, daß er an der Wahrheit der Sache nicht zweifeln, erst recht nicht sie abstreiten kann […]. Die andere Gewißheit stammt aus dem S(ubjekt). Sie liegt vor, wenn einer irgendeiner Meinung oder These verbissen anhängt, nicht, weil er von der Vernunft zur Zustimmung gezwungen würde, sondern weil er nun mal so will.» (Ibid. Sp. 404)
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können. Wer sich ihrer bediene, mache sich der Unredlichkeit schuldig,3 seine Gründe seien gar keine Gründe, sondern kontingente Ursachen, die dem unbefangenen religionskritischen Beobachter zu erklären vermöchten, wie eine Person – fälschlicherweise – dazu kommen könne, an die Existenz Gottes und ähnliche Dinge mehr zu glauben. Wem diese religionsskeptische (wir können auch sagen, ungläubige) Haltung missfällt, dem stehen grundsätzlich zwei Optionen offen: Er kann die These von der Subjektivität des Glaubens direkt bekämpfen, indem er behauptet, dass es auch auf dem Feld des religiösen Glaubens durchaus objektive Gründe geben könne, und sich allenfalls auch anheischig macht, diese objektiven Gründe beizubringen, etwa in Form von rationalen Gottesbeweisen. Er kann – die zweite Option – die These von der Subjektivität des Glaubens weiterhin verfechten, zu ihrer Verteidigung aber sich dafür stark machen, dass auch subjektive Gründe durchaus ehrbare Gründe des Fürwahrhaltens sein können. Durch die erste Option wird er zum rationalen Apologeten, durch die zweite droht er zum Schwärmer zu werden, der auf Eingebungen setzt, die auf objektivem Wege nicht zugänglich sind, auf Gründe des Herzens z. B., die anders sein sollen als die Gründe des Verstandes. Da mir diese beiden Optionen nicht weniger missfallen als die von ihnen bekämpfte religionsskeptische Subjektivismusthese, will ich mich jedoch weder auf die eine noch auf die andere einlassen, sondern vielmehr die Grundlage aller dieser Positionen selber in Frage stellen: den Gegensatz von objektiv und subjektiv, wie er von der Allerweltsthese ins Spiel gebracht wird, und dessen Fragwürdigkeit sich in der bereits angesprochenen Dunkelheit ankündigt, was es denn heiße, dass die Gründe für das Fürwahrhalten in der Sache und nicht in der Person selber liegen. Kann es denn überhaupt eine Objektivität geben ohne entsprechende Subjektivität, d. h. ohne Gründe, die auch im Subjekt liegen? Und könnte nicht auch das Umgekehrte gelten: dass jede Subjektivität selber wiederum eine ihr entsprechende Objektivität erfordert und nur im Grenzfall des Wahns oder in defizienten Modi dieser Bedingung nicht genügt? Für Kierkegaard z. B. bestand darüber kein Zweifel – «Eine Objektivität, die in einer entsprechenden Subjektivität ist, sie ist das Ziel»4 – und Karl Jaspers’ Position des philosophischen Glaubens, um die es im Folgenden gehen soll, steht, wie noch zu zeigen sein
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Dies ist etwa die Position von Ernst Tugendhat (vgl. Anthropologie statt Metaphysik [München: Beck, 2007] S. 191f., 204). Søren Kierkegaard: Tagebücher (Düsseldorf: Diederichs, 1968) S. 194 (= Pap. X, 1 A 146). Zur Deutung vgl. Anton Hügli: Die Erkenntnis der Subjektivität und
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wird, im Bann dieses Kierkegaard’schen Gedankens.5 Ich vermute, darüber hinaus, dass vieles von dem, was heute über Glauben und Wissen gesagt werden kann, sich noch immer auf dem Weg über diesen – reichlich paradox klingenden – Gedanken erhellt. Wir müssen bloß noch verstehen, was dies alles heißt.
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2. Die Unterscheidung zwischen Subjektivem und Objektivem – Versuch einer Klärung 10
Allen nietzscheanischen, strukturalistischen, postmodernistischen und sonstigen Einwänden und Einsprüchen zum Trotz möchte ich daran festhalten, dass das Begriffspaar «objektiv / subjektiv» (oder eine äquivalente Unterscheidung) keineswegs obsolet geworden ist und nicht ungestraft unterlaufen werden kann. Diese Unterscheidung hat zu tun mit einer der elementarsten Grunderfahrungen, die wir überhaupt machen können. Wenn wir phänomenologisch in der Introspektion auf das achten, was mit uns vorgeht, stellen wir fest: Wir erleben uns entweder in der Haltung, dass wir selber tätig sind, d. h. auf etwas aus sind, das wir zu erreichen suchen, oder dann in der entgegengesetzten Haltung, dass wir, wenn wir dies tun, auf Hindernisse und Widerstände stoßen, die sich uns in den Weg stellen. Und dies gilt, ob es nun darum geht, sich etwas bloß zu denken oder vorzustellen, oder darum, in der äußeren Welt auf Dinge oder Personen einzuwirken. Wir erleben uns, mit einem Wort, entweder als aktivisch, als Ursprung von Aktivität, oder aber als passivisch, als von der Widerständigkeit der Dinge Betroffene. Weil wir uns in diesen beiden Haltungen erleben, können wir auch unterscheiden zwischen dem, was von uns ausgeht und von uns und nur von uns abhängt, und dem, was uns widerfährt und darum offensichtlich von uns unabhängig ist. Ohne große terminologische Vergewaltigung können wir dann sagen: Subjektiv kann all das heißen, was von uns in der aktiven Haltung ausgeht, objektiv das, was uns in der passiven Haltung widerfährt. Damit wären wir
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die Objektivität des Erkennens bei Sören Kierkegaard (Zürich: Theologischer Verlag, 1973) S. 158-162. Hier als erster Beleg eine besonders sprechende Stelle: «Es ist […] falsch, den der Subjektivität zu bezichtigen, der auf die zu einer spezifischen Objektivität gehörende Subjektivität hinweist, oder eine vermeintlich subjektfreie Objektivität für die Wahrheit zu halten […]. Immer gehören beide [sc. Subjekt und Objekt] zueinander und sind nicht ohne einander.» (Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung [München, Zürich: Piper, 1962, 31984] S. 138)
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auch schon bei der Jaspers’schen Grundthese, dass alles, was überhaupt ins Bewusstsein trete, uns in der Spaltung von Subjekt und Objekt erscheine. Jaspers allerdings kommt – in seinen einschlägigen Darstellungen – auf anderem Weg zu diesem Gedanken, auf dem Weg über die Intentionalität des Bewusstseins, den Umstand, dass «das, was wir denken, von dem wir sprechen», stets ein anderes sei als das, «worauf wir, die Subjekte, als auf ein Gegenüberstehendes, die Objekte, gerichtet sind».6 Ich halte diese Erläuterung für irreführend. Wenn Denken nicht anders als intentional sein kann, ist natürlich intentional sowohl das, worauf ich – in aktivischer Haltung – aus bin, wie auch das, was ich erleide. Der entscheidende Unterschied wird dadurch eingeebnet. Intentionalität evoziert zudem das irreführende Bild einer strikten Trennung zwischen dem Bewusstsein und seinen Gegenständen, zwischen einem Drinnen und einem Draußen7 mit allen Nachfolgeproblemen, die dieses Bild mit sich führt, dem Problem z. B., wie man denn eigentlich von diesem Drinnen überhaupt in ein Draußen gelangen könne. Der Zugang vom Tun und Erleiden her dagegen ermöglicht uns, den Unterschied zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven innerhalb des Bewusstseins selber aufzusuchen und ihn nicht in ein Jenseits des Bewusstseins verlegen zu müssen. Dies dürfte nicht nur näher beim scholastischen8 und näher bei dem von Jaspers mit seinem Grundgedanken der Subjekt-Objektspaltung anvisierten kantischen Sprachgebrauch liegen,9 sondern – was ich für nicht 6 7
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Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie (München: Piper, 1953) S. 29. Dies zeigen auch die Erläuterungen von Jaspers selbst: «Immer sind Gegenstände als Inhalt unseres Bewusstseins äußerlich oder innerlich uns gegenüber. Es gibt – mit Schopenhauers Ausdruck – kein Objekt ohne Subjekt und kein Subjekt ohne Objekt.» (Ibid. S. 30) Als Haupt-Charakteristika der scholastischen und neuzeitlichen Subjektiv-objektiv-Distinktion können zwei Momente angesehen werden: dass es in beiden Fällen um Gewissheit, also um bewusstseinsimmanente Bestimmungen geht, und dass der objektiven Gewissheit jener Sachbezug innewohnt, der der subjektiven (allein vom Subjekt erzeugten) Gewissheit fehlt. Bei der Systematisierung des Wortgebrauchs von «subjektiv» und «objektiv», die Kant ab 1790 vornimmt, werden sowohl das Subjektive wie das Objektive zur Kennzeichnung der Vorstellung verwendet, die ein Subjekt von einem Objekt hat: «Was an der Vorstellung eines Objects bloss subjectiv ist, d. i. ihre Beziehung auf das Subject, nicht auf den Gegenstand ausmacht, ist die ästhetische Beschaffenheit derselben; was aber an ihr zur Bestimmung des Gegenstandes (zum Erkenntnisse) dient oder gebraucht werden kann, ist ihre logische Gültigkeit. In dem Erkenntnisse eines Gegenstandes der Sinne kommen beide Beziehungen zusammen vor.» (Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790] B XLII; AA 5, S. 188f.)
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weniger wichtig halte – leichter auch anschlussfähig sein an den Ansatz des (die heutige Diskussion beherrschenden) Pragmatismus, dessen Wortführer, nicht ganz zu Unrecht, in den bewusstseinstheoretischen Subjekt-ObjektUnterscheidungen nur eine schlechte deutsche Gewohnheit, «which […] have led to a lot of bad philosophy», zu sehen vermögen.10 Noch größer als der philosophiegeschichtliche ist aber der systematische Zugewinn. Denn wenn Objektivität nur erfahrbar wird, wenn ich entsprechend subjektiv tätig bin, wenn es also in der Tat, wie Jaspers betont, keine Objektivität geben kann ohne entsprechende Subjektivität, stellt sich für jede Art von Objektivität, mit der ich mich konfrontiert sehe, die Grundfrage (die Jaspers sich, in eben dieser Form, selber auch gestellt hat11): Wie muss ich mich, als aktives, wollendes Ich jeweils verhalten, damit ich diese spezifische Art von Objektivität erfahren kann? Dies beginnt schon bei der Beobachtung und der sinnlichen Erfahrung: Damit ich einen Gegenstand in seiner phänomenalen Gestalt voll zu Gesicht bekomme, muss ich die richtige Distanz finden, das richtige Licht wählen, ihm die nötige Aufmerksamkeit schenken usw. Eine Eigenschaft wie Härte erfahre ich am besten, wenn ich Stein, Holz oder Butter mit einem Messer zu bearbeiten versuche, die Stärke eines Gegners, indem ich mich mit ihm in einen Wettbewerb oder einen Kampf
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Charles S. Peirce: Letters to Lady Welby (1908), in ders.: Selected Writings (1958) (New York: Dover, 1966) S. 394. Vgl. auch die Kritik von Ernst Tugendhat an dem metaphorischen Modell des Bewusstseins als eines Gerichtetseins, das der Subjekt-Objekt-Beziehung zugrunde liegt (Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung [Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979] S. 16f., 34.) Vgl. etwa Karl Jaspers: Nachlaß zur philosophischen Logik, hg. von Hans Saner und Marc Hänggi (München: Piper, 1991) S. 173: «Wirklichkeit ist für mich erst da, wo sie mir Widerstand wird und ich ihr Widerstand leiste. In der Widerstandserfahrung erwächst die Fülle des Wirklichen. Wo Widerstand ist, beginnt Erkennen.» Ibid. S. 176: «Wirklichkeit wird offenbar, indem ich in sie eingreife und sie mir widersteht. Wäre kein Widerstand, keine Hemmung, so würde auch Wirklichkeit nicht fühlbar». Entsprechend insistiert Jaspers darauf, dass jedes Denken und jedes Erkennen ein (methodisch geregeltes) Tun, eine Praxis erfordere und einem Willen entspringe: «Man könnte meinen, das denkende Erkennen sei erschöpft im Anerkennen geltender Sätze, man sehe in einem zeitlichen Vollzug einem zeitlosen Bestande zu. […] Jedoch ist Erkennen jederzeit mehr. Es ist ein Tun, und dieses Tun ist geführt durch einen Willen. Das Erkennen hat seinen Wirklichkeitsbezug durch den Gehalt der Aktivität, welche seine Vollzüge trägt.» (Ders.: Von der Wahrheit [München: Piper 1947, 1958] S. 308-370; zit. 308; vgl auch: ders.: Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung [Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 1932, 41973] S. 412: Erst «im Tun kommt der Mensch den Dingen und Objektivitäten nah».)
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einlasse. Auf diesem Grundgedanken beruht aber auch jedes wissenschaftliche Experiment: Es bedarf einer besonderen experimentellen Zurichtung, den Lackmustest z. B., um den pH-Wert einer chemischen Substanz nachzuweisen, oder die Verwendung eines Prismas, um das Farbspektrum des Lichts sichtbar zu machen. Aber auch den Charakter meines Tuns selber erfahre ich nur in Form der Spuren, die ich in der Welt hinterlasse und die mir nun, als unabhängig von mir weiter wirkende Objektivierungen, in meinen Werken und Taten wieder entgegentreten. Nur in dieser objektivierten Gestalt werde ich für andere sichtbar, und doch ist das, was auf diese Weise sichtbar wird, nie mein aktives Ich selbst, sondern nur seine schon abgelegte Form.12
3. Weisen der Beziehung zwischen Subjektivität und Objektivität 15
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Keine Objektivität ohne entsprechende Subjektivität – ausgehend von diesem Satz können wir in philosophischer Weltorientierung fragen: Welche Weisen der Objektivität gibt es denn überhaupt und welche Weisen der entsprechenden Subjektivität? Im Kontext des heutigen Philosophierens würden wir wohl zu Unterscheidungen greifen, wie sie – in Anknüpfung an die Sprechakttheorie – etwa von Habermas eingebracht worden sind13: Es gibt ebenso viele Weisen der Objektivität – von Welt, würde Habermas sagen – wie wir sprachlich auf Gegenstände Bezug nehmen können, und jede dieser Arten von Bezugnahme hat einen ihr eigenen Geltungssinn: Wer in konstativer Absicht redet, in der Absicht, uns zu sagen wie die Dinge sind, muss sich die Frage gefallen lassen, ob das auch wahr sei, was er sagt. Wem es um das Regulative geht, um die Berechtigung z. B., eine Äußerungen machen oder nicht machen zu dürfen, muss sich der Frage stellen, welches denn hier die maßgebenden Normen des Sprechens und des sozialen Verkehrs sind, die ihm erlauben, von richtig oder falsch zu reden. Und wer die Wahrhaftigkeit des 12
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Vgl. zur Illustration die Ausführungen von Jaspers über die Objektivierungen der Existenz und deren Bedeutung für andere (Jaspers: Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 393-414). So bereits in Jürgen Habermas, Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1971) S. 109-140, mit Erinnerung an die lange philosophische Tradition dieser Unterscheidungen: «Sein und Schein, Wesen und Erscheinung, Sein und Sollen» (ibid. S. 113). Ausführlicher und modifiziert: Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981) S. 369-452.
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Sprechenden in Zweifel zieht, dem geht es um die Frage, wie weit eine Äußerung das ausdrückt, was der Sprechende wirklich meint. Im ersten Fall haben wir es zu tun mit der gegenständlichen Welt, im zweiten Fall mit der sozialen Welt und im dritten mit der sogenannten Innenwelt. Jede dieser Welten hat eine ihr eigene Objektivität.14 Dieser streben wir nach, wenn wir uns unter den Anspruch stellen, dass diese Welt tatsächlich so ist, wie wir behaupten. Ob unser Wahrheits- oder Gültigkeitsanspruch berechtigt sei, bekommen wir aber nur zu wissen, wenn wir die subjektive Perspektive wählen, die der jeweiligen Welt angemessen ist: nur in theoretischer Einstellung und nur für Teilnehmer einer wissenschaftlichen Diskursgemeinschaft erschließt sich, was wahr ist, nur als Teilnehmer einer Kommunikationsgemeinschaft können wir im gemeinsamen Diskurs – durch das gegenseitige Geben und Nehmen von Gründen – herausfinden, was wir tun sollen, und nur wenn wir – in gewissenhafter Selbstprüfung – unser eigenes Inneres erforschen, können wir uns klar darüber werden, was wir eigentlich wollen. Der gemeinsame Boden aber, aus denen diese Perspektiven überhaupt erst erwachsen, ist die leibliche Existenz des Menschen in einer mit andern Menschen geteilten Lebenswelt, in der er handelt und sein Handeln mit andern koordinieren muss. Parallele Unterscheidungen zwischen verschiedenen Weisen von SubjektObjektbezügen, ohne erkennbares Ableitungsprinzip allerdings, finden wir bei Jaspers selbst. Es sind dies die von ihm unterschiedenen grundlegenden Weisen des Menschseins in der Welt – als Dasein, Bewusstsein überhaupt, Geist, Existenz. Jede dieser Seinsweisen hat, wie Jaspers es ausdrückt, ihre eigene Subjektivität, deren Kraft nur zu gewinnen ist «gleichgewichtig» mit der ihr zugehörige Objektivität.15 Zum «Dasein» gehört die «Umwelt, auf die es reagiert und in die es hineinwirkt».16 «In der Unmittelbarkeit dieses Sichfindens» in seiner Welt «ist es fraglos da, es ist die Realität, in die alles treten muss, was für uns real werden soll». Es ist «Drang, Trieb, Begehren, will sein Glück, erlebt Augenblicke der Vollkommenheit und den tötenden Schmerz – es steht in 14
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«Objektivität» steht hier für das, was Habermas als die «objektiven Bedingungen der Gültigkeit» bezeichnet, die den jeweiligen Sprechakt akzeptabel machen und die durch das Geltendmachen von Gründen interpretiert und diskursiv eingelöst werden können. (Vgl. Jürgen Habermas: Entgegnung, in Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ ‹Theorie des kommunikativen Handelns›, hg. von Axel Honneth und Hans Joas [Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986] S. 358f.) Karl Jaspers, Rudolf Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung (München: Piper, 1954) S. 99. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 113f.
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der Unruhe des Kämpfens, sich zu behaupten, sich zu erweitern und jenes ungreifbare Glück zu erreichen».17 Bewusstsein überhaupt ist das «im individuell variierenden, erlebenden, wirklichen Bewusstsein» verankerte allen gemeinsame Bewusstsein. «Es ist nicht die zufällige Subjektivität der vielen, sondern die eine Subjektivität, die das Allgemeine und Allgemeingültige gegenständlich erfasst. Dieses Bewusstsein überhaupt ist der Punkt, in dem jeder jeden andern vertreten kann, ein dem Sinne nach einziger, an dem alle mehr oder weniger teilhaben. Ihm zeigt sich, was denkbar ist und erkennbar wird, in den ihm eigenen Formen der Denkbarkeit überhaupt, in den zu ihm gehörenden Strukturen und Kategorien.»18 Zu ihm «gehört die gültige Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis, durch die der gemeinsame Haltepunkt des ‹ich denke› gehaltvoll wird».19 Geist sind wir, indem wir teilhaben an den von Menschen hervorgebrachten Gedanken, Werken und Taten.20 Deren subjektiver Ursprung ist die Phantasie, und sie finden «ihre eigene objektive Form im Kunstwerk und in der Dichtung, im Beruf, im Bau des Staates, in den Wissenschaften». «Das Subjekt des Geistes ist nicht das ‹ich denke› des Bewusstseins überhaupt, sondern das jeweils unvertretbare Individuum, das sich in der persönlichen Gestalt von einem unpersönlichen Objektiven ergriffen weiß.»21 Dass ich Existenz bin, dessen werde ich gewahr, wenn ich frage, wer ich nun selber bin in diesen verschiedenen Weisen der Subjektivität. «Bin ich nur der rücksichtslose Eigenwille meines lebendigen Daseins, nur ein vertretbarer Punkt richtigen Denkens, nur das Blühen eines Geistes in schöner Täuschung?»22 Ich muss mehr und etwas anderes sein. Aber dies bin ich nicht schon, es ist bloß ein mögliches Sein, das ich erst ergreifen, im Entschluss wahr machen muss. Es ist das, was ich mit mir selber will, was ich als ich selbst sein kann. Dasein, Bewusstsein überhaupt, Geist sind die Seinsweisen, in denen wir uns immer schon vorfinden, Existenz aber ist ein bloßes Seinkönnen, Existenz bin ich nur als «das, als was ich frei mich selbst hervorbringe».23 Existenz zu werden ist aber nicht etwas, was wir selber
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Ibid. S. 114. Ibid. S. 112. Jaspers, Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 99. Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 76. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 115. Ibid. S. 116. Ibid. S. 116f.
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wollen können, sie wird uns, so die stereotyp wiederkehrende Formel von Jaspers, geschenkt. Keine Existenz darum – ohne Transzendenz, ohne jenes Umgreifende, aus dem heraus ich mich mir geschenkt weiß. Transzendenz ist die der Subjektivität der Existenz zugehörige Objektivität.24 Während Dasein, Bewusstsein überhaupt und Geist eine leicht erkennbare Parallelität aufweisen zu den Habermas’schen Unterscheidungen von Lebenswelt, vergegenständlichter Welt und sozialer Welt, scheint die Jaspers’sche Umschreibung der Existenz reichlich weit entfernt von dem, was Habermas unter dem Begriff der Aufrichtigkeit und dem Bezug zur Innenwelt abhandelt. Eine formale Ähnlichkeit liegt allein darin, dass es um einen Selbstbezug geht, um die Frage, was ich selber mit mir will. Wenig verständlich aber ist, wie man im Zusammenhang mit dieser Frage zur Transzendenz kommen kann. Was hat es denn mit der Objektivität auf sich, die der Subjektivität der Existenz zugehören soll? Und was könnte uns berechtigen, sie mit Transzendenz in Verbindung zu bringen?
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4. Die Subjektivität der Existenz und ihr Bezug zur Transzendenz Die Subjektivität, für die sich jeweils Objektivität, in welcher Grundform auch immer, erst enthüllt, ist, so haben wir festgestellt, stets eine sehr spezifische Art der Subjektivität. Sie erfordert eine der jeweiligen Seinsweise entsprechende Ausrichtung und Zurichtung, eine innere Verfassung, die nur durch lange Übung und Arbeit an sich selbst erworben werden kann. Subjektivität (gleich in welcher Form) setzt darum immer einen Selbstbezug voraus und eine entsprechende Form des Sich-um-sich-selber-Kümmerns, dessen also, was Sokrates epimeleia tes psyches, Sorge für oder um sich selbst nennt.25 Exemplarisch dafür ist die auf Erkenntnis ausgerichtete theo24
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Jaspers, Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 99. Dies steht nicht in Widerspruch zu der Aussage, Existenz habe «keine zu ihr gehörende fassbare Objektivität» (Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 116), denn mit diesem Satz wird bloß die spezifische Differenz zwischen der Objektivität der Transzendenz und den übrigen Arten von Objektivität ausgedrückt: dass sie – im Unterschied zu diesen – nicht als solche fassbar ist resp. nur als Chiffer (im Medium der andern Objektivitäten) aufscheinen kann. Die Bedeutung der Selbstsorge (als spezifische Weise des Umgangs mit sich selbst) und ihre zentrale Stellung in der antike Philosophie wurden zwar erst in jüngerer Zeit insbesondere durch die Arbeiten von Pierre Hadot und Michel Foucault wieder ins Bewusstsein gerückt (vgl. etwa: Michel Foucault: Die Sorge
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retische Einstellung: Sie setzt voraus: eine nur durch lange Selbsterziehung zu erwerbende Haltung des skeptischen Sich-selbst-Zurücknehmens und eine Initiation in die jeweilige wissenschaftliche Kultur und Methodologie; sie kommt nur zustande unter den allgemeinen transzendentalen und mithin subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt, dem (objektiv nie einholbaren) Glauben etwa, dass in der Natur durchgängige Kausalität und Regelhaftigkeit bestehe. Was sie antreibt, ist die Überzeugung, dass Wissenschaft im Allgemeinen und das jeweilige wissenschaftliche Tun im Besonderen überhaupt einen Sinn habe. Und um herauszufinden, ob das, was ich behaupte, mit Recht als wahr behauptet werden kann, gibt es ohnehin nur einen Weg: den der Mitteilung und des Dialogs.26 Kurzum: Nur wer sich (aktivisch) auf die richtig Weise in die Welt zu stellen weiß und sich dem Andern mitzuteilen versucht, kann seine Wahrheitsansprüche einlösen. Als objektiv im herkömmlichen Sinn darf darum ein Urteil nur dann gelten, wenn es aufgrund der in der betreffenden Disziplin gültigen subjektiven (d. h. das Verhalten des Subjekts bestimmenden) Bedingungen zustande gekommen ist, als subjektiv, wenn dies nicht der Fall ist, d. h. wenn eine falsch oder schief gestellte Subjektivität Einfluss auf das Urteil genom-
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um sich. Sexualität und Wahrheit, Bd. 3 [Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989]; ders. u. a.: Technologien des Selbst [Frankfurt a. M.: Fischer, 1993]; Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform [Berlin: Gatza, 1991]; ders.: Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie [Berlin: Eichborn, 1999]). Jaspers war sich jedoch über diesen Aspekt von Subjektivität völlig im Klaren: Von der Bezeichnung der Selbstreflexion als einem «inneren Handeln» bis hin – so etwa im Zusammenhang mit seiner Darstellung der Praxis des Erkennens – zu seinen Hinweisen auf die «methodischen Schritte des Sich-selbst-hervorbringens» (Von der Wahrheit, op. cit. S. 369: «Statt die Welt zu erkennen und zur Welt sich zu verhalten, wird eine Quelle der Erkenntnis das Verhalten zu mir selber, meinen Zuständen, Erlebnissen und Erfahrungen. Ich nehme mich an die Hand […]: ich mache mich selbst zum Werkzeug, um mich zu verwandeln, in mir Zustände und Erfahrungen zu erzeugen, mein Bewusstsein und meine Stimmungen zu regeln.»). Von diesem Gedanken geprägt sind auch seine Ausführungen über die «Philosophische Lebensführung», die durchaus gelesen werden können als Konkretion dessen, was er «inneres Handeln» nennt (Einführung in die Philosophie, op. cit. S. 16-126). Mit diesem absoluten Nachdruck auf Kommunikation als Medium der Erkenntnis und der Vernunft kommt Jaspers dem kommunikationstheoretischen Ansatz von Habermas wohl am nächsten (vgl. etwa Helmut Fahrenbach: Kommunikative Vernunft – ein zentraler Bezugspunkt zwischen Karl Jaspers und Jürgen Habermas, in Karl Jaspers. Zur Aktualität seines Denkens, hg. von Kurt Salamun [München: Piper, 1991] S. 189-216).
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men hat. Von dieser Art wäre dann z. B. ein Urteil, das nicht der unvoreingenommenen Wahrheitssuche in einem wissenschaftlichen Diskurs entspringt, sondern persönlichen Intuitionen, Interessen oder Ressentiments. Nicht der unpersönliche wissenschaftliche Blick von Nirgendwo also, sondern der perspektivische und mithin verzerrende Blick aus der privaten Warte von historisch und sozial lokalisierbaren Individuen. Analoges müsste nun auch für die Seinsweise der Existenz gelten. Worin aber besteht die spezifische Subjektivität der Existenz, die zu der ihr zugehörenden Objektivität, der Transzendenz führen kann? Versuchen wir es wiederum mit einer systematischen Annäherung an Jaspers von außen her. Der Umstand, dass jede Art von Subjektivität letztlich einen Selbstbezug voraussetzt, die Anstrengung des sich selbst in die richtige Verfassung Bringens, macht deutlich: Es gibt keinen reinen Selbstbezug als solchen, den man nun der Existenz zuordnen könnte. Der existentielle Selbstbezug bedarf immer einer der übrigen Seinsweisen als Medium. Existenz betrifft die Frage, wie ich in den verschiedenen Weisen des Subjektivseins: als Dasein, als Bewusstsein überhaupt oder als Geist, jeweils für meine eigene Subjektivität sorge,27 auf welche Art und Weise, aus welchen Antrieben ich mit dabei bin – falls ich überhaupt mit dabei bin –, in welcher Rolle ich mich sehe und worin ich den Sinn meines Tuns erblicke.28 Existenz, so können wir darum sagen, ist meine Subjektivität im jeweiligen Subjektivsein, eine besondere Form der Aufmerksamkeit und Wachsamkeit auf mich selbst. Sie spitzt sich zu in der Frage: Wie stelle ich mich selbst zu der Objektivität, der ich in den verschiedenen Weisen meines Seins – als Dasein, als erkennendes Bewusstsein überhaupt, als Teil der geistigen Welt – begegne; unterwerfe ich mich dieser Objektivität, entziehe ich mich, ist sie mir wichtig und wesentlich?29 Zu einem Halt kommen diese Fragen aber nur, wenn ich an den Punkt gelange, an dem ich sagen kann: Dies ist gut so, dies ist das Beste, das ich tun 27
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Als eine durch alle Seinsweisen des Menschen hindurchgehende Subjektivität ist Existenz, wie Jaspers sie zu Recht charakterisiert, das diese Seinsweisen «Umgreifende» (vgl. Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 77). Kierkegaards Pseudonym Climacus hebt darum mit Recht hervor, dass es in allen existentiellen Fragen immer nur um das Wie des Bezugs zur Objektivität und nicht um das Was selber gehe. Zu den Stellen und zur Interpretation im Kontext des Werks von Kierkegaard vgl. Hügli: Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Sören Kierkegaard, op. cit. S. 158-171. Jaspers hat diese unterschiedlichen Weisen des Verhältnisses der Subjektivität zur Objektivität eingehend erörtert in Philosophie, Bd. II, op. cit., «Vierter Hauptteil. Existenz in Subjektivität und Objektivität».
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kann.30 Alle existentiellen Fragen kumulieren darum, wenn ich dabei nicht einer Täuschung erliegen will,31 am Ende in einer einzigen Frage: Was ist das, von dem ich sagen kann, es sei das Gute oder das Beste? 32 Ich kann mir die Antwort vorgeben lassen: durch die Tradition, durch eine Autorität, durch das, was man so tut, kurz, durch irgendwelche Objektivitäten. Ich kann es aber auch auf mich nehmen, meine eigene Antwort zu finden. Und damit beginnt der schwierige Weg, selber ein Anfang zu sein, der Weg hin zur möglichen Existenz. Schon die Bedeutung des Wortes «gut», wie es in diesem Kontext gebraucht wird, ist reichlich dunkel. Es geht um ein «gut» in einem sehr spezifischen Sinne, der sich letztlich nur negativ umschreiben lässt: nicht gut für einen bestimmten Zweck, nicht gut für ein anderes, nicht gut also, weil es mir nützt, weil es der Wahrheitssuche hilft, weil es zur Vollendung des Geistes oder zu einer gerechteren Welt beiträgt, sondern gut an und für sich selbst, absolut und unbedingt gut. Dies bedeutet insbesondere: es kann nicht ein Gutes sein, das nur heute gut ist und morgen nicht, es kann auch nicht ein Vieles sein, sondern nur eines, es ist das eine Gute über alles hinweg, das allem sonstigen Guten erst seinen Sinn, seine Güte gibt. Dieses Gute wäre nicht das Gute, wenn es nur ein ausgedachtes, ein postuliertes Gutes wäre – nur ein wirkliches Gutes ist das eigentlich Gute, denn allein gut ist, dass das Gute wirklich ist. Also müsste es ein Gutes sein, das schon da ist, und das fortdauernd da sein wird – ein Sein also33 –, und das dennoch 30
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Dies gilt im Übrigen aber auch für jede andere Art von Objektivität: Immer geht es darum, etwas besser zu tun oder besser zu sehen, der Realität des Gegenüber näher zu kommen (vgl. Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik, op. cit. S. 31). Vgl. Platon: Politeia, 505d: «Gutes aber genügt niemandem, nur scheinbares zu haben, sondern jeder sucht, was gut ist und den Schein verachtet hierbei schon jeder.» Überlegen heißt fragen, was besser ist. Darum ist mit allem Überlegen immer eine Rangordnung verbunden. Dies ist der Übergang, den Platon vollzieht, wenn er von der Frage, wie man leben soll, um gut zu leben (Politeia, 352d), übergeht zu der metaphysischen Frage nach dem Guten an sich und so den Weg eröffnet zu dem, was dann bei Aristoteles zur Metaphysik wird. (Vgl. Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik, op. cit. S. 40f.). Gemäß Ursula Wolf (Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben [Reinbek: Rowohlt, 1999]) ist dies der Übergang von der existentiellen Frage zu der formalen nach der Struktur unseres Verstehens. – Für Jaspers ist die Frage nach dem Guten – wie ich sie soeben, in Anknüpfung an die antike Philosophie und mit Seitenblick auf zeitgenössische Ansätze aufgenommen habe – kaum je – von philosophiehistorischen Interpretation abgesehen – von Bedeutung, der
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an mich den Anspruch ergehen lässt, mich an seine Seite zu stellen und dafür zu sorgen, dass es da sein kann. Besser müsste man aber vielleicht sagen: damit es durch mich oder in mir da sein kann. Letztlich geht es darum nicht nur um ein Tun, sondern, weit mehr noch, um ein Sein: selber die Person zu sein, die sich diesem absoluten Anspruch stellt, und insofern selber zu entscheiden, was ich bin.34
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Der Versuch, das gesuchte Gute näher zu bestimmen, hat uns, wie sich in diesen letzten Überlegungen zeigt, unweigerlich in das Gravitationsfeld jenes Begriffs gebracht, den Jaspers «Transzendenz» nennt als umfassendste Bezeichnung für das Sein, in dem ich selber meinen Grund habe und das alle immanenten Seinsweisen von Subjektivität und Objektivität übersteigt.35 Transzendenz scheint darum in der Tat die Art von Objektivität zu sein, auf die eine im vollen Sinn subjektiv werdende Subjektivität am Ende stoßen wird – in Form des von ihr gesuchten Guten resp. des von ihr in diesem Guten gesuchten Seins. Wie aber finde ich hin zu dem Punkt, an dem ich sagen kann, ich hätte dieses Sein erreicht? Ich kann es auf zwei Arten versuchen: Entweder gehe ich davon aus, dass dieses Eine, dieses absolute Sein voll gegenwärtig ist und dass es nur darum geht, mit diesem Sein hier und jetzt, in diesem Leben
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tragende Begriff ist für ihn der des Seins. Aber Sein (und insofern ist die Frage des Guten doch präsent) ist für ihn stets mit Wertsein verbunden. «Wir erblicken Sein nicht in Indifferenz […]. Vielmehr geht das Sein uns an und hat sogleich den Charakter, uns anzuziehen oder abzustoßen, unsere Liebe oder unseren Hass, unsere Befriedigung oder unser Erschrecken, unsere Einstimmung oder unsere Verzweiflung zu erwecken.» (Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 892) Jaspers’ Redeweise von «Abfall und Aufstieg» orientiert sich an diesem Wertbezug: «Wie ich werte, so bin ich, und so werde ich. Im Aufstieg bleibe ich, wenn ich meine Wertungen festhalte, prüfe, überwinde; wenn ich aber den Anschluss verliere an das Werten, das mir noch eben wahr gewesen ist, so sinke ich.» (Philosophie, Bd. III: Metaphysik [Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 1932, 41973] S. 84) Vgl. Jaspers: Philosophie, Bd. I, op. cit. S. 15f. Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 47-51, 110f. Andere Namen für Transzendenz seien «eigentliche Wirklichkeit» als die Transzendenz, mit der wir leben, «Gottheit» als die Transzendenz, die fordernd zu uns spricht, «Gott» als die Transzendenz, von der wir uns «persönlich getroffen wissen» (S. 111).
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schon, zu verschmelzen, oder ich halte daran fest, dass ich das Sein nie direkt haben kann, sondern nur in Form der Aufgabe, mich dafür einzusetzen, dass es in dieser meiner Welt «wirklich» wird – aber im vollen Wissen darum, dass dieses Sein letztlich nur eine im Unendlichen liegende Idee ist, die in der Welt niemals Realität werden kann. Der erste Weg ist der Weg der Mystik mit dem Erlebnis der mystischen Einheit, der Verschmelzung des Selbst mit dem Absoluten im Zentrum, das zweite ist der Weg des von dem Streben nach der Idee erfüllten Lebens, der «ideenhaften Existenz». Jaspers sieht für uns – seit der Psychologie der Weltanschauungen – nur diesen zweiten Weg. Wer in Raum und Zeit lebe, für den könne die Transzendenz nur in dieser Welt Wirklichkeit sein: dadurch, dass sie dem Einzelnen und Endlichen «einen Sinn und ewige Bedeutung» verleihe. Das Absolute sei nur da im Augenblick der Entscheidung, der nun absolute Wichtigkeit bekomme, «als ob das Ewige hier erst entschieden würde, von dieser zeitlichen Entscheidung abhänge».36 Das Absolute sei immer nur «inkorporiert im Endlichen, nicht selbst und nicht direkt gegeben. Im Mystischen kann der Mensch das Absolute, Gott, die Menschheit, das Nichts lieben, kann er gegenstandslos lieben, in dem Leben der Idee liebt er den einzelnen Menschen, ein Konkretes und Einzelnes, eine Sache, eine Aufgabe, ein Werk.»37 Gesetzt nun, ich ginge diesen zweiten Weg, ich glaubte,38 dass es solche unbedingten Forderungen gibt, Forderungen an mich also, die nicht bloß vitalen Impulsen und Interessen entspringen oder Imperative menschlicher Autoritäten sind, sondern von einem Absoluten her an mich ergehen. Wie kann ich dann überhaupt wissen, was das Absolute von mir fordert, was meine Aufgabe und meine Sache ist? Da ich keinen direkten Zugang zu diesem Absoluten habe, keine Offenbarung etwa, die mich leiten könnte, muss ich mich an das halten, was in der Welt vorkommt und was mir in ihr begegnet, und in aller Redlichkeit und Unvoreingenommenheit zu erkennen versuchen, was der Fall ist. Nichts von alledem jedoch, was sich mir an Handlungsmöglichkeiten in der Welt zeigt, kann unbedingt sein, denn alles, was ich tun kann, ist bedingt und bedingt wiederum anderes. Das Absolute kann darum kein bestimmter Zweck sein, den ich mir vornehmen kann, absolut kann nur das sein, was mich Zwecke setzen lässt, nur das, aus dem 36 37 38
Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen (Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer, 51960) S. 460. Ibid. 460f. Für Jaspers ist dies der erste Glaubenssatz des philosophischen Glaubens (vgl. Einführung in die Philosophie, op. cit. S. 83).
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heraus ich das will, was ich will.39 Doch wenn ich selbst es gewesen sein soll, der Zwecke setzt – und nur dies allein entspräche der Anfänglichkeit existentieller Subjektivität, nur dann wäre ich Freiheit –, wie kann dann ein anderes mich Zwecke setzen lassen? Dies, so die Antwort von Jaspers, ist nur möglich, wenn meine Entscheidung zugleich eine Entscheidung durch ein anderes, eben dieses Absolute ist. Wenn ich dort, wo ich mich führe, selber schon geführt werde, kurz, wenn es eine Führung gibt durch das Absolute. Aber wiederum stellt sich die Frage, wie ich nun feststellen soll, wo ich in meinen Entscheidungen auf der Seite dieses Absoluten bin? Dass es die Führung durch das Absolute gibt, so die Auskunft von Jaspers, zeigt sich mir nur auf eine Weise: dadurch, dass ich, in Kommunikation mit andern Menschen und mit mir selbst, mir dessen gewiss zu werden versuche, worauf es mir letztlich ankommt. Es ist eine innere Gewissheit, die in mir wächst und die sich darin äußert, dass alles Fragen aufhört. «Ein durch Reflexion aus einer unbegreiflichen Tiefe hell werdender Entschluss, mit dem ich selber identisch bin», in dem ich «meiner inne werde als dessen, was ich selbst bin, weil es sein soll».40 Dass dem so ist, kann ich nicht durch Gründe stützen. Es lässt sich mit keiner Argumentation erzwingen.41 Dennoch bin ich nicht orientierungslos: was mir an Aufgaben in der Welt und an historisch verwirklichten Möglichkeiten des Menschseins begegnet, erfahre ich als Angezogen- oder Abgestoßensein, als etwas, was mich anrührt oder anspricht, meine Liebe oder meinen Hass erweckt und mir dadurch zum Zeichen werden kann für das Absolute selbst.42 Diese mögliche werthafte Qualität alles in der Welt uns Begegnenden ist das, was Jaspers den Chiffer-Charakter alles Seienden nennt und das ihn dazu führt, im sogenannten Lesen von Chiffern einen andern möglichen Zugang zum Absoluten zu sehen.43 Aber ob ich – beim Ergreifen einer solchen Chiffer – meiner inneren Gewissheit trauen darf oder nicht, kann ich nie wissen, ich kann es nur glauben. Und selbst dieser Glaube ist kein ein für allemal gewonnener Besitz, sondern muss in verwandelter Situa-
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Ibid. S. 54. Ibid. S. 54f. Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 266. Vgl. Anm. 33. Falls man dieses Anziehen oder Abstoßen trivialisiert, bleibt dann in der Tat nur der Befund, mit dem etwa Tugendhat endet: Die Frage, welches Leben ich als das für mich richtige empfinde, sei letztlich eine Geschmacksfrage, wie die, was einen Wein zu einem guten Wein mache (Anthropologie statt Metaphysik, op. cit. S. 52).
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tion immer wieder neu erworben werden – ich bin mir nicht einmal gewiss, ob ich wirklich glaube.44 Dennoch gibt es nach Jaspers ein Indiz: Der unbedingte Entschluss wird erfahren als ein Nicht-anders-Können, wie es exemplarisch zum Ausdruck kommt in dem berühmten Luther Wort: «Hier stehe ich, ich kann nicht anders». Nicht zu handeln, wie ich glaube, handeln zu müssen, würde für mich heißen, zu nichts zu werden, mich selbst zeitlebens verachten zu müssen. Dieser Aspekt des absoluten Müssens, des Kategorischen weist darauf hin, dass hier eine andere Art von Notwendigkeit spricht als eine logische Notwendigkeit oder eine Naturnotwendigkeit: Es ist kein bloßes Überwältigtwerden durch einen momentanen Gefühlszustand, keine plötzlich auflodernde Leidenschaft oder, mythisch gesprochen, kein unberechenbarer Dämon, der mich packt, es ist auch kein nackter Daseinswille, der sich geltend macht, und noch weniger ein zwanghaftes Tun, denn alle diese Notwendigkeiten würden jene – über alle wechselnden Situationen hinweg – immer wieder neu zu erringende Kontinuität und Treue zu sich selbst, die den unbedingten Entschluss kennzeichnen, nie schaffen können.45 Es ist ein Entschluss aus Freiheit, aber einer Freiheit, die mit innerer Notwendigkeit zusammenfällt. Von mir allein zwar geht der Entschluss aus, aber dass ich den Anfang überhaupt machen kann, verdanke ich nicht mir, sondern einem anderen, das mich gesetzt hat als einen so und nicht anders Wählenden.46 Daher immer wieder die formelhafte Jaspers’sche Wendung: Ich werde mir selbst geschenkt. Und dieses unfassbar Andere, von dem ich mich geschenkt wisse, dies eben sei die Transzendenz. Ich wähle mich selbst, als ein von der Transzendenz Gesetzter. Der Glaube, dass es unbedingte Forderungen gibt, ist für Jaspers
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Ich darf auch nichts als Glaube akzeptieren, ohne mir immer wieder Rechenschaft darüber zu geben, aus welchen Gründen und nach welchen Kriterien ich eine Forderung als unbedingt anerkenne oder verwerfe. Der «beweisende Erfolg» des «existentiellen Entschlusses» ist nach Jaspers «die Treue, die als Bindung an den Entschluss, an Herkunft und Entscheidung in allen Situationen sich bewährt» (Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 270). Der unbedingte Entschluss ist darum die paradoxe Einheit des Subjektiven und des Objektiven, in der diese Spaltung aufgehoben wird – in dem, was ich selber tue, erfahre ich das andere, das nicht ich selber bin: die Subjektivität ist in sich selber die Objektivität. Dasselbe gilt auch für die Chiffern im Allgemeinen: «Die Chiffern sind objektiv: in ihnen wird etwas gehört, was dem Menschen entgegenkommt. Die Chiffern sind subjektiv: der Mensch schafft sie nach seiner Vorstellungsweise, Denkungsart, Auffassungskraft.» (Karl Jaspers: Kleine Schule des Philosophischen Denkens [München: Piper, 1965] S. 132f.)
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darum unmittelbar verknüpft mit dem Glauben, frei zu sein und als Freiheit im Absoluten verwurzelt zu sein.
6. Die historischen Quellen Aus den von Jaspers verwendeten Formulierungen spricht unverkennbar die philosophische Quelle dieses Gedankens: Vordergründig Kierkegaard,47 untergründig Kants Lehre vom Kategorischen Imperativ als Ursprung unserer Freiheit und als subjektiver Beweisgrund für das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele, bei Jaspers allerdings unter strikter Ablehnung des Gedankens eines in einem Jenseits liegenden Lebens und einer als endlose Dauer verstandenen Ewigkeit. Das Ewige ist für ihn nur im Augenblick des Entschlusses da, hier und jetzt, quer durch die Zeit. Das Kategorische ist bei Jaspers zudem nicht auf die moralische Forderung allein bezogen, es kann sich zu Wort melden in allem, was dem Einzelnen als existentielle Forderung aus Überlieferung und Umwelt entgegentritt und zur Leitidee seines Lebens werden kann. Einen für ein (theoretisch gestelltes) Bewusstsein überhaupt gültigen Beweis für die Richtigkeit dieses Glaubens und für die Richtigkeit des vom Einzelnen aus einem inneren Müssen heraus gewählten Weges kann es für Jaspers ebenso wenig geben wie für Kant. Denn was immer man objektiv (im Sinne der theoretischen Einstellung) ins Feld führen mag, bleibt zweideutig. Keiner kennt die Motive des andern, aus denen dieser letztlich handelt – der Glaube, dass etwas Unbedingtes aus ihm spricht, setzt von meiner Seite selber schon den Glauben voraus, dass es überhaupt Unbedingtes gibt. Nichts von alledem, was aus meinem Handeln hervorgeht, weist auf einen transzendenten Ursprung hin. Ob ich nun Erfolg habe in dieser Welt oder mit meinem Tun scheitere, weder das eine noch das andere sagt mir, dass ich mit der Transzendenz im Einklang bin,48 dass ich Gottes Wille getan habe, um in dieser Chiffer zu sprechen. Ich weiß nicht einmal, ob die Idee, der ich folge, je schon Wirklichkeit geworden ist. Ob es – z. B. – schon einmal Treue gegeben hat in dieser Welt, wird objektiv – für das Bewusstsein überhaupt – nie nachzuweisen sein. Ich kann mich dessen nur auf eine Weise vergewissern:
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An Kierkegaard erinnert Jaspers explizit bei seiner von Kierkegaard entliehenen Formel für Existenz: «Existenz ist, was sich zu sich selbst und darin zu seiner Transzendenz verhält.» (Philosophie, Bd. I, op. cit. S. 15) Vgl. Jaspers: Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 270.
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dadurch, dass ich selber treu bin. Ich führe den Beweis – mit meinem Tun. Und dieses Tun allein gibt mir die Berechtigung, daran zu glauben, dass mein Entschluss einen transzendenten Ursprung hat – im Sinne jenes Ausspruchs, den Kant dem rechtschaffenen Mann in den Mund legt, der sich an das moralische Gesetz gebunden weiß: «Ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen», dass es einen Gott und ein ewiges Leben geben muss, «denn dieses ist das einzige, wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen darf, mein Urteil unvermeidlich bestimmt».49 Subjektivität, auf ihre Spitze getrieben – als das im unbedingten Entschluss zum Ausdruck kommende absolute Interesse an mir selbst, «an meinem eigenen Heil», mein Interesse daran, mich nicht selbst verachten zu müssen – erwiese sich so in der Tat als Ursprung einer neuen Objektivität, nicht für das Bewusstsein überhaupt freilich, sondern für die mögliche Existenz, die nur ich selbst sein kann. Doch was berechtigt mich, diese Objektivität, auf die ich dabei stoße, mit dem Begriff «Transzendenz» zu verbinden? Wird dabei nicht, als theoretische Möglichkeit zumindest, immer schon vorausgesetzt, dass es so etwas wie Transzendenz überhaupt geben könne? Den Begriff und das Verständnis von Transzendenz kann ich in der Tat nicht schon durch die Subjektivität der Existenz allein gewinnen. Es ist ein Gedanke, der allein der Vernunft entspringt und den zu denken ich genötigt werde, wenn ich – im metaphysischen Sinne – nach dem zu fragen beginne, was denn überhaupt Wirklichkeit sei, und dabei die von Jaspers aufgezeigte philosophische Grundoperation vollziehe, die uns – über alle Subjekt-ObjektSpaltungen hinweg – Transzendenz als das Umgreifende alles Umgreifenden denken lässt. Die Philosophie kann darum der Existenz, die sich mit Vernunft durchdringen lassen will, zu Hilfe kommen, indem sie zu erhellen versucht, was dieses Sein ist, das ich als Existierender in der Unbedingtheit meines Entschlusses als die mich begrenzende, von mir unabhängige Wirklichkeit
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Kant: Kritik der praktischen Vernunft, A 258; AA 5, S. 143. In der Sprache von Jaspers kann dies heißen: Es ist entscheidend, «daß wir mit unserem Wissen und dem Wissen des Nichtwissens aus unserer Freiheit, in der Situation, in der wir leben, so leben, daß wir sagen: ‹Daß dieses in der Welt getan wird, ist der Wille der Transzendenz.› Das ist nur eine Chiffre, keine Realität. Wichtig ist, daß ich mich so verhalte, daß ich sage: Was ich erreichen kann, ist nur, daß ich weiß, was ich will, daß ich weiß, wofür ich leben will. Jeder Mensch ist zu preisen, dem es gelingt, dahin zu kommen, daß er weiß, worum es sich lohnt.» (Karl Jaspers: Provokationen – Gespräche und Interviews, hg. von Hans Saner [München: Piper, 1969] S. 53)
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erfahre.50 Ihre Hilfe besteht aber nicht darin, dass sie uns sagen würde, was Transzendenz in Wirklichkeit oder als Wirklichkeit ist, sondern indem sie das Gegenteil tut: Indem sie jede Art von Objektivität, in der das Bewusstsein überhaupt die Transzendenz zu fassen versucht, sogleich wieder zerschlägt und auf diese Weise zeigt, was Transzendenz alles – nicht ist und dass jeder Versuch zu sagen, was sie sei, notwendigerweise in Tautologien, Zirkeln und Widersprüchen enden wird. Inwiefern aber soll dies eine Hilfe sein? Es ist eine Hilfe, so würde Jaspers wohl sagen, weil dies und nur dies allein Freiheit und Existenz überhaupt möglich macht. Philosophie schafft mit ihrem Kampf gegen alle Positivitäten dem Einzelnen erst den Raum, in dem er voll und ganz mögliche Existenz sein kann, oder, um es mit Kant zu sagen: Philosophie (in ihrer wahren Gestalt) ist dazu da, alles vermeintliche Wissen wegzuräumen, um so dem Glauben – lies: der reinen Subjektivität – Platz machen zu können. Sie macht den Menschen erst frei, indem sie ihn befreit von jeder falschen Objektivität und so die Freiheit wach hält, durch die allein er Transzendenz erfahren kann. Geben jedoch kann sie nichts. Die ideellen Gehalte, die mögliche Existenz überhaupt ansprechen und in denen allein sie ihre möglichen Verwirklichungsformen finden kann, sind – für uns – die mythischen und religiösen Gehalte der biblischen und der abendländischen Überlieferung. So weit der Versuch, einsichtig zu machen, wie die Verbindung von Subjektivität und Objektivität gesehen werden könnte in der Jaspers’schen Grundformel: Keine Existenz ohne Transzendenz. Wie weit aber lässt sich seine Antwort, auch unter den heutigen Bedingungen des Philosophierens, noch nachvollziehen? Dazu abschließend ein kurzer Blick auf vier mögliche Konvergenzpunkte, exemplarisch verdeutlicht an einigen wenigen prominenten Wortführern in den einschlägigen Debatten.
7. Karl Jaspers und die heutige Debatte über Glaube und Wissen
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1. Von Existenz wird man heute kaum mehr sprechen, aber dass das, was uns als Personen ausmacht, im Selbstbezug liegt, ist eine kaum bestrittene und kaum zu bestreitende Prämisse auch der analytischen Philosophie des 35
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Der Ursprung des Philosophierens ist nach Jaspers aber selber auch schon die mögliche Existenz: «das Sein des Philosophen ist das Selbstwerdenwollen, das in der Breite des Philosophierens sich Raum, Möglichkeit und Ausdruck schafft.» (Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 411)
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Geistes. Wie aber müssen wir uns dieses Selbstverhältnis denken? Besonders erhellend ist die in diesem Kontext wohl einflussreichste Unterscheidung: Harry Frankfurts Unterscheidung zwischen Intentionen erster und Intentionen zweiter Ordnung.51 Wie jedes Lebewesen verhält sich auch der Mensch intentional, d. h. vorstellend und wünschend zu den Dingen dieser Welt. Anders als andere Lebewesen haben Menschen aber auch Intentionen zweiter Ordnung, Vorstellungen und Wünsche nämlich in Bezug auf ihre Wünsche und Vorstellungen erster Ordnung. Eine Person hat eine Vorstellung davon, welche Wünsche und welche Vorstellungen sie in Bezug auf Dinge dieser Welt hat, und sie entwickelt gewisse Wünsche zweiter Ordnung, diese Vorstellungen oder Wünsche erster Ordnung zu haben oder nicht zu haben: nicht den Wunsch z. B., all das haben zu müssen, was auch die andern haben wollen. Gewisse dieser Bewertungen haben ethische Bedeutung: sie sind nicht bloß Ausdruck von Wünschen, sondern Stellungnahmen gegenüber uns selbst. Ihr Merkmal ist, dass sie immer ein Entweder / Oder ausdrücken und uns damit vor die Frage stellen, mit welchen Einstellungen und Wünschen erster Ordnung wir uns identifizieren können und welche wir strikt – als unser nicht würdig – von uns weisen. Sie können – als Volitionen – zu einem Entschluss führen, zu einer Entscheidung darüber, welche Art von Person wir letztlich sein wollen. Charles Taylor hat für diese radikalen Urteile über uns selbst den Begriff «starke Wertungen» geprägt.52 Starke Wertungen teilten unsere Wünsche erster Ordnung nach Kategorien ein «wie höher oder niedriger, tugendhaft oder lasterhaft, […] tief oder oberflächlich, edel oder unwürdig. Sie werden als zu qualitativ verschiedenen Lebensweisen zugehörig eingestuft: fragmentiert oder integriert, entfremdet oder frei, heiligmäßig oder bloß menschlich, mutig oder kleinmütig usw.»53 Für Taylor ist dieser Punkt zentral. Es gibt, nach seiner These, keine Möglichkeit, ein sinnvolles menschliches Leben zu führen, das keine starken
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Vgl. den bahnbrechenden ersten Aufsatz von Harry Frankfurt: Freedom of the Will and the Concept of a Person, in The journal of philosophy 68 (1971) S. 5-20. Dt.: Willensfreiheit und der Begriff der Person, in ders.: Freiheit und Selbstbestimmung, hg. von Monika Betzler und Barbara Guckes (Berlin: Akademie, 2001) S. 65-83. So erstmals in Charles Taylor: What is Human Agency, in ders.: Philosophical Papers I (Cambridge: Cambridge University Press, 1985) S. 15-44. Dt.: Was ist menschliches Handeln?, in ders.: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992) S. 9-51. Ibid. S. 10f.
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Wertungen kennt. «Ein Überschreiten dieser Grenze», so Taylor wörtlich, «wäre gleichbedeutend mit dem Verlassen eines Daseins, das nach unseren Begriffen noch das einer integralen, also unversehrten Person ist.»54 Person sein heißt: selber bestimmen müssen, wo man steht im Raum der qualitativen Unterscheidungen und durch welche «Bindungen und Identifikationen» man seine «Identität» definiert.55 Dies ist unverkennbar das Motiv, das leicht zum Jaspers’schen Begriff der Existenz hinführen würde, zur Selbstwahl und zum «inneren Handeln». 2. Und wie steht es mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Existenz und Transzendenz? So wie Jaspers den Transzendenzbezug an der unbedingten Forderung festgemacht hat, so wird auch in der heutigen Debatte der Transzendenzbezug über den Forderungscharakter starker Wertungen gesucht. Woher denn kommt der unbedingte Anspruch, den starke Wertungen an uns stellen? Was sich sicher sagen lässt, ist dies: Welches auch die Werte sein mögen, die unsere Identität bestimmen, wenn sie uns tatsächlich Orientierung geben und uns unsere Handlungs- und Lebensweisen wertvoll machen sollen, können sie weder irgendwelchen faktischen Wünschen entspringen noch von uns erfunden oder von uns gesetzt sein, sondern müssen in sich selber, unabhängig von uns, ihre Gültigkeit haben. Sie gelten nicht, weil wir sie wollen, sondern wir wollen sie, weil sie gelten. Ihnen muss eine von uns unabhängige, unser Dasein übersteigende Realität zukommen. Starke Wertungen sind deshalb für Taylor, der hier wiederum Jaspers besonders nahe kommt, undenkbar ohne Bezug zur Transzendenz, ohne Bezug zu einer höheren moralischen Kraft, die uns, wie die platonische Idee des Guten oder der christliche Gott, ergreift und verwandelt.56 Verwandte Versionen dieses Gedankens – zumeist allerdings ohne explizite Bezugnahme auf Transzendenz – finden sich aber auch bei den meisten andern Vertretern eines Wertrealismus von Robert Nozick bis hin zu Thomas Nagel: Werte gewinnen zwar durch unseren Willen Wirklichkeit in dieser Welt, aber was werthaft ist, hängt nicht von unserem Willen ab, es hat ein von unserem Wollen unabhängiges Sein.57 Die Werte, die wir wählen, geben uns selber erst unseren 54
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Charles Taylor: The Sources of the Self: the Making of the Modern Identity (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1989). Dt.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994, 31999) S. 55. Ibid. Ibid. S. 177f. Vgl. Anton Hügli: Art. ‹Wert VI.›, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter u. a., Bd. 12 (Basel: Schwabe, 2004) Sp. 580-583.
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Von der Subjektivität des Glaubens und der Objektivität des Wissens
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Wert – unseren Adel und unseren Rang, wie Jaspers sagen würde. An erster Stelle muss darum für uns die Sorge darüber stehen, woran wir uns hingeben wollen. Sie ist es, die unsere einzigartige Identität stiftet und unserem Leben Kontinuität und Zusammenhang verleiht.58 3. Für uns zugänglich aber sind diese transzendenten moralischen Quellen nur im Horizont der uns bestimmenden Traditionen, Kulturen und Sprachen, und die «überpersönliche Realität» der Werte zeigt sich darin, dass wir gar nicht anders können, als uns dieser öffentlichen Sprache zu bedienen, wenn wir uns unser eigenes Tun oder das Tun anderer «begreiflich» zu machen versuchen. Größte Gefahr für den Menschen droht, wenn die Wertebasis einer Gesellschaft zerrinnt, wenn ihre moralischen Quellen versiegen und die motivierenden, handlungsleitenden Vorstellungen des Guten verloren gehen. Die Krise der Moderne, so einer der Hauptbefunde Taylors, beruht auf unserer Unfähigkeit, unsere Moralquellen und die für sie konstitutiven Vorstellungen des Guten zu artikulieren. Aufgabe der Philosophie sei es darum, den Menschen wieder an sich selber zu erinnern, ihn zur Artikulation seiner selbst und mithin zur Selbstwahl zu befähigen. Dies aber könne nur geschehen, wenn sie die verschütteten moralischen Quellen wieder lebendig zu machen versuche – gegen die Verhexungen des Naturalismus, der blind ist für alle qualitativen Unterscheidungen. Den Kampf gegen den transzendenzlosen Naturalismus zu führen, ist die Losung, die heute Denker verschiedenster Provenienz eint. Es ist, unter heutigen Vorzeichen, die Fortsetzung des Kampfes gegen den Unglauben, den Jaspers begonnen hat. Und wie bei Jaspers soll dieser Kampf nicht durch Rückkehr zu einem dogmatischen oder apologetischen Gottesglauben geführt werden, sondern durch eine wiederbelebende Aneignung der überlieferten religiösen Gehalte. Diese «mäeutische Rolle einer öffentlich-diskursiven Aneignung» der religiösen Überlieferung,59 die Jaspers Lesen der Chiffern der Transzendenz nennt, kann dann etwa bei Habermas in der Tradition der Kritischen Schule heißen: «rettende Übersetzung religiöser Gehalte»,60 und 58
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Dies ist eine der Hauptbotschaften von Harry Frankfurt (vgl. etwa ders.: The Importance of What We Care About – Philosophical Essays [New York: Cambridge University Press, 1988] S. 47-57). Jürgen Habermas: Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religonsphilosophie, in ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005) S. 249. Ibid. S. 237.
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was sie auszeichne, sei, dass sie sich, wie dies Jaspers vorgeführt habe, der religiösen Überlieferung gegenüber «kritisch und lernbereit» verhalte, «ohne Absicht der Einmischung und der ‹feindlichen Übernahme›»,61 aber darauf ausgerichtet, ihnen ihre «innerweltliche Sprengkraft»62 wieder zurückzugeben und unseren normativen Einstellungen motivierende «Schubkraft» zu verschaffen.63 4. Klares Bewusstsein besteht aber auch darüber, dass jeder Einzelne auf seine Weise diese Aneignung vollziehen muss und dass wir darum mit einer Pluralität von in gleichem Maße «authentischen Lebensweisen» rechnen müssen: «Wertorientierungen», die für uns «existentielle Bedeutung haben», so noch einmal Habermas, dürften nicht mit «verallgemeinerbaren moralischen Überzeugungen (oder gar theoretischen Aussagen)» verwechselt werden. Sie erheben keinen «Anspruch auf universelle Anerkennungswürdigkeit».64 Es müsse darum mit einem grundlegenden Dissens zu rechnen sein, den anzuerkennen von uns gegenseitig gefordert sei und der uns nicht dazu verleiten dürfe, das Gespräch abzubrechen.65 Wir dürfen diesen Satz wohl lesen als das Zugeständnis der Heutigen, dass nicht zuletzt dieser Wille zur unbegrenzten Kommunikation, über alle Differenzen hinweg, auch das Band ist, das sie mit der Philosophie von Karl Jaspers verbindet.
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Ibid. S. 255. Ibid. S. 243. Ibid. S. 249. Ibid. S. 248. Ibid. S. 321f.
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Studia philosophica 67/2008
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Philosophical faith has, according to Jaspers, been a possibility of believing since the beginnings of philosophy. Philosophical faith is faith without revelation and without dogmas. How then can we achieve certainty of faith? Jaspers refers to the procedure of self-ascertainment (Selbstvergewisserung). It is a way of thinking which leads to private certainty in the examination of concepts, arguments, insights, traditional ideas and images. The process of self-ascertainment cannot be completed. The achieved certainty is existential certainty, provisional and subjective, but in its degree of certainty it is stronger than objective certainty. Correspondingly, philosophical faith is existential faith, founded in the philosophical intention ‹to convince oneself›.
Am 19. April 1947 schreibt Karl Jaspers an Hannah Arendt, er habe eine Einladung der Universität Basel für sechs Gastvorlesungen angenommen und müsse natürlich auch versuchen, etwas Neues zu machen. Er denke an das Thema «der philosophische Glaube» – und dann fügt er zweifelnd und zögernd hinzu: «oder klingt das eigentlich schon an sich unmöglich?»1 Diese selbstkritische Frage war zu Recht gestellt. Denn die Verknüpfung von «Philosophie» und «Glaube» musste auf den ersten Blick als in sich widersprüchlich erscheinen: Wie vermöchte Philosophie, Inbegriff rationaler Erkenntnis, sich mit Glauben zu verbinden? Die sechs Vorlesungen, die Jaspers im Juli 1947 an der Universität Basel gehalten hatte, sind im Jahr darauf unter dem Titel Der philosophische Glaube publiziert worden. Obwohl Jaspers den Begriff des philosophischen Glaubens schon in früheren Schriften gelegentlich verwendet hatte, etablierte doch erst der Buchtitel den Begriff als neuen philosophischen Terminus. 14 Jahre später, im Spätherbst 1962, wenige Monate vor seinem 80. Geburtstag, erscheint dann Karl Jaspers’ letztes großes Werk: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung. Er versteht es als Summe und Vermächtnis seines Denkens. Auf der Höhe internationaler Anerkennung und in der 1
Hannah Arendt, Karl Jaspers: Briefwechsel 1926-1969, hg. von Lotte Köhler und Hans Saner (München, Zürich: Piper, 1985) S. 117.
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Gewissheit, über die Situation des modernen Menschseins Maßgebliches sagen zu können, resümiert er seine existenzphilosophische Grundposition und bezieht Stellung – prononcierter als in seinen früheren Schriften. Mit den beiden Werken über den philosophischen Glauben will Jaspers auf die veränderte Situation des Denkens aufmerksam machen. Denn die traditionelle, bisher selbstverständliche Trennung von Vernunfterkenntnis und Glaubenserkenntnis treffe nicht mehr das Wesentliche.2 Philosophie und Wissenschaft hätten ihre frühere, im Vertrauen in die Erkenntniskraft der Vernunft begründete Zusammengehörigkeit verloren. Sie besäßen je eigene, ihnen spezifische Erkenntnisformen. Philosophie sei nicht mehr Teil von Wissenschaft. Die moderne Wissenschaftlichkeit transformiere das gesamte überlieferte Denken und grenze sich von ihm ab. Doch das philosophische Denken behalte seine Bedeutung, denn es «trage unser Menschsein»; ohne es «würden wir uns selbst verlieren».3 Die Trennung von Wissenschaft und Philosophie führe auch und gerade dazu, dass sich die Philosophie ihres eigenen Ursprungs bewusst werde. Aufgrund ihrer Eigenständigkeit unterscheide sie sich sowohl von der Wissenschaft als auch von der Theologie und dem religiösen Glauben. Deshalb sei nun an die Stelle des alten Gegensatzes von Vernunfterkenntnis und Glaubenserkenntnis die Dreigliederung von Wissenschaft, Philosophie und Theologie getreten.4 Noch schärfer gefasst, ließe sich die neue Situation des Denkens folgendermaßen charakterisieren: Heute vertritt die Philosophie – wie die Theologie und doch ganz anders als diese – den Standpunkt der Glaubenserkenntnis.
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1. Der eigene Ursprung philosophischen Glaubens Für Jaspers steht fest: Was in den Zuständigkeitsbereich der Einzelwissenschaften fällt, hat aus der Philosophie auszuscheiden. Was der Philosophie bleibt, ist «Erkennen nicht im Sinne der Allgemeingültigkeit für jeden Verstand», sondern ist «Denkbewegung der Erhellung philosophischen Glaubens».5 Anders formuliert heißt das, dass Philosophie im wissenschaftlichen Zeitalter durch ihre Abgrenzung von Wissenschaft die Gestalt philoso2 3 4 5
Vgl. Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (München: Piper, 1962) S. 38. Ibid. S. 96. Vgl. ibid. S. 38, S. 95f. Ibid. S. 99.
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phischen Glaubens annimmt. Dieser ist – nach einer Formulierung bereits aus dem Jahr 1937 – «der unerläßliche Ursprung allen echten Philosophierens».6 Der philosophische Glaube ist ein existentieller Glaube, er kann immer nur für das Individuum unbedingte Geltung erlangen. – Bereits diese wenigen Hinweise machen deutlich, dass der Prozess der Subjektivierung von Philosophie in Jaspers’ Konzept des philosophischen Glaubens seine nicht mehr überbietbare Spitze erreicht hat. Für Jaspers lautet die Konsequenz: Philosophie besitzt ihr zentrales Anliegen in der Vergewisserung je eigener Glaubensgewissheit. Philosophie, die dies nicht als ihre eigentliche Aufgabe erkennt, ist keine echte Philosophie mehr. Warum, so fragt er, sei die Philosophie heute «außer Sicht geraten»? Die Gründe, so führt er aus, bestünden darin, dass die Philosophie, «sich vergessend», ihre Aufgabe nicht mehr wahrnehme: «Sie erhellt nicht mehr das, woraus der Mensch lebt, versäumt das Denken, das vermöge dieser Erhellung das Leben trägt.» Es komme hinzu, dass bei den Philosophierenden die «totale Ergriffenheit» fehle. Das Denken werde unverbindlich: «Dadurch wird es existentiell matt, auch wenn es logisch scharf, literarisch gekonnt ist. Es hört auf, Philosophie zu sein.»7 Diese Aussagen, die dezidierter nicht formuliert sein könnten, sind dem Werk von 1962 entnommen. Dort lassen sich zahlreiche weitere Stellen finden, die ebenso eindeutig bezeugen, dass Philosophie nur noch in Gestalt philosophischen Glaubens möglich ist, und das heißt zugleich, nur noch als Existenzphilosophie Bedeutung besitzt. Durch diese Generalisierung und Hypostasierung hat der neue Begriff des philosophischen Glaubens seine spezifische Aussagekraft, seine präzise Bedeutung und Eigenart verloren. Er wird gleichsam zum Synonym für Existenzphilosophie im Sinne von Karl Jaspers. Ursprünglich konzipiert, um die neue Situation der Philosophie im Wissenschaftszeitalter begrifflich zu charakterisieren und ihre Eigenständigkeit zu betonen, verliert der Begriff des philosophischen Glaubens abermals an Bestimmtheit und Genauigkeit, wenn nun Jaspers immer häufiger betont, der selbständige Ursprung der Philosophie sei durch die Jahrtausende seit den Anfängen der griechischen Philosophie vorhanden. Er sei jedoch in das Denken des Offenbarungsglaubens hineingenommen und von diesem als selbständiger Glaubensursprung
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Karl Jaspers: Existenzphilosophie. Drei Vorlesungen gehalten am Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt a. M., September 1937, vermehrt um ein Nachwort (Berlin: de Gruyter, 21956) S. 80. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 101f.
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geleugnet worden.8 Demgegenüber erhebt Jaspers den Anspruch, die Philosophie wieder auf ihren «ewigen eigenen Ursprung» zurückzuführen: Der Sinn seines Philosophierens, so stellt er 1957 fest, sei die «Behauptung des eigenen Ursprungs philosophischen Glaubens».9 Philosophieren, wenn es überhaupt zur persönlichen Gewissheit führen soll, endet im persönlichen Glauben; man kann ihn in Abgrenzung vom religiösen Glauben als philosophischen bezeichnen. Vor dem Hintergrund der heutigen Situation des Denkens ist diese Feststellung nachvollziehbar und plausibel. Denn der sich der wissenschaftlichen Rationalität verdankende Wissensfortschritt macht deutlich, dass Philosophie nicht Wissenschaft ist – aber auch nicht Religion. Doch schon die Lektüre der Basler Vorlesungen lässt erkennen, dass Jaspers mit dem neuen Begriff des philosophischen Glaubens keineswegs etwas Neues bezeichnet. Es geht ihm nicht um die Begründung einer neuen Form des Denkens, sondern um die Rückkehr zu einer Art des Philosophierens, die seiner Überzeugung nach seit den Anfängen philosophischen Denkens sowohl durch die Jahrhunderte als auch durch die Verschiedenheit der Kulturen hindurch maßgebend war. Sie steht mithin in der Tradition der philosophia perennis, die im Prozess der Moderne in Vergessenheit geraten bzw. von der wissenschaftlichen Philosophie verdrängt worden war. Dies erklärt, weshalb Jaspers nicht zögerte, den ihm vom Verlag vorgeschlagenen Titel für die englische Übersetzung seiner Basler Vorlesungen zu akzeptieren: «The Perennial Scope of Philosophy»10 – ein Titel, der dem tatsächlichen Inhalt zwar nicht unangemessen ist, der aber der eigentlichen Intention die Spitze bricht und den ebenso eindringlichen wie pointierten Originaltitel verharmlost. «Der philosophische Glaube ist die Substanz eines persönlichen Lebens», formulierte Jaspers bereits im Jahr 193711 und betonte damit, dass Glauben zum Menschsein gehört, nicht jedoch unbedingt Religion. Glaube ist das Grundphänomen, nicht Religion. Der Mensch ist folglich nicht «naturaliter religiosus», wie die traditionelle Formel besagt, sondern sozusagen «naturaliter credens». Glauben gehört zum Menschsein – unausweichlich und jenseits religiöser Zugehörigkeit, kultureller Herkunft oder weltanschaulicher Ge-
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Vgl. ibid. S. 99. Karl Jaspers: Antwort, in Karl Jaspers, hg. von Paul Arthur Schilpp (Stuttgart: Kohlhammer, 1957) S. 750-852, hier: S. 775. Vgl. Jaspers’ Brief an Hannah Arendt vom 23. November 1948, in Arendt, Jaspers: Briefwechsel, op. cit. S. 159. Jaspers: Existenzphilosophie, op. cit. S. 79.
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bundenheit. Das ist Jaspers’ Hauptaussage. In unserem Zeitalter sich verschärfender Religionskonflikte besäße sie das Potential, zur Analyse und Klärung der Konfliktsituation beizutragen, sofern die Bedeutung der nicht-religiösen Glaubensformen in einer sich globalisierenden und dadurch sich immer auch säkularisierenden Welt überhaupt erkannt und zum Thema gemacht wird. Jaspers ist in seinem Vorhaben, einem Hauptphänomen des Menschseins einen Namen zu geben, gescheitert. Der Begriff des philosophischen Glaubens hat sich nicht durchgesetzt. Die Provokation ist ausgeblieben, die Debatte hat nicht stattgefunden. Das Menschheitsphänomen der Vergewisserung und des Fürwahrhaltens nicht-religiöser Glaubensinhalte blieb unzureichend thematisiert. Eine Chance wurde vertan. Heute sind die beiden Bücher, die den Begriff des philosophischen Glaubens im Titel führen, vergriffen und nicht mehr lieferbar. Die von Jaspers in seinem Brief an Hannah Arendt gestellt Frage, ob das Thema «der philosophische Glaube» nicht eigentlich schon an sich unmöglich klinge, muss 60 Jahre später bejaht werden. Der Begriff des Glaubens ist religiös konnotiert, darum wird der Begriff des philosophischen Glaubens als in sich widersprüchlich wahrgenommen. – Sam Harris’ religionskritischer Bestseller etwa, von dem dieser Tage so häufig die Rede ist, heißt einfach The End of Faith und in der deutschen Übersetzung Das Ende des Glaubens:12 Wer von «Glaube» spricht, braucht nicht zu präzisieren, dass er den religiösen Glauben meint. – Die Rezeptionsgeschichte von Jaspers’ Begriff des philosophischen Glaubens zeigt eindrucksvoll, dass es nicht gelingen kann, einen neuen Begriff gegen den vorherrschenden Sprachgebrauch durchzusetzen. Selbst der leichter verständliche Begriff «Glaube ohne Religion», der in eher weltanschaulichen Kontexten gelegentlich verwendet wurde, blieb aus demselben Grund erfolglos. Es kommt die Schwierigkeit hinzu, dass die deutsche Sprache nur das eine Wort «Glaube» besitzt und nicht in der Lage ist, zwischen «foi» und «croyance» zu unterscheiden und folglich auch nicht zwischen «fede» und «credenza» oder zwischen «faith» und «belief». Es ist bemerkenswert, dass in den Übersetzungen Jaspers’ Begriff des philosophischen Glaubens in der überwiegenden Mehrzahl mit «foi philosophique», «fede filosofica» bzw. «philosophical faith» wiedergegeben wird. Dies ist eigentlich ein überraschender Befund, zumal im Französischen und Englischen die alternati12
Sam Harris: The End of Faith. Religion, Terror, and the Future of Reason (New York: Norton, 2004). Dt.: Das Ende des Glaubens. Religion, Terror und das Licht der Vernunft (Winterthur: Edition Spuren, 2007).
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ven Wendungen von «croyance philosophique» und «philosophical belief» durchaus geläufig sind. Mit der Wahl von «foi», «fede» und «faith» rückt der «philosophische Glaube» in die Nähe des religiösen Glaubens oder wird in Parallele zu diesem gesetzt. Um das Gesagte zu verdeutlichen, empfiehlt sich ein Blick auf Kants häufig zitierte und auch von Jaspers mehrfach erwähnte programmatische Aussage in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: «Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen».13 Alle gängigen französischen Übersetzungen verwenden hier «croyance»: «Je dus donc abolir le savoir pour faire place à la croyance.» Obwohl es Kant um den Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit geht und damit der religiös ausgerichtete Begriff «foi» durchaus angemessen wäre, wird der Begriff «croyance» bevorzugt, um die Tatsache hervorzuheben, dass dieser Glaube eine rationale Grundlage besitzt.14 Umso irritierender ist es daher, dass Jaspers’ Begriff des philosophischen Glaubens, der sich bekanntlich unmittelbar an Kants Begriff des «Vernunftglaubens» anschließt, in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle mit «foi philosophique» usw. wiedergegeben wird.
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2. Was ist Glaube? Zu glauben ist leicht, das Phänomen zu begreifen schwer. «Glaube» ist ein schwieriger Begriff. Er entzieht sich einer präzisen Definition. Sein Bedeutungsspektrum ist weit. Dennoch gibt es einen Bedeutungskern, der einigermaßen verbindlich fixierbar ist. Glaube bezeichnet dann eine innere Sicherheit und Gewissheit, die weder beweisbar noch allgemeingültig herleitbar ist. Insofern stehen sich Glaube und Wissen gegenüber. Das, was Orientierung stiftet, besitzt nicht den Status des Wissens; es ist nicht Gegenstand des Wissens, sondern des Glaubens. Der Glaube kann ein religiöser oder ein philosophischer sein: stets handelt es sich um denselben Akt subjektiven Fürwahrhaltens. Glaube ist ein Hauptphänomen des Menschseins. Es besteht in dem einfachen Sachverhalt, dass Menschen über letzte Positionen verfügen. Sokrates ist sich seiner philosophischen Glaubensposition gewiss: Es ist besser, ein Unrecht zu erleiden, als eines zu begehen. Dies gilt ausnahmslos, 13 14
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XXX. Vgl. Philippe Büttgen: Art. ‹Glaube›, in Vocabulaire Européen des Philosophies. Dictionnaire des Intraduisibles, hg. von Barbara Cassin (Paris: Seuil, 2004) S. 507f.
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und daher nimmt er die Konsequenzen auf sich.15 Camus lässt Dr. Rieux sagen: «Und ich werde mich bis zum Tod hinein weigern, diese Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.»16 Jaspers’ bevorzugtes Beispiel eines Philosophen, bei dem philosophische Einsicht zum Glauben wurde, ist Giordano Bruno, zumal in der Gegenüberstellung zu Galileo Galilei. Bruno glaubte, Galilei wusste. Beide wurden vom Inquisitionsgericht unter Androhung der Todesstrafe zum Widerruf ihrer Lehren genötigt. Bruno widerrief nicht und wurde zum Tode verurteilt. Galilei widerrief. Beide handelten nach Jaspers vernünftig, denn Bruno verteidigte eine Wahrheit, die in seinem Glauben begründet war, Galilei opferte eine Wahrheit, die den Status wissenschaftlichen Wissens besitzt. Es gibt offensichtlich Wahrheit, die durch Widerruf leidet und unwahr wird, und Wahrheit, die durch Widerruf nichts von ihrer Wahrheit verliert. Die erste ist Wahrheit, aus der ich lebe und die nur für mich unbedingte Geltung besitzt, die zweite ist Wahrheit, deren allgemeine Gültigkeit von mir unabhängig ist. Für eine solche Wahrheit, die letztlich bloß objektive Richtigkeit ist, zu sterben, wäre unangemessen.17 Jaspers feiert Giordano Bruno als «den großen Märtyrer der modernen Philosophie, heldenhafter als irgendein christlicher Märtyrer, insofern er auf sich selbst stehen musste kraft des philosophischen Glaubens, weder die Gewissheit der Offenbarung noch die Gemeinschaft einer Kirche besaß, sondern allein vor Gott stand».18 In Wissenschaftstheorie und Argumentationsanalyse ist es üblich, Aussagen aufgrund ihres erkenntnistheoretischen Status zu unterscheiden und eine Differenzierung vorzunehmen in Sätze des Wissens, Sätze begründeter Überzeugung und Sätze des Glaubens. Wissenssätze sind empirisch oder wissenschaftlich gesichert und besitzen objektive Geltung. Sätze begründeter Überzeugung sind zwar rational-argumentativ fundiert, ihr Geltungsanspruch entzieht sich jedoch wissenschaftlicher Überprüfung. Demgegenüber weisen Glaubenssätze schon deswegen einen anderen Status auf, weil ihre Rechtfertigung letztlich über alles Wissen und über alle Überzeugungen hinaus in einer persönlichen und, wie Jaspers sagen würde, unbedingten Glaubensentscheidung liegt. Auch wenn es nicht immer leicht fällt, die vorgeschlagene Grenzziehung exakt durchzuführen, weil die Übergänge durchaus fließend sind, wird
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Platon: Gorgias, 469c, vgl. 479e. Vgl. ferner Kriton, 49b-e. Albert Camus: Die Pest (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1998) S. 247. Vgl. Karl Jaspers: Der philosophische Glaube (München: Piper, 61974) S. 11. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 90.
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eine Analyse am Leitfaden dieses einfachen Schemas doch jeweils deutlich machen können, wie die Grenzen verlaufen zwischen dem, was ich wissen, dem, was ich als begründete Überzeugung vertreten, und schließlich dem, was ich nur in einem Glaubensakt als persönliche Gewissheit gewinnen kann. Es sei noch angemerkt, dass der Gewissheitsgrad in der Reihe Wissen, Überzeugung, Glaube hinsichtlich der objektiven Gewissheit und Verbindlichkeit von Sätzen zwar abnimmt, aber im Hinblick auf subjektive Gewissheit und existentielle Bedeutung zunimmt. Es stellt sich jetzt die Frage, wie der philosophische Glaube, der über keinen Kanon von Glaubenssätzen verfügt, zu seinen Glaubensgewissheiten gelangt. Jaspers nennt ein prozedurales Verfahren: die Selbstvergewisserung.
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3. Glaubensgewissheit durch Selbstvergewisserung 15
Am Beginn steht Jaspers’ kategorische Feststellung, Glauben gehöre zum Menschsein: «Jeder Mensch braucht für alles, was ihm ernst ist, eine Glaubensgrundlage.»19 Der Glaube ist entweder philosophischer oder religiöser Glaube. Er ist entweder reflektiert und bis zur persönlichen Gewissheit vorangetrieben, oder er ist in der religiösen Tradition begründet, in bewusstem, explizitem Anschluss oder aus gedankenloser Gewohnheit. Diese generellen Aussagen sind nur möglich unter der Voraussetzung, dass auch Philosophie ein Menschheitsphänomen ist. Dies wird von Jaspers bejaht. Die Philosophie sei dem Menschen als Menschen zugehörig.20 Es gebe deshalb, so folgert Jaspers, «keinen Standpunkt außerhalb des Gegensatzes von Philosophie und Religion». Jeder Mensch stehe in dieser Polarität auf der einen Seite und spreche über die andere in einem entscheidenden Punkt ohne eigene Erfahrung.21 Jaspers erläutert diese Polarität zumeist am Gegensatz zwischen Philosophie und christlichem Offenbarungsglauben. Offenbarung sei zwar keine Realität, wohl aber der Offenbarungsglaube, der deshalb ernst zu nehmen sei. Offenbarung sei allenfalls und in gewissem Sinne für jene eine «Realität», denen sie zuteil werde. Jaspers selbst blieb sie verschlossen: «Ich glaube nicht an Offenbarung und habe es nie, soweit mir bewußt ist, auch nur der
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Karl Jaspers: Provokationen – Gespräche und Interviews, hg. von Hans Saner (München: Piper, 1969) S. 72. Vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 62. Vgl. ibid. S. 60.
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Möglichkeit nach getan.»22 Somit besteht eine letzte, von Jaspers eingestandene Grenze des Verstehenkönnens des Offenbarungsglaubens. Philosophischer und religiöser Glaube stehen sich im Grunde unvereinbar gegenüber. Während der philosophische Glaube inhaltlich nicht festzulegen ist und an die einzelne Person gebunden bleibt, besitzt der religiöse Glaube fixierte Glaubensinhalte. Wem das Philosophieren einmal Wirklichkeit geworden sei, so Jaspers, dem sei es verwehrt, fraglos in der Autorität zu leben.23 Insbesondere der Offenbarungsglaube steht einer solchen Aussage verständnislos gegenüber. Der Besitz der Offenbarungswahrheit lässt andere Glaubenspositionen irrelevant werden; er macht dialogunfähig und gefährdet Kommunikation. Jaspers berichtet über seine Diskussionen mit Theologen, sie hätten sich ihrer Wahrheit «erschreckend gewiss» gefühlt, doch wer im endgültigen Besitz der Wahrheit sei, könne mit dem andern nicht mehr richtig reden.24 Weil der im Dogma erstarrte Offenbarungsglaube seine Glaubenssätze wie ein Wissen besitze, tendiere er zum Ausschließlichkeitsanspruch. Der philosophisch Glaubende hingegen könne nicht einmal predigen, denn er habe nichts zu verkünden. Er müsse sich selbst seines persönlichen Glaubens gewiss werden. Als Selbstvergewisserung bezeichnet Jaspers jene Denkbewegung, die in der Auseinandersetzung mit Argumenten, Einsichten, Positionen, überlieferten Vorstellungen und Bildern zu einer persönlichen Gewissheit führt. Dieses prozedurale Vorgehen setzt einen, wie Jaspers sagt, «rückhaltlosen Willen» zur Selbstvergewisserung voraus, aber auch die «Bereitschaft zu unbegrenzter Offenheit».25 Ein solches Denken erbringt keine Gewissheit von der Zuverlässigkeit und Konstanz der Offenbarungsgewissheit, aber es vermag mehr als diese, weil es eine persönliche Gewissheit gewährt, deren Wert in ihrer existentiellen Verbindlichkeit und Bedeutsamkeit besteht. Der Offenbarungsglaube fordert Glaubensgehorsam und verlangt, das Rätselhafte und Unverständliche wie etwas Gegenständliches anzunehmen, während der philosophische Glaube vom Willen geleitet ist, «sich selbst zu überzeugen». Der Prozess der Selbstvergewisserung bleibt unabschließbar, gelangt zu keinen definitiven Ergebnissen und «verfestigt sich nur als vorläufiges Schema»; die Nachfrage beginnt stets von neuem wieder.26 Selbst22 23 24 25 26
Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 35. Vgl. Jaspers: Existenzphilosophie, op. cit. S. 46. Vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 61. Vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 140. Vgl. ibid.
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vergewisserung verändert zugleich das natürliche Seinsbewusstsein, nimmt die selbstverständliche Gewissheit; sie zieht uns, wie Jaspers sagt, «den gewohnten Boden weg».27 Es geht hier um einen elementaren Sachverhalt: Mit dem Menschsein verbindet sich eine Reihe von Grundfragen. Sie betreffen den undurchschaubaren Grund unseres Hierseins; sie beziehen sich auf die «unheimliche Situation unseres Daseins»28 und sie sind in existentieller Hinsicht unumgänglich. Jaspers erörtert diese Grundfragen zumeist im Zusammenhang seiner Ausführungen über die Grenzsituationen von Tod, Kampf, Leiden, Schuld, Zufall. Die Grenzsituationen sind Grundsituationen des Menschseins, die im Unterschied zu den Situationen in der Welt für jeden Menschen identisch und daher unausweichlich sind. Wir können ihnen nicht aus dem Weg gehen. Wenn wir sie vermeiden und verdrängen, bleiben wir uns selbst unverständlich. Mit der Erfahrung der Grenzsituationen beginnt der Denkweg der Selbstvergewisserung, die uns zu uns selbst bringen kann. In einem einzigen Satz von Jaspers zusammengefasst: «Die Größe des Menschen liegt in dem, was er in der Erfahrung der Grenzsituationen wird.»29 Das Entweder-Oder von philosophischem und religiösem Glauben zeigt sich hier erneut: Wem die Gnade der Offenbarung zuteil wird oder wer in fraglos feststehenden religiösen Vorstellungen aufwächst, besitzt verbindliche Antworten auf die für uns als Menschen wesentlichen und zugleich unvermeidlichen Grundfragen. Dass diese sich jedoch mit philosophischen Mitteln nicht verbindlich beantworten lassen, ist Teil der conditio humana. Zugleich verlangt die Praxis konkreter Lebensgestaltung, im Hinblick auf die Grundfragen Stellung zu nehmen und Entscheidungen zu treffen. Wer nun den Grundfragen mit Absicht aus dem Wege geht und sie bewusst zu vermeiden sucht, der lässt sie gerade durch dieses Ausweichen unbemerkt Einfluss nehmen auf sein Leben. Vermeidung, Zurückweisung, Verdrängung sind auch nur Weisen der Präsenz der Grundfragen im Leben. Philosophische Selbstvergewisserung fordert nicht nur, sich zu entscheiden und in der Praxis des Daseins zu eigenen Standpunkten zu gelangen, sondern sie verlangt auch, für verschiedene Möglichkeiten offen zu bleiben, sich nicht definitiv festzulegen und gegebenenfalls die errungene Position wieder zu relativieren. Zwischen diesen beiden entgegengesetzten Anforderungen, sich zu verpflichten und dennoch offen zu bleiben, gibt es keine Vermittlung; 27 28 29
Vgl. ibid. S. 141. Ibid. S. 29. Ibid. S. 319.
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Bemühungen, diese in sich widersprüchliche Situation zu überwinden, würden der existentiellen Wirklichkeit widersprechen. Wenn Jaspers den philosophischen Glauben vom religiösen Glauben scharf abgrenzt, dann bedeutet dies keine Abwertung des Religiösen, auf das wir existentiell angewiesen bleiben. Auch in persönlich-biographischer Hinsicht hat Jaspers seine Zugehörigkeit zur christlichen Glaubenstradition stets hervorgehoben: «Wir Abendländer alle sind Christen, weil in diesem Raum geprägt, durch die Herkunft in unserer Seele bewegt, in unseren Entschlüssen und Zielsetzungen bestimmt, und mit Bildern und Vorstellungen erfüllt, die auf die Bibel zurückgehen.»30 Während die religiösen Glaubensaussagen für den philosophischen Glauben nur den Status von Chiffren besitzen, sind sie für den religiösen Glauben Realität. Zudem ist der philosophische Glaube inhaltlich nicht fixierbar. Selbst ein Bekenntnis wie «Es gibt keinen Gott» kann philosophische Glaubensgewissheit werden. Aber auch wenn es keinen Gott gibt, so bleibt Transzendenz. Philosophischer und religiöser Glaube erweisen sich am Ende als unvereinbar. Der Wechsel von einer der beiden Glaubensformen zur anderen ist allerdings nach Jaspers’ «Vermutung» nur einseitig möglich: «Es ist zu vermuten, daß ein zum religiösen Glauben Gekommener, der vorher Philosoph war, niemals beim eigentlichen Philosophieren war».31 Trotz dieser Einschätzung bleibt fraglich, ob ein philosophischer Glaube, der nichts zu verkünden hat, im Dialog mit den Religionen, deren Glaubenssätze verbindliche Orientierung gewähren, zu bestehen vermag. HansGeorg Gadamer bemerkte in den Gesprächen, die er in den Jahren 1999 und 2000 mit Riccardo Dottori führte, Jaspers sei eben – im Gegensatz zu Heidegger – kein religiöser Mensch gewesen. Angesichts der drohenden globalen Krisen forderte Gadamer, den Dialog mit den Kulturen und Religionen voranzubringen. Auf die Frage, ob sich dabei das offene Transzendenzverständnis von Jaspers und sein philosophischer Glaube als hilfreich erweisen könnten, antwortete er ebenso knapp wie eindeutig: «Nein, das ist viel zu wenig.» Existenzerhellung sei, auf die heutige Lage bezogen, nur noch «moralistisches Bürgertum» und ohne Sinn für die religiöse Bedeutung und Macht von Transzendenz. Jaspers’ «großbürgerliche Zurückhaltung» könne uns aus der Bedrohungssituation der Gegenwart nicht retten.32 Damit wollte
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Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 52. Jaspers: Existenzphilosophie, op. cit. S. 80f. Hans-Georg Gadamer: Die Lektion des Jahrhunderts. Ein Interview von Riccardo Dottori (Münster: Lit, 2001) S. 138f.
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Gadamer allerdings nicht sagen, dass man mit Jaspers’ Transzendenzbegriff nicht dasselbe beschreiben könne, was er selbst auch sehe, aber das liege daran, dass Jaspers ebenso wie er durch die Idee der Aufklärung geprägt sei. Und er gibt zu bedenken, dass diese Aufklärungsidee «unsere Sache ist und nicht die der Welt».33
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4. Existentieller Glaube Philosophie, so Jaspers, soll alles, was wir sind, was wir sein können und was wir tun, denkend durchdringen. Sie bringt uns dadurch in Distanz zu allem, was wir denken, tun und sind; sie bringt uns mithin in Distanz zu uns selbst.34 Mit dieser Vergewisserung seiner selbst beginnt eine Denkbewegung, die Jaspers die philosophische Grundoperation nennt. Sie leistet keine Erkenntnis neuer Gegenstände oder Dimensionen, und deshalb erscheint uns dieses Denken als fremdartig und leer.35 Sie besitzt jedoch die Macht, das Seins- und Selbstbewusstsein zu verändern. Sie bewirkt eine Umkehr. Es ist die Umkehr, «durch die wir als Menschen erst zu eigentlichen Menschen werden».36 Das ist nun ein Zentralsatz der Existenzphilosophie. Er macht deutlich, dass Jaspers’ Konzept philosophischen Glaubens eine Reihe existenzphilosophischer Grundannahmen zur Voraussetzung hat. Philosophische Glaubensgewissheit ist an das Individuum gebunden und lässt sich ohne Einsatz der Person, ohne Akte wirklicher Freiheit und ohne Vollzüge der Existenz nicht gewinnen.37 Wenn sich das Individuum seines Glaubens gewiss wird, dann stellt diese Gewissheit – für die betreffende Person – in der Tat ein absolutum dar, ohne es jedoch nach außen mit Absolutheitsanspruch vertreten zu können. Es ist evident, dass die einzelne Person – für sich selbst – die absolute Geltung ihrer Glaubensgewissheiten weder preisgeben kann noch darf; und würde sie es tun, so handelte es sich nicht um persönliche Glaubensgewissheit. Selbstvergewisserung ist der Reflexionsprozess, in dem sich die einzelne Person ihres Glaubensstandpunkts gewiss wird. Es handelt sich um sub33 34 35 36 37
Ibid. S. 151. Vgl. Karl Jaspers: Chiffren der Transzendenz, hg. von Hans Saner (München: Piper, 1970) S. 99. Vgl. Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge (Zürich: Artemis, 1950) S. 31. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 133. Vgl. Karl Jaspers: Nachlaß zur Philosophischen Logik, hg. von Hans Saner und Marc Hänggi (München, Zürich: Piper, 1991) S. 387.
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jektive Gewissheit, doch in ihrem Gewissheitsgrad ist sie aller objektiven Gewissheit überlegen. Jaspers bezieht sich auch in diesem Punkt auf Kant,38 und zwar auf dessen «Schlußanmerkung» zu seiner kleinen Schrift von 1791 Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee. Kant führt darin Folgendes aus: Niemand könne dafür stehen, dass das, was er sagt, wahr sei, denn möglicherweise irre er sich. Doch jeder könne dafür stehen, dass sein Fürwahrhalten wahrhaft sei. Es bleibe daher durchaus fraglich, ob das, was wir für wahr halten, in objektiver Hinsicht tatsächlich wahr sei. Aber in meiner subjektiven Gewissheit, in der ich das als wahr Erkannte bezeuge, darin «kann ich schlechterdings nicht irren». Kant geht sogar noch einen Schritt weiter und meint, wer einen Glaubenssatz vertrete, ohne ihn sich wahrhaft bewusst zu machen, der lüge: «Derjenige also, welcher […] sagt, er glaube, ohne vielleicht auch nur einen Blick in sich selbst gethan zu haben, ob er sich in der That dieses Fürwahrhaltens oder auch eines solchen Grades desselben bewußt sei, der lügt ».39 Kants Wendung vom prüfenden «Blick in sich selbst» legt es nahe, nach der Entscheidungsinstanz philosophischer Glaubensvergewisserung zu fragen: Wer ist es, der sich seiner Position gewiss wird? Ist es das Subjekt, das Ich, das Selbst? – Nun bezeichnet «Selbstvergewisserung» bei Jaspers nicht etwa ein diskursives Verfahren rationaler Prüfung vor dem «Gerichtshof der Vernunft», sondern meint existentielle Selbstvergewisserung. Es geht nicht um die abwägende Entscheidung zwischen einer vorgegebenen Mehrzahl von Wahlmöglichkeiten, sondern es geht um die weitaus grundsätzlichere Selbstwahl, also um existentielle Entscheidung. Hier gilt der Satz: «was ich bin, das werde ich durch meine Entscheidungen».40 Die Instanz philosophischer Selbstvergewisserung ist folglich die als solche nicht mehr weiter objektivierbare Existenz. Daher gelange ich in der Glaubensvergewisserung zu Entscheidungen, die mein Menschsein bestimmen: «Wie der Mensch sich seines Menschseins gewiss ist, das ist ein Grundzug des philosophischen Glaubens.»41 Dies macht nun zugleich deutlich, dass es in Glaubensfragen keine Einmütigkeit und keine Übereinstimmung geben kann. Wenn es sich um philosophische Glaubensgehalte handelt, dann kann es nicht gelingen,
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Vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 380f. Immanuel Kant: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee, AA 8, S. 253-272, insbesondere S. 267-269. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 119. Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 51.
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einen für alle Menschen «gemeinsamen Boden» zu finden.42 Denn die existentielle Glaubensgewissheit ist nicht verhandelbar. Sie ist gleichsam das existentielle fundamentum inconcussum. Es kommt hinzu, dass es durchaus fraglich ist, inwieweit der Prozess der Selbstvergewisserung tatsächlich ein Denkprozess ist. Dieser Prozess ist kein ausschließlich rationales Verfahren, in ihn fließen die eigene Lebensgeschichte, die ganze Persönlichkeit ein. Er endet in Gewissheit; ist diese erreicht, dann ist der Weg dorthin nicht mehr rekonstruierbar. Philosophie im Verständnis von Karl Jaspers ist letztlich nur auf dieses eine Ziel gerichtet, Selbstgewissheit zu erreichen. Diese ist mit keinem objektiven Wissen zu vergleichen, sie ist nur begrenzt kommunizierbar, aber sie hat die Besonderheit, auf die Person, die diese Gewissheit erfährt, zurückzuwirken und sie in ihrem Selbstsein zu gestalten. Es ist an dieser Stelle vielleicht nicht überflüssig, an die Worte zu erinnern, mit denen Jaspers 1932 seine dreibändige Philosophie eröffnete: «Philosophie, das Wagnis, in den unbetretbaren Grund menschlicher Selbstgewissheit zu dringen».43 Der Prozess der Selbstvergewisserung ist durch die spezifische kulturelle und geschichtliche Situation ebenso bestimmt wie durch die konkrete Lebenssituation. Keine Realität, so erklärt Jaspers, sei für die Selbstvergewisserung wesentlicher als die Geschichte. Diese lasse den weitesten Horizont der Menschheit erkennen, sie bringe uns die unser Leben begründenden Gehalte der Überlieferung und sie befreie uns aus der bewusstlosen, unbemerkten Gebundenheit an das eigene Zeitalter.44 Wenn der Begriff des Glaubens auf den religiösen Glauben eingeschränkt wird, dann ist er viel zu eng gefasst. Glaube ist ein Menschheitsphänomen, Religion nicht. Es gibt Glaube ohne Gott. Denn es gibt eine subjektive Gewissheit, die ihrem Gewissheitsgrad nach objektive Gewissheit übertrifft. Jaspers nennt sie philosophische Glaubensgewissheit oder einfach philosophischen Glauben. Aber dieses persönliche Fürwahrhalten ist weder durch Argumente noch durch Gründe zu erzwingen. Es ist inhaltlich nicht zu fixieren und entzieht sich einer direkten Mitteilbarkeit. Der philosophische Glaube ist zutiefst privat, denn er ist ein existentieller Glaube. Hätte Jaspers diesen Begriff als Buchtitel gewählt, wäre die Rezeptionsgeschichte möglicherweise erfolgreicher verlaufen.
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Vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 38. Karl Jaspers: Philosophie, 3 Bde. (Berlin: Springer, 1932), Bd. I, S. VII. Vgl. Jaspers: Einführung in die Philosophie, op. cit. S. 92.
Studia philosophica 67/2008
KURT SALAMUN
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The purpose of this article is to justify the following two theses: (1) Jaspers’s concept of philosophical faith is of high relevance for his conception of humanity as well as for his conception of philosophy in general; (2) the concept of philosophical faith implies a set of specific moral norms that allows seeing in Jaspers an advocate of a liberal ethos of humanity.
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Ich möchte hier folgende beiden Thesen vertreten und begründen: (1.) die These, dass die Konzeption des philosophischen Glaubens bei Jaspers einen zentralen Stellenwert für sein Menschenbild hat, ja überhaupt die Basis für sein Philosophieverständnis bildet, und (2.) die These, dass diese Konzeption auf das Engste mit moralischen Implikationen verbunden ist, die Jaspers zwar nicht in Form einer expliziten Ethik formuliert hat, die aber als implizites Ethos seinem Philosophieren zugrunde liegen. Ich habe dieses Ethos in einigen meiner Publikationen auch als ein «liberales Ethos der Humanität» bezeichnet.1 Dieses Ethos bildet den moralischen Bezugsrahmen, an dem sich der Mensch orientieren muss, der aus dem philosophischen Glauben heraus lebt.
1. Philosophischer Glaube und Transzendenz 30
Ein erstes Indiz für den zentralen Stellenwert des philosophischen Glaubens für Jaspers’ Menschenbild, das ich hier nennen möchte, ist der Umstand, dass Jaspers diesen Glauben in der existentiellen Eigentlichkeitsdimension des Menschseins ansiedelt, die sich der empirischen Nachweisbarkeit und 35
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Vgl. Kurt Salamun: Karl Jaspers (Würzburg: Königshausen & Neumann, 22006) S. 89-94; ders.: Die liberal-aufklärerische Dimension in Jaspers’ Denken – ein Beispiel moderner Aufklärung, in Karl Jaspers – Zur Aktualität seines Denkens, hg. von Kurt Salamun (München: Piper, 1991) S. 65-68.
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exakten definitorischen Bestimmbarkeit von vorn herein entzieht. So spricht er mehrfach davon – ich zitiere hier nur eine Stelle aus der Schrift Vernunft und Existenz –, dass das, was der philosophische Glaube sei, letztlich nicht «mit objektiver Bestimmtheit auszusprechen» sei.2 Umschreibungen dessen, was Jaspers darunter verstehen möchte, finden sich aber dennoch in definitionsähnlichen Äußerungen wie etwa in jener Stelle aus der Schrift Existenzphilosophie, wo es heißt: «Der philosophische Glaube ist der unerlässliche Ursprung alles echten Philosophierens. Aus ihm erfolgt die Bewegung des eigenen Lebens in der Welt, um die Erscheinungen der Wirklichkeit zu erfahren und zu erforschen und um dadurch umso heller die Wirklichkeit der Transzendenz zu erreichen.»3 Hier wird der philosophische Glaube sowohl als Ursprung echten Philosophierens als auch der «Bewegung des eigenen Lebens in der Welt» bezeichnet. Im existenzphilosophischen Hauptwerk, der Philosophie, sowie in dem Buch Von der Wahrheit charakterisiert Jaspers diesen Glauben u. a. als eine Art von nicht-objektivierbarer «Seinsgewissheit» des Menschen, als ein «Vertrauen in den Grund des Seins» trotz aller Ungewissheiten, als «Zutrauen dass das Sein und seine Erkennbarkeit im Grunde in Ordnung sei.»4 Deutlich kommt die Grundintention, die Jaspers mit seiner Glaubenskonzeption verbindet, auch in dem von ihm mehrfach zitierten mittelalterlichen Spruch zum Ausdruck, mit dem er seine letzte Vorlesung an der Universität Basel im Sommersemester 1961 beendete: Ich komme, ich weiß nicht woher, Ich bin, ich weiß nicht wer, Ich sterb’, ich weiß nicht wann, Ich geh’, ich weiß nicht wohin, Mich wundert’s, dass ich fröhlich bin.5
Man würde die Grundintention der Konzeption des philosophischen Glaubens missverstehen, wenn man diesen Glauben als eine kontemplative Einstellung angesichts von erlebten Krisen- und Grenzsituationen deuten würde. Er ist auch kein passives Standhalten gegenüber negativen emotionalen Grundstimmungen wie Angst, Verzweiflung und Sinnlosigkeitsgefühlen, die aus mannigfachen Erlebnissen des Scheiterns in vielerlei Lebensbelangen her2 3 4 5
Vgl. Karl Jaspers: Vernunft und Existenz (München: Piper, 1960) S. 143. Karl Jaspers, Existenzphilosophie (Berlin, New York: de Gruyter, 41974) S. 80. Karl Jaspers: Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung (Berlin, Heidelberg: Springer, 41973) S. 281; ders.: Von der Wahrheit (Neuausgabe München: Piper, 1958) S. 67. Karl Jaspers: Chiffren der Transzendenz (München: Piper, 31977) S. 108.
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stammen. Dieser Glaube stellt vielmehr eine höchst aktive Lebenseinstellung oder Lebenshaltung dar, er ist, wie Gerhard Knauss einmal mit Recht betont hat,6 eine spezifische «philosophische Verhaltensweise», und zwar eine Verhaltensweise, die eine fundamentale Lebenszuversicht zum Ausdruck bringt. Diese philosophische Verhaltensweise lässt den Menschen angesichts der im Scheitern alles objektiven Weltseins und Weltwissens erlebten Enttäuschungen, Angst- und Sinnlosigkeitserfahrungen niemals resignieren. Der Mensch erhält aus diesem Glauben stets neue Impulse für die Weltorientierung, für das Erhellen der möglichen Existenz, das Verwirklichen der je eigenen Existenz und für das Vergewissern der Transzendenz. Was die Transzendenz betrifft, auf die der philosophische Glaube bezogen ist, hat sich Jaspers bekanntlich in allen seinen Werken eindringlich darum bemüht, ihre Ungegenständlichkeit, Nichtwissbarkeit und Nichtallgemeinheit zu betonen. In seinen Umschreibungen verbindet er mit dem Wort «Transzendenz» verschiedene Bedeutungsvarianten. Er spricht davon als vom «eigentlichen Sein», der «eigentlichen Wirklichkeit», dem «Ganzen des Seins», dem «Grund von allem, was wir sind und was an sich ist», dem «Ursprung», dem «Umgreifenden» oder auch von der «Gottheit» oder von «Gott». Jeder Versuch, die Transzendenz inhaltlich zu denken, ist aus seiner Sicht zum Scheitern verurteilt. Jeanne Hersch schreibt dazu in ihrer JaspersMonographie einmal Folgendes: Jaspers hat die Transzendenz gelegentlich (in den Spätwerken häufiger) Gott genannt. Es ist dann aber ein verborgener Gott (deus absconditus), der sich nicht offenbart. Die Transzendenz hat absolut nichts von einem empirischen Wesen, bei dem man sich fragen könnte, ob es wirklich ist – in welchem Raum? in welcher Zeit? […] Transzendenz ist das Sein, das absolut Umgreifende.7
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Mit seinem Transzendenzverständnis greift Jaspers ein uraltes Problem aller Metaphysik und Theologie auf, das man folgenderweise formulieren kann: Wie kann man über ein Sein denken und sprechen, das von vorn herein so aufgefasst wird, dass es in den Kategorien unseres Denkens und Sprechens nicht zu vergegenständlichen ist, sondern jenseits der Erfassbarkeit in Denkund Sprachkategorien liegt? Jaspers’ Lösungsversuch für dieses Dilemma 6
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Vgl. Gerhard Knauss: Der Begriff des Umgreifenden in Jaspers’ Philosophie, in Karl Jaspers, hg. von Paul Arthur Schilpp (Stuttgart: Kohlhammer, 1957) S. 139. Jeanne Hersch: Karl Jaspers. Eine Einführung in sein Werk (München: Piper, 1980) S. 36.
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besteht in Folgendem: Er will sein Philosophieren über die Transzendenz nicht als inhaltliche Sachaussagen über ein transzendentes Sein verstanden wissen, sondern bloß als «Leitfaden» oder «Zeiger» auf das eigentliche Sein der Transzendenz hin. Er möchte das eigentliche Sein nur in «Denkvollzügen umkreisen», sich der Transzendenz bloß «vergewissern», aber nichts Inhaltliches über sie aussagen, damit man sich kein gegenständliches «Bild» von ihr macht. Seine Transzendenzphilosophie soll nicht als Lehre mit erlernbaren Wissensinhalten, sondern als «Philosophie» in der «Schwebe» aufgefasst werden. Sie soll kein inhaltliches Wissen vermitteln, sondern an den Einzelnen «appellieren», sich aus dem philosophischen Glauben heraus im eigenen Existenzvollzug in einem Akt des «inneren Gewahrwerdens» und der existentiellen Betroffenheit der Transzendenz gewiss zu werden. In der Diskussion um Jaspers’ Transzendenzverständnis wurde nicht zu Unrecht auf starke Ähnlichkeiten zu Plotins Seins- und Gottesverständnis aufmerksam gemacht. In Plotins Metaphysik ist die Gottheit «entrückt aller Zufälligkeit und aller Zusammengesetztheit […] wahrhaft und eigentlich Eines»8 und wie die Transzendenz bei Jaspers unerkennbar, gestaltlos und in den Kategorien des Denkens unfassbar. Als transzendenter «Urgrund» liegt sie noch vor der Spaltung in Subjekt und Objekt und gleicht auch in dieser Hinsicht der Transzendenzvorstellung von Jaspers. Dass diese Vorstellung gewisse Ähnlichkeit mit Denkmotiven in asiatischen religiösen Weltanschauungen hat, ist ebenfalls mehrfach hervorgehoben worden; so wurden z. B. Parallelen zu Laotses Verständnis des Tao aufgewiesen.9 Man hat auch Parallelen zur sogenannten «negativen» oder «dialektischen» Theologie gesehen. Auch Jaspers versucht Kategorien, die nur auf immanentes Sein anwendbar sind, auf das Absolute zu übertragen. Der dabei gemachte Kategorienfehler soll durch Zurücknahme der Kategorie oder durch gleichzeitigen Gebrauch der entgegen gesetzten Kategorie (z. B. die gleichzeitige Benennung der Transzendenz als des absolut Zufälligen und des absolut Notwendigen) wieder aufgehoben werden. So soll auf dem Wege des logischen Widerspruchs, des Zirkelargumentes und der Zurücknahme von Benennungen, also durch scheiternde Gedankenvollzüge, mittelbar das Absolute erhellt und für Augenblicke gegenwärtig gemacht werden. 8 9
Plotins Schriften, übersetzt von R. Harder, Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen (Hamburg: Meiner, 1956) S. 151. Vgl. Young-do Chung: Karl Jaspers und Lao-tse. Parallelen zwischen den Begriffen Transzendenz und Tao, in Jahrbuch der Österreichischen Karl-JaspersGesellschaft 14 (2001) S. 63-69.
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Ich kann hier auf die methodische Problematik eines solchen Verfahrens nicht eingehen und auf die Gefahr, dass man damit nur allzu leicht in einem sprachlosen Mystizismus enden kann.10 Hier sei vielmehr noch kurz auf die Bedeutung des Begriffs der «Chiffer» oder «Chiffre» in Jaspers’ Transzendenzphilosophie verwiesen. Für Jaspers ist die Chiffre die ungegenständliche «Sprache der Transzendenz». Eine Chiffre ist kein inhaltlich verstehbares und interpretierbares Symbol, sondern nur ein «schaubares» Symbol. Das Wort «schauen» stellt dabei eine Umschreibung für den nicht-rationalen, intuitiven Akt dar, auf den Jaspers immer wieder metaphorisch verweist, indem er davon spricht, dass die Transzendenz dem Menschen über die Chiffern nur in ungegenständlicher «metaphysischer Erfahrung fühlbar» werde, dass sie ihm «gegenwärtig» werde, dass er ihrer «gewiss» oder «inne» werde. Was im Erleben der Transzendenz durch eine Chiffre erfahren wird, bleibt unaussprechbar und das nicht mitteilbare Geheimnis der jeweiligen Existenz. Das «Lesen der Chiffreschrift der Transzendenz», wie Jaspers metaphorisch sagt,11 kann nur aus dem philosophischen Glauben und in individueller existentieller Betroffenheit gelingen. Man hat gegen Jaspers öfters den Vorwurf erhoben, sein Transzendenzbegriff und sein Chiffrenbegriff seien höchst unklar und inhaltlich unbestimmt. Gerade die inhaltliche Unbestimmtheit dieser Begriffe liegt aber ganz in Jaspers’ Absicht, wenn man das eingangs angedeutete liberale Ethos der Humanität mit bedenkt, das als moralischer Bezugsrahmen seinem Denken zugrunde liegt. Aus diesem Ethos heraus lehnt Jaspers eine inhaltlich bestimmte, konkrete Gottesidee, die irgendwelche Forderungen an den Menschen stellt, von vorn herein ab. Die Transzendenz und die Chiffren der Transzendenz dürfen aus seiner Sicht nicht mit einem inhaltlichen Gottesbild verbunden werden, weil dies die individuelle Entscheidungs- und Verantwortungsfreiheit des Menschen beeinträchtigen und die «Offenheit» für die Vielfältigkeit von möglichen Lebensentwürfen einschränken würde. Jaspers’ Transzendenz vermittelt dem Menschen keine Glaubensinhalte und moralischen Gebote, für deren Befolgung er ihr gegenüber verantwortlich wäre. Jeder Mensch ist nur sich selber gegenüber dafür verantwortlich, ob er der Möglichkeit seiner unvertretbaren Existenz bzw. seines «eigentlichen Selbstseins» gewahr wird und diese Möglichkeit zu verwirklichen trachtet. Dass er
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Vgl. dazu meine kritische Argumentation in Kurt Salamun: Karl Jaspers (Würzburg: Königshausen & Neumann, 22006) S. 34-37. Vgl. Karl Jaspers: Philosophie, Bd. III: Metaphysik (Berlin, Heidelberg: Springer, 41973) S. 128f.
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dies immer wieder von neuem versucht, dafür ist in Jaspers’ Transzendenzphilosophie der philosophische Glaube verantwortlich. Im Akt der Existenzverwirklichung ist sich dieser Glaube der Transzendenz gewiss, ohne dass er sie in irgendeiner Weise bildlich oder denkend zu objektivieren braucht. 5
2. Philosophischer Glaube als Bedingung individueller Selbstverwirklichung Für das Menschenbild von Jaspers ist der philosophische Glaube deshalb zentral, weil er eine notwendige Voraussetzung für die individuelle Selbstverwirklichung darstellt. In der Schrift Der philosophische Glaube heißt es: «Der philosophische Glaube aber ist der Glaube des Menschen an seine Möglichkeit. In ihr atmet seine Freiheit.»12 Die jeweils eigene «Existenz» oder das «eigentliche Selbstsein» kann empirisch nicht erfasst werden und ist wissenschaftlich nicht objektivierbar, sondern kann nur im jeweils eigenen Lebensvollzug subjektiv erlebt werden. Auf das Problem, wie man den «Aufschwung» zum eigentlichen Selbstsein erreichen kann, gibt Jaspers bekanntlich zur Antwort, dass dies nie rational zu planen sei, dass solche Möglichkeiten aber im Durchleben von Grenzsituationen und in der existentiellen zwischenmenschlichen Kommunikation bestünden. Auch in diesem Zusammenhang spielt der philosophische Glaube eine zentrale Rolle. Als Glaube an die prinzipielle Möglichkeit, den Aufschwung zur Existenz bzw. zum eigentlichen Selbstsein erleben zu können, ist dieser Glaube zugleich das Vertrauen darauf, bei der Konfrontation mit Grenzsituationen (Tod, Leiden, Kampf, Schuld) nicht in resignative Verzweiflung und nihilistische Selbstaufgabe zu verfallen. Er ist die Sinnbasis, aus der der Mensch trotz tiefster Erschütterung durch das Erleben der Grenzsituation die Zuversicht zum Weiterleben und zum Bewältigen der Grenzsituation schöpft. Auf der Basis des philosophischen Glaubens, der mit der moralischen Werthaltung der Wahrhaftigkeit verbunden ist, auf die Jaspers immer wieder verweist, setzt sich der Mensch in einem Prozess des inneren Handelns und der engagierten Selbstreflexion illusionslos mit der erlebten Grenzsituation und deren Geschichtlichkeit auseinander. In diesem Prozess vermag er sein authentisches Ich, sein eigentliches Selbstsein und seine existentielle Freiheit zu verwirklichen. Das Freiheitserlebnis in der existentiellen Dimension sieht Jaspers stets mit dem Erleben des «Geschenktseins» durch die Transzendenz verbunden. 12
Karl Jaspers: Der philosophische Glaube (München: Piper, 71981) S. 59.
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Letzteres macht deutlich, dass das liberale Ethos der Humanität, das mit dem philosophischen Glauben verknüpft ist, keineswegs ein liberalistisches Verabsolutieren der individuellen Freiheitsidee bedeutet. Denn das Innewerden der Transzendenz im Erleben der Selbstverwirklichung in existentieller Freiheit macht dem existierenden Menschen deutlich, dass er nicht der letzte Seinsgrund ist. Oder anders formuliert: Die Bezogenheit des philosophischen Glaubens auf die Transzendenz wirkt, wie es in der Schrift Der philosophische Glaube heißt, der «Selbstgewissheit», dem «Hochmut moralischer Selbstzufriedenheit», dem «Stolz auf angeborene Artung» entgegen,13 d. h. der Selbstüberschätzung und dem Verabsolutieren des eigenen Ichs. Diese Grundideen von Jaspers kommen in folgenden beiden Stellen aus der Schrift Der philosophische Glaube anschaulich zum Ausdruck: Die Welt zeigt sich bodenlos. Aber der Mensch findet in sich, was er nirgends in der Welt findet, etwas Unerkennbares, Unbeweisbares, niemals Gegenständliches, etwas, das sich aller forschenden Wissenschaft entzieht: die Freiheit und was mit ihr zusammenhängt. Hier habe ich Erfahrung nicht durch Wissen von Etwas, sondern durch Tun. Hier führt der Weg über die Welt und uns selbst zur Transzendenz.14
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Das Wesentliche ist, dass der Mensch als Existenz in seiner Freiheit sich geschenkt erfährt von der Transzendenz. Dann wird die Freiheit des Menschseins der Kern aller Möglichkeiten in der Führung durch die Transzendenz, durch das Eine zu seiner eigenen Einheit.15
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3. Philosophischer Glaube und Kommunikationsbereitschaft
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Dass der philosophische Glaube und das damit verbundene Ethos bei Jaspers auch in engstem Zusammenhang mit dem kommunikativen Grundanliegen seines Philosophierens gesehen werden muss, machen Äußerungen deutlich, in denen davon die Rede ist, dass man den philosophischen Glauben auch «Glauben an Kommunikation» nennen könne, dass er «unlösbar von der restlosen Kommunikationsbereitschaft» sei, oder dass er «der Glaube an die Möglichkeit» sei, «sich uneingeschränkt gegenseitig zu verstehen».16
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Vgl. ibid. S. 57. Ibid. S. 51. Ibid. S. 57. Vgl. ibid. S. 134, sowie Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (München: Piper, 1962) S. 150.
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Daraus wird ersichtlich, dass diesem Glauben im Kontext des Jaspers’schen Philosophierens die Aufgabe zukommt, das Bemühen um das Verstehen von anderen Menschen und die Bereitschaft zur Kommunikation mit anderen Menschen stets von neuem anzustacheln und niemals erlahmen zu lassen. Dies gilt auch in Bezug auf die wegen ihrer Absolutheitsansprüche kritisierten Offenbarungsreligionen. Es gilt, mit deren Verfechtern stets von neuem darüber nachzudenken, ob es nicht Gemeinsamkeiten zwischen der Position des philosophischen Glaubens und der Position der jeweiligen Offenbarungsreligion gibt, etwa im Verteidigen und Rechtfertigen von Grundwerten und Menschenrechten. In diesem Sinne meint Jaspers in dem Buch Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung auch einmal: «Dieser philosophische Glaube, in vielen Gestalten auftretend, wird nicht Autorität, nicht Dogma, bleibt angewiesen auf Kommunikation unter Menschen, die notwendig miteinander reden, aber nicht notwendig miteinander beten müssen.»17 Als «Wagnis radikaler Offenheit» ist der philosophische Glaube mit der Grundeinstellung identisch, sich anderen Menschen bedingungslos mit den eigenen Überzeugungen und Absichten mitteilen zu wollen und nicht von vorn herein Verständigungsmöglichkeiten durch Verschleierungen und taktisches Verschweigen eigener Auffassungen und Absichten auszuschließen. Die kommunikative Dimension des philosophischen Glaubens, der sich selber nicht zum Dogma erhebt und andere weltanschauliche Standpunkte nicht von vorn herein aus dem Bereich der Möglichkeit kommunikativer Verständigung ausgrenzt, lässt diesen Glauben auch für das Anliegen einer interkulturellen Verständigung bedeutsam erscheinen. Er bildet zusammen mit der Vernunft, auf deren kommunikative Dimension Jaspers vor allem in dem späten Buch Die Atombombe und die Zukunft des Menschen nachdrücklich verweist, die notwendige Bedingung für das vertrauensvolle Bemühen, über alle ethnischen, nationalen, kulturellen und politischen Unterschiede und Gegensätze hinweg, ein politisches Ziel immer von neuem anzustreben, das Jaspers in seinem politischen Denken als «Weltfriedenszustand» bezeichnet hat. Diesem Ziel kann man sich aus der Sicht von Jaspers nur dann annähern, wenn man bereit ist, von fundamentalistischen Totalitätsansprüchen, vom missionarischen Vereinnahmungsdenken und von autoritären Einheitsideen auf allen Gebieten des Lebens Abschied zu nehmen. Für Jaspers bedingt die «antinomische Grundstruktur allen Seins» von vorn herein prinzipielle Unsicherheit, Ambivalenz und Unabgeschlossenheit aller Zielsetzungen, Pläne und Lebensentwürfe. Nicht das Streben nach Sicher17
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heit, Einheit und Geschlossenheit ist die Grundtendenz des philosophischen Glaubens. Solche Bestrebungen fördern in der Welt bloß dominanzorientierte, kommunikationsfeindliche Einstellungen und Aktivitäten. Für den Menschen, der aus dem philosophischen Glauben heraus lebt, ist entsprechend von Jaspers’ liberalem Ethos der Humanität vielmehr das unablässige Streben nach Offenheit und nach einer undogmatischen Pluralität charakteristisch, und zwar einer Pluralität, die unterschiedliche und gegensätzliche Standpunkte, Persönlichkeiten, Religionen, Kulturen usw. ernst nimmt, sie nicht von vornherein ausgrenzt, sondern sie zunächst einmal als gleichrangige Kommunikationspartner akzeptiert. Dass die vertrauensvolle Offenheit und undogmatische Pluralität, die der philosophische Glaube nahe legt, nicht opportunistische Beliebigkeit und grenzenlose Toleranz (etwa auch gegenüber radikal intoleranten Standpunkten) implizieren, hat Jaspers übrigens mit seiner Kritik sowohl am Totalitarismus als auch an Absolutheits- und Totalitätsansprüchen in Religionen und politischen Ideologien (etwa dem Marxismus) deutlich gemacht.
4. Philosophischer Glaube und religiöser Offenbarungsglaube 20
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In Anbetracht seines Transzendenzverständnisses sowie der Konzeption des philosophischen Glaubens ist es nur konsequent, wenn Jaspers den philosophischen Glauben von allen konfessionell fixierten Glaubenspositionen und jeder Art von religiösem Offenbarungsglauben entschieden abgrenzt. So schreibt er z. B. in Der philosophische Glaube: Religion kennt den Kultus, ist gebunden an eine eigentümliche dem Kultus entspringende Gemeinschaft der Menschen und untrennbar vom Mythos. Immer gehört zur Religion die reale Beziehung des Menschen zur Transzendenz in Gestalt eines in der Welt vorkommenden Heiligen als eines vom Profanen oder Unheiligen Abgegrenzten. Wo dies nicht mehr da ist oder verworfen wird, da ist das Eigentümliche der Religion verschwunden […]. Philosophie dagegen kennt als solche keinen Kultus, keine priesterlich geführte Gemeinschaft, keine vom anderen Weltdasein ausgenommene Heiligkeit in der Welt. Ihr kann überall und jederzeit gegenwärtig sein, was die Religion irgendwo lokalisiert. Sie ist dem Einzelnen erwachsen in freien, nicht soziologisch realen Beziehungen, ohne Garantie einer Gemeinschaft. Philosophie ist ohne Riten und ohne ursprünglich reale Mythen. Sie wird in freier Überlieferung jeweils verwandelnd angeeignet.18
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Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit., S. 12.
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Hier wird schon angedeutet, dass für Jaspers Religion stets etwas mit Abgrenzung (und damit auch Ausgrenzung), mit institutioneller Fixierung, mit priesterlich gelenkter Gemeinschaft zutun hat. In den kritischen Äußerungen über Religion, wie sie besonders in dem Buch Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung anzutreffen sind, wird nicht nur gegen den Missbrauch religiöser Überzeugungen durch Priester und kirchliche Institutionen Stellung bezogen, sobald damit Machtansprüche und politische Ziele verfolgt werden. Jaspers’ grundsätzliche Kritik am religiösen Offenbarungsglauben zielt darüber hinaus auf die prinzipielle Möglichkeit, dass über das Verkündigen von Offenbarungswahrheiten ein nicht überprüfbares Interpretationsmonopol gegenüber anderen Menschen beansprucht werden kann. In der Entmythologisierungsdebatte argumentiert Jaspers seinem liberalen Ethos entsprechend gegen Rudolf Bultmann folgendermaßen: Um der «uns von Gott geschenkten» und «durch seine Verborgenheit ständig bestätigten Freiheit» willen, dürfen wir nicht dulden, «dass ein Mensch in Anspruch nimmt, Glaubensgehorsam zu verlangen, ohne dass wir widersprechen.»19 Jaspers erhebt gegen jegliche Art von Offenbarungsreligion den Einwand, dass die Unterscheidung zwischen einem Offenbarungsinhalt, der von Gott stamme und ewig gleich bleibe, und zwischen der Auslegung der göttlichen Offenbarung durch theologische Interpretationen, die dem Wandel unterworfen wären, letzten Endes eine Scheinunterscheidung sei. Dies deswegen, weil man nie genau feststellen könne, was unveränderliche göttliche Offenbarung und was bloß deren Auslegung ist. Sobald Glaubensgehalte inhaltlich ausgesprochen und in der Verkündigung direkt mitgeteilt werden, sind sie stets bereits durch menschliche Sichtweisen geprägt und auf bestimmte Deutungsgesichtspunkte hin fixiert. Das liberale Ethos der Humanität, das mit Jaspers’ Menschenbild und der Konzeption des philosophischen Glaubens verbunden ist, manifestiert sich vor allem in der Kritik am Absolutheitsanspruch von religiösen Glaubenskonzeptionen. Für Jaspers steht außer Zweifel, dass eine auf göttliche Offenbarungswahrheiten gestützte Religion notwendig einen Absolutheitsanspruch für diese Wahrheiten behaupten muss. Dieser Absolutheitsanspruch hat zwei Aspekte: (1.) es werden damit bestimmte Glaubenswahrheiten als gänzlich unbezweifelbar, ein für allemal gültig, in alle Ewigkeit unkorrigierund unrevidierbar, als für alle Zeiten unveränderlich hingestellt; (2.) sie werden als für alle menschlichen Wesen gültig und verbindlich betrachtet. Dies 19
Karl Jaspers, Rudolf Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung (München: Piper, 1981) S. 110.
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bedeutet, dass sie von vorn herein auch für Menschen als gültig behauptet werden, die noch keine Einsicht in diese Wahrheiten gewonnen haben bzw. die Gnade der Teilhabe an diesen Wahrheiten noch nicht erfahren konnten. Subjektive Leugnung oder zeitweilige Ignoranz gegenüber dem religiösen Wahrheitsanspruch ändert nichts an dessen absoluter Gültigkeit, weil diese Gültigkeit ja durch den Offenbarungsakt Gottes garantiert wurde. Insofern impliziert der Absolutheitsanspruch von religiösen Glaubenswahrheiten auch einen Allgemeinheitsanspruch. Dass der Absolutheitsanspruch, wie Jaspers folgerichtig argumentiert, stets mit einem impliziten oder expliziten Ausschließlichkeitsanspruch verbunden ist, zeigt folgende Überlegung: Wird eine durch Offenbarung legitimierte religiöse Glaubenswahrheit als absolut gültig und einzigartig akzeptiert, so ist nicht zugleich denk- und akzeptierbar, dass es zusätzlich zur einen, absoluten Wahrheit noch weitere im gleichen Sinne absolut gültige und einzigartige religiöse Glaubenswahrheiten geben kann. Eine solche Annahme würde den Status der Absolutheit und Einzigartigkeit der einen, einmal akzeptierten Glaubenswahrheit relativieren und ad absurdum führen. Jaspers hat im Zusammenhang mit der Diskussion um den Ausschließlichkeitsanspruch religiöser Glaubenswahrheiten eine interessante Unterscheidung eingeführt, indem er zwei Bedeutungen von Ausschließlichkeit voneinander abgrenzt: (1.) eine Ausschließlichkeit, welche die geschichtliche Einzigartigkeit und Unvertretbarkeit des Einzelnen oder die ebenso einzigartige gemeinsame Geschichtlichkeit von mehreren Menschen betrifft, und (2.) eine Ausschließlichkeit, «welche in der Welt die eigene Geschichtlichkeit zur einzigen machen will, die andere von sich ausschließt, die daher disqualifiziert und bekämpft, vielmehr sie zu sich ziehen und in sich selber hinein nehmen will».20 Aus Jaspers’ Sicht kann sich ein religiöser Offenbarungsglaube nie bloß mit der zuerst genannten existentiell verstandenen Ausschließlichkeit begnügen. Mit dem religiösen Offenbarungsglauben sieht er stets eine Zwangskomponente und missionarische Attitüde verbunden, die er von seinem liberalen Ethos der Humanität aus ablehnt. Dies lässt auch die folgende bekannte Feststellung aus Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung deutlich werden, in der Jaspers den Standpunkt des philosophischen Glaubens mit dem des Offenbarungsglaubens vergleicht:
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Karl Jaspers, Heinz Zahrnt: Philosophie und Offenbarungsglaube. Ein Zwiegespräch (Hamburg: Furche, 1963) S. 85f.
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Wir sprechen nicht gegen Gott, sondern gegen den menschlichen Anspruch, Gott zu vertreten. Wir müssen aussprechen, was für uns gilt: – negativ: es gibt keine direkte Realität Gottes in der Welt, der in der Welt durch eine ihn vertretende Instanz von Amt, Wort, Sakrament spräche, dem Gehorsam durch Gehorsam gegen diese Ämter zu leisten wäre –, positiv: Gott hat uns geschaffen zur Freiheit und Vernunft, in denen wir uns geschenkt werden, in beiden verantwortlich vor einer Instanz, die wir in uns selbst finden als das, was unendlich mehr ist als wir selbst und nur indirekt spricht. – […] Nicht Gottesleugnung wendet sich gegen Gottesglauben, sondern der verborgene Gott gegen den offenbarten. Das philosophische Bewusstsein von der Wirklichkeit der Transzendenz wendet sich gegen die Realität der Offenbarung.21
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Zusammenfassend lässt sich folgendes Resümee ziehen: Aus der Sicht der von Jaspers vertretenen Konzeption eines philosophischen Glaubens darf es um der menschlichen Freiheit sowie der individuellen Verantwortlichkeit und Vernunftfähigkeit willen keine persönlich-bildhafte Gottesidee und keine göttliche Offenbarung geben. Damit würde der unvertretbare individuelle Lebensentwurf jedes Menschen durch autoritative Glaubensgehalte in ganz bestimmte Richtungen vorstrukturiert und gesteuert. Deshalb ist Jaspers’ Konzeption des philosophischen Glaubens und das damit verbundene liberale Ethos der Humanität als Gegenentwurf zu jeder Form von religiösem Offenbarungsglauben anzusehen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass seine eigene religionsphilosophische Position in mancher Hinsicht, wie Karl Barth22 hervorgehoben hat, an Gedankengut aus der christlichen Glaubenstradition, insbesondere der Bibel des Alten Testaments, partizipiert und dass er in der Bibel viele philosophische Grundwahrheiten angesprochen sieht. Für Jaspers hat der philosophisch glaubende Mensch nicht zuletzt die Aufgabe, durch undogmatisches Denken in vertrauensvoller Offenheit die ursprüngliche, philosophische Substanz des biblischen Glaubens aus den fixierten Erscheinungsformen in konfessionelle und dogmatische Glaubensaussagen herauszulösen und appellierend ins Bewusstsein zu heben. Es gilt die überkonfessionellen, existentiellen Gehalte und Grundwahrheiten der Bibel wieder zur Geltung zu bringen und sie in eine «Gemeinschaft der Vernünftigen» einzubringen, die, wie Jaspers in dem Buch Die Atombombe und die Zukunft des Menschen schreibt, «quer durch alle Gegensätze hindurch, durch die Konfessionen, durch die Parteien, durch die Staaten»
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Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 481. Vgl. Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik. Bd. III, 2. Teil. (Zürich: Evangelischer Verlag, 1948) S. 134f.
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geht.23 Ein länger andauernder Weltfriedenszustand (und ein gemeinsames Weltethos, von dem heute so oft die Rede ist), kann aus der Sicht von Jaspers nicht über Offenbarungsreligionen oder politische Ideologien erreicht werden, sondern über den philosophischen Glauben und ein liberales Ethos der Humanität, das um der menschlichen Freiheit, Kommunikations- und Vernunftfähigkeit willen jeglichen Dogmatisierungstendenzen, Absolutheitsund Ausschließlichkeitsansprüchen, kommunikationsfeindlichen Ausgrenzungsstrategien entschieden entgegentritt. Als Konsequenz aus diesem Standpunkt wird damit auch Jaspers’ Ansicht verständlich, dass es einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Philosophie und Religion gebe. «Die Spannung ist gegenüber der Religion eine absolute: der eigentlich Religiöse kann Theologe, aber nicht ohne Bruch Philosoph, der Philosoph als solcher nicht ohne Bruch ein Religiöser werden.»24 Dies schließt allerdings nicht aus, dass sich aus den religiösen Gesinnungsgemeinschaften Menschen rekrutieren, mit denen man auf gemeinsame humanitäre und politische Ziele hinarbeiten kann. Dann müssen sie allerdings in der Lage sein, die Absolutheitsansprüche der Offenbarungsgehalte ihrer Religionen zu relativieren, d. h. auch, sie kritisch in Frage zu stellen und sich davon zu distanzieren. Nur dann vermögen sie jene Vernunft zu realisieren, die sie zu Mitgliedern einer supra-nationalen und supra-konfessionellen Gemeinschaft werden lässt, und zwar einer spontanen und nicht-organisierten «Gemeinschaft der Vernünftigen». Angesichts der dargelegten religionsphilosophischen Gedanken von Jaspers kann abschließend gesagt werden, dass Jaspers mit seinem Transzendenzverständnis und der Konzeption des philosophischen Glaubens weder einen theistischen noch einen konsequent a-theistischen Standpunkt vertritt. Man kann Jaspers letzten Endes auch nicht als Agnostiker bezeichnen. Vielleicht ist es gerade die Unmöglichkeit, seine religionsphilosophischen Gedanken einer theistischen, a-theistischen oder a-gnostischen Position zuzuordnen, warum sie immer wieder als bedenkenswert und diskussionswürdig erachtet werden und warum sie vor allem auch bei asiatischen Denkern auf Resonanz stoßen. Ob man Jaspers als religiösen Denker bezeichnet, hängt natürlich auch davon ab, wie eng oder wie weit man den Begriff der Religion fasst. Versteht man Religion in einem so weiten Sinne wie im Begriff «civic
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Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewusstsein in unserer Zeit (München, Zürich: Piper, 61982) S. 309. Karl Jaspers: Philosophie, Bd. I: Philosophische Weltorientierung (Berlin, Heidelberg: Springer, 41973) S. 294.
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religion» in der angelsächsischen Diskussion oder sieht man in jeder Transzendenzidee und Metaphysik bereits eine Religion oder den Ausdruck eines «religiösen Bedürfnisses», dann ist auch Jaspers’ Transzendenzkonzeption eine Erscheinungsform von Religion. Jaspers hat im Gegensatz dazu einen engeren Religionsbegriff angenommen, der notwendig mit der Offenbarung des Göttlichen in der Welt, mit Kult, Riten, Institutionen usw. verbunden ist. Als Folge davon steht für ihn Religion in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu Freiheit, Vernunft und zur Philosophie, d. h. zu jener Konzeption von Philosophie, wie er sie sein Leben lang vertreten hat. Deshalb hat er sich selber auch nie als religiöser Denker oder als religiöser Religionsphilosoph verstanden und daher wäre es höchst unangebracht, ihn für einen christlichreligiösen Glaubensstandpunkt, sei es den Protestantismus oder den Katholizismus, zu vereinnahmen.
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Philosophischer Glaube und politisches Engagement Zivilreligiöse Motive bei Karl Jaspers In the following paper I would like to show that both Karl Jaspers’ notion of philosophical faith and his reflections on the political situation of the time are highly motivated by something which Robert N. Bellah later on called civil religion. In this respect I mainly refer to three classical texts of the period between 1946 and 1949: ‹The European Spirit› (Vom europäischen Geist 1946), ‹The Perennial Scope of Philosophy› (Der philosophische Glaube 1948) and ‹The Origin and Goal of History› (Vom Ursprung und Ziel der Geschichte 1949). As indicated by the title of the first text, Jaspers understands philosophical faith as a possibility to both define and establish a European civil religion, which, despite some strong parallels, differs from American civil religion as described by Bellah. For Jaspers, a particular means to propagate it is the use of prophetic language.
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Auf den ersten Blick erscheint es durchaus fragwürdig, ob bei einem Philosophen wie Karl Jaspers zivilreligiöse Motive überhaupt auszumachen sind. Denn wie auch immer man den schillernden, in den unterschiedlichsten Zusammenhängen gebrauchten Begriff der Zivilreligion im Einzelnen bestimmen mag1 – er bezeichnet, wie der Name schon sagt, einen religiösen Glauben und scheint damit unter jene Glaubensphänomene zu fallen, zu denen Jaspers mit seinem Begriff des philosophischen Glaubens radikal auf Distanz geht. Schon im Hauptwerk Philosophie von 1932 heißt es: Philosophie muß im Kampf stehen mit Religion; sie erkennt in ihr ein schlechthin Anderes an, das nicht sie selbst, aber ihr darum gar nicht gleichgültig ist; es steht nicht neben ihr, denn es gibt keinen Standpunkt, von dem beides übersehbar wäre; aber dieses Andere ist für sie ein solches, mit dem die versuchte Kommunikation zum entschiedensten Abstoßen führt und sogleich wieder anzieht, das ihr keine Ruhe läßt und in bezug auf das sie denkt.2
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Vgl. Hermann Lübbe: Zivilreligion. Definitionen und Interessen, in Religionspolitik und Zivilreligion, hg. von Rolf Schieder (Baden-Baden: Nomos, 2001) S. 23-35. Karl Jaspers: Philosophie, Bd. I: Philosophische Weltorientierung (München: Piper, 51994) S. 293 (Hervorhebung im Text).
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Gerade wegen ihrer großen Nähe zur Religion dürfe, so Jaspers, die Philosophie nicht ablassen, deren verführerische Sinnangebote kritisch zu hinterfragen, sonst drohe sie ihre Unabhängigkeit zu verlieren. Als Jaspers dann den philosophischen Glauben 1947 zum Thema einer Basler Vorlesungsreihe macht, schlägt er zwar einen moderateren Ton an, im Grundsätzlichen, an der unüberbrückbaren Differenz zwischen Philosophie und Religion, ändert sich jedoch nichts: «Für Philosophie ist Religion nicht der Feind, sondern etwas, das sie wesentlich angeht und in Unruhe hält»; gleichwohl bleibt «Religion für Philosophie das große Geheimnis, das sie nicht begreifen kann.»3 Angesichts dieses offen eingestandenen Mangels an Verständnis scheint der Versuch, im Denken von Jaspers zivilreligiöse Motive zu identifizieren, bereits im Ansatz verfehlt. Andererseits ist der Begriff der Zivilreligion kein genuin religiöser Begriff. Die Theologie hat ihn zwar mittlerweile längst aufgegriffen und angeeignet, darüber aber nicht vergessen, dass er ihr von anderswo vorgegeben worden ist.4 Der Begriff geht auf den amerikanischen Soziologen Robert N. Bellah zurück, der ihn, anknüpfend an Rousseau und Tocqueville, 1967 mit seinem kontrovers diskutierten Aufsatz Civil Religion in America in den öffentlichen Diskurs einführte.5 Danach besagt «amerikanische Zivilreligion», dass im Selbstverständnis der Vereinigten Staaten von Amerika der politische Wille der Bürger in letzter Instanz auf den Willen Gottes, auf seine Gesetze und Gebote, bezogen ist. Obwohl die amerikanische Verfassung die Souveränität allein dem Volk zuschreibt und Gott nicht erwähnt, gibt es eine Bezugnahme auf Gott in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, im Amtseid des Präsidenten oder etwa im Fahneneid an den Schulen, da auch das Volk, allein auf sich gestellt, irren kann. An Gott als letzter Instanz, die über dem Gemeinwesen steht, erinnern Feiertage wie der «Thanksgiving Day» und der spätere, aus dem amerikanischen Bürgerkrieg hervorgegangene «Memorial Day». Die amerikanische Zivilreligion ist daher nicht nur ein religiöses, sondern vor allem auch ein politisches Phänomen. Als öffentli3 4 5
Karl Jaspers: Der philosophische Glaube (München: Piper, 61974) S. 61 u. 60. Vgl. Eilert Herms: Das Konzept «Zivilreligion» aus systematisch-theologischer Sicht, in Religionspolitik und Zivilreligion, op. cit. S. 82-99. Robert N. Bellah: Civil Religion in America, in Dædalus 96 (1967) S. 1-21. Dt. unter dem Titel Zivilreligion in Amerika, in Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, hg. von Heinz Kleger, Alois Müller (Münster: Lit, 22004) S. 19-41. – Zur kontroversen Diskussion vgl. Donald G. Jones, Russell E. Richey: The Civil Religion Debate, in American Civil Religion, hg. von dens. (San Francisco: Mellen Research University Press, Reprint 1990) S. 3-18.
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che Religion aller Amerikaner ist sie von der privaten Religionszugehörigkeit des Einzelnen unabhängig. In ihrer allgemein bleibenden Bezugnahme auf Gott steht sie gleichsam über den zahlreichen religiösen Konfessionen des Landes, gerade auch den christlichen. Dennoch verdampft sie keineswegs zu einer substanzlosen intellektualistischen Ersatzreligion. Vielmehr ist sie seit der Gründung der amerikanischen Republik tief im Selbstverständnis der amerikanischen Nation und ihrer Bürger verwurzelt. Ihre Anfänge reichen zurück bis zu den Pilgervätern, jenen puritanischen Kolonisten des 17. Jahrhunderts, die ihre Auswanderung aus dem englischen Mutterland nach Amerika ausdrücklich mit dem Exodus des Volkes Israel aus Ägypten in Verbindung brachten. Sie siedelten in dem Bewusstsein, von Gott auserwählt zu sein und mit dem Aufbau einer streng religiös geprägten Gesellschaft seinen Willen zu erfüllen. Diese selbstbewusste Aneignung der biblischen Religion wurde so bestimmend, dass sie noch 150 Jahre später bei den Gründungsvätern der amerikanischen Republik, allen voran bei Thomas Jefferson, uneingeschränkte Geltung besaß. Auch er verglich die amerikanische Nation mit dem Volk Israel, das von Gott auserwählt und in ein anderes Land geführt wurde, um dort ein politisches Gemeinwesen zu gründen, das – und hier tritt gegenüber den Pilgervätern ein neuer, entschieden moderner Aspekt in die amerikanische Geschichte – durch rechtliche Gleichheit, persönliche und politische Freiheit sowie unbedingte Achtung der Menschenrechte allen anderen Völkern als leuchtendes Vorbild dienen sollte. Seither zählt die auf diese Weise angeeignete biblische Religion zu den wesentlichen Bestandteilen der amerikanischen Zivilreligion. Sie erklärt Amerikas universalistische humanitäre Kriseninterventionspolitik ebenso wie seine arroganten nationalen Alleingänge. Das eine wie das andere lässt sich mit dem Hinweis auf Gottes Willen problemlos rechtfertigen. Bellah, der beide Seiten sah, betonte den universalistischen Aspekt und äußerte die Hoffnung, die amerikanische Zivilreligion möge allmählich ihre nationalen Züge abstreifen und zur Zivilreligion der ganzen Menschheit werden. Vor diesem Hintergrund erscheint der Versuch, im Denken von Jaspers zivilreligiöse Motive zu identifizieren, in einem anderen Licht. Obwohl Jaspers – trotz der Lektüre Tocquevilles – die amerikanische Zivilreligion offenbar nicht kannte, nähren seine Ausführungen zum philosophischen Glauben die Vorstellung einer europäischen Zivilreligion, die ungeachtet zahlreicher Parallelen als Alternative zur amerikanischen Zivilreligion erscheint. Das sollte freilich nicht dazu verleiten, den philosophischen Glauben selbst als Zivilreligion zu bezeichnen, denn dafür sind die Unterschiede dann doch zu groß. Um diese auf ihren gemeinsamen Nenner zu bringen: Die Zivil-
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religion ist und bleibt ein religiöser Glaube und würde ihres substanziellen Kerns beraubt, wollte man sie zum philosophischen Glauben uminterpretieren. Dennoch ist auch der philosophische Glaube in einem so starken Maße von der Bezugnahme auf Gott und dem Rückgriff auf die biblische Religion bestimmt, dass zumindest die Rede von zivilreligiösen Motiven gerechtfertigt erscheint. Das gilt umso mehr, wenn man seine Aufmerksamkeit dem politischen Engagement zuwendet, das Jaspers seit 1945 an den Tag legt. Inwieweit es vom philosophischen Glauben motiviert ist, habe ich bereits an anderer Stelle ausgeführt und braucht hier nicht wiederholt zu werden.6 Mit der Identifikation zivilreligiöser Motive dieses philosophischen Glaubens lässt es sich allerdings bedeutend weiter fassen. Durch die Bezugnahme auf Gott und den Rückgriff auf die biblische Religion wird es aus dem biographischen Kontext herausgelöst und zur Aufgabe aller demokratisch gesinnten Bürger erhoben. Was Jaspers in seinem Beruf als akademischer Lehrer leistet, ist nur eine von mehreren Möglichkeiten, für politische Freiheit und Achtung der Menschenrechte zu wirken. Eine besondere Bedeutung erhält sein politisches Engagement gleichwohl durch die Tatsache, dass weite Teile der Bevölkerung noch keine verlässliche demokratische Gesinnung haben, sodass der akademische Lehrer, der über die engen Grenzen der Universität hinaus ein breites Publikum anspricht, Pionierarbeit leistet. Da Jaspers versucht, dieser Aufgabe durch den Gestus der prophetischen Mahnrede gerecht zu werden, kann auch sein politisches Engagement als zivilreligiös motiviert bezeichnet werden.
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1. Der Begriff des philosophischen Glaubens Rezeptionsgeschichtlich ist der Begriff des philosophischen Glaubens vor allem von theologischer Seite aufgegriffen worden, und zwar in der Regel kritisch bis ablehnend.7 Das kann nicht weiter verwundern, hat doch Jaspers selbst mit seiner konfrontativen Gegenüberstellung von Philosophie und Religion diesen Reflex geradezu provoziert. Die Auseinandersetzung mit 6
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Vgl. Bernd Weidmann: Absolute Solidarität – metaphysische Schuld – bedingte Solidarität, in Jahrbuch der Österreichischen Karl-Jaspers-Gesellschaft 16 (2003) S. 25-76, hier S. 55ff. Vgl. die Literaturangaben in Hans Saner: Karl Jaspers (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 122005) S. 183ff.
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Rudolf Bultmann über Die Frage der Entmythologisierung (1954) sowie das dickleibige Buch Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (1962), womit er den im schmalen Bändchen Der philosophische Glaube (1948) erstmals8 vorgestellten Ansatz vertiefte, haben diese Tendenz zusätzlich verstärkt. So plausibel diese Rezeptionsgeschichte erscheinen mag, sie erweist sich als einseitig, denn seinen systematischen Ort hat der Begriff des philosophischen Glaubens von Anfang an zwischen Politik und Religion, indem er zwischen beiden vermittelt. Der maßgebliche Text ist in diesem Zusammenhang Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949), der mit Blick auf den Begriff des philosophischen Glaubens bisher kaum berücksichtigt worden ist, obwohl er zeitlich unmittelbar auf das gleichnamige Bändchen folgt.9 Jaspers geht darin von einer Krise sowohl der Politik als auch der Religion aus. Die bloß formale Demokratie, wie sie für die liberalen Verfassungsstaaten in der Tradition der Aufklärung charakteristisch ist, habe diktatorischen oder totalitären Tendenzen wenig entgegenzusetzen. Sie sei «als solche keine Sicherung der Freiheit, vielmehr zugleich ihre Bedrohung»,10 denn um die Freiheit zu sichern, reiche der gelegentliche Urnengang der Wahlberechtigten nicht aus. Vielmehr bedürfe es einer persönlichen Identifikation der Bürger mit ihrem Gemeinwesen, indem sie gleichsam mit dem Herzen dabei sind und die öffentlichen Zustände aktiv mitgestalten. Die Rolle einer gesellschaftlichen Bindekraft hat lange Zeit die Religion übernommen, doch auch sie sei mit der Säkularisierung in eine Krise geraten und zu einer beliebigen Privatangelegenheit herabgesunken. Sie werde «festgehalten innerhalb einer Welt, die von ihr nicht mehr durchdrungen ist. Nicht nur daß die verschiedenen Religionen und Konfessionen nebeneinander stehen und durch diese bloße Tatsache sich in Frage stellen; vielmehr ist die Religion selber ein aus dem anderen ausgespartes besonderes Lebensgebiet geworden.»11 8
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Streng genommen hat Jaspers den Begriff des philosophischen Glaubens bereits in Vernunft und Existenz eingeführt. Seine dortigen Äußerungen sind jedoch so vage und spärlich, dass sie im Vergleich mit dem einschlägigen Bändchen von 1948 vernachlässigt werden können. Vgl. Karl Jaspers: Vernunft und Existenz. Fünf Vorlesungen (München: Piper, 51973) S. 114ff. Vgl. aber Piama Gaidenko: Die Achsenzeit und das Problem des philosophischen Glaubens bei Karl Jaspers, in Karl Jaspers. Zur Aktualität seines Denkens, hg. von Kurt Salamun (München: Piper, 1991) S. 86-94. Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (München: Piper, 81983) S. 210. Ibid. S. 167.
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Das so entstandene Vakuum soll der philosophische Glaube ausfüllen, indem er der formalen Demokratie die dringend benötigte Substanz verleiht. Jaspers fasst seine diesbezüglichen Überlegungen folgendermaßen zusammen: «Nur unter den charakterisierten Voraussetzungen – ein Ethos gemeinsamen Lebens, eine Selbsterziehung im Miteinanderreden zur Bewältigung konkreter Aufgaben, unbedingte Verteidigung der Grund- und Menschenrechte, Gründung im Ernst des Glaubens – ist sie [die formale Demokratie] verläßlich.»12 Bei dieser Aufzählung handelt es sich nicht um eine bloße Aneinanderreihung, sondern um eine Reihe mit aufsteigender Tendenz. Der am Ende stehende philosophische Glaube ist, wie Jaspers in Vom Ursprung und Ziel der Geschichte mehrfach ausführt, die Bedingung aller zuvor genannten Anforderungen. In Der philosophische Glaube ist diese politische Dimension des philosophischen Glaubens bereits angelegt, aber nicht in der Deutlichkeit sichtbar wie in Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Vielleicht ist sie deshalb in der Rezeption bisher weitgehend vernachlässigt worden. Holt man das Versäumte nach, stößt man bald auf verschiedene, überraschend starke zivilreligiöse Motive, auch wenn man dafür etwas weiter ausgreifen muss. Der Begriff des philosophischen Glaubens ist Gegenstand der ersten Vorlesung. Man sollte deshalb erwarten, dass Jaspers so präzise wie möglich bestimmt, was er unter dem philosophischen Glauben versteht. Die Lektüre der Vorlesung hinterlässt jedoch einen anderen, um nicht zu sagen gegenteiligen Eindruck: Was der philosophische Glaube sei, erscheint unbestimmter denn je. Fast sieht es so aus, als verzichtete Jaspers bewusst auf jeden Versuch einer Bestimmung und begnügte sich mit bloßen Appellen. So finden sich zahlreiche Sätze wie: «Der philosophische Glaube verlangt Nüchternheit und zugleich vollkommenen Ernst.»13 Eine Scheu vor zugreifenden Bestimmungen kommt auch darin zum Ausdruck, dass Jaspers gern einander widersprechende (oder zumindest scheinbar widersprechende und dann dialektisch aufzulösende) Äußerungen verwendet und auf diese Weise jeden Ansatz einer Definition umgehend relativiert. Einerseits heißt es geradezu definitiv: «Glauben ist unterschieden vom Wissen.»14 Zwei Seiten später heißt es dann aber andererseits: «Der philosophische Glaube, der Glaube des denkenden Menschen, hat jederzeit das Merkmal, daß er nur im Bunde mit dem Wissen ist. Er will wissen, was wißbar ist, und sich selbst 12 13 14
Ibid. S. 210 (Hervorhebung B. W.). Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 24. Ibid. S. 11.
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durchschauen.»15 Wie gesagt, man kann diesen scheinbaren Widerspruch ohne größere Probleme dialektisch auflösen, für eine Bestimmung des philosophischen Glaubens ist dadurch allerdings wenig gewonnen. So macht Jaspers aus seiner Not schließlich eine Tugend und weist darauf hin, dass der philosophische Glaube in der Tat schwer fassbar sei. Da er sich entziehe, sobald man danach greift, sei er «negativ zu charakterisieren», will man etwas über ihn erfahren, also etwa: Er kann nicht Bekenntnis werden. Sein Gedanke wird nicht Dogma. Der philosophische Glaube kennt nicht den festen Halt an einem objektiven Endlichen in der Welt, weil er seine Sätze, Begriffe und Methoden nur benutzt, ohne sich ihnen zu unterwerfen. Seine Substanz ist schlechthin geschichtlich und nicht in dem Allgemeinen – in dem er allein sich aussprechen kann – zu fixieren.16
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Nun weiß man also, was der philosophische Glaube nicht ist. Was er ist, bleibt dagegen im Dunkeln. Insgesamt erscheint er in der ersten Vorlesung als etwas Zartes, ständig Bedrohtes, selten rein Verwirklichtes und dennoch immer wieder Gewagtes. Konkreter wird Jaspers erst in der zweiten Vorlesung, als er die Gehalte des philosophischen Glaubens thematisiert. Einen dieser Gehalte formuliert er in dem Satz «Gott ist», wobei er unter Gott die «Transzendenz über aller Welt oder vor aller Welt» versteht.17 Allerdings ist der als Transzendenz verstandene Gott zunächst noch ein spekulativ erdachter, kein persönlich erlebter Gott. Denn unter Transzendenz versteht Jaspers «das Sein, das das uns schlechthin andere ist, an dem wir keinen Teil haben, aber in dem wir gegründet sind und auf das wir uns beziehen», oder «das Sein, das niemals Welt wird, aber das durch das Sein in der Welt gleichsam spricht.»18 Dieser spekulative Transzendenzbegriff stammt aus der griechischen Philosophie und ist der Jaspers seit langer Zeit vertraute. Schon in der Metaphysik, dem dritten Band der Philosophie, ist er davon ausgegangen. Dort steht das erste Kapitel unter der Überschrift «Transzendenz» und beginnt mit den Worten: «Was das Sein sei, ist die nicht aufhörende Frage des Philosophierens.»19 Unter einem philosophischen Gesichtspunkt als dem für den philosophischen Glauben maßgebenden erscheint dieser spekulative Transzendenzbegriff 15 16 17 18 19
Ibid. S. 13. Ibid. S. 15f. Ibid. S. 29. Ibid. S. 17. Karl Jaspers: Philosophie, Bd. III: Metaphysik (München: Piper, 51994) S. 1.
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durchaus sinnvoll. Doch wer, so ist provokant zu fragen, glaubt schon an das Sein, auch wenn man damit – wie in der gesamten metaphysischen Tradition geschehen – Gott bezeichnet? Und wer, so ist weiter zu fragen, betet gar zum Sein? Erst durch die Hinwendung zur biblischen Religion wird aus dem spekulativ erdachten ein persönlich erlebter Gott: Der transzendente Gott hat einen persönlichen Aspekt. Er ist Person, an die der Mensch sich wendet. Es ist ein Drang zu Gott, Gott zu hören. Daraus erwächst eine Leidenschaftlichkeit persönlichen Suchens der Persönlichkeit Gottes. Biblische Religion ist Gebetsreligion. Das Gebet in reiner Form wird – frei von weltlichen Wünschen – Preis und Dank und endet in dem Vertrauen: Dein Wille geschehe.20
Diese persönliche Beziehung des Menschen zu Gott geht auf den biblischen Schöpfungsgedanken zurück. Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes und hat dadurch eine Beziehung zu ihm, die tiefer reicht als alle seine Beziehungen in der Welt. Aus dieser elementaren religiösen Erfahrung resultiert ein zweifach ausgeprägter Bewusstseinsschub menschlicher Existenz: Es entsteht ein Bewusstsein der Freiheit und der Geschichtlichkeit.
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2. Das biblische Bewusstsein der Freiheit und der Geschichtlichkeit Das Bewusstsein der Freiheit betrifft den Menschen in seiner existenziellen Unabhängigkeit als Einzelner: «Der Mensch als Einzelner in seiner Existenz gewinnt seine Freiheit in der Welt als sein Geschaffensein von Gott; er ist in seiner Bindung an den transzendenten Gott und nur durch diese unabhängig gegenüber aller Welt.»21 Damit ist zunächst eine Unabhängigkeit von Projekten in der Welt gemeint, eine Unabhängigkeit von jenen innerweltlichen Zielen, die rasch von einem Besitz ergreifen und dann das ganze Leben beherrschen. Durch die Hinwendung zu Gott werden solche Projekte relativiert, indem sie gegenüber seinem Willen als eitel und nichtig erscheinen. Die so gewonnene Unabhängigkeit ist damit jedoch keineswegs erschöpft. Sie reicht noch weiter und schließt die Unabhängigkeit von der Welt als solcher ein, von jenem alltäglichen Lebenszusammenhang, der dem Dasein 20 21
Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 35. Ibid.
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Halt gibt. Bricht er plötzlich weg oder liegt in Trümmern, bleibt immer noch die Beziehung zu Gott als der Instanz, die den erforderlichen Halt dauerhaft und ungebrochen verleiht. Jaspers denkt hier vor allem an die Zerstörung des Staates Juda und seiner Hauptstadt Jerusalem im Jahr 587 v. Chr. durch Truppen des Babyloniers Nebukadnezar sowie das anschließende babylonische Exil.22 Bereits in Die Schuldfrage (1946) zitiert er die Worte Jeremias an seinen Schüler Baruch, der angesichts des Verlusts der Staatlichkeit und des kultischen Zentrums der Judäer in Verzweiflung geraten ist (vgl. Jer 45, 3-5), um sie dann in seinen eigenen Worten zusammenzufassen: «Was heißt das? Daß Gott ist, ist genug. Wenn alles verschwindet, Gott ist, das ist der einzige feste Punkt.»23 In beiden Fällen, in der Unabhängigkeit von innerweltlichen Projekten wie in der Unabhängigkeit von der Welt als solcher, realisiert der Einzelne die Möglichkeit von Existenz, indem er sich auf Transzendenz bezieht. Vom Bewusstsein der Freiheit ist das Bewusstsein der Geschichtlichkeit nicht zu trennen. Demnach greift Gott aktiv handelnd in den Geschichtsprozess ein, um sein auserwähltes, aber abtrünnig gewordenes Volk zur Rechenschaft zu ziehen. Politische Katastrophen wie die bereits erwähnte Zerstörung des Staates Juda und seiner Hauptstadt Jerusalem mit dem anschließenden Exil führen zu einer «religiösen Zentrierung des Lebens»24 auf Gott hin, indem sie den Menschen aus seiner Verfallenheit an die Welt herausreißen und auf die Befolgung von Gottes Willen verpflichten. Dem eigenen Untergang gerade noch entkommen, erfährt der Mensch seine Endlichkeit vor Gott, was ihn jedoch nicht verzweifeln lässt, sondern gerade umgekehrt sein Dasein mit Sinn und Gehalt erfüllt: «Nicht die Zerstreutheit und Zufälligkeit des Endlosen, sondern die von Gott getragene Gegenwärtigkeit gibt dem Leben sein ganzes Gewicht.»25 Auch hier gilt: Der Einzelne wird Existenz dadurch, dass er sich auf Transzendenz bezieht. 22 23
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Zum historischen Kontext vgl. Manfred Clauss: Das alte Israel. Geschichte, Gesellschaft, Kultur (München: Beck, 1999) S. 75ff. Karl Jaspers: Die Schuldfrage (Heidelberg: Schneider, 1946) S. 105. – Diese Stelle wird Jaspers im Laufe der Jahre immer wieder aufgreifen. Vgl. etwa die Radiovorträge Die Atombombe und die Zukunft des Menschen (1956) und Die Kraft der Hoffnung (1963) in ders.: Lebensfragen der deutschen Politik (München: dtv, 1963) S. 139-157, hier S. 157, bzw. ders.: Das Wagnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, hg. von Hans Saner (München: Piper, 1996) S. 212-222, hier S. 215. Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 35. Ibid.
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Nach diesen Überlegungen zum philosophischen Glauben ist festzuhalten, dass er erst mit der Aneignung der biblischen Religion konkret und als Begriff fassbar wird. Philosophischer Glaube ist demnach der Glaube an den persönlichen Gott der Bibel, durch den der Einzelne die Möglichkeit seines Selbstseins verwirklicht und als Existenz auf Transzendenz bezogen ist. Das bedeutet aber zugleich, dass der philosophische Glaube mit der Aneignung der biblischen Religion verstärkt religiöse Züge annimmt. Jaspers ist das keineswegs verborgen geblieben. Er hat darauf mit einer nicht unerheblichen Differenzierung des Verhältnisses von Philosophie und Religion reagiert.26 Wie sie im Einzelnen aussieht, braucht uns hier nicht zu interessieren. Unser Interesse geht vielmehr in eine andere Richtung: Das in der biblischen Religion entstandene Bewusstsein der Freiheit und der Geschichtlichkeit sind Hinweise darauf, dass der philosophische Glaube zivilreligiös motiviert sein könnte. Die Bezüge zur amerikanischen Zivilreligion sind offensichtlich. Der Relativität alles politischen Handelns in der Welt vor Gott liegt das biblische Bewusstsein der Freiheit, der Lenkung aller politischen Ereignisse in der Welt durch Gott das biblische Bewusstsein der Geschichtlichkeit zugrunde. Ob der philosophische Glaube jedoch tatsächlich zivilreligiös motiviert ist, wird erst dann klar, wenn man der Frage nachgeht, inwieweit Jaspers ihn im Politischen zur Geltung zu bringen versucht. Die Frage lautet dann konkret: Macht Jaspers den Rückgriff auf die biblische Religion für die politische Situation der ersten Nachkriegsjahre fruchtbar, für jene kurze Zeitspanne also, da der Kalte Krieg noch nicht endgültig ausgebrochen war und ein gewisser Handlungsspielraum für die Neuordnung der Welt noch gegeben schien?
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3. Die Vision einer europäischen Zivilreligion Der in diesem Zusammenhang zentrale Passus steht am Ende von Der philosophische Glaube. Er ist für unser Thema so aufschlussreich, dass ich ihn gern in voller Länge zitieren möchte: Wie die Lage ist und in Zukunft sein wird, dafür ist ein Vorbild zur Orientierung, nicht zur Nachahmung, die Zeit der jüdischen Propheten. Palästina mußte zwischen Ost und West, zwischen den Großreichen Babylonien und Ägypten seinen politischen Untergang erleben, zerrissen, verwüstet, ein Spielball der Politik der Großen, bald hierhin, bald dorthin angegliedert. Da traten Propheten auf mit guten Ratschlägen, entweder mit Ost oder mit West in Bündnis zu treten, dafür 26
Ibid. S. 75ff.
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dort Schutz zu erfahren, Freunde zu haben, glücklich leben zu dürfen. Diesen Heilspropheten gegenüber traten die Unheilspropheten, die bis heute ihren großen Namen tragen. Sie sahen die Lage, verwarfen jede Stellungnahme für Ost oder West. Sie sahen voraus das Unheil, das bevorstand.27 5
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Jaspers hält es mit den Unheilspropheten, denn er fährt fort: Diese Propheten «hatten nur den einen Rat: Gott zu gehorchen durch reines, sittliches Leben. Was Welt ist, ist aus nichts geschaffen und an sich nichts. Der Sinn liegt in dem, was der Mensch tut, daß er Gott gehorcht. Was Gott will, das sagen die unabdingbaren zehn Gebote.»28 Würde Jaspers nicht gleich im ersten Satz ankündigen, dass er die politische Situation zur Zeit der jüdischen Propheten für die politische Situation der Gegenwart fruchtbar machen will, ginge seine Intention auch aus den Formulierungen der folgenden Sätze klar hervor. Besonders die wiederholte Rede von Ost und West sowie der Politik der Großen ist eindeutig zeitgeschichtlich motiviert. Unverkennbar steht hier der heraufziehende Ost-West-Konflikt zwischen den beiden Großmächten Amerika und Russland im Hintergrund. Ihre besondere Note erhalten diese Äußerungen freilich erst durch die Neutralitätsforderung der Unheilspropheten, denn dadurch rückt Europa ins Zentrum der Betrachtung, jener Kontinent, der wie Palästina durch einen Krieg verwüstet und zum Spielball der Politik der Großen geworden ist. Diese historische Analogie hat für unser Thema weit reichende Konsequenzen: Hinter den zivilreligiösen Motiven des philosophischen Glaubens scheint die Vision einer europäischen (und eben nicht amerikanischen) Zivilreligion auf. Das macht Jaspers für den aktuellen politischen Diskurs interessant, erhellt es doch einerseits den Modellcharakter der europäischen Einigung für eine zukünftige Weltordnung, andererseits die Notwendigkeit der Ausbildung einer europäischen Identität. Beides ist mit der Vision einer europäischen Zivilreligion eng verknüpft. Dass der zitierte Passus am Ende von Der philosophische Glaube tatsächlich auf Europa bezogen ist, obwohl der Ausdruck selbst nicht vorkommt, belegt der Genfer Vortrag Vom europäischen Geist aus dem Jahr 1946. Dort spricht Jaspers die Neutralität Europas zwischen den beiden Großmächten Amerika und Russland direkt an, und zwar ebenfalls vor dem Hintergrund des biblischen Palästina: Die Lage des klein werdenden Europa wird zur Zwischenlage zwischen großen Mächten, gegen die es politisch sich nicht halten kann, für die es vielmehr einer der Räume der politischen Auseinandersetzungen wird, wenn es Europa nicht
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Ibid. S. 126f. Ibid. S. 127.
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gelingt, sich mit einer Föderation seiner Mächte zu bescheiden in der Kraft der Aufrechterhaltung seiner Neutralität in etwa entstehenden politisch-militärischen Weltkämpfen. Wie im Altertum Palästina zwischen Mesopotamien und Ägypten, wie Deutschland zwischen Ost und West, so wird vielleicht bald Europa zwischen den großen Mächten liegen.29 5
Überhaupt hat Jaspers in diesem Vortrag einiges seiner Vorlesungen über den philosophischen Glauben vorweggenommen, teils wortwörtlich in den Formulierungen,30 teils sinngemäß in der Argumentation.31 Weitaus engere Bezüge bestehen jedoch zu dem Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, für das der Vortrag Vom europäischen Geist gewissermaßen die Keimzelle darstellt.32 Hier sind nicht nur die nahezu textidentischen Formulierungen länger,33 nicht nur die Übereinstimmungen in der Argumentation dichter.34 Was hier eine besondere Verwandtschaft herstellt und uns damit mitten in unser Thema führt, ist die Fokussierung auf die politische Dimension der Bibel: In Vom europäischen Geist bereits angedacht, in Vom Ursprung und Ziel der Geschichte dann ausgeführt, geht es in beiden Texten vor allem um 29
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Karl Jaspers: Vom europäischen Geist, in ders.: Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze (München: Piper, 1951) S. 233-264, hier S. 248. Vgl. den ähnlich lautenden Abschnitt in Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, op. cit. S. 104. So etwa die folgende Formulierung: «Durch die Bibel geht eine Leidenschaft, die einzig ist, weil sie auf Gott bezogen ist. Sie ist das Depositum eines Jahrtausends menschlicher Grenzerfahrungen.» (Jaspers: Vom europäischen Geist, op. cit. S. 261) Vgl. dazu Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 78 u. 79. Vgl. etwa die stenographische Aufzählung von sieben Grundcharakteren der biblischen Religion in Vom europäischen Geist, op. cit. S. 261, mit ihrer inhaltlichen Entfaltung in Der philosophische Glaube, op. cit. S. 35f. Der Vortrag kündigt das Buch geradezu an. Er endet mit den Worten: «Auch Europa ist nicht das Letzte für uns. Wir werden Europäer unter der Bedingung, daß wir eigentlich Menschen werden – das heißt Menschen aus der Tiefe des Ursprungs und des Zieles, welche beide in Gott liegen.» (Jaspers: Vom europäischen Geist, op. cit. S. 264) Vgl. etwa die Ausführungen über Freiheit in Vom europäischen Geist, op. cit. S. 239 u. 241, mit denen in Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, op. cit. S. 195f. u. 197. Bereits in Vom europäischen Geist zieht Jaspers den Vergleich mit China und Indien, spricht von der «Achse der Weltgeschichte in den Jahrhunderten 800 bis 200 v. Chr.» und nennt diese Epoche die «Achsenzeit» (op. cit. S. 236 u. 237). Er sieht den radikalen Unterschied zwischen Europa und China in der modernen Wissenschaft und Technik (ibid. S. 237) sowie die Notwendigkeit des Sozialismus und der Welteinheit (ibid. S. 251).
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den universalistischen Gehalt der biblischen Religion, während Der philosophische Glaube eher deren individualistischen Gehalt, die Beziehung von Existenz auf Transzendenz, betont. Jaspers setzt auch hier beim biblischen Schöpfungsgedanken und der daraus resultierenden Beziehung des Menschen zu Gott an. Allerdings steht jetzt nicht deren Intensität, sondern ihre Extensität, nicht der einzelne Mensch, sondern die ganze Menschheit im Blickpunkt. Zunächst heißt es noch etwas allgemein: «Nirgends ist der Menschheitsgedanke mit der Energie wie in Europa aufgetreten. Die Bibel sieht einen einzigen Ursprung aller Menschen. Jeder, der Mensch ist, ist als Mensch anzuerkennen.»35 Dann wird Jaspers jedoch konkreter, wenn er schreibt: «In Adam sind wir Menschen alle verwandt, stammen aus der Hand Gottes, nach seinem Ebenbilde geschaffen.»36 Dieser «Gott-Vater-Gedanke»,37 wonach alle Menschen Gottes Kinder sind, ist letztlich der Grund, warum es bereits in der Bibel neben dem individualistischen ein universalistisches Bewusstsein der Freiheit und der Geschichtlichkeit gibt. Allerdings ist es dort eher angedeutet als entwickelt, weshalb Jaspers den Versuch unternimmt, den verborgenen Gehalt unter modernen Bedingungen anzueignen. Sind alle Menschen Gottes Kinder, ist die Freiheit des Einzelnen untrennbar an die Freiheit aller geknüpft. Indem die Gotteskindschaft alle Menschen zu Geschwistern macht, begründet sie jene «innerste Verwandtschaft» zwischen ihnen, aus der die «menschliche Solidarität»,38 die «liebende Zugewandtheit zu allem, was Menschenantlitz trägt»,39 entspringt. Wer lediglich um seine eigene Freiheit besorgt ist und gegenüber der Freiheit der anderen gleichgültig bleibt, verrät nicht nur seine Mitmenschen, sondern verfehlt sein eigenes Menschsein. Indem er sich von der Welt und damit vom Schicksal seiner Mitmenschen unabhängig macht, um Gott näher zu sein, verstößt er gegen Gottes Gebot der Nächstenliebe. Seine persönliche Freiheit kann der Einzelne daher nicht allein, sondern nur zusammen mit den anderen erreichen: «Überall, und auch in Europa, gab es das Ausbrechen der Einzelnen als Eremiten, Philosophen, Heilige, die, von der Welt nicht mehr betroffen, eine hohe, bewunderungswürdige persönliche Souveränität errangen. Aber
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Ibid. S. 252. Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, op. cit. S. 17. Ibid. S. 81. Ibid. S. 66. Karl Jaspers: Die nichtchristlichen Religionen und das Abendland, in ders.: Das Wagnis der Freiheit, op. cit. S. 328-335, hier S. 333.
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konkrete Freiheit erwächst nur im Miteinander als Verwandlung des Menschen mit seiner Welt.»40 Es reicht nicht einmal aus, persönliche Freiheit mit dem Nächsten als dem Nahestehenden, der einem durch ein gemeinsames Leben vertraut ist, zu verwirklichen. Gerade auch der Fernste als der Fremde, den man nicht kennt und der einem womöglich nie begegnet, hat Anspruch auf die Freiheit, die man selbst begehrt. Da dieser Anspruch vom Einzelnen nicht unmittelbar erfüllt werden kann, ist ein Umweg über die gesellschaftlichen Verhältnisse erforderlich. Persönliche Freiheit ist deshalb untrennbar an politische Freiheit geknüpft: «Die Freiheit fordert Beides: die Tiefe menschlicher Kommunikation selbst seiender Einzelner und die bewußte Arbeit an der Freiheit der öffentlichen Zustände durch die Formen gemeinschaftlicher Einsicht und Willensbildung.»41 Wie bereits unter dem individualistischen Aspekt, so hängt auch unter dem universalistischen das Bewusstsein der Freiheit mit dem der Geschichtlichkeit untrennbar zusammen. Weil politische Freiheit nicht überall auf der Welt und fast nirgends rein verwirklicht ist, wird Geschichte erforderlich als der Prozess, in dessen Verlauf sie erkämpft wird: Aus der Freiheit wächst der Wille zur Geschichte. Denn der Europäer will konkrete Freiheit, das heißt die Freiheit der Menschen im Einklang miteinander und mit der sie erfüllenden Welt. […] Da aber die Freiheit niemals für alle und darum im abendländischen Sinne für keinen erreicht ist, ist Geschichte notwendig, um Freiheit zu erringen, oder bringt der Drang zur Freiheit die Geschichte hervor.42
Subjekt der Geschichte sind zwar letztlich die «Freiheitsbewegungen»,43 also Kollektive, doch Jaspers wäre nicht Jaspers, wenn er nicht die Bedeutung des Einzelnen für die Geschichte betonte: Es hängt vom Verhalten eines jeden Einzelnen ab, ob die Bewegung im Ganzen erfolgreich ist. Wird die Befreiung von Unterdrückung nämlich als rein innerweltliches Projekt verwirklicht, droht die Freiheit auf der Strecke zu bleiben. Im Namen der Freiheit werden dann Taten äußerster Unfreiheit begangen: «Wo die Freiheit in einer Abstraktion zum Ziel gemacht wird, da wird sie eine Phrase auf dem Weg zu irgendeiner neuen Gewaltsamkeit.»44 Erst die innere Unabhängigkeit 40 41 42 43 44
Jaspers: Vom europäischen Geist, op. cit. S. 243. Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, op. cit. S. 196. Jaspers: Vom europäischen Geist, op. cit. S. 242. Ibid. S. 243. Ibid.
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von solchen Projekten durch Hinwendung zu Gott verleiht dem politisch Handelnden jenen religiösen, in Gott gegründeten Ernst, der ihn vor dem Fanatismus bewahrt. Indem er seine Endlichkeit vor Gott erfährt, wird er demütig und erkennt, dass er selbst nicht Gott ist und Geschichte einfach machen kann. Ihm wird die Möglichkeit des Scheiterns sowie die Notwendigkeit allseitiger Kommunikation bewusst. Erfüllte Geschichte, die mehr ist als eine bloße Abfolge historischer Ereignisse, da sie einen Ursprung und ein Ziel hat, setzt die Geschichtlichkeit des Einzelnen voraus. In letzter Konsequenz führt die politische Freiheit, die in der Weltgeschichte erkämpft werden muss, zu einer alle Völker und Staaten umfassenden Weltordnung. Erst dann nämlich, wenn kein Volk mehr über andere Völker, kein Staat mehr über andere Staaten herrscht, ist politische Freiheit vollständig realisiert. Im Unterschied zu einem Weltimperium, in dem eine einzige Macht die Herrschaft über die ganze Welt in Händen hält, besteht eine Weltordnung aus einer Föderation freier Staaten, die ihre nationale Souveränität aufgegeben haben zugunsten einer allgemein verbindlichen supranationalen Rechtsordnung.45 Jaspers weiß, dass der völlige Souveränitätsverzicht den neuzeitlichen Staatsbegriff obsolet machen würde und allein schon deshalb utopisch erscheint. Nicht zufällig verwendet er den Konjunktiv, wenn er schreibt: Weltordnung würde mit der Aufhebung der absoluten Souveränität die Aufhebung des früheren Staatsbegriffs zugunsten der Menschheit bedeuten. Nicht ein Weltstaat (der wäre das Weltimperium), sondern eine im Verhandeln und Beschließen sich stets wieder herstellende Ordnung von Staaten, die sich in gesetzlich begrenzten Gebieten selbst verwalten, wäre das Ergebnis: ein umfassender Föderalismus.46
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Andererseits erscheint ihm die Entwicklung zu einer Weltordnung so utopisch nun auch wieder nicht, denn in Europa habe sie bereits begonnen. Hier habe die jahrhundertealte, auf engstem Raum ausgetragene Rivalität zwischen den Völkern und Nationen zu zahlreichen Kriegen, zuletzt zu zwei Weltkriegen geführt, sodass in Europa «die Zeit der Nationalstaaten vorüber» sei und die Zukunft in einer zunächst europäischen, dann globalen «Staatsgemeinschaft» gesehen werde.47 Die führenden europäischen Politiker seien überzeugt, 45 46 47
Vgl. Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, op. cit. S. 246. Ibid. S. 247. Ibid. S. 251.
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daß machtpolitisch für Europa kein Sinn mehr zu fassen ist als nur in der Weltordnung, die allen den Frieden und Europa seine Aufgabe und Chance gibt. Die Kriegsgefahr, die heute mit der Zerstörung der abendländischen Menschheit droht, steigert die Leidenschaft, eine Weltordnung zu finden, durch die ein Krieg nicht nur für jetzt, sondern auf lange Zeiten, wenn nicht für immer, ausgeschaltet würde.48
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Aus diesem Grund bezeichnet Jaspers die Idee der Weltordnung als eine «europäische Idee»49 und gibt Europa eine Vorreiterrolle bei ihrer Verwirklichung: Der Weg zur Weltordnung führt über den Selbstverzicht Mächtiger, sei es, weil sie ihrer Menschlichkeit folgen, sei es, weil sie in kluger Voraussicht die eigene Macht scheitern sehen ohne Vereinigung mit allen anderen. Europa kann vorangehen in diesem Verzicht, in der Bescheidung durch Unterwerfung unter die Vernunft des Miteinanderredens mit bedingungsloser Geltung der Rechtsidee.50
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Damit sind die Umrisse einer europäischen Zivilreligion skizziert, die gegenüber der amerikanischen einen großen Vorzug hat: Sie entgeht der Zweideutigkeit des Nationalen und Universalen, die bereits für das Volk Israel charakteristisch war51 und auch für Amerika, das in seiner Zivilreligion ausdrücklich an dieses biblische Selbstverständnis anknüpft, charakteristisch ist. Als Republik ist Amerika zwar kein Nationalstaat europäischer Prägung, wie Hannah Arendt in einem Brief an Jaspers zu berichten weiß.52 Trotzdem gibt es natürlich eine amerikanische Staatsnation, was besonders daran sichtbar wird, dass sich all die deutschen, irischen oder polnischen Einwanderer stets zuerst als Amerikaner und erst dann als Deutsche, Iren oder Polen verstehen. Aus diesem Grund ist es schwierig zu unterscheiden, ob das weltpolitische Handeln Amerikas eher universalen oder eher nationalen Motiven verpflich48 49 50 51 52
Jaspers: Vom europäischen Geist, op. cit. S. 253. Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, op. cit. S. 262. Jaspers: Vom europäischen Geist, op. cit. S. 255. Jaspers macht das daran fest, dass in der Bibel Jahwe sowohl «Nationalgott» als auch «Allgott» ist (Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 77). «Die Republik ist kein leerer Wahn, und die Tatsache, daß es hier keinen Nationalstaat gibt und keine eigentlich nationale Tradition – bei ungeheurem Cliquenbedürfnis der nationalen Splittergruppen, der melting-pot ist großenteils noch nicht einmal ein Ideal, geschweige eine Wirklichkeit – schafft eine freiheitliche oder doch wenigstens unfanatische Atmosphäre.» (Brief von Hannah Arendt an Karl Jaspers vom 29. Januar 1946, in Hannah Arendt, Karl Jaspers: Briefwechsel 19261969, hg. von Lotte Köhler und Hans Saner [München: Piper, 21987] S. 66)
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tet ist. Von offizieller Seite erfährt man dann gern, es sei beides zugleich – nach dem fragwürdigen, weil arroganten Motto: «Was gut ist für Amerika, ist auch gut für die Welt.» Diese Zweideutigkeit ist in Europa ausgeschlossen, da es eine alle Europäer umfassende Nation nicht gibt. Hier gibt es die Nation nur im Plural, weshalb die Vielheit nationaler Stimmen dafür sorgt, dass Eigeninteresse und Selbstbehauptung weitgehend zurückgedrängt werden zugunsten allgemein menschlicher Prinzipien. Diesem Vorzug steht jedoch ein gravierender Nachteil gegenüber. Der europäischen Zivilreligion fehlt das historische Subjekt, das die Idee der Weltordnung in der Geschichte zu verwirklichen strebt. Ihr fehlt die zivilreligiöse Gemeinschaft, wie sie in Amerika im amerikanischen Volk als Staatsnation existiert. Anders als dort sind hier die Deutschen, Iren oder Polen nicht zuerst Europäer, sondern eben Deutsche, Iren oder Polen. So ist die Tatsache, dass Europa eine rechtlich verknüpfte Staatengemeinschaft ist, aber keine tragende Staatsnation hat, der Grund, warum die europäische Idee der Weltordnung nicht einmal die Europäer selbst zu motivieren vermag. Unter der Oberfläche der europäischen Einigung bleibt das nationalstaatliche Denken weiterhin treibende Kraft. Es durch einen «europäischen Nationalismus»53 zu überwinden, wie ihn einige Teilnehmer der Genfer Tagung favorisiert haben, hält Jaspers für den falschen Weg, weil Europa dadurch in eine ähnlich zweideutige Lage geriete wie Amerika und seinen Modellcharakter für eine zukünftige Weltordnung preisgäbe. Der durchaus positive, aber gleichwohl nicht folgenlos bleibende Mangel einer europäischen Staatsnation kann, so Jaspers, allein durch die Ausbildung einer europäischen Identität kompensiert werden. Ihr gilt sein politisches Engagement in den Jahren vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Beginn des Kalten Kriegs, markiert durch die beiden zentralen Texte Vom europäischen Geist und Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Sowohl die europäische Identität selbst als auch das politische Engagement dafür ist zivilreligiös motiviert.
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Für Jaspers besteht kein Zweifel, dass die Ausbildung einer europäischen Identität nur über die Wiederaneignung der biblischen Religion gelingen kann. Die Bibel ist «Grundlage europäischen Lebens», und «ohne Bibel 53
Brief von Karl Jaspers an Hannah Arendt vom 18. September 1946, in Arendt, Jaspers: Briefwechsel 1926-1969, op. cit. S. 93.
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gleiten wir ins Nichts.»54 Sie hat Europa so stark und nachhaltig geprägt, dass auch Menschen, die keine gläubigen Juden oder Christen sind, davon angesprochen werden. Überraschenderweise erwartet Jaspers die größten Impulse der Bibel aber nicht vom Bewusstsein der Freiheit und der Geschichtlichkeit, sondern von der Sensibilität für das Leiden, einem Grundcharakter der biblischen Religion, den er in seinen Vorlesungen über den philosophischen Glauben eher stiefmütterlich behandelt.55 In seinem Vortrag über den europäischen Geist steht das Leiden jedoch im Zentrum der Überlegungen: Heute ist eine große Sorge: Es geht durch die Welt ein schreckliches Vergessen. Die ungeheuren Leiden sind ausgestanden. Wer lebt, freut sich des Daseins. Er streicht aus, was war, es sei denn, daß es ihn noch in die Nerven verfolgt. Die Seele hat das Ungeheure nicht in sich aufgenommen. Die Toten sind nicht mehr. Der Reigen des Lebens drängt sich wieder zu schließen und wird fortgetanzt. Aber wir versagen, wenn wir die Leiden nur stumpf oder angstvoll erdulden. Ist die Angst vorbei, bemächtigt sich eine falsche Selbstgewißheit dieses zufällig geretteten Daseins. Sie verschleiert, was unerwünscht zu wissen ist. Aus dem Menschen, der sich nicht innerlich dem Leiden aussetzt, wird nichts.56
Wie ist dieser Schwenk zur Sensibilität für das Leiden zu erklären? Hätte es nicht gereicht, die Ausbildung einer europäischen Identität an das Bewusstsein der Freiheit und der Geschichtlichkeit zu knüpfen? Offensichtlich nicht, und das aus zwei Gründen: Zum einen basiert gerade auch die amerikanische Identität auf dem biblischen Bewusstsein der Freiheit und der Geschichtlichkeit, sodass die Eigentümlichkeit einer europäischen Identität noch nicht in den Blick kommt. Das geschieht erst mit der Sensibilität für das Leiden, das, um es vorsichtig zu formulieren, aus historisch-geographischen Gründen in Europa einen anderen Stellenwert besitzt als in Amerika. Vielleicht sagt an dieser Stelle eine kurze Bemerkung Hannah Arendts mehr als eine ausführliche Analyse: Der große politisch-praktische Verstand hier, die Leidenschaft, Dinge in Ordnung zu bringen – to straighten things out –, überflüssiges Elend nicht zu dulden, darauf zu achten, daß inmitten einer oft wirklich halsschneiderischen Konkurrenz
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Jaspers: Vom europäischen Geist, op. cit. S. 240 u. 260. Während Jaspers in der zweiten Vorlesung, in der er verschiedene Grundcharaktere der biblischen Religion auflistet, das Leiden nur äusserst knapp und spärlich behandelt, erwähnt er es in der vierten Vorlesung, als er diese Grundcharaktere noch einmal zusammenfasst, schon gar nicht mehr (vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 35f. u. 82). Jaspers: Vom europäischen Geist, op. cit. S. 261f.
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die fair chance des einzelnen gewahrt bleibt, hat auf der anderen Seite zur Folge, daß man da, wo man nicht ändern kann, sich auch nicht kümmert. Die Stellung dieses Landes zum Tod wird nie aufhören, uns Europäer zu skandalisieren. Die Grundhaltung, wenn einer stirbt oder überhaupt irgend etwas unwiderruflich schief geht, ist: forget about it.57 5
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Hannah Arendt spielt hier auf das Selbstverständnis Amerikas als Land der unbegrenzten Möglichkeiten an, in dem der unerschütterliche Glaube an die Machbarkeit von Dingen zu einer erschütternden Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden geführt habe. Das meint wohl auch Jaspers, wenn er schreibt, dass in Amerika (dessen Verdienste um die politische Freiheit er wiederholt betont58) «eine Wurzellosigkeit und damit zugleich eine großartige Unbefangenheit» herrsche, die auf den Europäer «ungemein belehrend und befreiend, aber auch erschreckend» wirke.59 Das heißt: Ein Blick über den Atlantik kann heilsam sein, wenn es um das Anpacken von Dingen geht, die diesseits bestenfalls zögerlich, schlimmstenfalls gar nicht angepackt werden. Wo man jedoch an unbegrenzte Möglichkeiten glaubt, kann das Leiden, das den unaufhaltsamen Fortschritt vorübergehend unterbricht, nicht als endgültige Grenzsituation erfahren werden, die das Leben existenziell erdet.60 Genau das aber ist die Erfahrung der europäischen Völker, die, seit Jahrhunderten auf engstem Raum zusammenlebend und deshalb immer wieder in selbstzerstörerische Kriege verwickelt, zu der leidvollen Einsicht gelangt sind, dass der ständige Expansionsdrang früher oder später an unüberwindbare Grenzen stößt und neue Formen des Zusammenlebens erfordert. Deshalb hält Jaspers auch nichts von Versuchen, nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika die Vereinigten Staaten von Europa zu gründen, um weltpolitisch ein drittes Machtzentrum zu etablieren.61 Abgesehen davon, so Jaspers weiter, dass Europa in diesem Machtkampf hoffnungslos unterlegen wäre, würde dieser Schritt das Problem einer immer enger zusammenrückenden Welt nicht lösen und die internationalen Konflikte von einst lediglich auf eine höhere Ebene verlagern, anstatt zu einer supranationalen Regelung zu gelangen. «Dies Schicksal der Zwischenlage ist vergebliches Kämpfen aus zu geringer Macht, ist dann Ohnmacht, Leiden und Demütigung. Dies
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Brief von Hannah Arendt an Karl Jaspers vom 29. Januar 1946, op. cit. S. 66. Vgl. Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, op. cit. S. 175, 203, 214, 254. Ibid. S. 252. Zum Leiden als Grenzsituation vgl. Karl Jaspers: Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung (München: Piper, 51994) S. 230ff. Vgl. Jaspers: Vom europäischen Geist, op. cit. S. 247.
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Schicksal wird entweder zum Verderben oder erzwingt das eigentliche Leben aus einem ganz anderen Ursprung als dem der Macht.»62 Zum anderen dürfte Jaspers gespürt haben, dass dem Bewusstsein der Freiheit und der Geschichtlichkeit insgesamt dann doch die Emotionalität fehlt, die nötig wäre, um die Ausbildung einer europäischen Identität zu motivieren. Es klingt etwas trocken und spröde, wenn er die Notwendigkeit einer «Mitwirkung aller an der Willensbildung» betont und den Einzelnen ausdrücklich dazu ermutigt: «Jeder hat die Chance, zur Geltung zu kommen nach dem Maße der politischen Selbsterziehung und der Überzeugungskraft seiner Einsicht.»63 Auch die gut gemeinten Vorschläge, wie eine solche politische Selbsterziehung aussehen könnte, entbehren jeder europäischen Dimension und lassen nicht erkennen, was sie mit der Ausbildung einer europäischen Identität zu tun haben könnten: Neben einem allgemeinen Interesse für Politik und der Bemühung um ausgewogene Informationen sieht Jaspers eine Möglichkeit politischer Selbsterziehung in der Wahrnehmung konkreter Aufgaben in der freien, nicht von Parteien beherrschten Gemeindeverwaltung.64 Nun mag das Bewusstsein der Freiheit und der Geschichtlichkeit allein nicht ausreichen, um die Ausbildung einer europäischen Identität zu bewirken, es ist, wenn Europa tatsächlich eine Vorreiterrolle auf dem Weg zur Weltordnung einnehmen soll, gleichwohl unverzichtbar. Jaspers muss deshalb nach Möglichkeiten suchen, wie er sein Publikum doch noch zu einem Eintreten für die Freiheit bewegen kann. Dabei darf er die Sensibilität für das Leiden als zentrales Moment europäischer Identität nicht aus den Augen verlieren. Eine ausgezeichnete Möglichkeit, beides zu verknüpfen, findet er in der biblischen Religion.
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Erschüttert durch Hannah Arendts Aufsatz Konzentrationsläger,65 greift Jaspers in Vom Ursprung und Ziel der Geschichte seine früheren Ausführungen zum Leiden noch einmal auf, um sie zu konkretisieren. Die nationalsozialis62 63 64 65
Ibid. S. 248. Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, op. cit. S. 204. Ibid. S. 212. Hannah Arendt: Konzentrationsläger, in Die Wandlung 3 (1948) S. 309-330. Vgl. Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, op. cit. S. 346, Anm. 10,
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tischen Konzentrations- und Vernichtungslager sind für ihn ein «Symbol alles Äußersten»,66 was Menschen anderen Menschen an Leid zufügen können. Die in dem Aufsatz zitierten Berichte erschüttern ihn so sehr, dass es ihm fast die Sprache verschlägt: «Nach Beschäftigung mit den Berichten von den Konzentrationslagern wagt man kaum noch zu reden. Die Gefahr greift tiefer als die Atombombe, weil sie der Seele des Menschen droht. Ein Bewußtsein vollkommener Hoffnungslosigkeit kann uns befallen», denn was Jaspers liest, ist wie eine «Ankündigung zukünftiger Möglichkeiten, vor denen alles zu verschwinden droht.»67 Doch Jaspers resigniert nicht. Er glaubt an den Menschen und seine Fähigkeit zur Veränderung durch Einsicht:
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Die Chance ist, daß das Entsetzliche bewußt wird. Nur das hellste Bewußtsein kann helfen. Das Schaudern vor solcher Zukunft kann sie vielleicht verhindern. Das schreckliche Vergessen darf nicht stattfinden. Daß dies geschehen ist, bewirkt die Angst: es kann sich wiederholen, es kann sich ausbreiten, es kann den Erdball erobern. Angst muß uns bleiben, die sich umsetzt in aktive Sorge.68
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Allein die vorwegnehmende Angst vor einer Wiederholung des Geschehenen könne, wie bereits Hannah Arendt dargelegt hat,69 die politische Leidenschaft mobilisieren, die nötig ist, um totalitäre Tendenzen dauerhaft zurückzudrängen. So hält es Jaspers für seine Pflicht, die Angst nicht nur wachzuhalten, sondern noch zu steigern, damit möglichst viele davon ergriffen werden. Ausdrücklich wendet er sich an den Einzelnen, obwohl er weiß, dass ein Einzelner allein nichts bewirken kann: Zwar der Einzelne ist wehrlos, nur in Gemeinschaft kann die Gefahr besiegt werden. Aber jeder Einzelne spürt, daß seine Freiwilligkeit daran beteiligt ist. Daher der Rückstoß der Angst zur gesteigerten Angst: es kommt auf den Menschen an, jeden einzelnen Menschen, auf den Entschluß: es darf nicht sein, es soll nicht sein – es ist nicht unausweichlich. Was geschah, ist eine Warnung. Sie zu vergessen, ist Schuld. Man soll ständig an sie erinnern. Es war möglich, daß dies geschah, und es bleibt jederzeit möglich. Nur im Wissen kann es verhindert werden.70
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sowie Brief von Karl Jaspers an Hannah Arendt vom 10. April 1948, in Arendt, Jaspers: Briefwechsel 1926-1969, op. cit. S. 141. Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, op. cit. S. 187. Ibid. S. 188. Ibid. S. 189. Vgl. Arendt: Konzentrationsläger, op. cit. S. 313. Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, op. cit. S. 190.
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Wie der letzte Satz nahelegt, ist es vornehmliche Aufgabe des akademischen Lehrers, sein Publikum über die Existenz der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager aufzuklären. Dass er an die Öffentlichkeit geht und seine Aufklärungsarbeit nicht auf die Tätigkeit im Seminar oder in der Vorlesung beschränkt, gehört zu seinem Beruf. Der Staat gewährt ihm die Muße und Distanz, auf die politische Situation zu reflektieren, und erwartet von ihm im Gegenzug, dass er seine Interpretation einem möglichst großen Kreis von Menschen zugänglich macht, Menschen, die ihrem eigenen Beruf nachgehen und deshalb nicht die Gelegenheit haben, sich ein ähnlich fundiertes Urteil zu bilden.71 Allerdings machen die vorausgehenden Sätze deutlich, dass diese Aufklärung nicht in der Form sachlicher Analyse geschieht. Die Rede von gesteigerter Angst, von der Schuld des Vergessens oder der Warnung für die Zukunft, überhaupt die dramatische Zuspitzung auf einen alles entscheidenden persönlichen Entschluss ähnelt vielmehr einer prophetischen Mahnrede: Zunächst wird ein drohendes Unheil beschworen, um dann die Möglichkeit einer Rettung durch Umkehr, durch völlige Hingabe an Gott und unbedingte Befolgung seines Willens, aufzuzeigen.72 Zwar stellt Jaspers in dem so aufschlussreichen Passus am Ende von Der philosophische Glaube klar, dass er sich selbst keineswegs als Prophet versteht, doch deutet er zumindest an, in welchem Ausmaß der engagierte Intellektuelle heute auf sein Publikum «prophetisch» einwirken müsste, um ihm das drohende Unheil bewusst zu machen: «Wir sind nun ganz und gar keine Propheten. Nicht nachahmen läßt sich, was damals groß war. Wohl aber läßt sich durch den Vergleich der Situation spürbar machen, welche Unruhe der Seele heute gehörig wäre und welche Ruhe sie suchen kann.»73 Der prophetische Gestus, der die Seele in Unruhe versetzt, erscheint ihm besser geeignet, ein breites Publikum zu erreichen, als die sachliche Analyse, die gewöhnlich etwas trocken und spröde daherkommt. Damit setzt er sich bewusst über das traditionelle Selbstverständnis des akademischen Lehrers hinweg, das einen prophetischen Gestus nicht zulässt. «Weil es auf alle Menschen ankommt, haben Bemühungen, 71
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Vgl. Bernd Weidmann: Wahrheit und Kritik. Zur politischen Funktion der Universität bei Karl Jaspers und Hannah Arendt, in Karl Jaspers – Philosophie und Psychopathologie, hg. von Knut Eming und Thomas Fuchs (Heidelberg: Winter, 2008) S. 105-134, hier S. 116ff. Vgl. K. Arvid Tångberg: Die prophetische Mahnrede. Form- und traditionsgeschichtliche Studien zum prophetischen Umkehrruf (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1987). Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 127.
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die sich an die gesamte Bevölkerung wenden, den Vorrang für die Bestimmung der Zukunft, wenn es ihnen wirklich gelingt, die Herzen zu durchdringen, und wenn sie nicht nur künstliche Gebilde herstellen.»74 Mit dem prophetischen Gestus geht Jaspers auch weit über Hannah Arendt hinaus, die trotz ihrer Betonung der vorwegnehmenden Angst einen sachlichen Stil bevorzugt. Vor diesem Hintergrund erhält auch das Eintreten für die Freiheit einen ganz anderen Sinn. Die Freiheit der öffentlichen Zustände, durch ein intaktes Freiheitsbewusstsein der Bürger ständig von Neuem bewährt, erscheint nun als einzige Möglichkeit, das drohende Unheil erneuter Konzentrations- und Vernichtungslager zu verhindern: «Der Mensch allein ist es, der die aus ihm selbst kommende Gefahr meistern kann – in der Hoffnung auf entgegenkommende Hilfe, wenn er guten Willens ist. Er kann es nur in einer Konstitution der Freiheit, in der die Macht verläßlich auftritt gegen alles, was die Freiheit des Menschen bedroht, das heißt auf dem Wege einer Rechtsordnung, die Weltordnung wird.»75 Das klingt gleich ganz anders als der bloße Hinweis auf die Chance eines jeden, an der Willensbildung aller teilnehmen zu können nach dem Maße der politischen Selbsterziehung und der Überzeugungskraft seiner Einsicht. Der Einzelne darf nicht einfach nur, wenn er will, er muss und hat keine andere Wahl. Wie produktiv der Gestus prophetischer Mahnrede ist, zeigt die Vielfalt seiner Formen, die Jaspers in Vom Ursprung und Ziel der Geschichte gebraucht. Nicht selten verwendet er historische Analogien, um seine Zeitgenossen für die Gefahren der aktuellen Weltlage zu sensibilisieren. So versteht er etwa den Aufstieg der römischen Republik zur Weltmacht und die anschließende Errichtung eines Weltimperiums unter den Cäsaren ausdrücklich als «Warnung für alle, die die Freiheit des Menschen wollen».76 Diese indirekte, weil die Möglichkeit der Rettung nicht explizit aussprechende Mahnrede enthält den Appell, für die Freiheit engagiert einzutreten und Entwicklungen wie die geschilderten nach Kräften zu verhindern. Wie wir gesehen haben, speist sich das geforderte Engagement aber aus dem philosophischen Glauben an den einen Gott der biblischen Religion. Die für die prophetische Mahnrede charakteristische Umkehrforderung ist damit auch in dieser unscheinbaren Warnung enthalten.
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Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, op. cit. S. 279. Ibid. S. 190. Ibid. S. 245.
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Eine weitere Form prophetischer Mahnrede stellen die zahlreichen Entweder-oder-Alternativen dar. Indem sie drohendes Unheil und mögliche Rettung einander direkt gegenüberstellen, führen sie drastisch vor Augen, dass alle anderen Versuche zur Bewältigung der Situation auf Dauer vordergründig bleiben müssen und dass die Zeit drängt, da ein aussichtsreicher Handlungsspielraum eigentlich nicht mehr besteht. Ein charakteristisches Beispiel einer solchen Entweder-oder-Alternative ist das folgende: «Entweder stehen wir vor dem umgreifenden Schicksal in der freien Wahl. Wir haben Zutrauen zu den Chancen im freien Zusammenspiel der Kräfte, so oft auch dabei Absurditäten entstehen, denn es bleiben die Chancen, sie zu korrigieren. Oder wir stehen vor der von Menschen durchgeführten total geplanten Welt mit ihrem geistigen und menschlichen Ruin.»77 Entwederoder-Alternativen liegen freilich auch dann vor, wenn die entsprechenden Ausdrücke nicht wörtlich vorkommen wie etwa im folgenden Beispiel, in dem das «Entweder» fehlt: Der Unterschied ist, ob wir aus dem Glauben an Gott und im Bewußtsein der Aufgabe der Menschenwürde den Weg der Freiheit wählen und in grenzenloser Geduld durch alle Enttäuschungen hindurch festhalten, oder ob wir im verkehrenden Triumph nihilistischer Leidenschaft uns dem Verhängnis überlassen, als Menschen durch Menschen in unserem Wesen zerstört zu werden.78
Auch hier wird der Einzelne vor eine Entscheidung gestellt, die ihm letztlich keine Ausweichmöglichkeit lässt und ihm die geforderte Umkehr geradezu aufdrängt. Was neben der Entweder-oder-Alternative den «prophetischen» Eindruck dieser Beispiele zusätzlich verstärkt, ist ihre schicksalsschwere, pathetisch aufgeladene Sprache. Es ist die Rede von Ruin und Verhängnis, dem Triumph nihilistischer Leidenschaft und der Zerstörung menschlichen Wesens. Auch dieser Sprachgebrauch zählt zu den von Jaspers gewählten Formen prophetischer Mahnrede. Sie kommt in Vom Ursprung und Ziel der Geschichte unter allen wohl am häufigsten vor. Zwei Beispiele seien zitiert: «Das Schicksal des Menschen hängt an der Weise, wie er die Folgen der Technik für sein Leben (von der Ordnung des jeweils zugänglichen Ganzen bis zum persönlichen Verhalten in jeder Stunde) meistern wird.»79 An anderer Stelle heißt es: «Es kommt für den Gang der Dinge darauf an, welche sittlichen Maßstäbe 77 78 79
Ibid. S. 226. Ibid. S. 214. Ibid. S. 160.
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wir in unserer Praxis tatsächlich anerkennen, aus welchem Ursprung wir leben, was wir lieben.»80 Sprachlich erscheinen diese Beispiele gegenüber den oben genannten eher zurückhaltend, aber der teils direkte, teils indirekte Bezug auf das Schicksal mit der dramatischen Zuspitzung auf eine Entscheidung und dem appellativen Zugriff auf den Einzelnen ist unverkennbar, die Umkehrforderung nicht zu überhören. Nach all diesen Beispielen sei noch einmal daran erinnert, dass Jaspers sich selbst ausdrücklich nicht als Prophet versteht. Er ist akademischer Lehrer, der zwar Formen prophetischer Rede verwendet, wenn Gegenstand und Situation es erfordern, aber keineswegs in diesem Gestus aufgeht. Als akademischer Lehrer ist er schon von Berufs wegen vor allem der sachlichen Analyse verpflichtet. Auch das könnte man anhand des Buches Vom Ursprung und Ziel der Geschichte belegen,81 ist aber nicht mehr unser Thema.
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Ibid. S. 269. Ein besonders treffendes Beispiel ist das Kapitel über politische Freiheit (vgl. Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, op. cit. S. 200ff.), das auf einen früheren Aufsatz zurückgeht (vgl. Karl Jaspers: Thesen über politische Freiheit, in Die Wandlung 1 [1946] S. 460-465). Hier präsentiert sich Jaspers als ein scharfer Analytiker in der Definition von Begriffen und der Differenzierung von Phänomenen. Sein Stil ist ganz anders als in den «prophetischen» Abschnitten.
Studia philosophica 67/2008
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This contribution reads the Jaspers of the Psychologie der Weltanschauungen (1919) within the frame of renewing proposals of metaphysics and ontology in philosophy, following the Kantian critiques on every dogmatism and dogmatic thought. As rationalism failed in human attempts to find a sustaining element within the difficulties, contradictions and limit-situations that man is exposed to during his existence, Jaspers maintains that there must be an alternative and further activity of the spirit to take its place. Drawing on the Kantian distinction between Verstand and Vernunft this further activity is supposed to be rational by using the means of rational thought, but without being rationalistic. It has to keep together the necessary human search for some firm points and the impossibility of finding them, because of the antinomic structure of both world and man. This has to be done transcendentally accepting life and its dynamic, which are constituted by limits, and by being clearly aware of their infinite character. In this early work, Jaspers calls this activity faith. Later it will become philosophical faith, but as a matter of fact this idea of faith is already philosophical, as it is not fideistic. It moves on where rationalism failed, towards the philosophical aim, i. e. the research for a sustaining certainty, and it does not simply look for authority.
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1. Die Metaphysik im 20. Jahrhundert
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Metaphysische Entwürfe im 20. Jahrhundert ist der Titel eines Vortrags von Reiner Wiehl auf dem Hegel-Kongress 1987 in Stuttgart zu dem Thema: Metaphysik nach Kant? Er führt dort aus, dass die «metaphysischen Entwürfe» im 20. Jahrhundert nur scheinbar «dünne Aufgüsse» oder «schlechte Varianten» der Gedankengebäude des vorhergehenden Jahrhunderts sind.1 Sie unterscheiden sich von diesen vielmehr darin, dass sie die gegen jene vorgebrachten Kritiken und Argumente in sich aufgenommen haben. Es handelt
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Stuttgarter Hegelkongreß 1987 «Metaphysik nach Kant?», hg. von Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann (Stuttgart: Klett-Cotta, 1987) S. 275-296; heute in Reiner Wiehl: Metaphysik und Erfahrung. Philosophische Essays (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996) S. 100-124, hier bes. S. 101f.
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sich um Vorstellungen, die ohne «Unendlichkeit» auskommen, sie verstehen «sich selbst als etwas Vorläufiges», wie offene, revidierbare Systeme, wobei sie jedoch ihre natürlichen Schwächen in Tugenden zu verwandeln suchen.2 Dieser vorläufige und provisorische Charakter der Metaphysik des 20. Jahrhunderts, das zyklische Kommen und Gehen metaphysischer und ontologischer Formen, wird begleitet von kritisch-transzendentalen und manchmal auch skeptischen Haltungen, sowie von Kritik am Aufklärungsprojekt der Moderne. Wiehl bemerkt, wie eine so verstandene Philosophie auf das Statut strenger Wissenschaftlichkeit verzichtet und dabei zugleich «Räume für andere Formen des Wissens» sucht, die «für die menschliche Kulturwelt nicht weniger bedeutsam sind als die der Wissenschaften».3 Dies zeitigt eine «zunehmende Unsicherheit hinsichtlich der Grenzziehung zwischen Glaube und Wissen» und macht die «‹Weltbilder› und ‹Weltanschauungen›» zu den neuen Gegnern der «Metaphysik unserer Epoche».4 Die Metaphysik des 20. Jahrhunderts ist deshalb fragmentarisch und formalistisch. Sie ist fragmentarisch in ihrem Inhalt und ihrer Methode, d. h. in den «metaphysischen Fragestellungen» und der «Suche nach Antwort», «im willkürlichen Nebeneinander heterogener methodischer Züge»; sie ist es aber auch in ihrer Systematizität, die zu einem «Nebeneinander unterschiedlicher metaphysischer Entwürfe und Konzepte» wird, sowie in ihrer Darstellung «in Form von Aphorismen».5 Sucht man nach dem Grund für dies alles, «stößt man auf das tiefgreifende Bewusstsein von der Endlichkeit des Menschen und von den Grenzen seiner Möglichkeiten».6 Die Metaphysik des 20. Jahrhunderts ist formalistisch und klammert die «Unmenge
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Vgl. ibid. S. 102f. Ibid. S. 104. Ibid. S. 104f. Auseinandersetzungen zwischen Weltanschauungen sind «Machtkämpfe», die in ihrer Dynamik zu Einigungszwecken die Verwendung einer Toleranz vorsehen, die jedoch nicht angemessen ist für die Metaphysik, welche sich dadurch auszeichnet, als solche auf reine theoretische Wahrheit abzuzielen (vgl. dazu ibid. S. 107). Ibid. S. 106f. Wiehl unterlässt es nicht, hervorzuheben, wie dieser fragmentarische Charakter in der heutigen Metaphysik eine auf gewisse Weise historische Sichtweise des Phänomens voraussetze, da es eines Tages sein könne, dass wenn erst einmal eine ausreichende, zeitliche und historische Distanz eingetreten ist, die Metaphysik uns als einheitlich erscheinen werde, eine Einheitlichkeit die wir vorerst noch nicht zu erkennen vermögen (vgl. ibid. S. 108). Ibid. S. 106.
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des Datenmaterials», «alle mannigfachen inhaltlichen Gegebenheiten», aus, um die dort enthaltenen, bzw. aus ihnen folgenden «unlösbaren Aporien und Antinomien» auszuschließen.7 Wiehl unterscheidet dabei zwei Formalisierungsprozesse: der eine ist an den «Ontologismus» gebunden und der andere an den «Transzendentalismus»: der erste versucht «eine bestimmte Seinsart des Seienden auszuzeichnen» und sie «als das wahre Sein des Seienden zu setzen»; der zweite ist hingegen darauf bedacht, «die Bindung jeder möglichen ontologischen Setzung an bestimmte Reflexionen des Denkens und an die Bedingungen einer solchen Reflexion nachzuweisen».8 Die Unbestimmtheit und Ambivalenz dieser Beziehung zwischen Ontologismus und Transzendentalismus macht Wiehl unter anderem bei Max Scheler, bei Martin Heidegger sowie bei Karl Jaspers’ «existenzphilosophischer Lehre von den Chiffren der Transzendenz» aus.9 Statt von einer Metaphysik des 20. Jahrhunderts ist an dieser Stelle angemessen, von einer nachkantischen Metaphysik zu sprechen, wie dies ja schon das Thema jenes Hegel-Kongresses suggeriert und auch die bekannte Auseinandersetzung aus den gleichen Jahren zwischen Jürgen Habermas und Dieter Henrich ebenso nahelegt.10 In ihrem durch den Kritizismus vermittelten transzendentalen Charakter sind solche Phänomene der Wiederkehr von Ontologie und Metaphysik im Denken des 19. und 20. Jahrhunderts seit den «Rückzuggefechten»11 Kants – u. a. mit Christian Garve, als popularphilo7 8
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Ibid. S. 109. Ibid. S. 111. Die Grenzlinie zwischen diesen Arten der formalen Metaphysik – Ontologismus und Transzendentalismus – ist nicht präzise zu bestimmen: die erste besitzt in jedem Falle eine gedankliche Reflexion und damit eine Reflexionsbedingung und die zweite, als Reflexion über die Reflexion, ist nicht genau definierbar und zeitigt eine «Flucht in immer neue Reflexionsebenen». Ibid. Vgl. dazu Jürgen Habermas: Rückkehr zur Metaphysik. Eine Tendenz der deutschen Philosophie?, in Merkur H. 439/440 (1985) S. 898ff., sowie ders.: Metaphysik nach Kant, in ders.: Nachmetaphysisches Denken (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988); Dieter Henrich: Was ist Metaphysik – was Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas, in ders.: Konzepte. Essays zur Philosophie in der Zeit (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987) S. 11ff. Auch in dieser Auseinandersetzung, wie überhaupt in den Analysen und Thesen Jürgen Habermas’ über die Bedingungen der Möglichkeit der Metaphysik, bzw. über die Philosophie in der Epoche nachmetaphysischen Denkens oder das Schicksal der Moderne und dem ihr gegenüber postulierten Paradigmawechsel, kann dieselbe Spannung von Ontologismus und Transzendentalismus herausgearbeitet werden. Otfried Höffe: Immanuel Kant (München: Beck, 21988) S. 283.
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sophischem Vertreter der alten dogmatischen Metaphysik – immer wieder in dieser Form und mit den von Wiehl beschriebenen Züge nachzuweisen.12 Oft gehen sie einher mit dem Bewusstsein der tiefen Wertekrise der späten Neuzeit und dem Wunsch nach Kompensation jenes von vielen Seiten beklagten, nicht zuletzt auch normativen Kompetenzdefizits des philosophischen Denkens. Mit Kants Kritik an allem metaphysischen Dogmatismus, den Argumenten des Positivismusstreits, aber auch der sprachphilosophischen Wende seien nur einige der theoretischen Hindernisse und Widerstände genannt, mit denen dieser Wunsch nach einer Philosophie als strenger Wissenschaft sich im Laufe der zwei Jahrhunderte nach Kant und auch heute noch auseinanderzusetzen hat. Wenn man in diesem Zusammenhang an ein so reiches und artikuliertes Phänomen wie die Rehabilitierung der praktischen Philosophie der 1960er und 1970er Jahre, mit ihren sehr kritischen und breitgefächerten, sicherlich nicht nur im strengen Sinne neuaristotelischen Erscheinungsformen denkt, wird klar, wie diese spannungsträchtige, aber auch vieldeutige Beziehung von Ontologismus und Transzendentalismus eine klare Einordnung der einzelnen Erscheinungen oft nicht leicht macht, aber – wie auch aus den Worten von Reiner Wiehl hervorgeht – ein sinnvolles, wenn nicht unumgängliches Interpretationsparadigma zum Verständnis nicht nur eines Großteils des zeitgenössischen, sondern gerade auch des Jaspers’schen Denkens darstellt.
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Der Kürze halber und ohne an dieser Stelle weitere Ausführungen folgen lassen zu können sei hier für Deutschland allein verwiesen auf Friedrich Adolf Trendelenburg und die in seinen Logischen Untersuchungen (Berlin: Bethge, 1840, erhebl. erweit. 21862, 31870, heute Hildesheim: Olms, 1964) und seinem Naturrecht auf dem Grunde der Ethik (Leipzig: Hirzel, 1860, 21868) entfaltete organische Weltanschauung – eine zugleich neukantianische und neuaristotelische Vorstellung von Philosophie. Für Italien sei an Antonio Rosmini erinnert, dessen Gedanken über das Sein diese Spannung zwischen Ontologie und Transzendentalem genau widerspiegelt. Von Rosmini vgl. vor allem Principî della scienza morale (Milano: Pogliani, 1831), heute in ders.: Opere, Bd. 23: Filosofia Morale (Roma: Città Nuova, 1990) S. 31ff., und Storia comparativa e critica de’ sistemi intorno al principio della morale (Milano: Pogliani, 1837) heute in ders.: Opere, Bd. 23, op. cit. S. 161ff. Zu Rosmini siehe auch Giuseppe Cantillo: Persona e società tra etica e teodicea sociale. Saggio su Rosmini (Napoli: Luciano, 1999) hier bes. S. 21f.
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2. Die Suche nach dem Unendlichen und die Endlichkeit des Einzelnen
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Nach dieser kurzen Charakterisierung der zeitgenössischen Metaphysik sei es nun Ziel dieses Beitrages, Karl Jaspers’ Bemühungen der ersten, der Einführung der Chiffren der Transzendenz und seiner eigentlichen Existenzphilosophie vorausgehenden Phase seines philosophischen Denkens in diesen Kontext nachkantischer Philosophie einzuordnen. Dazu wird zunächst diese Spannung zwischen Ontologismus und Transzendentalismus in Jaspers’ philosophischem Frühwerk aus dem Jahr 1919 Die Psychologie der Weltanschauungen13 aufzuzeigen sein, und zwar im Begriff des Rationalismus und in der Jaspers’schen Vorstellung vom Dasein des Menschen und von den gedanklichen Mitteln, mit denen er die Situationen bewältigt, denen das Leben ihn aussetzt. Des weiteren gilt es darzulegen, inwiefern und auf welche Weise der Glaubensbegriff, der später in seinem Werk der «philosophische» Glaube sein wird, eine Antwort funktioneller und konstitutiver Natur auf eine in der antinomischen Struktur des Menschen gründenden Problematik darstellt, sowie auf jene Grenzen des Menschseins, die ihre Ursache in der Endlichkeit seiner Rationalität haben. In Jaspers spezifiziert sich diese Spannung zwischen Ontologismus und Transzendentalismus – zwischen dem Denken, das eine bestimmte Seinsart des Seienden für das wahre Sein nimmt und demjenigen, das über das Verhältnis zwischen bestimmten Reflexionen des Denkens und ihren Bedingungen nachdenkt – in derjenigen zwischen dem Ontologismus der Suche nach einem Ruhepunkt in Fragen der Grundsätze und Weltanschauungen und dem Transzendentalismus des Bewusstseins der Begrenztheit und Endlichkeit der Kantisch verstandenen menschlichen Vermögen. Es gehört zu den ganz natürlichen Trieben des Menschen, nach Unendlichem zu suchen und zu forschen und es in dem fixieren zu wollen, was Jaspers «Gehäuse» nennt, und zwar mit dem Ziel, in diesen Halt zu finden. In diesem Mechanismus, der Ausdrucksform des ihm eigenen Rationalismus ist, macht der Mensch etwas endlich, was eigentlich unendlich sein sollte. Jaspers lässt keine Zweifel über die begrenzte Natur dieser Tätigkeit des Menschen aufkommen. Eine Begrenztheit, die ein drittes Element notwendig macht, nämlich eine weitere, über sie hinausgehende Tätigkeit, die in jedem Falle die rationalen – aber eben nicht rationalistischen – Eigenschaften des philosophischen Denkens haben und so durchaus nicht ins Irrationale ab13
Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen (Berlin: Springer, 61971).
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sinken soll. Eine Tätigkeit, die nicht den Fehler machen soll, das zu objektivieren, was nicht objektivierbar ist und die sich zugleich außerdem von reinen Glaubensaussagen unterscheiden soll. Außer «in der enthusiastischen Einstellung» nähert sich uns «die Sphäre des Geistes», so Jaspers, auch im «philosophischen Weltbild».14 Es handelt sich dabei um jenes Weltbild, das sich nicht damit zufrieden gibt, an Autoritäten zu glauben, sondern das an das «eigene, in originaler Erfahrung gewonnene Schauen» «appelliert», mit dem Anspruch auf «autonome Evidenz» «in Begründungszusammenhängen», d. h. durch das «Medium des Denkens», mit anderen Worten: durch die Ausübung der Vernunft.15 Werden sie nicht von einem Subjekt produziert, so sind die Weltbilder «gleichsam tote Spiegelbilder».16 Es bedarf der Wertungen vonseiten eines Subjekts im Konkreten und Individuellen des Lebens, was zu Kollisionen zwischen Werten und der notwendigen Konsequenz von Akten der Wahl und der Entscheidung führt. Wenn die Ergebnisse dieser Entscheidungen hierarchische Wertordnungen schaffen und für diese Ansprüche auf Allgemeingültigkeit geltend gemacht werden, so entstehen «Lebenslehren», die «in der Aufstellung eines ‹höchsten Gutes›» gipfeln. Da diese auf einem höchsten Gut gründenden Lehren sich auf ein an sich nicht erfassbares Ganzes beziehen, stellen sie so etwas wie «Sackgassen» dar, indem sie das Leben festlegen und es «erstarren» lassen.17 Es handelt sich um die «Objektivierung» dessen, was nicht objektivierbar ist, «was nur lebendig erfahren werden kann», was nicht Gegenstand eines Wissens sein kann.18 Man verliert das Leben und seine Haupteigenschaft aus dem Auge: die Bewegung. Das Leben gibt es nicht unter dem Mantel eines höchsten Gutes, man kann es nicht als ein Ganzes wollen oder erkennen. Das Leben ist vielmehr immer ein «Prozeß», etwas, bei dem «das letzte Telos dunkel, Idee bleibt».19 Nicht nur in Momenten der Wertekollision erscheint das Dasein des Menschen als ein «Prozeß der Wertschöpfung», wie auch der «Wertvernichtung», sondern dieses Erlebnis macht man vielmehr auch in vielen «konkreten Einzelsituationen».20 An den Extremen seines Daseins befindet sich
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Ibid. S. 219. Ibid. S. 198. Ibid. S. 220f. Ibid. S. 227. Ibid. S. 225f. Ibid. S. 227. Hier und im Folgenden: ibid. S. 229.
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der Mensch zwangsläufig «in gewissen entscheidenden, wesentlichen Situationen» – die «Grenzsituationen» –, die «mit dem Menschsein als solchem verknüpft, mit dem endlichen Dasein unvermeidlich gegeben» sind. Stets in der relativen und gespaltenen Welt der Gegenstände, in den Grenzsituationen verfangen, gelingt es dem Menschen nicht, seinen Blick über diese zu erheben. Er findet «nichts Festes», «kein unbezweifelbares Absolutes, kein[en] Halt», die widerstünden. Das Ganze und das Absolute sind nicht Teil des menschlichen Daseins.21 «Faktisch» jedoch verfügen wir gegenüber diesen für uns unerträglichen Grenzsituationen beinahe immer über einen Halt: «Ohne ihn» – sagt Jaspers – «würde das Leben aufhören». Die Frage nach diesem Halt, wie man ihn findet und bewahrt, entspricht der Frage «nach dem Geistestypus».22 Entscheidender Faktor ist hier die «antinomische Struktur der Welt», derer der Mensch sich immer bewusster wird, je tiefer seine Erkenntnis ist. Diese Struktur ist auch die seine: der endliche Mensch und die Welt leben diese Spaltung aus Widersprüchen und Antinomien. Dem Menschen ist kein Ruhezustand vergönnt, der nicht nur scheinbar wäre, und auch seine Spannung auf einzelne Werte, Zwecke und Güter hin ist anhaltend. Diese Vielzahl von Werten bringt die Frage nach einem absoluten Endzweck mit sich: Die konkreten Werte und die antinomisch-widersprüchliche «Welterfahrung» selbst zeigen sich ohne den Charakter der Absolutheit, verweisen jedoch immer über sich selbst hinaus, in Richtung auf etwas Absolutes.23 Die Ruhe, die der Mensch beispielsweise in der Erfahrung der Mystik finden kann, ist zeitlich beschränkt. Denkt und handelt er – innerhalb der Subjekt-ObjektSpaltung verbleibend und weiterhin nach Lösungen jenseits aller Widersprüche strebend –, so führt ihn jede Unendlichkeit an die «Abgründe der Widersprüche», d. h. zu den Antinomien.24 Zu diesen gehört die Antinomie des Lebens, der zufolge das Leben «niemals als Totalität, als ruhendes, abgeschlossenes Wesen» da ist, «sondern immer bewegt, in Gegensätze zerspalten», als Leben und Tod, männlich und weiblich.25 21
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«Alles fließt, ist in ruheloser Bewegung des in Fragegestelltwerdens, alles ist relativ, endlich, in Gegensätze zerspalten, nie das Ganze, das Absolute, das Wesentliche» (ibid.). Ibid. Ibid. S. 230. «Der Mensch kann […] niemals beim konkreten Endlichen stehen bleiben, da alles Konkrete zugleich endlichen und unendlichen Charakter hat»: «er gerät immer auf Wege zum Unendlichen oder Ganzen hin» (ibid. S. 231). Ibid. Ibid. S. 236.
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Das ist genau das Leben: eine tiefe und unvermeidliche Antinomizität, die darin besteht, «daß wir die Welt sowohl als notwendig und zusammenhängend (Rationalismus), wie als zufällig und chaotisch unzusammenhängend (Irrationalismus) sehen müssen», ohne «eine Mittelstraße» finden zu können.26 Tatsächlich stoßen wir im Leben auf den Kampf, auf die Dialektik von «Auflösung und Halt», bzw. Halt und Auflösung. Im ständigen Wechsel des Lebens kehren die formalen Grenzsituationen immer wieder, sie wiederholen sich in einem «lebendigen Prozeß», der nur Momente «scheinbarer Ruhe» kennt.27 Die bewusste Erfahrung der Grenzsituationen und die dialektische Bewegung der Reflexion führen ein vorher als selbstverständlich angenommenes Gehäuse zur Auflösung, ein Gehäuse das nun als solches, als Einschränkung, wahrgenommen wird, nunmehr ohne Kraft, Halt oder Sicherheit zu schenken. Auch unterlässt Jaspers es nicht, zu bemerken, dass diese Auflösung in Wahrheit eine «Metamorphose» ist, welche vorsieht, dass zwischenzeitlich, während neue gebildet werden, noch Trümmer und Fragmente von alten Gehäusen aktiv bleiben. Die Gehäuse können alle Formen der Lebensäußerung haben, so auch «die rationale Form des Gehäuses: die philosophische Lehre». Die «Kraft des Gehäusebauens» ist für Jaspers die «Kraft des Lebens» und als solche «das Wesentliche»: der lebendige Prozess, die «immer erneute Form des lebendigen Daseins». Ohne Auflösung käme es zur Erstarrung, ohne Gehäuse zu Vernichtung.28 Aus dieser Rekonstruktion des Jaspers’schen Textes geht sehr deutlich sein zutiefst in Endliches und Unendliches gespaltenes Menschenbild hervor, die ständige Suche nach dem, was einerseits zu suchen nicht unterlassen, aber was andererseits auch nicht erreicht und verwirklicht werden kann. Es handelt sich um eine Duplizität des Menschen, des aus Streben und Grenzen bestehenden Subjekts, von der auch Giuseppe Cantillo in einem Aufsatz über das intersubjektive Fundament der Ethik spricht, im Zusammenhang mit jenem Streben, «das bis in die Tiefe das existierende Subjekt charakterisiert», welches «auf der einen Seite endlich ist, durch die Tatsache bestimmt, als dieses Subjekt in einer bestimmten Situation zu existieren, auf der anderen Seite aber Projekt und Handlung, Verneinung der unmittelbaren
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Ibid. S. 271. Hier und im Folgenden: ibid. S. 280-284. Die Loslösung dieser beiden Momente vom lebendigen Ganzen führt entweder zu «nihilistischen Prozesse[n]» oder zu «endgültige[m] Unterkriechen in Gehäusen».
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Gegebenheit, Transzendierung und Jenseitigkeit».29 Eine solche Vorstellung charakterisiert den Menschen durch den Wunsch, diese Suche nach einem festen Punkt – ein ontologisches Streben könnte man sagen – und durch das gleichzeitige Bewusstsein, aufgrund der konstitutiven Tatsache, ein endliches Wesen zu sein, als solches Grenzen zu besitzen, die es ihm unmöglich machen, das Bedürfnis nach Entgültigem mehr als nur zeitweise zu befriedigen. Daraus folgt die Notwendigkeit, sich über diese Grenzen zu befragen, über die Möglichkeit seines Strebens, und eine im Grunde genommen Kantisch transzendentale Position einzunehmen.
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3. Rationalismus versus Leben
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Für Jaspers ist dieses Streben nach dem Unendlichen, nach einem festen Punkt, wie ein «Trieb in uns» gegen alles, was in Zweifel stellt. Es will, «daß etwas endgültig und fertig sein soll»: «eine Lebensführung, ein Weltbild, eine Wertrangordnung».30 Der Mensch lehnt es ab, immer nur im Zweifel zu leben, er fordert «Rezepte für sein Handeln, endgültige Institutionen» und strebt nach der «Vollendung» des Prozesses: die Suche nach dem Sein, nach «Einheit», «Geschlossenheit» und «Ruhe». Was allen Gehäusen gemein ist – diesem «behaglichen Wohnhaus», in dem der Mensch sich «dem schwindelerregenden Prozeß entronnen» einrichtet – ist ihr Rationalismus: der Mensch hat in «rationaler Form etwas Allgemeingültiges, etwas Notwendiges und Geordnetes, eine Regel, ein Gesetz als Pflicht, als Rezept» gegenüber.31 Der Rationalismus ist der Bereich des Denkens und derer, die denken; der Mensch findet Halt, fühlt sich wohl und sicher in dem, was er mit dem Verstand erfassen kann, in dem, was objektiv gilt.32 Was hier stattfindet, ist die «Verabsolutierung eines Endlichen, Einzelnen oder einer geordneten Fülle solcher Endlichkeiten zum unendlichen Ganzen».33
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Giuseppe Cantillo: Il fondamento intersoggettivo dell’etica, in Comunità e soggettività, hg. von Mario Tedeschi (Cosenza: Pellegrini, 2006) S. 143. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 304. Ibid. S. 305f. Ibid. S. 307. «Der Rationalismus ist der Geistestypus, der im Begrenzten und Begrenzbaren, im Fixierbaren und Endlichen verharrt, der mit dem Verstande alles faßt und darüber nichts mehr sieht. Die Unendlichkeiten werden wohl theoretisch gedacht, aber nicht erlebt.» Ibid. S. 308.
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Das «Zweckdenken» ist ein wesentlicher Aspekt der Rationalität, aber das Leben ist im Konkreten, im Individuellen, sodass die Vernunft und die Frage der Rationalität von hier ausgehen müssen und nicht sofort zum Ganzen springen dürfen. Einen Zweck «im unendlichen Ganzen des Lebendigen»34 zu suchen, wäre für den im Leben stehenden Menschen zu abstrakt und bedeutete, das Leben aufzulösen. Im Rationalismus stellen das Notwendige und das Allgemeine für den Menschen etwas Beruhigendes dar, er fühlt sich zeitlos im Denken der «zeitlosen Geltungen, der ewigen Gesetze, der Objektivität» und betrachtet er die zeitlose Notwendigkeit, so verliert die «zeitliche Existenz» an Bedeutung.35 Der Rationalismus sieht die Welt wie einen «geordneten, notwendigen, letztlich zeitlosen Kosmos». Aber in der Erfahrung der Paradoxien, der Grenzen und der Grenzsituationen, der Antinomien in allem Seienden, kommt erneut mit Macht die Zeit und die Existenz in ihr ins Spiel. Aufseiten des Rationalismus findet der Mensch gegenüber dieser Erfahrung nur eine Formel, eine Theorie, mit der der «Sinn» zu interpretieren ist, aber er findet nicht die Bewegung des Lebens. Dem Rationalismus stemmt sich erneut die Instanz des Leben entgegen: ihm, dem es um das «Zeitlose» geht, stemmt sich der «Geist, dem das Konkrete und individuelle Werden in der Zeit» das Wesentliche ist, entgegen. In seiner Flucht in das Allgemeine, Notwendige und Zeitlose verliert der Rationalismus den Sinn für das geschichtliche Werden und das Leben. Die «allgemeingültigen Lehren vom Geiste», «vom Naturrecht, natürlicher Religion und allgemeinen Menschenrechten» sind «unvermeidlich für unsere Ratio», aber werden sie zu einem Rationalismus verabsolutiert, sind sie «in ihrer Abstraktheit tot». Für den Rationalisten besteht die Wahl zwischen allgemeinen Vernunftlehren. Um lebendig zu sein, ist es jedoch notwendig, dass eine solche Wahl im Konkreten, im Individuellen, in der Verantwortung stattfindet. Tut sie dies, so ist sie die Wahl des aktiven, lebendigen und existierenden Menschen, eines endlichen Wesens «in endlichen Situationen, bestimmt und begrenzt».
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4. Der Glaube Dies ist Jaspers’ Analyse des Zustandes der Philosophie, im Sinne einer rationalistischen philosophischen Lehre. Sie dient dazu, Halt zu finden gegenüber 34 35
Ibid. S. 309. Hier und im Folgenden: ibid. S. 309ff.
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den Antinomien, denen der Mensch in seinem Dasein ausgesetzt ist, indem etwas Endliches und Begrenztes verabsolutiert wird. Den Halt im Unbegrenzten hingegen, um in den Wendepunkten des eigenen Daseins Kraft zu schöpfen, findet der Mensch im Glauben. Dieser besteht nicht aus einem bestimmten Inhalt, sondern stellt vielmehr eine Richtung, ein Unbedingtes dar. Der «Glaube» steht dem «Wissen» gegenüber – die «Kraft des Subjekts im Gegensatz zur objektiven, unpersönlichen Gewißheit».36 Der Glaube bewegt sich also nicht auf der Ebene der objektiven Erkenntnis und ist nicht ein erster oder irgendein Grad des Wissens, sondern vielmehr ein «Akt, der überhaupt erst auch die Bewegung zum Wissen hin möglich macht». Der Glaube ist nicht etwas einzelnes, eine besondere Kraft oder Inhalt, «sondern letzte Kraft des Geistes». Der Glaube ist auch keine unproblematische Gewissheit in Fragen und Situationen der endlichen Welt, vergleichbar oder auf der gleichen Ebene mit der lebendigen Kraft des Willens zum Dasein. Der Glaube ist vielmehr «dialektischer Fluß, unendliche Problematik, Verzweiflung und Angst», insofern als im Geistesleben der Nihilismus stets als Wahl und Möglichkeit hinter der Ecke lauernd gegeben ist. Aber: «Der Geist kann in der Angst der Bewegung nur kraft des Glaubens existieren». Glaube und Wissen: «Im Glauben lebt der Mensch subjektiv existierend, im Wissen erfaßt er etwas objektiv Geltendes. Die absolute Gewißheit in der subjektiven Existenz des Glaubens ist zugleich immer in objektiven Formulierungen ungewiß: Mit dem Glauben ist immer diese objektive Ungewißheit, dieses Unbeweisbare verbunden.»37 Dadurch und als Kompensation seiner Un-Gegenständlichkeit ist der Glaube, viel mehr als alle Beweise, in der Lage, dem Menschen Halt zu geben, gerade weil er frei von jenen Zweifeln ist, die das objektive Wissen befallen und es relativ und unsicher machen. Im Gegensatz zum Wissen, das sich allein auf Endliches, Einzelnes und Relatives beziehen kann, geht der Glaube auf die Totalität und das Absolute. Im Glauben erfährt der Mensch den Sinn und das Ziel der Dinge, während das Wissen allein Mittel zu anderem ist. Als ein lebendiger ist der Glaube Leben, erhält er eine Bindung zum Leben aufrecht, die der Rationalismus verliert, und verleiht er demjenigen Sinn, der es lebt und so auch der Welt, die dieser erkennt. Der Glaube ersetzt in diesem Sinne die Weltanschauung, die rationalistisch belastete philosophische Lehre, da er eine Beziehung zur Totalität herstellt, die weder Wissen noch Philosophie haben können. 36 37
Hier und im Folgenden: ibid. S. 337. Ibid. S. 338.
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Begrifflich ist der Glaube nur auf paradoxe Weise erfassbar, weil er zwar kein Wissen ist, gleichzeitig aber ständig Inhalte herstellt und sich auf konkrete Gegenständlichkeiten stürzt, die den Einzelnen mit etwas Unendlichem verbinden. Der Glaube ist die Kraft, die es erlaubt, Wertungen nicht nur theoretisch, sondern auch existentiell zu vollziehen. Jaspers stellt den Glauben den Ideen gleich, wie die Ideen ist der Glaube subjektive Kraft und objektiver Inhalt; wie die Ideen bezieht der Glaube sich auf einzelne Gegenstände, und zwar nicht in der Modalität des Wissen, sondern in einem Gerichtetsein im Endlichen und Zeitlichen auf etwas, das jenseits des Endlichen und Zeitlichen steht. Auch für den Glauben ist es wesentlich, lebendig zu sein, da er, solange er es ist, immer wieder vom einzelnen Inhalt und der Gefahr der Erstarrung in ihm den Weg zurück findet, und so die Erfahrung der eigenen Unendlichkeit macht, indem er im Einzelnen immer nur die Vorwegnahme und nie die Vollendung des Unendlichen findet.38 Aus diesem Grund ist der Glaube niemals Ruhe, sondern immer Prozess, mit seiner Gewissheit ist immer Ungewissheit verbunden und mit dem Inhalt die Auflösung des Inhalts. Da der Glaube im Wesentlichen die Kraft dieses Lebens ist, und kein übersinnlicher Inhalt, ist er ungewiss und unsicher, was seine objektiven Inhalte anbetrifft: «Der Glaube ist ein Leben bei intellektueller Skepsis auf Grund der Kraft».39
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5. Schlussbemerkungen Der natürliche Trieb des Menschen, das Unendliche zu suchen und es im Gehäuse mit dem Ziel fixieren zu wollen, in ihm Halt zu finden, um es schließlich aufzulösen, wenn es seine Funktion aufgrund der charakteristischen Unfähigkeit nicht mehr erfüllt, das Unendliche in etwas Endlichem festzuhalten: diese Dialektik ist Teil einer dynamischen, antinomischen Komponente in der Jaspers’schen Vorstellung von Mensch und Welt, die stark auf den Begriff des Lebens ausgerichtet ist. Das Leben ist ein Spannungsverhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem, Ruhe und Bewegung. In den Versuchen, mit seiner Rationalität im Endlichen Halt zu finden, macht der Mensch jedoch endlich, was eigentlich unendlich sein soll. Die Grenzen – transzendentaler Art, könnte man sagen – dieser Tätigkeit des Menschen sind für Jaspers in seiner Rede vom Leben des Geistes und vom Halt, den er im Unendlichen 38 39
Vgl. ibid. S. 339. Ibid. S. 342.
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und in den Gehäusen findet, offensichtlich. Dies ist ein Kantisches Bewusstsein der Schranken der verstandesmäßigen Geistestätigkeit, das Jaspers dazu drängt, sie in einer weiteren Geistestätigkeit zu überwinden, die das Wissen der Philosophie dem der Wissenschaften entgegenstellt und es gleichzeitig dem Bereich des Glaubens annähert. An dieser Stelle – in der Suche nach einem, neben dem Rationalismus neuen Aspekt des Denkens, das besser als dieser in der Lage sein soll, sich dem Leben des Geistes zu nähern und ihm gerecht zu werden – kommt eine Unterscheidung Jaspers’ zum Tragen, auf die zu Recht Giuseppe Cantillo in seinem Jaspers-Buch hinweist und die ihren Ursprung in der Kantischen und dann auch Hegel’schen Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand hat. Es handelt sich in diesem Sinne um eine Vernunft, die «die Existenz in die Unruhe des Fragens und des Problems drängt, sie die Antinomien und Widersprüche, Grenzsituationen und Paradoxien der Erfahrung entdecken lässt und sie drängt, die ursprüngliche, dies- und jenseits der Bewusstseinsspaltung gesetzte Einheit des Lebens zu suchen», mit anderen Worten: «das Absolute, die Idee».40 Dank dieses sie vom Verstand unterscheidenden Aspekts der Vernunft «reagiert das Leben auf die Folgerichtigkeit des Rationalismus und seinen ausschließlich im Begrenzten gesetzten Halt, indem es sich dem Unendlichen gegenüber öffnet»; dadurch zeichnet sich nun ein durch die «Polarität von Nihilismus und Glaube» charakterisierter Mittelweg ab zwischen dem «‹toten Gehäuse› und der Verzweiflung, dem Nihilismus».41 Auf diesem Weg schreitet der Geist – d. h. «die Existenz, die im Endlichen das Unendliche sucht, das Ewige in der Zeit, das Relative im Absoluten» – fort, jedoch direkt und unweigerlich «auf den immer wiederkehrenden und immer dramatischen Widerspruch zu, das nicht erreichen zu können, was er sucht», denn sobald er beanspruchte, «es erreicht zu haben, hätte er es bereits in sein Gegenteil verkehrt».42 Dieser Jaspers’sche Weg führt den Menschen im Namen des als Existenz begriffenen Lebens und der ihr eigenen, so aufgefassten Vernunft weg vom Nihilismus, aber auch von den toten Gehäusen, die die als Rationalismus lebensfremd degenerierten Formen der Philosophie bilden, in Richtung auf eine Sphäre des Glaubens. Ein Glaube, der zunächst reiner Glaube ist und dann zum philosophischen wird, dabei jedoch – und das ist der entscheidende Punkt – den Glauben philosophisch werden lässt und nicht die Philosophie 40 41 42
Giuseppe Cantillo: Introduzione a Jaspers (Roma, Bari: Laterza, 2001) S. 47. Ibid. S. 47f. Ibid. S. 48.
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fideistisch und damit bar ihrer rationalen Eigenschaften, die ihr so auf jeden Fall eigen bleiben und weiterhin conditio sine qua non ihrer Echtheit, wie auch derjenigen einer vollen menschlichen Existenz sind. Es ist also nicht etwa das Irrationale das tragende oder charakterisierende Element des Denkers in seiner Annäherung und seinem Nichtverschmähen des Glaubensbereichs. Schon hier ist der Glaube ein philosophischer, in dem Sinne, dass er sich auf der Bahn dessen weiterbewegt, was der Rationalismus in der Suche nach Halt tat, weil er den Aufgaben einer authentisch verstandenen Philosophie nachkommt, weil er tut, was die rationalistisch verstandene Philosophie mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Strenge nicht tun kann, weil sie im entscheidenden Moment das Leben mit seiner Dynamik aus den Augen verliert. Wo der Glaube lebendig und echt ist, hält er Endliches und Unendliches zusammen. Und in diesem Falle tut er das, was die Philosophie vergebens zu tun versucht. Aus diesem Grund und in diesem Sinne ist der Glaube ein philosophischer Glaube, auch wenn er noch nicht so heißt. Die Jaspers’sche Behauptung eines Unbedingten und Absoluten, seine Vorstellung von Mensch und Welt und ihrer antinomischen Struktur, seine ständige Aufmerksamkeit auf die Grenzen des Menschen gegenüber der Unendlichkeit, zu der er strebt und neigt, sowie der Hinweis auf den Glauben, als dem Bereich, in dem, wenn er authentisch gelebt wird, der Mensch Halt im Unendlichen findet: All dies zeigt, wie Jaspers bereits in der Psychologie der Weltanschauungen, vor der Ausarbeitung der Existenzphilosophie und des Begriffs der Chiffren der Transzendenz, die Eigenschaften eines Vorschlags einer modernen Metaphysik des 20. Jahrhunderts, oder wenn wir so wollen einer nachkantischen Metaphysik, auf interessante Weise widerspiegelt. Man versteht so, wie eine solche Metaphysik, eine solche Philosophie oder philosophierende Existenz, nicht anders als transzendental sein kann, indem sie die eigenen Grenzen zusammen mit dem antinomischen Gesetz des Lebens anerkennt, wenn sie sich nicht im Gehäuse einschließen oder mit der Autorität eines nicht lebendigen Glaubens zufrieden geben möchte, was in seinen Wirkungen das gleiche wie der «Glaube» an ein Dogma der Philosophie wäre. Deutlich wird jedoch auch, wie eine solche Existenzmetaphysik den Gegensatz von Glaube und Wissen ebenso wie eine bloß rationalistisch konzipierte, philosophische Verstandeslehre zu überwinden hat. Jaspers spielt letzterer gegenüber die Rolle eines Warners, indem er dazu auffordert, sich anderem als nur dem eigenen endlichen Verstand gegenüber zu öffnen, und dieses Andere ist der philosophische – oder rationale – Glaube eines existierenden – aber auch denkenden – Menschen.
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Karl Jaspers und das Christentum Jaspers grew up in a liberal milieu in which there was hardly any talk of religious questions. Everything that smacked of Christian dogmatism was strange to him right from his youth. After the Second World War he searched for a transformation of the Christian faith into a Biblical one, amongst which he also counted the Jewish and, in unclarified manner, the Islamic tradition. To the extent that the Biblical tradition was shaped by forms of revelational faith, he countered the latter with the idea of philosophical faith, which is characterised by three conditions. Philosophical faith should (1) no longer understand itself as revelation, but as a cipher of revelation. It should (2) radically distance itself from the claim to exclusivity, which Jaspers considered the evil in revelational faiths. And it should (3) forgo the idolisation of Jesus as well as seeing in Jesus a cipher of transcendence. For Jaspers every type of incarnation of transcendence was superstition, as ‹maximum of embodiment› exactly the opposite of transcendence. Jesus is a cipher of being human and as such, for the Biblical and Christian cultures an exemplary human being.
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Da das religiöse und mithin auch das religionsphilosophische Denken in der Regel tief in der Lebensgeschichte eines Menschen verankert sind, möchte ich meinen Beitrag mit einigen Erinnerungen und Bekenntnissen von Karl Jaspers beginnen. 1938 schrieb er das erste Kapitel einer umfassenden Autobiographie, die leider nie vollendet worden ist. Darin sagte er über die religiöse Erziehung im Elternhaus: Unsere Eltern erzogen uns ohne Kirche. Niemand lehrte uns beten. Von Gott war nicht die Rede. In der Schule zwar hörten wir früh die biblischen Geschichten, ohne Reflexion, ergriffen, aber wie Märchen, bei denen die Frage nach Wirklichkeit und Unwirklichkeit gar nicht gestellt wird […]. Später ging durch alle Schuljahre der Religionsunterricht, der zumeist als völlig nebensächlich und lästig behandelt wurde […]. Der Konfirmationsunterricht wurde mitgemacht wie eine Konvention. Der Inhalt des Unterrichts war nunmehr, da wir älter geworden waren, radikal unglaubwürdig, wie wir ohnehin erwartet hatten, der unterrichtende Pfarrer persönlich uns unsympathisch. Daß Sterne niemals zusammenstoßen, sollte ein Beweis für das Dasein Gottes sein, der ihren Lauf regiere […]. Als wir einmal zu spät zur Unterrichtsstunde gekommen waren, wurden wir bestraft dadurch, daß wir diesmal nicht beteten. Wir verwunderten uns über diese Strafe, die uns völlig gleichgültig war, aber hatten ein Gefühl von Mitleid und respektvollem
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Schonungsbedürfnis gegenüber dem Pfarrer. Für den Konfirmationstag dachten wir, in Hinsicht auf ein Fest, ausschließlich an weltliche Dinge. Ich bekam auf meinen Wunsch kunstgeschichtliche Bücher und einen Abguß des Kopfes des Hermes von Praxiteles […]. Mein Vater war zur Feier nicht mitgegangen. Er könne, so hieß es, wegen seiner Glatze die kalte Kirchenluft nicht vertragen. Der Pfarrer besuchte uns nach der Feier, um zu gratulieren, machte eine wunderliche Figur, wurde mit aller Freundlichkeit empfangen und bewirtet. Auf eine religiöse Sache kam er begreiflicherweise angesichts dieser Umwelt nicht zu sprechen.1
Als Jaspers 18-jährig war, wollte er aus der Kirche austreten. Er trug die Absicht seinem Vater vor und begründete sie damit, dass der Austritt «eine Forderung der Wahrhaftigkeit» sei. Denn die Mitgliedschaft in der Kirche komme einem Bekenntnis zu einer Institution gleich, die «viel Torheit» und «viel Unwahrheit»2 bewirke. Der Vater gab ihm den Rat, nicht auszutreten. Er habe die Kirche nicht gewählt, sondern sei in sie hineingeboren worden wie in den Staat. Deshalb werde niemand in der bloßen Mitgliedschaft ein Bekenntnis sehen. Der Staat sei «ein notwendiges Übel» und die Kirche «wohl auch».3 Aber der Verfall beider Institutionen könnte noch schlimmere Folgen haben. Deshalb sei es die Pflicht eines jungen Menschen, aus den Gegebenheiten das Beste zu machen. Mit einem bloßen «Nein» würde er «nur eine persönliche Pathetik entwickeln»,4 die niemandem helfe. Mit 70 allerdings sei es anders. «Vor dem Tode darf man alles sauber machen.»5 Dann dürfe man wohl auch aus der Kirche austreten, weil nun niemand mehr etwas von einem alten Menschen wollen könne. Der Vater verfuhr auf diese Weise. Als er mit 71 aus seinen Ämtern ausschied, trat er aus der Kirche aus. Der Sohn blieb in ihr bis an sein Lebensende, vielleicht mit der Begründung: Da die Überlieferung an Organisation gebunden ist, wird, wer sich den Gehalten der Bibel verbunden weiß, einer solchen Organisation zugehören. Vor dem Tod aber legte er fest, dass kein Geistlicher bei seiner Abdankung zugegen sein solle. Ich verlas seinen eigenen Nachruf,6 ein A4-Blatt, und sonst nur Musik – kein Gebet und kein kultisches Ritual. 1 2 3 4 5 6
Karl Jaspers: Elternhaus und Kindheit (1938), in ders.: Schicksal und Wille. Autobiographische Schriften, hg. von Hans Saner (München: Piper, 1967) S. 84f. Ibid. S. 87. Ibid. S. 88. Ibid. S. 87. Ibid. S. 88. Nekrolog, von Karl Jaspers selbst verfasst. Erstdruck in Gedenkfeier für Karl Jaspers, am 4. März 1969 in der Martinskirche. Ansprachen gehalten von K. Ross-
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Den Passus über die religiöse Erziehung leitet er, was das Christliche betrifft, mit einer negativen Bilanz ein: Wenn Kierkegaard auf die Frage, warum er glaube, einmal antwortet: «Weil mein Vater es mir gesagt hat», so gilt Analoges von uns. Es wurde uns Kindern ein Anspruch selbstverständlich, für dessen Begründung ich ebenso sagen könnte: «Mein Vater hat es mir gesagt.» Das war vor allem von früher Kindheit an der Anspruch uneingeschränkter Wahrhaftigkeit […]. Negativ aber war unsere Erziehung charakterisiert durch ein Ignorieren des Christlichen, ohne Polemik, so daß ich vom Christentum erst in der Schule wie von einem bloßen Lehrgegenstand hörte, als ich schon, wenn auch dunkel, einen anderen Grund meines Lebens gewonnen hatte. Daß ich nicht Christ im Sinne positiven Glaubens bin, hat seinen Grund in dem einfachen: Mein Vater hat es mir nicht gesagt.7
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Es gibt in Jaspers’ religionsphilosophischen Schriften eine Reihe ähnlicher negativer Bilanzen. Sie werden immer dann gezogen, wenn er findet, dass nun ein Entweder/Oder vorliegt, das in Redlichkeit ein Eingeständnis verlangt. Dabei geht es in der Regel um eine Wegscheide zwischen einem philosophischen Glauben und dem christlichen Offenbarungsglauben. So lesen wir etwa in Bezug auf den Offenbarungsglauben: – «Ich glaube nicht an Offenbarung und habe es nie, soweit mir bewusst ist, auch nur der Möglichkeit nach getan.»8 – In ihm sei nur der Antrieb, Offenbarung zu befragen und – dies allerdings vergeblich – sie «zu verstehen»,9 aber niemals der Antrieb, sie zu erfahren oder gar «glauben zu wollen». – Er könne nicht anders, als mit Kant zu denken: «Wäre Offenbarung Realität, so wäre sie das Unheil für die geschaffene Freiheit des Menschen.»10
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mann, J. Hersch, L. Burkhardt, H. Salmony, H. Arendt, H. Saner unter Beifügung des von Karl Jaspers selbst verfassten Nekrologs (Basel: Helbing & Lichtenhahn, 1969) S. 3f. (= Basler Universitätsreden, 60. Heft). – Die private Abdankungsfeier im Verwandten- und Freundeskreis, an dem der Nekrolog gelesen wurde, fand am 3. März statt. Jaspers: Elternhaus und Kindheit, op. cit. S. 84. Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (München: Piper, 1962) S. 35. Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung, in Philosophie und christliche Existenz. Festschrift für Heinrich Barth zum 70. Geburtstag am 3. Februar 1960, hg. von Gerhard Huber (Basel, Stuttgart: Helbing & Lichtenhahn, 1960) S. 60. Karl Jaspers, Heinz Zahrnt: Philosophie und Offenbarungsglaube. Ein Zwiegespräch (Hamburg: Furche, 1963) S. 28 (= Stundenbuch 24).
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In Bezug auf Christus beteuert er: – dass er nicht verstehen könne, was der Satz «Gott habe in Jesus-Christus aller Welt sich offenbart»11 bedeuten solle, – noch könne er verstehen, was es heiße, dass Christus «Gottes Sohn» und «menschgewordener Gott»12 sei. Denn dieses Verständnis würde schon einen bestimmten Glauben voraussetzen, den er nicht teile. Er lässt auch keinen Zweifel daran, – dass er die Inkarnation Gottes für Aberglauben, ja für Gotteslästerung hält, der man schon in den ersten Ansätzen «ohne leise Nachgiebigkeit»13 widerstehen sollte; – dass für sein Philosophieren Christus keine Chiffer der Transzendenz sein könne, weil er ein «Maximum an Leibhaftigkeit» sei: das Gegenteil der Transzendenz, als behaupteter Gott «eine Ungeheuerlichkeit!»14 – auch spreche das trinitarische Denken ihn nicht als Chiffer an. «Es verhüllt uns den Bezug zur Transzendenz»15 und lässt uns die «existentiellen Möglichkeiten versäumen».16 Die Bibel schließlich sei – selber keine Offenbarung, sondern «Menschenwerk», daher auch «voll von Irrungen»17 und voller Widersprüche. – Sie verlange «Aneignung, Wahl, Abstoßung – Vergegenwärtigung, Verwandlung».18 – Es komme deshalb «darauf an, wie einer sie liest, und was dadurch aus ihm wird».19 Über so viel Negativität stellt sich die Frage, was das Christliche oder auch das Christentum denn eigentlich sei? Jaspers beantwortet sie in ganz und gar ungewohnter Weise: Was immer durch Herkunft und Tradition auf die Bibel gegründet ist: ganz Europa, das ganze Abendland, das ein weit größeres Gebiet umfasst als Europa, und viele andere Bereiche der Welt, gehört mit allen Konfessio-
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Jaspers, Zahrnt: Philosophie und Offenbarungsglaube, op. cit. S. 91. Ibid. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 227. Ibid. Ibid. S. 256. Ibid. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung, op. cit. S. 6. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 53. Ibid. S. 54.
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nen und Gruppierungen, mit allen Kulturen und individuellen Lebensformen zum Christentum: ebenso, um ein krasses Beispiel zu nennen, das sich bei Jaspers selber findet, Franz von Assisi wie der Massenmörder im Namen Gottes Konrad von Marburg: der schreckliche Inquisitor.20 Das religionssoziologische Kennzeichen von ihnen allen ist lediglich, dass sie sich in Sondergruppen wie z. B. Konfessionen, Gemeinschaften, Sekten oder Kirchen zusammenschließen und Ansprüche der Auserwähltheit stellen. Ein gemeinsames Wesenmerkmal des «wahren» Christentums aber gibt es nicht, nicht einmal im Glauben an Jesus als menschgewordener Gott. Vielmehr ist die konfessionelle Mannigfaltigkeit verwirrlich groß. Jaspers scheint sie zu bejahen. Was er damit beabsichtigt, ist offenbar, eine maximale DifferenzVerträglichkeit zu erreichen als maximale Chance für die universale Kommunikation, und allen Konfessionen, Gruppen und Einzelnen die Legitimation zur Bestimmung, wer Christ sei und wer nicht, zu entziehen. Denn wenn definiert wird, wer und was ein Christ ist und damit auch, wer nicht, beginnt der Ausschluss und in der letzten Folge davon die Ausschließlichkeit, wenn die Machtverhältnisse es erlauben. Deshalb soll in der Welt «als Christ gelten, wer sich dafür hält».21 Für die jeweils Anderen bedeutet das, dass sie im Verhältnis zum christlichen Zugehörigkeits-Anspruch anerkennungspflichtig sind. Bedeutet es auch, dass derjenige, der den Anspruch erhebt, autonom ist? Könnte er auch sagen, dass er kein Christ sei und nicht als solcher gelten möchte, obwohl er in einer christlichen Kultur aufgewachsen ist? Er könnte lediglich sagen, was Jaspers von sich selber gesagt hat, nämlich: dass er «nicht Christ im Sinne positiven Glaubens»22 ist. Aber es bliebe auch für ihn die kulturelle Prägung, die er zwar als Qualität, aber nicht als Faktum negieren kann: «Wir Abendländer alle sind Christen, weil in diesem Raum geprägt, durch die Herkunft in unserer Seele bewegt, in unseren Entschlüssen und Zielsetzungen bestimmt, und mit Bildern und Vorstellungen erfüllt, die auf die Bibel zurückgehen.»23 Hier entzieht sich etwas der Autonomie des Subjekts, was unwillkürlich als Grund da ist, letztlich durch die Zufälligkeit der Geburt und somit durch eine Grundsituation.
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Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung, op. cit. S. 14. Ibid. S. 15. Jaspers: Elternhaus und Kindheit, op. cit. S. 84. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 52.
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Da alles, was Christentum ist oder es ausmacht, sich jeder Bestimmbarkeit entzieht und auch entziehen soll, aber dennoch in der Bibel unbestreitbar sein Fundament hat, schlägt Jaspers mehrmals vor, nicht mehr von «christlichem» Glauben oder von «christlicher» Religion zu reden, sondern besser von «biblischer Religion» und «biblischem Glauben».24 Das ist mehr als eine Namensänderung, nämlich ein Wechsel des Programms. Es gilt nun, die Zerschneidung der Bibel in einen jüdischen und einen christlichen Teil rückgängig zu machen und wenigstens einen Blick auch auf den Islam zu werfen, sofern auch er auf dem Alten und Neuen Testament gründet. Mit der Zerschneidung der Bibel ist nicht nur die Trennung in das Alte und das Neue Testament gemeint, sondern vor allem die nochmalige Zerschneidung des Alten Testaments in das, was auf das Christentum hinführt und «vermeintlich die christliche Offenbarung voraussagt», und das andere, «das dann als jüdisch gilt, was man im Christentum nicht brauchen kann».25 Diese zweite Zerschneidung hielt Jaspers für einen «empörenden»26 Akt der christlichen Orthodoxie, der nicht nur gegen die Texttreue, sondern gegen das ganze religiöse Erbe des Judentums verstößt. Im Hintergrund dieses Urteils verbirgt sich vielleicht auch seine Vorliebe für das Alte Testament vor dem Neuen. Jaspers hielt es für so viel reicher, dass ihm zuweilen schien, das Neue Testament sei nur ein «Anhang»27 zum Alten. Beide sind aber «dem Judentum erwachsen».28 «Jesus war Jude. Auch die Apostel waren ohne Ausnahme Juden.»29 Die Bibel aber sei insgesamt «der literarische Niederschlag der einzigartigen religiösen Erfahrungen eines Jahrtausends»,30 der seinen Abschluss im ersten oder zweiten Jahrhundert mit der endgültigen Fixierung des Kanons gefunden habe. Jesus und die Apostel lebten und dachten aus der Substanz dieses Jahrtausends. «Historisch ist das ganze Alte Testament jüdisch und das Neue Testament ebenfalls.»31 Es trifft deshalb für Jaspers nicht zu, dass, wie gelegentlich christliche Theologen sagen, die Kanonizität des Neuen Testaments gleichsam seine Heiligkeit auch auf das Alte
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Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung, op. cit. S. 14. Jaspers, Zahrnt: Philosophie und Offenbarungsglaube, op. cit. S. 83. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 496. Jaspers, Zahrnt: Philosophie und Offenbarungsglaube, op. cit. S. 80. Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 496. Ibid. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung, op. cit. S. 14. Jaspers, Zahrnt: Philosophie und Offenbarungsglaube, op. cit. S. 83.
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ausgestrahlt hat, sodass seine Gültigkeit auch für das ganze Abendland und nicht bloß für das Judentum erhalten blieb. Vielmehr war das Alte Testament für die ersten Christen, die doch selber Juden waren, «das einzige heilige Buch».32 Ohne seine Autorität, so vermutet Jaspers, hätte sich das Christentum «gar nicht halten können»,33 und «allein mit dem Neuen Testament» wäre es als «wunderliche Sekte ohne Weltgehalt»34 längst verschwunden. In dieser Einschätzung spielt auch noch eine andere Nähe zum Alten Testament eine Rolle: Der Gott des Zweiten Gebots, der unsichtbare, unerkennbare, undenkbare, ganz ferne Gott, der sich nur in Gesetzen und neuen Verhüllungen offenbart, ist Jaspers sehr viel näher als der christliche Gott des Zwei-Naturen-Dogmas, den er weder als Gott noch als Chiffer Gottes anerkennen kann. Die vorgeschlagenen Begriffe der «biblischen Religion» und des «biblischen Glaubens» sind bei Jaspers reichlich unklar. Sie bezeichnen die umgreifenden Räume des Glaubens, die «auf die Bibel gegründet»35 sind, aber keinerlei bekenntnishafte Inhalte, also das Judentum, das Christentum und, «in einem gewissen Sinne, wenn auch weiter abliegend, den Islam».36 Was «in einem gewissen Sinne» und «weiter abliegend» heißen soll, wird indes nirgends erläutert. Ist es ein Vorbehalt gegen die späte Gründung des Islams? Aber das Christentum ist als Tochterreligion weit später als 600 Jahre nach dem Judentum entstanden, und der Islam kann als Tochterreligion sowohl des Judentums wie des Christentums angesehen werden. Im Koran kommt ein nicht unerheblicher Teil des biblischen Personals beider Testamente wiederum vor. Er enthält den längsten kanonisierten Text über Maria. Jesus steht im Islam als Prophet in hohem Ansehen. Allah ist ein ebenso ferner Gott wie Jahwe, und der Monotheismus des Islams ist vielleicht noch reiner als derjenige des Judentums. Mohammed ist überdem nicht in die Falle des Christentums gegangen. Er hat sich selber nie als Gott ausgegeben und niemals «Gott» oder «Sohn Gottes» nennen lassen. Er war lediglich der «Diener» und der «Knecht» oder der «Gesandte» Allahs. Was die drei Religionen wirklich verbinden könnte, ist nicht eine gemeinsame Gründung auf die Gesamtheit der biblischen Texte – das wird sowohl für das Judentum
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Ibid. S. 82. Ibid. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 81. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung, op. cit. S. 14. Ibid.
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wie für den Islam eine inakzeptable Zumutung sein, sondern dass sie sich alle auf die gleiche Gründer-Gestalt sowohl im Alten wie im Neuen Testament und auch im Koran berufen: auf Abraham. Das Judentum, das Christentum und der Islam sind die drei Abrahamitischen Religionen, die denselben Stammvater anerkennen und verehren. Er ist das lebendige Gleichnis für das Wort des Cusanus: «Religio una in rituum varietate».37 Jaspers war kein Kenner des Islams. Es gibt in seinem Werk keine Auseinandersetzung mit dieser Religion. Er hat wahrscheinlich den Koran nie gelesen. In seiner Bibliothek befindet sich zwar eine arabisch-deutsche Ausgabe der Ahmadyya-Bewegung38 des Islams; aber sie zeigt keine Lesespuren. Um die Gestalt Mohammeds scheint er sich nie intensiv bemüht zu haben. Er nahm ihn nicht unter die «maßgebenden Menschen» auf, wahrscheinlich weil er sich von ihm, der Politiker, Heerführer, Kaufmann und Religionsstifter war, kein klares Bild machen konnte. Das ist zweifellos eine Kenntnislücke, die heute ins Gewicht fällt und sein Konzept der biblischen Religion unnötig verengt, weil der Islam unter den Abrahamitischen Religionen im Verhältnis zu den anderen Buch-Religionen (also Offenbarungs-Religionen) der Möglichkeit nach die toleranteste ist und den Gedanken der Ausschließlichkeit im strengen Sinn nicht kennt. In der 2. Sure steht der Satz: «In der Religion gibt es keinen Zwang».39 Und in der 5. Sure findet sich der beachtliche Gedanke, dass die beiden Bücher, die dem Koran vorausgegangen sind, die Thora und das Evangelium, mit diesem, dem Koran, zusammen Ein Buch bilden und dass alle diese Bücher «Licht beinhalten»40 und zur rechten Zeit gekommen sind. So habe auch Jesus, der Sohn der Maria, «das bestätigt, was vor ihm in der Thora war».41 Die Besitzer des Evangeliums aber sollen nach dem richten, was im Evangelium steht. Denn Allah habe «dieses Buch mit der Wahrheit herabgesandt».42 «Wenn er gewollt hätte, hätte er Euch zu einer ein-
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Nicolaus Cusanus: De pace fidei I, in ders.: Philosophisch-Theologische Schriften, hg. von Leo Gabriel, Bd. III (Wien: Herder, 1967) S. 710. Der Heilige Qur-ân. Arabisch-Deutsch, versehen mit einer ausführlichen Einführung unter der Leitung von Hazrat Mirza Bashiruddin Mahmud Ahmad. Zweiter Kalif des verheißenen Messias, Oberhaupt der Ahmadiyya-Bewegung des Islams. Hg. von der Ahmadiyya-Mission des Islams (Wiesbaden: Harrassowitz, 1954). Koran 2, 256. Ibid. 5, 44. Ibid. 5, 46. Ibid. 5, 48.
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zigen Gemeinschaft gemacht.»43 Er habe aber gewollt, dass alle «miteinander in guten Werken wetteifern».44 Das ist vielleicht der erstaunlichste Text innerhalb der drei Abrahamitischen Religionen, wie es scheint, ohne jede Verachtung für die anderen Offenbarungen und zugleich ohne Verleugnung der eigenen. Das Weise an ihm ist: Er rät von der voreiligen Vereinigung ab. Ein jeder möge sich an sein Buch halten und das befolgen, was es ihm gebietet. Wahrheit und Licht sei in allen. – Aber schon im nächsten Vers steht: «Oh, die ihr glaubt! Nehmt Euch nicht die Juden und die Christen zu Beschützern. Sie sind nur untereinander verbündet»,45 was wohl bedeutet: «aber nicht mit uns». Das scheint die dauerhafteste Erfahrung zu sein, die der Islam mit den anderen Abrahamitischen Religionen gemacht hat. Man darf wohl annehmen, dass Jaspers den Namen «Abrahamitische Religionen» gekannt hat. Dass er ihn nie verwendet, müsste dann einen Grund oder Gründe haben. Es ist nur eine Vermutung, dass ihm die Bezeichnung zu äußerlich war; denn es gibt keine Hinterlassenschaft von Abraham, auf die sich ein philosophischer Glaube stützen könnte. Aber keine Vermutung ist, dass das, was Jaspers suchte, nicht die Rückführung des Glaubens auf eine Person war, die noch mehr im Dunkel steht als Jesus oder Mohammed, sondern die Verbindung des Glaubens mit der Vernunft, die die unausweichliche Enge jeder Konfession sprengt. Von der Vernunft her erwächst die dreifache Kritik an den biblischen Religionen: Alle drei sind Offenbarungsreligionen; zwei von ihnen erheben im strengen Sinn den Ausschließlichkeitsanspruch: als einzige im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, und eine, die christliche Religion, lehrt überdem, dass ihr Stifter nicht bloß ein Mensch gewesen sei, sondern der einzige menschgewordene Gott, der auf Zeit eine irdische Adresse hatte: Jesus von Nazareth. Zunächst ein Wort zum Offenbarungsglauben: Offenbarung ist eine direkte oder indirekte (z. B. durch Propheten oder Apostel) Mitteilung Gottes in Raum und Zeit, also historisch lokalisiert. Für alle Geschäfte in der Welt berufen wir uns nicht auf Offenbarung, sondern auf Wissen und Können. Offenbarung kommt aber aus einem anderen Ursprung. Sie entzieht sich dem Wissen und will Glauben, aus dem sie die Glaubenden, im Unterschied zur Wissenschaft, zu führen vermag. Jaspers beharrt aber darauf, dass, sobald Offenbarung sich durch Sachaussagen oder durch logisch zwingende 43 44 45
Ibid. Ibid. Ibid. 5, 51.
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Argumente «dem entgegensetzt, was reine Wissenschaft hervorbringt»,46 sie der Wissenschaft stets unterlegen ist. Das ist indes, wie die Erfahrung zeigt, keineswegs so sicher. Im 19. Jahrhundert haben mehrere Philosophen ihr «credo quia absurdum est» mit respektablen Argumenten vertreten, allen voran Kierkegaard. Erschreckend oder jedenfalls erstaunlich ist, wie viele Menschen, auch wissenschaftlich geschulte, eine fast unbegrenzte Glaubensfähigkeit haben und ganz besonders anfällig sind für Demutsargumente, in denen sie ihre Kritikfähigkeit verleugnen. Die beste Antwort hat ihnen Nietzsche erteilt: «Zu der Demut, welche spricht: credo quia absurdum est, und ihre Vernunft zum Opfer anbietet, brachte es wohl schon Mancher: aber Keiner, so viel ich weiß, bis zu jener Demut, die doch nur einen Schritt davon entfernt ist und welche spricht: credo quia absurdus sum.»47 Jaspers unterscheidet drei Formen des Glaubens im Hinblick auf Offenbarung: – der Offenbarungsglaube, der Menschen eignet, die meinen, selber eine Offenbarung empfangen zu haben; – der Offenbarungsglaube, den eine kirchliche Autorität bestätigt und garantiert und ihren Mitgliedern abverlangt; – der Glaube, der zwar auf die biblische Überlieferung gründet, aber die Offenbarung nicht leibhaftig glaubt, sondern als Chiffer aneignet. Die erste Form gab es zu allen Zeiten und überall auf der Welt. Sie ist «ein universales, psychologisches und historisches, nicht spezifisch christliches Phänomen».48 Die zweite Form ist das Glaubensfundament aller biblischen Religionen, aber insbesondere der christlichen Religion. Die dritte Form benötigt keine Kirche als Auslegerin. Sie ist ein freier Glaube, in dem «glauben» eigentlich «verstehen» bedeutet. Aus den Unterscheidungen wird sichtbar, dass es nicht so sehr darauf ankommt, was der Mensch glaubt, sondern wie er es glaubt. Offenbarung wird wohl immer in Formen der Leibhaftigkeit wirklich. Sie ist so etwas wie eine Verführung durch Transzendenz, sofern in ihr der Gott direkt zu sprechen scheint. Sie verführt, indem sie die Bilder gibt, deren der Mensch bedarf, die er sich aber, nach dem Zweiten Gebot, dennoch nicht machen dürfte.
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Jaspers, Zahrnt: Philosophie und Offenbarungsglaube, op. cit. S. 48. Nietzsche: Morgenröte, op. cit. S. 417. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 52.
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Innerhalb der biblischen Religionen aber ist die christliche Religion die mit großem Abstand leibhaftigste. In ihrer dogmatischen Vermittlung hebt sie nicht nur das Zweite Gebot auf, sondern mutet den Glaubenden Glaubensinhalte zu, die ihr sacrificium intellectus verlangen. Das trifft nicht allein auf die Doppel-Natur Jesu zu, sondern auf die ganze heilsgeschichtliche Auslegung seines Lebens und Wirkens. Die Glaubensinhalte sind zum Teil so absurd, dass das christliche Glauben selber absurd wird. Es ist als Glauben-Können eine Gnade Gottes und als Nicht-Glauben-Können eine Schuld des Menschen. Jaspers übernimmt in sein Jesus-Bild keine Anleihen aus der heilsgeschichtlichen Auslegung. Jesus war für ihn ein «maßgebender Mensch» wie Sokrates, Buddha und Konfuzius, historisch der letzte jüdische Prophet und metaphysisch eine Chiffre des jüdischen Schicksals und des Menschseins. Wenn Offenbarung eine direkte oder indirekte Mitteilung Gottes ist, wird mit ihren Aussagen ein besonderer Wahrheitsanspruch gestellt. Das war für Jaspers insbesondere in den biblischen Religionen der Fall. Sie hielten die Offenbarung Gottes für unbedingt und universal wahr. Das ist eine Steigerung des Wahrheitswertes, die es sonst nicht gibt. Denn universale Wahrheit beruht immer, wie alle wissenschaftliche Wahrheit, auf Voraussetzungen und ist gerade deshalb nicht unbedingt, und unbedingte Wahrheit ist Wahrheit einer geschichtlichen Existenz und deshalb gerade nicht universal. Wahrheit ist insofern entweder unbedingt und geschichtlich oder universal und bedingt. Der Anspruch aber, universale und unbedingte Wahrheit zu besitzen, führt geradewegs zum Anspruch auf Ausschließlichkeit. Die Ausschließlichkeit ist so etwas wie eine Demarkationslinie unter den Religionen oder, wie Jaspers sagt, der «radikalste Unterschied»49 zwischen ihnen. Die meisten Religionen nämlich, insbesondere die ostasiatischen, sind differenzverträglich. Für Jaspers gibt es nur eine einzige Gruppe von Religionen, die biblisch fundierten Religionen der Juden, der Christen und des Islam, die den Anspruch auf Ausschließlichkeit stellen, und zwar jede nur für sich. Der Geist der Ausschließlichkeit gibt ihnen allen eine «gemeinsame Stimmung» der «tödlichen Feindschaft»50 gegen die andere Wahrheit. Ausschließlichkeit ist der Versuch, «die eigene Geschichtlichkeit zur einzigen»51 zu machen. Die biblischen Offenbarungsreligionen haben damit etwas in die Welt gebracht,
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Karl Jaspers: Die nichtchristlichen Religionen und das Abendland, in ders.: Philosophie und Welt. Reden und Aufsätze (München: Piper, 1958) S. 159. Ibid. S. 163. Jaspers, Zahrnt: Philosophie und Offenbarungsglaube, op. cit. S. 85f.
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«das uns heute […] unerträglich ist». Es sei sozusagen «der Teufel»52 in der Religion, «den wir loswerden müssen».53 Die Schärfe ist ganz ungewöhnlich. Aber im Verhältnis zur Ausschließlichkeit darf es keine Konzilianz geben. Sie ist der Nährboden der Gewalt, die über Jahrhunderte im Namen Gottes Ketzer, Hexen und Andersgläubige aller Art, vor allem aber die religiös Nächstverwandten, verfolgt hat. Die Rückkehr des Moses vom Berg Sinai, auf dem er die Gesetzestafeln von Gott empfangen hat, ist die böse Chiffer am Anfang der biblischen Religion. Als Moses sah, dass sein Volk um ein goldenes Kalb tanzte, ließ er durch den Stamm Levy 3000 Mann: «Bruder, Freund und Nächsten»54 erwürgen und mit Schwertern erschlagen, offenbar in der ‹heiligen› Überzeugung nun die gerechte Strafe zu erteilen. Auf einer der Tafeln stand: «Du sollst nicht töten!» Wenn man schließlich im Besitz der unbedingten und universalen Wahrheit ist, wird die Versuchung, den Kern dieser Wahrheit zu vergöttlichen, fast unabwendbar. Wenn dieser Kern, wie im Christentum, eine leibhaftige Person ist, kann es geschehen, dass sie vergöttert wird. Diese Menschenvergötterung wird dann theologisch verbrämt, indem sie als Menschwerdung Gottes interpretiert wird. Die fleischgewordene Wahrheit ist nun auch der fleischgewordene Gott. Jetzt hat man auf alle Zeiten das wahre Bildnis nicht allein des Sohnes, sondern auch des zuvor unsichtbaren Vaters. Denn wer den Sohn gesehen hat, «hat den Vater gesehen».55 Die Frage nach dem Original, so Karl Barth, ist nun «schlechterdings und restlos beantwortet».56 Das Bilderverbot ist ebenso überflüssig wie jede weitere Suche nach dem Bild. Unnötig zu betonen, dass Jaspers all das zurückweist, was für so viele Christen die Mitte ihrer Überzeugung ist. Die fleischgewordene Wahrheit, der fleischgewordene Gott, Gott Vater und Gott Sohn, das Original des Gottesbildes: all das sind Chiffren, aber für ihn unwahre. Wer sie übernimmt, darf dennoch als Christ gelten, da ja ganz unbestimmbar bleibt, wer ein ‹wahrer› Christ sei. Zur Frage aber wird, wie Jaspers von Chiffern, die im Christentum so verbreitet sind wie die Chiffer des menschgewordenen Gottes, sagen kann, dass sie «unwahr» seien, wenn doch das ‹wahre› Christliche in keiner Weise 52 53 54 55 56
Ibid. S. 87. Ibid. 2. Mose 32, 28. Karl Barth: Dogmatik III, 1, 227. Ibid.
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bestimmbar ist? Die Antwort muss wohl lauten: Er nimmt das Maß zur Beurteilung dieser Chiffern eben nicht aus dem christlichen Repertoire, das für ihn ja maßlos ist, sondern aus seinem philosophischen Glauben, dem für wahr gilt, was Kommunikation ermöglicht. Der Unglaube, dass Christus eine Chiffer der Transzendenz ist, hat nicht zur Folge, dass Jaspers das Christentum preisgibt, sondern dass er für seine Verwandlung plädiert. Er nennt drei Verzichte, die für sie Voraussetzung sind: – Der Glaube an den Gottmenschen Christus sollte aufgegeben werden. An seine Stelle tritt im Umgang mit der Bibel die Entdeckung des Menschen Jesus, der in seinem Menschsein für das Abendland maßgebend geworden ist. – Die Offenbarung muss zur Chiffer der Offenbarung werden. Das heißt: Ihre Verleiblichung und Verdinglichung der Transzendenz sollte der schwebenden Sprache der Chiffren Platz machen, ohne dass der existentielle Ernst des Unbedingten verloren geht. – Auf den Ausschließlichkeits-Anspruch der dogmatisch bestimmten Glaubenswahrheit muss verzichtet werden, damit der Glaube ohne Gewalt und frei sein darf. Diese drei Disziplinen des Verzichts werden von drei Disziplinen der Aneignung flankiert: – von der Aneignung eines gemeinsamen transzendentalen Grundwissens, das uns den Aufbau der Wirklichkeit oder des Seins architektonisch vor Augen führt und die Klarheit der Denkungsart erst ermöglicht; – von der Aneignung der möglichen Sinnfülle der Welt im metaphysischen Lesen der Chiffern, in dem alles Sinn bekommen und alles transparent werden kann; – von der Aneignung einer Ahnung des Seinsgrundes in der existentiellen Erfahrung der Freiheit, sofern in ihr mir ist, als ob ich mir geschenkt werde. Die Klarheit des transzendentalen Grundwissens, die metaphysische Sinnfülle der Welt und die existentielle Erfahrung der Freiheit klären den philosophischen Glauben, machen ihn reich und geben ihm einen Grund in der Existenz, in dem sich diese zur Transzendenz verhält. Das wären, zusammen mit den drei Disziplinen des Verzichts, gute Chancen für den Frieden unter den Religionen.
Studia philosophica 67/2008
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Kierkegaard und die Existenzphilosophie von Karl Jaspers The main focus of Kierkegaard’s presence in Jaspers’s existential philosophy is comprised, no doubt, of the concept of existence, which Jaspers in his Autobiographie defined as ‹illuminating›. The concept of ‹self›, or of Jaspers’s existing subject, is highlighted by the idea of the ‹single› in Kierkegaard. Similarly relevant, however, is the methodological influence of the same concept on Jaspers’s philosophy. Jaspers, like Kierkegaard, takes onto himself all its relevance and the ambivalence characterising thought and its activity. On the one hand, truth’s instance which expresses itself in universally valid propositions. On the other hand, the singular root of the relationship with truth and therefore the subjective flair of truth itself. This theme, developed by Kierkegaard (especially in the Concluding Unscientific Postscript to Philosophical Fragments) through the distinction between ‹subjective thinker› and ‹objective thinker›, is re-introduced in Jaspers’s Philosophie in the distinction between objective knowledge, scientific knowledge on the one hand, and philosophy as subjective thought, proceeding from existence and developing into a clarification of existence on the other. In the sketched essay on Kierkegaard found in Nachlaß (Die großen Philosophen), Jaspers focuses his reflection on this particular ambit of unity of thought and existence as foundational characteristic of Kierkegaard’s philosophical experience, which he appropriates: ‹This life in its entirety is a philosophical reality which shares both an objective and subjective concern. This thought is not superimposed by duty, but as Kierkegaard calls it, it is an existing thought (existierendes Denken)›. Another significant aspect highlighted by this essay is the attitude in the face of faith. Particularly with regards to faith and the relationship between faith and philosophy, Jaspers distances himself from Kierkegaard’s stance. Jaspers maintains that ‹philosophical faith› is more acceptable than ‹revealed faith›: ‹We don’t follow Kierkegaard when he claims that only one aspect, that of God becoming man, is the essence of all› and recognises, moreover, that ‹if man truly believes in the man-God, then Kierkegaard’s road to construction is almost impossible to imitate›.
1. Die Präsenz Kierkegaards In der Philosophischen Autobiographie aus dem Jahr 1957 schreibt Karl Jaspers: «Während des Weltkrieges fand eine gründlichere Plotin-Lektüre statt, vor allem aber die Erleuchtung durch Kierkegaard. Kierkegaard ver-
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danke ich den Begriff der ‹Existenz›, der mir seit 1916 maßgebend wurde, um das zu fassen, worum ich mich bis dahin in Unruhe bemüht hatte.»1 Dieser Hinweis erscheint nützlich, um über den Zusammenhang zwischen dem Denken Kierkegaards und der Existenzphilosophie von Jaspers nachzudenken. Neben der auf verschiedenen Ebenen sich bemerkbar machenden Wirkung von Kant, Nietzsche und Weber muss Kierkegaards Einfluss im Ursprung und in der Ausarbeitung von Jaspers’ philosophischer Perspektive hoch bewertet werden. Er selbst weist auf diesen Umstand schon zu Beginn der Psychologie der Weltanschauungen hin.2 Diese Bedeutung Kierkegaards für Jaspers findet vielerorts Niederschlag und Bestätigung: in einigen seiner Vorlesungskurse, so etwa in den Übungen des Jahres 1923, in einem Vorlesungskurs 1928/29 über Kant und Kierkegaard und auch in den Kursen von 1934/35 und 1937 ist Kierkegaard präsent;3 des weiteren in drei kleinen, spezifisch Kierkegaard gewidmeten Essays: ein erster erscheint 1951 in Der Monat, ein zweiter stammt aus einer Radiokonferenz in Basel zum 100. Todestages des dänischen Philosophen und ein dritter gibt einen Beitrag zu einem internationalen Kolloquium der UNESCO aus dem Jahr 1964 wieder und wurde 1966 veröffentlicht;4 sowie schließlich in einem detaillierten Schema und seiner Ausarbeitung, aus denen ein Kapitel über Kierkegaard in einem neuen Band von Die großen Philosophen hätte werden sollen und die sich im umfangreichen Material des Jaspers’schen Nachlasses finden.5 Dort schreibt er zu Kierkegaard und der Bedeutung seiner Philosophie: Ich halte [Kierkegaard] neben Nietzsche, vielmehr vor Nietzsche, für den wichtigsten Denker unseres nachkantischen Zeitalters, nachdem mit Goethe und Hegel eine andere Epoche zum Abschluß gekommen war, und da die unsere universale abendländische Denkweise, die naturwissenschaftlich-positivistische, nicht eigentlich als Philosophie gelten kann.6
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Karl Jaspers: Philosophische Autobiographie (München: Piper, 1977) S. 125. Vgl. Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen (Berlin: Springer, 61971, unv. Nachdruck 1990) S. 7ff. Vgl. Karl Jaspers in seiner Heidelberger Zeit, hg. von Joachim-Felix Leonhard (Heidelberg: Heidelberger Verlagsanstalt und Druckerei, 1983) S. 103-106. Diese Aufsätze sind in verschiedenen Sammlungen veröffentlicht worden. Vgl. Karl Jaspers: Aneignung und Polemik. Gesammelte Reden und Aufsätze zur Geschichte der Philosophie, hg. von Hans Saner (München: Piper, 1968) S. 296-329. Karl Jaspers: Die großen Philosophen. Nachlaß. 1. Darstellungen und Fragmente, hg. von Hans Saner (München: Piper, 1981) S. 416-476. Ibid. S. 416.
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In den großen Werken von Jaspers erscheint die Bedeutung Kierkegaards noch eminenter. Es ist kein Zufall, dass die Psychologie der Weltanschauungen, die gewöhnlich zusammen mit Karl Barths Kommentar zum Römerbrief als wesentliche Urkunde der Kierkegaard-Renaissance gilt, kurz nach dem Ersten Weltkrieg publiziert wird – der Zeitpunkt, zu dem nach Jaspers’ eigener Aussage in der Philosophischen Autobiographie die entscheidende Begegnung mit Kierkegaards Werken stattfand.7 Aus der Psychologie der Weltanschauungen gehen zahlreiche Motive des Interesses an Kierkegaard hervor, die die Philosophie des 20. Jahrhunderts charakterisieren. Wenn auch noch nicht adäquat sedimentiert, so erscheinen doch bereits, manchmal ganz plötzlich im Verlauf der Argumentationen auftretend, Kierkegaard’sche Motive, die konstant den gesamten spekulativen Gang von Jaspers inspiriert haben und dabei Interpretationsparadigmen für das Menschliche bieten und zwar in seinem Werden und in seiner Beziehung zur Alterität, zur Transzendenz. Tragender Kern dieser Präsenz Kierkegaards ist der Begriff der Existenz, in obigem Zitat der Philosophischen Autobiographie als eine Erleuchtung bezeichnet. Die Existenz ist in der Tat in Jaspers’ Denkverlauf Anziehungspunkt für eine Vielzahl von Motiven, die in der Psychologie der Weltanschauungen expliziert und aus philosophischer Sichtweise neu gedacht werden.
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Durch seine Erforschung der Psychopathologie ist Jaspers ein Experte der Antinomien des Menschlichen geworden und von Existenz zu sprechen bedeutet für ihn so viel, wie die enge Verbindung zu erfassen, die immer zwischen Selbstbewusstsein und Selbstwerdungsprozess besteht, sowie das «Sichselbstwählen» – das für Jaspers, wie er in der Psychologie der Weltanschauungen präzisiert, «im Zusammenhang mit der Wirklichkeit» steht – als das lebendigste Moment im Gange der persönlichen Selbstgestaltung auszumachen: Die Selbstgestaltung, die darauf beruht, daß der Mensch sich selbst wählt, ist eine ganz konkrete […]. Sie ignoriert nirgends das Allgemeine, aber bettet es ein in die übergreifende Lebendigkeit eines Selbst. Darum ist sie angewiesen auf die
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Zu Kierkegaard und der dialektischen Theologie vgl. Giuseppe Riconda: L’eredità di Kierkegaard e la teologia dialettica nel suo significato speculativo (Torino: Edizioni di Filosofia, o. J.) S. 215-233.
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Tiefe und die Sicherheit der lebendigen Impulse, deren Folgen zu übernehmen, deren Verantwortung zu tragen das Selbst bereit ist.8
Von der Selbstgestaltung zum Geistesleben, den statischen Charakter – das Gehäuse – brechend, den jene Weltbilder verkörpern, die dazu neigen, die Lebenserfahrung zu kristallisieren: das ist der Gang der Jaspers’schen Psychologie. Das Geistesleben ist gänzlich gekennzeichnet durch die Vertiefung von Dynamiken, die Kierkegaard aufgezeigt hatte. Das «Selbst» der Psychologie der Weltanschauungen ist der Kierkegaard’sche Einzelne auf der Suche nach einem Allgemeinen, als einem charakterisierenden Aspekt seines eigenen Werdens. Jaspers schreibt in dem Werk von 1919: Der Mensch existiert nicht, wenn er nicht als «Einzelner» existiert. […] Selbstwerden heißt, daß das Allgemeine im Einzelnen wird und keines von beiden beiseite geschoben ist. Das Selbst ist aber als Werden kein Naturprozeß, der etwa wie die Folge der Lebensalter einfach abrollt. Sondern das Zentrale des Selbst ist, daß sich hier etwas zu sich selbst verhält; in diesem Verhalten zu sich selbst liegt der Prozeß des Werdens.
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Und Kierkegaard zitierend fügt er hinzu: «Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, vom Zeitlichen und Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthese. Eine Synthese ist ein Verhältnis zwischen zweien. So betrachtet ist der Mensch noch kein Selbst». Damit er ein Selbst sei, muß sich das Wesen dieser Synthese seiner bewußt sein. Das Verhältnis, wie Kierkegaard sagt, muß sich zu sich selbst verhalten; dann ist es das Selbst. Da der Mensch eine Synthese ist, hört seine Existenz, sein Selbst auf, wenn er die eine Seite der Synthese verliert.9
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In diesen Horizont fügt sich – vielfach durch Kierkegaard inspiriert – die Deklination der verschiedenen Situationen der Existenz ein, wie beispielsweise das Leiden, die Schuld, die Verzweiflung. Sie sind allesamt zu evozieren durch den Verweis auf den Augenblick als paradigmatischer Situation, in der das Selbst dazu aufgerufen ist, es selbst zu werden: «Der Augenblick» – schreibt Jaspers – «ist das Medium für alle Lebendigkeit und darum unendlich mannigfaltig an Gestalten, von den ärmsten bis zu den reichsten, von den einfachsten bis zu den verwickeltsten».10 Im Augenblick vollzieht sich die Synthese des Zeitlichen mit dem Ewigen. Diese Synthese braucht der «existierende Denker», wie Jaspers in der 8 9 10
Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 107f. Ibid. S. 419f. Ibid. S. 114.
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Psychologie der Weltanschauungen schreibt. Als Innerlichkeit, Subjektivität, ist die Wahrheit aufs engste mit der Leidenschaft des existierenden Subjekts verbunden. In der Tat erklärt Kierkegaard in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken: «Die Leidenschaft der Unendlichkeit ist die Wahrheit selber. Aber die Leidenschaft der Unendlichkeit ist gerade die Subjektivität, und somit ist die Subjektivität die Wahrheit».11 Letztere ist nicht an die Illusion gebunden, dass der Mensch «von sich selbst wegkommt», eine Illusion, die demjenigen eigen ist, der objektive Erkenntnis beansprucht.12 Schon hier, in der Psychologie der Weltanschauungen, findet sich die Schlüsselfrage der Jaspers’schen Existenzphilosophie, die die Wiederaufnahme eines der bedeutendsten Themen aus Kierkegaards Denken darstellt. In Was ist Existenzialismus? schreibt Jaspers viele Jahre später: was Kierkegaard vorschlägt, ist «die Rückkehr aus einer Wahrheit, die nur gedacht wird als das andere, dem gegenüber ich selbst gleichgültig bin, zur Wahrheit, die gelebt wird, zum Ernst, der im Menschsein liegt, das frei ist über sich selbst zu entscheiden».13 Wie Kierkegaard weist Jaspers auf jene Ambivalenz hin, die die Denktätigkeit immer charakterisiert: auf der einen Seite die Tendenz des Denkens zu allgemeingültigen Aussagen, auf der anderen Seite die einzigartige Wurzel der Beziehung zur Wahrheit, d. h. der subjektive Charakter der Wahrheit selbst. Diese Thematik wird von Kierkegaard besonders in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift entwickelt, wo wir klar und analytisch die Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Denker ausgedrückt finden, d. h. zwischen existentiellem Denken und wissenschaftlichem oder spekulativem Denken. Wir finden hier einen nützlichen Hinweis zum
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Søren Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. 1. Teil, in ders.: Gesammelte Werke, 16. Abt., übers. von Hans Martin Junghans (Düsseldorf, Köln: Diederichs, 1957) S. 194. Zum Thema der «Subjektivität» in Kierkegaard siehe die scharfsinnigen Beobachtungen von Michele Nicoletti in ders.: La dialettica dell’incarnazione. Soggettività e storia in Søren Kierkegaard (Bologna: EDB, 1983) S. 13f. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 384-386. Auf die Motive von Kierkegaards Existenzanalyse, die auch in der Jaspers’schen auftauchen, hat Jean Wahl in folgendem Aufsatz hingewiesen: Notes on some relations of Jaspers to Kierkegaard and Heidegger, in The Philosophy of Karl Jaspers, hg. von Paul Arthur Schilpp (New York: Tudor, 1957) S. 393-400. Karl Jaspers: Was ist Existentialismus?, in ders.: Aneignung und Polemik. Gesammelte Reden und Aufsätze zur Geschichte der Philosophie, op. cit. S. 499.
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besseren Verständnis bedeutender Kernpunkte des Jaspers’schen Ansatzes, gerade und besonders des Werkes Philosophie, wie beispielsweise die Unterscheidung zwischen der Erkenntnis als objektivem Denken einerseits – gemeint ist dasjenige der Wissenschaften, aber auch einer sich als Wissenschaft verstehenden Philosophie – und dem von der Existenz ausgehenden und also subjektiven Denken andererseits. Kierkegaard erklärt in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift:14 Der Weg der objektiven Reflexion macht das Subjekt zu dem Zufälligen und damit die Existenz zu etwas Gleichgültigem, Verschwindendem. […] Auf seinem Höhepunkt wird dieser Weg […] zu dem Widerspruch führen, daß nur die Objektivität entstanden, die Subjektivität dagegen geschwunden ist […] Und doch ist die Objektivität, die da entstanden ist, subjektiv gesehen, auf ihrem Höhepunkt entweder eine Hypothese oder eine Approximation, weil alle ewige Entscheidung gerade in der Subjektivität liegt.
Das objektive Denken steht hier für das Modell der traditionellen Metaphysik und der modernen Wissenschaft, und auf gleiche Weise für das Modell von Hegels spekulativer Philosophie. Demgegenüber macht Kierkegaard den Wert des subjektiven Denkens geltend. Existierend ist für ihn alles das, was nicht Gegenstand eines Beweises sein kann. Er behauptet: «Für die objektive Reflexion wird die Wahrheit etwas Objektives, ein Gegenstand, und es geht darum, vom Subjekt abzusehen; für die subjektive Reflexion wird die Wahrheit die Aneignung, die Innerlichkeit, die Subjektivität, und hier geht es darum, sich gerade existierend in die Subjektivität zu vertiefen.»15 Mit seiner Kritik an aller falschen Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung und aller abstrakten Vermittlung bemüht Kierkegaard sich darum, die Eigenschaften der ausgemachten Wege zu explizieren: Wenn objektiv nach der Wahrheit gefragt wird, so wird objektiv auf die Wahrheit als einen Gegenstand reflektiert, zu dem der Erkennende sich verhält. Es wird nicht auf das Verhältnis reflektiert, sondern darauf, daß es die Wahrheit, das Wahre ist, wozu er sich verhält. […] Wenn subjektiv nach der Wahrheit gefragt wird, so wird subjektiv auf das Verhältnis des Individuums reflektiert; […] Objektiv wird akzentuiert: was gesagt wird; subjektiv: wie es gesagt wird.16
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Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, op. cit. S. 184. Ibid. S. 182. Ibid. S. 190 und 193.
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Für den Weg der objektiven Reflexion, des abstrakten und mathematischen Denkens, wird das Subjekt zu einem gleichgültigen Faktor. Auf diese Weise erlangt sie eine Sicherheit, die sich jedoch nur als eine scheinbare erweist, weil sie dazu bestimmt ist, immer auf die Existenz und die «Grenze», die diese darstellt, zu stoßen. Kein Individuum kann je zu einer Form der Objektivität kommen, der es gelänge, es selbst komplett zu überwinden: Wenn der Existierende wirklich außerhalb seiner selbst sein könnte, würde die Wahrheit etwas Abgeschlossenes für ihn sein; aber wo gibt es diesen Punkt? Das Ich-Ich ist ein mathematischer Punkt, der überhaupt nicht Dasein hat; […] Die moderne Spekulation hat alles aufgeboten, damit das Individuum objektiv über sich selbst hinauskomme; aber das läßt sich überhaupt nicht machen; die Existenz hält dagegen.17
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Auf dem Weg der subjektiven Reflexion wird man der Tatsache bewusst, dass es einen Abstand zwischen Denken und Sein gibt. Die menschliche Existenz ist ein besonderer Prozess der Verinnerlichung, sie ist eine persönliche Aneignung der Wahrheit, sie ist ein Werden: «Alles wesentliche Erkennen betrifft die Existenz, oder: nur das Erkennen, dessen Beziehung zur Existenz wesentlich ist, ist wesentliches Erkennen. Das Erkennen, das nicht nach innen gewandt in der Reflexion der Innerlichkeit die Existenz betrifft, ist wesentlich betrachtet gleichgültig.»18 Im Endeffekt handelt es sich um den Gegensatz zwischen einem Denken, das durch die absolute Ausklammerung subjektiver, individueller, geschichtlicher und emotiver Elemente sich vollziehen zu müssen glaubt, und einem Denken, das die originäre Verbindung von Denken und Existenz in den Vordergrund rückt. Für Kierkegaard besitzt dieses letztere Denken eine andere Art von Reflexion, nämlich die der Innerlichkeit, dank derer es dem Subjekt und niemand anderem angehört. Das subjektive Denken ist mein Denken. Auch wenn es anderen mitgeteilt werden soll und allgemeine Gültigkeit anstrebt, so ist es doch immer das meine. Es ist immer das Denken dieses Existierenden. Während das objektive Denken alles mit den Kategorien der «Resultate» und «Tatsachen» angeht, bewegt das subjektive Denken sich in jenen des «Werdens». Als ein existentielles, weil jeden Einzelnen betreffendes, ist das subjektive Denken ein sich nicht vollendendes, sich nicht objektivierendes Denken. Es ist eine Suche, die sich immer wieder von neuem in Bewegung setzt.19 17 18 19
Ibid. S. 187f. Ibid. S. 188. Vgl. ibid., u. a. S. 84.
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Hier liegt sicherlich die Wurzel der Existenzphilosophie, in ihrem Unterschied zu solchen Philosophien, die vom Horizont des reinen objektiven Denkens her ansetzen. An das subjektive Denken ist gewiss die Jaspers’sche «Existenzerhellung» gebunden und von ihr erhält es auch seinen paradoxen Charakter und die ihm eigenen Schwierigkeiten. Die Schwierigkeit des subjektiven Denkens, d. h. des von der Existenz ausgehenden und in ihr sich erhaltenden Denkens, besteht in einem im denkenden Subjekt sich ausbildenden Widerspruch. Auf der einen Seite ist das Denken Verallgemeinerung, Idealisierung, und neigt dazu, allgemeingültige Aussagen zu erstellen – und diese Charakteristik des Denkens und der Vernunft fehlt auch nicht im subjektiven Denkstil. Auf der anderen Seite ist das Denken, das von der Existenz ausgeht und mit ihr in Kontakt bleiben möchte, an das «Werden» gebunden, sowie an das, was nie als ein Objekt, ein endgültiges Resultat übersetzt und ausgebildet werden kann, und das aufs Engste an die Erlebnissphäre und das de facto individuelle Existieren gebunden ist. Es besteht also ein Widerspruch zwischen dem Streben nach Allgemeinheit und Kommunikation – zu der es insofern kommen kann, als sie im Medium allgemeingültiger Bedeutungen geschieht – und dem Rückzug der Existenz in seine Singularität; es gibt für Kierkegaard so etwas wie eine Isolierungsbewegung des denkenden Subjekts gegenüber den Anderen und dem Allgemeinen. Es handelt sich um eine für das subjektive Denken konstitutive, paradoxe Situation, aber für Kierkegaard ist es die einzige Art und Weise, nicht jede Beziehung zur konkreten Subjektivität, zur Existenz, zu vergessen. So schreibt Jaspers: Der existenzerhellende Gedanke führt jeweils an die Grenze, auf der der Appell an den Einzelnen und für diesen der Sprung möglich ist, welcher nie identisch, sondern je vom Einzelnen auf eine nicht zu verallgemeinernde Weise getan wird. Daher ist der allgemeine Gedankengang nur Weg, seine Erfüllung nicht vorwegzunehmen.20
Und weiter: Es ist ein Denken, in dem gleichsam zwei Flügel schlagen, und das nur gelingt, wenn wirklich beide schlagen, die mögliche Existenz und das Denken des Allgemeinen. Versagt der eine, so stürzt die sich aufschwingende Erhellung zu Boden. In ihr als dem Philosophieren, dessen Flügel sie sind, treffen sich das Allgemeine und ich selbst.21 20 21
Karl Jaspers: Philosophie, Bd. I: Philosophische Weltorientierung (Berlin: Springer, 31956) S. 55. Karl Jaspers: Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung (Berlin: Springer, 31956) S. 11.
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Im Zusammenhang mit der Subjektivität der Wahrheit – oder besser: der Subjektivität als Wahrheit – stößt man auf einen der wichtigsten Kernpunkte der Jaspers’schen Kierkegaard-Rezeption, der eng verbunden ist mit dem Thema der «Mitteilung» der subjektiven oder existentiellen Wahrheit. Geht es darum, das objektive Denken mitzuteilen, d. h. die Erkenntnis von Gegenständen, die sich in Resultaten ausdrückt, die entweder durch logische Verkettungen oder durch Empirie und wissenschaftliche Verfahren erlangt worden sind, so ist nach Kierkegaard eine «direkte Mitteilung» möglich. Soll ich hingegen den Gedanken des meiner Existenz zugrunde liegenden Paradoxons mitteilen, die von mir aus meinem Innern heraus erlebte Wahrheit, so ist dies als direkte Mitteilung unmöglich, weil ich nicht direkt über das reden kann, was sich jenseits der Sprache und des Denkens befindet. So gelangt der «Widerspruch» der Kommunikation an die Oberfläche:
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daß nämlich die in der Innerlichkeit der Isolation existierende Subjektivität […] sich mitteilen will, also daß sie zu gleicher Zeit ihr Denken in der Innerlichkeit ihrer subjektiven Existenz haben und doch sich mitteilen will. Dieser Widerspruch kann unmöglich […] seinen Ausdruck in einer direkten Form finden […] da die ein Resultat und das Fertigsein voraussetzt.22
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Es ist so eine Form der Mitteilung notwendig, die sich Symbolen und Metaphern bedient, die interpretiert werden müssen und diese Interpretation ist eine unendliche Aufgabe. An dieser Stelle ist eine Bindung zwischen dem Denken Kierkegaards und der Hermeneutik, d. h. dem als immer offene, unendliche Interpretation verstandenen Denken, auszumachen und zugleich auch eine Voraussetzung der auf der Sprache der «Chiffren»23 basierenden Metaphysik von Jaspers. Die «indirekte Mitteilung» ist nämlich von der persönlichen Freiheit beseelt, die es nicht akzeptiert, sich in vorher fixierten Wahrheiten zu versteifen und die kein «System» um Gastfreundschaft anhält; sie ist die Erscheinung einer sich im Werden befindlichen Existenz, der es nicht einmal sich selbst
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Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, op. cit. S. 65f. Zum Thema des subjektiven Denkens und der Kommunikation der Existenz vgl. Jean Wahl: Études Kierkegaardiennes (Paris: Vrin, 1974) S. 274-288; Mikel Dufrenne, Paul Ricœur: Karl Jaspers et la philosophie de l’existence (Paris: Seuil, 1947) S. 111-132. Vgl. Karl Jaspers: Philosophie, Bd. III: Metaphysik (Berlin: Springer, 31956) S. 128-236.
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gegenüber gelingt, vollkommen transparent zu sein. Die «direkte Mitteilung» ist hingegen, für Kierkegaard, «bei der Wahrheit als Innerlichkeit ein Mißverständnis». «Wird es [das Existieren] als ein Wissen mitgeteilt, so wird der Empfangende zu dem Mißverständnis veranlaßt, er bekomme etwas zu wissen, und dann sind wir ja wieder beim Wissen.»24 Auch Jaspers geht in der gleichen Richtung voran. Im Grunde genommen ist die Existenzerhellung eine Form indirekter, «paradoxer» Mitteilung. Sie beschreibt die «Strukturen» der Freiheit, der Mitteilung, der Situation, kann aber als Referenten allein ein einzelnes, freies, der Mitteilung fähiges und in eine Situation eingebettetes Ich besitzen: wie Jeanne Hersch beobachtet, zeichnet Jaspers Denkwege vor, die der Leser tatsächlich nachvollziehen muss, und er lädt zu Denkoperationen ein, die gleichzeitig Übungen für die existentielle Freiheit sind.25 Als solche weiß die Erhellung, dass sie sich mit keiner objektivierenden Form identifizieren kann, ohne dass die Existenz Gefahr liefe, sich zu verlieren. Aber sie ist sich auch bewusst, dass sie in jedem Falle die Sprache der Objektivität, des Allgemeinen, braucht. Im Gegenteil: Dank der Existenzerhellung geht hervor, wie die für die Existenz selbst typische Dialektik der Innerlichkeit eine Logik mit sich führt, die der Philosophie neue Grundlegungsmöglichkeiten bietet und dass sie sich durch die Form des Appells, des psychologischen Verständnisses ausdrückt und dabei durch die Zeichen ein «formales Schema» der Existenz konstruiert. Die Existenzerhellung stellt im Endeffekt den Versuch dar, in den Diskurs das hineinzuziehen, was normalerweise verschwiegen wird, jenen Dimensionen der Existenz Raum und Licht zu schenken, die, statt zu erklären, vielmehr zu evozieren sind, zu erhellen, statt zu beweisen.
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Subjektives Denken und indirekte Mitteilung stehen in keinem Falle für ein Verkennen der Rolle der Wissenschaften und des positiven Wissens, sondern vielmehr für die Notwendigkeit eines umfassenderen Denkens, das in der 35
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Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, op. cit. S. 241f. Vgl. Jeanne Hersch: Karl Jaspers: il non possesso dell’essere, in Karl Jaspers. Filosofia scienza teologia, hg. von Giorgio Penzo (Brescia: Morcelliana, 1983) S. 11.
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Lage ist, auf eine Weise von der Existenz zu sprechen, die ihre Singularität respektiert.26 Auch der Ansatz von Philosophie bringt implizit mit sich, was der weitere Verlauf von Jaspers Denken sein wird. Besonders Vernunft und Existenz (aber auch Existenzphilosophie) bezeugt die von Jaspers – nach Philosophie – wahrgenommene Notwendigkeit, die Existenzphilosophie erneut in ein Gleichgewicht zu bringen und zwar durch Unterstreichung der Rolle der Vernunft, die der Selbstgewissheit der Existenz volles Bewusstsein und Authentizität der Bedeutungen verleihen kann: eine Existenzerhellung, die zu einer Selbsterhellung der Vernunft werden soll. Wenn auf der einen Seite der Begriff des Umgreifenden (der mit den zitierten Werken und besonders mit Von der Wahrheit an Bedeutung gewinnt) die Waagschale in Richtung Hegel neigen lässt, in Richtung auf eine «Neuverhegelung»27 Kierkegaards, um es mit Pareyson zu sagen, bleibt auf der anderen Seite die Rolle Kierkegaards, zusammen mit der Nietzsches entscheidend. Kierkegaard und Nietzsche ist die erste der Vorlesungen von Existenz und Vernunft gewidmet.28 Es sind zwei Denker, die die Daseinsproblematik und ihre konstitutive Zeitlichkeit respektieren. Beide sind sich einig in der Ansicht, dass die Wahrheit der Existenz nicht auf die wissenschaftliche Wahrheit reduzierbar ist und dass man sich jeder als System verstandenen Philosophie widersetzen muss, denn «System ist ihnen Ablenkung von der Wirklichkeit», «Dasein», hingegen «gerade das Entgegengesetzte».29 Der systematische Denker lebt nicht von dem, was er denkt, während für Kierkegaard und Nietzsche die grundlegende Reflexion eine solche über sich selbst ist: «Denn durch Kierkegaard und Nietzsche ist eine Weise der Denkerfahrungen der Existenz wirksam geworden, deren Folgen noch nicht allseitig an den Tag gekommen sind. […] Es ist durch sie zum Bewusstsein gebracht und bewirkt, dass kein selbstverständlicher Boden mehr für uns ist.»30 Aus diesem Bewusstsein entsteht «eine neue denkende Gesamthaltung
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Zum nicht systematischen Charakter der Existenzerhellung als ein Jaspers und Kierkegaard vereinendes Element, vgl. Valter Lindström: Kierkegaard and Modern Existentialism, in Kierkegaard oggi, hg. von Alessandro Cortese (Milano: Vita e Pensiero, 1986) S. 14. Luigi Pareyson: Nuovi sviluppi del pensiero di Jaspers, in ders.: Esistenza e persona (Torino: Taylor, 1950) S. 83. Vgl. Karl Jaspers: Vernunft und Existenz (Groningen: Wolters, 1935) S. 1-27. Ibid. S. 7. Ibid. S. 24f.
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des Menschen im Medium unendlicher Reflexion, die sich bewusst ist, als Reflexion keinen Boden gewinnen zu können».31 Diese Haltung totaler Disponibilität gegenüber der Suche impliziert für Kierkegaard und Nietzsche die Einbeziehung der Existenz in ihrer Ganzheit. Dies ist möglich, denn – so schreibt Jaspers in seiner Nietzsche-Monographie – eine wissenschaftliche Erkenntnis «versteht jedermann als vertretbarer Verstand, der nur der Schulung und des Fleißes bedarf. Im Verstehen einer philosophischen Wahrheit dagegen (und in aller Wissenschaft, sofern diese nur von philosophischen Antrieben lebt) erwächst ein mögliches Selbstwerden, geschieht ein Erwachen, vollzieht sich ein Offenbarwerden meiner selbst durch die Weise, wie mir das Sein offenbar wird».32 Gerade dank dieser Vorstellung von Wahrheitssuche präsentiert sich Kierkegaard wie eine «Ausnahme», die das existierende Denken verkörpert. In dem zitierten, im Nachlaß enthaltenen Entwurf über das Denken Kierkegaards bemerkt Jaspers: Seine Biographie, seine Erlebnisse, seine Produktivität sind ihn gewaltig erregende Vorgänge, von ihm selbst in fast unendlichen Spiegelungen lebenwährend bedacht und verwandelt, gedeutet und beschrieben. […] Dieses ganze Leben ist eine philosophische Wirklichkeit von immer zugleich subjektivem und objektivem Interesse. Sein Sinn ist die untrennbare Verknüpfung von Person und Sache. Dieses Denken ist nicht das Spiel einer müßigen Beschäftigung, sondern wie Kierkegaard es nennt, existierendes Denken.33
Wie Ricœur erinnert, hat Jaspers vorgeschlagen, mit Blick auf die Ausnahme zu philosophieren.34 Das bedeutet für Ricœur hervorzuheben, dass die philosophische Forschung immer aufs Engste mit der Nicht-Philosophie, mit dem Leben, mit der Realität des Existierens verbunden ist und es bedeutet ihm im Übrigen, die von Kierkegaard in seiner Existenzkritik erarbeiteten Argumentationen und Begriffe aufzunehmen. Analog dazu unterstreicht Jaspers in dem bereits zitierten Entwurf des Nachlasses die ausdrücklich von 31 32 33 34
Ibid. S. 6. Karl Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens (Berlin: de Gruyter, 41974) S. 26. Jaspers: Die großen Philosophen. Nachlaß, op. cit. S. 427 (Hervorhebung G. C.). Vgl. Paul Ricœur: Kierkegaard et le mal. Philosopher après Kierkegaard, in ders.: Lectures 2. La contrée des philosophes (Paris: Seuil, 1992). Jaspers verwendet mehrmals die Idee der Ausnahme in Bezug auf Kierkegaard (vgl. Karl Jaspers: Kierkegaard heute, in ders.: Aneignung und Polemik, op. cit. S. 325f.).
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Kierkegaard erklärte Absicht, «die entscheidenden Bestimmungen des ganzen Existenzumfanges»35 zum Bewusstsein zu bringen. Darin entspricht er dem Sinn der Philosophie, die von Augustin bis Kant eben in einer Hinterfragung des Menschen und des Sinnes seiner Existenz besteht. Zu dieser grundlegenden Fragestellung sind die verschiedenen Formen der Anthropologie nicht in der Lage, einen befriedigenden Beitrag zu leisten: von der empirischen Anthropologie und der positiv-wissenschaftlichen über die philosophische bis hin zur Psychologie und Psychoanalyse, die sich an das Sein des Menschen wenden, als einem Wesen, das irgendwo zwischen Engel und Tier angesiedelt ist: «Gemeinsam ist solchen und anderen Lehren», schreibt Jaspers, «daß sie den Menschen gegenständlich machen und im Ganzen grundsätzlich zu wissen meinen, was der Mensch sei».36 Auf solche Weise verliert man die Wirklichkeit des Menschen aus den Augen, sein konkretes Sein, und man reduziert das Existierende auf den allgemeinen Begriff: «Dann bin ich, was ich vom Menschen weiß, und bin der Fall eines Allgemeinen».37 Es ist diese von Plato begonnene und in der gesamten abendländischen Metaphysik weitergeführte «Vergessenheit des Existierenden», von der Kierkegaard in der Nachschrift spricht, dort, wo die Geburt der «Spekulation» in der Unterscheidung Platos von Sokrates erfasst wird: «Hier geschieht es, daß der Weg abbiegt: Sokrates akzentuiert wesentlich das Existieren, während Plato, dies vergessend, sich in Spekulationen verliert».38 Das unendliche Verdienst von Sokrates besteht darin, ein existierender Denker zu sein, kein Denker, der in der Spekulation das Existieren vergisst, obwohl gerade in Sokrates, wie Kierkegaard selbst unterstreicht, in jenem Prinzip, nach dem das Erkennen ein Erinnern sei, bereits «ein Anzeichen der beginnenden Spekulation» vorliegt.39 Aber gerade weil das Denken sich an das Existierende, das ein «Werden» ist, gebunden hält, ist die Konstruktion eines «Systems» der Existenz nicht möglich. Jaspers «erhellt» daher einige «Eigenschaften» der Existenz, eine Konstellation einiger besonders bedeutungsträchtiger und wichtiger Gedanken über die Existenz, mit dem Ziel, wie Ricœur erklärt, «eine positive
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Jaspers: Die großen Philosophen. Nachlaß, op. cit. S. 460f. Ibid. S. 461. Ibid. Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, op. cit. S. 196. Ibid.
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existentielle Methodologie»40 auszumachen. Die erste dieser Eigenschaften ist die «Unmittelbarkeit», mit deren Überwindung das Existieren ständig beschäftig ist.41 Dieser «Schritt» über die Unmittelbarkeit hinweg ist der Akt der «Freiheit», die eine zweite Eigenschaft des Existierens ist. «Das Wagnis der Helle und die Helle selbst, beides ist Freiheit».42 Für Kierkegaard ist die Freiheit nicht zu begreifen als Wahl zwischen Gut und Böse, als «Willkür»: Gut und Böse als Gegenstände der Freiheit zu begreifen bedeutete nämlich die Freiheit, sowie Gut und Böse endlich zu machen, während die Freiheit doch unendlich ist und aus dem Nichts kommt. Jaspers bemerkt: «das Gute ist die Freiheit. Erst in der Freiheit ist der Unterschied zwischen Gut und Böse, und dieser Unterschied ist nur in concreto».43 Gerade weil sie keinen definierbaren objektiven Inhalt hat, ist die Freiheit auf das Engste mit der Angst verbunden, die Jaspers Kierkegaard zitierend die «Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit vor der Möglichkeit» und den «Schwindel der Freiheit» und nennt.44 Eine weitere Dimension des Existierens, auf die Jaspers die Aufmerksamkeit lenkt, ist diejenige des «Subjekt-Seins» des Existierenden, seine Subjektivität und seine Singularität, und er unterstreicht, dass das Subjekt unvermeidlich «ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält»45 ist. Aber im Menschen ist diese Beziehung, die das Subjekt darstellt, eine durch einen anderen gesetzte Beziehung: sie verweist auf einen Grund, der Gott ist. Das Verhalten zu sich selbst impliziert jenes zu einem weiteren Grund, zur Transzendenz, wie Pareyson in seiner Schrift über Jaspers geklärt hat. Das Subjekt präsentiert sich wie ein dialektisches Wesen: ein widersprüchliches Wesen. Es ist das Allgemeine, das sich als das «Einzelne» setzt.46 Die letzte von Jaspers erläuterte Kategorie ist die der «Verzweiflung», die aus dem Paradox entsteht, dass im Existierenden gleichzeitig das 40 41 42
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Paul Ricœur: Quelques figures contemporaines, Anhang zu Émile Brehier: Histoire de la philosophie allemande (Paris: Vrin, 1967) S. 233. Jaspers: Die großen Philosophen. Nachlaß, op. cit. S. 462f. Ibid. S. 463. Zum Zusammenhang von Existenzerhellung und Freiheit, mit Bezug auf Kierkegaards Einfluss auf Jaspers, vgl. Dufrenne, Ricœur: Karl Jaspers et la philosophie de l’existence, op. cit. S. 133, Fn. 1; zu den Unterschieden im Ansatz zwischen Jaspers und Kierkegaard bezüglich der Kommunikation vgl. ibid. S. 153f., Fn. 1. Jaspers: Die großen Philosophen. Nachlaß, op. cit. S. 464. Ibid. S. 464f. Ibid. S. 466. Ibid. S. 467.
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Ewige und die Zeit, sowie der vom endlichen Existierenden erlebte Verlust des Ewigen vorhanden sind. Die Verzweiflung öffnet in Kierkegaard den Weg zum Glauben.47 Gerade gegenüber dem Glauben und der Beziehung zwischen Glauben und Philosophie verabschiedet Jaspers sich vom Erbe Kierkegaards. Indem er den «philosophischen Glauben» gegenüber dem «Offenbarungsglauben» verteidigt, stellt sich Jaspers auf die Seite des Sokrates – und seiner Akzentuierung des Existierens, könnte man sagen –, aber er geht auf Kierkegaards Manier nicht «weiter […] als Sokrates».48 Während Jaspers in Philosophie die Analysen Kierkegaards assimiliert hatte, um dessen Erfassung der Bedeutung des Glaubens für die Bildung des absoluten existentiellen Bewusstseins und in den Grenzsituationen einen privilegierten Zugang zur Transzendenz auszumachen, entfernt sich Jaspers aufgrund seiner Haltung gegenüber der Figur Christi, der Mitte der Offenbarung, in Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung wieder von Kierkegaard und kehrt zu einer Kantischen Perspektive zurück, zu einem Vernunftglauben der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft:49 Kierkegaard folgen wir nicht, wenn er den einen Zug – die Menschwerdung Gottes – für das Wesen des Ganzen erklärt. Wir folgen ihm nicht, wenn er das historische Studium des Neuen Testaments verwirft. […] Wenn Kierkegaards Forderung, dieses Christentum des Neuen Testaments sei das Christentum selber, die biblische Religion selber, nicht anzuerkennen ist, so bedeutet doch die Klarheit seines Zeigens, daß jeder vor die Entscheidung gestellt wird, ob er dies als das Eigentliche des Christentums glauben wolle und könne […]. Glaubt er wirklich den Gottmenschen, so ist Kierkegaards konstruierter Weg fast unausweichlich.
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Aber gegenüber diesem Schluss von Jaspers, der am Ende die auf dem Prinzip des Widerspruchs basierende Verstandesrationalität zu wählen scheint, lohnt es sich in Bezug auf das Glaubensparadox der Menschwerdung an die Aussage aus den Philosophischen Bissen zu erinnern: «das Paradox ist die Leidenschaft des Gedankens […], das höchste Paradox […], etwas entdecken 47 48
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Vgl. ibid. S. 468-470. Søren Kierkegaard: Philosophische Bissen, hg. von Hans Rochol (Hamburg: Meiner, 1989) S. 112. Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (München: Piper 1962) S. 516. Zum Verhältnis von philosophischem Glauben und Offenbarungsglauben mit Bezug auf Kierkegaard und Jaspers, vgl. Jan Sperna Weiland: Philosophy of existence and Christianity. Kierkegaard’s and Jaspers thoughts on Christianity (Assen: Van Gorcum, 1951) S. 80-129.
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zu wollen, was es nicht selbst denken kann».50 Man kann sich auch die Frage stellen, die Kierkegaard sich stellte: «Aber was ist denn dieses Unbekannte, an dem der Verstand sich in seiner paradoxen Leidenschaft stößt, und das den Menschen sogar bei seiner Selbsterkenntnis irremacht?» Und man kann über seine Antwort nachdenken: «Es ist das Unbekannte. Jedoch, es ist ja indessen kein Mensch, soweit er den Menschen kennt, oder irgendetwas anderes, was er kennt. So wollen wir denn dieses Unbekannte den Gott nennen».51
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Kierkegaard: Philosophische Bissen, op. cit. S. 36. Zu diesem Thema siehe auch die Beobachtungen von Virgilio Melchiorre in dem Aufsatz La dialettica della ripresa in Søren Kierkegaard, in Kierkegaard oggi, op. cit. S. 101-108. Kierkegaard: Philosophische Bissen, op. cit. S. 38.
Studia philosophica 67/2008
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Die Augustin-Deutung von Karl Jaspers Die großen Philosophen contains Karl Jaspers’s important monograph on Augustine. This work points out, better than others, the co-existence of the model and its contradiction in the great theologian’s thought, which is divided between ‹philosophical faith› and revealed religion. In Augustine’s works we find the two most important languages of transcendence known by western civilization: that of classical philosophy and that of the Bible. Such a ‹meeting› is one of the fundamentals of western culture; yet it seems to be continually suppressed by Catholicism. Beginning with Augustine, we can see a type of authoritarianism taking shape that determines the destiny of the Christian-Jewish tradition in European history. In fact, since the Middle Ages this tradition has been considered the heritage of the Church and it has been managed in accordance with the principles of exclusiveness and absoluteness. Ego vero Evangelio non crederem, nisi me catholicae Ecclesiae commoveret auctoritas. Augustin Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten: sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist. Gotthold Ephraim Lessing
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1. Eine hermeneutische Prämisse: Augustin und Augustinismus
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Karl Jaspers’ Augustin-Deutung und der Augustinismus, der sich in vielen Momenten seines Denkens feststellen lässt, stellen zwei Seiten derselben Medaille dar. Jaspers selbst weist auf den genauen Punkt hin, an dem beide sich vereinigen. Er findet sich in den Großen Philosophen, und zwar in dem Teil über Die fortzeugenden Gründer des Philosophierens. Bekanntlich nennt Jaspers hier Augustin, zusammen mit Plato und Kant. Dort heißt es:
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Die Kraft der drei, produktive Kräfte zu erregen, liegt nicht an den von den Späteren leicht zu erblickenden Grenzen ihres Denkens. Zwar bringt auch das Bewußtsein dieser Grenzen zu Einsichten; aber das ist unwesentlich und allen Philosophen von Rang gemeinsam. Es ist etwas anderes: in ihrer Denkungsart selber liegt ein Unerschöpfliches. Sie öffnen Welten, die sie selbst nicht abzumessen scheinen. Sie sind weit wie die Wirklichkeit und wie die Seele des Menschen.1
Hier wird ein hermeneutisches Prinzip aufgezeigt, das wohl über die drei «fortzeugenden Gründer des Philosophierens» hinaus wirkt. Jaspers selbst lehrt, dass dieses Prinzip auf alle Denker auszudehnen ist. In der Deutung eines Autors ist die Aufmerksamkeit nicht auf seine Grenze zu lenken und wichtig ist nicht das ausdrückliche Bewusstsein, mit dem der Autor die «rem ipsam» (die «Sache selbst») des Denkens ergreift, sondern vielmehr die implizite Absicht, unerschöpfliche Perspektiven zu eröffnen. Je produktiver ein philosophischer Begriff, desto mehr ist er nicht durch eine eingrenzende Methode zu begreifen, sondern durch einen Blick zu erfassen, der den Hinweis auf die Wahrheit katá pnéuma ausleuchten soll. Weder der Autor des in Betracht gezogenen Werkes noch seine Wirkungsgeschichte können aber diese Wahrheit erschöpfen, da diese an sich unendlich ist. Jaspers taucht zwar als Name in den Geschichten der Hermeneutik kaum auf, er ist aber meines Erachtens zu den Meistern der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts deshalb zu zählen, weil er wie wenige andere Philosophen dieser Epoche gelehrt hat, dass die Produktivität eines hermeneutischen Vorgangs die Auflösung der «-ismen» fordere. Diese haben zwar eine Orientierungsfunktion, lassen jedoch den Deutungsprozess schließlich einschrumpfen und sperren ihn in Gehäusen bzw. Etiketten ein. Aus den «-ismen» sollen laut Jaspers «Perspektiven» werden. Um mit Pietro Piovani zu sprechen: Die Ideen sind nicht bewegungslose «res», sondern Keimkräfte.2 Sie sind lebendige, umwandelbare und erregte Wesen, die durch die Zeit und den Raum als «Dämonen» reisen. Wenn diese Ideen bzw. Wesen den hyperuranischen Räumen entzogen, der Geschichte wiedergegeben und mit den unreinen Geweben des Erlebnisses verflochten werden, verlieren sie die Unerschütterlichkeit der einfachen Gegenwart. Durch diesen ent-wesentlichenden Prozess («de-esse») begünstigen sie letztlich die immer weitergehende Bewegung der Existenz bzw. des individuellen bios. Ein solcher Humus ist die eigentliche Herkunft der Ideen 1 2
Karl Jaspers: Die großen Philosophen (München: Piper, 1995) S. 231. Vgl. hierzu Pietro Piovani: «La storicizzazione delle idee», Kap. IV, in ders.: Filosofia e storia delle idee (Roma, Bari: Laterza, 1965) S. 121ff.
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und zu ihm wollen sie immer wieder zurückkehren. Mit anderen Worten: die Philosophie hat mit Begriffen zu tun und in der «begreifenden» Leistung der Begriffsbildung ist der Wind der Freiheit zu finden. Diese Freiheit umgeht zwar nicht die notwendige und bestimmende Sinnumschreibung, aber sie macht sich bewusst, dass diese partiell ist und auf ein «Weiter» hinausweist. Dadurch verwirklicht sich der «-ismus» von «Augustinismus» (das Wort taucht an besagter Stelle von Jaspers’ Schrift auf) in der Idee der Perspektive. Sehe ich richtig, so wurzelt darin die Kommunikation zwischen «großen Philosophen», es bildet sich in ihr eine ecclesia invisibilis, die die Zeiten durchquert und die sichtbaren Kirchen im Schöpfen aus der Wahrheit herausfordert. Wenn man den Lichtstrahlen folgt, die aus den philosophischen Ideen hervorgehen, wenn man deren Urheberintention zu einer Intentionalität verlängert, wird die identitas in novitate verständlich, die das bunte Mosaik der Philosophiegeschichte bildet. Indem die Philosophen – so wie die Dichter – Verschiedenes sagen, sagen sie letztlich das Selbe, das (im Heidegger’schen Sinne) nicht das Gleiche ist. Eine solche «Identität in der Verschiedenheit» fundiert das Zuhören des Anderen, die Eintracht, den Frieden des Denkens. Durch die Idee der Perspektive wird die tiefe Einheit verständlich, die in Jaspers’ Denkweg die Deutung Augustins mit seiner freien Aneignung und Verwandlung verbindet. Man könnte dies auch folgendermaßen formulieren: Jaspers’ Augustinismus ist nichts anderes, als das von einer geschlossenen Wirkungsgeschichte losgelöste Denken Augustins. Losgelöst von jener Erstarrung, die im Fall des spätantiken Denkers die ganz bestimmten Züge der Orthodoxie bzw. der Katholizität trägt. Das Paradigmatische liegt bei Augustin darin, dass in ihm philosophischer und kirchlicher Glaube, der allgemeine und der kirchliche «Gläubige», der Philosoph und der Theologe miteinander kämpfen. Der Schwerpunkt von Jaspers’ Hermeneutik liegt darin, dem Augustinischen Denken das allgemein menschliche Merkmal des philosophischen Glaubens wiederzugeben, d. h. es aus jener drückenden Umarmung des kirchlichen Denkens zu befreien, die Augustin selbst empfing, als er sich der Autorität der Kirche unterwarf. Indem Jaspers’ Augustinismus den Hauptgegensatz von Liberalität und Orthodoxie impliziert, geht er ganz und gar in jener Frage auf, die man in der Augustin-Monographie der Großen Philosophen nachlesen kann, wo Jaspers schreibt: «Wenn Augustin das Philosophieren vom Denken des Offenbarungsglaubens nicht trennt, so ist die Frage, ob der Natur der Sache nach eine Trennung möglich ist, das heißt, ob Wahrheit der Gedanken auch dann
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bleiben kann, wenn der Christusglaube erloschen ist.»3 Voraussetzung des Jaspers’schen Augustinismus ist also die Deutung Augustins in Die Großen Philosophen aber auch in Der philosophische Glauben angesichts der Offenbarung. Von dort ist an dieser Stelle auszugehen. 5
2. Jaspers’ Augustin-Deutung Woraus entsteht das «odi et amo», bzw. das «nec tecum nec sine te», das Jaspers in dem Augustin gewidmeten Teil der Großen Philosophen («vielleicht das kräftigste und faszinierendste Kapitel des ganzen Buches», so die Meinung von Alberto Caracciolo)4 ununterbrochen ausspricht? Dieses «ich hasse und liebe» wird von Jaspers mit sichtbarem Widerspruch besonders in Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung wiederholt, wo er auf Augustin hinweist. Hier wird dieser als unverzichtbare, spekulative Kraft des Abendlandes zelebriert, aber gleichzeitig auch getadelt. Woraus entsteht die zerreißende, anziehende und zurückstoßende Stimmung, durch welche die unvergleichliche Größe Augustins («derart, daß wir uns ein Philosophieren etwa ohne Augustin kaum vorstellen können», so Jaspers in Von der Wahrheit)5 anerkannt wird? Schließlich schreibt Jaspers: «Man muß verwerfen, wenn es sich um die Frage von Wegweisung und Lebenslenkung handelt».6 Aus zwei gleichwertigen und streng miteinander verbundenen Arten von Paradigmen entsteht – so könnte man sagen – eine doppelte Beispielhaftigkeit Augustins. Auf eine erste wurde schon oben hingewiesen. Einerseits finden sich in Augustin die zwei Grundsprachen der abendländischen Transzendenz, die sich gegenseitig durchdringen und verstärken: die Sprache der klassischen philosophischen Tradition und die des biblischen Glaubens. Andererseits erscheint diese für das Abendland grundlegende Begegnung der zwei Sprachen der Katholizität unterworfen. Man sieht hier die autoritäre Wende, die just im Ausgang von Augustins Denken beginnt, sich als Schicksal der jüdisch-christlichen Tradition in der europäischen Geschichte abzeichnen. Somit wird der riesige und unerschöpfliche Schatz der biblischen 3 4 5 6
Jaspers: Die großen Philosophen, op. cit. S. 354. Alberto Caracciolo: Studi jaspersiani, hg. von Roberto Celada Ballanti (Alessandria: Dell’Orso, 22006) S. 70. Karl Jaspers: Von der Wahrheit (München: Piper, 1991) S. 854. Jaspers: Die großen Philosophen, op. cit. S. 388.
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Religion im Mittelalter durch die Kirche als ihr alleiniger Besitz in Anspruch genommen und nach dem Prinzip des Exklusivismus und der Absolutheit verteilt. Bei Augustin sind diese beiden Aspekte erstmals in ihrer fatalen Konvergenz zu erkennen: die Größe des biblischen Glaubens als unersetzbarer Nährstoff des abendländischen Denkens und zugleich ihr kirchlichautoritärer Verfall. So schreibt Jaspers:7 «An ihm läßt sich auf höchstem Niveau der ewige Gegensatz einsehen, der durch die Kirche hell geworden ist: zwischen Katholizität und Vernunft, zwischen der geschlossenen Autorität und der Offenheit der Freiheit». Über dieser ersten Form der Beispielhaftigkeit wird eine zweite aufgebaut, die weniger das religiöse Schicksal des Abendlandes betrifft, als das Problem des Denkens überhaupt. Das «In-der-Schwebe-Sein» ist der eigentliche Zug des Glaubens bzw. des chiffrenhaften Zuganges zur Wahrheit; gemeint ist die ständige Versuchung des Denkens, objektive Zustimmungen und Aufbewahrungen zu suchen – und zwar jenes bestimmten Denkens, das sich zur Transzendenz wendet, d. h. die Theologie, deren gefährliche Zweideutigkeiten von Jaspers im Entmythologisierungsstreit gegen Bultmann betont werden. Das schwierige Gleichgewicht der Subjekt-Objektspaltung wird somit zugunsten einer Objektivität gebrochen, die zwar die Ergebnisse des Denkens bewahrt, aber sie verdinglicht und missversteht.8 Ähnliches geschieht mit dem Glauben Augustins: die in der Mitte seines Werkes stehende Umwendung versteht dessen Ergebnisse falsch. Das Echte wird zum Unechten, die Wahrheit des Denkens – eine Wahrheit die an sich keine andere Gewissheit braucht, als die des Bewusstseins des Einzelnen – wird der Autorität der Kirche unterworfen. Kein Glaube ans Evangelium ohne die Autorität der Kirche: so lautet im Wesentlichen eine Parole Augustins, die in Jaspers’ Werken mehrfach auftaucht (vielleicht handelt es sich um den von ihm am häufigsten zitierten Satz Augustins) und die das Stigma des autoritären Verfalls der Wahrheit ist. Über die erste Form der Beispielhaftigkeit ist hier ausführlicher zu sprechen. Die Bekehrung ist die Hauptgrundlage von Augustins Denken. Jaspers beschreibt den Sinn der Augustinischen Bekehrung zum Christentum und unterscheidet sie von den beiden anderen Bekehrungen in dessen Leben: die zu Ciceros Philosophie und die zum Neuplatonismus. Es handelt sich nicht nur um eine einfache Metanoia (im griechischen Verständnis des Wortes), 7 8
Ibid. S. 394f. Vgl. Karl Jaspers: Die Frage der Entmythologisierung (München: Piper, 1954) S. 37ff.
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bzw. um einen Wandel des Denkens oder um eine reine «philosophische Umwendung» – sei sie denn «die einstige Erweckung durch Cicero» oder «die beglückende Umwendung des Denkens in das Spirituelle durch Plotin» –, sondern um ein ganz anderes Ereignis, dessen Quelle die Ebene der Philosophie transzendiert. Es ist nämlich, so Jaspers, ein «biographisch datierbarer Augenblick, der in das Leben einbricht und es neu begründet».9 Die theoretische Kraft Augustins sowie seine tieferen und lebendigeren Überlegungen sind durch die conversio geprägt. Jaspers hebt in ihr das Existentielle bzw. das Ethische oder Praktische hervor. Ohne den biblischen Glauben wäre Augustin nur ein, wenn auch ausgezeichneter, Rhetor oder neoplatonischer Philosoph geblieben, der an veralteten Schemata der im Untergang befindlichen Spätantike gebunden ist. Der neue Nährstoff, den Augustin seit seinen Jugendwerken in die erschöpften Adern der zeitgenössischen philosophischen Kultur, in ihre «leer gewordene Sprache»10 strömen lässt, entstammt der Bibel. Ihr und nicht dem Neuplatonismus oder der Stoa entnimmt Augustin die neue Kraft und Tiefe, um den Sinn der Existenz zu finden, um die Innigkeit der Seele und das Problem des Bösen, der Sünde, der Freiheit, der Liebe zu sondieren, um nach der Transzendenz sich zu sehnen und um sie nach der neuen, aus der biblischen Quelle geschöpften Weltanschauung zu erleben.11 In dieser Richtung ist Augustin laut Jaspers der spekulative und religiöse Geist, der sich angesichts des Scheiterns der Antike und kraft eines frisch entstandenen religiösen Glaubens als Einzelner entdeckt. Augustin sieht die Ebene der Existenz-Transzendenz mit einer radikal neuen historischen, vom
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Jaspers: Die großen Philosophen, op. cit. S. 322. Ibid. S. 321. So Jaspers: «Dem Ernste Augustins konnte die Philosophie damals in ihren bequemen rationalen Geläufigkeiten, in der Endlosigkeit der Gedanken, in Dogmatismus und Skepsis sich wiederholend, verfallen an bloße Formulierungen schulmäßiger Lehren und Lernbarkeiten, nicht mehr genug tun, trotz der von ihm hoch geachteten und philosophisch ernsten neuplatonischen Spekulation. In Augustin fand das philosophische Denken wieder seinen ganzen Ernst. Augustins neue, ursprüngliche Philosophie nahm die Gehalte biblischen Denkens und der biblischen Offenbarung aus dem gesamten Umfang der biblischen Texte in sich auf. Es war wie eine Blutauffrischung der Philosophie durch den christlichen Glauben, der damals noch in der Lebendigkeit des Werdens war» (Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung [München: Piper 31984] S. 102).
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Nihilismus12 mitgeprägten Stimmung: «Nie vorher hatte der Mensch so vor seiner eigenen Seele gestanden».13 Will man, im Ausgang von Jaspers’ Erörterung, eine Analogie zwischen Augustins Zeit (der Spätantike) und unserer Zeit (der Spätmoderne) finden, so ist sie auf der Ebene des Scheiterns der Weltanschauung festzustellen, das die existentiellen Möglichkeiten des Menschseins neu eröffnet: im Zeitalter der Technik, der Vermassung, der Verwaltungsherrschaft, die der Age of Anxiety14 Augustins ähnelt und Jaspers mit Webers Worten in Die geistige Situation der Zeit beschreibt, ist «als wenn uns der Boden unter den Füßen versinke».15 Heute wie damals steht und fällt alles mit dem Einzelnen als «Atlanti redivivo», bzw. als einzigem möglichen Neuanfang.16 In Augustin sieht Jaspers die existentiell-rationale Urquelle der «christlichen Philosophie»,17 die noch nichts von der aus der mittelalterlichen Scholastik des 12. Jahrhunderts hervorgehenden Unterscheidung zwischen Philosophie und Theologie und der Unterwerfung der ersten unter die zweite weiß («philosophia ancilla theologiae»). Wie bei Anselm und Cusanus gibt es auch bei Augustin einen einzigen ursprünglichen Akt des Denkens, der – durch die Offenbarung erleuchtet – nach der Wahrheit strebt. Die Wahrheit sei eine und kenne keine Zäsuren und Unterscheidungen von Ebenen. In diesem Zusammenhang sieht man den Dualismus zwischen Natur und Übernatur noch nicht, der für die Liberalität einen der problematischsten Punkte des Offenbarungsglaubens darstellt. Denn Jaspers’ liberalreligiöse Sicht behauptet die Auflösung des konfessionellen Verständnisses der Begriffe von Offenbarung, Gnade und Wunder (sofern sie auf besondere Charismen angewiesen sind) im Geiste der allgemeinen Offenbarung. Die allgemeine Offen-
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Vgl. dazu den Hinweis Jaspers’ auf Augustins Persönlichkeit: «Er ist ein chaotischer Mensch, darum begehrt er die absolute Autorität, – er neigt zum Nihilismus, darum bedarf er absoluter Garantie» (Die großen Philosophen, op. cit. S. 387). Ibid. S. 327. Es ist hier auf Eric Robertson Dodds: Pagan and Christian in an Age of Anxiety (Cambridge: University Press, 1965) angespielt. Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit (Berlin: de Gruyter, 1979) S. 6. Ibid. S. 173. Jaspers ist zumindest perspektivisch bereit, dieses Syntagma anzunehmen, anders als Heidegger, dem es bekanntlich ein Analogon des Oxymoron «hölzernes Eisen» erscheint. Zur christlichen Philosophie bei Jaspers vgl. den betreffenden Paragraphen in Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 61-63.
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barung sei ohne Qualitätssprünge jedem Menschen dank der inhabitatio Dei in seinem Bewusstsein möglich. Sie folge einem theandrischen (menschlichgöttlichen, bzw. göttlich-menschlichen) Prinzip der Mitbestimmtheit oder Mitwesentlichkeit von Natur und Gnade, Tathandlung der Transzendenz und Freiheit der Existenz.18 So wird der exklusivistische Supranaturalismus (Ernst Troeltsch),19 bzw. «der Supranaturalismus zweiten Grades» (Alberto Caracciolo)20 durch Jaspers’ Liberalität in der Dynamik wahrgenommen und verallgemeinert, die von jenem an allen Menschen «natürlich» zugänglichen Supranaturalismus ausgeht. Eine solche Dynamik folgt weniger einer abstrahierten und intellektuellen Unterscheidung der Ebenen, als einer «Methexis» zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, bzw. einem untrennbaren «Synolon» zwischen Transzendenz und Immanenz (das «Diesseits» sei immer auch «Jenseits»). So schreibt Jaspers über Augustin:21 Von einem solchen Denker wurden nicht Philosophie und Theologie – nicht einmal Natur und Übernatur – so wie später getrennt: Philosophie und Theologie waren eins bei Augustin, später auf andere Weise bei Scotus Eriugena, bei Anselm, bei Cusanus. Vor ihnen kann man fragen: Ist die Offenbarung nicht selber natürlich? Ist das Natürliche nicht selber übernatürlich? Die natürliche Einsicht (das lumen naturale) hat selber einen übernatürlichen Grund.
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Zu Recht schreibt Giorgio Penzo über Augustin: «bevor sie sich unter dem autoritären Aspekt der Kirche offenbart, handelt [bei ihm] die existentielle Kraft der Gnade auf der Ebene des Denkens als Grund» (Interpretazione esistenziale della conversione. Jaspers e Agostino, in Studium 6 [1986] S. 789). Zu Jaspers’ Augustin-Deutung vgl. Italo Sciuto: Karl Jaspers. La chiarificazione della fede, in Esistenza e libertà. Agostino nella filosofia del Novecento, Bd. I, hg. von Luigi Alici, Remo Piccolomini und Antonio Pieretti (Roma: Città Nuova, 2000) S. 249-269; Victorino Capànaga: San Augustin, según Jaspers, in Augustinus 8 (1963) S. 109-112; M. Samuel: Karl Jaspers, lecteur de saint Augustin, in Situation de l’homme et histoire de la philosophie dans l’œuvre de Karl Jaspers, hg. von Jean-Marie Paul (Nancy: Presses Universitaires, 1986) S. 21-36; Cornelio Fabro: S. Agostino e l’esistenzialismo, in Sant’Agostino e le grandi correnti della filosofia contemporanea (Tolentino: Edizioni Agostiniane, 1956) S. 141-166. Vgl. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, in ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. von Trutz Rendtorff (Berlin: de Gruyter, 1998). Vgl. Alberto Caracciolo: Il trascendentale religioso, in ders.: Nulla religioso e imperativo dell’eterno. Studi di etica e di poetica (Genova: Tilgher, 1990) S. 36ff. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 102.
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Von da aus stehen wir also mit Augustin nicht nur vor der Selbstverständlichkeit der Bedeutung der Bibel als Urquelle des philosophischen Glaubens des abendländischen Menschen, sondern auch vor der Perspektive einer Begegnung zwischen Philosophie und Theologie. Jaspers fordert eine solche Begegnung im Vortrag über Bultmanns Entmythologisierung, wo er auf die Auflösung der konfessionellen Theologie (nicht aber: der Religion) in der Philosophie als auf einen der Schwerpunkte der Liberalität anspielt. Die Philosophie sei berufen, ihre Stellung als «ancilla theologiae» umzuwerfen und sich nach ihren eigenen Ursprüngen zur echten Theologie zu erheben: «In der Liberalität scheint die natürliche Entwicklung – als Vorwurf ausgesprochen, mit Sorge gesehen, mit Befriedigung angenommen –, daß Theologie und Philosophie sich treffen, vielleicht am Ende wieder eines werden könnten, wie sie es bei Plato, den Stoikern, Origenes, Augustin, Cusanus waren.»22 Die Theologie Augustins stehe auf der Ebene einer ursprünglichen und schöpferischen Theologie: Jaspers unterscheidet sie von der objektivierenden und wissenschaftlichen. In Augustins Theologie atmet der Geist – der entzückt und entflammt, das Denken bewegt und vor der Versuchung des Systems bewahrt – der echten Existenz, der Dichtung, des tiefen Mythus, der Liebe. Man könnte sagen, dass in ihr Baudelaires «ardent sanglot» der Existenz-Vernunft atmet, das nicht in der erstarrten, trockenen Art des Verstandes so vieler theologischer Literatur erniedrigt wird. Kühn widmet sich Jaspers einer Gegenüberstellung zwischen Augustin, Kierkegaard und Nietzsche: den Dreien sei eine vollblütige Schriftart gemein, die keine Scheu vor dem Extrem habe, voller Kontraste und Widersprüche.23 Fest steht, dass das Authentische bei Augustin, ähnlich wie bei Anselm, Eckhart und Cusanus, im Ausgang von den Ursprüngen des Denkens von dem durch den biblisch geprägten, philosophischen Glauben spricht: dort – und nicht in der Orthodoxie – gehören Vernunft und Glaube eng zusammen. Wie kommt es, dass sich eine solche Fruchtbarkeit zugleich als etwas manifestiert, das der philosophische Glaube als den «großen Gegner» anerkennt, der zu verwerfen ist, um sich selbst wiederzufinden? Wie kommt es, dass die so stark wahr genommenen Gefühle der Verwandtschaft, Übereinstimmung und Bewunderung zum Kampf werden – und sei es auch immer Liebeskampf? Die Torsion, die das Denken Augustins vom Unauthentischen zum Authentischen kehrt, beruht laut Jaspers «auf der einen großen, immer wieder vollzogenen Umwendung», die «vom Suchen zum Gefundenhaben 22 23
Jaspers: Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 50f. Vgl. Jaspers: Die großen Philosophen, op. cit. S. 374-575.
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der Wahrheit, die eine ist», von der Freiheit der Vernunft und vom vernünftigen Versuch einer gegenseitigen Überredung zur Legitimation der Intoleranz und der Gewalt (die berühmten Parolen «compelle intrare» und «extra ecclesiam nulla salus»), «von der Offenheit der Kommunikation zum Anspruch auf Gewalt der einzigen Autorität» führt.24 Eine solche Umwendung scheint wesentlich und auf entscheidende Weise dadurch bestimmt, dass die in libertate et novitate vom Denken anerkannte Wahrheit, die an sich nichts braucht, als die aus dem Bewusstsein des Einzelnen ausgehende Gewissheit, der Garantie der äußeren Autorität der Kirche untergeordnet wird: die Wahrheit wird dem Anspruch auf Exklusivität und Absolutheit der Offenbarung Christi unterworfen. Wie schon oben hingewiesen, taucht eine Aussage Augustins in verschiedenen Werken von Jaspers auf, um den Übergang – oder besser: die Wendung – vom philosophischen Glauben zum kirchlich-dogmatischen Glauben zu prägen.25 Diese viel sagende, dem Werk Contra Epistulam Manichaei quam vocant Fondamenti entnommene Aussage lautet wie folgt: «Ego vero Evangelio non crederem, nisi me catholicae Ecclesiae commoveret auctoritas».26 Hier geht Augustin vom philosophischen Glauben zum kirchlichen Glauben über: er nimmt nicht etwa den Bibelglauben einfach an, sondern unterwirft ihn dem Autoritätsprinzip und der objektivierenden, verdinglichenden Garantie der Konfession. Es handelt sich um die Geburtsurkunde der tiefsten religiösen Problematik des Abendlandes, die durch den Anspruch der christlichen Kirchen auf Exklusivität geprägt ist. Indem jede Kirche darum bemüht war, sich selbst das Wesen, bzw. die echte Deutung der Bibelreligion zuzuschreiben, erstarrte und verarmte schließlich jenes Wesen so weit, dass ein Zusammenstoß mit ähnlichen Ansprüchen unvermeidlich wurde. Aus der Wendung, bzw. Umwendung Augustins entsteht das EntwederOder: «Glaube ist kirchlicher Glaube oder er ist gar nicht»,27 análogon von «Christus allein oder Nihilismus»,28 der am Anfang der Vorlesungen 1947
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Ibid. S. 337. Vgl. ibid. S. 375. Augustin: Contra Epistulam Manichaei quam vocant Fondamenti, 5, 6. Augustins Aussage taucht bei Jaspers direkt zitiert oder paraphrasiert in folgenden Stellen auf: Die großen Philosophen, op. cit. S. 375; Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 77, 479f., 511; Von der Wahrheit, op. cit. S. 787, 1035. Jaspers: Die großen Philosophen, op. cit. S. 340. Karl Jaspers: Der philosophische Glaube (München: Piper, 1948) S. 9.
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über den philosophischen Glauben als Ablehnung der Möglichkeit der Philosophie beschrieben wird. Im Ausgang von der «Umwendung» erklärt sich eine andere grundlegende Kategorie der Art und Weise wie Jaspers Augustin liest, und zwar die des «Widerspruches». Freilich ist laut Jaspers kein großes philosophisches Denken widerspruchslos. Widersprüche seien ja Schicksal der Metaphysik, wie Kant meinte – und zwar ein glückliches Schicksal, wie man über Kant hinaus und in Jaspers’ Sinne hinzufügen möchte –, das aber inmitten des Scheiterns einen flüchtigen und vergänglichen Blick in die Transzendenz erlaubt. Die von Jaspers hervorgehoben Widersprüche über das Böse, die Welt, die Bibel, die Kirche, dürfen als Zeichen der Größe Augustins angenommen und dadurch erklärt werden, dass er verschiedene Diskursebenen miteinander verwebt und vermischt – die kirchlich-apologetische, die philosophische und die biblisch-paulinische. So erscheint ein Widerspruch als entscheidend: nämlich der der Gottesidee. Die christliche Gottesanschauung Augustins ist durch zwei an sich – laut Jaspers – unversöhnliche Wege markiert (während Augustin sie zu einem verbindet und somit eine entzweiende Spannung schafft). Der erste Weg ist durch den Neuplatonismus und den biblischen Monotheismus geprägt. Er betrifft alle Kategorien und geht vom philosophischen Transzendieren zum Scheitern, bzw. zur Vernichtung aller Denkbarkeit und Sagbarkeit Gottes. Es handelt sich um die negative Theologie, um die Verborgenheit Gottes, an der Jaspers sehr hängt: Er versteht dies im Horizont dessen, was er in Von der Wahrheit «Mystik im Denken» nennt.29 Diese Mystik ist ein virtuoser Zirkelschluss zwischen Vernunft und Verstand, ein durch die Grenzenüberwindung aufgeklärter und wahrgenommener exitus der Verstandeskategorien, sowie ein reditus in sie, da andernfalls die Aphasie droht. Bei Augustin findet sich in der Tat die hohe und strenge Stimmung des verborgenen Gottes; wie im Dialog des Cusanus über den «Deum absconditum» darf man verehren, was man nicht kennt, lieben, was man nicht weiß. Aber – und das ist der zweite Weg – so «erkaltet» bald die behauptete Realität, bzw. die Unendlichkeit oder Unwissenheit der Transzendenz und wird der «Auffassung garantierter und garantierender Leibhaftigkeit»30 unterworfen – wie Jaspers mit Bultmann erklärt –, der Forderung nach sinnlichem Besitz der Gottesidee, um «im
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«Das Transzendieren mit den scheiternden Gedanken ist der Weg der Mystik im Denken» (Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 301). Kurz darauf spricht Jaspers von «Mystik für den Verstand». Jaspers: Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 20.
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leibhaftigen Christus anzunehmen die sich offenbarende Gnade Gottes, der sich dem Menschen in Gestalt seiner Menschwerdung zuwendet».31 Im Christus-Gott schrumpft laut Jaspers der «transzendierende Aufschwung»,32 der sich über die Kategorien hinauswagt, mit der glücklichen Vereinigung von Neuplatonismus und biblischem Monotheismus. Hier hat die dogmatische Erstarrung der Transzendenz ihren Anfang, die später in die Trinitätslehren fortschreitet. Gegenüber der unerschöpften Jenseitigkeit der Transzendenz steht die einfache Gegenwart des menschgewordenen Gottes, der in der Kirche als «corpus mysticum Christi» lebt. Die Entzweiung zwischen transzendierendem Aufschwung und undurchsichtiger Leiblichkeit der Gegenwart Christi soll eine ungeklärte Spannung bleiben und im paradoxen Synolon der «immanenten Transzendenz» nicht angenommen werden. In diesem Synolon bestehe die Chiffre.33 Laut Jaspers versperrt die Absolutheit des Menschwerdungsdogmas Augustin den Zugang zu ihm.
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3. Jaspers, Augustin und Lessings Gegensatz Augustins Parole Kein Glaube ans Evangelium ohne die Autorität der Kirche – auf der Jaspers immer wieder als dem Siegel der Orthodoxie beharrt – fällt wesentlich mit dem ersten der zwei komplementären Sätze zusammen, die Lessing in den Axiomata (und in den Gegensätzen des Herausgebers zu den Fragmenten eines Ungenannten) inmitten des Fragmentenstreits (17741778) formulierte. Damit wollte Lessing die streng orthodoxe Religionslogik des Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze identifizieren und verwerfen. Er schlug eine radikale, durch das Prinzip der Freiheit geprägte Umkehrung dieser Logik vor. Lessings Gegensatz lautet: «Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten: sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist».34 Fällt der erste Satz mit der Orthodoxie (wenn auch via negationis) zusammen, so enthält der zweite gleichsam die Formulierung des Prinzips der 31 32 33
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Jaspers: Die großen Philosophen, op. cit. S. 347. Ibid. Zum Thema «Signum und Chiffre» bei Jaspers und Augustin vgl. Adolf Holl: Signum und Chiffre. Eine religionsphilosophische Konfrontation Augustins mit Karl Jaspers, in Revue des Études augustiniennes 12 (1966) S. 157-182. Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann und Franz Muncker (Stuttgart, Leipzig: Göschen, 1886-1924; Nachdruck: Berlin: de Gruyter, 31968), Bd. XII, S. 429.
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Liberalität. Kein Zufall also, dass Jaspers dieses Prinzip im Entmythologisierungsstreit just mit Lessing zusammenfallen lässt.35 Ich weise auf Lessings Gegensatz deshalb hin, weil aus ihm der Kern von Jaspers’ hermeneutischer Leistung an Augustin hervorgeht. Der Umwendung Augustins, die den ursprünglichen philosophischen Glauben in das kirchlichen Denken einschließt, stellt Jaspers eine andere Umwendung, bzw. Torsion gegenüber. Diese befreit den im Denken Augustins angeborenen philosophischen Glauben vom demütigenden Druck des Konfessionialismus, indem sie die Logik der von Lessing dem orthodoxen Protestantismus des Hauptpastors Goeze entgegensetzten Religion wieder aufnimmt. Jene Logik besagt: die Wahrheit ist nicht deshalb eine solche, weil sie geschrieben ist, nicht deshalb, weil durch das Lehramt einer Kirche gestempelt, sondern weil sie sich, aufgrund innerer Kraft, der Freiheit des Einzelnen offenbart. Die Wahrheit wirkt nicht deshalb rettend und gegenwärtig, weil sie in einem ob-iectum feststeht – je nachdem im Kult, bzw. im Dogma oder in der Heiligen Schrift –, sondern weil sie in einem sub-iectum lebt, das individuell oder kirchlich zu ihrer Erneuerung berufen ist. Hierin liegt der Schwerpunkt der Kopernikanischen Wende im Gebiet des Religiösen, die sich in der Moderne vollzieht und die von liberal-religiösen Denkern wie Spinoza, Kant, Schleiermacher und Troeltsch ausgegangen ist.36 Für ein solches Denken ist Jaspers im 20. Jahrhundert der wichtigste Vertreter. Seine Wende impliziert, dass letztes Kriterium de vera religione et de vera ecclesia das Gewissen des Einzelnen und die aktuelle Offenbarung ist. Letztere Offenbarung liegt kraft einer Gestalt Gottes, bzw. eines luminis Dei vor, deren Stimme und Wort immer mit Mühe, im Wagnis und nicht ohne Unreinheit zu vernehmen ist. Den echten Augustinismus in Augustin zu befreien, ihn nach der «Freiheit der Vernunft, die ihren Weg sucht ohne Garantie, in der bloßen Hoffnung auf Hilfe, wenn sie im Ernste tut was sie kann»,37 sprechen zu lassen, bedeutet, Lessings Umkehrung der Logik der Orthodoxie wiederzuaufnehmen. Gegenüber Augustins Parole: Kein Glaube ans Evangelium ohne die Autorität der Kirche steht Lessings (und Jaspers’) Wort: Die Evangelisten und Apostel lehrten die Religion, weil sie wahr ist.
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Jaspers: Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 40. Vgl. dazu Roberto Celada Ballanti: Liberalität e modernità. Contributo a una determinazione storica e teoretica del pensiero religioso liberale, in Pensiero religioso liberale, monographischer Band von: Humanitas, Bd. 5-6 (Brescia: Morcelliana, 2006) S. 797-837. Jaspers: Die großen Philosophen, op. cit. S. 395.
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Denn nicht anders erscheint die Logik von Jaspers’ Augustinismus: «Dann aber ist uns wesentlicher: Aus Augustin gewinnen wir jene uns unerläßlichen Grundpositionen des Gottes- und Freiheitsdenkens, der Erhellung der Seele, und jene Grundvollzüge der Vergewisserung, die auch ohne Offenbarungsglauben ihre Überzeugungskraft bewahren.»38 Diese hermeneutische Leistung öffnet gegenüber Jaspers’ Augustinismus, d. h. gegenüber der Aneignung-Verwandlung seines Philosophierens.
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Übersetzung: Francesco Ghia 10
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«Tief langweilige sogenannte ‹Transzendenz›»? Zur Auseinandersetzung zwischen Karl Barth und Karl Jaspers
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The controversy between Karl Jaspers and Karl Barth, both of whom taught at the University of Basel, took place half a century ago. This article offers a critical reconstruction of the often decidedly polemical conflict between ‹philosophical faith› and Christian theology of revelation. Jaspers opposes religious faith in revelation by pointing to the reification of transcendence on the one hand and to the authoritarian usurpation of truth by particular men on the other hand. Barth, in contrast, warns of a transcendence that is being rendered meaningless and empty, and holds that Jaspers’s concept, sterile and devoid of substance, is essentially an illusory projection of human freedom. A contemporary philosophy of transcendence that sets out to relate to the inner motives of Jaspers’s thought must start again from the beginning: with a comprehensive phenomenology of the different experiences of transcendence.
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Die Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen ist so alt wie die Philosophie selber. Bis in die Moderne hinein wird dieses Verhältnis oftmals als Streit ausgetragen, dem die ‹concordia discors›, die zwieträchtige Eintracht, abgeht, oftmals aber auch als eine bewusste Anstrengung der Vermittlung. Der Grenzbereich zwischen Philosophie und Religion scheint bis heute ein schwieriges Gelände. Mein Vortrag beschreitet einige Pfade dieses Geländes, wenn er sich einer theologisch-philosophischen Auseinandersetzung im letzten Jahrhundert zuwendet: der Auseinandersetzung zwischen Karl Barth und Karl Jaspers. Barth und Jaspers waren bekanntlich – nach Jaspers’ Berufung an die Universität Basel 1948 – Kollegen. Sie unterrichteten zeitweise zur selben Stunde im selben Hörsaalgebäude: Jaspers lehrte im großen Saal direkt über Barth. Der Zwist und die unterschwellige Ironie zwischen den beiden großen Gelehrten blieb auch den Studenten nicht verborgen, wenn der Theologe Barth etwa – nach einem Getrampel im Hörsaal über ihm – verlauten ließ: «Da oben ist [wieder] das Jasperle-Theater».
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Oder wenn der Philosoph Jaspers, nach einem Eingeständnis von Theologiestudenten, dass sie bereit wären, ihm zu folgen, wenn Karl Barth nicht wäre, mit Anspielung auf Nietzsche1 antwortete: «Wie gut, daß er ist, denn mir kann man nicht folgen».2 Die vielfach polemisch3 geführte Auseinandersetzung zwischen Barth und Jaspers zeigt nicht nur Spannungen zwischen dem christlichen und dem «philosophischen Glauben» auf. Sie verkörpert, so scheint es, nicht aufhebbare Differenzen zweier Disziplinen, der Philosophie und der Theologie. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte Martin Heidegger vielleicht am radikalsten die Kampflinien zwischen diesen Wissenschaften exponiert, deren abstrakte Gegenüberstellung so leicht «die Gefahr einer mythologisierenden Abstraktion»4 birgt: Es gebe eine ‹Todfeindschaft› der beide Wissenschaften begründenden existentiellen Haltungen, so Heidegger 1927. Sei die Theologie am «Positum des Glaubens» orientiert und müsse zum Glauben rufen, so sei Philosophie das «freie Fragen des rein auf sich gestellten Daseins». Philosophie verkörpere die Existenzmöglichkeit der «freien Selbstübernahme». Die Kommunikation der beiden Wissenschaften habe «nur auf dem Boden dieser Feindschaft» Sinn, es seien keine «schwächlichen Vermittlungsversuche» gefordert.5 In Absetzung von Heidegger entwirft Jaspers zwar eine Philosophie der zugleich kritisch wie lernbereit ansetzenden existentiellen Kommunikation. Aber in dem Pathos freien Philosophierens
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Vgl. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, II, Aph. 99 [1882], in ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Berlin: de Gruyter 1967ff.), Bd. V/2, S. 129. Karl Jaspers: Nachlaß, vgl. Hans Saner: Karl Jaspers (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 122005) S. 148f. Vgl. auch Hans Saner: Art. ‹Polemik II.›, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter u. a., Bd. 7 (Basel: Schwabe, 1989) Sp. 1031. Vgl. Karl Barth: Philosophie und Theologie, in Philosophie und christliche Existenz. FS für Heinrich Barth (Basel, Stuttgart: Helbing & Lichtenhahn, 1960) S. 93-106, hier: 93. Martin Heidegger: Phänomenologie und Theologie (1927), in Gesamtausgabe, Bd. 9 (Frankfurt a. M.: Klostermann, 2002) S. 66; zum Verhältnis von Martin Heidegger und Rudolf Bultmann vgl. Hermann Mörchen: Miteinander-Denken und -Deuten/Dialogische Kommunikologie. Zur Offenhaltung der Kommunikation zwischen der Theologie Rudolf Bultmanns und dem Denken Martin Heideggers, in Denken, Glauben, Dichten, Deuten, hg. von Ulrich Mörchen und Willfred Hartig (Münster: Monsenstein und Vannerdat, 2006) S. 264-283.
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stimmt er mit Heidegger überein und nimmt es gerade der Theologie gegenüber auch als Form kognitiver Überlegenheit in Anspruch.6 Dass der Streit zwischen Karl Jaspers und Karl Barth in einem tieferen Sinne nicht mit kommunikativer Offenheit,7 sondern im Gestus der «Selbstbehauptung»8 ausgetragen wurde, dass er fast ergebnislos bleiben musste, jedenfalls was die Hauptdarsteller betrifft, dass weder ein Einverständnis noch überhaupt eine «Einmütigkeit» der Kombattanten sich abzeichnen konnte, liegt vielleicht in der Sache selber begründet. Aber was bedeutet dieser ‹Streit der Fakultäten› für uns heute, was folgt aus ihm für uns? Ich werde im Folgenden in fünf Schritten vorgehen. In einem ersten Schritt soll – im groben Umriss – skizziert werden, was Jaspers zur Entfaltung eines «philosophischen Glaubens» bewog (2.). In einem zweiten Schritt sind die Konsequenzen darzustellen, die die Ausführung dieses Projektes für die christliche Theologie hatte. Mich interessiert besonders das Wegstück des Jaspers’schen Denkens von den Basler Vorlesungen über den Philosophischen Glauben 1947, die Humanismus-Gespräche in Genf 1949,9 den schweizerischen Theologentag 1953 mit dem Beitrag über Wahrheit und Unheil der Bultmannschen Entmythologisierung bis zur Publikation des Alterswerks Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung
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Vgl. etwa Karl Jaspers: Philosophie, Bd. I: Philosophische Weltorientierung (1931) (Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1973) S. 322, vgl. 72, 267. Vgl. Hannah Arendt: Denktagebuch 1950-1971, Bd. 1, Dezember 1950, hg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann in Zusammenarbeit mit dem HannahArendt-Institut Dresden (München, Zürich: Piper, 2003) S. 45: «Die Frage ist: Gibt es ein Denken, das nicht tyrannisch ist? Dies ist eigentlich Jaspers’ Bemühen, ohne dass er es ganz weiß. Denn Kommunikation, im Gegensatz zur Diskussion – dem ‹advokatorischen› Denken –, will nicht sich von der Wahrheit durch Überlegenheit des Arguments vergewissern.» So Jaspers in seiner Erwiderung auf Rudolf Bultmanns Antwort (1954), in Karl Jaspers, Rudolf Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung (München: Piper, 1981) S. 101-142, hier: 101. Vgl. die Rencontres Internationales de Genève 1949 zum Thema: «Pour un nouvel humanisme». Karl Barth beteiligt sich mit einem Vortrag über Die Aktualität der christlichen Botschaft, in Theologische Studien 28 (1950) S. 3-12, vgl. auch Barths Bericht über die Tagung, ibid. S. 13-28, bes. 19f.; Karl Jaspers mit einem Vortrag über Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Humanismus, in Über Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Humanismus (Stuttgart: Reclam 1951) S. 21-53; vgl. auch die Aussprachen auf der Genfer Tagung über die Vorträge von Barth und Jaspers, in René Grousset: Pour un nouvel Humanisme (Neuchâtel: La Baconnière, 1949) S. 242ff.
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1962 (3.). In einem dritten Schritt zeichne ich die Beschäftigung von Karl Barth mit dem Werk von Jaspers in der Kirchlichen Dogmatik nach. Schon bevor Jaspers nach Basel kam, hatte Barth sich – relativ intensiv – mit dem Jaspers’schen Denken beschäftigt und sich – nach der Basler Vorlesung von 1947 – entschieden von dieser zeitgenössischen Gestalt der Philosophie abgegrenzt (4.). Abschließend ist das Kernproblem zu vergegenwärtigen: die argumentative Konfrontation der Jaspers’schen Philosophie der Transzendenz mit der christlichen Offenbarungstheologie. Es sollen in der Sache liegende Schwierigkeiten des Jaspers’schen Transzendenz-Konzeptes verdeutlicht und – mit einem Blick auf den späten Bonhoeffer und dessen Begriff einer am Handeln Jesu erfahrbaren ethischen Transzendenz des Nächsten – problematisiert werden. Dabei ist zu erkunden, in welcher Weise wir heute an das Jaspers’sche Transzendenz-Denken anknüpfen können (5.).
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2. Zur Entfaltung von Jaspers’ Konzeption des «philosophischen Glaubens» Fünf Linien des Jaspers’schen Denkens führen, so scheint mir, zur Entfaltung eines «philosophischen Glaubens»: 2.1. Dass die Lehre der Philosophie auf eine sie verkörpernde Lebens- und Existenzform zielt und diese sich von einem «philosophischen Glauben» getragen wissen soll, vertritt Jaspers seit Anfang der 1930er Jahre.10 Es geht ihm um die Entfaltung eines Denkens, «das das Leben trägt, das das Handeln im persönlichen Dasein und im Politischen erhellt und führt».11 Der philosophische Glaube ist, was hier nur angedeutet werden kann, ein idealistisches Erbteil der Jaspers’schen Philosophie. Es führt ihn dazu – eine zweifellos entscheidende Weichenstellung, die «moderne, zwischen Wissenschaft und Theologie angesiedelte Philosophie eher dem Glauben als dem Wissen» zuzuordnen.12 Von Anfang an grenzt Jaspers den philosophischen von dem religiösen Glauben ab, spricht ihm aber zu10
So Karl Jaspers: Philosophische Autobiographie (1953) (München, Zürich: Piper, 1984) S. 119; vgl. Vorwort, in ders.: Philosophie, Bd. I: Philosophische Weltorientierung (1931) (Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 1973) S. VII-IX, hier: VII; vgl. schon: Karl Jaspers: Max Weber. Eine Gedenkrede (1920), in ders.: Aneignung und Polemik: Gesammelte Reden und Aufsätze zur Geschichte der Philosophie, hg. von Hans Saner (München 1968) S. 421f. Karl Jaspers: Nachwort zu meiner «Philosophie» (1955), in ders.: Philosophie Bd. I, op. cit. S. XXI. Jürgen Habermas: Vom Kampf der Glaubensmächte. Karl Jaspers zum Konflikt
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gleich eine lebensbejahende Grundstimmung zu: «Glaube ist Vertrauen als die unzerstörbare Hoffnung. In ihm löst sich das Bewußtsein der Ungewißheit von allem in der Erscheinung als Vertrauen in den Grund des Seins».13 2.2. Von grundlegender Bedeutung für die Genese des Konzepts des philosophischen Glaubens ist die Erweiterung und Transformation der Jaspers’schen Existenzphilosophie zu einer Philosophie der Vernunft. Diese Transformation vollzieht sich bereits 1935 in den Vorlesungen über Vernunft und Existenz. Jaspers profiliert hier einen genuin philosophischen Glauben zwischen «Offenbarungsglauben und Gottlosigkeit» als eine authentische Möglichkeit gegenwärtigen Philosophierens.14 Seine Philosophie der Transzendenz beginnt sich an universalen Wahrheitsansprüchen zu orientieren. Bereits in dieser Phase erhält der philosophische Glaube seine maßgebliche Form: Die existentielle Wahrheit, die für den Einzelnen gilt, bedarf zugleich des «radikalen Kommunikationswillens».15 Das in der individuellen Transzendenzerfahrung sich in seiner Freiheit geschenkt werdende Selbst bedarf zum Selbstwerden der intersubjektiven Verständigung. Jaspers grenzt sich von Heideggers monologisch konzipierter «Eigentlichkeit» deutlich ab. Philosophischer Glaube ist in seiner elementaren Form, wie er dann in den Basler Vorlesungen von 1947 ausführt, «Glaube an Kommunikation».16 Er ist der Glaube «an die Möglichkeit in uns Menschen, wirklich miteinander zu leben, miteinander zu reden, durch dieses Miteinander in die Wahrheit zu finden und erst auf diesem Wege eigentlich selbst zu werden».17 2.3. Im Nationalsozialismus erhält Jaspers, da er mit einer Jüdin verheiratet ist, Berufs- und Publikationsverbot. Nur der Einmarsch der Amerikaner bewahrt ihn und seine Frau vor dem Abtransport in ein KZ bzw. dem geplanten gemeinsamen Selbstmord. Jaspers versucht sein Leben in dieser Zeit aus dem philosophischen Glauben heraus zu führen und zu verstehen. Dieser Glaube soll sich im täglichen Leben und Handeln bewähren. In der
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der Kulturen (1995), in ders.: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997) S. 41-58, hier: S. 48. Karl Jaspers: Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung (1932) (Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 1973) S. 281; vgl. Kurt Salamun: Karl Jaspers (Würzburg: Königshausen & Neumann, 22006) S. 111. Karl Jaspers: Vernunft und Existenz (1935) (München: Piper, 1960) S. 142ff.; vgl. bereits Vorwort, in ders.: Philosophie, Bd. I, op. cit. S. VII-IX.; vgl. ders: Von der Wahrheit (München: Piper 1947) S. 49f. Ibid. S. 96ff. Karl Jaspers: Der philosophische Glaube (1948) (München: Piper, 61974) S. 40. Ibid. S. 135f.
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philosophischen Selbstverständigung über diesen Glauben reflektiert Jaspers in der Zeit des Zweiten Weltkrieges die Folge der Grundsätze: «Gott ist», «Es gibt eine unbedingte Forderung», «Der Mensch ist endlich», «Der Mensch kann in der Führung durch Gott leben», «Die Realität in der Welt hat ein verschwindendes Dasein zwischen Gott und Existenz».18 Diese Überlegungen werden dann in der Basler Vorlesung 1947 und in der Einführung in die Philosophie von 195019 aufgenommen und entfaltet. Auch in Basel 1947 geht Jaspers von der Gewissheit aus, die ihm in seinem Gespräch mit der philosophischen Tradition selbstverständlich erscheint und die auch der Ausgangspunkt seines «philosophischen Glaubens» bleibt: «Gott ist».20 2.4. Was 1935 als die (Schein-)Alternative eines «gottlosen Philosophierens» ins Spiel gebracht wurde, wird nach dem Zweiten Weltkrieg weiter konkretisiert. Es ist der abendländische Nihilismus, dem Jaspers mit der Konzeption seines philosophischen Glaubens ausdrücklich widerstreiten möchte. Jaspers will zwar – mit Max Weber gesprochen – unter den Bedingungen moderner Rationalisierung und Entzauberung philosophieren, aber gerade nicht «nachmetaphysisch».21 Er sieht die drohende Verarmung eines sogenannten nachmetaphysischen Denkens.22 In dieser Situation versucht er, mit dem Projekt eines philosophischen Glaubens die Motive von Metaphysik und Religion zu beerben und unter den Bedingungen der Moderne gegen die «Glaubenslosigkeit» des Nihilismus philosophisch neu zu formieren, d. h. von ihrer unangemessenen Seinsvergegenständlichung zu ‹läutern›. Jaspers vertritt die Auffassung, zwischen «allen Glaubenden» sei ein «verborgen Gemeinsames. Der Gegner aller, der in jedem Menschen sitzt», sei «allein der Nihilismus».23
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Karl Jaspers: Grundsätze des Philosophierens (1942/43), Nachlaß. Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge (1950) (München, Zürich: Piper, 1971) S. 32ff. Vgl. Karl Jaspers: Der philosophische Glaube, Zweite Vorlesung, op. cit. S. 29; ders.: Einführung in die Philosophie (Zürich: Artemis, 1950) S. 32. Jürgen Habermas: Rückkehr zur Metaphysik? – Eine Sammelrezension, in ders.: Nachmetaphysisches Denken (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992) S. 267-279, bes. 273f.; vgl. ders.: Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie, in ders.: Zwischen Naturalismus und Religion (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005) S. 255f. Vgl. Jaspers: Nachwort zu meiner «Philosophie», op. cit. S. XXXVI. Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949) (Hamburg-Wandsbek: Fischer, 1955) S. 208ff., hier: S. 268.
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2.5. Jaspers’ Blick auf die Geschichte von Philosophie und Religion weitet sich zunehmend. Seit 1939 unternimmt er Studien zu einer Weltgeschichte der Philosophie. In Genf fragt er 1949 nach einem neuen Humanismus, «der die chinesischen und indischen Grundlagen des Humanen abendländisch aneignet und zu einem gemeinschaftlichen menschlichen Humanismus aller Erdbewohner in der Mannigfaltigkeit seiner geschichtlichen Erscheinungen wird, die besser sie selbst sind, weil sie umeinander wissen».24 In der Folge dieser Weitung der Perspektive wie der Einsicht in die Pluralität des Glaubens und in die Notwendigkeit interkultureller Verständigung mit Blick auch auf die Ermöglichung eines Religionsfriedens kommt es zu einer Relativierung des Christentums. In dem pluralistischen Modell einer Philosophie der Religionen kann keine Religion beanspruchen, die allein wahre zu sein. Der Philosophie und dem philosophischen Glauben als Gestalt negativer Theologie wächst nach Jaspers in dieser Situation eine entscheidende Vermittlungsfunktion zu. Im Vorwort zu dem Werk Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung notiert er 1962: Wir suchen heute den Boden, auf dem Menschen aus allen Glaubensherkünften sich über die Welt hin sinnvoll begegnen könnten, bereit, ihre je eigene geschichtliche Überlieferung neu anzueignen, zu reinigen, zu verwandeln, aber nicht preiszugeben. Der gemeinsame Boden für die Vielfachheit des Glaubens wäre allein die Klarheit der Denkungsart, die Wahrhaftigkeit und ein gemeinsames Grundwissen. Erst diese ermöglichen jene grenzenlose Kommunikation, in der die Glaubensursprünge vermöge ihres Ernstes einander anziehen.25
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In der vierten der Basler Vorlesungen über den Philosophischen Glauben nimmt Jaspers den Kampf (so muss man das nennen!) gegen die Religion und gegen die christliche Theologie im Besonderen auf. Eigentümlich für die Religion sei «die reale Beziehung des Menschen zur Transzendenz in Gestalt eines in der Welt vorkommenden Heiligen als eines vom Profanen
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Jaspers: Über Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Humanismus, op. cit. S. 43. Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (1962) (München, Zürich: Piper, 31984) S. 7; vgl. 148.
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oder Unheiligen Abgegrenzten».26 Die Religion vergegenständliche die Transzendenz. Sie könne gar es gar nicht vermeiden, diese zu objektivieren. Das ist die Schlagrichtung einer fragwürdigen Kritik, die Jaspers schon in seinem frühen Hauptwerk anstimmt.27 Vom biblischen Bilderverbot, das solcher Vergegenständlichung und Verobjektivierung widerstreitet, sind aber nicht nur Jaspers, sondern auch die von ihm kritisierten Theologen Barth und Bultmann28 maßgeblich geprägt. Die Einsicht in die «Nichtgegenständlichkeit Gottes» hatte – auf dem Feld der Philosophie – einflussreich die neukantianische Religionsphilosophie vorgetragen.29 Radikal in Frage stellt Jaspers nun in der Basler Vorlesung alles das, was die Religion von der Philosophie unterscheiden soll: der «Kultus, der Anspruch auf Offenbarung, der Anspruch der Macht einer religiös begründeten Gemeinschaft, ihrer Organisation und ihrer Politik, und die Sinngebung, die die Religion sich selbst verleiht».30 Am 20. Juli 1947 schreibt Jaspers an Hannah Arendt:
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Hier habe ich mit meinen Gastvorlesungen in Basel ‹Erfolg› gehabt. […] Das Thema war ‹der philosophische Glaube›. […] Die Theologen sollen ‹entsetzt› gewesen sein: So etwas zu denken, sei böse, es auszusprechen, noch viel böser (das ist heute noch schlimmer in Deutschland, die Nazidenkungsart geht auf die Kirchen über …).31
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Es geht Jaspers mit seiner philosophischen Kritik des biblischen Offenbarungsglaubens, das geht auch aus diesem Brief hervor, wesentlich um die Kritik einer Geisteshaltung und Denkungsart, die Autorität32 beansprucht
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Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 62. Jaspers: Philosophie, Bd. I, op. cit. S. 297. Vgl. zur Debatte zwischen Karl Jaspers und Rudolf Bultmann um Probleme der Entmythologisierung auch Helmut Fahrenbach: Philosophische Existenzerhellung und theologische Existenzmitteilung, in Theologische Rundschau NF 24 (1957/58) S. 77-99, 105-135. Vgl. auch Wolfhart Pannenberg: Art. ‹Nichtgegenständlichkeit Gottes›, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter u. a., Bd. 6 (Basel: Schwabe, 1984) Sp. 803-805. Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 60; zu Heideggers Kritik an der «abgelebten Herrschaft der Kirchen» vgl. Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie: (Vom Ereignis) [1936-1938]), in ders.: Gesamtausgabe, Bd. 65 (Frankfurt a. M.: Klostermann, 1989) S. 39. Karl Jaspers: Brief an Hannah Arendt vom 20. Juli 1947 (Nr. 60), in Hannah Arendt, Karl Jaspers: Briefwechsel 1926-1969, hg. von Lotte Köhler und Hans Saner (München, Zürich: Piper, 31993) S. 129. Das Motiv gehört auch zum Denken Barths. Zu dessen Kritik am Autoritarismus vgl. etwa KD III/4, S. 22f.
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und mit einem Absolutheitsanspruch einhergeht. Der «existentielle Liberalismus» von Jaspers, so hat Volker Gerhardt das einmal zutreffend genannt,33 widerstreitet allen dogmatischen Geisteshaltungen. In diesem «existentiellen Liberalismus», der sich von dem eines Max Weber markant unterscheidet, liegt nicht nur der Ursprung der politischen Philosophie, die Jaspers nach dem Krieg zu entfalten beginnt. In ihm liegt auch der Ursprung seiner Kritik an der Kirche als einer menschlichen Institution, am kirchlichen Autoritätsdenken und an den kirchlichen Formen des Glaubensgehorsams und des Fanatismus. Der «philosophische Glaube» bleibt nach Jaspers die Sache Einzelner; er begründet keine Institution; er könne, so Jaspers, nicht «Bekenntnis» werden und sein Gedanke werde nicht «Dogma».34 Zu den die Transzendenz vergegenständlichenden «Abgleitungen»35 der biblischen Religion im Kontext der fundamentalen Kritik an dem Ausschließlichkeitsanspruch36 zählt Jaspers auch das Theologoumenon vom Gottmenschen Christus. Die Bedeutung Jesu liege in philosophischer Sicht nicht in der Göttlichkeit Christi, sondern darin, dass er die existentielle Möglichkeit des Menschseins auf einzigartige Weise verwirklicht habe. Jesus wird bei Jaspers zu einem der «maßgebenden Menschen» neben Sokrates, Buddha und Konfuzius.37 Der Ausschließlichkeitsanspruch im Christusglauben sei «Menschenwerk und nicht auf Gott gegründet, der dem Menschen viele Wege zu sich geöffnet hat».38 «Preiszugeben» ist, so Jaspers’ kategorisches Diktum in Basel, «die Christusreligion, die in Jesus Gott sieht» und auf ihn «das Heilsgeschehen gründet».39 Damit hatte der Philosoph bei seinem ersten öffentlichen Basler 33
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Volker Gerhardt: Existentieller Liberalismus. Zur Konzeption der Politik bei Karl Jaspers, in Karl Jaspers – Philosophie und Politik, hg. von Reiner Wiehl und Dominic Kaegi (Heidelberg: Winter, 1999) S. 97-114; vgl. ders.: Vernunft und Existenz. Systematische Überlegungen im Anschluß an Karl Jaspers, in Einsamkeit – Kommunikation – Öffentlichkeit, hg. von Anton Hügli, Dominic Kaegi und Reiner Wiehl (Basel: Schwabe, 2004) S. 71-86. Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 15. Zur Verwendung dieses Terminus vgl. etwa bereits Jaspers: Philosophie, Bd. I, op. cit. S. 300. Vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 72. Vgl. zu der eigentümlichen Auffassung, die Karl Jaspers sich von Jesus bildet: Die Auffassung der Persönlichkeit Jesu (1953), in ders.: Das Wagnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, hg. von Hans Saner (München, Zürich: Piper, 1996) S. 318-327; ders.: Die großen Philosophen (München: Piper, 1957) S. 207. Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 75. Ibid. S. 80.
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Auftritt zwei Propria christlicher Theologie verworfen. Parallel wird in Von der Wahrheit ausgeführt, der Gedanke an die Inkarnation sei «absurd» und widerspreche «dem sich zur Transzendenz aufschwingenden Gedanken».40 Jaspers schließt in seiner Ablehnung des Offenbarungs- wie des Christusglaubens an die Tradition der Religionskritik, an Kant und an Max Weber41 an. Kant suchte eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen dem moralischen Glauben der Vernunftreligion und dem positiven Offenbarungsglauben, der zwar zur Seelenbesserung beigetragen habe, aber «mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen […] endlich zur Fessel geworden sei».42 Schon bei Kant läuft die Kritik des Offenbarungsglaubens mit der des «Pfaffentums» zusammen. Die biblische Rede von Jesus als dem «Sohn Gottes» versuchen schon Kant und Herder, wenn auch mit unterschiedlichen Intentionen, in die philosophische von dem menschlichen «Urbild» bzw. vom universalen Ethos der moralischen Gesinnung zu übersetzen.43 Kant ist aber auch der entscheidende Bezugspunkt für die Begründung des philosophischen Glaubens. Jaspers verallgemeinert Kants Konzept des Vernunftglaubens, das auf die Postulate von Gott und Unsterblichkeit zugeschnitten war, auf Philosophie im Ganzen. Der Vernunftglaube muss nach Kant «jedem anderen Glauben, ja jeder Offenbarung zum Grunde gelegt werden».44
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Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 850ff., hier: S. 852. Vgl. Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1919), in ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Tübingen: Mohr, 31968) S. 603: «Die im Sinne der Ablehnung religiöser Gebundenheit ‹voraussetzungslose› Wissenschaft kennt in der Tat ihrerseits das ‹Wunder› und die ‹Offenbarung› nicht. Sie würde ihren eigenen ‹Voraussetzungen› damit untreu. Der Gläubige kennt beides»; vgl. Soziologische Grundbegriffe, Kap. 3, § 10f., in ders.: Wirtschaft und Gesellschaft (Tübingen: Mohr, 1922) S. 140ff.: Offenbarung wird hier als Form charismatischer Herrschaft und archaische Legitimationsinstanz von Herrschaft verstanden; vgl. ibid. S. 497. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793, 21794), AA 6, S. 179; vgl. Jürgen Habermas: Glauben und Wissen (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001) S. 26. Vgl. Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, op. cit. S. 62 («Urbilde der Menschheit»), 119 («Urbild der Gott wohlgefälligen Menschheit»); vgl. ders.: Reflexionen zur Metaphysik, AA 18, S. 606 («Idee der Menschheit im Göttlichen Verstande»); Johann Gottfried Herder: Briefe zu Beförderung der Humanität, Brief 124 (1793-1797), hg. von Hans Dietrich Irmscher (Frankfurt a. M.: Dt. Klassiker-Verlag 1991) S. 752f. Vgl. Immanuel Kant: Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786), AA 8, S. 133-147, hier: S. 142; Habermas: Die Grenze zwischen Glauben und Wissen, op. cit. S. 216-257, hier: S. 246f.
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Wer keiner Offenbarung als solcher zu glauben vermöge, so Jaspers’ rationalistisch-aneignender Ansatz in der Basler Vorlesung 1947, könne «doch die biblische Quelle sich zu eigen machen, von ihrer Wahrheit ohne Offenbarung als Mensch sich durchdringen lassen. […] Dieses Werk gehört keiner Konfession und keiner Religion allein, sondern allen».45 Wenn auch Jaspers in seinem Alterswerk sich stärker dialog- und lernbereit auch dem Offenbarungsglauben gegenüber gibt, so hat sich weder im sachlichen Urteil noch in der philosophisch aneignenden Methode, religiös-theologische Gehalte als «Chiffren» der Transzendenz zu begreifen, etwas geändert. Jaspers fragt, ob sich die Erscheinung der biblischen Religion historisch – quasi ‹philosophiegemäß› möchte man sagen – in drei Hinsichten wandeln könne: sodass 1. «Jesus nicht mehr für alle Glaubenden der Gottmensch Christus» sei, 2. die «Offenbarung zur Chiffer der Offenbarung» werde und 3. die «Ausschließlichkeit der dogmatischen bestimmten Glaubenswahrheit» falle.46 Jaspers diagnostiziert 1962 distanziert und nicht weniger apodiktisch: Die kirchliche Autorität biblischen Offenbarungsglaubens tut mit ihren gegenwärtigen Gestalten immer weniger Menschen in ihrem Innersten genug. Sie wird nie die Menschen des Erdballs, nicht einmal die des Abendlandes einigen. Durch bald zwei Jahrtausende hat der kirchlich geformte Offenbarungsglaube nicht das Ethos der Wahrheit so zu verwirklichen vermocht, daß es durch Handlungen, Lebenspraxis, Denken, persönliche Gestalten Überzeugungskraft für alle gewonnen hätte.47
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Jaspers: Der philosophische Glaube, op. cit. S. 34; vgl. ders.: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, Vorwort (1962), (München, Zürich: Piper, 31984) S. 8; dagegen Rudolf Bultmann: Entmythologisierung und Existenz-Philosophie, in ders.: Kerygma und Mythos, Bd. 2, hg. von Hans-Werner Bartsch (Hamburg: Reich, 1952) S. 191: «Daß mir die Bibel nicht nur, wie andere Dokumente der Geschichte, eine Möglichkeit, meine Existenz zu verstehen, zeigt, für die ich mich entscheiden oder die ich abweisen kann, sondern daß sie darüber hinaus zu dem mich persönlich anredenden Worte wird, das mir Existenz schenkt»; vgl. ders.: Die Rede vom Handeln Gottes, in ibid. S. 203; ders.: Theologie des Neuen Testaments (Tübingen: Mohr, 71977) S. 591. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 500ff. Ibid., Vorwort, S. 7; vgl. Wolfhart Pannenberg: Zur theologischen Auseinandersetzung mit Jaspers, in Theologische Literaturzeitung 83 (1958) S. 321-330, hier: 323: «Jaspers erhebt einen ‹Totalanspruch› auf Deutung und Beurteilung der Religion»; Theodor W. Adorno: Vernunft und Offenbarung (1958), in ders.: Stichworte (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980) S. 20-28.
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4. Karl Barth: ‹Autonomes› versus ‹theonomes› menschliches Selbstverständnis Die Barth’sche Theologie reflektiert ihre wissenschaftliche Bestimmtheit, das ist oft betont worden, von der praktischen Aufgabe der Predigt her. In der Kirchlichen Dogmatik will Barth jeden Rest «existentialphilosophischer Begründung, Stützung oder auch Rechtfertigung der Theologie» nicht nur vermeiden, sondern «ausscheiden». «Wort Gottes» oder «Existenz», dazwischen müsse sich der Theologe entscheiden.48 Die Barth’sche Anthropologie, wie sie in der Kirchlichen Dogmatik entwickelt wird, gründet entschieden auf dem Theologoumenon, dass der Mensch Geschöpf Gottes ist. Erkenntnis des Menschen ist «nur von der Erkenntnis Gottes her möglich».49 Mit Blick auf das dreibändige Hauptwerk Philosophie (1931-1932) vergegenwärtigt Barth die Jaspers’sche Lehre von der Transzendenzbezogenheit der menschlichen Existenz. Der Mensch ist in seiner Existenz auf die Transzendenz hin ausgespannt, die unausdenkbar und unaussprechbar bleibt, im Denken und Reden verfehlt wird. Barth zeichnet in diese Jaspers’sche Lehre von der Transzendenzbezogenheit der Existenz die «in ihrer Art ergreifende Lehre von den ‹Grenzsituationen›»50 ein und markiert deren Anschluss an Kierkegaard. Zeitdiagnostisch gibt er zu bedenken, wie wenig nach zwei Weltkriegen, die wahrlich Grenzsituationen en masse produziert hätten, Transzendenzerlebnisse sich Menschen imponiert hätten. Gefragt wird, ob es nicht vielmehr die Resignation sei, der Weg der Gleichgültigkeit und Lethargie, der sich Menschen aufgedrängt hat oder von ihnen beschritten wird. Barth konzentriert sich darauf zu zeigen, dass der Hauptsatz dieser Anthropologie, die Rede von der Transzendenzbezogenheit der menschlichen Existenz, durch und durch problematisch ist. Jaspers’ Formel «Existenz ist nur in Bezug auf Transzendenz oder gar nicht» sei eine reine ‹Beschwörungsformel›; auch das Jaspers’sche Freiheitspathos sei ein reiner «Appell» an menschliche Freiheit. Die Jaspers’sche Methode der Existenzerhellung führe letztlich zu keinem Ergebnis. Sie sei «gegenstandslos».51 Es handle sich nur um narrative «Seinskonstruktionen, welche für jedes zugreifende 48 49 50 51
Karl Barth: Vorwort (1932), in Die Kirchliche Dogmatik [= KD] (Zürich: Theologischer Verlag, 1932-1967) Bd. I/1, S. VIII. Barth: KD III/2, S. 84. Ibid. S. 134. Ibid. S. 141f.
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Wissen sogleich [wieder] verschwinden», wie Barth mit Rekurs auf Die geistige Situation der Zeit 52 ausführt. Eine Erhellung, die ihren Namen verdiente, in der des Menschen Selbsterkenntnis zu einem Ziel und insofern zur Erfüllung komme, gebe es hier nicht. Der wirkliche Mensch komme in dieser Philosophie gar nicht vor, nur das «Phänomen des Menschen».53 Es handele sich um einen letztlich «in sich geschlossenen Kreis des menschlichen Selbstverständnisses»,54 der erst – so Barth in der Tradition reformatorischer Theologie – auf Gott hin geöffnet werden müsse, wenn es zu wirklicher menschlicher Selbsterkenntnis kommen solle. Barth treibt mit solchen Sätzen Theologie. Aber seine Offenbarungstheologie ist zugleich das Medium einer grundlegenden Kritik der Moderne.55 Barth will deutlich machen, dass die Fragen und Antworten der Jaspers’schen Existenzphilosophie sich zwar «in einer eigentümlichen Parallelität zu denen der Theologie abzuspielen scheinen»,56 dass aber Transzendenzbeziehung und christliche Gottesbeziehung sich kategorial unterscheiden. «Man wird der Existentialphilosophie in der ihr von Jaspers gegebenen Gestalt sicher zubilligen, daß sie erkennbare Nähen der christlichen Kirche und insofern des christlichen Raumes trägt, in welchem sie gedacht und entworfen ist».57 Wolfgang Stegmüller etwa hat daran erinnert, dass der Gedanke des Sichgeschenktwerdens durch die Transzendenz als eine (säkularisierte) «existenzphilosophische Deutung des religiösen Begriffs der Gnade, die auch ausbleiben kann», erscheint.58 Aber die Jaspers’sche Philosophie bringe gerade keine Gehalte der christlichen Tradition zur Geltung. Menschliches Selbstverständnis kann nach Barth nicht ‹autonom›, sondern nur ‹theonom›59 oder besser: ‹christonom› gewonnen werden. Gegen die «existentialphilosophische Anthropologie» setzt Barth von Anfang an auf eine Erkenntnisbewegung, die an dem christologischen ‹vere homo est› ansetzt. Der Weg, der an Christus und seiner Offenbarung vorbeigeht, führt 52 53 54 55
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Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit (Berlin, Leipzig: de Gruyter, 1931, 51932) S. 133, 142, 145ff. Barth: KD III/2, S. 143. Ibid. S. 148. Vgl. Habermas: Die Grenze zwischen Glauben und Wissen, op. cit. S. 245. Barth: KD III/2, S. 133. Ibid. S. 134. Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 1 (1952) (Stuttgart: Kröner, 61978) S. 241; vgl. Salamun: Karl Jaspers, op. cit. S. 107. Barth: KD III/2, S. 148; vgl. KD I/1, S. 911f., 958ff.
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nach Barth ausschließlich zu Götzen.60 Jaspers ist nach Barth ein «religiöser» Denker.61 Religion aber ist für Barth – ihrem Grundsinne nach – eine «menschliche Wirklichkeit und Möglichkeit», die grundsätzlich von der sie aufhebenden Christus-Offenbarung abgegrenzt wird.62 Noch in seinen letzten Vorlesungen gibt Barth in diesem Sinne religionskritisch zu bedenken, dass «Gottesbilder, Gottesverehrungen, Gottesdienste» der Religionen «Surrogaten» gleichen, «in deren Erfindung, Gebrauch und Genuß die Welt sich selbst helfen» möchte.63 Solche Religion ist gerade «die Angelegenheit des gottlosen Menschen».64 Auch die Jaspers’sche Lehre von der Transzendenzbezogenheit der menschlichen Existenz fällt bei Barth unter die Kritik der Religion. Sie erscheint als illusionäres Konstrukt, mittels dessen der Mensch sich letztlich selbst begründen möchte. Mit gleicher Radikalität grenzt sich Barth bekanntlich von Heidegger ab: Er wirft ihm – mit Blick auf dessen Freiburger Antrittsvorlesung – vor, das «Nichts» als Gottesersatz zu stilisieren.65 Jaspers und Barth entwickeln beide nicht nur in sich problematische und unterkomplexe Religionsbegriffe. Sie ordnen ihre jeweiligen ‹Gegner› diesen Konzepten zu, und zwar konträr zu deren eigenen Selbstverständnissen. Gemeinsam ist beiden die Sorge, dass im Denken die Sphären von Gott und Mensch verwechselt werden.
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Vgl. Peter Neuner: Einleitung, in Theologen des 20. Jahrhunderts. Eine Einführung, hg. von dems. und Gunther Wenz (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2002) S. 17; vgl. Georg Pfleiderer: Theologie des Wortes Gottes als Kritik der Religion, in ibid. S. 124-144; Rudolf Bultmann: Humanismus und Christentum, in Studium Generale 1 (1948) S. 70-77, hier: 74: «In der Tat, Gott ist nur entweder hier oder dort richtig verstanden, und vom christlichen Glauben aus ist der humanistische Gottesglaube als Irrtum, als Wahn zu bezeichnen, – sofern er Glaube an Gott sein will.» Barth: KD III/2, S. 137. Barth: KD I/2, § 17, S. 304-397, hier: S. 308. Karl Barth: Das christliche Leben. KD IV/4. Vorlesungen 1959-1961, in ders.: Gesamtausgabe, Abt. II (Zürich: Theologischer Verlag, 1976) S. 213. Barth: KD I/2, § 17, S. 327. Barth: KD III/3, § 50, S. 383ff.
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5. Probleme mit der Transzendenz. Korrekturen
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Hatte Barth schon am Anfang der Kirchlichen Dogmatik expliziert, dass das Wesen Gottes nicht «in einer abstrakt verstandenen Transzendenz» bestehe, die die Immanenz Gottes in der Welt unterschlage,66 so spitzt er im vierten Teil seiner Lehre von der Schöpfung die Kritik an der philosophischen Lehre von der Transzendenz noch einmal radikal zu. Es ist Jaspers, der zwar nicht genannt wird, dessen Philosophie hier aber entschieden abgewiesen wird: Allzu oft sagt man ‹Gott› und meint mit dieser Chiffre doch nur ein Etwas, nämlich jene inhaltslose, unfruchtbare, im Grunde tief langweilige sogenannte ‹Transzendenz›, die statt als echtes Gegenüber, als ganz und wahrhaft Anderes, als eigentliches Draußen und Drüben viel besser als illusionärer Reflex der menschlichen Freiheit, als deren Projektion in einen leeren Raum der Gegenstandslosigkeit interpretiert werden wird. Dieser ‹Transzendenz› ist es durchaus wesentlich, daß sie dem Menschen gegenüber weder einen bestimmten Willen hat, noch ein bestimmtes Werk ausrichtet, noch ein bestimmtes Wort findet, noch auch nur eine bestimmte Macht und Autorität hat. Sie kann ihn weder wirklich binden noch wirklich frei machen. Sie kann ihn weder rechtfertigen, noch kann sie ihm Genüge tun. Sie kann ihm weder klarer Sinn noch deutliches Ziel seines Lebens sein.
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Die Jaspers’sche Transzendenz verflüchtigt sich zu einem reinen «Gespenst».67 Die Barth’sche Kritik trifft, trotz aller polemischen Ironie, weil sie die unvermeidliche Unbestimmtheit der Jaspers’schen Transzendenzlehre vorführt. Sie ähnelt strukturell der Hegel’schen Kritik an Schellings Absolutem. In der Vorrede der Phänomenologie wirft Hegel Schelling bekanntlich vor, «sein Absolutes für die Nacht auszugeben, worin […] alle Kühe schwarz sind»; Schellings «Ungrund» sei «die Naivität der Leere an Erkenntnis».68 Unbestimmt wird Jaspers’ Philosophie der Transzendenz, weil der Gott des philosophischen Glaubens ein essentiell verborgener Gott ist und bleibt. Die Transzendenz selber, die Jaspers auch Gott nennt, «erscheint nicht. An
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Barth: KD II/1, § 28, S. 341; in der Tendenz der Jaspers’schen Argumentation liegt es, die Gottheit als das absolut Andere gegenüber dem Sein der Welt zu verstehen. Barth: KD IV/ 4, § 55 (1951) S. 549. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Vorrede (1807), in ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9 (Hamburg: Meiner, 1980) S. 17.
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die Stelle ihrer Erscheinung tritt die Sprache der Chiffern».69 Diese bleibt, dichterisch möchte man sagen: deutungslos, in ihrem Spiel ist kein Gott zu erreichen. Wir wissen auch nicht, um mit Kant zu sprechen, «ob wir das, was zu uns spricht […], wohl befugt sind für eine Gottheit zu halten».70 Die Transzendenz kann wie das «Umgreifende»71 per definitionem nicht begriffen werden, sie kann nicht erkannt werden. Die Annäherung an die Transzendenz kann sich denkerisch nur im Scheitern des Denkens vollziehen. Die Transzendenzerfahrung des Einzelnen, die Jaspers in problematischer Weise der Sphäre der Unmittelbarkeit 72 zuordnet und sich im Zeitsprung des Augenblicks vollziehen lässt,73 bleibt inkognito; sie bleibt wie die Mitte der individuellen Existenz ein Geheimnis. Sie entbehrt der intersubjektiven Verallgemeinerbarkeit. Die wahrhaft erfahrene Transzendenz ist nichts Allgemeines. Sie ist zunächst nur das, was einer besonderen Individualität begegnet. Die Abgrenzung von wirklich erfahrener und projizierter illusionärer Transzendenz, in diese Wunde legt Barth den Finger, ist mit den Mitteln der Jaspers’schen Transzendenzphilosophie nicht plausibel durchzuführen. Begegnet der Mensch in der Transzendenz nur sich selbst? Barth fragt, ob Jaspers nicht – in der Fixierung auf die eigene Lebensmacht – nur «eine sogenannte ‹Transzendenz›» erfährt, d. h. eine, die er selbst erdacht hat und die in der menschlichen Immanenz, sei es auch der transzendierender Existenz verbleibt. So muss wohl der Theologe fragen, der in der Transzendenzlehre kein die Existenz übertreffendes wirkliches Gegenüber entdeckt, in ihr kein 69 70 71
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Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 156; vgl. ders.: Chiffren der Transzendenz (1961) (München: Piper, 1970). Kant: Was heißt: Sich im Denken orientieren?, op. cit. S. 133-147, hier: S. 143. Vgl. Hans Saner: Art. ‹Periechontologie›, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter u. a., Bd. 7 (Basel: Schwabe, 1989) Sp. 259; zu Barths Kritik vgl. KD IV/4. Fragmente aus dem Nachlaß, in ders.: Gesamtausgabe II/10 (Zürich: Theologischer Verlag, 1976) S. 82: Ein «Es» wie das «Umgreifende» könne nicht oder nur symbolisch angeredet werden. Karl Jaspers: Über Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Humanismus, op. cit. S. 48f.: «Die Transzendenz spricht unmittelbar zu einzelnen Menschen in der Wahrheit, welche zu hören uns alles Überlieferte nur erwecken und bereit machen kann, […] dagegen in der Philosophie bleibt der unmittelbare Bezug auf die Transzendenz zweideutig, […] eine Gewißheit in bleibender Unsicherheit». Jaspers: Erwiderung auf Rudolf Bultmanns Antwort, op. cit. S. 127: «die Einheit von Zeit und Ewigkeit im Augenblick als Wirklichkeit zu vollziehen und zu erfahren, […] erfaßt sich aus der Freiheit der Existenz»; vgl. ders.: Philosophie, Bd. I, op. cit. S. XXII.
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Verhältnis zu dem mehr erblickt, der, wie Kierkegaard sagen würde, meine Existenz «setzt»!74 Auch die ethischen Konsequenzen daraus, dass der Einzelne von sich als empirischer Individualität zu sich als eigentlichem Selbst transzendiert, bleiben unvordenklich. Wie der philosophische Glaube letztlich ein Privatglaube ist, so ist auch das aus der Transzendenzbetroffenheit resultierende «unbedingte Handeln» ausschließlich eine Sache des Selbstseins.75 Nicht zuletzt darin sieht Barth eine wesentliche Unfruchtbarkeit der Jaspers’schen Transzendenz-Lehre. Was hat Jaspers zu solch fundamentaler Kritik an seiner Philosophie zu sagen? Er antwortet verhalten und mit Gegenfragen: Barth dränge eine andere Möglichkeit des Menschseins ab: «seinen Ernst zu erfahren auf eigene Verantwortung».76 Wer verspüre heute ein Bedürfnis nach Rechtfertigung der Existenz oder danach, dass ihm Genüge getan werde? Ist das nicht die Illusion, die das Christentum erst erzeugt? Und gibt es ein Ziel des Lebens, das dem Menschen nicht nur partikular, sondern im Ganzen gegeben ist? Und gilt nicht für den christlichen wie für den philosophischen Glauben gleichermaßen, dass der Mensch sich von Gott kein Bildnis und Gleichnis machen dürfe, und doch nicht umhin könne, dies in jedem Augenblick, in welchem er sich der Transzendenz zuwendet, zu tun? Ist es nicht umgekehrt gerade die Herausbildung eines Gespenstes, Gott leibhaftig werden zu lassen?77 Der Gott des Offenbarungsglaubens büßt in der Offenbarung nicht seine Verborgenheit ein. Er bleibt auch als deus revelatus ein deus absconditus. Jaspers verkennt solche Dialektik. Die Verborgenheit Gottes ist für Barth – wie für Luther – ein Modus seiner Offenbarung. Offenbarung heißt aber Offenbarung in die menschliche Wirklichkeit hinein, sonst wäre sie keine Offenbarung. Auch Bultmann macht Jaspers gegenüber deutlich, dass er selbst – gerade im Ringen um die ‹Entmythologisierung› – «gegen das Mißverständnis der Offenbarung als Offenbartheit» kämpft, damit gegen einen
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Diese Dimension der Kierkegaard’schen Existenzphilosophie blendet Jaspers systematisch aus; vgl. Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode (1849), in ders.: Gesammelte Werke, Abt. 24/25 (Gütersloh: GTB Siebenstern, 21982) S. 8ff. Vgl. Wilhelm Weischedel: Skeptische Ethik, § 25 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976) S. 74-77. Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 486. Ibid. S. 488; vgl. zur Auseinandersetzung mit dem Theologen Heinz Zahrnt über das Buch auch: Philosophie und Offenbarungsglaube. Ein Gespräch mit Heinz Zahrnt, in Karl Jaspers: Provokationen – Gespräche und Interviews, hg. von Hans Saner (München: Piper, 1969) S. 63-92.
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falschen Offenbarungspositivismus.78 Gott sei, so Bultmann in Anknüpfung an Bonhoeffers dialektische Verschränkung von Offenbarung und Verborgenheit Gottes, «das Jenseits in unserer Mitte».79 Barth wie Bultmann schließen an Kierkegaards Theologie an, um den Offenbarungsglauben gegen den «Säkularisierungsdruck der Gesellschaft und gegen die Privatisierung des Glaubens»80 zur Geltung zu bringen. Jaspers löst die Kierkegaard’sche Anthropologie – wie auch Heidegger und Sartre – aus ihrem theologischen Kontext heraus. Im Rückblick auf sein frühes Hauptwerk schreibt er: Ich […] machte mir seinen ‹Begriff› der Existenz zu eigen. Aber ich wurde kein Anhänger Kierkegaards. Denn ich blieb nicht nur unberührt von seinem Christentum, sondern spürte in seinen negativen Entschlüssen (keine Ehe, kein Amt, keine Verwirklichung in der Welt, sondern Märtyrerdasein als wesenszugehörig zur Wahrheit des Christentums) das Gegenteil von allem, was ich liebte und wollte.81
Jaspers interpretiert die Offenbarungstheologie nach wie vor allein als «Usurpation der Wahrheit durch einzelne Menschen und Menschengruppen für ihre Geschichtlichkeit».82 Sein Festhalten an einer verabsolutierenden einseitigen Deutung und an einem unterkomplexen Problembewusstsein gegenüber dem theologischen Gegenstand kann als ‹dogmatische Abgleitung›83 bezeichnet werden. Ein anderer Theologe, Dietrich Bonhoeffer, hatte sich 1930 von dem Konzept eines denkerischen Transzendierens zu Gott bereits verabschiedet.84 78
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Rudolf Bultmann: Zur Frage der Entmythologisierung. Antwort an Karl Jaspers (1954), in Jaspers, ders.: Die Frage der Entmythologisierung, op. cit. S. 93: «Sieht er [sc. Jaspers] nicht, daß es das Ziel meiner ‹Entmythologisierung› ist, die mythologische Eschatologie des Neuen Testaments so zu interpretieren, daß das Offenbarungsgeschehen als ‹eschatologisches› Geschehen in echtem Sinne deutlich wird? Er mag meine Auffassung für falsch halten, aber kann ein echtes dialegesthai statthaben, wenn die Intentionen des Gegners ignoriert werden?». Rudolf Bultmann: Ist der Glaube an Gott erledigt?, in ders.: Glauben und Verstehen, Bd. 4 (Tübingen: Mohr, 41993) S. 107-112, hier: 108, mit Rekurs auf: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, in ders.: Werke, Bd. 8 (München u. a.: Kaiser, 1998) S. 408: Gott ist «mitten in unserm Leben jenseitig». Habermas: Die Grenze zwischen Glauben und Wissen, op. cit., hier: S. 246f. Jaspers: Nachwort zu meiner «Philosophie», op. cit. S. XX. Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 1052. Vgl. zur «Abgleitung» als «Quelle von Unwahrheit», ibid. S. 499. Vgl. Dietrich Bonhoeffer: Sanctorum Communio (1930), in ders.: Werke, Bd. 1 (München: Kaiser, 1987) S. 31. 27f.; ders.: Widerstand und Ergebung. Briefe und
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Von den Nationalsozialisten im Berliner Wehrmachtsgefängnis festgehalten, notiert er 1944 – nicht lange vor seiner Ermordung im Konzentrationslager Flossenbürg – einen Entwurf, der, ausgearbeitet, theologisch in neuer Weise explizieren sollte, was christlicher Glaube ist. Bonhoeffer grenzt mit Blick auf den Gottesbegriff die «erkenntnistheoretische Transzendenz» kategorial von der ethischen ab. Als gelebte ethische Transzendenz sieht er das Dasein Jesu. Im Dasein für andere, in der «Teilnahme am Sein Jesu» sieht er den Grund des menschlichen Verhältnisses zu Gott. In der Begegnung mit dem – biblisch gesprochen – Nächsten ereignet sich die Erfahrung, die das Subjekt wirklich über sich hinausführt: «Das ‹Für-andere-dasein › Jesu ist die Transzendenzerfahrung! […] Nicht die unendlichen, unerreichbaren Aufgaben, sondern der jeweils erreichbare Nächste ist das Transzendente. Gott in Menschengestalt! […] Der aus dem Transzendenten lebende Mensch».85 Bonhoeffers Überlegungen können hier nicht ausgelegt werden. Sie erinnern an die Ethik der Verantwortung, die der große französische Denker Emmanuel Levinas konzipiert hat. Die in der Begegnung mit dem Anderen erfahrbar werdende ethische Transzendenz nötigt mich, mich dem Anspruch meines Nächsten zu stellen.86 Wie belastbar ist der Begriff der ‹Transzendenz› heute? Kann die säkulare Vernunft ihren Standpunkt und ihre Reichweite ohne Transzendenz bestimmen?87 Transzendenz war für Jaspers das Lebenselement des philosophischen Glaubens, der über die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis hinausweist. Jaspers wollte in seinem Philosophieren an der Wirklichkeit der Transzendenz festhalten und zugleich die Entzauberungsarbeit der philosophischen Aufklärung an Metaphysik und Religion fortsetzen. Die Anstrengung, unter den Bedingungen der Moderne an einer reflektierten Religiosität der Tradition festzuhalten, war enorm. Sie hat auch einen hohen Tribut verlangt. Der Begriff der Transzendenz hat sich in säkularer Gesellschaft entleert und verflüchtigt. Wenn wir heute den Erfahrungen und Motiven die Treue halten wollen, die Jaspers zum Denken der Transzendenz bewogen
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Aufzeichnungen aus der Haft, op. cit. S. 408: «Die erkenntnistheoretische Transzendenz hat mit der Transzendenz Gottes nichts zu tun»; vgl. dagegen Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 1045ff.: «Der Aufstieg zur einen Gottheit». Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, op. cit. S. 558; vgl. 547: «Christentum entspringt aus der Begegnung mit einem konkreten Menschen: Jesus. Transzendenzerfahrung [die Gebildeten? Zusammenbruch der christlichen Ethik]». Vgl. Emmanuel Levinas: Ethik und Unendliches (Graz, Wien: Edition Passagen, 1986). Vgl. Gerhardt: Vernunft und Existenz, op. cit. S. 71-86, bes. 84.
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haben, dann müssen wir wieder neu anfangen, ihre Phänomene einzeln und gründlich zu ‹buchstabieren›. Es bedarf – mit Blick auf die Jaspers’sche Lehre von der Transzendenzbezogenheit der Existenz – zunächst einer behutsamen Phänomenologie der Erfahrung von Transzendenz. Die Rekonstruktion der nun schon bald ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Auseinandersetzung zwischen Karl Barth und Karl Jaspers hilft uns dabei. Sie gibt uns ein Problembewusstsein dessen, was bereits geleistet worden ist und was von uns erst noch zu leisten ist.
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Anthropologie, Psychopathologie und Pädagogik
Studia philosophica 67/2008
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Jaspers and Binswanger moved to philosophical reflection through their practice in psychiatry. The insufficiency of the psychiatric method and the lack of results brought both of them to recognize the complexity of the existential dimension, which requires listening practice and attention to the peculiarity of each human life. From this perspective, for both Jaspers and Binswanger, there is no gap between existence and pathology, since both can be represented as an interval, a discontinuity between said and unsaid, between objective and subjective, between what is specific to the individual and common. In this gap, and in the complexity of the dialogue, it is questioned whether it is possible to achieve explanations and demonstrations minimising the importance of the peculiarity of the human life that is present in both the pathology and the normality. Neither Jaspers nor Binswanger converge on a sceptical position, stressing instead the importance of the ethical factor associated with each analysis of human life.
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1. Ein Interpretationskonflikt
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Jaspers und Binswanger verbindet das Schicksal, von Heidegger deutlich in ihre Schranken verwiesen zu werden, wenngleich sie ihn ihrerseits als theoretischen Bezugspunkt anerkennen. Der große Meister wirft ihnen vor, den Unterschied zwischen «ontologisch» und «ontisch» nicht voll erfasst und dadurch letztlich den ursprünglichen Sinn seiner Philosophie entstellt zu haben. Im Mittelpunkt steht das Dasein, das für Heidegger, vom Sein losgelöst, bei Binswanger und Jaspers noch nach den Modi der «Subjektivität» thematisiert wird.1 Dieser Unterschied ist dort folgenreich, wo die Kritik der mono1
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Zu Heideggers Kritik an Jaspers, vor allem an der Psychologie der Weltanschauungen, vgl. Martin Heidegger: Anmerkungen zu Karl Jaspers’ «Psychologie der Weltanschauungen» (1919-21), in Karl Jaspers in der Diskussion, hg. von Hans Saner (München: Piper, 1973) S. 70-101. Bezüglich einer allgemeinen Betrachtung der Position Heideggers zu Karl Jaspers vgl. Antonello Giugliano: Marginalia al «Nietzsche» di K. Jaspers (ed al «Nietzsche» di M. Heidegger), in Filosofia Esistenza Comunicazione in Karl Jaspers, hg. von Donatella Di Cesare und Giuseppe Cantillo (Neapel: Loffredo Editore, 2002) S. 220-221. Binswanger erkennt in einer Reihe von Artikeln und schließlich im Band Grundformen
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logischen Subjektivität im Studium der Geisteskrankheiten auf Elemente stößt, die die Souveränität der Vernunft ausgegrenzt, verdrängt oder in den diskriminierenden und objektivierenden Verfahren der Medizin anderweitig verringert hat.2 Die nicht allein beruflich bedingte Nähe zur Pathologie und Sensibilität für die Pathologie betonen außerhalb jeglicher objektivierenden Methodologie beider Autoren in theoretischen und fachbezogenen Schriften, wie komplex die Weltoffenheit des Menschen im dialektischen Ablauf der Individuationsprozesse ist. Die Methode der klassischen Psychologie und Psychiatrie zur Diskussion zu stellen, impliziert ein Umdenken bezüglich der Grenzen und der Struktur der geistigen Erkrankung.3 Das Mit-Anderen-inder-Welt-Sein ist die Bedingung für die Möglichkeit der Existenz, und zwar als Beziehung, die in ihrem zeitlichen Horizont begriffen ist, aber zugleich jede Gegebenheit transzendiert. Dies ist Subjektivität im Sinne von esseresoggetto-a, italienisch für «einer Sache unterworfen sein», aber auch im Sinne von essere-soggetto-di, also «Subjekt von etwas sein», wobei die Trennungslinie allerdings nicht durch Unterscheidung in Pathologie und Gesundheit bestimmt wird.4 Jaspers’ wie Binswangers langjährigen Erfahrungen
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und Erkenntnis menschlichen Daseins die Zentralität der Existenzanalyse für ein Umdenken im Ansatz gegenüber Geisteskrankheiten an, wohingegen Heidegger Binswangers Missverständnis im Seminar von Zollikon am 14. Juli 1969 stigmatisiert. Vgl. dazu Martin Heidegger: Zollikoner Seminare. Protokolle – Gespräche – Briefe, hg. von Medard Boss (Frankfurt a. M: Klostermann, 1987). Binswanger über die zutreffende Heidegger’sche Kritik in Wahn. Beiträge zu seiner phänomenologischen und daseinsanalytischen Erforschung (Pfullingen: Neske, 1965). Medard Boss analysiert die Binswanger von Heidegger trennende Distanz in Der Einstieg der Daseinsanalytik in das Denken der Ärzte, in ders.: Von der Spannweite der Seele (Bern: Benteli, 1982) S. 173-181. Jaspers und Binswanger befassen sich kritisch mit der traditionellen Ausrichtung der Psychiatrie und der Freud’schen Psychoanalyse. Dabei stellen sie die Zentralität des Individuums und seiner Geschichte gegenüber einer vorwiegend szientistischen Haltung in den Mittelpunkt. Vgl. vor allem Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen (Berlin: Springer, 1913, mit erweiterten Neusausgaben bis 1946). Bezüglich der Erarbeitung der Jaspers’schen Psychopathologie vgl. die interessante Einleitung in Giuseppe Cantillo: Introduzione a Jaspers (Bari, Roma: Laterza, 2001). Binswanger äußert mehrmals Kritik an der szientistischen Haltung, wobei er sich an die Phänomenologie Husserls und an die Analytik Heideggers anlehnt. Statt der zahlreichen Aufsätze des Autors sei hier nur zitiert: Der Mensch in der Psychiatrie (Pfullingen: Neske, 1957). Im bereits erwähnten Zollikoner Seminar vom 14. Juli 1969 wirft Heidegger Binswanger vor, der Austausch von Subjekt durch Subjektivität ändere nichts
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mit geistigen Erkrankungen bringen Formen der Daseins-Weise ans Licht, bei denen die Welt und der Andere verschwinden bzw. sich zur verfehlten Öffnung des leidenden Individuums verformen. Das Anders-sein-Können, das Transzendieren als Öffnung wird dadurch nicht ausgeschaltet, sondern in der Krankheit lediglich ausgesetzt. Mit dieser Perspektive kann sich die Arzt-Patient-Beziehung nicht auf eine Symptomdiagnose beschränken, denn diese Aufhebung der Beziehung enthält Spuren einer unvollendeten und vielschichtigen Gesamtheit. Das fragmentarische Profil, die Dehnung der Zeit des Zwiegesprächs, die bei jeder therapeutischen Maßnahme Vorsicht walten lässt, drängt zur Therapie in Form des Zuhörens und des Dialogs. Wo szientistische Paradigmen hintan gestellt und der Kern der conditio humana erreicht wird, der von emotiver Disposition und dynamischer Offenheit gegenüber der Welt und dem Anderen geprägt ist, wird die Analyse mit einer Schwierigkeit konfrontiert, auf die schon Freud bezüglich der Philosophie hinwies: die Unmöglichkeit, die komplexe Struktur der Psyche mit der Souveränität des Ichs zur Deckung zu bringen.5 Diagnose und Für-jemandenSorge-Tragen stellen die elementare Beziehung zwischen einem Subjekt (dem Arzt) und einem Objekt (dem Kranken) in Frage, indem sie im Sorgen für jemanden einen «Kurzschluss» aus Anweisungen, Gefühlen des Aufge-
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an seiner Unterstützung des Bewusstseinsstandpunktes. Die von Heidegger in seinem Nietzsche vorangebrachte Diskussion (vgl. Nietzsche [Pfullingen: Neske, 1961], Absch. VIII, aus dem Jahr 1941) weist zahlreiche Berührungspunkte mit den Überlegungen Jaspers’ als auch Binswangers bezüglich des Themas der Subjektivierung auf. Ohne auf Details einzugehen, sei hinsichtlich Jaspers’ Bezug genommen auf Antonello Giugliano (Marginalia al «Nietzsche» di K. Jaspers [ed al «Nietzsche» di M. Heidegger], op. cit.) sowie auf die Einleitung von Eugenio Mazzarella in der italienischen Ausgabe der Zollikoner Seminare (I seminari di Zollikon, hg. von Eugenio Mazzarella und Antonello Giugliano [Napoli: Guida, 1999]). Darin steht (S. 21), dass Heidegger Kant verpflichtet zu sein scheint, wegen des «Anspruchs der Kant’schen intelligiblen Freiheit auf Unbedingtheit und Unversehrtheit durch jeglichen Determinismus […], die in einer ontologischen Erweiterung des Daseins als moralisch Handelnden zum Dasein als Inder-Welt-Sein zur Geltung kommt.» Dieser Forderung fällt natürlich das zum Opfer, was mit Nachdruck in der Pathologie zum Vorschein kommt, wenngleich dabei das komplexe Feld der Subjektivierung im Allgemeinen betreten wird: die unausweichliche, wenngleich nicht durch einen szientistischen Determinismus lösbare Konkretheit der psychophysischen Konstitution. Vgl. Sigmund Freud: Abriss der Psychoanalyse, in ders.: Gesammelte Werke (Frankfurt a. M.: Fischer, 1968), Bd. XVII, S. 129, sowie ders.: Das Ich und das Es, in ders.: Gesammelte Werke, Bd. XIII, S. 244.
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nommen- und Verlassenwerdens herbeiführen, welche über ein einfaches Rollenspiel hinausgehen. Wo es der Therapie gelingt, die Kondition des Leidenden für die Welt und das Andere zu öffnen und so die Möglichkeit einer narrativen Einheit neu zu beleben, ist der Arzt kein bloßer Beobachter mehr, sondern in seiner eigenen Menschlichkeit gefordert: Daraus ergibt sich eine Dichte des Ontischen, des Faktischen, die die Vernunft wie die Leidenschaft in ethischer und nicht nur theoretischer Hinsicht erfasst. Um die Affinitäten und Unterschiede zwischen Jaspers und Binswanger auf den Punkt zu bringen, ließe sich das Bild eines «Zwischenraumes» verwenden, als Zeichen für die gemeinsame Annahme der Unvollendetheit und Undurchsichtigkeit der menschlichen Existenz, unabhängig von der Differenzierung in Krankheit und Normalität. Bei Jaspers ist dieser Zwischenraum ein Hinweis auf das Intervall zwischen Geburt und Tod, Sein und Nichts, Welt und Jenseitigem. Vor allem aber verweist es auf den Sprung, der zwischen Selbstgegebenheit und Selbstannahme unter ständiger Spannung besteht, wodurch das Leben das Profil eines persönlichen Lebens erhält. Im Fall Binswangers wird der Zwischenraum dagegen durch die ununterbrochene Aufwärts- und Abwärtsbewegung eines Seiles vermittelt. Das Seil ist den Zentrifugal- und Zentripetalkräften veränderlicher Vektoren ausgesetzt und strebt einem Sinn entgegen, welcher, den Koordinaten und Horizonten des menschlichen Mit-Anderen-in-der-Welt-Seins preisgegeben, verloren zu gehen oder gar zu zerbrechen droht. An dieser Stelle soll nicht darauf eingegangen werden, ob und wie tief die beiden Autoren bei der Phänomenologie und der Psychoanalyse in der Schuld stehen und eine Wende in der medizinischen Arbeit wie in der theoretischen Betrachtung herbeiführen. Außer Zweifel steht jedoch, dass die psychiatrische Erfahrung bei Jaspers und Binswanger eher zu einer Erweiterung als zu einer Spezialisierung des psychiatrischen Wissens führt, das damals wie heute von einem Interpretationskonflikt geprägt ist, der die Diagnose der geistigen Erkrankung und deren Therapie gleichermaßen betrifft. Dieser Weg führt Jaspers und Binswanger schließlich unweigerlich zur grundlegenden Frage im Vorfeld jeder Differenzierung zwischen Krankheit und Gesundheit: Die Frage gilt dem Menschen in seinem ursprünglich in der Welt und mit Anderen Sein, aus der Überzeugung heraus, dass jede Fragestellung stets von Neuem auf diesen nie überwundenen Zwischenraum verwiesen wird. Sowohl die Daseinsanalyse als auch die Existenzerhellung führen die Frage auf einen früheren Punkt zurück, dorthin, wo die Phänomenologie der geistigen Störung zum Knotenpunkt führt, von dem ausgehend sich die Beziehung des Menschen zur Welt von den ersten Lebensmomenten in endlosen Varianten herausbildet.
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Daseinsanalyse und Existenzerhellung bestehen beide auf der Komplexität des analytischen Verfahrens, verlagert auf Verstehen und Interpretieren statt auf Erklären und Ableiten. Dies zeigt die Notwendigkeit eines flexiblen, dynamischen Ansatzes bezüglich der psychischen Wirklichkeit, welche abgewandelt ist zwischen einem Inneren – nicht kohäsiv und sich selbst nicht immer eigen – und dessen Ausdruck, der dem Risiko des Missverständnisses und der Gleichgültigkeit preisgegeben ist. Dieses Ungleichgewicht ist dem Übermaß des menschlichen Lebens eigen, im Gegensatz zu jedem nur im rein biologischen Sinne verstandenen Leben. Sowohl Jaspers als auch Binswanger begeben sich auf eine Gratwanderung zwischen Medizin und Philosophie, Psychiatrie und Anthropologie. Dabei legen sie die Grenze von rein wissenschaftlichen Verfahren frei, verweisen aber auch jede philosophische Hinterfragung, die der intrinsischen Fragilität des Menschlichen ausweicht, in ihre Schranken. In Frage gestellt wird das Menschliche insgesamt, von der Freiheit getrieben, aber auch darauf ausgerichtet, Fix- und Bezugspunkte zu suchen, stets geprägt durch das gemeinsame, aber nicht verallgemeinerungsfähige Merkmal des Prekären, das jeder Einzelne erlebt.
2. Sinnhorizonte
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Zu Beginn seiner Veröffentlichung zu Jaspers6 übernimmt Cantillo aus der Philosophischen Autobiographie den Bezugsrahmen «Meer, Einsamkeit, Krankheit», mit dem der Philosoph seine Existenz auf den Punkt bringt. Aus dieser autobiographischen Perspektive setzt Jaspers bei der persönlichen Erfahrung an und weitet den Blick, um die conditio humana zu erfassen, die aus der Verflechtung von Momenten besteht. Diese sind allerdings nicht in der Lage, weder einzeln noch als Abfolge, zusammenzufassen oder gar zu objektivieren, was im Intervall zwischen dem eigenen Hier und Jetzt und dem Sich-der-Transzendenz-Öffnen erlebt wird. Die Entsprechung von Verflechtung und Intervall prägt das Schicksal der Existenz, gleichermaßen Gegebenheit und Offenheit, Begegnungspunkt unterschiedlicher Momente, zwischen denen eine Brücke geschaffen oder auch ein Abgrund entstehen kann. Das Meer steht symbolisch für den Ursprung von Verwandlung und Schöpfung, aber auch für das grenzenlos Offene, den Ort möglichen Scheiterns, dem der Mensch durch Einsamkeit und Krankheit preisgegeben ist, die ihn mehr oder weniger intensiv oder dauerhaft prägen. Jede Existenz ist 6
Vgl. Cantillo: Introduzione a Jaspers, op. cit. S. 5.
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Übermaß, Instabilität, ein Mehr-als-Leben, das nach einer Grenze als Form verlangt, welche zugleich Individuationspunkt und Ursprung eines Strebens nach Bestimmung ist. Es gibt keine Lösung und keinen Weg, um diesen tragischen Zustand der Distanz und des Sprungs zu vermeiden, denn jede Bestimmung als Grenze birgt in sich das Scheitern und aus diesem wiederum rührt die Möglichkeit, stets aufs Neue die Selbsterhellung der durch das Gleiten im Zuge drohenden Scheiterns umgebildeten Existenz einzuleiten: Was sich als labile Zeichen offenbart, löst das Rätsel nicht. Die Existenz als Möglichkeit und Aufgabe bleibt tragisch, aber nicht an und für sich pathologisch, höchstens in dem Sinne, dass fortwährend eine Dystonie zwischen ihrer Gegebenheit und ihrem Sich-selbst-Transzendieren entsteht.7 Die emotive Situation der Abhängigkeit und das Empfinden der Fragilität enthüllen eher die Undurchsichtigkeit einer nie völlig geklärten oder klärungsfähigen Fragestellung als die Durchsichtigkeit und Autonomie des Ichs. So gesehen besteht kein Bruch zwischen Einsamkeit und Kommunikation, zwischen Selbstgegebenheit in der Undurchsichtigkeit des Unvollendeten und dem Sich-dem-Anderen-Zuwenden, bei dem die Existenz selbst auf dem Spiel steht. Jedes Leben strebt, gegenüber der Welt, von Anfang an nach Orientierung, nach Begegnung mit dem Anderen im Rahmen einer Anschauung, die nicht über die perspektivische Grenze der Existenz hinausgehen kann. Jede Verabsolutierung trägt die beunruhigende Last der Unsicherheit in sich und schafft so lediglich die Illusion einer Stabilisierung, die den Strom des Lebens unterbricht und den Dialog mit sich selbst hemmt.8 Die Grenze der Perspektive sucht ihre Kompensation im einheitlichen Horizont, wird jedoch von dieser Grenze und dem Bedürfnis nach deren Überwindung gezeichnet. Jede Öffnung gegenüber der Welt schlägt sich in einer Weltanschauung nieder, die stets mehr als eine isolierte Perspektive und stets weniger als ein souveränes Wissen um die Welt ist. Jaspers unterscheidet hiervon jedoch sorgfältig die Krankheit als Leiden – ein nicht objektivierbarer Fakt –, die
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Dieses Thema übernimmt Jaspers von Kierkegaard, auf den sich der Autor in seinen theoretischen Schriften bezieht und dem er auch eine Reihe von Aufsätzen und Konferenzen widmet. Diesbezüglich sei in der gebotenen Kürze verwiesen auf Jean Wahl: Ein Beitrag zum Thema Jaspers und Kierkegaard, in Karl Jaspers in der Diskussion, op. cit. S. 430-435. Jede Weltanschauung neigt dazu, sich zum System zu verabsolutieren, um der Unruhe der Existenz zu begegnen, doch jede Verabsolutierung ist lediglich ein Gehäuse, hinter dem sich die Fülle des Geistes verbirgt, die für Jaspers nur in den «philosophischen Glauben» münden kann, vgl. Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen (Berlin: Springer, 1919) S. 327ff.
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jede Beziehung zur Welt verschließt und lediglich Spuren der Abhängigkeit vom Anderen produziert, allerdings in der Unfähigkeit, die Einsamkeit hinter sich zu lassen. Dort, wo das Ideal der Gegenseitigkeit an der Ohnmacht des Kranken zerbricht, kann lediglich die Kommunikation einen ständigen Strom zwischen dem emotiven Universum und der Selbstbeherrschung wieder aktivieren. Man könnte sagen, dass die Krankheit eine Grenzsituation im Sinne der Grenze der Situationalität der Existenz ist, denn die Wellen der Vergangenheit und die Wellen der Zukunft strömen, um ein Bild Kafkas zu verwenden, über- und ineinander. Dabei überfluten sie den Punkt, an dem die Gegenwart herausragt und Widerstand leistet, also den Punkt, der beide differenziert und deren Kraft zugleich neu gestaltet. Das Leiden an Physis und Psyche führt einerseits zu einer Zerfaserung und zum Versinken im subjektiven Kern, wodurch demjenigen, der sich der Störung auf therapeutischer Ebene nähert, lediglich ein endloses und diskontinuierliches Verstehen möglich ist. Andererseits ist die existentielle Dystonie eine Möglichkeit, die der menschlichen Existenz stets offen steht. Sie kann niemals völlig auf die Pathologie reduziert werden, denn zwischen einer spezifischen emotiven Grundstimmung und dem Symptom der geistigen Störung besteht kein Ursache-Wirkungs-Verhältnis. Es kommt nicht zu einer Fraktur oder Zäsur zwischen Pathologie und Normalität, sondern zu einer diesbezüglichen Distanzierung bzw. Blockierung: «Das Dasein verfinstert sich mir», es wird selbst «unheimlich».9 Wenn sich das Sich-selbst-unheimlich-Sein in Form einer Entfremdung stabilisiert, kann lediglich das empathisch intelligente Zuhören des Arztes versuchen, den Seelenschmerz zu heilen: Eine auf Differenzen bedachte und aufmerksam auf Symptome achtende Beziehung bemüht sich um die Neubelebung der Beziehung, in der sich die Welt und die Anderen in das persönliche Universum integrieren. Die Geisteskrankheit führt die unüberwindliche Asymmetrie der interpersonellen Beziehung an die äußerste Grenze, wo Dunkelheit den Konflikt ebenso unterbindet wie den Dialog, die Erfahrung des Unterschieds ebenso wie das Schöpfen aus dem Gemeinsamen. Weil sich die vielschichtige Komplexität einer jeden Individuation zu einer dumpfen inneren Tiefe verflachen zu scheint, bleiben Anamnese und symptomatologische Analyse problematisch und künstlich, zumindest solange, bis sich der Patient am Dialog zu beteiligen beginnt und kleine Einblicke in sein Innenleben gewährt. Das Aktivwerden und In-sich-selbst-heimisch-Werden heilt das Beziehungsgefüge mit der gemeinsamen Welt. Doch jeder im Dialog
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Karl Jaspers: Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung (Berlin: Springer, 41973) S. 56.
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erlangte Fortschritt ist nicht gleichbedeutend mit Lösung der Schwierigkeiten der Beziehung. Niemals überlagern können sich einerseits die Verantwortung, mit der der Arzt, im Bewusstsein der Unmöglichkeit eines vollen Verständnisses der mit der Störung verbundenen Situation, persönlich für den Anderen einsteht, andererseits die Schuld des De-lirierens, im Sinne des Überschreitens von Grenzen, das die Welt und das Andere stört und außer Gefecht setzt. Es bleibt ein Intervall bestehen, das jede Öffnung ungewiss und prekär macht. Innerhalb dieser Grenze entfällt der Drang des Individuums nicht, jenseits seiner selbst zu suchen und Nahrung für ein Transzendenzgefühl finden zu können, trotz aller Schwierigkeiten eines sicheren Hafens, der dem Leben Ressourcen für neue Möglichkeiten bietet.10 Gibt es keine Kontinuität, dann gibt es auch keine Fraktur in der conditio humana: In der Welt als dem gemeinsamen Raum, in dem plurale Subjekte interagieren, findet das Übermaß Nahrung und Ausdruck. In diesem Sinne bilden die geschichtliche Textur jeder Existenz jenseits der Bewusstseinsinhalte sowie die Kommunikation, in der Identität und vor allem Differenzen Gestalt annehmen, für Jaspers den Hintergrund und den Weg der Selbsterhellung der Existenz. Ein erneuter Zwischenraum, kein Übergang, in dem Einsamkeit und Dialog, Singularität und Gemeinschaft die Pfade des Menschlichen skizzieren, bei denen es um die Möglichkeit des Anders-Seins des gesunden wie des kranken Subjekts geht. Jaspers insistiert auf dem Intervall, wodurch sich der Mensch selbst zum Rätsel wird, in dem Maße, in dem jede Sinnspur die Gefahr der Niederlage oder des Scheiterns der Kommunikation in sich birgt, sowohl in der Asymmetrie des ständigen Konflikts als auch in der Leere der Niederlage. Dem end-losen Verstehen «als ob» wird in der empathischen Nähe und in dem intrinsischen, der Unvollendetheit der Existenz eigenen Freiraum das Zuhören des Arztes übertragen. Dieser weicht weder vor Verantwortung zurück, noch verzichtet er auf sein Tun, in dem Bewusstsein der Ungreifbarkeit der Freiheit als Chiffre der menschlichen Existenz. Einem Tier gleich, das an seinem übermäßigen und im Nietzsche’schen Sinne instabilen Sein krankt, schwankt der Mensch zwischen Egoismus und Öffnung zum Anderen.11 In dieser Kreuzung annulliert der Ausdruck nicht das Unsagbare, und sowohl das innere Zwiegespräch wie auch die Begegnung mit dem Anderen bleiben
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Ibid. S. 64ff. Vgl. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, III. Abh., 13. Hypoth., in ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (München: dtv, de Gruyter, 1999) S. 365-367.
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prekär und sporadisch. Strebt die Existenz nach Vollkommenheit, bleibt sie ein offenes Werk des Subjekts und überträgt diese Spur von Unvollendetheit in die Offenheit gegenüber dem Anderen. Nicht von ungefähr insistiert Jaspers auf der Schwierigkeit der Kommunikation, die dem Konflikt und der Verschiedenheit überlassen bleibt. Diese Schwierigkeit kann und muss durchlebt werden, wenngleich von dem intrinsisch prekären Charakter eines jeden Dialogs, geglückt oder nicht, auszugehen ist. Es fehlt also an Maß zwischen dem zu Nahen und dem zu Fernen, dem Einander-Überlagern und dem Sich-Unterstellen, das der menschlichen Instabilität zueigen ist und zur riskanten Unvollendetheit des Menschen führt, sowohl im Zusammen-Sein wie in der Einsamkeit. Zwischen dem Schweigen und dem Wort, zwischen Spannung und Anerkennung schwebt für Jaspers jeder Übergang im Intervall, das durch den Widerstand der Undurchsichtigkeit und des Unausgedrückten hervorgerufen wird. In ihrer maximalen Intensität ist die Grenzsituation Ausdruck der Nähe von Freiheitserfahrung und Bedrohung durch die Krankheit, ohne deshalb die Grenzlinie zwischen dem Leiden und dem kritischen Bewusstsein um die Grenzlinie des Menschlichen aufzuheben. Es gibt weder neutralisierende Diagnosen noch endgültige Therapien, doch ebenso wenig absolute Bedingungen der Sicherheit. Jedes Heil reift in der Erfahrung des Risikos, dem lediglich die Fähigkeit, die Transzendenz in voller Tragweite als Verantwortung gegenüber dem Anderen und der Welt zu erfahren, Sinn verleiht, doch keine Antworten geben kann.
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Binswanger ist wie Jaspers davon überzeugt, dass Krankheit nicht nur Fallen, Pathologie, Negation, das Andere bedeutet, sondern eine Möglichkeit und Ausnahme darstellt, die der conditio humana im problematischen SichÖffnen des Daseins zur Existenz innewohnt. Dem Kranken Gehör zu schenken, sich von der Phänomenologie der Krankheit leiten lassen, um zu ihrem signifikanten Kern zu gelangen, veranlasst Binswanger jedoch dazu, einen möglichen Übergang vom Verstehen «als ob» zum Interpretieren «als ob» zu finden.12 Durch die sorgfältige Fallanalyse, von Ellen West bis Susan
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Vgl. Ludwig Binswanger: Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse, in Imago 12 (1926), H. 2-3, S. 223-237, nun in ders.: Ausgewählte Werke, Bd. 3: Vorträge und Aufsätze, hg. von Max Herzog (Heidelberg: Asanger, 1994) S. 3-16: «Wir sehen aber deutlich, dass man es [das Deuten] auf Grund unserer Auffas-
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Urban, können verständliche Verbindungen zwischen den Bildern vor dem Hintergrund einer Sinndichte entdeckt werden. Darin erwacht das Innere aus seiner Latenz, vergegenwärtigt sich dem Individuum und produziert dabei differentielle Abweichungen in der Selbstwahrnehmung, die der Störung Gestalt und Maß verleihen. In der Jaspers’schen Perspektive kann das Verstehen nicht für sich beanspruchen, mehr als nur Fragmente zu erfassen, es sei denn, die in der Kommunikation ins Spiel gebrachte Bedeutung wird forciert. Denn weder die Empathie noch die sorgfältige Analyse noch das wechselseitige Vertrauen verleihen der intermittierenden Kommunikation wieder Kontinuität: Jeder dieser Modi ermöglicht die Inhalte des Dialogs, ohne sie jedoch absolut oder progressiv zu bestimmen. Binswanger geht dagegen davon aus, dass die Grenzen des unvollständigen Verstehens durch Interpretation überwunden werden. Wo das Verstehen intrinsisch der Zirkularität der Kommunikation überlassen bleibt, wagt die Interpretation einen weiteren Schritt in der Individuation von Sinnzusammenhang. «Der Akt des (psychologischen) Verstehens hat zum Gegenstand nicht ein reales Sein, wenn er auch auf Erfassensakte von solchem fundiert sein kann (und, soweit empirische Psychologie in Frage kommt, fundiert sein muß), sondern sein Korrelat ist ein Sinn oder Sinnzusammenhang, und zwar in Gestalt eines «verständlichen» Motivationszusammenhanges.»13 Außerhalb jeder absoluten diagnostischen Instanz verbindet die Interpretation das, was auf objektive Daten rückführbar ist, mit dem, was als Subtext der Kommunikation gegeben ist. Das schafft eine Sinnverflechtung, ohne eine Entsprechung oder Kontinuität zwischen beiden Momenten zu fordern. Jede Stille ist in ihrem Streben zum Wort beredt und jede Undurchsichtigkeit kann sich im Phantasmatischen befreien, das getrennte Welten miteinander in Verbindung bringt. Binswanger postuliert das unendliche Entstehen von Sinn, worin Arzt und Patient im gegenseitigen Dialog stehen, in dem gemeinsam «ein «sinnvoller Motivationszusammenhang» hergestellt» wird.14 Der Raum der Arzt-Patienten-Beziehung ist der Schauplatz eines nicht singulär Imaginären, das die wechselseitige Disposition der Subjekte dieser Beziehung besetzt und zugleich lenkt: Das «Als
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sung nicht bezeichnen kann als ein ‹Als-ob-Verstehen› (JASPERS)». Zu diesem Thema siehe auch Michel Foucault: Introduction à L. Binswanger, Le rêve et l’existence, frz. Übers. (Paris: Desclée de Brouwer, 1954), nun in ders.: Dits et écrits (Paris: Gallimard, 1994), Bd. I, S. 65-119. Binswanger: Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse, op. cit. S. 8. Ibid. S. 13.
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ob» markiert den Abstand zwischen objektiv und nachweisbar. Nicht jede Interpretation kann für sich beanspruchen, zu einer Bestimmung zu finden; vielmehr skizziert sie einen signifikanten Horizont einer Gesamtheit in fieri. Die Sinnspur stellt sich als zwischen Vergangenheit und Zukunft gespanntes Seil dar; das Feuer der Gegenwart verursacht Schwingungen, sowohl in den Modulationen des Pathologischen wie des Normalen. Hintergrund des Ausdrucks dieser Variationen ist die gemeinsame Welt, in der das Dasein in der Existenz zur vollen Sinnwerdung gelangt. Die Pathologie ist gewissermaßen die Fortführung des Traumzustandes: ein Sich-der-gemeinsamenWelt-Entziehen, wodurch Verbindung und Kontinuität des Mit-Anderen-inder-Welt-Seins durchtrennt werden. Dies geschieht dort, wo das Transzendieren entlang einer vertikalen Linie ins Wanken gerät, die die horizontale Bewegung des Lebens stützen und lenken oder andernfalls zu einer Entwurzelung führen kann, entweder durch eine aufsteigende oder eine abfallende Bewegung. Über Leben und Tod entscheidet in der conditio humana entweder die Öffnung für das Projekt, das dem biologischen Werden Sinn verleiht, die weltliche und interpersonelle Dimension, oder aber die Implosion, die den Tod vorwegnimmt, in dem die Existenz als Möglichkeit erlischt.15 Im gleichförmigen Strom der Zeit beansprucht das Individuum am Schnittpunkt von Erinnerung und Ausrichtung auf die Zukunft seinen eigenen Raum: ein differenziertes, bewegliches Terrain, das sich der Vergegenwärtigung wie dem Verlust jeder Existenz gleichermaßen öffnet. Denn «unsere Existenz geht stets in bestimmten Bedeutungsrichtungen auf, wie z. B. des Steigens oder Fallens, des Schwebens oder Springens, des Weitoder Engwerdens, des Voll- oder Leer-, Hell- oder Dunkel-, Weich- oder Hart-, Warm- oder Kaltwerdens usw.».16 Die Modulierungen der sprachlichen Ausdrücke beruhen «auf einer einheitlich lebendigen Form», die umso differenzierter ausfällt, je mehr sich das Dasein entlang der aufsteigenden oder regressiven Linie ausdehnt. Dies gilt umso weniger, wenn dieses in einem isolierten Universum implodiert und schließlich zum expressiven wort-losen Körper wird. Auf diese Sprache, die Wörter formt und noch vor dem Menschen selbst spricht, in der «in den tiefsten Gründen unserer Existenz»
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Ludwig Binswanger: Der Fall Ellen West. Eine anthropologische Studie, in Schweiz. Arch. Neurol. Psychiat. 53, 54, 55 (1944-1945), nun in ders.: Ausgewählte Werke, Bd. 4: Der Mensch in der Psychiatrie, hg. von Alice Holzhey-Kunz (Heidelberg: Asanger, 1994) S. 73-209. Ludwig Binswanger: Über Psychotherapie, in Der Nervenarzt 8 (1935), nun in ders.: Ausgewählte Werke, Bd. 3, op. cit. S. 205-230, hier: S. 220.
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liegenden Ähnlichkeit, «da wo lebend-geistige Form und lebend-geistiger Inhalt noch ungeschieden des Blitzes harren, der sie zündend spaltet».17 Leben und Form, Spannung und Maß gründen auf hybridem Terrain, das für das Bewusstsein nie vollends transparent ist. In ihm folgen Abstürze und Aufstiege aufeinander, und nur die unvermittelte Kraft des Blitzes kann eine Klärung herbeiführen, indem sie eine besondere Form von Leben zum Ausdruck bringt. Die Dichte der Intentionalität, die die Verschließung und Öffnung steuert, nimmt im Bild vom Fallen und Wiederaufstehen Gestalt an. Darin ist nicht die Bedeutung des Ausdrucks entscheidend, sondern das Nicht-Gesagte, das zu einem indirekten Diskurs führt, an der Grenze zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Immanenz und Transzendenz. All dies ist für Binswanger das Werk des Geistes, gleich einem Plexus aus Querverweisen zwischen sich und dem Anderen, zwischen Licht und Schatten, zwischen Nach-etwas-Streben und Versinken: Nährboden des gemeinsamen Universums, in dem Interpretation Anregung erfährt. Im Bruch zwischen Präsenz und Abwesenheit nimmt die Vorstellungswelt Gestalt an und verlagert dabei fortwährend den Sinn des Bildes für die Interpretation. In diesem Raum gestaltet das schwingende Seil dem stattfindenden Austausch innewohnende, nicht objektivierte und nicht objektivierbare Sinnmöglichkeiten, jenseits des Bewusstseins der Dialogierenden, innerhalb eines Grenzgebietes.18 Die Grenzerfahrung, die Diskontinuität von Schatten und Licht, von Zurückweichen und Nach-etwas-Streben ist für Binswanger das Werk des Geistes. Für Jaspers dagegen bleibt die Grenze unüberschreitbar als Grenze jeglicher Ganzheit, in der lediglich die Vertrautheit mit sich selbst für die Kommunikation oder die bedeutungsvolle Stille öffnet. Im Jaspers’schen
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Ludwig Binswanger: Traum und Existenz, in ders.: Ausgewählte Werke, Bd. 3, op. cit. S. 95-119, hier: S. 95. Binswanger bezieht sich auf das «innerste Wesen» des vorab zitierten «dichterischen Gleichnisses», d. h. auf den tieferen Sinn der Redewendung «aus allen Himmeln fallen». Weder die Logik noch die Rhetorik erfassen voll und ganz den Sinn der Metapher, die «in den tiefsten Gründen unserer Existenz» angesiedelt ist. Binswanger legt hier mit Nachdruck die interessante, aber auch klärungsbedürftige Idee nahe, dass ein Jeder von uns so spricht, wie er ist, d. h. noch immer gemäß der Tiefe, in der er in den unaufhörlichen Fluss (oder wahrscheinlich in den unendlichen Ozean) des bereits Gesagten eingetaucht ist. Vgl. Ludwig Binswanger: Drei Formen mißglückten Daseins: Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit (Tübingen: Niemeyer, 1956), heute in ders.: Ausgewählte Werke, Bd. 1: Formen mißglückten Daseins, hg. von Max Herzog (Heidelberg: Asanger, 1994) S. 233-418.
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Denken bezieht sich die Unüberschreitbarkeit auf die Grenze selbst, aus der die Übernahme von Verantwortung hervorgeht, «als Entscheidung, Entschluß, Bewährung, Treue».19 Die Verantwortung kann nicht umhin, im eigenen Namen auf die Fragestellung der Existenz zu antworten und dabei die Aufgabe zu übernehmen, zuhörend zu lenken, damit sich im Intervall nicht der Abgrund der Verzweiflung öffne. Das Pathologische markiert das Gleiten von der Grenzsituation zur absoluten Grenze. Hier setzt das Sorge-Tragen im Bewusstsein um die Last und den Widerstand der Verschlossenheit an, und zwar durch die moralische Kraft der Entscheidung und des Entschlusses. Die Grenze bremst und hemmt nicht nur, sondern schützt und behütet auch, wodurch sie die Menschlichkeit des Menschen umreißt. Vor diesem Horizont gestattet die Nähe zwischen Lebensfluss und individueller Form jeder Existenz keine Überschreitungen, es sei denn in der Öffnung zum Unendlichen hin. Für Binswanger besteht zwischen Krankheit und Normalität dieselbe Nähe, die auch in den verschiedenen Formen der Pathologie präsent ist: Die Modulationen stellen Ausdrücke wie auch Implosionen des Menschlichen dar. Nicht die Fraktur des Intervalls, sondern die Dehnung des gespannten Seils mit seinen auf- und absteigenden Bewegungen führt die Interpretation in den gemeinsamen Raum zwischen pathos und logos. Für Binswanger bleibt das Für-jemanden-Sorge-Tragen der Kontinuität des Dialogs überlassen und erfolgt im gemeinsamen Sinnraum, in dem das Imaginäre, der erzählerische Abstand, der Subtext oder Extratext in der Phänomenologie des Menschlichen interagieren.20 In der ethischen Inspiration Jaspers’ wie in der Interpretation Binswangers gibt es wiederkehrende Bilder: Orientierungslosigkeit, nah und fern, vertraut und fremd. Sie stehen für das Streben nach Stabilisierung der Existenz als Öffnung und Ereignis, nicht nur im Sinne der Ursprünglichkeit und Möglichkeit, sondern auch im Sinne des Ausgesetztseins und der Unbestimmtheit, die die Existenz aus der Balance bringt und mit dem fortwährenden Risiko der Ohnmacht konfrontiert. Manie und Melancholie bis hin zur Schizophrenie als Verlust der einheitlichen Erfahrungsgrundlage stellen daher sowohl für Jaspers als auch für Binswanger nicht nur Diagnose und Pathologie dar, sondern bergen auch ein kreatives Potential: mögliche Dystonien, in denen der Verlust des Horizonts als Grenze oder Limit zum Ausdruck kommt, innerhalb deren sich das menschliche Leben zwischen Vergangenheit und Zukunft öffnen kann. 19 20
Jaspers: Philosophie, Bd. III, op. cit. S. 218. Vgl. Foucault: Introduction à L. Binswanger, Le rêve et l’existence, op. cit.
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Letztendlich durchdenken die beiden Autoren trotz ihrer unterschiedlichen Perspektiven die Beziehung zwischen Vernunft und Wahnsinn jenseits aller objektivierenden Verfahren neu. Dabei bringen sie Kompetenzen und Kenntnisse ein, mit einem aufmerksamen Blick für Weltanschauungen, emotive Grundstimmungen und Dispositionen, die jedes Mal einen für das Tun des Menschen offenen Bedeutungshorizont abstecken. Dies impliziert natürlich keine Koinzidenz, sondern vielmehr eine Nähe, die den Kranken aus der Dimension des absolut Anderen, des Negativen, Unzugänglichen und Ausgrenzbaren zurückholt. Die Pathologie als verfehlte Existenz legt Zeugnis von der unter dem Schock der Kontingenz erlebten conditio humana des Geworfenseins ab. Dabei bleibt das Sich-der-Welt-Öffnen und das SichÖffnen einer Welt stets der Möglichkeit überlassen, dass das individuelle Leben in einem gemeinsamen Raum Gestalt annimmt. Die Geschichte eines jeden kann, im Wohlbefinden wie in der Störung, ausschließlich von ihrem Subjekt erzählt und geschrieben werden, vom Interpretierenden, der von sich erzählt und sich durch den Anderen vergegenwärtigt, in der Nähe und auf die Distanz, durch das Ausgesprochene und das Unausgesprochene, in jedem Augenblick einer stets offenen Begebenheit auf interpersonellem Schauplatz. Das Streben zur Kommunikation hebt das Intervall nicht auf, und noch weniger stabilisiert es die Schwingung des gespannten Seils. Das Verstehen und Interpretieren bleibt mit einem «Als ob» behaftet, wodurch die Tragweite der Kommunikation nicht gemindert wird. Vielmehr führt es diese auf die Unmöglichkeit zurück, das Unsagbare im Sagbaren aufzulösen, das Selbst im Anderen, das Werden in der Ewigkeit, den Unterschied in der Identität. Nur in diesem Rahmen ist die Zentralität des Querverweises zwischen idios kosmos und koinòs kosmos verständlich, in dessen Rahmen die räumlichen und zeitlichen Dimensionen in der Daseinsanalyse die Gestalt einer gemeinsamen, partizipierten Welt annehmen. Jaspers besteht, vielleicht auch vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung mit Einsamkeit und Krankheit, auf der Schwierigkeit des Querverweises, die allein durch einen philosophischen Glauben erträglich ist. Im philosophischen Glauben hallt der antike Diskurs des Sokrates über die Liebe wider, die sich zu Philo-sophie verklärt. Dies geschieht allerdings in der pathischen und ethischen Nuance, suggeriert von der Distanz, die die moderne Vernunft zwischen Göttlichem und Menschlichem, Erkenntnis und Wahrheit, Individuum und Gemeinschaft schafft. Übersetzung: Brigitte Stanglmeier
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Studia philosophica 67/2008
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Von Max Webers Gehäuse-Metapher zum Gehäuse-Begriff bei Karl Jaspers Although the term Gehäuse is central to Karl Jaspers’s philosophy in his 1919 Psychology of World Views (Psychologie der Weltanschauungen), closer analysis shows that his exposition in this context can be seen as an important step in the development of his existential philosophy. The article starts with a consideration of the term Gehäuse in Max Weber’s concept of rationalism. Even though Weber’s thoughts influenced Jaspers, he used the term in a broader sense to describe the anthropological fact that we as humans are always tied to a certain view of the world. Three different types of Gehäuse can be distinguished in the Psychology of World Views, set apart form each other by the ways in which the individual acquires them, namely the ‹naive›, the ‹dead› and the ‹living› Gehäuse. These different types do not only connect Jaspers’s early work to the background of philosophy of life (Lebensphilosophie). They can also be seen as the origin of a key schema in his existential philosophy, based on the relation between absolutization (Verabsolutierung), foundering (Scheitern) and realisation of true selfhood (Existenzverwirklichung).
Zwar nimmt der Begriff des ‹Gehäuses› in der Philosophie von Karl Jaspers nur in der Psychologie der Weltanschauungen (1919) einen zentralen Stellenwert ein, eine nähere Analyse macht jedoch deutlich, dass sich in der dortigen Auseinandersetzung mit den Gehäusen schon entscheidende Teile seiner späteren Existenzphilosophie ankündigen. Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen bildet die Verwendung der Metapher des ‹Gehäuses› im Rahmen der Rationalismusthese von Max Weber, die Jaspers sichtlich beeinflusst hat. Wie in den weiteren Ausführungen gezeigt wird, verwendet Jaspers den ‹Gehäuse›-Begriff jedoch in einem weiteren Sinn, da er damit eine anthropologische Grundkonstante bezeichnet, indem er ihn mit dem Begriff des ‹Weltbildes› in Verbindung setzt. Es lassen sich dabei drei Gehäusetypen bei Jaspers unterscheiden, die sich aus der jeweils verschiedenen Art ihrer Aneignung durch das Individuum ergeben, und zwar die ‹naiven›, ‹toten› und ‹lebendigen› Gehäuse. Die damit in Zusammenhang stehenden Ausführungen über das Zusammenspiel zwischen dem Halt im Begrenzten,
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dem Skeptizismus und Nihilismus, sowie dem Halt im Unendlichen stellen eine wichtige Verbindung zu lebensphilosophischen Strömungen dieser Zeit dar. Zugleich zeigt sich darin der Ursprung eines für die Jaspers’sche Existenzphilosophie grundlegenden dreiteiligen Schemas, bestehend aus Verabsolutierung, Scheitern und Existenzverwirklichung.
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1. Die Metapher des ‹Gehäuses› bei Max Weber Wie eng der Begriff des ‹Gehäuses› mit Karl Jaspers verbunden ist, zeigt der Umstand, dass der Eintrag dazu im Historischen Wörterbuch der Philosophie von niemand anderen als Hans Saner verfasst wurde. Saner bezieht sich darin auf die Verwendung des ‹Gehäuse›-Begriffs in Jaspers’ ‹Jugendwerk›, die Psychologie der Weltanschauungen.1 Dies ist nahe liegend, nimmt der ‹Gehäuse›-Begriff bei Jaspers nur hier einen zentralen Stellenwert ein. Betrachtet man die Zeit der Entstehung dieses Buches, zeigt sich in dieser Periode von Jaspers’ Denken der große Einfluss von Max Weber, der den Begriff des ‹Gehäuses› zu seiner Zeit wie wohl kein anderer geprägt hat.2 So ist die Weber’sche Religionssoziologie die einzige zeitgenössische Quelle, die Jaspers in diesem Werk zitiert, und auch die Methodologie ist an Weber angelehnt.3 Es soll deshalb im Folgenden auf die Verwendung der Metapher des ‹Gehäuses› bei Weber eingegangen werden, um so den Kontext zu verdeutlichen, in dem Jaspers’ eigene ‹Gehäuse›-Konzeption steht. Im erstmals 1904 und 1905 erschienen Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus arbeitet Weber die Prägung der Alltagspraxis des Kapitalismus als methodisch-rationale Lebensführung durch die Verweltlichung des religiösen Ethos des Protestantismus heraus. Als grundlegend für dieses Ethos sieht Weber die von Calvin verfasste Prädestinationslehre. Dieser zur Folge ist der Gnadenstand des Individuums durch Gottes unerforschlichen Ratschluss determiniert, was mit der Rationalisierung einer asketischen Lebensführung verbunden ist, um Selbstgewissheit über die ei-
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Vgl. Hans Saner: Art. ‹Gehäuse›, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter u. a., Bd. 3 (Basel: Schwabe, 1974) Sp. 145. Vgl. Dieter Henrich: Denken im Blick auf Max Weber. Eine Einführung, in Karl Jaspers: Max Weber. Gesammelte Schriften (München: Piper, 1988) S. 8f. Vgl. ibid. S. 13-16, sowie Karl Jaspers: Philosophische Autobiographie (München: Piper, erw. Neuausgabe 1977) S. 34.
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gene Auserwähltheit zu erlangen.4 Das Ethos führt nicht nur zu einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Gott und Mensch, sondern auch zu einer ‹Entzauberung› der Welt. Wolfgang Schluchter schreibt hierzu: Nicht nur die religiöse, auch die ‹weltliche› Gefühlskultur erodiert unter dem religiösen Postulat. Denn die Beziehung des Gläubigen zur ‹Welt› sind in erster Linie von der Gefahr überschattet: von der Gefahr der Kreaturvergötterung. Ihr vermag nur zu entgehen, wer sich in seiner Beziehung auch zur ‹Welt› zur Sachlichkeit und Distanz durchringt. Der religiösen Vereinsamung entspricht die ‹weltliche›.5
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Zugleich zwingt die religiös entwertete Welt im Versuch ihrer Beherrschung zur Anerkennung ihrer eigenen Gesetze und führt damit auf Dauer zu einer Entwertung oder, wie Jaspers schreibt, zur ‹Entleerung›6 des religiösen Postulats.7 Gegenüber den transzendenten auf das Seelenheil bezogenen Erwartungen treten immer mehr die immanenten Erwartungen, die vor allem mit Erfolgsinteressen rechnen, in den Vordergrund.8 Im Verlauf der Säkularisierung wird «das Streben nach dem Königreich Gottes durch die utilitaristische Arbeitsamkeit und Geschäftigkeit ersetzt» und es entsteht «eine spezifisch bürgerliche Wirtschaftsethik».9 Auf diese Weise hat die innerweltliche, um die Arbeit zentrierte, ursprünglich religiös motivierte asketische Haltung nach Darstellung Webers wesentlich dazu beigetragen, ein ‹stahlhartes Gehäuse› in Form der modernen kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensordnung zu schaffen.10 Weber sieht darin die Folge intellektueller, technischer und sozio-ökonomischer
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Vgl. Reinhard Bendix: Max Weber. Das Werk (München: Piper, 1964) S. 52f. Vgl. Wolfgang Schluchter: Rationalismus der Weltbeherrschung. Studie zu Max Weber (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980) S. 28. Karl Jaspers: Max Weber. Gesammelte Schriften (München: Piper, 1988) S. 45. Über die Fortführung der religiösen Entzauberung durch Wissenschaft, Wirtschaft und Politik und die differenzierte Verwendung des Rationalismus-Begriffs und seine Bedeutung für Webers Werk siehe auch die Ausführungen von Friedrich Tenbruck: Das Werk Max Webers, in Das Werk Max Webers. Gesammelte Aufsätze zu Max Weber, hg. von Harald Homann (Tübingen: Mohr, 1999) S. 66-71. Vgl. Schluchter: Rationalismus der Weltbeherrschung, S. 30f. Bendix: Max Weber, op. cit. S. 57. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I (Tübingen: Mohr, 91988) S. 203. Jaspers spricht in diesem Zusammenhang von einer übriggebliebenen Hülse, aus der die Substanz des Ursprungs verschwunden ist. Vgl. Jaspers: Max Weber, op. cit. S. 80.
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Rationalisierungsprozesse.11 Die Rationalisierung ist dabei bestimmt durch die Zweck-Mittel-Optimierung in allen Gesellschafts- und Lebensbereichen. Sie führt zwar zu Leistungssteigerung, wirtschaftlicher Rentabilität, politischer Steuerungskapazität, technischer Verfügbarkeit sowie zur Erhöhung des Wohlstandes und stellt damit auch die Grundlage der Daseinsvorsorge der Massen dar. Zugleich sind mit ihr jedoch auch negative Folgen verbunden, wie die unentrinnbare Macht von äußeren Gütern, die einseitige Definition des Menschen durch seine berufliche Stellung und dysfunktionale Formen der Disziplinierung. Weber verweist vor allem auf den Zwang einer ausufernden Bürokratie, die er als ein ‹Gehäuse der Hörigkeit› bezeichnet.12 Er konstatiert das Vordringen bürokratischer Herrschaftsformen in alle Lebensbereiche aufgrund ihrer technischen Überlegenheit gegenüber allen anderen Formen der Organisation. Dabei geht diese technische Überlegenheit Hand in Hand mit der Entmenschlichung, ist eines der Merkmale der Bürokratie infolge der Ausschaltung aller emotionalen Elemente und der persönlichen Anteilnahme bei der Führung der Amtsgeschäfte.13 Eine solche Entmenschlichung findet sich auch in der Gestalt der formalen Rationalität des Wirtschaftens im Sinne der rationalen Kapitalrechnung, «in die der Mensch und seine ‹Zwecke› nur als variable Größe in der Kalkulierung von Erwerbs- und Profitchancen eingeht.»14 Bei den Rationalisierungsphänomenen geht es um die Beherrschung von Abläufen, Materie, Gütern und letztlich auch um die Beherrschung des Menschen selbst. An einem bestimmten Entwicklungspunkt werden die Institutionen der kapitalistischen Kultur zum Selbstzweck und beginnen nicht nur zu erstarren, sondern den Menschen selbst zu beherrschen. Es kommt zu einer Verkehrung von Mittel und Zweck. Karl Löwith hat diesen Gedanken Webers folgendermaßen beschrieben:
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Die Verkehrung kennzeichnet die gesamte moderne Kultur, deren Einrichtungen, Institutionen und Betriebe so ‹rationalisiert› sind, dass sie es nun sind, welche 30
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Michael Sukale: Max Weber – Leidenschaft und Disziplin. Leben, Werk und Zeitgenossen (Tübingen: Mohr 2002) S. XIV. Max Weber: Gesammelte Politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann (Tübingen: Mohr, 51988) S. 332. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann (Tübingen: Mohr, 51980) S. 835-837. Herbert Marcuse: Industrialisierung und Kapitalismus, in Max Weber. Sein Werk und seine Wirkung, hg. von Dirk Käsler (München: Nymphenburger Verlagshandlung, 1972) S. 75.
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den Menschen, der sich darin eingerichtet hat, ihrerseits wie ein starres Gehäuse umschließen und bestimmen. Das menschliche Verhalten, aus dem diese Einrichtungen ursprünglich entspringen, muß sich nun seinerseits nach dem richten und verhalten, was ihm selbst im wörtlichen Sinn ent-sprungen ist.15 5
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Schon bei Weber zeigt sich damit die paradoxe Grundstruktur der modernen Rationalisierungsprozesse. Einerseits führen diese zur Entfaltung neuer, bisher nicht vorhandener Möglichkeiten etwa in der Technik, aber auch der sozialen Organisation und Wirtschaftsführung, andererseits schlagen sie um in die Fesseln, die die freie Entfaltung des Menschen verhindern und zu seiner Beherrschung führen.16 Eine Beherrschung, die nicht nur als Unterdrückung von außen zu verstehen ist, sondern auch mit einer Veränderung des Menschen von innen einhergeht. So kann Weber zur Folge die Entwicklung zu einer mechanisierten Versteinerung führen. Er schreibt über diese düsteren Aussichten: «Dann allerdings könnte für die ‹letzten Menschen› dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: ‹Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.›»17 Mit diesem Verweis auf den ‹letzten Menschen› stellt Weber eine Verbindung zur Vorrede von Nietzsches Zarathustra her. Diese Anlehnung an die Lebensphilosophie ist nicht zufällig, zeigt sich doch in Webers Ausführung über die Erstarrung des einst lebendigen protestantischen Ethos zu einem ‹stahlharten Gehäuse› ein wichtiges Element lebensphilosophischer Auffassungen, auf das weiter unten noch eingegangen werden wird. Weiters wird hier deutlich, dass sich mit der Metapher des ‹Gehäuses› bei Weber eine Kritik an der Einschränkung der menschlichen Selbstverwirklichung verbindet, eine Kritik die von unterschiedlichen philosophischen Strömungen aufgenommen wurde. So lassen sich etwa seine Aussagen nicht nur mit der Zivilisationslehre Spenglers, der Theorie vom ‹vierten Menschen› bei Alfred Weber oder der Rationalitätskonzeption Karl Mannheims in Verbindung bringen, sondern auch mit der neomarxistischen Verdinglichungsund Entfremdungsthese. Vor allem in der Kritischen Theorie finden sich ähn-
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Karl Löwith: Gesammelte Abhandlungen zur Kritik der geschichtlichen Existenz (Stuttgart: Kohlhammer, 1960) S. 25. Siehe hierzu auch die Ausführungen von Wolfgang Schluchter, der diese Gespaltenheit der Beurteilung der Rationalität der modernen Gesellschaft an Gedanken von Talcott Parsons und Marcuse fest macht, die sich beide auf die Positions Max Webers beziehen. Vgl. Schluchter: Rationalismus der Weltbeherrschung, op. cit. S. 9. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, op. cit. S. 204.
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liche rationalisierungskritische Argumente, wenn es etwa um die Kritik an einer ‹technologischen Rationalität› bzw. ‹instrumentellen Vernunft› geht.18 So bezeichnet etwa Gertraud Korf aus einer neomarxistischen Perspektive den ‹eindimensionalen Menschen› Marcuses als Verkörperung des von Max Weber prophetisch vorweggenommenen, an das ‹Gehäuse der Hörigkeit› geschmiedeten Individuums.19
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2. Die Gehäuse als anthropologische Grundkonstanten 10
Auch Karl Jaspers greift in der Psychologie der Weltanschauungen auf den Begriff des ‹Gehäuses› zurück, geht damit jedoch nicht in Richtung einer konkreten Kulturkritik, sondern bezieht ihn auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen der menschlichen Suche nach Halt über die zeitlichen und kulturellen Grenzen hinweg. Er verwendet den Begriff des ‹Gehäuses› in einem weiteren Sinn als Weber und die meisten seiner Nachfolger. So stehen zwar die Gehäuse bei Jaspers ähnlich wie die Rationalisierungsprozesse bei Weber im Spannungsverhältnis zwischen Ermöglichung und Einschränkung, zwischen Notwendigkeit und Freiheit, zwischen den Bedürfnissen von Berechenbarkeit, Sicherheit und Orientierung auf der einen und dem Drang nach Selbstverwirklichung und aufgeklärter Selbstrelativierung auf der anderen Seite. Jedoch befreit Jaspers dieses Spannungsverhältnis aus der bei Weber vorfindbaren historischen Kontextualisierung und verlagert die Verwendung des ‹Gehäuse›-Begriffs auf die psychologisch-anthropologische Ebene. Er bezieht sich damit nämlich auf Phänomene, die eine unhintergehbare Rolle im menschlichen Leben spielen. Das heißt mit dem Terminus des ‹Gehäuses› wird nicht eine konkrete historisch gewordene Lebensform ins Blickfeld gerückt, sondern eine anthropologische Grundkonstante. Für Jaspers lebt der Mensch nicht nur ständig in Gehäusen, sondern er vermag nur in Gehäusen zu leben. Das menschliche Leben ist notwendig an die Existenz von Gehäusen gebunden.20 Jaspers setzt den Begriff des ‹Gehäuses› in der Psychologie der Weltanschauungen mit jenem des ‹Weltbildes› in Beziehung und nimmt dabei teilweise eine funktionalistische Perspektive ein. Die Weltbilder dienen zur
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Vgl. Kurt Salamun: Jaspers (Würzburg: Könighausen & Neumann, 2006) S. 22. Gertraud Korf: Ausbruch aus dem ‹Gehäuse der Hörigkeit›. Kritik der Kulturtheorien Max Webers und Herbert Marcuses (Berlin: Akademie, 1971) S. 26. Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen (München: Piper, 61971) S. 141.
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Reduktion von Komplexität und ermöglichen dadurch erst die sinnvolle Auslegung der Wirklichkeit. Das heißt der Mensch erschafft sich in Form eines Weltbildes ein Gehäuse, das ihm im Denken und Handeln eine gewisse Sicherheit verleiht und aus dessen Perspektive er die Wirklichkeit interpretieren kann. Unter einem Weltbild versteht Jaspers die Gesamtheit der gegenständlichen Inhalte, die ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt hat. Die Weltbilder setzen sich, wie Oliver Immel in seinem aufschlussreichen Artikel Vom Denken im ‹Gehäuse› ausführt, wie «ein Puzzle, aus zahlreichen Elementen geistiger Verfestigung zusammen, das sowohl subjektive als auch kollektivkulturelle Elemente vereint.»21 Weltbilder sind immer subjektiv, da sie in ihrer je spezifischen Form nur einem Menschen zukommen. Sie bilden kein fremdes Gegenüber, sondern sind mit dem Menschen verwachsen. Sie sind mit seiner Persönlichkeit verknüpft und bilden einen bedeutenden Teil seiner Identität, ohne diese allerdings ein für allemal festzulegen. Zugleich gibt es Überschneidungen zwischen den Weltbildern der Menschen in den jeweiligen Gemeinschaften, da die Weltbilder der anderen durch die soziale und kommunikative Vernetzung auf das einzelne Individuum zurückwirken. Die in einer Gemeinschaft vorhandenen Weltbilder sind konstitutiv für das Weltbild jedes Individuums. Je mehr Homogenität in einer Gemeinschaft in Bezug auf die Weltbilder herrscht und je weniger Kontakt zu Menschen mit anderen Weltbildern besteht, desto weniger werden die eigenen Weltbilder als solche erkannt. Gerade dieses Nichterkennen führt zu einer Immunisierung der Weltbilder, denn die Menschen halten den äußersten Horizont ihres Weltbildes ganz unwillkürlich für einen absoluten. Jaspers schreibt hierzu: Unser Weltbild ist uns immer irgendwo und irgendwie letzthin selbstverständlich. Und mögen wir auch noch soviel Einzelnes als relativ erkennen, wir leben doch mit dieser Selbstverständlichkeit schließlich irgendwie in einem Gehäuse, aus dem wir nicht hinausspringen können. Unwillkürlich setzen wir den Teil der Welt, den gerade wir als Weltbild besitzen, für das Ganze. Wohl vermögen wir über unser erlebtes Weltbild mit dem Wissen hinauszudringen aber dann macht uns auch unser Wissen unwiderstehlich vorurteilsvoll: Was darüber hinaus liegt, das sehen wir nicht, weil wir es nicht einmal ahnen.22
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Oliver Immel: Vom Denken im ‹Gehäuse›. Zum Verhältnis von Individuum und Kultur bei Heidegger und Jaspers, in Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität, hg. von Hans-Martin Gerlach, Andreas Hütig und Oliver Immel (Frankfurt a. M.: Lang, 2004) S. 110. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 141f.
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Eingefangen in unser Weltbild sehen wir die Welt demnach immer mehr oder weniger wie durch eine Brille, deren wir uns meist gar nicht bewusst sind. Unser Weltbild hat immer nur den Charakter einer relativen Perspektive, mit deren Hilfe wir die Welt auslegen.23 Auch ist es uns nicht möglich, das ganze Weltbild, das uns potentiell zur Verfügung steht, vollständig ins Bewusstsein zu holen. Vielmehr beziehen wir uns bewusst immer nur auf einen kleinen Ausschnitt. Weiters ist unser Weltbild nicht statisch, sondern immer in Veränderung begriffen und niemals abgeschlossen. Durch Erfahrungen verändert sich unser Bild der Welt, auch wenn eine gewisse Stabilität durch Mechanismen wie die Immunisierung gegenüber Kritik oder die selektive Wahrnehmung von Informationen erreicht wird. Das menschliche Erkenntnisvermögen wird bei Jaspers damit als subjektiv, partikular, perspektivisch, pluralistisch, dynamisch und prinzipiell unabgeschlossen interpretiert. Man kann daher von einem relativierenden Charakterzug in Jaspers’ Konzeption der menschlichen Erkenntnis sprechen.24
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3. Von den ‹naiven› Gehäusen und ihrer Auflösung Die Veränderbarkeit und Pluralität von Weltbildern verweist auf die Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen Formen von Gehäusen zu differenzieren. Eine solche Differenzierung erfolgt im Rahmen der Ausführungen der Psychologie der Weltanschauungen auf unterschiedliche Weise. So lässt sich etwa auf die Unterscheidung zwischen Autoritarismus, Wertabsolutismus und Liberalismus verweisen, je nachdem, ob sich der Menschen an der Überlieferung und dem Hergebrachten, an den gesetzten Werten oder an seiner Individualität orientiert.25 Ich möchte hier jedoch eine andere Form der Differenzierung entwickeln, die sich auf das Verhältnis zwischen Gehäuse und Individuum, genauer gesagt auf die Form der Aneignung der Weltbilder durch den Menschen bezieht. Als ursprünglichste Form nennt Jaspers die ‹naiven› Gehäuse. In ihnen herrscht eine enge Beziehung zwischen Mensch und Weltbildern, da diese hier noch unmittelbar und selbstverständlich sind. Sie sind noch nicht abgeschlossen, sondern befinden sich im lebendigen Wachstum, 23 24
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Vgl. Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie (München: Piper, 201996) S. 61. Vgl. Tom Rockmore: Jaspers, Weltanschauung, and the Idea of Philosophy, in Karl Jaspers, On Philosophy of History and History of Philosophy, ed. by Joseph W. Koterski and Raymond J. Langley (Amherst: Humanity Press, 2003) S. 289f. Vgl. Saner: Art. ‹Gehäuse›, op. cit. Sp. 145.
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ohne dass dies jedoch erkannt wird. Auf einer kulturhistorischen Ebene tritt der naive Gehäusetyp in Form der Gebundenheit an sichtbare und fühlbare Autoritäten in primitiven Entwicklungsstadien von Kulturen zu Tage. Die bestehenden Sitten, Gebräuche, Institutionen und Herrschaftsstrukturen werden im Sinne eines ‹naiven Monismus› als von Natur aus gegeben und unabänderlich angenommen.26 Die Gehäuse erweisen sich auf dieser Stufe der kulturellen Entwicklung als stabiler, unproblematischer Rahmen für die gesamte geistige Lebendigkeit des Menschen. Sie lassen sich demnach als primär durch Sozialisation und Enkulturation geprägte Weltbilder verstehen, denen sich der Mensch unreflektiert anschließt. Jaspers spricht in einem anderen Zusammenhang auch von einem Zustand der ‹Fraglosigkeit›, in dem sich der Mensch in der Selbstverständlichkeit der Welt als einer bestehenden Ordnung findet, in der er sich geborgen weiß.27 Wie Jaspers in späteren Werken ausführt, ist ein Leben in einer solchen Fraglosigkeit den frühen Epochen der menschlichen Kulturentwicklung vorbehalten.28 Spätestens in der Achsenzeit kommt es durch kulturelle Entwicklungen, mit denen Jaspers Individualisierungsprozesse und Aufklärungsbestrebungen verbunden sieht, zu einem Verlust dieser naiven, unbefragten Einheit in vielen Teilen der Welt.29 Dieser Zustand der Fraglosigkeit und dessen Auflösung lässt sich bei Jaspers nicht nur von einer kulturhistorischen, sondern auch von einer individuell existentiellen Ebene aus betrachten. Denn dem einzelnen Menschen bleibt es im Prozess der Selbstwerdung ebenfalls nicht erspart, dass sich die fraglose Selbstverständlichkeit des Seins aufzulösen beginnt.30 Den 26
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Karl R. Popper hat die geschlossenen Stammesgesellschaften durch einen solchen ‹naiven Monismus› charakterisiert, in dem die natürliche und soziale Welt als eine selbstverständliche Einheit wahrgenommen und damit die gesellschaftlichen Normen und Strukturen für ebenso unveränderlich gehalten werden wie die natürlichen Regelmäßigkeiten. Vgl. Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I: Der Zauber Platons (Tübingen: Mohr, 71992) S. 69. Vgl. Karl Jaspers: Von der Wahrheit (München: Piper, 41991) S. 879f. Als einziges Beispiel für einen solchen Zustand der Fraglosigkeit verweist Jaspers auf die Grundhaltung des Lebens im vorbuddhistischen China. Vgl. ibid. S. 880. Vgl. Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (München: Piper, 1955) S. 16f. Im ersten Band der Philosophie schreibt Jaspers hierzu: «Eine der großen Krisen der Existenz im Bewußtsein ist der Augenblick, in dem die Selbstverständlichkeit des Seins aufhört. […] Diese Krise ist keinem Einzelnen erspart. Sie ist nicht rückgängig zu machen, nicht einmal fortzuwünschen; nun erst entspringen Klarheit und Wahrheit, Frage und Wagnis für das Selbstsein.» (Philosophie, Bd. I: Philosophische Weltorientierung [München: Piper, 1994] S. 34)
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Ursprung der Auflösung der unhinterfragten, naiven Gehäuse bildet für Jaspers die Frage nach der Welt und dem eigenen Dasein in ihr. Es ist die Reflexion, verbunden mit dem dynamisierenden Moment des Zweifelns, die zur Auflösung der Gehäuse führt.31 Infolge der Reflexion kommt es gleichsam zu einem ‹Sprung›, der wie ein ‹Ruck› den Menschen aus seinem alten Gehäuse herausreißt.32 «Vorher war das Gehäuse als solches gar nicht bewusst, jetzt wird mehr oder wenig klar, was Gehäuse ist, und dieses als Bindung, Beschränkung oder als zweifelhaft erfahren, ohne die Kraft zum Haltgeben zu besitzen.»33 Dieser Prozess der Auflösung der Gehäuse ist für Jaspers unausweichlich für die Selbstwerdung des Menschen. Es ist hiefür unumgänglich, dass jeder Halt hinterfragt wird, dass der Mensch sich in keiner Position beruhigen darf, sondern – um dies mit einer Metapher von Jaspers zu umschreiben – der ‹Hexenkessel› des Nihilismus durchschritten wird.34 Diesen Auflösungsprozessen kommt dabei die Funktion der Reinigung, der ‹Katharsis› zu, indem sie das Unlebendige, das nur den Schein des Lebens hat, zerstören.35 Jaspers wird dabei nicht müde, die psychologischen Nebenwirkungen dieser Prozesse zu beschreiben, die den Menschen tief erschüttern und in Gefühle der Zerrissenheit und Verzweiflung führen.
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4. Vom Drang zum Festen und von den ‹toten› Gehäusen Angesichts dieser Situation der Haltlosigkeit verweist Jaspers auf die grundlegenden menschlichen Bedürfnissen nach Sicherheit, Einheit, Geschlossenheit, Ruhe, Geborgenheit und Harmonie, die den Auflösungsprozessen widerstreben. Es zeigt sich für ihn ein ständiger Drang zu den Gehäusen, sodass diese in neuer Gestalt immer wieder entstehen.36
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In «jeder Reflexion als solcher, in aller rationalen Einstellung liegt eine Tendenz zur Auflösung, Relativierung dessen, worüber reflektiert wird» (Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 287). Karl Jaspers: Chiffren der Transzendenz (München: Piper, 1970) S. 14. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 281. Vgl. ibid. S. 303. Für eine umfassende Darstellung der Nihilismusproblematik und dessen Rolle im Selbstwerdungsprozess des Menschen siehe Harald Stelzer: Der Nihilismus in der Philosophie von Karl Jaspers, in Jahrbuch der Österreichischen KarlJaspers-Gesellschaft 13 (2002) S. 89-114. Vgl. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 312.
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Wir ertragen nicht den unendlichen Taumel aller Begriffe, die relativiert, aller Existenzformen, die fragwürdig werden. Es wird uns schwindlig, und es vergeht uns das Bewusstsein unserer Existenz. Es ist ein Trieb in uns, daß irgendwo etwas endgültig und fertig sein soll. Etwas soll ‹richtig› sein, eine Lebensführung, ein Weltbild, eine Wertrangordnung. Der Mensch lehnt es ab, immer nur von Aufgaben und Fraglichkeiten zu leben. Er verlangt Rezepte für sein Handeln, endgültige Institutionen. Der Prozeß soll irgendeinmal zur Vollendung kommen: das Sein, die Einheit, die Geschlossenheit und die Ruhe werden geliebt.37
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In diesem Wunsch nach Einheit und Ruhe liegt die Gefahr, dass die Weltbilder als Gehäuse gegenüber ihrer neuerlichen Auflösung abgeschirmt und verabsolutiert werden, was zur Aufgabe der Spannung der Polaritäten zugunsten einer rationalen Fixierung führt, in der es zur Verwechslung des ‹Ganzen› mit einer partikularen Objektivierung kommt.38 Diese Verabsolutierung partikularer Erkenntniswelten zum Weltsein überhaupt bezeichnet Jaspers mit dem Begriff des ‹Rationalismus›. Dabei verwendet er diesen Begriff nicht zur Bezeichnung einer bestimmten philosophischen Position. Vielmehr sieht Jaspers im Rationalismus die Form des Verstandesdenkens, das sich mit ganz unterschiedlichen Kräften und Interessen verbinden und mit ganz verschiedenen Inhalten füllen lässt. Was jedoch alle rationalen Lehren vereint, ist der Umstand, dass darin im Begrenzten und Begrenzbaren, im Fixierbaren und Endlichen verharrt wird. Das heißt ein geschlossenes Ganzes wird erreicht, indem ein Endliches, Einzelnes oder eine geordnete Fülle solcher Endlichkeiten zum unendlichen Ganzen verabsolutiert wird.39 Die rationalen Gehäuse sind für Jaspers demnach durch Fixierungen und Dogmatisierungen charakterisierte geschlossene Weltbilder, die in verschiedensten Lehren transportiert werden.40 In den rationalen Gehäusen tritt dem Menschen etwas Allgemeingültiges, etwas Notwendiges, Objektives und Geordnetes gegenüber. Sie vermitteln Festigkeit und Sicherheit im Begrenzten, durch mechanisch anwendbare, geradlinige Regeln, Grundsätze, Gesetze, Traditionen, Dogmen und Rezepte. Sie ermöglichen die Orientierung am ‹Allgemeinmenschlichen›, das, wie Immel herausgearbeitet hat, mit dem, was Heidegger mit dem Begriff
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Ibid. S. 304. Vgl. ibid. S. 304, sowie Jaspers: Einführung in die Philosophie, op. cit. S. 59, und Karl Jaspers: Der philosophische Glaube. Gastvorlesungen (München: Piper, 81985) S. 116. Vgl. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 307. Vgl. ibid. S. 318.
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des ‹Man› als öffentlicher, regulativer Denkungsart bezeichnet hat, weitestgehend gleichgesetzt werden kann. Das Allgemeinmenschliche zeigt sich als die kollektive Vorgabe, wie die in den Gehäusen vermittelten Regeln und Ordnungen im alltäglichen Denken auszulegen sind. Es erscheint in Gestalt von Sitten, Konventionen und Gewohnheiten.41 Die rationalen Gehäuse geben dem Menschen einen Halt, an dem er sich in konkreten Situationen ausrichten kann. Sie führen auf diese Weise zur Verhaltenssicherheit und zu einer psychologischen Entlastung des Menschen vom Entscheidungsdruck, indem sie die Last der individuellen Verantwortung zu verringern oder überhaupt aufzuheben vermögen.42 Die Unterordnung unter die rationalen Gehäuse geht dabei bis zur Preisgabe der eigenen Persönlichkeit, indem sich der Mensch einem Objektiven unterwirft, ohne Kritik üben zu wollen oder zu dürfen.43 Es ist demnach nicht die Rationalität der Prämissen, sondern ihre Verknüpfung zu einem rationalen, festen, absoluten Gefüge, die den Rationalismus der Gehäuse ausmacht.44 Der Rationalismus lässt sich demnach als Glaube charakterisieren, zu wissen, wie die Dinge, die Welt, das Leben beschaffen sind, und bietet beruhend auf diesem Wissen auch Rechtfertigungsmöglichkeiten für das eigene Verhalten. Grundlegend für den Rationalismus sind verschiedenste Formen eines Begründungsdenkens, das durch die Rückführung von Überzeugungen, Normen und Praktiken auf unhinterfragbare und unkritisierbare Dogmen, Glaubenssätze, Quellen usw. dazu tendiert, einen absoluten Halt zu geben. Jaspers Rationalismusbegriff verweist auf einen ‹Metakontext› des wahren Glaubens, dessen Ziel die Begründung und Verteidigung von Positionen und Kontexten ist, die stets Verabsolutierungen darstellen.45 Aus einer solchen Perspektive lassen sich dann meiner Meinung nach unter Jaspers’ Begriff des ‹rationalen Gehäuses› ganz unterschiedliche Kontexte subsumieren, die von Religionen über Ideologien bis hin zu wissenschaftlichen Weltdeutungen reichen. Wenn der Mensch endgültig in ein solches rationales Gehäuse «unterkriecht»,46 wird dieses für Jaspers zu einem ‹mechanischen› und ‹toten› 41 42
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Vgl. ibid. S. 392. Vgl. Kurt Salamun: Die liberal-aufklärerische Dimension in Jaspers’ Denken – ein Beispiel moderner Aufklärung, in Karl Jaspers. Zur Aktualität seines Denkens, hg. von Kurt Salamun (München: Piper, 1991) S. 47. Vgl. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 305f. und 319f. Vgl. Immel: Vom Denken im ‹Gehäuse›, op. cit. S. 111. William Warren Bartley: Flucht ins Engagement (Tübingen: Mohr, 1987) S. 189. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 282.
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Gehäuse, das keine Lebenskraft mehr besitzen. Die Aneignung solcher Gehäuse ist für Jaspers ‹unecht›. Sie erfolgt nicht aus der Persönlichkeit durch ‹lebendige› Aneignung, ist nicht Quelle und Bezugspunkt der eigenen Entwicklung, sondern wird angenommen und nachgeahmt aufgrund von Gewohnheit, Unterwerfung oder dem Machtwillen.47 Diese gewaltsame Rückkehr in ein festes Gehäuse wird von Jaspers schon in der Psychologie der Weltanschauungen als Versuch interpretiert, sich von den Grenzsituationen abzusperren und die antinomische Grundstruktur der Welt zu verschleiern. Auf diese Weise hoffen die Menschen, wie er ausführt, dem ‹schwindelerregenden› Prozess des Lebens zu entrinnen.48 Die Gehäuse bilden als fixierte Weltanschauungen eine Möglichkeit uneigentlichen Selbstseins. Sie sind Fluchtpunkt der Daseinsverabsolutierung, des Versuchs sich in einer natürlichen Selbstverständlichkeit vitalen Daseins auf Dauer und Bestand einzurichten. Dementsprechend sucht der Mensch in den ‹toten› Gehäusen Ruhe statt unendliche Bewegung, objektive Rechtfertigung statt absoluter Verantwortung für die eigenen Entscheidungen und Handlungen.
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Mit dieser Kritik richtet sich Jaspers jedoch nicht gegen die Gehäuse selbst, sondern gegen ihre erstarrten, fixierten und verabsolutierten Erscheinungsformen. Die Gehäusebildung lässt sich nicht endgültig aufheben, sondern bleibt ein notwendiger Bestandteil des menschlichen Lebens. Das Leben des Geistes ist ein Prozess, der die Auflösung und Entstehung von Gehäusen gleichermaßen beinhaltet. Die hier auftretenden Gehäuse lassen sich als ‹lebendig› charakterisieren. Sie sind offen für Veränderung und Teil des persönlichen Wachstums. Angesichts der Situation der Haltlosigkeit versucht Jaspers, wie im Kontext der damals sich entfaltenden lebensphilosophischen Strömungen üblich, mit dieser Konzeption hinter allen Objektivationen des Lebens, deren typischen Formen und Gestalten, das ‹Wesen› des Lebens selbst zu entdecken.49 Und auch er bezieht sich auf ein zentrales Problem der Lebensphilosophie, das darin besteht, dass sich das Leben selbst nur in 47 48 49
Vgl. ibid. S. 35f. Vgl. ibid. S. 305. Vgl. Heinz-Ludwig Natansky: Lebensphilosophie, in Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. II, hg. von Jürgen Mittelstraß (Stuttgart: Metzler 1995) S. 555.
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bestimmten Formen zu entfalten vermag, diese jedoch erstarren und durch die Dynamik des Lebens wieder aufgelöst werden.50 Daß der Mensch lebt und nicht zugrunde geht, ist daran sichtbar, daß er im Auflösungsprozeß des alten Gehäuses gleichzeitig neue Gehäuse oder Ansätze dazu baut. Dieses Nachaußensetzen des Lebens ist ja immer ein irgendwie Festlegen, nur in diesem Nachaußensetzen ist Leben erkennbar, der Prozeß dieses Nachaußensetzens ist das Leben selbst. Daher werden im Lebensprozeß Gehäuse nur aufgelöst, um neuen Platz zu machen; es handelt sich letztlich nicht um Auflösung, sondern um Metamorphose. […] Ohne Auflösung würde Erstarrung eintreten, ohne Gehäuse Vernichtung.51
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Wie weit verbreitet diese Gedanken waren, zeigen die Ausführungen von Georg Simmel, mit dem Jaspers auch in persönlichem Kontakt stand.52 Simmel sieht in den kulturellen Entwicklungen und Gebilden, wie etwa sozialen Verfassungen, Kunstwerken, Religionen, wissenschaftlicher Erkenntnis, Technik, Gesetzen und vielem mehr, «Gehäuse des schöpferischen Lebens».53 Der Begriff des ‹Gehäuses› verweist auf jenen der ‹Form›, in der der menschliche Geist selbst zum Objekt wird.54 Simmel geht, ähnlich wie Jaspers, davon aus, dass das Leben für seine Außenexistenz immer irgendwelche Formen braucht. «Das Leben ist unlöslich damit behaftet, nur in der Form seines Widerspiels, das heißt in einer Form in die Wirklichkeit zu treten.»55 Die Auflösung der alten Formen führt damit zur Entstehung neuer Formen. Es handelt sich also um einen dynamischen Prozess der Veränderung. Dieser fortwährende Wandel kann als Zeichen der unendlichen Fruchtbarkeit des Lebens verstanden werden, offenbart zugleich jedoch auch einen
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Otto Friedrich Bollnow: Aspekte der Lebensphilosophie, in Universitas 34 (1979) S. 629. In Jaspers’ folgenden Werken wird dieses Problem immer wieder als Subjekt-Objekt-Spaltung und der Möglichkeit eines diese transzendierenden Denkens ein Thema sein. Vgl. hierzu auch Leo Gabriel: Existenzphilosophie (Wien, München: Herold, 21968) S. 141-144. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 281f. Hans Saner: Karl Jaspers (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 111999) S. 33 und 145, sowie Suzanne Kirkbright: Karl Jaspers. A Biography. Navigations in Truth (New Haven, London: Yale University Press, 2004) S. 85 und 309. Georg Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur, in ders.: Gesamtausgabe, Bd. XVI, hg. von Gregor Fitzi und Otthein Rammstedt (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1999) S. 183. Georg Simmel: Der Begriff der Tragödie der Kultur, in ders.: Gesamtausgabe, Bd. XIV, hg. von Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996) S. 385. Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur, op. cit. S. 205.
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tiefen Widerspruch. Denn die ruhelose Rhythmik des Lebens steht in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis zum Anspruch auf feste Dauer und zeitlose Gültigkeit der jeweils angenommen Formen, in denen es sich zeigt.56 Das Leben selbst wendet sich gegen seine eigenen, verfestigten Erzeugnisse, ohne sich jedoch jemals von den Formen überhaupt befreien zu können.
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Hier will also das Leben etwas, was es gar nicht erreichen kann, es will sich über alle Formen hinweg in seiner nackten Unmittelbarkeit bestimmen und erscheinen – allein das durchaus von ihm bestimmte Erkennen, Wollen, Gestalten kann nur die eine Form durch die andere, niemals aber die Form überhaupt durch das Leben selbst, als das der Form Jenseitige, ersetzen.57
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Heinrich Rickert verwies in seiner Rezension der Psychologie der Weltanschauungen nicht nur auf diese Verbindung von Simmel und Jaspers zur Lebensphilosophie, sondern kritisierte Jaspers mit dem Argument, dass es bei ihm zur Vermischung zwischen wissenschaftlichem Anspruch und lebensphilosophischer ‹Prophetie› komme.58 Rickert witterte, wie Saner schreibt, die Substanz des künftigen Feindes, den er mit maliziöser Kritik gleichsam im Keim zu ersticken hoffte. Und er lag nicht ganz falsch mit der Vermutung, dass in der Psychologie der Weltanschauungen eine neue Philosophie enthalten ist, die seiner eigenen philosophischen Ausrichtung entgegenstand.59 So werden in diesem frühen Werk, wenn auch noch in psychologischer Absicht, eine Reihe von Grundfragen und -problemen aufgeworfen, die für Jaspers’ Existenzphilosophie entscheidende Bedeutung erlangten. Jaspers selbst hat in seiner Autobiographie die Psychologie der Weltanschauungen als unbewussten Weg zu seiner Philosophie beschrieben und als früheste Schrift der später so genannten modernen Existenzphilosophie.60 Es zeigt sich, wie ich argumentieren möchte, gerade in Jaspers’ These vom Zusammenspiel zwischen a) dem Halt im Begrenzten, in Gehäusen, b) dem Nihilismus und c) dem Halt im Unendlichen schon in der Psychologie der
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Vgl. ibid. S. 184. Ibid. S. 206. Vgl. Heinrich Rickert: Psychologie der Weltanschauungen und Philosophie der Werte, in Logos 9 (1920/21) S. 12, 17, 22, 26-29. Vgl. Saner: Jaspers, S. 32 und 36-38. Elisabeth Hybasek-Salamun verweist auf das unterschiedliche Philosophieverständnis von Rickert und Jaspers. Vgl. Elisabeth Hybasek-Salamun: Zum Leben von Karl Jaspers, in Jahrbuch der Österreichischen Karl-Jaspers-Gesellschaft 1 (1988), S. 16. Vgl. Jaspers: Philosophische Autobiographie, op. cit. S. 32f., sowie ders.: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. X-XI.
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Weltanschauungen ein dreiteiliges Schema, das sich durch das ganze Werk von Jaspers zieht und eine zentrale Denkfigur bei ihm bildet. Es handelt sich dabei um den Zusammenhang zwischen a) Verabsolutierung, b) Scheitern und c) Existenzverwirklichung. So macht Jaspers in der Philosophie die Grenzen der Verabsolutierung von Wissenschaft und Religion deutlich. Er beschreibt die existentielle Erfahrung des Scheiterns in den Grenzsituationen, die erst möglich wird, wenn der Halt in den objektiv selbstverständlichen Lebensformen, Weltbildern, Glaubensvorstellungen aufgelöst wurde. Und er verweist im dritten Band, der Metaphysik, auf die Verwirklichung möglicher Existenz und die damit verbundene Erfahrung der Bezogenheit auf Transzendenz. Dieses Schema von Verabsolutierung, Scheitern und Existenzverwirklichung zeigt den großen Einfluss der Philosophie Kierkegaards und Nietzsches auf Jaspers’ Denken, die er als die «größten Psychologen der Weltanschauungen» bezeichnete.61 So weisen die drei Existenzstadien – ‹ästhetisches›, ‹ethisches› und ‹religiöses› – Kierkegaards große Ähnlichkeiten mit der Dreiteilung von Verabsolutierung, Scheitern und Existenzverwirklichung auf.62 Bei Nietzsche lässt sich ebenfalls eine Dreiteilung bei der Selbstwerdung des Menschen feststellen, wie sie sich im Gleichnis von den drei Verwandlungen im Zarathustra findet, wo der Geist vom Kamel, zum Löwen und schließlich zum Kind wird.63 Beide Denker führen den Menschen aus der Verabsolutierung des Allgemeinmenschlichen an den Abgrund des Nihilismus, indem sie alles einem radikalen Zweifel unterziehen, um von dort einen neuen Anfang zu setzen.64 In Anlehnung an die zur Zeit der Entstehung der Psychologie der Weltanschauungen vorhandenen lebensphilosophischen Strömungen zeigt sich jedoch schon in diesem frühen Werk von Jaspers eine Verschiebung von einem an verschiedenen Existenzstadien orientierten Modell hin zur Hervorhebung des ständigen Spannungsverhältnisses, in dem der Mensch steht, und das nicht ein für alle mal überwunden werden kann. Jaspers’ Ausführungen machen deutlich, dass bei der Selbstwerdung des Menschen nicht von einem einmaligen, abgeschlossenen Prozess ausgegangen werden kann, der bei 61 62 63
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Vgl. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 13. Vgl. Salamun: Jaspers, op. cit. S. 36f. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra I-IV, in ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 4, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (München: dtv 1993) S. 29-31. Wie Jaspers in späteren Werken herausarbeitet, scheitert Nietzsche jedoch am Fehlen des Bezugs zur Transzendenz, während Kierkegaard einen irrationalen Sprung zum Gott des Christentums vollzieht.
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Von Max Webers Gehäuse-Metapher zum Gehäuse-Begriff bei Karl Jaspers
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einem unbewussten Lebenszustand im ‹naiven› Gehäuse beginnt, über die Auflösung und Verzweiflung voranschreitet, um beim eigentlichen Selbstsein zu enden. Deutlich wird dies nicht nur im Bild des Wechselspiels zwischen Gehäuse und Auflösung im Rahmen der Ausführungen in der Psychologie der Weltanschauungen, sondern auch noch in Von der Wahrheit betont Jaspers, dass im Grundverhältnis, in dem der Mensch sich zu sich selbst verhält, ein Entgegengesetztes liegt: das Offenbarwerdenwollen und der Drang in die Verschlossenheit.65 6. Schlussbemerkung
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Jaspers’ Auseinandersetzung mit den Gehäusen in der Psychologie der Weltanschauungen lässt sich dementsprechend als eine entscheidende Grundlage der späteren existenzphilosophischen Kernkonzeptionen verstehen. Aus einer solchen Perspektive wird auch verständlich, warum sich schon in diesem frühen Werk bestimmte subjektive Wertgesichtspunkte abzeichnen. Es kommt bereits hier neben einer deskriptiven auch eine normative Seite zum Vorschein. Die deskriptive Betrachtung herrscht überall dort vor, wo es Jaspers um die Darstellung der möglichen Gehäuseformen, ihrer Ursprünge und Konsequenzen, der Mechanismen der Aneignung von Weltbildern sowie des Zusammenspiels zwischen subjektiven Einstellungen und objektiven Weltbildern geht.66 Dabei hebt Jaspers vielfältige Aspekte der Dogmatisierung von Weltanschauungssystemen ins Bewusstsein und kann damit auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Weltbild beitragen, das als solches erkennbar wird. Die psychologische Betrachtung führt jedoch schon über die neutrale Beobachtung hinaus, weil sie selbst einen Faktor im Auflösungsprozess der Gehäuse bildet. Es scheint, dass Jaspers dieses Element der Aufklärung nicht nur als Nebenprodukt in Kauf nimmt, sondern bereits in der Psychologie der Weltanschauungen die Menschen aus den unwesentlichen Seinsbezügen herausführen will, indem er ihnen zeigt, dass es sich dabei um bloße Gehäuse handelt. Bereits hier deutet sich die kritisch dynamische Funktion der Vernunft an, der in der Jaspers’schen Existenz- bzw. Vernunftphilosophie die Rolle zukommt, alle Verschleierungen durch Vorstellungen, Gedanken, Schemata, Vorurteile, Fixierungen, Illusionen und dogmatische Behauptungen zu zerstören. Es bleibt für Jaspers eine zentrale Aufgabe der Philosophie, wie Kurt Salamun ausführt, «die reglementierenden rationalen 65 66
Vgl. Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 543. Vgl. Immel: Vom Denken im ‹Gehäuse›, op. cit. S. 109.
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Gehäuse und Systeme der Weltbilder ständig kritisch in Frage zu stellen und die dogmatische Befangenheit in objektiv fixierte Denkstandpunkte wieder rückgängig zu machen.»67 Denn erst mit der Zerstörung dieser den Blick ins Unmittelbare trübenden Medien kann, wie Jaspers betont, zutage treten, was eigentlich ist.68 Hans Saner führt in Zusammenhang mit der Darstellung der Gehäuse in der Psychologie der Weltanschauungen aus: «Das Bewusstsein von ihrem Gehäuse-Charakter öffnet sie wieder auf den Lebensprozeß hin, in dem sich nun Antinomien, Paradoxien und Grenzsituationen als das letzte in der Endlichkeit erweisen. Von ihm aus wird der Überschritt zum Halt im Unendlichen möglich, der sich als der Schritt zur Freiheit im Endlichen erweist.»69 Hier vereinigt sich die aufklärerische Dimension mit der zweiten, der existentiell appellativen Dimension von Jaspers’ Denken. Er verbindet mit seiner Kritik an den fixierten Gehäusen den Appell an eine nichtrationale Dimension der menschlichen Eigentlichkeit, die den Menschen zum Selbstsein auffordert. Es kündigt sich schon in der Psychologie der Weltanschauungen im Rahmen der ‹Gehäuse›-Kritik der radikale Kern seiner Philosophie an. In dieser geht es nicht um eine kontinuierliche Erweiterung des eigenen Horizonts durch neue Erkenntnisse und Erfahrungen. Der nach Verwirklichung seines eigentlichen Selbstseins strebende Mensch ist nicht der Bewohner des Rickert’schen ‹Hauses›, der als ‹theoretischer Mensch› aus diesem Haus auf die Welt hinausblickt, «wenn die Stürme des Lebens und der Leidenschaften es umbrausen». Es existiert für Jaspers kein «festes Fundament», letztlich keine «harten und rechtwinkeligen Steine».70 Der Mensch ist der antinomischen Grundstruktur des Daseins ausgesetzt, aus der es kein Entrinnen gibt. Für Jaspers gilt es, zu wagen, dass sich die Gehäuse in den Grenzsituationen auflösen, die nicht verschleiert werden dürfen und die auch nicht bloß betrachtet, analysiert und in ein System eingeordnet werden können, sondern nur er- und durchlebt ihre Funktion im Selbstwerdungsprozess des Menschen erfüllen. Später wird Jaspers hier noch dezidierter werden, wenn er etwa im ersten Band der Philosophie schreibt: «Der Mensch vermag nicht bloß da zu sein, er muß transzendierend im Aufschwung sein oder Transzendenz verlierend sinken.»71
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Vgl. Salamun: Die liberal-aufklärerische Dimension in Jaspers’ Denken, op. cit. S. 48. Vgl. Jaspers: Von der Wahrheit, op. cit. S. 731. Saner: Art. ‹Gehäuse›, op. cit. Sp. 14. Rickert: Psychologie der Weltanschauungen und Philosophie der Werte, op. cit. S. 31. Jaspers: Philosophie, Bd. I, op. cit. S. 38.
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Studia philosophica 67/2008
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Starting from his early works dedicated to psychopathology, Karl Jaspers understood the concept of time as an instrument to approach the proper dimension of consciousness. Physical psychology tended to conceive humans apart from the relational context and the concrete time flow, thus setting humans apart from coming into being. Drawing on Bergson’s and Husserl’s reflexions, Jaspers shows instead that the human being is indissolubly connected with time as a genuine stream that involves consciousness and allows for the deployment of intentionality and history. The concept of time leads to a new vision of subjectivity, whose influences also contribute to the distinction between ‹normality› and ‹pathology›. This helps us to understand mental alienation not only in biological terms, but also as temporal deconstruction of consciousness. Setting the original structure of every experience, time allows the identification of the missing link that relates the normal psychological experience to the pathological one.
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In seiner Karl Jaspers gewidmeten Monographie gibt Luigi Pareyson auf die Frage, was für den Philosophen von Oldenburg die Zeit sei, folgende Antwort: «Die Zeit ist in erster Linie eine Kategorie der Wirklichkeit».1 In Philosophie schreibt Jaspers: «Zeit ist nichts für sich. Sie ist Form des Daseins aller Wirklichkeit in nicht auseinander ableitbaren Modifikationen».2 Nach dieser Überlegung muss die Definition der Zeit in jedem Fall bei der Wirklichkeit ansetzen; wird jedoch die Wirklichkeit als Ausgangspunkt gewählt, dann werden wir mit vielfältigen Zeitbegriffen konfrontiert. Jaspers stellt in seinen Werken unterschiedliche Kategorien von Zeit fest. In Psychologie der Weltanschauungen zählt er insgesamt sechs davon auf. Zunächst die physische, objektive, quantitative, verräumlichte Zeit, die von Abstraktion zu Abstraktion fortschreitet. Bergson verwendet für sie das Bild von Augenblicken, die wie Perlen auf einer Kette aufgereiht sind und, da einander völlig gleichend, gemessen werden können, wie «ein beliebiger, willkürlich gewählter Moment».3
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Luigi Pareyson: Karl Jaspers (Genova: Marietti, 1997) S. 34. Karl Jaspers: Philosophie, Bd. III: Metaphysik (Berlin: Springer, 31956) S. 55. Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen (Berlin: Springer, 61971, unv. Nachdruck 1990) S. 111.
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Dann gibt es die Zeit aus psychologischer Sicht, die nach der Experimentalmethode die tatsächliche Zeiterfahrung wiederspiegelt, indem sie das subjektive Bewusstsein mit objektiven Methoden zu messen versucht. Das Fließen des Bewusstseins gibt sie wieder, indem sie es in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft objektiviert. Daneben folgen einerseits die Kant’sche Zeit, «die Form gegenständlichen Daseins in unserer SubjektObjektspaltung»,4 andererseits die Platonische Zeit, also das Paradoxon des Augenblicks, der als Übergangsstatus Zeit ist und auch nicht ist, sich als sich dehnender Augenblick radikal gegen die Ewigkeit stellt und doch zugleich auf der Grundlage der Theorie der coincidentia oppositorum aufs Engste mit ihr verwandt ist. Zu diesen Begriffen kommt der Begriff des Augenblicks als «die erlebte Quelle des Einmaligen, des Sprungs, des Entschlusses».5 Und schließlich die Metaphysik der Zeit, wonach die Zeit zu Gunsten des Ewigen aufgehoben wird. Doch wie Jaspers klarstellt, geschieht dies zu Gunsten einer erfüllten Ewigkeit, die «nicht zeitlos wie die transzendentalen Formen, nicht die endlose Sukzession des Zeitlichen, die leere Ewigkeit» ist.6 Diese Zeittafel ist Bestandteil der Jaspers’schen Analyse der unmittelbaren Einstellungen, die im Gegensatz zu den reflexiven, welche oft mehr auf die Vergangenheit und die Zukunft gerichtet sind, die «Realität des Augenblicks», die «konkrete Gegenwart» und den «Selbstwert jeden Moments» verkünden.7 Ein komplexes Bild, dem zu entnehmen ist, dass sich die Untersuchung der Zeit nicht auf eine einfache psychologische Beschreibung oder eine statistische Frage beschränken kann, sondern dass vielmehr ein sehr viel problematischerer Verweis auf das Verständnis des Zeitflusses zu vermuten ist.8 So gibt es in der Tat ein erlebtes Zeitbewusstsein, das nicht nur psychologisch ist, sondern eine Öffnung gegenüber einer komplexeren geistigen Wirklichkeit darstellt. Die «Problematik des Zeitverlaufs, in den das Leben der Seele eingeklemmt ist» entsteht laut Jaspers «aus dem Bewußtsein eines Ganzen, worauf es ankomme»,9 wodurch die Zeit über sich selbst hinausreicht und so zum Zeichen menschlicher Natur wird.
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Ibid. Ibid. Ibid. Ibid. S. 108. Vgl. Pareyson: Karl Jaspers, op. cit. S. 35. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 108f.
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1. Die Zeit in der Psychopathologie
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Dieser Aspekt verweist auf das psychopathologische Werk, worin Jaspers im Abschnitt über die phänomenologische Untersuchung eine erste Überlegung zur Zeit anstellt. Aus diesem Blickwinkel nimmt das Erleben der Subjektivität eine zentrale Stellung ein; es wird also die Unterscheidung zwischen der verräumlichten Zeit und der erlebten Zeit wieder aufgegriffen. Die Zeitfrage wird hier in erster Linie auf die Erfahrung des Zeiterlebens bezogen, wobei der Zeitbegriff als Kompetenz der Leistungspsychologie sowie die Zeitbeziehung, die als konkrete Beziehung zwischen Vergangenheit und Zukunft die verstehende Psychologie betrifft, bei Seite gelassen wird. In der Allgemeinen Psychopathologie wird das Zeiterleben innerhalb der phänomenologischen Betrachtungen behandelt, im Passus über die Analyse der Einzelphänomene des abnormen Seelenlebens. Der allgemeinere Kontext ist die Anwendung der phänomenologischen Methode auf die Betrachtung des Gegenstandsbewusstseins10 und damit auf die Frage der Wahrnehmung von Objekten durch das Bewusstsein. Jaspers schildert hier Raum und Zeit. Neben den Elementen der Sinneswahrnehmung stellen Zeit und Raum einen grundlegenden Aspekt dar, um Wahrnehmungsanomalien von einer normalen Wahrnehmung zu unterscheiden. Jede Wahrnehmung von Objekten durch das Bewusstsein basiert auf den Elementen der Sinneswahrnehmung, auf der räumlich-zeitlichen Ordnung sowie auf dem Akt der Vergegenwärtigung. Anomalien der Wahrnehmung treten auf, wenn Elemente der Sinneswahrnehmung oder diese Ordnung alteriert sind. Wenngleich die Wahrnehmung stets auf reale Objekte Bezug nimmt, zeigen sich die Objekte in diesen Fällen dem Subjekt in anomaler Form, kraft der Dysfunktion der räumlich-zeitlichen Ordnung bzw. der Sinneswahrnehmung. Das ist z. B. bei Makropsien oder Mikropsien der Fall, bei denen die verzerrte Raumanschauung bewirkt, dass Objekte größer bzw. kleiner gesehen werden, als sie sind. Doch für Jaspers hat nicht der Raum, sondern das Zeiterleben besondere Relevanz für die Beziehung, die das Subjekt zum Objekt stiftet, auch für
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Zur Verwendung der phänomenologischen Methode in den psychopathologischen Untersuchungen Jaspers’ vgl. Oscar Meo: Psicopatologia e filosofia in Karl Jaspers (Firenze: Le Monnier, 1979); Paola Ricci Sindoni: I confini del conoscere. Jaspers dalla psichiatria alla filosofia (Messina: Giannini, 1980) vor allem S. 70100; Anna Donise: Nota introduttiva, in Karl Jaspers: Scritti psicopatologici, übers. von Stefania Achella und ders. (Napoli: Guida, 2004) S. 13-25.
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deren pathologische Variante. Durch die Differenzierung zwischen unmittelbarem Zeitbewusstsein, verstanden als Erlebnis, und dessen Evaluierung zu einem späteren Zeitpunkt durch das Urteil, geht die phänomenologische Untersuchung auf das unmittelbare Zeitbewusstsein ein; dabei wird unterschieden zwischen dem Bewusstsein des augenblicklichen Zeitverlaufs (d. h. der Art und Weise, wie das Fließen der Zeit beim Erleben wahrgenommen wird) und dem Bewusstsein vergangener Zeit (Dauer, die dieses Ereignis in der Erinnerung einnehmen wird).11 Hat man normalerweise beim Erleben eines ereignisreichen Tages das Gefühl, er sei schneller vergangen als ein anderer Tag, so können wir diese Wahrnehmung zu einem späteren Zeitpunkt im Urteil korrigieren. In einem abnormen Zeitbewusstsein entfällt die Unterscheidung zwischen dem unmittelbaren und dem richtigen Zeitbewusstsein: «Es ist als ob immer derselbe Augenblick bliebe, als ob eine zeitlose Leere sei, oder – als Vorstufe dazu –, als ob lange Monate nur eine ganz kurze Spanne Zeit gewesen wäre.»12 Diese Aussagen werden in der Ausgabe der Allgemeinen Psychopathologie von 1913 getroffen. Die Gegenüberstellung mit den Folgeausgaben, insbesondere mit der letzten Ausgabe von 1946, ergibt interessante Unterschiede, vor allem bezüglich der Einführung neuer Betrachtungen zur Zeit. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass in der letzten Ausgabe der Allgemeinen Psychopathologie in der phänomenologischen Untersuchung der Gegensatz zwischen Gegenstandsbewusstsein und Persönlichkeitsbewusstsein aufgehoben ist. Letzteres weicht vielmehr dem Ich-Bewusstsein, das nun nicht mehr wie 1913 in Opposition zum Gegenstandsbewusstsein steht; vielmehr tritt im Zeichen jenes «neuen Geistes», der vom Wandel der Standpunkte des Philosophen geprägt ist,13 eine wesentlich komplexere Anschauung von dieser Beziehung zum Vorschein. 11
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Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen (Berlin: Springer, 11913) [= AP I] S. 27. Die Allgemeine Psychopathologie wird mehrfach neu aufgelegt; zur Rekonstruktion der signifikantesten Abänderungen durch Jaspers ist neben der Ausgabe von 1913 auch die Ausgabe von 1923 heranzuziehen, eine erweiterte Neuauflage der Erstausgabe, sowie die 4. und völlig umgearbeitete Auflage von 1946 (Berlin: Springer), Grundlage für die anschließenden unveränderten Neuauflagen (1948, 1953, 1959, 1973). Für eine akkurate Gegenüberstellung der Ausgaben von 1913 und 1946 vgl. Ricci Sindoni: I confini del conoscere, op. cit. S. 228-267. Jaspers: AP I, S. 28. Vgl. Kurt Kolle: Karl Jaspers as psychopathologist, in The Philosophy of Karl Jaspers, hg. von Paul Arthur Schilpp (New York: Tudor, 1957) S. 456.
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Bereits in die Ausgabe der Allgemeinen Psychopathologie von 1923 hatte Jaspers einen Teil aufgenommen, der dem Ganzen des Menschseins gewidmet war. Diese Vorstellung vom Menschen als Ganzem kommt auch in einer Umarbeitung des phänomenologischen Abschnittes zum Ausdruck. Der Austausch des Persönlichkeitsbewusstseins durch das Ich-Bewusstsein lässt die Jaspers’sche Weigerung erkennen, die Persönlichkeit als das sich dem Objektbewusstsein Widersetzende zu definieren; vielmehr meint er die Persönlichkeit als Ganzes, das einen individuellen und zugleich umfassenden Charakter besitzt und für das Ganze steht, das Resultat seiner Geschichte, seiner Beziehung zum soziokulturellen Umfeld, mit den Erfahrungen, die mit Erfahrungen einzelner Phasen seines Lebens verbunden sind, und nicht nur als Moment der Ich-Selbst-Beziehung. In der Ausgabe von 1913 war das Problem der Spaltung zwischen dem zu analysierenden Subjekt und dem gegenüber stehenden Objekt oder Gegen-stand noch nicht theoretisch angegangen, sondern vielmehr als Grenze der wissenschaftlichen Erkenntnis anerkannt worden. In der Ausgabe von 1946 dagegen wurde die Spaltung in Subjekt und Objekt – auch im Zuge der speziellen Abhandlung, die Jaspers im ersten Band von Philosophie der Opposition zwischen der Welt als subjektives Dasein und der objektiven Wirklichkeit gewidmet hatte14 – zum Ausgangspunkt für eine Synthese, die sich als ein Über-hinaus-Denken versteht, um die Ursprünglichkeit der Seinsdimensionen wiederzufinden.15 In der Zwischenzeit hatte Jaspers auch in der Psychologie der Weltanschauungen gezeigt, dass die psychischen Phänomene nicht einfach auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung zurückgeführt, noch auf das Verstehen auf der Grundlage der Empathie beschränkt werden können. Vielmehr sind sie zu analysieren als aufschlussreich im Hinblick auf «die essentiellen Modi, in denen eine Existenz empfängt, verwandelt, sich in die Welt projiziert».16 Essentiell an einer Weltanschauung ist immer das, was sich hinter der Subjekt-Objekt-Spaltung verbirgt, und «das sich Verbergende ist eine transzendentale Struktur, die sowohl im ‹Gesunden› wie im ‹Entfremdeten› enthalten ist […]. Die Entfremdung hängt daher weniger von einem psychotischen Gehalt ab, als vielmehr von der transzendentalen Struktur, die ein
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Karl Jaspers: Philosophie, Bd. I: Philosophische Weltorientierung (Berlin: Springer, 31956) S. 212-239. Vgl. Ricci Sindoni: I confini del conoscere, op. cit. S. 265f.; Jaspers: Philosophie, Bd. I, op. cit. S. 255. Umberto Galimberti: Psichiatria e fenomenologia (Milano: Feltrinelli, 1976, überarb. u. erweit. Neuaufl. 2006) S. 188.
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«leeres und nacktes Netz» ist, von dem allerdings die Bedeutung abhängt, die die Welt für jede Existenz annimmt».17 Diese in Psychologie der Weltanschauungen vollzogene Weiterentwicklung wirkt sich auf die Umarbeitungen der Allgemeinen Psychopathologie aus. So betont Jaspers in der neuen Ausgabe bei der Einführung in den Abschnitt zur Phänomenologie, dass jedes Erlebnis, auch das pathologische, da es eine intentionale Struktur besitzt, als Beziehungsgefüge zu verstehen ist, das jederzeit «in der Weise des Raum- und Zeiterlebens, des Leibbewußtseins, des Realitätsbewußtseins»18 fußt. Dadurch präsentiert er eine wesentlich differenziertere Auffassung, die nicht von Gegenüberstellungen sondern von Zusammenhängen lebt. Dieser Perspektivenwechsel ist auch bei der Betrachtung der Zeit festzustellen. Bei der letzten Ausgabe haben wir es in der Tat nicht mehr mit der räumlichen und zeitlichen Ordnung zu tun, die als ein Aspekt des Objektbewusstseins verstanden wird. Jaspers bezieht sich vielmehr auf das Raum- und Zeiterleben, dem er eine spezielle Abhandlung widmet.
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Indem der authentische Sinn der Bewusstseinsakte begriffen wird, wird nun die Notwendigkeit in den Vordergrund gerückt, auf Fragestellungen bezüglich der Beziehung des Menschen zur Welt und damit der Art und Weise zu antworten, auf die der Mensch (nicht nur der geistig Kranke) die ihn umgebende Wirklichkeit durch Raum und Zeit konkret erlebt. Die Zeit wird nicht mehr als mit der Wahrnehmung verbundene Messung verstanden, sondern als Erscheinungsform der Bewusstseinsstruktur. Die von der physikalistischen Psychologie vertretene Objektivierung hatte in denselben Jahren versucht, den Menschen willkürlich außerhalb des Beziehungskontextes zu stellen, in den er notwendiger Weise eingebettet ist, ihn dem konkreten Fließen der Zeit zu entziehen und als dem Werden im Wesentlichen fremdes Dasein zu erachten. Jaspers dagegen zeigt durch sein Aufgreifen der Überlegungen Bergsons und Husserls, dass der Mensch als Existenz untrennbar mit der Zeit verbunden ist, die den ursprünglichen Fluss darstellt, in den das Bewusstsein getaucht ist und in dem sich die Ent17 18
Ibid. Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie (Berlin: Springer, 41946) [= AP IV] S. 49.
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faltung der Intentionalität und der Geschichte vollziehen. Die erlebte Zeit ist, wie schon Augustinus erkannt hatte, bei weitem keine exakte Form des Messens, sondern vielmehr von unserer Stimmung beeinflusst, vom Erleben unseres Bewusstseins, das das Fließen der Zeit nicht einfach zählt, sondern es durchflochten und durchwebt von Erinnerungen, Erwartungen, Sehnsüchten erlebt.19 Wir haben hier daher mit einer anderen Vorstellung von Zeit zu tun, nicht mit gewusster, sondern erlebter Zeit, in der das Fließen der Dinge nicht verstandesmäßig bewältigt, sondern durch einen intuitiven Akt erfasst werden kann. Der Zeitbegriff verbindet sich so mit einer neuen Anschauung von Subjektivität. Die Jaspers’sche Auffassung kann hier auf die Rickerts zurückgeführt werden, wonach «das Seelenleben wie ein heterogenes continuum ist, das der Verstand beeinflusst, um objektive Bereiche zu isolieren»,20 bzw. auf die Vorstellung Simmels vom unteilbaren Strom der gelebten Erfahrung. Das Bewusstsein ist ein Zeitfluss, ein einziger Fluss, der sich in vielfältige Augenblicke oder Phasen gliedert, die ihrerseits das Merkmal des Fließens als zeitliche Kontinuität aufweisen. Diese Vorstellung wurde auch von Husserl vertreten, der im Ersten Buch der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie schreibt: «Die Wesenseigenschaft, die der Titel Zeitlichkeit für Erlebnisse überhaupt ausdrückt, bezeichnet nicht nur ein allgemein zu jedem einzelnen Erlebnis Gehöriges, sondern eine Erlebnisse mit Erlebnissen verbindende notwendige Form».21 Auch für Jaspers, der die erlebte Dimension der Zeitlichkeit betont, stellt die Zeit nicht nur die Sprache, sondern auch die Gestalt der Seele dar.22 Die Zeit wird hier als transzendental in dem Sinne verstanden, dass sie nicht nur den Inhalt des Erlebten bildet, sondern es auch gestaltet.23 Wie schon Kant erkannt hatte, handelt es sich dabei um eine Zeit, «die sowohl hinter der Dimension des Objekts als des Subjekts liegt und von hinten agiert, mit ihren Effekten und inneren Sinngebilden».24 Das die Verzeitlichung vollziehende
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Vgl. Michele Bracco: Orizzonti del corpo in psicopatologia, in Philosophema N. 3-5, Dez. 2004 (Roma). Giuseppe Cantillo: Introduzione a Jaspers (Roma, Bari: Laterza, 2001) S. 32. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie. Erstes Buch, in ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. von Elisabeth Ströker (Hamburg: Meiner, 1992) S. 182. Vgl. Jaspers: AP IV, S. 68. Vgl. ibid. S. 69. Federico Leoni: Introduzione, in Eugène Minkowski: Il tempo vissuto (Torino: Einaudi, 2004) S. XXVIII.
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Ich steht, wie schon Husserl festhielt, über der verzeitlichten Zeit und nicht in der Zeit, wenngleich es sich lediglich in der Zeit und durch die Zeit wiederfindet.25 Wie Husserl betont, handelt es sich dabei um eine Verzeitlichung, in der das unbewegliche und permanente Ich nicht in einem sich in der Zeit mit Gehalt füllenden Akt fortdauert. In der Dauer des konkreten Aktes bleibt es vielmehr ein ausdehnungsloses und identisches Ich, unbeweglich und permanent in der Evolution der Formen, in denen es sich verwirklicht. Was wir somit als Identität des Ichs verstehen müssen, ist nicht die reine Identität des dauernden Ichs, sondern jene des Ichs des Aktes.26 Aus diesem Grund, so Jaspers in der vierten Auflage der Allgemeinen Psychopathologie, werden Raum und Zeit nicht wahrgenommen «wie andere Gegenstände, sondern mit den Gegenständen nehmen wir sie wahr».27 Die Form der Zeit reicht, da dem Seelenleben angehörend, über die Form des Raumes hinaus und lässt die Koinzidenz von Bewusstsein und Zeitlichkeit erkennen. «Die Räumlichkeit können wir in unserem Erleben verlassen zugunsten eines innerlichen gegenstandslosen Erlebens, die Zeit [aber] bleibt immer da».28 Das Ergebnis der Zentralität der Zeitlichkeit für die Definition von Bewusstsein führt in der Allgemeinen Psychopathologie zu einem neuen Ansatz in der Untersuchung, durch die Normalität und Pathologie differenziert werden. Wie auch anschließend in der Existenzialanalyse formuliert Jaspers, ansetzend bei Heidegger, die Notwendigkeit, die psychischen Störungen nicht mehr in biologischen Begrifflichkeiten, sondern mit Bezugnahme auf die Entstrukturierung der Zeit zu analysieren. Indem sie die ursprüngliche Struktur jeder Erfahrung bildet, bietet die Zeit die Möglichkeit, jenen roten Faden herauszuarbeiten und zu verfolgen, mit dessen Unterstützung die normale psychologische Erfahrung in Bezug zur psychopathologischen Erfahrung gesetzt werden kann. Die Zeit, so Jaspers, ist im Seelenleben stets präsent, im anormalen wie im normalen Leben.29 Da der Bewusstseinsstrom dieser je einzige «Strom unteilbaren Geschehens, der in zahllosen Individuen in nie gleicher Weise dahinfließt» ist, wird es für den Psychopathologen
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Vgl. Carlo Sini: Husserl e Heidegger: tempo e fenomenologia, in Il concetto di tempo. Atti del XXXII Congresso Nazionale della Società Filosofica Italiana (1995), hg. von Giovanni Casertano (Napoli: Loffredo, 1997) S. 85-89. Vgl. Edmund Husserl: Manuskript C 16 VI, S. 29f. Jaspers: AP IV, S. 67. Ibid. Vgl. ibid.
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hilfreich sein, feststellen zu können, wie sich das Erleben und Beurteilen der Zeit «nach Größe und Dauer» wandeln, um einen besseren Zugang zu den Formen zu haben, die die Zeit in der Pathologie annimmt.30 Die Zeit, die sich im kranken Bewusstsein anders situiert und organisiert als sie gemeinhin konzipiert wird, ermöglicht das Verständnis der Grundzüge von Phänomenen, die andernfalls unbeachtet blieben oder als völlig natürlich betrachtet würden.31 Umgekehrt ist das psychiatrische Symptom nichts isoliert Gegebenes mehr, das gemeinsam mit anderen Symptomen zu klassifizieren und zu ordnen ist; es wird vielmehr zum Mittel, das Zugang zum besonderen In-der-Welt-Sein des Patienten gewähren kann, um dessen grundlegende existentielle Merkmale zu verstehen. Bei der Gegenüberstellung der ersten und der letzten Ausgabe der Allgemeinen Psychopathologie ergeben sich gerade im Hinblick auf die Behandlung der Zeit auch bezüglich der Pathologie interessante Unterschiede. In den zwischen den beiden Ausgaben liegenden Jahren vollzog Jaspers eine philosophische Wende, zugleich fanden auch wichtige Überlegungen zur Zeitlichkeit Verbreitung: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Werke Bergsons in deutscher Sprache32 erschienen, 1928 die von Martin Heidegger herausgegebenen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins 33 Husserls von 1905, und schließlich 1933 in Frankreich Le temps vécu von Eugène Minkowski. Jaspers ist von diesen Betrachtungen tief beeindruckt und überarbeitet seine Überlegungen zur Zeit auch vor dem Hintergrund dieser Lektüren. In der Ausgabe von 1913 war das Zeitbewusstsein wie bereits erwähnt eng mit dem Element der Wahrnehmung verbunden. Die Ordnung von Raum und Zeit wurde als Anomalie der Wahrnehmung analysiert, die zwar von dem Gesundheitszustand des Systems der Sinne absehen konnte, doch in enger Verbindung damit stand. Ganz anders bei der Ausgabe von 1946. Nun verbindet sich die Zeiterfahrung ursprünglich mit dem Bewusstsein: «Zwar
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Ibid. S. 45 und 67. Vgl. Eugène Minkowski: Le temps vécu. Études phénoménologiques et psychopathologiques (Paris: Collection de l’evolution psychiatrique, 1933) S. 8. 1908 erschien die deutsche Übersetzung von Matière et Mémoire, 1912 die Übersetzung von L’Évolution créatrice, sowie 1911 L’Essai sur les données immédiates de la conscience unter dem Titel Zeit und Freiheit. Edmund Husserl: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, in Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. IX (Halle a. d. S.: Niemeyer, 1928).
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kann solange Bewußtsein ist, nicht alles Zeitgefühl verschwunden sein»,34 und damit entgleiten mit dem Verschwinden der Zeit auch Gegenwart und Wirklichkeit. 5
3. Zeit und Existenz Das Zeiterleben «schließt in sich ein ursprüngliches Bewußtsein von einem Bestehenbleibenden»,35 ohne das das Bewusstsein vom Fließen der Zeit nicht gegeben wäre. Das Fließen der Zeit entspricht somit, wie Jaspers erinnert, der durée Bergsons oder dem temps vécu Minkowskis. Diese Bezugnahme auf Bergson und Minkowski zeigt das gesteigerte Interesse des Psychopathologen an jener tiefer liegenden Pulsation und gegenüber dem, was sich vor der Subjekt-Objekt-Spaltung ereignet, «eine Pulsation, die weder subjektiv noch objektiv ist, sondern beider Ursprung bildet».36 Dieses Erleben kann, so Jaspers, drei Formen annehmen: das Erleben ursprünglicher Kontinuität, das Gerichtetsein und schließlich das zeitliche Erleben des Zeitlosen, das Sein als ewige Gegenwart. In der ersten Form gilt die Bezugnahme auf die Bergson’sche durée, die zweite Form scheint auf Minkowskis Hinweise in Zusammenhang mit den Analysen Heideggers Bezug zu nehmen,37 die dritte Form verweist ausdrücklich auf die lebendige Gegenwart Husserls, aber auch auf den Augenblick bei Plato und Descartes. Während die ersten beiden Fälle eine stärker psychologisch geprägte Dimension der Zeit betreffen, bezieht sich die letzte Form auf den eigentlichen philosophischen Aspekt, den Jaspers in seinen Existenzialanalysen herausgearbeitet hatte. Die ersten beiden Formen – das Erleben ursprünglicher Kontinuität und das Gerichtetsein – erhalten eine besondere Valenz, wenn sie zur pathologischen Version in Bezug gesetzt werden. Der korrekte Ablauf der Inten-
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Jaspers: AP IV, S. 71. Ibid. S. 70. Leoni: Introduzione, op. cit. S. XXVIII. Husserl scheint in Anlehnung an Plato, Aristoteles, Augustinus, Hegel und Bergson die zeitliche Dimension der Gegenwart vorzuziehen (die «lebende Präsenz»), wohingegen «Heidegger diese Ausrichtung kritisierend den im Wesentlichen zukünftigen Charakter der Zeiterfahrung beansprucht: eine Zukunft, nicht auf der Ebene der weltlichen Zeitlichkeit, sondern als Kreislauf zwischen dem Gewesen-Seienden und dem Zu-sein-Haben gemäß der Schicksalsdimension des Geworfenseins des Daseins» (vgl. Sini: Husserl e Heidegger, op. cit. S. 85).
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tionalität, der Beziehung zwischen dem Ich und der Welt, hängt davon ab, wie Zeit subjektiv erlebt wird. Der korrekte Entstehungsprozess der Intentionalität ist dadurch bestimmt, wie die drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zueinander in Bezug stehen. Ein Teil der geistigen Krankheiten basiert nämlich auf der Alteration dieser Beziehung zwischen Subjekt und Zeit. Durch die Analyse der drei inneren, für das Erleben der Zeitlichkeit konstitutiven Modalitäten können daher die innere Welt eines Jeden sowie die «Welten der verfehlten Existenzen» ermittelt werden, d. h. derjenigen, die sich von der gemeinsamen Welt entfernen oder sich nicht an ihr beteiligen. Dies geschieht im sich wandelnden Bewusstsein des Zeitverlaufs, das zum Eindruck von Beschleunigung oder Verlangsamung führen kann, aber auch zum Verlust des Zeitbewusstseins, bis hin zum Erlebnis des Stillstandes der Zeit. Letzteres gilt beispielsweise für den schizophrenen Patienten, der den eigenen Körper ablehnt, sich in seine Welt der Halluzinationen flüchtet und so jeden Kontakt zu der Zeit verliert. Es gilt zum Teil auch für den manischen Patienten, bei dem eine Destrukturierung der Zeitlichkeit vorliegt, die darin zum Ausdruck kommt, dass er die Gegenwart als etwas Vorübergehendes erlebt, das weder aus der Vergangenheit kommt noch in die Zukunft orientiert ist. Jaspers schreibt: «Psychastenische und Schizophrene berichten von sublimen Erlebnissen, von wenigen Minuten, als ob diese ewige Dauer gehabt hätten».38 Aufschlussreicher für die Analyse des abnormen seelischen Lebens ist dagegen die schizophrene Erfahrung und jene des Zeitstillstandes, der zeitlichen Fusion, der Zerstörung der Zeit. Das Subjekt wird völlig absorbiert, gefangen genommen von einer Gegenwart, die zum rein «Augenblicklichen» verflacht ist, die die Präsenz der Vergangenheit nahezu nicht mehr spürt, denn kaum wird diese erlebt, wird sie auch schon vergessen. In allen diesen Fällen bereitet, wie Jaspers bereits in der Psychologie der Weltanschauungen gezeigt hatte, nicht der Inhalt der Existenz Probleme, sondern die «Modalität, in der die Existenz die Welt sieht, die […], da sie transzendental ist, Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen kontrolliert und die Vergangenheit am Vergehen hindert und die Zukunft daran, sich als Zukunft anzukündigen».39
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Jaspers: AP IV, S. 72. Galimberti: Psichiatria e fenomenologia, op. cit. S. 189.
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Eine Patientin erzählt: Manchmal, wenn sie draußen im Garten schnell auf- und ablaufen, und die Blätter hin- und herfliegen im Wind, möchte ich innerlich mitrennen können, damit doch die Zeit wieder vergeht. Aber dann bleibe ich stecken … Die Zeit steht still; man schwankt sogar zwischen Vergangenheit und Zukunft … […] Es zieht mich zurück, ja wohin? Da, wo es herkommt, dorthin, wo es früher war. In die Vergangenheit geht es hinein … […] Die Zeit ist im Abbruch.40
Diese Pathologien stellen nun keine Wahrnehmungsanomalien mehr dar, wie sie noch in der ersten Ausgabe des Werkes geschildert wurden, sondern betreffen einen Aspekt der Destrukturierung der Subjektivität in ihrer ursprünglichen Dimension des Zeitflusses. Mit Bezugnahme auf die von Jaspers zitierten Studien Franz Fischers über die Schizophrenie ereignet sich laut Minkowski in diesen Fällen «eine tiefgreifende Dislokation des Zeitphänomens mit Prävalenz der Vergangenheit, […] der statischste Aspekt erlebter Zeit».41 Die Wiederherstellung der Gesundheit betrifft damit die Fähigkeit, die Vergangenheit erneut zu öffnen und sie der Zukunft zurückzugeben. Diesen – allerdings gescheiterten – Versuch erleben wir auch im Roman Die Glut von Sàndor Màrai, in dem der Autor eine Begegnung der beiden Hauptfiguren Hektor und Konrad analysiert, die zu rekonstruieren versuchen, was sich an einem Abend vor 41 Jahren zugetragen hatte. Die minuziöse Rekonstruktion jenes Abends stellt den Versuch dar, eine Gegenwart freizugeben, die keine Zukunft mehr ermöglicht. Doch der gesamte Dialog enthält nicht einen Hinweis darauf, dass diese Vergangenheit tatsächlich vergangen ist. Was sich 41 Jahre zuvor ereignet hat, wirkt fort; über die Jahre bewahrt, wird es bei der Begegnung an diesem Abend noch einmal durchgespielt. Die Erinnerung negiert die Gegenwart: Das Geschehene kennt weder Vergebung noch Resignation und zerstört die Zukunft. Die Gegenwart des Erinnernden wird ausgeklammert, und aus der Erinnerung entsteht nichts Neues, nein vielmehr verhindert das Gefangensein in der Vergangenheit den Blick auf die Gegenwart. Keiner der beiden Hauptfiguren gelingt es, von der zeitlichen Distanz Abstand zu gewinnen.42 In diesem Fall ist es möglich, wie es auch 40 41 42
Jaspers: AP IV, S. 73. Minkowski: Le temps vécu, op. cit. S. 267. «Jetzt betrachteten sie eine Zeitlang wortlos das sich ihnen bietende Bild, das große Empfangszimmer da unten, die mächtigen Möbel, die eine Erinnerung aufbewahrten, die Bedeutung einer Stunde, eines Augenblicks, als hätten diese
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der Depressive erlebt, die Objekte zu erkennen, die man vor Augen hat, ohne sie jedoch auf der Gefühlsebene erleben zu können. Der Zeitbegriff ist gegenwärtig, nicht aber das Zeiterleben: «so versinkt auch die Zukunft».43 Doch so wie in der Vergangenheit, kann man auch in der Zukunft gefangen sein, wie in dem von Jaspers analysierten Fall, in dem es dazu kommt, dass der Augenblick einer imaginären Zukunft untergeordnet wird: Die Gegenwart wird betrachtet als «das bloße Mittel, das für ein Zukünftiges zu opfern ist»: «Niemals handelt es sich um eine erlebnismäßige Durchdringung von Gegenwart und Ziel, sondern die Gegenwart wird als Mittel im technischen Sinne erlebt, zerstört, preisgegeben in der Erwartung des zu Erreichenden».44 Diese ersten beiden Formen des Zeiterlebens samt möglicher pathologischer Varianten, die als Objektivierungen und Erstarrungen von Augenblicken verstanden werden, müssen der Annahme des Werts des Augenblicks weichen. Die aus dem Studium der Psyche hervorgegangene Zeitlichkeit, die Zeit in ihrer psychologischen Spielart, vor allem aber in ihren abnormen Degenerierungen hat ein fragmentarisches und endliches Bewusstsein freigelegt, das dem unterworfen ist, was Heidegger als unechte Zeit verurteilte. Vor diesem Hintergrund geht es nun darum, die Zeit erneut zu durchdenken, doch diesmal ausgehend vom Augenblick als der konkreten Gegenwart des unmittelbar Wirklichen, jener Dauer, in der die drei Grundbestimmungen der Zeitlichkeit nebeneinander bestehen, bis das Bewusstsein über die Zeit hinaus wächst.45 Das wirkliche Leben existiert lediglich in der Gegenwart, doch ist nicht zu leugnen, dass seine Struktur es zur Unendlichkeit drängt. Hier kehrt jener bislang außer Acht gelassene dritte Aspekt wieder, die in der Allgemeinen Psychopathologie angekündigte dritte Form der Zeitlichkeit: das zeitliche Erleben des Zeitlosen. Dieser Aspekt «enthüllt einen Riss in der zeitlichen Progression»46 und erfordert ein Eingehen auf die Dialektik von Zeit und Ewigkeit. Die Prä-
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toten Gegenstände bis zu jenem Augenblick nur nach den Gesetzen von Holz, Metall und Gewebe existiert, um dann, vor einundvierzig Jahren, an einem einzigen Abend mit lebendigem Sinn erfüllt zu werden und eine neue Bedeutung zu erhalten. Und jetzt, da sie wie aufgezogene Apparate wieder zum Leben kamen, erinnerten sich die Gegenstände daran.» (Sandor Màrai: Die Glut [München: Piper, 1999] S. 73) Jaspers: AP IV, S. 73. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 112f. Vgl. ibid. S. 109. Pareyson: Karl Jaspers, op. cit. S. 38.
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senz der Zeit in der Ewigkeit vollzieht sich im Augenblick. Scheint er auch noch «so verschlossen und eng, bietet er jedoch die am weitesten gehende und kühnste Möglichkeit der Evasion».47 Hier wird die Zeit überwunden, damit die Ewigkeit hervortreten kann. Und diese Begegnung verleiht der Geschichtlichkeit Leben, der letzten Deklination der Jaspers’schen Zeit, die die Möglichkeit darstellt, in der Zeitlichkeit das sie Transzendierende zu erfassen. Die Geschichtlichkeit ist Ausdruck der «Verbindung des Seins des existierenden Einzelnen – meines ‹zeit-losen Ich-selbst› – mit dem räumlichzeitlichen Dasein, in dem sich jener Kern manifestiert».48 Die Geschichtlichkeit als Bewusstsein um die Verbindung zwischen nicht wiederkehrenden Situationen und Umständen, die der einzelnen Existenz in ihrer Einmaligkeit angehören, weist auf die Einheit von Existenz und Dasein, von Notwendigkeit und Freiheit hin. Und die Existenz, der es gelingt, weder der Utopie noch der Norm zum Opfer zu fallen, welche auf einen außerhalb der Zeit gesetzten Wert verweist, vollzieht in der Geschichtlichkeit die Einheit von Zeit und Ewigkeit. «Existieren», schreibt Jaspers, «ist die Vertiefung des Augenblicks, so daß die zeitliche Gegenwart Erfüllung ist, die, Vergangenheit und Zukunft in sich tragend, weder auf die Zukunft noch auf die Vergangenheit abgelenkt wird.»49 Die Geschichtlichkeit ist damit die Begegnung zwischen Zeitlichem und Meta-Zeitlichem, und diese Begegnung findet im Augenblick statt. «Statt von der Gegenwart sich in Vergangenheit und Zukunft zu verlieren, findet der Mensch Existenz und Absolutes zuletzt nur im Augenblick. Vergangenheit und Zukunft sind dunkle, ungewisse Abgründe, sind die endlose Zeit, während der Augenblick die Aufhebung der Zeit, die Gegenwart des Ewigen sein kann.»50 Mit Bezugnahme auf Kierkegaard führt Jaspers aus: «Der Augenblick ist jenes Zweideutige, in dem Zeit und Ewigkeit einander berühren, und hiermit ist der Begriff der Zeitlichkeit gesetzt, in der die Zeit beständig die Ewigkeit abreißt und die Ewigkeit beständig die Zeit durchdringt.»51 Und «Mohammed, der zwischen Beginn und Vollendung des Umfallens einer Kanne durch ganze Welten wandert, veranschaulicht die Unendlichkeit des Augenblicks».52 Damit mündet der begonnene Diskurs über die Zeit in den Augenblick.
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Ibid. S. 40. Cantillo: Introduzione a Jaspers, op. cit. S. 77. Jaspers: Philosophie, Bd. I, op. cit. S. 126. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, op. cit. S. 112. Ibid. S. 110. Ibid. S. 112.
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Und hier bricht die letzte Bestimmung der Zeitlichkeit ein: die existentielle Zeit, der geschichtliche Augenblick, der die erlebte Zeit und ihre Überschreitung in die Ewigkeit in sich aufhebt. Die Existenz findet jedoch nicht im Hegel’schen Sinne zur Synthese von Zeit und Ewigkeit: Sie ist Geschichtlichkeit aufgrund ihres Ablaufs in einer Kontinuität von füreinander wesentlichen Augenblicken, aufgrund ihrer Natur von Gegenwart und Invokation und als werdende Zeitlichkeit.53 Wie Pietro Piovani in Principi di una filosofia morale festhält, ist Jaspers im Bereich der Existenzphilosophie der Erste, der bemerkt, «dass das reine Dasein des Menschen ständig vom Willen transzendiert wird, dem absoluten Sein zu begegnen», und zugleich mahnt, «dass das menschliche Suchen nach Sein dazu bestimmt ist, ein Suchen und damit unerfüllt zu bleiben». Denn die Existenz hat die Gesamtheit des Seins stets wie einen «unerfassbaren Horizont» vor sich.54 Und dies ist der Raum, in dem die Philosophie sich dem philosophischen Glauben öffnet.
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Vgl. Pareyson: Karl Jaspers, op. cit. S. 43. Pietro Piovani: Principi di una filosofia morale (Napoli: Morano, 1972) S. 243.
Studia philosophica 67/2008
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Since the first years of his internship in Heidelberg’s Mental Health Clinic, Jaspers reflected on the necessity of endowing subjectivity with scientific status. On such grounds, he appropriated Husserl’s theories: phenomenology can become one of the fundamental methods of psychiatric research by allowing the presentation of psychic phenomena to consciousness, without harnessing them in preconceived theories, and without hypothesizing causal connections that impinge on the description of phenomena through the ‹explanation› of their origin. Employing phenomenology as a method presents certain problems, though. (1) The patient is not always able to describe, tell or somehow express the so-called ‹subjective symptoms›. In these cases, the doctor can exercise no form of empathetic transfer: s/he is as if facing a wall. (2) Jaspers refutes Husserlian eidetic reduction, and this makes it difficult to spell out how we can pass from the immediate experience of the patient to the possibility of turning such live experiences into something that can be classified, by sorting out their most salient aspects. (3) The role attributed to the ‹I›, the meaning-conferring subject, seems to position Jaspers closer to Kant and the Neokantians than to Husserl.
Schon seit den ersten Jahren seiner Ausbildung an der Heidelberger Klinik denkt Karl Jaspers über das Fehlen einer begrifflichen Klarheit und methodologischen Begründung der sogenannten «subjektiven Symptome» nach, sowie, allgemeiner, über das Vorherrschen der objektiven Dimension in der psychopathologischen Forschung. 1911 beginnt er mit der Arbeit an der Allgemeinen Psychopathologie und erwägt, eine systematische Darlegung der verschiedenen Formen psychopathologischer Forschung zu leisten. Er bemüht sich anhand einer klaren und experimentell überprüfbaren Methodologie um die Einführung der subjektiven Erfahrung in die Psychiatrie. Jaspers’ Ausgangsfrage lautet darum: Wie ist dem Subjektiven Wissenschaftlichkeit zu verleihen? Zu diesem Zweck gestaltet er seine Betrachtungen methodologisch (ein typisches Vorgehen für seine Zeit und ihre Reflexion über die für sie charakteristischen Wissenschaften).1 Als erstes 1
1913 habilitiert Jaspers bei dem Neukantianer Wilhelm Windelband. Für eine Rekonstruktion des Einflusses des Methodenstreits zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zwischen Verstehen und Erklären, im Ausgang von Diltheys
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nimmt er von einer wissenschaftlichen Psychologie Abstand, die – sich als «seelenlose Psychologie» rühmend – nur objektive und messbare Symptome als betrachtenswert und untersuchungswürdig erachtet. Es soll vielmehr die Bedeutung der «subjektiven Psychologie», der Analyse jener individuellen Symptomatologie hervorgehoben werden, die allein fähig ist, voraussetzungslos und ohne theoretische Vorurteile das aufzuzeigen, was sich in Subjekten offenbart, die unter einer psychischen Pathologie leiden.2 Um erneut wissenschaftliche Berechtigung für den Zugriff auf das Individuelle zu gewinnen, ist jedoch eine Methodologie erforderlich, welche die Psychiater in die Lage versetzt, das vom Kranken subjektiv Erlebte nicht abzuwerten und dessen Erlebnissen die rechte Geltung zu verschaffen. Der phänomenologische Ansatz scheint diesen Erfordernissen am besten gerecht zu werden. Als Wissenschaft vom Bewusstsein wählt die Phänomenologie nicht eine Theorie, auf deren Grundlage das Erlebte erklärt und mit vorgefassten Meinungen gebändigt wird, sondern gibt ihm stattdessen einen eigenständigen Wert als besonderes Phänomen.3 Es ist kein Zufall, dass in eben jenen Jahren auch die Gestaltpsychologie sich auf die Phänomenologie beruft, darum bemüht, von Elementen wie den Tertiärqualitäten4 rigoros Gebrauch zu machen, die vom naturwissen-
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Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), heute in Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. I, hg. von Bernhard Groethuysen (Stuttgart: Teubner; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 91990), vgl. Pietro Rossi: Spiegazione e comprensione da Dilthey a Max Weber, in ders.: Max Weber. Oltre lo storicismo (Milano: Il Saggiatore, 1988); Manfred Riedel: Verstehen oder Erklären? (Stuttgart: Klett-Cotta, 1978); Fulvio Tessitore: Comprensione storica e cultura. Revisioni storicistiche (Napoli: Guida, 1979). Zu einer besonders mit dem psychologischen Problem befassten Analyse, vgl. auch: Paola Ricci Sindoni: I confini del conoscere. Jaspers dalla psichiatria alla filosofia (Messina: Giannini, 1980) S. 101-187; Stefania Achella: Nota introduttiva, in Karl Jaspers: Scritti psicopatologici, hg. von ders. und Anna Donise (Napoli: Guida, 2004) S. 67-79. Vgl. diesbezüglich auch Rossana Petrillo: La questione del metodo negli scritti psicopatologici di Karl Jaspers, in Atti dell’Accademia di Scienze Morali e Politiche 101 (1990) (Napoli: Giannini, 1991) S. 71-92. Dies impliziert auch, wie Rossana Petrillo zu Recht unterstreicht, dass «die phänomenologische Bedenkenlosigkeit die Welt des Entfremdeten von der wissenschaftlichen Indifferenz befreit» (ibid. S. 78). Hierzu siehe den Aufsatz von Christian von Ehrenfels: Über «Gestaltqualitäten», in Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 14 (1890) S. 242-292; siehe auch Paolo Bozzi: Fisica ingenua. Studi di psicologia della percezione (Milano: Garzanti, 1990) insbesondere das 3. Kapitel «Qualità terziarie», S. 88-117.
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schaftlichen Ansatz der Psychologie als subjektiv, also als aleatorisch und unbeständig erachtet werden. Die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Symptomen ist nicht direkt mit einer Unterscheidung zwischen bewusstseinsintern und bewusstseinsextern verbunden. Aus diesem Grund ist nicht nur all das objektiv, was messbar und über die Sinne wahrnehmbar ist (Handlungen, Ausdrucksformen, Geschriebenes), sondern objektiv ist auch, was wir zwar nicht sehen, aber dafür rational verstehen können, also das, was Jaspers «die rationalen Inhalte sprachlicher Produkte»5 nennt, die auch pathologisch definiert sind. Gemeinsame Charakteristik der objektiven Symptome ist, dass sie beweisbar und für jeden verständlich sind, der über Wahrnehmungsfähigkeit und Rationalität verfügt. Muss man daraus folgern, dass unter dieser Voraussetzung die subjektiven Symptome auf einer anderen Ebene als jener der Sinneswahrnehmung und des logischen Denkens anzusiedeln sind? In der Tat befinden sie sich auf einer rein subjektiven Ebene: «Sie können nicht» – schreibt Jaspers – «mit Sinnenorganen gesehen, sondern nur durch Hineinversetzen in die Seele des anderen, durch Einfühlen erfaßt werden, sie können nur durch Mit-erleben, nicht durch Denken zur inneren Anschauung gebracht werden».6 Wenn der mir gegenüberstehende Andere Angst hat oder glücklich ist, dann ist es nicht möglich oder nicht ausreichend zu sagen, dass ich seine Angst oder sein Glücklichsein «gesehen» habe; ich habe mich nämlich auf eine andere Ebene als jene der objektiven Tatsachen gestellt und habe diesen Gemütszustand unmittelbar verstanden. Wir erfassen die subjektiven Symptome nur durch Empathie oder durch das Sich-in-den-Anderen-Hineinfühlen. Man könnte behaupten, dass dieses Vermögen der Einfühlung, der Empathie, für Jaspers ein regelrechtes Wissensorgan ist,7 so wie die Sinnesorgane ein Mittel zur Beobachtung der physischen, chemischen, physiologischen Phänomene sind. Dies wurde in jüngster Zeit durch die Entdeckung der Spiegelneurone durch Rizzolati und Gallese physiologisch begründet. Spiegelneurone übertragen Impulse – sei es wenn wir primäre Emotionen
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Karl Jaspers: Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie, in ders.: Gesammelte Schriften zur Psychopathologie (Berlin: Springer, 1963). Ibid. S. 314. Zur Beziehung zwischen subjektiven und objektiven Symptomen, ist auch folgendes Werk sehr interessant und nützlich: Ricci Sindoni: I confini del conoscere, op. cit., vgl. insbesondere S. 78ff. Vgl. Giuseppe Cantillo: Introduzione a Jaspers (Roma: Laterza, 2001) S. 18.
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empfinden (also unsere Angst oder unsere Freude), sei es wenn wir diese an einem anderen Subjekt beobachten.8 Jaspers unterstreicht die Tatsache, dass der Einfühlungsprozess nicht banalisiert werden darf, sondern in seiner ganzen Komplexität gesehen werden muss. Selbstverständlich ist ein subjektives Gegebenes sehr viel schwieriger zu definieren und zu beweisen als ein durch die Wahrnehmung erfasstes. Das Verfahren ist jedoch das gleiche: nur «durch Vergleich, Wiederholung, Nachprüfung der Einfühlungserlebnisse, der Vergegenwärtigungen»9 kann man – genau wie bei der Beweisführung naturwissenschaftlicher Ergebnisse – ein gewisses Maß an Sicherheit erlangen. «Unsicherheit herrscht auf beiden Gebieten. Daß sie auf der psychologischen Seite größer ist, ist nicht zu bestreiten. Aber das ist nur ein gradweiser Unterschied».10 Die subjektiven Symptome, das heißt gelebte Erfahrungen und Vergegenwärtigungen, müssen über eine Methodik erlangt werden, die Jaspers als phänomenologisch bezeichnet, wobei er die Phänomenologie zumindest zu einem der methodischen und begrifflichen Fundamente der Psychopathologie macht.11 So gesehen muss «Phänomenologie» als Beschreibung des inneren psychischen Lebens gesehen werden, des psychisch Erlebten als solchem.12 Jaspers ist der Ansicht, dass wir durch das phänomenologische Verfahren «seelische Zustände, die die Kranken wirklich erleben, uns anschaulich zu 8
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Zu einer vollständigen Beschreibung siehe: Giacomo Rizzolatti, Corrado Sinigallia: So quel che fai. Il cervello che agisce e i neuroni specchio (Milano: Cortina, 2006). Jaspers: Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie, op. cit. S. 319. Ibid. Vgl. Wolfram Schmitt: Karl Jaspers als Psychiater und sein Einfluß auf die Psychiatrie, in Karl Jaspers in seiner Heidelberger Zeit, hg. von Joachim-Felix Leonhard (Heidelberg: Heidelberger Verlaganstalt und Druckerei, 1983) S. 23-82, hier bes. S. 30. Es muss auf jeden Fall darauf hingewiesen werden, dass für Jaspers die Phänomenologie eine Methode und nicht eine in toto zu übernehmende Theorie zur Psychopathologie ist. Vgl. Oscar Meo: Psicopatologia e filosofia in Karl Jaspers (Firenze: Le Monnier, 1979) S. 27ff. Als nützlich kann sich die Lektüre des gesamten ersten Kapitels von Jaspers’ Allgemeiner Psychopathologie (Berlin: Springer, 1913) erweisen, das der phänomenologischen Methode gewidmet ist und in dem er den Essay von 1912 Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie (op. cit.) aufgreift, die Darlegungen jedoch erweitert; vgl. auch Cantillo: Introduzione a Jaspers, op. cit. S. 25.
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vergegenwärtigen» vermögen.13 In gewissem Sinne – so Jaspers in dem weitläufigen, der Phänomenologie gewidmeten Kapitel der Allgemeinen Psychopathologie – ist der Psychiater gezwungen, sich auf das Urteil des Kranken zu beschränken. Selbstverständlich sind nicht alle Beschreibungen verlässlich, doch das ändert nichts an der Tatsache, dass sie der primäre Zugang zur psychischen Krankheit sind. Sehr wichtig ist jedoch, dass weder der Kranke, noch der Arzt das Symptom oder die beschriebene psychische Erfahrung sofort einem vorgefassten theoretischen Erklärungsschema zuordnen: «Wir müssen alle überkommenen Theorien, psychologischen Konstruktionen, alle bloßen Deutungen und Beurteilungen beiseite lassen, wir müssen uns rein dem zuwenden, was wir in seinem wirklichen Dasein verstehen, unterscheiden und beschreiben können».14 Jaspers identifiziert die phänomenologische Methode mit diesem Verfahren, in der Bemühung, die Angaben so vorzulegen, wie sie an sich sind, wobei er sie von den Verbindungen, den gegenseitigen Ableitungen und von jeder Art bereits bestehender theoretischer Erklärung abstrahiert; es handelt sich um eine methodologische Haltung, die «nur sehen, nicht erklären will».15 Jaspers teilt auch die Ablehnung dessen, was in der Psychologie als «Reizfehler»16 bekannt ist, der Verwechslung zwischen Beschreibung des Phänomens und Erklärung seiner Ursache. Ziel der phänomenologischen Psychopathologie ist es, die erlebten Erfahrungen zu schildern; sie strebt danach, eine in sich unendliche Menge letzter, «endgültiger»17 psychischer Qualitäten zu ordnen. Doch die Aufgabe der Phänomenologie beschränkt sich auf dieses Erkennen und fragt nicht nach der Genesis der psychischen Phänomene. Aus diesem Grund erscheint sie als Voraussetzung für jede weitere Forschung: «die Untersuchung der Entstehung der Farben, der Wahrnehmungen
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Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, op. cit. S. 47. Ibid. S. 48. Jaspers: Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie, op. cit. S. 321. Zu diesem Thema siehe Ugo Savardi-Ivana Bianchi: Gli errori dello stimolo (Verona: Cierre, 1999). Es ist nicht einfach zu erklären, wie ein rein beobachtendes Verhalten «endgültige» Phänomene ausmachen und sie als solche bewerten sollte. Der Rückgriff auf das Augenfällige oder auf die direkte Anschauung scheint zur Lösung des Problems nicht ausreichend. Vgl. Wolfgang Baßler: Psychiatrie des Elends oder Elend der Psychiatrie (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1990).
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usw. ist der Phänomenologie fremd».18 Für Jaspers ist die phänomenologische Methode eine statische, sich auf das Beobachten beschränkende Methode, wobei zu den Phänomenen keine Herleitungshypothesen formuliert werden. Dieser Ansatz bildet jedoch die Grundlage, ohne die jedes weitere Forschen sinnlos wäre. In der zweiten Phase folgt das, was Jaspers die «dynamische Methode» des genetischen Verstehens und des Erklärens der Phänomene nennt, doch damit sind wir bereits über den Bereich der Phänomenologie hinausgegangen. Die Definition der phänomenologischen Methode als eines «Vergegenwärtigens» des entsprechenden Phänomens – was so viel heißt wie: «es dem Bewusstsein vergegenwärtigen» – verursacht jedoch nicht wenige Schwierigkeiten. Ich werde versuchen, drei grundlegende Kernaspekte herauszukristallisieren: 1. Der Stoß gegen das Unverständliche Der erste wird von Jaspers selbst aufgeworfen; im Bereich der Psychopathologie gibt es einige absolut unzugängliche, nicht verständliche Phänomene und wir «kommen ihnen nur durch Analogien und Bilder näher. Und wir bemerken sie im Einzelfall nicht durch positives Verstehen, sondern durch den Stoß, den der Gang unseres Verstehens durch dieses Unverständliche erfährt».19 Einen Fall solcher Unzugänglichkeit stellt unter anderem die Sprachschöpfung dar, die eine gemeinsame Ebene von Patient und Psychiater ausschaltet. Jaspers beschreibt Kranke, die die Unfähigkeit beklagen, ihre Empfindungen aufgrund der Unangemessenheit der Sprache mitzuteilen; andere wiederum schaffen neue Wörter und es kann auch zum absoluten Schweigen des Patienten kommen. Es gibt also Phänomene, die nicht verstanden werden können, angesichts derer die subjektive Psychologie innehalten muss. Welche Auswirkungen hat eine solche Behauptung auf theoretischer Ebene? Es können von einem solchen Anstoßen gegen etwas Unverständliches viele Interpretationen gegeben werden. Die «Unverständlichkeit» kann auch im Sinne eines Bruchs der Intersubjektivität interpretiert werden.20 Man kann darin
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Jaspers: Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie, op. cit. S. 326. Ibid. S. 321. Arnaldo Ballerini: La incompresa «incomprensibilità» di Karl Jaspers, in Atque, n. 22, monographischer Band: Karl Jaspers e la psicopatologia (Bergamo: Moretti & Vitali, 2000-2001) S. 7-18.
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auch ein Zeichen großer Beschränktheit der phänomenologischen Methode sehen, die «schon voraussetzt, was sie zu erreichen versucht: die Erlangung eines ausreichend weit entwickelten Bewusstseinsgrad der Erlebnisse und eines kritischen Selbstbewusstseins von Seite des Kranken».21 Das Erfahren der Unfähigkeit, ein Erlebnis des kranken Subjekts zu erfassen, kann als ein auf klinischer Ebene erlebtes, konkretes Beispiel dessen angesehen werden, was Jaspers einige Jahre später im Begriff der «Grenzsituation» als Theorie definieren wird. Sicherlich könnte man sagen, die Betrachtung der unverständlichen Phänomene sei ein weiteres Mosaiksteinchen in Jaspers methodologischem Pluralismus, der bestrebt ist, den Menschen in seiner Ganzheit zu erfassen. Angesichts der durch verschiedene Ursachen bedingten Schwierigkeit, den Anderen zu verstehen, ist Jaspers’ Haltung nicht die der Bekräftigung des Verstehens, sondern das Zugeben einer Grenze. In dieser Grenze der empathischen Haltung lässt sich erneut ein andersartiger Ansatz gegenüber der Krankheit ausmachen, und mit ihm, theoretisch gesehen, die Ablehnung eines jeden methodologischen Absolutismus.
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Der zweite problematische Aspekt ist expliziter mit Jaspers’ Beziehung zu Husserls Phänomenologie verbunden. Viele seiner psychopathologischen Arbeiten gehen der Veröffentlichung der Husserl’schen Ideen voraus. Nicht von ungefähr kann Jaspers die Phänomenologie als «beschreibende Psychologie» interpretieren, ohne dabei das Bedürfnis zu verspüren, die mit ihr beabsichtigte methodologische Verwendung zu klären und ohne sie adäquat von Husserls Ansatz zu unterscheiden.22 Es ist wohl auch kein Zufall, dass 21
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Vgl. Meo: Psicopatologia e filosofia in Karl Jaspers, op. cit. S. 37. Im Essay Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie finden wir eine eindeutige Bezugnahme auf Husserl, der jedoch gemeinsam mit Brentano und Lipps genannt wird (vgl. op. cit. S. 30). Vielfach ist auf den Unterschied zwischen Husserls Phänomenologie und der Jaspers’schen Verwendung derselben hingewiesen worden. Hervorzuheben ist vor allem: bereits Oswald Bumke stellte 1922 fest, dass die «Psychopathologische Phänomenologie» mit Husserls Phänomenologie nur den Namen gemeinsam hatte. Auch Birnbaum kritisierte im gleichen Jahr die extrem subjektivistische Verwendung der Phänomenologie seitens Jaspers’. Im Folgenden erachtete Heimann die von Jaspers eingeleitete Entwicklung der Phänomenologie zur empirisch-wissenschaftlichen Methodologie als eine eindeutige Abweichung von Husserls ursprünglicher Ab-
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Husserl 1916, also wenige Jahre später, es als notwendig erachtet, in einer kleinen, unveröffentlicht gebliebenen Schrift,23 die Beziehungen zwischen Psychologie und Phänomenologie zu klären. Husserl ist der Ansicht, Phänomenologie dürfe nicht als psychologische Methode angesehen werden, aber dennoch wird gleichzeitig das Bewusstsein einer engen Verbindung zur Psychologie zum ständigen Thema seiner phänomenologischen Betrachtungen.24 In der ersten Ausgabe der Allgemeinen Psychopathologie ist Jaspers’ Reflexion über Husserls Phänomenologie noch nicht enthalten. Diese wird erst in die zweite Auflage des Werkes aufgenommen. Es ist anzunehmen, dass die Veröffentlichung des ersten Bandes der Ideen (1913) Husserls phänomenologischen Ansatz erklärt hatte und Jaspers veranlasst hat, eine erste Phase zu unterscheiden, die Göttinger Phase, in der Husserl den Begriff verwendete, um die beschreibende Psychologie der Bewusstseinserscheinungen zu definieren, und eine zweite Phase, in der er mit dem Begriff «Phänomenologie» die «Wesensschau» meint. Jaspers erklärt ganz offen, sich die erste Auslegung des Begriffs aneignen zu wollen, um dadurch die phänomenologische Methode in der Psychopathologie zur Anwendung zu bringen. Wo Husserl die Notwendigkeit hervorhebt, sich auf das Phänomen als solches zu beziehen – unter Ausklammerung sowohl unserer Theorien über die Welt und über die Phänomene, als auch die Frage, ob das angesprochene Phänomen wirklich so sei wie wir es sehen – tut er dies immer, schon in den Logischen Untersuchungen oder in Die Idee der Phänomenologie, indem er diesen Prozess mit der Rückführung auf das eidos oder das Allgemeine in Beziehung setzt. Hier zeigt sich ganz eindeutig Jaspers instrumentale Verwendung der Phänomenologie. Er will sie zur beschreibenden
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sicht. Vgl. Oswald Bumke: Psychologie und Psychiatrie, in Klinische Wochenschrift 1 (1922), sowie Hans Heimann: Der Einfluß Karl Jaspers’ auf die Psychopathologie, in Monatschrift für Psychiatrie und Neurologie 120 (1950). Vgl. auch Wolfram Schmitt: Methodologische Strömungen in der Psychiatrie der Gegenwart, in Psychopathologische Konzepte der Gegenwart, hg. von Werner Janzarik (Stuttgart: Enke, 1982) S. 19-32, bes. S. 20. Edmund Husserl: Phänomenologie und Psychologie, in ders.: Aufsätze und Vorträge 1911-1921 (Den Haag: Nijhoff, 1986). Insbesondere in einer Reihe von Vorlesungen aus den Jahren von 1925 bis 1928, in Band IX der Husserliana mit dem Titel Phänomenologische Psychologie veröffentlicht, sowie in Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie: eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hg. von Walter Biemel (Den Haag: Nijhoff, 1962) greift Husserl das Thema der Psychologie wieder auf.
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Psychologie gestalten, deren Beobachtung des Phänomens (das Symptom) nicht von einem vorgefassten theoretischen Standpunkt ausgeht, sondern jene Elemente hervortreten lässt, welche bei einer ersten Annäherung unwichtig erscheinen mögen. Auf der einen Seite scheint Jaspers also das mit der Anschauung einhergehende Verfahren anzunehmen: daß das Erlebnis eines einzelnen Kranken immer unendlich an Mannigfaltigkeit ist, daß die Phänomenologie aber daraus nur etwas Allgemeines herausholt, das bei dem Erlebnis eines anderen Falles, das wir darum dasselbe nennen, ebenso ist, während jene Unendlichkeit des Individuellen immer wechselt. Es besteht also das Verhältnis, daß die Phänomenologie auf der einen Seite abstrahiert von einer Unendlichkeit wechselnder Bestandteile, auf der anderen Seite durchaus nicht einem Abstrakten, sondern einem voll Anschaulichen zugewandt ist. Nur soweit etwas zur wirklichen, unmittelbaren Gegebenheit zu bringen, d. h. anschaulich ist, ist es Gegenstand der Phänomenologie.25
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Auf der anderen Seite lehnt er jedoch die auf der Wesensschau aufbauende Phänomenologie ab. Wie also geht die phänomenologische Methode vor? Die Phänomenologie soll eine Reihe psychischer Phänomene beschreiben, sie nebeneinander stellen, geordnet nach ihrer «phänomenologischen Verwandtschaft», wie es Jaspers nennt. Dieser Weg, den Jaspers in einer Schrift von 1912 über Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie sehr klar umreißt, empfiehlt eine Art Parallele zwischen abnormer Psyche und Farbenspektrum. So wie der Farbenkreis von einem phänomenologischen Standpunkt aus zufriedenstellend jenes beherrschbar macht, was Jaspers die Unendlichkeit der Farben nennt, so suchen wir «nach einer Ordnung, die die seelischen Phänomene nach ihrer phänomenologischen Verwandtschaft nebeneinander stellt»: dabei handelt es sich um «durch einen Abgrund geschiedene, gar nicht durch Übergänge verbundene Phänomene».26 Indem er dieses methodologische Vorgehen in eben derselben Schrift in die Praxis umsetzt, vergleicht Jaspers jene als Pseudohalluzinationen bezeichneten pathologischen Vorstellungen mit den normalen Vorstellungen. Pseudohalluzinationen unterscheiden sich
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Jaspers: Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie, op. cit. S. 323. Noch deutlicher spricht Jaspers in einem Essay von 1913 über die unverständlichen Beziehungen als «idealtypische Zusammenhänge». Vgl. Kausale und verständliche Zusammenhänge zwischen Schicksal und Psychose bei Dementia Praecox (Schizofrenie), in ders.: Gesammelte Schriften zur Psychopathologie, op. cit. S. 332. Ibid. S. 324.
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von normalen Vorstellungen dadurch, dass sie klar, unterschieden, scharf, detailliert sind und vom Willen unabhängig, ja fast gegen den Willen auftreten. Sie zu erleben bedeutet für den Kranken, Passivität zu erfahren. Aufgrund all dieser Elemente sind sie mit Wahrnehmungen vergleichbar. Doch im Gegensatz zu Letzteren entfalten sie sich nicht im äußeren Raum, sondern im Inneren, dem typischem Bereich der Vorstellungen. Es entstehen so Unterschiede und Ähnlichkeiten, wobei versucht wird, die Charakteristiken der psychischen Phänomene als solche aufscheinen zu lassen. Das Problem jedoch bleibt bestehen. Die Kluft zwischen empirischer Realität und transzendenter Idealität ist durch die Bezugnahme auf die Phänomenologie nicht lösbar, und zwar gerade weil Jaspers nur einen Aspekt davon und nicht die gesamte Theorie verwenden will. Dem phänomenologischen Verfahren einen theoretischen – oder besser methodologischen – Wert zu verleihen, erweist sich als schwierig, wenn man nicht den Übergang vom unmittelbaren Erlebnis des Kranken zur Möglichkeit einer Klassifizierbarkeit dieser Erfahrung in angemessener Weise klärt und dessen wichtigste Punkte herausgreift. Für Husserl gilt die eidetische Reduktion: sie führt das Phänomen anschaulich und unmittelbar auf sein Wesen zurück. Jaspers dagegen scheint das Problem mit einem eher Webers Idealtypus 27 ähnelnden Verfahren zu lösen. Er scheint dies nicht nur im Entstehungsmoment zu tun (hier bekundet er die Bezugnahme auf Weber), sondern auch im Übergang zwischen der vom Kranken erlebten Erfahrung und der Definition einer Art der Pathologie.
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3. Intentionalität und Rolle des Ichs Der dritte problematische Aspekt, den ich hervorheben möchte, betrifft den Begriff der Intentionalität: für Jaspers das zentrale Element im Wiederaufgreifen der Phänomenologie als Methode. Intentionalität ist bekanntlich ein 27
Der Idealtypus ist für Weber «ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die ‹eigentliche› Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird» (Max Weber: Die «Objektivität» sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1904], in ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann [Tübingen: Mohr, 71988] S. 194).
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Schlüsselbegriff der Husserl’schen Phänomenologie und zwar jener Begriff, der das Bewusstsein charakterisiert und definiert. Der sich auf Brentano berufende Husserl sieht das Bewusstsein immer als Bewusstsein von Etwas; die Intentionalität dagegen beschreibt in der Definition der Logischen Untersuchungen «den gemeinsamen Wesenscharakter der abzugrenzenden Erlebnisklasse […] das sich in der Weise der Vorstellung oder in einer irgend analogen Weise auf ein Gegenständliches Beziehen»,28 wie Erinnerungen, Wünsche, Phantasien usw. Doch grundlegend ist, dass für Husserl Intentionalität weder das besondere Sich-Hinwenden zu Etwas bedeuten will, noch implizit eine Vorstellung von Handlung vorsieht, die ganz im Gegenteil «schlechterdings ausgeschlossen bleiben» soll.29 Jaspers vertritt dagegen die Ansicht, dass die Tat bzw. der Gedanke «beseelen»: «das Empfindungsmaterial wird durch den Akt gewissermaßen beseelt, gewinnt erst durch ihn Gegenständlichkeit und Bedeutung, ist uns durch ihn ein bestimmter Gegenstand in bestimmter Weise. Man nennt diesen Akt auch Gedanke, Bedeutungsbewußtsein».30 Hier wird erkennbar, dass das Denken Jaspers’ Ansicht nach eine aktive Rolle spielt – eine Wiederaufnahme von eindeutig Kantischen Motiven. Es ist im Übrigen interessant, dass auch ein weiterer Phänomenologe und zukünftiger Existenzialist, unter anderem Herausgeber der französischen Fassung der Allgemeinen Psychopathologie – nämlich Jean Paul Sartre – einige Jahre später eine Interpretation der Intentionalität vorlegen wird, die der Husserl’schen nicht unähnlich ist. Die Sinneninhalte, die in Husserls Auslegung eine Wahrnehmungsphase darstellen, die ich nur durch eine spätere Reflexion der verschiedenen Phasen der Wahrnehmung zu isolieren vermag – «Ich sehe nicht Farbempfindungen, sondern gefärbte Dinge, ich höre nicht Tonempfindungen, sondern das Lied der Sängerin»31 schrieb Husserl –, diese Aspekte werden bei Sartre zentral. Sartre behauptet sogar, die Vorstellungskraft sei nichts anderes als ein Name für einen bestimmten Modus, durch den das Bewusstsein einen Inhalt thematisiert. Für ihn wird die Verbildlichung zu einem Modus, den hyletischen Inhalt zu beseelen, anders geartet als jener der Wahrnehmung oder der Erinnerung.32
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Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, in ders.: Gesammelte Schriften 3, Bd. II/1. Teil, hg. von Elisabeth Ströker (Hamburg: Meiner, 1992) S. 392. Ibid. S. 393. Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, op. cit. S. 26. Husserl: Logische Untersuchungen, op. cit. S. 387. Vgl. Jean Paul Sartre: L’imagination (Paris: P. U. F., 1936).
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Abschließend greifen wir auf ein konkretes Beispiel der Jaspers’schen Analysen zurück, das uns auch helfen soll, die Satzung der phänomenologischen Methode zu verstehen: die Schrift von 1913 Über leibhaftige Bewußtheiten (Bewußtheitstäuschungen), ein psychopathologisches Elementarsymptom. Jaspers führt hier eine akkurate Analyse der verschiedenen Formen von Bewusstheit durch. Als erstes unterscheidet er die leibhaftigen Bewusstheiten – im Dunkeln spüren wir die Anwesenheit einer Mauer oder eines Menschen, ohne sie jedoch zu sehen – von den Verstandesbewusstheiten. Wenn wir z. B. das Wort «Glocke» lesen, wissen wir um seine Bedeutung auch ohne das Vorhandensein eines Anschauungselements im Bewusstsein und unterscheiden dann beide von den reinen Sinnestäuschungen. Sich der physischen Anwesenheit einer Person oder eines Gegenstands bewusst zu sein, auch ohne eine diese Überzeugung bestätigende Sinneswahrnehmung, ist eine Erfahrung, die jeder von uns machen kann (z. B. in der Dunkelheit); denn nicht unbedingt entspricht diese Überzeugung der Wahrheit. Im Falle einer kranken Psyche kann das Bewusstsein einer Anwesenheit mit einer tiefen «primären» Überzeugung einhergehen. Jaspers erachtet diese Beschreibungen als sehr wertvoll und zitiert einige davon in seinem Essay von 1913. Als Beispiel möchte ich hier einen literarischen Fall anführen, den Jaspers aus Strindbergs Selbstschilderung ableitet (Inferno) : 33 «Als ich den Garten des Hotels wieder betrete, wittere ich die Gegenwart eines Menschen, der, während ich fort war, gekommen ist. Ich sehe ihn nicht, aber ich fühle ihn » (S. 99). «Ein furchtbares Schweigen herrscht im Haus, als ich die Lampe lösche. Ich fühle, daß jemand im Dunkeln auf mich lauert, mich berührt, nach meinem Herzen tastet, saugt» (S. 110). «Oft ist es mir, als stehe jemand hinter meinem Stuhl. Dann richte ich Dolchstöße nach hinten, indem ich mir einbilde, einen Feind zu bekämpfen» (S. 158). «Als ich wieder die Tür meines Zimmers öffne, ist es mir, als sei die Stube von lebendigen und feindlichen Wesen bewohnt. Das Zimmer ist davon erfüllt, und ich glaube durch eine Menge zu dringen, als ich mein Bett zu erreichen suche» (S. 161). «Die Nacht verbringe ich im Gasthaus, wo auch meine Mutter und mein Kind auf meine Bitte schlafen, um mich gegen die Schrecken des Todes zu schützen, die ich ahne dank meinem sechsten Sinn» (S. 183) «Tretet nachts wieder in euer Zimmer und ihr werdet dort jemand finden; ihr seht ihn nicht, aber ihr fühlt deutlich dessen Anwesenheit. Geht in die Irrenanstalt und fragt den Irrenarzt, und er wird von Nervenschwäche, Verrücktheit, Brustbeklemmung, u. dgl. sprechen, aber er wird euch
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August Strindberg: Inferno (1897) (München, Leipzig: Müller, 1910). Zitiert nach: Karl Jaspers: Über leibhaftige Bewußtheiten (Bewußtheitstäuschungen), ein psychopathologisches Elementarsymptom, in ders.: Gesammelte Schriften zur Psychopathologie, op. cit. S. 417.
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niemals helfen!» (S. 199). «Es gibt Abende, da ich überzeugt bin, daß sich jemand in meinem Zimmer befindet. Dann bekomme ich infolge der furchtbaren Angst Fieber mit kaltem Schweiß» (S. 252).
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Soweit die Situation in der Pathologie. Doch im normalen psychischen Leben tritt das Bewusstsein der Realität des Phänomens erst später ein. Diese Untersuchung einiger «abnormer» Phänomene des Bewusstseins muss von der Frage nach der Entstehung dieser Phänomene getrennt werden – und gerade das gestaltet sie zur phänomenologischen Untersuchung. Die Analyse hat zur Erwägung der Möglichkeit geführt, diese leibhaftigen Bewusstheiten im Bereich der Illusionen anzusiedeln und «die damit bezeichneten Phänomene, die bisher nirgends Unterkunft fanden, sind doch so mit einem kurzen Namen benannt und in ihrer Eigenart zusammengefaßt».34 Diese Passage zeigt, wie wenig phänomenologisch die angewandte Methode ist, neigt sie doch dazu, Kategorien zu bilden und diese zu vergleichen. Jaspers folgert daraus, dass die leibhaftige Bewusstheit sorgfältiger definiert werden muss, nämlich als leibhaftige Illusionen der Bewusstheit. Die Verwendung dieses Genitivs fordert uns auf, noch einmal über den Begriff der Bewusstheit nachzudenken: Der Begriff Bewusstheit war 1888 von Natorp in seiner Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode 35 verwendet und von Husserl in der fünften Logischen Untersuchung polemisierend aufgegriffen worden.36 Natorp bezeichnet die Bewusstheit als das Bezugnehmen der Bewusstseinsinhalte auf ein Ich. In der ersten Auflage seiner Logischen Untersuchungen bestreitet Husserl die Notwendigkeit eines Ichs als Bezugspunkt, wie auch die Notwendigkeit, ein solches Ich in einer intentionalen Struktur als Hypothese anzunehmen. Meiner Ansicht nach könnte man behaupten, dass Jaspers den Begriff Bewusstheit von Husserl übernimmt, ihn jedoch im Sinne Natorps anwendet: die leibhaftige Bewusstheit ist ein dem Phantomschmerz ähnelndes Phänomen, in dem ein Ich nicht nur Dinge sieht, die nicht vorhanden sind, sondern ihnen auch einen Sinn gibt. Abschließend stellt sich das grundlegende theoretische Problem, in wie weit die Husserl’sche Phänomenologie zur Krankheitsanalyse geeignet ist. 34 35 36
Ibid. S. 418. Paul Natorp: Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode (Freiburg i. Br.: Mohr, 1888), siehe besonders den gesamten § 4. Siehe Husserl: Logische Untersuchungen, op. cit. S. 352-529, insbesondere § 8, «Das reine Ich und die Bewußtheit».
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Husserls Phänomenologie ist die Wissenschaft vom «normalen» Bewusstsein, und nicht von ungefähr haben diejenigen, deren Interesse spezifisch der Psychologie gilt, einen anderen Ansatz gewählt. Sartre, Jaspers und im Grunde genommen auch Binswanger und Merleau-Ponty sind so verfahren.37 Es scheint mir jedoch kein Zufall, dass nach Abschluss seiner Beschäftigung mit der Phänomenologie, der Arzt Jaspers sich in der Auseinandersetzung mit den Pathologien nicht auf die Untersuchung (und Idealisierung) des «normalen» Bewusstseins bei Husserl und später auf den Heideggers von Sein und Zeit beschränken konnte, sondern vielmehr mit großem Einfühlungsvermögen und philosophischem Feingefühl auf Hegels Phänomenologie Bezug genommen hat. Dabei handelt es sich um eine Phänomenologie, die sich im Beschreiben der Wechselfälle des Geistes nicht auf die Normalität beschränkt, sondern Raum für Anomalien und Delirien lässt und in beeindruckenden Analysen, wie jener der Jenaer Philosophie des Geistes (1805/06) zum Ausdruck kommt, welche die Normalität aus der Sicht des Wahnsinns zu betrachten scheint:
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Der Mensch ist diese Nacht, diß leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthalt – […] Diß die Nacht, das Innre der Natur, das hier existirt – reines Selbst, – in phantasmagorischen Vorstellungen ist es rings um Nacht, hier schießt denn ein blutig Kopf, – dort eine andere weisse Gestalt plötzlich hervor, und verschwinden ebenso – Diese Nacht erblickt man wenn man dem Menschen ins Auge blickt – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird, – es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen.38
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Vgl. Ludwig Binswanger: Über Phänomenologie, in Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 82 (1923) S. 35-45, und Eugène Minkowski: Phénoménologie et Analyse existentielle en psychopathologie, in L’évolution psychiatrique 13/4 (1948) S. 141-144. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Systementwürfe III, hg. von Rolf-Peter Horstmann, in ders.: Gesammelte Werke, Bd. VIII (Hamburg: Meiner, 1976) S. 187.
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Das pädagogische Planen und das Ziel der Erziehung The subject of education in Jaspers’ thought can be read on two levels: the numerous theoretical cues that educational theory can deduce from his philosophical reflection; and the role that his philosophical pattern, his manner of philosophising, assumes in the educational experience. These two levels interlace in his 1952 essay, Von den Grenzen pädagogischen Planens, where he asserts that educational planning does not exhaust the formation of the individual. This formation requires ‹un-planned› space that aims at supporting the free expansion of the personality, which cannot be restricted to exclusively cognitive formation. The true development of the personality needs to live the polar tension between the ‹day’s law› and the ‹night’s passion›; the polar tension between the inevitable objective human dimension and the seducing attachment to elusiveness.
Verfolgt man Jaspers’ Denkweg, so ist die konstante Aufmerksamkeit überraschend, die er dem Thema der Erziehung widmet. Sie geht so weit, dass über die spezifischen, in seinem Gesamtwerk dargelegten Überlegungen hinaus es manchmal offensichtlich ist, wie sein Philosophieren selbst sich mit der Erziehungspraxis identifiziert. Jaspers erarbeitet keine vollendete pädagogische Lehre, sondern denkt über den Sinn der Erziehung nach und stellt diese in einer perspektivischen und gegliederten Weise dar, unter Berücksichtigung der Vielfalt und des Reichtums der zahlreichen Dimensionen der Wirklichkeit. Daraus ergibt sich eine offene Begrifflichkeit, Begriffe im Werden, die dem Werden des Lebens entsprechen, wobei das Leben in seiner Ambivalenz und Unergründbarkeit gedacht wird. Hermann Horn zeigt in seiner Einführung zu Was ist Erziehung? (1977), dass diese Art der Annäherung an die Erziehungsthematik bei manchen Pädagogen – er nennt hier Otto Friedrich Bollnow – zu der Überzeugung geführt hat, dass die Existenzphilosophie es unmöglich mache, das Grundprojekt der Pädagogik, nämlich die «Bildsamkeit» des Einzelnen, zumindest was den existentiellen Kern des Menschen angeht, zu verwirklichen.1 1
Siehe Karl Jaspers: Was ist Erziehung? Ein Lesebuch, hg. von Hermann Horn (München: Piper, 1977).
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Eine solche Ansicht wird durch die Tatsache gerechtfertigt, dass die Existenzphilosophie der Pädagogik sicherlich keine Gewissheiten, sondern vielmehr Sorgen und Problematiken überhändigt, die mit einer Idee vom Menschen zusammenhängen, der sich mit dem, was über ihn selbst hinausgeht, zu messen hat. Unabhängig davon, ob man dieser Ansicht zustimmt oder nicht, muss Jaspers das Verdienst zuerkannt werden, die Frage nach jenem Sinn des Erziehens auf entschlossene Weise neu gestellt zu haben, der im Laufe des 20. Jahrhunderts durch ideologische Argumentationen verkümmert war und den eine durch vergebliches Experimentieren geblendete Pädagogik verloren hatte. Horn hat deshalb zu Recht Jaspers als einen der wichtigsten Erzieher unserer Zeit bezeichnet.
1. Das Zuviel an Planung als Ergebnis der Rationalisierung der Wirklichkeit Beschäftigt man sich mit dem Thema der Erziehung, so kann von einer Analyse der Zeitsituation nicht abgesehen werden, in der sich nach Jaspers’ Meinung wesentlich die nihilistische Wende der westlichen Kultur widerspiegelt. Der Rationalisierungsprozess der Wirklichkeit in ihren wissenschaftlichen, künstlerischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekten hat durch die Auflösung der nicht wissenschaftlich nachprüfbaren Jenseitigkeit eine diffuse Funktionalisierung bewirkt, die schließlich auch den Menschen mit einschließt. Der zweifache Irrtum der Zeit ist es: «als definierbaren Gegenstand zu erkennen meinen, was in der Tat umgreifend ist – und: in Plan und Absicht zu verwandeln, was in dieser Form gerade seinen Sinn verliert».2 Jaspers fühlt, dass er in einer Gegenwart lebt, die von einem berechnenden Denken beherrscht ist – um es mit Heidegger auszudrücken –, welches einfach nur plant, organisiert und Apparate schafft, wobei der Sinn des menschlichen Daseins Gefahr läuft, zu verschwinden. Die Welt der Technik hat den Menschen mit der Illusion verführt, dass er alles «kann», wenn er nur «will». Das förderte den falschen Glauben, man könne mit Hilfe der Wissenschaft – auf den Gebieten der Geschichte, der Politik, der Soziologie, der Statistik und der Psychologie – die Gesetze des menschlichen Verhaltens und des Verlaufs der Geschichte entdecken und 2
Karl Jaspers: Freiheit und Autorität, in Was ist Erziehung?, op. cit. S. 341.
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damit den Gang der Ereignisse in die gewünschte Richtung steuern. Wenn die wissenschaftliche Untersuchung mit wissenschaftlichem Aberglauben verwechselt wird, glaubt man eine harmonische, reibungslose Welt schaffen zu können, im Zeichen von Wohlstand und Glück, eine Welt, aus der notwendigerweise Schmerz und Leiden verschwinden müssen, denn auch sie sind durch eine entsprechende Lebensplanung beherrschbar. Jaspers erkennt die Notwendigkeit an, dass Planung von wissenschaftlicher Kompetenz geleitet sein muss, aber indem er Weber folgt, der – auf die Voraussetzung der Wertfreiheit gestützt – die wissenschaftlich-rationale Unableitbarkeit der nicht auf ein Zweck-Mittel-Kalkül reduzierbaren Entscheidung behauptet, betont er wie dieser die Unabdingbarkeit der Entscheidung, die, obwohl durch das Wissen erhellt, in den Bereich der Freiheit fällt und in der Verantwortung des Einzelnen wurzelt. Im Laufe der Entwicklungsgeschichte der Menschheit nimmt die Planung direkt proportional mit dem zunehmenden Wissen und der Verfeinerung der Fähigkeiten zu, was zweifellos einem Bedürfnis der menschlichen Natur entgegen kommt. Diese ist in ihrer Anlage planend und strebt danach, ihrem Dasein innerhalb des unbegrenzten historischen Prozesses einen Sinn zu verleihen; dennoch sollte man nicht vergessen, dass das Leben des Einzelnen, da es eine offene Möglichkeit darstellt, jeden Versuch, es in die Grenzen einer Planung zu zwingen, überschreitet.
2. Das auf der Psychologie gegründete pädagogische Planen 25
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Dem Erziehungsprozess selbst ist es nicht erspart geblieben, von der Planung überrollt zu werden, die in einem Klima immer verbreiterter Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Wesen und der Freiheit des Menschen die Persönlichkeiten der Einzelnen gleichzuschalten und in ein homologiertes und leicht manipulierbares Ganzes umzuwandeln droht. In dem Aufsatz Von den Grenzen pädagogischen Planens aus dem Jahr 1952 hinterfragt Jaspers die Notwendigkeit eines pädagogischen Planens, da es für die Bildung des Menschen unverzichtbar ist, sich zu organisieren, sich Ziele zu setzen und nach den geeigneten Mitteln zu deren Erreichen zu fragen, aber er hält es für beunruhigend, dass diese Planung auch jenen Raum der Existenz einbeziehen will, der begrifflich unerfassbar ist und ein Rätsel bleibt. In der Gegenwart ist die Planung ein Hauptmerkmal des formalen Bildungssystems und bedroht die freie Entfaltung der Persönlichkeit, wenn sie
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technisch-wissenschaftlich organisiert und nur auf das eindimensionale Erwerben von Kompetenzen ausgerichtet ist. Heute ist bis an die Universitäten und Technischen Hochschulen gedrungen: endlose Stundenzahl notwendiger Vorlesungen und Übungen, Versperrung des freien geistigen Weges des Studenten, Zerstreutheit vieler Fächer und Kenntnisse, nachher großes Wissen in Prüfungen, aber Erlahmen des ursprünglichen geistigen Lebens, Verlust der Fähigkeit zur Meditation, zur Einsamkeit und zu dem Immer-daran-Denken, das nur auf eine, nicht auf endlos viele Sachen sich richten kann. Hat der Pessimismus recht, der behauptet, daß die faktische Herrschaft der Durchschnittlichkeit die Abrichtung verlange statt freien geistigen Lebens, die Daseinsform in der Trennung des leeren Arbeitsbetriebes und des ebenso leeren Vergnügens? Oder ist es möglich, wieder der Freiheit geistig intensiven statt bloß lernhaft extensiven Lebens ihre Chance zu geben? 3
Die Unruhe einer Zeit, die ihre Verbindungen zur umgreifenden Totalität, zu dem Ganzen verloren hat, das den Menschen einschließt, der seinerseits dessen Anwesenheit und Abwesenheit umfasst, spiegelt sich in einem pädagogischen Planen wieder, das sich in einen Haufen von fragmentarischen Kenntnissen und Begriffen verliert, die mit dem vorgegebenen Bedürfnis gerechtfertigt werden, man müsse Berufswissen aufbauen. In einem «konfusen Gewirr von undifferenzierten und zufälligen Inhalten» gefangen, büßt der Mensch in seinem Werden – das nicht mehr vom Geist einer Tradition geprägt ist, an deren Kontinuität er teilhat – seine Identität ein und wird austauschbar für ein Produktionssystem, das ihn nur noch als Funktion erkennt.
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Es kommt nur auf den geplanten, gewaltigen Menschenbau an, nicht auf Individuen, nicht auf Persönlichkeiten. Diese sind beliebig ersetzbar. Sie sind nach vitaler Kraft intellektueller Begabung, nach technischer Geschicklichkeit und ihrer Funktionalisierbarkeit zu bewerten. Sie sind zu verschwenden in der Arbeit, auszurotten, wenn sie unbrauchbar sind. Denn dieses Material wächst trotz aller Vergeudung immer noch in größerer Menge nach, als man brauchen kann.4
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Selbst die Pädagogik kann also zur Verwandlung der irreduziblen Einzigartigkeit des Menschen in einen reinen Konsumgegenstand beitragen, den man nach Verwendung loswerden kann, da er durch einen anderen ersetzbar ist, wenn sich das Planen des Wissens nicht darauf beschränkt, eine Mittel-
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Karl Jaspers: Von den Grenzen pädagogischen Planens, in ders.: Was ist Erziehung?, op. cit. S. 60. Ibid. S. 56.
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funktion zu erfüllen, sondern selbst zum Zweck der Erziehung wird. Denn was heute einzig zählt, ist die Verbreitung soziologischer, wirtschaftlicher, technischer, wissenschaftlicher, geographischer Kenntnisse, sodass alles zur didaktischen Technik wird.5 Mit einem Wort, die Erziehung ist der umgreifenden Substanz der Totalität entleert und von keinem Glauben mehr getragen. Die Annullierung des Unterschieds zwischen Wesen und Sein infolge der Herrschaft der Technik verwischt jede deutliche Unterscheidung zwischen dem, was «geplant» und dem, was dagegen nur «erhellt» werden kann, weil es zum Raum der Freiheit gehört, die kein Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung ist. Da der Erziehungsprozess zunächst ein geistiger Prozess ist, darf das pädagogische Planen die metaphysische Dimension des Einzelnen nicht vernachlässigen und kann folglich nicht wissenschaftlich, sondern nur ontologisch gegründet werden. Jaspers zeigt sich vor allem gegenüber dem Anspruch kritisch, der die Psychologie zur Grundlage der Erziehung machen möchte. «Die Psychologie als Wissenschaft von der menschlichen Artung, von den psycho-physischen Funktionen, von den Entwicklungsstufen, von den Abnormitäten, soll die Grundlage der pädagogischen Planung und der Entscheidungen sein. Erziehung wird zur einer psychologischen Veranstaltung. Es entsteht die Meinung, der Mensch als Forscher könne den Menschen als Realität durchschauen; was aus dem Menschen werden könne und solle, das ergebe sich aus psychologischer Erkenntnis». «Dies» – fügt er hinzu – «ist ein verhängnisvoller moderner Irrtum».6 Auch wenn es in seinen Werken keine ausdrückliche Aussage diesbezüglich gibt, bezieht sich Jaspers hier wahrscheinlich auf Piagets Psychologie und genauer auf die von ihm erarbeitete genetische Epistemologie, die später auch der Psychopädagoge Bruner wiederaufnimmt, der eine kognitive Psychologie einleitet, die die Pädagogik teilweise enteignet, indem sie die Grundlagen und Erziehungsinhalte einer Theorie mit deutlich psychologischem Ursprung einverleibt. Die Komplexität der Erziehungsfragen wird auf diese Weise auf das Lernen und die kognitive Entwicklung reduziert, doch das, was für die Bildung des Einzelnen bestimmend ist, «ist der Gehalt, zu dem und in dem er5 6
In diesem Zusammenhang siehe Karl Jaspers: Die Idee der Universität, in ders., Kurt Rossmann: Die Idee der Universität (Berlin: Springer, 1961). Jaspers: Von den Grenzen pädagogischen Planens, op. cit. S. 58.
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zogen wird, die im Glauben als sinnvoll gegründete Bildungswelt, das Bild des Menschen, all das, was nicht geradezu gelehrt, sondern in der Lehre durch Vorbild und durch die Auswahl des Lern- und Übungsstoffs verwirklicht wird. Die Erziehung ist immer gut, wenn die Kinder aufgenommen werden in einen großen Glauben, wenn sie erfüllt werden von lebenwährenden Idealen, wenn sie leben mit den überlieferten Symbolen».7 Nach Jaspers sind es die Unerschöpflichkeit des Seins des Menschen, sowie seine Unvollkommenheit, die im Erziehungsprozess ins Spiel kommen, sodass der unbestrittene Beitrag, den das wissenschaftliche Wissen zur Erziehungspraxis leistet, nie ausreichend sein kann, da es eine objektivierende Idee des Menschen vorspiegelt. Die Existenz als unbedingte Öffnung darf nicht einem logisch-objektiven Horizont geopfert werden, in dem ihre Wertdimensionen nicht Wurzel fassen können. Ein pädagogischer Ansatz, der sich auf die Enge des Planens auf psychologischer Grundlage beschränkt, reduziert die Erziehung auf bloße Schulung, mit einer progressiven Nullstellung der Wesenheit des Menschen. Es «kollabiert der mögliche Aufschwung des Menschen in einen Zustand bloß vitaler Lebensenergie, ein Prozeß, der erst im Totalitären seinen Sinn versteht und vollendet.»8 Um sich diesem, das Sein des Menschen «vernichtenden» Zangengriff zu entziehen, muss der Erziehungsprozess Raum lassen für das Hören auf das Wesentliche, das aus der Tradition kommt und aus der Tiefe des Selbst spricht. Das Wesentliche, das die Entscheidungen lenkt, die Grenzen zeigt, die begehbaren Wege erhellt: denn die besten Gesetze, die vollkommensten Institutionen, die richtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die effektivsten Techniken, sind nichts, wenn der Mensch ihnen keinen Sinn verleiht. Der Zustand eines Menschen, der die Grundlage seines Seins nicht mehr in sich selbst findet, sondern nur in einem System, in dem er selbst nur eine Funktion ist – so wie es aus den Überlegungen in Artikeln und Aufsätzen der 1950er Jahre hervorgeht –, erinnert an eine schon in Die geistige Situation der Zeit (1930) zu findende Analyse, als in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sich eine durch den Grundlagen- und Sinnverlust verursachte Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit immer mehr verbreiten und die Werte der Tradition auflösen, während der Wind des Irrationalismus zu wehen beginnt.9 7 8 9
Jaspers: Freiheit und Autorität, op. cit. S. 341. Jaspers: Von den Grenzen pädagogischen Planens, op. cit. S. 62. Siehe Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit (Berlin: de Gruyter, 1931).
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In den 1950er Jahren wird sich Jaspers der Krise der westlichen Kultur und der Krise eines entwurzelten Menschen ohne innere Selbständigkeit immer mehr bewusst; ein Mensch, dessen Leben auf den Augenblick ausgerichtet scheint, ohne den weiten Horizont der Zukunft, ohne Wurzeln in der Tiefe seiner eigenen Vergangenheit und in einer gemeinsamen Geschichte; ein Leben, das durch Bürokratie, die Zwänge der Arbeit und das Planen der Freizeit geordnet ist. Das stellt eine echte Bedrohung der Freiheit dar, denn was am Menschen eigentlich ist, bleibt verdeckt und scheint in dem schlammigen Fluss der Werbung und ihrer Sensationsgier zu versinken, ohne Gehör zu finden.10 Wie es in Krisenzeiten zu geschehen pflegt, stehen in jenen Jahrzehnten die pädagogischen Themen im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, doch bewirken die sich erstaunlich und in jede Richtung vermehrenden pädagogischen Untersuchungen, die zahlreichen Aufsätze, die Verfeinerung der Lehrmethoden, keine Verbesserung des Erziehungsprozesses, fördern sie doch nur die Breite des Wissens, während nach Jaspers’ Meinung eine vereinigende Idee fehlt, die die Freiheit eines intensiv geistigen Lebens zu schüren vermag. Sicherlich ist es nicht die Neuorganisation des Wissens, die allein zu einer neuen Sicht der pädagogischen Fragen führen kann, sondern vielmehr ein radikales Überdenken der Frage, was das Mensch-Sein bedeutet. Jaspers wiederholt ständig, wie wichtig es für den Einzelnen ist, sich als ein alles umgreifendes Ganzes wahrzunehmen, sich als unbedingte Öffnung gegenüber der Offenbarung des Seins zu fühlen, also fähig zu werden, über die Grenzen des Objektiven zu transzendieren und in Richtung der Jenseitigkeit zu gehen, wo der Sinn dessen bewahrt ist, was in der Welt erscheint und sich offenbart. Um diese Dimension wieder zu erlangen, ist ein Erziehungsprozess notwendig, den Jaspers als paradox definiert: das «Planen des Nicht-Planens», um dem Unbegreiflichen den Atem zurück zu geben, um den ontologischen Wurzeln des Menschen neuen Lebenssaft zu verleihen, damit sie nicht der drohenden Austrocknung durch rein intellektualistische Bildung zum Opfer fallen. Die Aufforderung, das Nicht-Planen zu planen, zeigt, dass das Wesentliche weder unmittelbar greifbar noch der Macht des Verstands unterworfen 10
Siehe Karl Jaspers: Rechenschaft und Ausblick (München: Piper, 1958).
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ist, sondern ein Existenzprojekt nach sich zieht. Denn es nährt sich aus einer jeweils einzigartigen Freiheit, der einzigen Freiheit, aus der beim Menschen der Entschluss, er selbst zu sein, hervorgehen kann. Das ist kein selbstverständlicher Vorgang, sondern es bedarf ständiger Übung, da es darum geht, sich aus der «Gefangenschaft» des Verstandes zu befreien, ohne den Verstand zu verlieren. Das ist sicher nicht die Aufforderung, von der Konkretheit der Realität abzusehen, um einem Jenseits der Geistigkeit nachzulaufen, sondern es ist vielmehr eine Antwort auf jene Instanz, die aus der Tiefe unseres Selbst kommt, in der die Verbindung mit der Transzendenz bewahrt ist, aus welcher die Autorität hervorgeht. Das ist ein Vorgang, den jeder nachvollziehen kann, denn Autorität ist unserem Leben nichts Fremdes. Wir wachsen in sie hinein und kommen durch sie zu uns selbst. Wenn wir uns ihrer bewußt werden, dann leben wir schon in ihr. Sie steht unendlich, undurchschaut vor uns. Unser Reifwerden ist die wachsende Klärung der Gehalte der Autorität. Dem wir in seiner Einfachheit als Kinder gehorchten, das zeigt sich selber wachsend, unerschöpflich. Durch ein Leben hindurch stellt es sich immer wieder her. […] Der Ursprung aber dieser zusammenhaltenden Autorität ist die Transzendenz: wie die Gottheit gedacht wird und wie der Glaube an sie gegenwärtig alles formt und durchwirkt, das gründet die Kraft der Autorität.11
Es ist wie gesagt kein Zufall, dass Jaspers das «Nicht-Planen» fordert, denn der Glaube an die Autorität, der auch Glaube an die Transzendenz ist, zeigt sich nicht als unmittelbare Vorahnung, sondern beruht auf einem Denken, das darin geübt ist, in sich die Antinomie des Daseins zu halten, das gewohnt ist, sich Grenzsituationen zu stellen. Das «Nicht-Planen» ist keine Vorstufe des Wissens, sondern vielmehr ein Akt, der den Weg in Richtung Wissen möglich und wichtig macht. Dieser Glaube kann nicht wie jedes andere Wissen vermittelt werden, er kann aber durch das Zeugnis unseres eigenen Lebens und eines verantwortlichen Handelns in den anderen entfacht werden. Der Glaube an die Autorität ist die Instanz, die jedes Planen beherrschen und ihm vorausgehen sollte, und die nur dank des einzelnen Lehrers entscheidend werden kann: «Das Entscheidende geschieht durch den einzelnen Lehrer zwischen den vier Wänden seiner Klasse, wo er frei ist zu eigener Verantwortung».12 Der Grenzen jedes Planens bewusst, bahnt er einen Weg 11 12
Jaspers: Freiheit und Autorität, op. cit. S. 338 Jaspers: Von den Grenzen pädagogischen Planens, op. cit. S. 61f.
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zur ursprünglichen Wirklichkeit. «Ob sie da ist, das wissen im unreflektierten Bewußtsein die Kinder, das weiß der Lehrer in der Klarheit gewissenhafter Erfüllung seiner Aufgabe».13 Bei der Vermittlung des Wissens muss also das Bewusstsein der Grenzen des Objektivierbaren durchscheinen, das vom jeweiligen Lehrer erfahren und im Erziehungsprozess gespiegelt wird, der sich also dem Geheimnis des Daseins öffnet, das jeder Nachforschung unzugänglich und dennoch der letzte Sinn jeder Objektivität ist. Die nicht sofort garantierte Erneuerung der Erziehung vollzieht sich also innerhalb einer Generation von Lehrern, von den Universitätsdozenten bis zu den Grundschullehrern, die beim Vermitteln der konkreten Fachbegriffe die Verbindung mit dem Ursprünglichen wach halten müssen, mit jener Dimension, in der der Sinn des Daseins jedes Menschen und seines Handelns bewahrt wird. Die Verwirrung, in der er lebt, treibt den Menschen der Gegenwart zur Suche nach echten Beziehungen, die nicht konstruiert werden können, sondern innerhalb der Gemeinschaft frei produziert werden müssen. Wenn das geschieht, wird eine Gemeinsamkeit der Gefühle entfacht und sie fließt in das Erziehungsverhältnis ein. Das Leben des Einzelnen und sein Verhältnis zur Gemeinschaft erhält wieder Sinn und jeder entdeckt, dass er seine Freiheit im Gehorsam gegenüber einer Autorität ausübt, die aus der Tiefe seines Selbst spricht. Einen Bildungsprozess innerhalb einer Planung zu erschöpfen, heißt, die Idee eines Lebenswegs zu vermitteln, der auf die Erscheinungswelt beschränkt ist, im Takt einer mechanischen Wiederholung der Ereignisse, von Gewohnheit und Monotonie geprägt, da er unter einer Zeitlichkeit leidet, die sich in einem bloßen Aufeinanderfolgen von Augenblicken verbraucht, die in ihrer Flüchtigkeit keine Verflechtung mit der Existenz haben und in denen folglich der Entschluss, im Raum der Erscheinungswelt «wir selbst zu sein» nicht vorhanden ist. Außerdem hat der Einzelne in dem in der Enge objektiven Wissens eingesperrten pädagogischen Planen nicht die Möglichkeit, sich seiner Geschichtlichkeit bewusst zu werden. Das wiederum macht das absolute Sein für ihn unzugänglich, da er in seinem «Dasein» in der Zeit nicht erkennt, dass er selbst auch die Erscheinung seines eigenen zeitlosen Selbst ist.
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Ibid. S. 62.
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4. Philosophieren als existentielle Bemühung In der Dialektik zwischen Planen und «Nicht-Planen» existieren dagegen das objektive Wissen und die existentielle Verpflichtung gemeinsam im Spannungsfeld der beiden Pole, und beide haben die Bildung einer Persönlichkeit zum Ziel, die sich nicht in vorbestimmte Bahnen zwingen lässt, sondern das Ausüben ihrer Freiheit und den verantwortlichen Entschluss beansprucht, sie selbst zu sein. In der Gegenwart muss der Mensch sich notwendigerweise zusammen mit den anderen Menschen in die Welt der geschichtlichen Konkretheit stürzen, um aktiv in einer heimatlosen Zeit eine neue und andere Heimat zu erobern. Die neue Heimat, die Jaspers beschwört, ist eine Alternative zu dem Apparat, mit dem der heutige Mensch sich immer mehr zu identifizieren scheint, was zur Folge hat, dass er sich als «soziales Bewusstsein des Daseins» wahrnimmt und anstatt der Zugehörigkeit zu einer umgreifenden Totalität nur die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft erlebt, was mit der Auflösung seiner historischen Besonderheit gleichzusetzen ist. Nach Jaspers gibt es kein sinnvolles Erziehungsziel ohne die Suche nach sich selbst, ohne sich die Möglichkeit des «Denkens» offen zu lassen: kein auf objektives Erkennen reduzierbares Denken, sondern ein solches, das in sich die Suche nach dem Unfassbaren einschließt, das sich, da jeder Objektivierung entzogen, nur «erhellen» lässt und dabei nicht den Schatz an Kenntnissen, sondern vielmehr das Sein des Menschen verändert. Dieser Anspruch sollte im Erziehungsprozess ein allgegenwärtiger Führer sein, der das objektiv und zweckbestimmt Erkennbare mit jenem Bewusstsein der Grenzen dialektisch zusammenhält, das die unverzichtbare Unruhe erzeugt, was uns in der Unsicherheit bezüglich des Objektiven größere Sicherheit in uns selbst erwerben lässt: «Das ist die Verantwortung des Menschen im inneren Handeln, die Selbsterhellung mit der Folge nicht einer immer vordergründigen psychologischen Einsicht, sondern der Selbstverwandlung. Es ist eine Aktivität ohne gesetzten Zweck, eine Verantwortung ohne bestimmbare Sache.»14 Hier ist die echte Verantwortung, Mensch zu sein, begründet. Es handelt sich darum, dem Sein zu gestatten, in das Selbst des Menschen zurückzukehren, ohne dabei auf das Denken zu verzichten, sondern durch ein intensiveres Denken. Jaspers ist davon überzeugt, dass die Erziehung ein verpflichtender Weg zur Wahrheit sein muss. 14
Jaspers: Freiheit und Autorität, op. cit. S. 341.
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Der Aufruf an die Erziehung, den Selbstfindungsprozess des Menschen zu fördern, gewinnt in Jaspers eine wichtige ethisch-politische Bedeutung, die in seinen Werken immer unterschwellig vorhanden ist, in Die Atombombe und die Zukunft des Menschen (1956) jedoch klar ausgedrückt wird, wo er den Bruch zwischen dem Lehren von Wissenschaft und der Erziehung unterstreicht. Die Sorge in einer von der Technik beherrschten Zeit, Generationen mit wissenschaftlicher Bildung auszustatten, um die Fähigkeit der Selbstverteidigung im technischen, wirtschaftlichen, militärischen Bereich zu verstärken, verursacht das Missverständnis, dass nur wissenschaftliches Wissen zu vermitteln wäre. Das geschieht an den Universitäten, wo eine zunehmende Vermassung und die Notwendigkeit zur beruflichen Ausbildung ein totales Desinteresse für die Persönlichkeitsbildung bewirkt haben, weshalb das Bedürfnis fehlt, die nötige technisch-wissenschaftliche Bildung durch eine Erziehung auszugleichen, die an die Tiefe des Mensch-Seins und an sein Verantwortungsbewusstsein rührt.15 Dieses Gleichgewicht zwischen dem Üben von Kenntnissen und Fähigkeiten und der Bildung des Menschen, das die Universität anbieten sollte, ist die notwendige Voraussetzung jedes geistigen Berufs. «Das sind die Berufe, die nicht allein auf Ausübung einer Technik und einer endlich bestimmten, zur sinnvollen Routine werdenden Fachlichkeit beruhen. Der Arzt, der Lehrer, der Verwaltungsbeamte, der Richter, der Pfarrer, der Architekt, der Wirtschaftsführer und Organisator, alle sind im Beruf beschäftigt mit dem ganzen Menschen, mit der Totalität der Lebensverhältnisse, wenn auch jeder von ganz anderer Seite her. Die vorbereitende Ausbildung für diese Berufe macht sie unmenschlich, wenn sie nicht auf das Ganze führt, nicht die Auffassungsorgane entwickelt und den weiten Horizont zeigt, wenn sie nicht ‹philosophisch› macht».16 Um ein Erziehungsziel zu verfolgen, das im Einzelnen die verloren gegangene Humanitas zu fördern imstande ist, ist es nicht notwendig, die Kenntnisse der Geisteswissenschaften zu steigern, sondern Jaspers denkt hier vielmehr das «Philosophische» als eine Orientierung auf das Ganze hin, die die einzelnen wissenschaftlichen Lehren, aber auch das Leben selbst 15 16
Vgl. Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußtsein in unserer Zeit (München: Piper, 1958). Jaspers: Die Idee der Universität, op. cit. S. 71. In diesem Zusammenhang sei erlaubt auf Angela Giustino Vitolo: Il compito dell’Università nell’età della tecnica (Napoli: Luciano, 2005) zu verweisen.
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durchlaufen muss, da die Wissenschaften aus der Philosophie geboren sind und selbst das Leben des Einzelnen auf die Philosophie gestützt ist. Das «Philosophische» steuert den Sinn jeder Sache und des Ganzen an, indem es die Frage nach dem «warum» wach hält, die aus dem Bewusstsein der Grenzen folgt und vor der Frage nach dem «wie» betont wird. Die Frage nach dem «warum» besetzt den Raum des «Nicht-Planens», der auch der Raum der Autorität und der Freiheit ist, die, wenn auch nicht objektivierbar, für den Einzelnen nur dann wirksam werden können, wenn der Erzieher ein Denken besitzt, das im Objektiven das Nicht-Objektivierbare berührt. «Wollen wir von ihrem Gehalt ergriffen sein, so brauchen wir jenes andere Denken, das im Gegenständlichen das Ungegenständliche berührt, das erhellt, nicht erkennt, das appelliert, aber keine Anweisungen gibt –, das erweckt, aber nicht erzwingt –, das innewerden läßt, aber nicht verfügbar macht».17 Hier ist auch der Ort, die Bedeutung zu vertiefen, die Jaspers den großen Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte gibt, die er entschlossen «Philosophen» nennt. Er bezieht sich nicht nur auf die intellektuelle Produktion dieser Denker, sondern auch auf ihre existentiellen Erfahrungen, denn darin zeigt sich ihre Menschlichkeit mit der ganzen Bürde ihres Wollens, Fühlens und Leidens. Diese «Großen» sind die Verkörperung der Vernunft, die Jaspers in seinen Werken anruft, einer Vernunft, die die Existenz selbst ist, die sich ihrer Möglichkeiten bewusst wird. In der Größe dieser Menschen verbirgt sich eine «Erziehungsmächtigkeit», die kein noch so allumfassendes Wissen vermitteln kann. Sie sind Zeugnisse eines echt gelebten, durch die Kraft des Glaubens genährten Lebens, eines Lebenslaufs, der offen ist für Herausforderung, Risiko, Scheitern. In Psychologie der Weltanschauungen (1919) hatte Jaspers bezüglich des Glaubens behauptet, dass weder Ruhe noch Befriedigung an ihn gebunden sind, sondern die dialektische Bewegung, die ewige Fraglichkeit, die Verzweiflung und die Angst, eine Bewegung, durch die das Leben des Geistes geregelt und gesteigert wird. Der Kontakt zu großen Menschen fördert eine Erziehung als Selbsterziehung, denn beim Hören, Lieben und von ihnen Lernen wird einem bewusst, welcher Leistungen der Mensch fähig ist.18 17 18
Jaspers: Freiheit und Autorität, op. cit. S. 342. In diesem Zusammenhang siehe Karl Jaspers: Die großen Philosophen, Bd. 1 (München: Piper, 1957).
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Jaspers zeichnet die Figur eines idealen Erziehers auf der Grundlage jener Großen, die er «Lehrer der indirekten Mitteilung» nennt, die sich nur darauf beschränken, anzuspornen, Aufmerksamkeit zu erregen, zu beunruhigen. Sie drängen mit ihrem ganzen Inneren, als Einzelne, nach den Einzelnen, appellieren an das Leben im Anderen, dem sie dabei helfen, sich durch eine unendliche Reflexion zu entwickeln. Bei Jaspers, wie zuvor schon bei Nietzsche, ist Erziehung nur echt, wenn ein jeder auf sich selbst verwiesen wird. Er zieht die sokratische Erziehung vor, da sie eine Erziehungspraxis ist, bei der die Unruhe des Fragens vorherrscht und statt eines Aufzwingens von Wissen die Verwandlung des Selbst herausgefordert wird: «Es wird den Kräften im Schüler zur Geburt verholfen, es werden in ihm vorhandene Möglichkeiten geweckt, aber nicht von außen aufgezwungen. Nicht das zufällige, empirische Individuum in seiner besonderen Artung kommt zur Geltung, sondern ein Selbst, das im unendlichen Prozesse zu sich kommt, indem es sich verwirklicht».19 Bei der Dialektik zwischen Planen und Nicht-Planen tritt also die Vorliebe für ein Philosophieren als einem zur Lebenspraxis werdenden Denken deutlich zu Tage. Das Philosophieren verweist als Streben der einzelnen Existenz nach Transzendenz zugleich auf das Selbst und die Öffnung gegenüber dem Anderen, der sich in seiner Nicht-Objektivierbarkeit zeigt. Es ist ein Sich-Zuhören, das zugleich die Kontrolle über das eigene Selbst und das eigene Handeln übt; es ist ein dem Unbedingten Gehör-Geben, das, wie wir schon gesagt haben, jedem bestimmten Zweck zuvorkommt und ihn begründet; das Unbedingte, das nicht der Zweck des Wollens ist, sondern das Wollen selbst begründet und als solches, weil es nicht objektivierbar ist, einen Glauben impliziert. Das Philosophieren als innerer Antrieb zur Selbsterhellung entzieht sich nach Jaspers jedem Versuch des Planens. Es ist eine Tätigkeit, die jeder ausüben kann, wenn er beschließt, mit Bezug auf die Transzendenz er selbst sein zu wollen. Es ist eine Lebensweise, bei der jeder entscheidet, jenen Anreiz zu aktivieren, der ihn dazu treibt, seinem Leben einen Echtheitswert zu verleihen. Philosophieren heißt, einen «lebendigen Glauben» zu zeigen, fähig zu werden, in den Dingen der Welt und in den Menschen das Wesen der Transzendenz als einzigartige metaphysische Erfahrung zu lesen, die jede Erfahrung begründet.
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Jaspers: Die Idee der Universität, op. cit. S. 85.
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Im Laufe des 20. Jahrhunderts führte die hitzige Diskussion über die wissenschaftliche Satzung der Pädagogik zu deren Befreiung aus den traditionellen philosophischen Mustern, deren aprioristischen Vorschriften und systematische Ordnung sie ablehnte. Indem sie jede Verbindung mit ihrer metaphysischen Grundlage loswurde, umarmte die Pädagogik die Inhalte der human- und sozialwissenschaftlichen Forschung und begann damit ihr Abenteuer im Land des empirischen Wissens. Wir können zweifellos behaupten, dass Jaspers, trotz der Anerkennung der Unverzichtbarkeit des wissenschaftlichen Wissens, in seinem Versuch, einen überflutenden, immer im Hinterhalt lauernden Nihilismus einzudämmen, die Philosophie dem pädagogischen Projekt zurück gegeben hat, und zwar nicht als doktrinären Inhalt, sondern als «Philosophieren», das es der keinem vorausbestimmten Muster unterworfenen Pädagogik ermöglicht, selbständig den Weg der Praxis zu gehen und damit für die existentielle Verpflichtung, zu der die Einzelnen aufgerufen sind, Gewähr zu leisten. Wenn der Erziehungsprozess auf diese Dimension achtet, wird die historische Verwirklichung des Menschen möglich, denn er erwirbt die Fähigkeit wieder, zu wissen, was er wirklich wollen und glauben soll, womit er die Identität seines Selbst schafft, die in einer von der Technik aufgesaugten Welt verloren gegangen ist. Es handelt sich tatsächlich um eine Denkweise, durch die sich die Frage nach dem Sinn ständig erneuert, und die auf ein Sein verweist, das nach einer existentiellen, immer einzeln erfahrenen Einbeziehung verlangt, und das sich von einem Glauben nährt, der jedem kraft seiner Freiheit gegeben ist. Diese besondere, unwiederholbare, leidvolle Erfahrung ist es, die dem Mensch-Sein eine immer größere Vortrefflichkeit garantiert.
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Il y a deux conceptions bien différentes concernant les relations entre le besoin de croyance et le besoin de vérité. Selon la première, la plus courante chez les philosophes, nous avons besoin de croyances parce que nous avons besoin de la vérité et que nous espérons être capables, au moins dans une certaine mesure, d’atteindre celle-ci. Mais il y eu également des philosophes qui ont soutenu que le besoin le plus fondamental n’était pas le besoin de vérité: nous avons besoin avant tout, pour les exigences de la vie elle-même, de croyances ; et la question de savoir si elles sont vraies ou fausses n’est peut-être pas la plus importante. Elle n’est peut-être même pas vraiment importante. On s’est interrogé sur la pertinence des arguments qui incitent à considérer que nous ferions peut-être mieux aujourd’hui de mettre plus ou moins de côté la notion de vérité et de nous désintéresser de la question de la vérité.
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Une question importante qui se pose à propos des deux espèces de besoin dont il est question dans le titre de cet exposé : le besoin de croyance et le besoin de vérité, est celle de savoir lequel des deux est réellement premier et fondamental. Autrement dit, de quoi avons-nous besoin en premier lieu : est-ce de croyances en général, qui peuvent être, selon les cas, vraies ou fausses, ou de croyances vraies ? Si on considère que, quand on dit que l’on sait quelque chose, cela implique que cette chose est vraie, autrement dit qu’on ne peut pas parler d’une chose que l’on sait tout ayant par ailleurs de bonnes raisons de penser qu’elle est fausse, la question que je viens de poser pourrait être formulée aussi à peu près sous la forme : de quoi avons-nous le plus besoin ou qu’est-ce qui nous est le plus nécessaire : est-ce simplement de croire ou est-ce de savoir ? La réponse qui a été donnée la plupart du temps à cette question a consisté à donner au besoin de vérité une priorité par rapport *20 Ce texte est celui d’une conférence qui a été donnée au CLAS (Comité Local d’Actions Sociales) du Collège de France, le 13 février 2007. Il a été publié également dans la revue Agone 38-39 (2008) p. 281-306.
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au besoin de croyance. Comme l’écrivait Théodore Jouffroy, dans un article paru en 1823 sous le titre Comment les dogmes finissent : « Nous avons besoin de croire, parce que nous savons qu’il y a de la vérité. Le doute est un état qui ne peut nous plaire que comme l’absence d’une fausse croyance dont nous nous sentons délivrés. Cette satisfaction goûtée, nous aspirons à une nouvelle croyance ; le faux détruit, nous voulons le vrai. »1 La réponse à notre question est donc à peu près : c’est parce que nous sommes à la recherche de la vérité que nous sommes amenés à adopter certaines croyances, mais le processus de formation de la croyance est tel que nous sommes conduits à adopter à peu près inévitablement, à côté de croyances qui sont vraies, des croyances qui ne le sont pas et dont nous découvrons fréquemment par la suite qu’elles ne le sont pas. On est tenté, cependant, de répondre à ceux qui s’expriment comme le fait Jouffroy : nous voulons le vrai assurément, mais sommes-nous jamais arrivés et pouvons-nous espérer arriver jamais à autre chose que la destruction de faussetés successives, qui semble être une chose bien différente de la possession du vrai ? Et quand nous disons, comme il le fait, que nous savons qu’il y a de la vérité et que c’est à elle, et non pas seulement à l’élimination de la non-vérité, que nous aspirons, qu’est-ce qui nous permet d’être certains de cela ? Nietzsche, dans un fragment de 1884, fait la constatation suivante : « Caractère négatif de la ‹ vérité › – en tant que suppression d’une erreur, d’une illusion. Mais la naissance d’une illusion a été une exigence de la vie – – ».2 Il est possible après tout que, tout comme le bonheur, aux yeux de philosophes comme Schopenhauer, est une notion négative et ne signifie en fin de compte rien de plus que l’absence de malheur, le rapport que nous entretenons avec le vrai consiste essentiellement et même peut-être uniquement dans le sentiment rassurant que nous avons à certains moments d’avoir réussi à nous défaire d’une erreur ou d’une illusion. « Nous avons besoin de croire, dit Jouffroy, parce que nous savons qu’il y a de la vérité ». Mais, encore une fois, comment savons-nous cela et surtout comment savons-nous non seulement qu’il y a de la vérité, mais également que nous sommes capables, au moins dans une certaine mesure, de la connaître ? Ne serait-il pas, tout compte fait, plus raisonnable de dire simplement que nous croyons, sans en être tout à fait sûrs, qu’il y a de la vérité et que certaines de nos croyances présentent
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Théodore Jouffroy : Comment les dogmes finissent (1823), in Mélanges philosophiques (Paris : Hachette, 61886) p. 8. Friedrich Nietzsche : Fragments Posthumes. Printemps-Automne 1884, traduits de l’allemand par Jean Launay (Paris : Gallimard, 1982) p. 70.
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des caractéristiques qui font que nous nous sentons autorisés à les qualifier de « vraies » ? Certains philosophes, dont le plus connu est sans doute William James, le créateur du mouvement philosophique qu’on appelle le « pragmatisme », ont fait le choix d’inverser explicitement la relation de priorité qui est censée exister entre le besoin de croyance et le besoin de vérité. Ils pensent que ce qui est fondamental n’est pas le besoin de vérité et la volonté du vrai, mais le besoin de croyance et la volonté de croire. Nous avons un besoin irrépressible de croire parce que la croyance est nécessaire à l’action et même tout simplement à la vie ; et nous attribuons le qualificatif « vrai » à celles de nos croyances qui sont en mesure de nous procurer une satisfaction d’une certaine sorte ou de nous aider de façon spéciale dans la résolution des problèmes que nous avons avec le monde. Mais le qualificatif en question doit être considéré, justement, beaucoup plus comme une forme d’éloge que comme une description proprement dite. Ce n’est pas d’une propriété descriptive de la proposition ou de la croyance que nous parlons, quand nous les qualifions de « vraies » ; ce dont il est question, en l’occurrence, est plutôt une sorte de compliment que nous leur adressons pour les services qu’elles nous rendent. Nous avons, bien sûr, une propension à peu près irrésistible à supposer que les propositions que nous appelons « vraies » le sont également dans un autre sens, à savoir en ce sens qu’elles correspondent à la réalité telle qu’elle est en elle-même, autrement dit, indépendamment de la façon dont nous nous la représentons et la décrivons. Mais peut-être n’est-ce justement rien de plus qu’une illusion et faisons-nous preuve, sur ce point, d’une prétention et même d’une arrogance que rien ne justifie. Une chose qui peut sembler résulter de l’histoire de la connaissance, et plus particulièrement de celle des sciences, est que nous n’avons peut-être pas d’accès direct au vrai et que nous ne pouvons espérer parvenir à lui qu’à travers un détour prolongé et même probablement interminable qui passe par le faux. Nous voulons le vrai, mais c’est plutôt, semble-t-il, le non-vrai que nous rencontrons à chaque fois ; et, pour ce qui est du vrai lui-même, nous ne savons généralement pas où il se trouve ni comment nous pourrions être certains de l’avoir rencontré si cela nous arrivait. Si on accepte une conception de la philosophie des sciences et de l’histoire des sciences comme celle que propose Karl Popper, on doit admettre que tout se passe comme si nous ne réussissions jamais qu’à reconnaître à un moment donné comme fausses des hypothèses et des théories que nous avions considérées dans un premier temps comme vraies, ou en tout cas comme susceptibles d’être vraies, et qui ont été ensuite réfutées. Du point de vue de Popper, une théorie scientifique
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confirmée ou, comme il dit, « corroborée » est simplement une théorie qui a résisté à des tentatives suffisamment sérieuses qui ont été faites pour la mettre en contradiction avec l’expérience et trouver ainsi une raison de la modifier ou de la rejeter. Mais rien ne nous autorise à considérer comme vraie, au sens propre du terme, une théorie qui n’a simplement pas encore été réfutée. Nous pouvons, bien entendu, avoir de bonnes raisons de penser qu’à chaque fois que nous abandonnons une théorie qui a été reconnue comme fausse, nous réussissons à nous rapprocher un peu plus de la vérité objective. Mais qu’est-ce qui nous garantit que c’est effectivement le cas ? Il se pourrait, en effet, que même la meilleure théorie que nous serons jamais capables de concevoir et de formuler se situe encore à une distance considérable et même peut-être infinie de la réalité elle-même et que cette réalité reste jusqu’à la fin aussi différente que possible de ce que la théorie nous dira qu’elle est, sans que nous ayons les moyens de savoir si c’est ou non le cas. Il est possible, par conséquent, que nous ayons tort de croire que les théories que nous inventons sont vraies, au sens où on l’entend généralement, à savoir celui de la vérité objective, et que ce qu’il faudrait dire soit plutôt que nous parvenons à construire des théories qui nous assurent une maîtrise de plus en plus grande sur la réalité et nous permettent de nous adapter de mieux en mieux à elle, mais n’ont pas la prétention d’en constituer une représentation exacte. Nietzsche dit que : « Ce que nous sentons comme le plus certain est peut-être le plus éloigné du ‹ réel ›. Le jugement contient une croyance ‹ c’est ainsi › ; et si la croyance était elle-même le fait le plus immédiat que nous puissions constater ! Comment la croyance est-elle possible ? » (Fragments posthumes. Printemps-Automne 1884, p. 189). C’est une façon d’opter clairement pour la conviction que ce qui est fondamental, ce qui constitue le fait premier, est le fait de la croyance : nous avons un besoin essentiel de croire et nous croyons, de façon plus ou moins instinctive ou au contraire raisonnée et savante, une multitude de choses. Mais rien ne prouve que les croyances dont nous sommes le plus certains et dont nous pensons qu’elles représentent véritablement les choses comme elles sont, indépendamment de nos besoins, de nos désirs et de nos intérêts, ne soient pas justement celles qui sont le plus éloignées du réel. Et par conséquent, si ce que nous cherchons est bien la vérité objective, la vérité « vraie » en quelque sorte, rien ne prouve qu’elles ne soient pas finalement les plus fausses.
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2. L’importance du faux peut-elle être plus grande que celle du vrai ?
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J’ai parlé d’un besoin plus ou moins essentiel que nous semblons avoir du faux pour pouvoir espérer arriver au vrai. Il se pourrait que nous ayons tendance, de façon générale, à sous-estimer l’importance du faux et le degré auquel il nous est nécessaire, même s’il ne l’est peut-être que provisoirement. Cela se traduit notamment par un asymétrie caractéristique qui existe, du point de vue de l’évaluation, entre le vrai et le faux. Comme l’a dit Peter Hacker : « La vérité a la dignité, mais rarement le charme. Ce sont les illusions de la philosophie, et non ses humbles vérités, qui hypnotisent. »3 Ce n’est pas seulement vrai en philosophie, mais, semble-t-il, de façon tout à fait générale. On pourrait dire également de la vérité qu’elle a le plus souvent les louanges, mais, en revanche, rarement les faveurs et les honneurs, ce qui signifie que notre attitude sur ce point pourrait bien être quelque peu hypocrite. Officiellement, c’est la vérité que nous recherchons et respectons, alors que nous méprisons et condamnons la fausseté et l’erreur. Mais, dans les faits, c’est pourtant bel et bien le faux, que nous sommes censés déprécier et éviter, qui jouit des avantages les plus considérables. Ce n’est pas par la vérité qu’on est le plus spontanément attiré et séduit ; et ce n’est pas elle qui est le plus aimée ni le plus facilement crue. La fausseté a beau avoir en principe l’indignité et l’opprobre, cela ne l’empêche apparemment pas d’avoir, malgré tout, le plus souvent en pratique la réussite et le pouvoir. Elle est en théorie dévaluée et même discréditée, mais elle a l’avantage d’être généralement beaucoup plus attrayante que la vérité et de susciter plus facilement l’adhésion. La vérité est souvent désagréable et difficile, pour ne pas dire impossible à accepter, alors que la fausseté ne semble pas souffrir, de façon générale, du même genre de handicap. Et il se pourrait bien, malheureusement, qu’elle ne soit pas seulement plus séduisante, mais également plus inventive et plus productive que la vérité. Il peut donc y avoir des raisons sérieuses de penser que celle des deux notions qui est première et fondamentale n’est pas la vérité, mais la fausseté. Comme le dit Valéry : C’est une sorte de loi absolue que partout, en tous lieux, à toute période de la civilisation, dans toute croyance, au moyen de quelque discipline que ce soit, et
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P. M. S. Hacker : Appearance and Reality. A Philosophical Investigation into Perception and Perceptual Qualities (Oxford : B. Blackwell, 1987) p. 182.
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sous tous les rapports, – le faux supporte le vrai, le vrai se donne le faux pour ancêtre, pour cause, pour auteur, pour origine et pour fin, sans exception ni remède, – et le vrai engendre ce faux dont il exige d’être soi-même engendré. Toute antiquité, toute causalité, tout principe des choses sont inventions fabuleuses et obéissent aux lois simples. Que serions-nous sans le secours de ce qui n’existe pas ? Peu de chose, et nos esprits bien inoccupés languiraient si les fables, les méprises, les abstractions, les croyances et les monstres, les hypothèses et les prétendus problèmes de la métaphysique ne peuplaient d’images sans objet nos profondeurs et nos ténèbres naturelles.4
Ce qui procure au faux l’avantage apparent qu’il possède sur le vrai pourrait bien être, pour une part essentielle, qu’il n’est pas nécessaire d’être vrai pour être reconnu comme tel et que le fait d’être vrai peut même constituer, sur ce point, un désavantage : la meilleure façon d’être accepté comme vrai n’est pas nécessairement celle qui consiste à l’être effectivement. C’est une chose qui, pour Nietzsche, a tendance à devenir encore plus frappante dans une époque comme la nôtre, qui est celle des masses et celle du théâtre. Dans Le cas Wagner, il dit que : « Dans les cultures de décadence, […] partout où la décision tombe entre les mains des masses, l’authenticité devient superflue, désavantageuse, rétrograde. Seul l’acteur éveille encore le grand enthousiasme. Du même coup se lève pour l’acteur l’âge d’or. »5 Nietzsche fait référence, sur cette question, à un propos qui a été tenu justement par un acteur fameux, Talma, qui a vécu de 1763 à 1826 et est devenu le tragédien le plus célèbre de son époque – un propos qui, aux yeux de Nietzsche était prémonitoire et peut être considéré comme une sorte de symbole de notre époque : On est acteur, par le fait que l’on a une intuition (Einsicht) d’avance sur le reste des hommes : ce qui doit agir comme vrai ne doit pas être vrai. La phrase est formulée par Talma : elle contient toute la psychologie de l’acteur, elle contient – n’en doutons pas ! – également sa morale. La musique de Wagner n’est jamais vraie. Mais on la tient pour telle ; et de cette façon les choses sont en ordre.6
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Paul Valéry : Petite lettre sur les mythes (1928), in Œuvres I, édition établie et annotée par Jean Hytier (Paris : Bibliothèque de la Pléiade, 1957) p. 966. Nietzsche, cité par Musil : Der Mann ohne Eigenschaften, in Gesammelte Werke, in neun Bänden hg. von Adolf Frisé (Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1978) Bd. 5, p. 1776. Friedrich Nietzsche : Der Fall Wagner, in Werke, hg. von Karl Schlechta (Frankfurt a. M., Berlin, Wien : Ullstein, 1981) Bd. III, p. 366.
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Il vaut sans doute mieux laisser à Nietzsche la responsabilité du jugement qu’il formule sur la musique de Wagner et de l’usage qu’il fait de termes comme « vrai » et « faux » à propos de la musique. Ce qui est plus intéressant pour nous est le fait que ce qu’il dit semble encore beaucoup plus vrai aujourd’hui, à l’époque de la société du spectacle, où tout semble résider, justement, dans l’image et dans l’apparence. Ce qu’il voulait dire est que nous en sommes arrivés à un stade où tout le monde a intégré plus ou moins le principe de l’acteur, qui est que, si on veut qu’une chose donne l’impression d’être vraie et soit acceptée comme telle, non seulement il n’est pas nécessaire qu’elle le soit, mais encore il vaut mieux la plupart du temps qu’elle ne le soit pas. Aussi étrange et même paradoxal que cela puisse sembler, être vrai n’est peut-être pas la meilleure façon d’apparaître comme vrai et de se faire accepter comme tel. À première vue, la science repose sur un principe exactement inverse, et cela explique sans doute une bonne partie des difficultés auxquelles elle semble se heurter de plus en plus : les choses qu’elle affirme sont censées être vraies et elles ont pour elles essentiellement le fait de l’être, au moins dans un bon nombre de cas ; mais il s’en faut de beaucoup qu’elles donnent, de façon générale, l’impression de l’être et elles contredisent souvent certaines croyances qui font partie de celles auxquelles nous tenons le plus et des vérités qui sont apparemment de l’espèce la plus inébranlable. Elle se trouve donc dans une position qui risque de devenir de plus en plus difficile s’il est entendu que ce qui compte n’est pas d’être vrai, mais, conformément au principe de l’acteur, d’en donner l’apparence ou de faire l’effet de l’être. Nietzsche, cependant, n’oublie pas de se poser le même genre de question à propos de la science elle-même et il considère comme tout à fait légitime et même indispensable de se demander si elle aussi ne serait pas la digne fille d’une époque dans laquelle, en matière de vérité et de fausseté comme dans tout le reste, ce qui est important n’est pas ce qu’on est, mais ce pour quoi on réussit à se faire passer. Autrement dit, même si la science est censée constituer le domaine par excellence dans lequel on réussit à formuler des propositions qui méritent d’être appelées « vraies », il n’est pas exclu que, considérées d’un certain point de vue, les vérités de la science ne soient, elles aussi, rien de plus que des erreurs qu’elle réussit à présenter et à faire reconnaître comme vraies, essentiellement parce qu’elles se sont révélées utiles et même indispensables. Il n’est pas du tout surprenant que Nietzsche occupe une place centrale dans le livre que le philosophe britannique Bernard Williams a publié en 2002, un an avant sa mort, et dont la traduction française est parue en 2006,
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sous le titre Vérité et véracité, Essai de généalogie. Je vais me permettre de vous parler un peu longuement de ce livre, d’une part parce qu’il a un rapport on ne peut plus direct avec la question qui nous occupe, d’autre part, parce qu’il s’agit, à mes yeux, d’un des livres de philosophie les plus impressionnants qui ont été publiés au cours des dernières années et enfin parce que les thèses qui y sont défendues et les conclusions auxquelles il aboutit me semblent pour l’essentiel correctes et très importantes. Bernard Williams part de la constatation qu’il existe une tension et même peut-être une certaine incompatibilité entre deux exigences auxquelles nous sommes également attachés l’exigence de vérité et l’exigence de véracité. Et comme on peut le constater au premier coup d’œil, les réflexions philosophiques de Nietzsche sur le problème de la vérité, de la connaissance et de la croyance constituent elles-mêmes, à bien des égards, une illustration exemplaire de la difficulté que nous pouvons éprouver à les concilier. Mais de quoi s’agit-il au juste ? Selon Bernard Williams : Deux courants de pensée se détachent très nettement dans la réflexion et la culture modernes. D’une part on y trouve un attachement intense à la véracité ou à tout le moins une attitude de défiance généralisée, un souci de ne pas se laisser abuser, une détermination à crever les apparences pour atteindre les constructions et les motivations réelles qui se cachent derrière elles. De tradition en politique, cette attitude s’étend à la lecture de l’histoire, aux sciences sociales et même à l’interprétation des découvertes et de la recherche dans les sciences physiques. Cependant, à côté de cette exigence de véracité ou (pour le dire de façon moins positive) de ce réflexe de refus d’être dupe, il existe une défiance aussi généralisée à l’égard de la vérité elle-même : existe-t-elle ? Si oui, pourrait-elle être autre que relative ou subjective ou quelque chose du même genre ? Faut-il s’en occuper si peu que ce soit quand on exerce ses activités ou qu’on en rend compte ? Ces deux attitudes, l’attachement à la véracité et la suspicion à l’égard de la notion de vérité sont liées l’une à l’autre. Le désir de véracité induit un processus critique qui fragilise l’assurance qu’il y aurait une vérité sûre ou qui se puisse affirmer sans réserve.7
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Ce qui se passe peut être résumé ainsi. Nous voulons la vérité ; mais nous voulons aussi – et c’est en cela que consiste l’exigence de véracité – être certains que ce que nous avons atteint à un moment donné est bien la vérité elle-même, et non pas une apparence ou une illusion quelconque, par laquelle nous avons été abusés. Nous voulons être certains que nous ne risquons pas de nous tromper nous-mêmes et, en plus de cela, de tromper les autres en 7
Bernard Williams : Vérité et véracité. Essai de généalogie, traduit de l’anglais par Jean Lelaidier (Paris : Gallimard, 2006) p. 13.
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acceptant et en présentant comme des vérités des choses qui en réalité n’en sont pas. Or il se peut très bien que nous ayons fini par devenir, sur ce point, si méfiants et si critiques que cela a engendré un soupçon à l’égard de la possibilité même d’atteindre la vérité et, au bout du compte, tout simplement de l’existence réelle de celle-ci. Comme le remarque Bernard Williams, le soupçon peut se porter, par exemple, sur la vérité en histoire et elle a fait l’objet, dans la période récente, d’une mise en question dont le but était de jeter un doute radical sur la possibilité de distinguer réellement le récit historique, qui prétend raconter les choses comme elles se sont réellement passées, du simple récit de fiction, qui raconte une histoire inventée. Des récits qui avaient été acceptés pendant un temps et quelquefois pendant longtemps comme exprimant la vérité sur le passé se sont révélés dans un si grand nombre de cas tendancieux, biaisés ou carrément mensongers que le soupçon dispose d’un matériau abondant et qui se renouvelle sans cesse auquel il peut facilement s’alimenter. Tout le monde sait que rien ne peut être falsifié plus aisément et ne l’a été plus fréquemment que la vérité historique, en particulier quand le pouvoir a intérêt à ce qu’elle ne soit pas connue et dispose des moyens de réécrire l’histoire à sa façon, ce qui constitue un exercice dans lequel ont excellé toutes les grandes dictatures politiques de notre époque. Une question qui se pose naturellement est donc tout simplement de savoir s’il peut exister quelque chose comme un discours historique « vrai » et si la vérité objective est réellement le but que poursuivent les recherches que nous menons sur le passé. Mais c’est une question qui peut se poser aussi à propos d’autres domaines, y compris, du reste, celui des sciences exactes. Et si l’on doit admettre que la vérité ne peut pas être réellement le but de nos recherches et de nos efforts de connaissance, ne serait-il pas à la fois plus raisonnable et plus honnête de cesser de faire comme si c’était bien, malgré tout, la vérité que nous cherchons et réussissons, au moins dans certains cas à atteindre ? À cet endroit, comme le note Bernard Williams, différentes propositions peuvent être faites pour remplacer l’idée de vérité, dont on nous suggère de faire l’économie. On peut dire que ce que nous cherchons réellement n’est pas la vérité objective, mais des choses qui sont à la fois plus importantes et davantage à notre portée comme par exemple le consensus entre les membres de la communauté, le sentiment de confiance en soi que procure l’adhésion à des croyances fermes et partagées, le succès pratique dans le traitement des problèmes que nous avons avec la nature, etc. Bernard Williams remarque avec raison que toutes les discussions qui ont eu lieu au cours des dernières décennies, dans le contexte du déconstructionnisme et du postmodernisme triomphants, à propos de sujets comme
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l’interprétation littéraire et la possibilité d’une histoire objective, sont probablement déjà, dans une certaine mesure, en train de passer de mode. Mais cela ne signifie pas pour autant que les problèmes soient résolus et je crois effectivement qu’ils ne le sont en aucune façon. « De fait, constate Bernard Williams, les vrais problèmes étaient là, comme Nietzsche l’avait compris, avant que l’étiquette de ‹ postmodernisme › en eût fait l’objet d’un débat public et ils sont encore là maintenant » (ibid. p. 15). Ils sont même, me semble-t-il, plus que jamais là. J’ai dit que la démarche intellectuelle de Nietzsche lui-même et son entreprise philosophique pouvaient être considérées, à bien des égards, comme une exemplification typique du conflit qui est susceptible d’apparaître à un moment donné entre l’exigence de vérité et l’exigence de véracité. C’est l’exigence de véracité, la volonté de ne pas être dupe de ce qui est contenu et affirmé dans les prétendues vérités de la morale, qui l’a amené à formuler une des critiques les plus dévastatrices qui soient du discours moral et de la morale elle-même. Au lieu de parler de la morale, on pourrait aussi bien, selon lui, parler tout simplement de l’hypocrisie morale ou du mensonge moral. Mais sa suspicion s’applique, comme je l’ai souligné, au domaine de la connaissance tout autant qu’à celui de la morale. Même dans le premier, il n’est pas du tout certain que nous ayons des chances sérieuses de réussir à satisfaire à la fois notre besoin de vérité et notre besoin de véracité. Un excès de sens critique peut facilement faire naître le sentiment que la vérité est impossible à atteindre. Mais la certitude d’avoir bel et bien atteint à un moment donné la vérité peut aussi, semble-t-il, être à peu près dans n’importe quel cas prématurée et ne résulter que d’une certaine légèreté, de l’imprudence et d’un excès de confiance. Nietzsche est l’auteur d’une déclaration fameuse et maintes fois ressassée d’après laquelle il n’y a pas de faits, mais seulement des interprétations.8 C’est un point sur lequel, à supposer qu’il ait réellement pensé ce qu’il disait, Bernard Williams estime qu’il s’est trompé et c’est aussi ce que je crois. Il y a, en effet, un bon nombre de vérités banales de l’expérience ordinaire qui ont le statut de faits incontestables et que Nietzsche lui-même ne considérait sûrement pas comme de simples interprétations. Comme le dit Bernard Williams : « Lorsque quelqu’un déclare qu’une proposition de ce genre est vraie il y a des manières bien connues de contester la déclaration, par exem-
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« Contre le positivisme, qui s’en tient aux phénomènes, ‹ il n’y a que des faits ›, je dirais : non, justement il n’y a pas de faits, seulement des interprétations. Nous ne pouvons constater aucun fait (Faktum) ‹ en soi ›, peut-être est-ce un non-sens de vouloir une chose de ce genre » (Friedrich Nietzsche : Werke IV, op. cit. p. 495).
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ple en expliquant comment la personne aurait pu en venir à croire à cette proposition sans qu’elle soit vraie pour autant : le matériau de cette argumentation consiste pour une large part en vérités banales. Ce qui est incontestable, c’est qu’en de très nombreuses occasions les propositions de cette nature sont vraies et qu’on sait qu’elles le sont. Les vérités banales peuvent être facilement et raisonnablement mises au rang de faits, et lorsque Nietzsche a dit, contredisant maint autre de ses propos : ‹ Non, justement, il n’y a pas de faits : seulement des interprétations ›, il a commis une erreur » (ibid. p. 23). Un argument qui est souvent invoqué à l’appui de ce que dit Nietzsche est tiré de la considération de ce qui se passe dans les sciences elles-mêmes. Il pourrait sembler que, s’il y a un domaine où tout repose en dernière analyse sur des faits qui peuvent être considérés comme incontestables, c’est bien celui de la science. Mais tout épistémologue sérieux sait aujourd’hui que les faits scientifiques n’ont rien à voir avec les faits bruts, si tant est qu’il puisse exister des faits de cette sorte, qu’ils sont en réalité construits par le savant et que ce sont des interprétations formulées à la lumière de théories. Or c’est une chose également bien connue que les théories scientifiques sont par essence provisoires et changeantes et qu’aucune d’entre elles ne peut prétendre représenter la vérité définitive ni même probablement la vérité tout court. Il semble donc qu’après tout, même dans les sciences, il puisse y avoir des raisons de considérer qu’il n’y a pas de faits, mais seulement des interprétations. Il est regrettable que, dans les discussions qui portent sur les questions de cette sorte, on commette le plus souvent l’erreur de concentrer à peu près exclusivement son attention sur des assertions hautement théoriques qui ont un caractère éminemment hypothétique et dont, effectivement, rien ne permet d’affirmer qu’elles ne devront pas être abandonnées un jour et remplacées par d’autres. On conclut de cela que la même incertitude et le même caractère provisoire doivent affecter finalement, de façon uniforme, toutes les vérités supposées de la science. Or cela revient à oublier qu’à côté des vérités qui sont clairement hypothétiques et dont on ne sait pas vraiment ou pas encore si elles sont ou non réellement des vérités, la science comporte aussi une multitude de vérités d’une espèce beaucoup plus banale et plus incontestable sur lesquelles personne, pas même Nietzsche, n’a en réalité le moindre doute et dont chacun d’entre nous témoigne quotidiennement par son comportement qu’il se fie entièrement à elles. C’est dans cette catégorie que l’on peut classer des vérités comme celles qui nous permettent, par exemple, de fabriquer des télescopes, de construire des ponts, de faire rouler des trains ou voler des avions, etc.
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3. Que peut-on répondre aux « négateurs » ? Bernard Williams donne le nom de « négateurs » (deniers) à une catégorie de penseurs qui, de façon provocante et, aux yeux de certains, irresponsable, ont pris l’habitude de contester la possibilité d’atteindre la vérité ou l’intérêt qu’il peut y avoir à la chercher, ou qui soutiennent que toute vérité ne peut, dans le meilleur des cas, qu’être « relative » ou « subjective » ou souffrir d’une autre déficience du même genre. Remarquons à ce propos que Nietzsche ne cherche pas à faire apparaître comme plus sérieuse et plus proche de la vérité une affirmation comme celle qui énonce que toutes les vérités sont subjectives. Elle ne constitue, elle aussi, rien d’autre qu’une interprétation, que rien ne nous contraint à adopter : « ‹ Tout est subjectif ›, dites-vous : mais cela déjà est une interprétation (Auslegung). Le ‹ sujet › n’est rien de donné, il est une chose inventée en plus, une chose que l’on a mise derrière » (ibid.). Il faut noter que les penseurs que Bernard Williams désigne du nom de « négateurs » ne se contentent pas d’adopter une position sceptique de l’espèce ordinaire sur la possibilité de connaître la vérité. Ils vont plus loin que cela et pensent qu’ou bien la recherche de la vérité ne présente pas le genre d’intérêt qu’on lui attribue généralement, ou bien la vérité n’est pas l’objet réel de la recherche, qui est toujours, dans les faits, à la poursuite d’autre chose qu’elle, ou bien, au cas où ce serait réellement la vérité que nous voulons, la recherche ne peut espérer atteindre son objectif parce que la vérité est une chose qui n’existe tout simplement pas. Une des choses qui sont susceptibles de rendre peu compréhensible et même choquant le comportement des négateurs est l’impression qu’ils donnent d’avoir décidé d’ignorer que l’expérience ordinaire nous fournit une pléthore de vérités banales, sur l’importance desquelles des philosophes comme Hume, Wittgenstein et Stanley Cavell ont attiré notre attention. Alors que des philosophes comme ceux-là cherchent à nous ramener, d’une certaine façon, à l’ordinaire, au quotidien et à la banalité, le parti des négateurs a choisi au contraire de pratiquer la sécession et de s’éloigner le plus possible de ce genre de chose, ce qui suscite de la part de Bernard Williams la réaction suivante : Pour ce qui nous concerne ici, le rappel à l’expérience banale (aux formes de vérités banales que chacun admet) se fait contre un parti de négation politisé qui n’est pas tant une manière de s’écarter du monde partagé qu’une manière de partager un monde à l’écart. Cette situation de négation et la politique qui va avec présentent un risque réel : celui d’isoler les disciplines littéraires et artistiques du reste de la société, du moins si on pense que ces disciplines doivent être considérées comme une étude passionnée et intelligente (Vérité et véracité, p. 24).
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Comme le dit Bernard Williams, il n’est sûrement pas nécessaire, pour éprouver de l’agacement en face de comportement « littéraires » de cette sorte d’attribuer à la science un prestige qu’elle ne mérite peut-être pas ou de croire naïvement qu’elle n’est constituée que de vérités banales. Le point important est que même les négateurs les plus radicaux, en dépit de ce qu’ils proclament, sont obligés, comme tout le monde, de reconnaître, dans les faits, un bon nombre de vérités banales. L’exigence de véracité peut, bien entendu, être appliquée aussi à ce que nous disons quand nous affirmons que nous voulons et cherchons le vrai. Ne pourrions-nous pas, en effet, être victimes, sur ce point-là également, d’une illusion d’une certaine sorte, en ce sens que ce que nous voulons en réalité, quand nous croyons vouloir la vérité et elle seule, est quelque chose de bien différent et de beaucoup moins honorable, comme par exemple le pouvoir, la réussite ou l’utilité ? Nous avons l’habitude de penser que ce qui est à l’origine de la science et qui a rendu possible son développement est une passion pour la connaissance et une volonté désintéressée de connaître la vérité en elle-même et pour elle-même. Mais c’est une façon de voir les choses qui a été contestée radicalement par Nietzsche, qui soutient que la science a pu très bien croître et devenir grande sans la passion de la connaissance :
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La bonne croyance à la science, le préjugé qui lui est favorable, par lequel nos Etats sont à présent dirigés (auparavant c’était même l’Eglise qui l’était), repose au fond sur le fait que cette propension et cette pulsion se sont si rarement manifestées en elle et que la science vaut non pas comme passion, mais comme état et « Ethos ».9 25
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Que la connaissance veuille être plus qu’un moyen et constituer elle-même l’objet d’une passion est, selon Nietzsche, une nouveauté : dans l’Antiquité, même chez ses défenseurs les plus ardents, le plus bel éloge qui pouvait être fait de la science était celui qui consistait à la présenter non pas comme un but, et encore moins comme le but suprême, mais comme le meilleur moyen de parvenir à la vertu. Nietzsche soutient que, chez l’être humain, à la différence de ce qui se passe chez les animaux qui sont mieux armés dans la lutte pour la vie, l’art de la dissimulation et de la ruse, qui constitue le moyen de conservation le plus approprié pour les faibles, atteint un sommet. Mais c’est justement dans la dissimulation que l’intellect développe ses forces principales, de sorte qu’ 9
Friedrich Nietzsche : Die fröhliche Wissenschaft, § 123, in Werke III, op. cit. p. 399.
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il n’y a presque rien de plus incompréhensible que la façon dont une pulsion de vérité (Trieb zur Wahrheit) honnête et pure pourrait apparaître chez les hommes. Ils sont immergés profondément dans des illusions et des images oniriques, leur œil ne fait que glisser autour d’eux sur la surface des choses et ils voient des « formes », leur sensation ne conduit nulle part à la vérité, mais se contente de recevoir des excitations et de jouer pour ainsi dire un jeu tâtonnant sur le dos des choses.10
Si on est prêt à considérer les choses de cette façon, la conclusion qui s’impose est que la science, contrairement à ce que croient ses défenseurs, ne constitue pas la voie d’accès privilégiée à la vérité, mais plutôt une façon de reculer devant la vérité et de se dérober à elle, en tout cas à la forme supérieure de la vérité, celle par rapport à laquelle la vérité que les scientifiques appellent « objective » n’est dans le meilleur des cas qu’une forme subalterne, en réalité plus proche du mensonge utile que de la vérité vraie. L’ironie de la situation réside précisément dans le fait que, quand on a voulu justifier la primauté du vrai et de la connaissance sur le faux et l’erreur, on n’a réussi une fois de plus qu’à s’appuyer sur le faux. Ceux qui ont cherché à justifier le privilège accordé à la science se sont fondés, en effet, pour ce faire sur trois erreurs caractérisées. Autrement dit, on s’est servi de trois inventions pour établir une vérité supposée, en l’occurrence à propos de la science et de la place qui lui revient : On a dans les derniers siècles favorisé la science, en partie parce qu’on espérait avec elle et par elle comprendre le mieux la bonté et la sagesse de Dieu – le motif principal dans l’âme des grands anglais (comme Newton) –, en partie parce qu’on croyait à l’utilité absolue de la connaissance, notamment au lien le plus intime entre morale, science et bonheur, – le motif principal dans l’âme des grands français (comme Voltaire) –, en partie parce qu’on croyait avoir et aimer dans la science quelque chose de désintéressé, d’inoffensif, d’autosuffisant, de véritablement innocent, dans quoi les pulsions mauvaises de l’homme n’ont pas du tout de part – le motif principal dans l’âme de Spinoza, qui en tant que connaissant se sentait divin – donc avec comme raisons trois erreurs (Die fröhliche Wissenschaft, § 37, p. 338).
L’exigence de véracité nous impose, comme je l’ai dit, d’avoir les idées claires également sur ce que nous voulons réellement quand nous voulons le vrai et sur les raisons pour lesquelles nous le voulons, si c’est bien lui que nous voulons. Or chacune des explications qui ont été données sur ce point 10
Friedrich Nietzsche : Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn, in Werke III, op. cit. p. 1018.
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se révèle, en fin de compte, peu crédible. Et c’est particulièrement vrai, aux yeux de Nietzsche, de la troisième, qui oublie que le désir du vrai et de la science, qui est censée nous procurer les moyens de le connaître, est loin d’être aussi désintéressé, inoffensif et innocent que la conception spinoziste le suggère et que nous aimerions le croire. Il vaut la peine de se reporter, sur ce point, à L’Homme sans qualités de Robert Musil, dans lequel un chapitre entier est consacré à l’exposé du genre d’objection que l’on peut être tenté de formuler contre la conception contemplative ou spinoziste de la science. Il s’agit du chapitre 72 du volume 1, intitulé « La science sourit dans sa barbe, ou : Première rencontre circonstanciée avec le mal ». Les scientifiques réunis chez Diotime n’ont en réalité rien de la pureté et de l’innocence qu’évoque la conception spinoziste : « C’étaient, nous dit Musil, des hommes chez qui grondait, comme le feu sous le chaudron, une certaine tendance au mal. »11 C’est que, dans les faits, ce qui se présente comme la recherche désintéressée de la vérité ne semble pas séparable de besoins, de passions et de vices d’une espèce beaucoup moins noble qui ressemblent assez fortement à ceux des chasseurs, des marchands et des soldats transposés dans le domaine intellectuel (ibid. p. 363). En d’autres termes :
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La voix de la vérité est toujours accompagnée de parasites assez suspects, mais ceux qui y sont le plus intéressés n’en veulent rien savoir. Or la psychologie moderne connaît un bon nombre de ces « parasites » refoulés et nous en offre le remède : les faire sortir et les rendre aussi clairs que possible à la conscience pour annuler leur néfaste influence. Qu’adviendrait-il donc si l’on se décidait à faire l’expérience et qu’on se sentît tenté de révéler publiquement ce goût équivoque de l’homme pour la vérité et ses parasites, misanthropie et satanisme, et qu’on allât même jusqu’à l’introduire avec confiance dans la vie ? Eh bien ! il en résulterait à peu près ce défaut d’idéalisme que l’on a déjà décrit sous le nom d’« utopie de la vie exacte », mode de pensée fondé sur la possibilité de l’essai et de la rétractation, mais soumis néanmoins à l’implacable loi martiale qui régit toute conquête intellectuelle (ibid. p. 364).
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Musil, dans un fragment inédit, observe que : « La science est une sublimation du mal, le combat, la chasse, etc. La vérité a une affinité avec la désillusion. L’histoire universelle procède à la baisse. U[lrich] affirme une fois que l’intellectuel et le bien n’[adviennent] pas sans le mauvais et le matériel » (Der Mann ohne Eigenschaften, 5, p. 1877). Si la science est réelle11
Robert Musil : L’Homme sans qualités, traduit de l’allemand par Philippe Jaccottet (Paris : Seuil, 1956), tome 1, p. 361.
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ment une sublimation de la désillusion, on est confronté inévitablement à la question de savoir pourquoi on devrait préférer nécessairement, par amour de la vérité, la désillusion qui peut-être nous tuera à l’illusion qui nous fait vivre. Nietzsche suggère explicitement que la volonté de vérité pourrait bien n’être en réalité, puisque la vie semble reposer tout entière sur la fausseté, la tromperie, la dissimulation, l’aveuglement et l’erreur volontaire, qu’une volonté de mort : « ‹ Volonté de vérité › – cela pourrait être une volonté de mort déguisée. – De sorte que la question ‹ Pourquoi la science ? › ramène à la question ‹ Pourquoi tout simplement la morale, si vie, nature, histoire sont ‘immorales’ ? › » (Die fröhliche Wissenschaft, § 344, p. 482). Quelle conclusion peut-on tirer, en fin de compte, du fait que, comme le dit Musil, la voix de la vérité ne parle jamais seule et est toujours accompagnée de parasites assez suspects, pour ne rien dire du fait que l’erreur et l’illusion se révèlent souvent bien plus utiles que la vérité ? Est-ce, comme le suggèrent plus ou moins ouvertement certains auteurs postmodernes, que nous ferions probablement mieux de cesser d’accorder une importance particulière à la notion de vérité et à la recherche de la vérité ? Ce n’est pas ce que pense Musil, qui est convaincu qu’une fois que la présence et l’action des parasites dont il est question ont été clairement détectées et identifiées, l’influence négative de ceux-ci peut être neutralisée assez facilement et ne menace pas sérieusement les chances que nous avons de réussir à atteindre effectivement la vérité. C’est aussi, d’après Bernard Williams, ce que pensait Nietzsche lui-même, en dépit de tout ce qui a pu être dit et écrit sur ce point : L’opinion la plus récemment mise à la mode est qu’il aurait été le premier des négateurs : il aurait pensé qu’il n’existait rien qui fût vérité, ou bien que la vérité était relative à chacun ou bien que c’était un concept ennuyeux dont on pouvait se passer. C’est également erroné, et plus gravement encore. Nietzsche ne pensait pas que l’idéal de véracité eût quitté le service après la découverte de ses origines métaphysiques et il n’imaginait pas non plus que la véracité pût être dissociée du souci de la vérité. La véracité comme idéal conserve son pouvoir et, loin de voir la vérité comme une chose dont on puisse faire l’économie ou qu’on puisse façonner à sa guise, Nietzsche se demande surtout comment la rendre supportable. Il ne cesse de nous rappeler – lui, le « vieux philologue », comme il se désignait lui-même – que, tout à fait indépendamment des questions liées aux interprétations philosophiques, les siennes comprises, il y a des faits à respecter (Vérité et véracité, p. 30).
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Je pense que, même si la position de Nietzsche sur cette question est probablement restée jusqu’au bout plus indécise et plus ambiguë qu’il ne le pense, Bernard Williams a également, pour l’essentiel, raison sur ce point. Nietzsche soutient, en effet, sans aucune ambiguïté, qu’il y a pour l’être humain
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une obligation éthique qui lui commande de résister autant qu’il est possible, à l’illusion et d’être prêt à l’abandonner, une fois qu’il l’a reconnue comme telle, aussi séduisante et consolante qu’elle puisse être. C’est une question non seulement d’honnêteté intellectuelle, mais également de dignité et de courage : il faut être capable de regarder en face ce que la vie peut comporter de plus négatif, de plus douloureux et même parfois de plus horrible. Et il est difficile d’imaginer qu’un philosophe qui a dit qu’il n’y a pas de sacrifice qu’on ne doive être prêt à consentir pour le service de la vérité et que la valeur d’un homme se mesure à la quantité de vérité qu’il est capable de supporter ait pu chercher en même temps à nous convaincre que nous pourrions très bien faire l’économie de la vérité. Nietzsche ne doutait sûrement pas qu’il y ait bel et bien une quantité de faits, souvent de l’espèce la plus désagréable, que nous devons apprendre à connaître et à supporter avec fermeté, au lieu de chercher un réconfort dans des illusions consolantes comme par exemple celles de la religion. Mais pour quelles raisons au juste la vérité est-elle une notion qui nous est à ce point indispensable et dont, en dépit de ce qu’affirment certains philosophes, il nous serait probablement, même si nous le voulions, réellement, impossible de nous défaire ? Pourquoi est-il loin d’être aussi facile que le suggèrent ceux que Bernard Williams appelle les « négateurs » d’abandonner la notion de vérité au profit de l’un ou l’autre des substituts, à première vue plus modestes et moins vulnérables au soupçon et à la critique, que l’on propose de mettre à sa place ?
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Un autre philosophe britannique contemporain, Michael Dummett, a écrit que : « La tâche du philosophe n’est ni de rabaisser la vérité ni de l’exalter, ni de la nier ni de la défendre, mais d’expliquer pourquoi nous avons besoin du concept et d’expliquer ce que c’est que de le posséder. »12 Et c’est sur ce point que les négateurs, qui se sont généralement peu intéressés aux usages ordinaires, non philosophiques, que nous faisons du concept dé vérité, sont le moins convaincants. Dummett soutient, pour sa part, que le concept de vérité et le concept de signification sont également fondamentaux et qu’il est impossible d’expliquer le premier indépendamment du deuxième. Bien qu’il soit en désaccord avec Williams sur certains points, dont il n’y a pas 12
Michael Dummett : Truth and the Past (New York : Columbia University Press, 2004) p. 116.
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lieu de parler ici, il est convaincu, comme lui, que le concept de vérité n’a en aucune façon le caractère facultatif que lui attribuent les négateurs et qu’il est en réalité bel et bien indispensable. Un chapitre de son livre s’intitule justement « Sur l’indispensabilité du concept de vérité ». Selon lui, le concept en question est indispensable et inévitable à la fois du point de vue ordinaire et du point de vue théorique et explicatif. Il est indispensable du point de vue ordinaire, puisque l’utilisateur d’un langage, nécessairement, a et utilise le concept de vérité, même s’il ne parle pas de lui et n’est pas conscient de le posséder et de l’exercer dans la pratique du langage. « La pratique qui consiste à utiliser un langage dans lequel nous apprenons à nous engager, écrit Dummett, nous transmet une compréhension implicite du concept de vérité » (ibid. p. 30). Et le concept est indispensable également du point de vue théorique, parce que toutes les théories de la signification sont obligés d’utiliser un concept de vérité quelconque, même si elles n’utilisent pas toutes le même. La solidarité qui existe entre les deux concepts de vérité et de signification, qui, d’après Dummett, doivent être expliqués ensemble, sans que l’un des deux puisse être considéré comme donné antérieurement à l’autre et indépendamment de lui, peut sembler, effectivement, conférer a la notion de vérité un caractère indispensable, mais seulement, bien entendu, à la condition que la notion de signification elle-même doive être considérée comme indispensable. Or la notion traditionnelle de signification, il faut le remarquer, s’est heurtée elle aussi, il n’y a pas si longtemps, je veux dire à l’époque de ce qu’on est convenu d’appeler le « structuralisme », à des négateurs d’une certaine sorte, qui soutenaient que le moment pourrait bien être venu pour nous d’abandonner sans regret ce genre de notion, qui appartient à l’histoire, désormais achevée, de la métaphysique. Si j’évoque cet aspect d’un passé récent, c’est parce qu’il y a de bonnes raisons de se demander si la vérité, après avoir fait l’objet du même genre de soupçons et de critiques que la signification, ne connaîtra pas également, tôt ou tard le même genre de retour en force. Le problème qui se pose est donc que les philosophes présument peut-être beaucoup de leurs forces quand ils se croient en mesure de décréter en quelque sorte, à un certain stade de l’évolution historique, telle qu’ils la comprennent, la disparition de notions qui, considérées du point de vue ordinaire, pré-théorique et préphilosophique, continuent à apparaître comme absolument indispensables et fondamentales et n’ont probablement pas besoin de l’approbation des philosophes pour le rester. Mais on pourrait objecter à cela que ce n’est pas ce qui est en question, puisqu’il est tout à fait possible que, quoi que puissent imaginer ou affirmer
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les philosophes, notre culture moderne soit entrée effectivement dans une phase où il n’y a plus de place réelle et de nécessité pour le concept de vérité. Bernard Williams considérerait, bien entendu, cette supposition comme une absurdité, puisqu’une autre de ses thèses, qui peut sembler à première vue tout à fait déraisonnable et provocante, mais à la réflexion l’est beaucoup moins qu’on ne pourrait le croire, est que le concept de vérité lui-même n’a pas d’histoire et ne pourrait par conséquent pas connaître le genre de déclin historique et de disparition finale dont on nous parle. Il n’y a pas, expliquet-il, d’histoire du concept de vérité, « bien qu’il y ait naturellement une histoire des théories de la vérité, des manières de découvrir la vérité, des idées sur la vraie nature du monde, etc. » ; et « il y a également une histoire […] des théories particulières associées aux vertus de la vérité » (ibid. p. 317). Il n’y a donc pas lieu de nier que des conceptions historiques différentes et même très différentes aient pu exister, par exemple, à propos de choses comme l’importance qu’il convient d’accorder à la vérité ou aux vertus qui, comme l’exactitude ou la sincérité, sont associées à la vérité. Mais cela n’implique toujours pas que l’on puisse parler légitimement de transformations et d’une histoire du concept de vérité lui-même. Même si nous ne sommes pas disposés à reconnaître au concept de vérité le genre d’universalité et d’anhistoricité que Bernard Williams réclame pour lui, il est difficile, en tout cas, de ne pas lui accorder qu’on ne peut pas affirmer simultanément qu’une culture et un langage, par exemple ceux de la Grèce archaïque, avaient un concept de vérité et que la vérité y occupait une place différente et y jouait un rôle différent de ceux que notre système de pensée lui attribue. C’est ce qui l’amène à critiquer assez sévèrement les gens qui, comme Marcel Detienne, ont donné une mauvaise réponse à une question qui était elle-même mauvaise : C’est en partie parce qu’ils ont posé les mauvaises questions que des spécialistes ont fait certaines déclarations surprenantes à propos de la vérité dans la Grèce archaïque. Marcel Detienne posait la question suivante : « La ‹ Vérité › y tient-elle la même place que dans notre système de pensée ? » (Les Maîtres de la vérité dans la Grèce archaïque [Paris : Maspéro, 1967] p. 413). Detienne fait nécessairement fausse route ; si telle était la question, elle serait à elle-même une réponse. Si nous traduisons à bon escient un mot ancien par « vrai » et que nous interprétons à bon escient des passages de grec ancien qui font référence à la vérité, les termes en question doivent dans une large mesure jouer le rôle que la « vérité » joue dans
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Dans la réédition de 2006 (Marcel Detienne : Les Maîtres de Vérité dans la Grèce archaïque. En ouverture : retour sur la bouche de la vérité, préface de Pierre Vidal-Naquet), la citation se trouve à la page 52.
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notre pensée. Comme il a violé ce principe tout simple avec sa question, il n’est pas étonnant que Detienne lui ait donné une réponse surprenante. Il affirme que les poètes sont « maîtres de la vérité » parce qu’ils avaient le contrôle de l’éloge et du souvenir et sauvaient de l’oubli les héros et leurs exploits. S’il est vrai que ce sont bien là des idées importantes à propos du rôle et de l’autorité des poètes dans le monde archaïque, on ne saurait en rendre compte, comme Detienne l’a fait, en affirmant que alêtheia – le mot qu’il traduit par « la vérité » – n’avait rien à voir avec la conformité avec l’objet ou avec d’autres discours, et ne s’opposait pas au « mensonge » – en un mot « qu’il n’y a pas de ‹ vrai › qui s’oppose au ‹ faux › », la seule opposition importante, pour lui, étant celle d’alêtheia et de lêthê (l’oubli). Ce qui conduit très clairement à la conclusion générale : du fait qu’il n’était pas opposé au faux, il n’y avait rien qui pût se représenter correctement comme « le vrai » (Vérité et véracité, p. 318-319).
En d’autres termes, il ne semble y avoir ici que deux possibilités : ou bien le concept de vérité ne peut être trouvé nulle part dans le langage et la culture que nous considérons, ou bien il y occupe approximativement la même place que dans notre langage et notre culture à nous. Et la tentation de donner à la fois une réponse absolutiste à la question de sa présence ou absence dans la culture et le langage, et une réponse relativiste à la question de la place qu’il y occupe et de la fonction qu’il y remplit, à laquelle ont cédé un nombre aussi grand de philosophes et d’historiens d’aujourd’hui, doit être rejetée comme une incohérence typique. Une langue et une culture données peuvent, bien sûr, ne comporter aucun mot qui soit à peu près équivalent à « vrai » et doive être traduit par ce mot-là. Mais, selon Bernard Williams :
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Cela ne veut pas dire que les populations qui parlent la langue en question n’avaient pas de concept de vérité – n’avaient pas notre concept de vérité, si on tient à le dire de cette façon-là, bien qu’il ne nous appartienne pas plus qu’à eux. C’est le concept de vérité qui appartient à tous, celui que, même s’ils n’y réfléchissent pas, ils mettent en pratique lorsqu’ils font ce que tout groupe humain peut et doit faire quand il utilise sa langue (ibid. p. 317).
Par conséquent, il n’est pas tellement difficile de comprendre comment certains philosophes ont pu en arriver à penser et à affirmer que le concept de vérité n’est probablement plus nécessaire ou important, et est en train de perdre sa place et son rôle dans notre langage et notre culture, tout en continuant, par ailleurs, à utiliser, comme tout le monde, le concept de vérité et à manifester, déjà dans l’usage qu’ils font simplement du langage, leur adhésion implicite à ce concept et le genre d’indispensabilité qu’ils sont obligés eux aussi, en pratique, de lui reconnaître.
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Bernard Williams, qui a critiqué Detienne, aurait pu aussi très bien, me semble-t-il, critiquer Foucault, dont Detienne pense, du reste, qu’il s’est probablement inspiré du « paysage du vrai » qui avait été dessiné dans son livre (sur ce point, cf. Les Maîtres de Vérité dans la Grèce archaïque, 2006, p. 13) et chez qui on trouve fréquemment des déclarations de l’espèce de celles qui sont considérées comme sérieusement trompeuses dans Vérité et véracité.14 C’est le cas, par exemple, de la suivante, tirée de L’Ordre du discours, le texte de la leçon inaugurale de Foucault au Collège de France : « Entre Hésiode et Platon un certain partage s’est établi, séparant le discours vrai et le discours faux ; partage nouveau puisque désormais le discours vrai n’est plus le discours précieux et désirable, puisque ce n’est plus le discours lié à l’exercice du pouvoir. Le sophiste est chassé. »15 C’est une façon de s’exprimer qui n’est pas satisfaisante parce qu’on ne peut parler d’un partage qui est censé être réellement un partage entre le vrai et le faux, et en même temps affirmer que la façon de l’effectuer à changé, en ce sens qu’après avoir été un partage entre, par exemple, ce qui est précieux ou désirable et ce qui ne l’est pas, il est devenu autre chose. Car, si on a des raisons de penser que le partage effectué a lieu, par exemple, entre des choses comme le désirable et le non désirable, entre ce qui est utile et ce qui ne l’est pas ou entre le discours qui est tenu par le pouvoir et lié au pouvoir et celui qui ne bénéficie pas de cet avantage, alors ce n’est pas d’un partage entre le vrai et le faux, entre ce que nous appelons le vrai et le faux, mais d’autre chose qu’il faut parler. Pour la raison qu’indique clairement Williams, dire d’une culture qu’elle assimile le vrai au désirable, à ce que disent les poètes ou à ce que décide le pouvoir est une façon impropre de s’exprimer. Ce qu’il faudrait dire est que ce n’est pas du concept de vérité que l’on est en train de parler dans des cas de cette sorte. Bien entendu, savoir s’il y a ou non, dans un langage ou une culture donnés, un terme précis qui peut être traduit exactement par « vrai » peut être une question très compliquée et relativement indécise. Par exemple, dans le cas du grec de l’époque archaïque, il y a une variété de termes qui impliquent la vérité et peuvent, dans certains contextes, être traduits légitimement par « vrai », mais il n’y a pas de terme qui fasse exactement la même chose que ce que fait chez nous le terme « vrai ». Néanmoins, comme le dit Bernard Williams :
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J’ai évoqué certains aspects de ce problème dans L’objectivité, la connaissance et le pouvoir, in L’infréquentable Michel Foucault. Renouveaux de la pensée critique, sous la direction de Didier Eribon (Paris : EPEL, 2001) p. 133-145. Michel Foucault : L’Ordre du discours (Paris : Gallimard, 1971) p. 17-18.
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La richesse et la complexité du vocabulaire de la vérité archaïque ne signifie pas que le concept de vérité, tel que nous pourrions le reconnaître, soit absent. Incontestablement, c’est seulement à la lumière de sa présence, attestée par le fait que les hommes de cette culture déclaraient vraies certaines choses, se demandaient si elles étaient vraies ou non, les transmettaient comme telles, et ainsi de suite, qu’on peut comprendre tout ce que ce riche vocabulaire signifie (ibid. p. 322).
Une dernière remarque que je voudrais faire a trait au fait que les vertus qui, comme la sincérité, sont normalement associées à la vérité, peuvent certainement faire l’objet d’une considération qui varie de façon importante d’une culture à une autre. Dans le monde archaïque, être un menteur expérimenté et astucieux pouvait, dans certaines conditions, être considéré comme une caractéristique positive et digne d’être admirée. C’est ce dont témoigne, par exemple, de façon frappante, le cas du personnage d’Ulysse dans L’Iliade et L’Odyssée. Oscar Wilde, dans Le déclin du mensonge n’oublie pas de faire remarquer que : Le mensonge en vue d’obtenir sur le champ un avantage personnel quelconque, celui qu’on appelle d’ordinaire « mensonge dans un but moral », et qui ne laisse pas, de nos jours, d’être quelque peu déconsidéré, était fort prisé du monde antique. Ulysse fait rire Athéna « avec ses paroles pleines de ruse », selon l’expression de Mr. William Morris, et la gloire du mensonge qui illumine le front pâle des héros sans tache d’Euripide assigne aussi, parmi les nobles femmes du passé, une place à la jeune épouse d’une des odes les plus exquises d’Horace. Par la suite, nous voyons le simple instinct naturel élevé à la dignité de science raisonnée. Des règles précises furent édictées pour guider les hommes, et une école littéraire importante prit le mensonge pour mot d’ordre. Et vraiment, qui se remémore l’excellent traité de Sanchez sur le sujet ne peut s’empêcher de déplorer que personne ne se soit jamais avisé de publier un abrégé populaire des œuvres de ce grand artiste.16
Il n’en est pas moins vrai que ce mensonge-là, en dépit de son utilité et même de sa nécessité, peut encore être critiqué et qu’en fin de compte « le seul mode de mensonge qui échappe à toute critique, c’est le mensonge désintéressé, le mensonge pour le mensonge, dont la forme la plus pure est […] la forme artistique » (ibid. p. 746). Je n’ai évidemment pas l’intention d’aborder ici la question de savoir si nous avons besoin de l’art avant tout parce que nous avons besoin du mensonge désintéressé, dont il peut sembler représenter l’exemple par excellence, 16
Oscar Wilde : Le déclin du mensonge, in Œuvres (Paris : La Pochotèque, 2003) p. 745-746.
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ou au contraire, comme on le dit également, parce que nous avons besoin d’une forme de vérité importante qu’il est seul en mesure de nous procurer. Le problème que j’ai essayé de traiter dans cette conférence n’est en aucune façon celui de savoir si ceux qui regrettent ce qu’Oscar Wilde appelle le déclin du mensonge et condamnent la réprobation, selon eux excessive, que nos sociétés ont tendance à faire peser sur lui ont ou non raison. C’est celui, bien différent, de savoir si l’on peut accorder un crédit réel à l’idée qu’une sorte d’indifférence à la distinction entre le vrai et le faux ou entre la vérité et le mensonge constitue, au point où nous en sommes arrivés aujourd’hui, une chose non seulement possible, mais éminemment souhaitable. Ni les sceptiques radicaux, qui doutaient de la possibilité de parvenir, dans un domaine quelconque, à des vérités, ni ceux qui, sur un mode sérieux ou plus ou moins paradoxal, ont défendu la cause du mensonge et de sa supériorité ne proposaient rien de tel que le genre d’oubli et d’indifférence dont il est question ici. Comme le souligne Harry Frankfurt, il ne faut pas confondre le comportement de celui qui continue à se référer à l’autorité de la vérité, même si c’est pour constater qu’il est en réalité impossible de la suivre, parce que la vérité ne peut être trouvée nulle part, ou pour la défier ouvertement, avec la décision de ne tenir tout simplement aucun compte de ce qu’elle pourrait exiger : Quelqu’un qui ment et quelqu’un qui dit la vérité jouent de deux côtés opposés, pour ainsi dire, dans le même jeu. Chacun d’entre eux répond aux faits tels qu’il les comprend, même si la réponse de l’un est guidée par l’autorité de la vérité, alors que celle de l’autre défie cette autorité et refuse de satisfaire ses demandes. Le déconneur (the bullshitter) ignore complètement ces demandes. Il ne rejette pas l’autorité de la vérité, comme le fait le menteur, et ne s’oppose pas à elle. De ce fait, la déconnance (bullshit) est une ennemie plus grande de la vérité que ne l’est le mensonge.17
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Mais il ne faut pas non plus confondre, bien entendu, le désintérêt complet pour la notion et la question de la vérité, qui peut exister et existe effectivement, avec le discours philosophique qui se contente d’annoncer que nous ferions aussi bien désormais d’adopter une attitude de cette sorte et pour le reste continue à se comporter sur ce point, la plupart du temps sans s’en rendre compte, à peu près comme on l’a toujours fait jusqu’à présent. Pour en revenir à la question de la valeur et de l’importance du mensonge, il est certain que l’on peut trouver encore aujourd’hui des cultures 17
Harry G. Frankfurt : On Bullshit (Princeton, Oxford : Princeton University Press, 2005) p. 60-61.
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qui, comme cela semble être généralement le cas des sociétés paysannes, ont à l’égard du mensonge une attitude sensiblement plus positive que celle que l’honnête homme est censé adopter en principe et comparable sur certains points à celle du monde archaïque. Mais il serait pour le moins naïf et même, pour tout dire, absurde d’en conclure que la Grèce archaïque ignorait la différence entre le vrai ou le faux ou était capable, dans certains cas, d’appeler « le vrai » ce que nous appelons « le faux ». C’est bien entendu le contraire de cela qui est vrai. Seule une culture qui maîtrise et utilise le concept de vérité peut reconnaître comme tel et éventuellement honorer le menteur talentueux et chevronné. Il n’est pas scandaleux de se demander si l’humanité n’a pas en fin de compte plus besoin du mensonge que de la vérité. Mais c’est, comme je l’ai dit, une question bien différente que celle de savoir si elle ne pourrait pas aussi, tout bien considéré, se passer complètement de la vérité elle-même. Je terminerai en citant, sur ce point, Anatole France, qui donne sans hésiter une réponse positive à la première question, mais n’en conclut pas que nous pourrions aussi bien faire de même avec la deuxième : C’est une question de savoir si le langage humain se prête parfaitement à l’expression de la vérité ; il est sorti du cri des animaux et il en garde les caractères ; il exprime les sentiments, les passions, les besoins, la joie et la douleur, la haine et l’amour. Il n’est pas fait pour dire la vérité. Elle n’est pas dans l’âme des bêtes sauvages : elle n’est point dans la nôtre, et les métaphysiciens qui en ont traité sont des lunatiques. Tout ce que je peux dire c’est que j’ai été de bonne foi. Je le répète : j’aime la vérité. Je crois que l’humanité en a besoin ; mais certes elle a bien plus grand besoin encore du mensonge qui la flatte, la console, lui donne des espérances infinies. Sans le mensonge, elle périrait de désespoir et d’ennui.18
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Anatole France : La Vie en fleur (Paris : Calmann-Lévy, 1551924) p. 348-349.
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Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter †, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Basel: Schwabe, 1971-2007), Bd. 13: Register mit Volltext-CD-ROM des Gesamtwerks, XVIII, 524 S. Mit dem Erscheinen des Registerbands (Bd. 13) des Historischen Wörterbuchs fand im letzten Jahr ein wissenschaftliches Großprojekt seinen Abschluss, das seinesgleichen sucht. Rund 1500 Fachgelehrte haben fast ein halbes Jahrhundert lang daran gearbeitet; angesichts des schieren Ausmaßes dieses Unterfangens könnte man von einem «Genomprojekt des Geistes» reden. Die Bezeichnung «Historisches Wörterbuch» beschreibt das gewaltige Werk nur unzureichend. Philosophisches Denken ist immer zugleich Arbeit mit Begriffen und an Begriffen. Durch philosophische Arbeit erhalten Begriffe schärfere Konturen, sie erfahren ihre Bestimmung und immer neue Bestimmungen. Sie bleiben in den interessanten Fällen jedoch immer auch problematisch und entziehen sich einer abschließenden Definition. Auf die Frage, was Aristoteles unter eidos verstand, gibt es ebenso wenig eine kurze, definitionsähnliche Antwort wie auf die Frage, wie heute der Ausdruck «Proposition» in der Philosophie gebraucht wird. Die Bedeutung solcher Ausdrücke erschließt sich immer nur teilweise und nur durch ihre Einbettung und ihre Verwendung in ausführlichen philosophischen Theorien und Überlegungen. Das Historische Wörterbuch, das in diesem Bewusstsein entstanden ist, ist deshalb viel mehr als ein Wörterbuch – es ist eine Enzyklopädie des philosophischen Denkens; noch dazu eine der umfassendsten, die jemals verfasst wurden. Dabei muss «philosophisches Denken» relativ weit verstanden werden. Alles wissenschaftliche Denken ist seinen historischen Ursprüngen nach philosophisches Denken; dies gilt für die Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften im gleichen Maß. Gerade in der heutigen Zeit der disziplinären Zerstückelung der Wissenschaften ist es angebracht, auf diese genetische Verwandtschaft hinzuweisen; das Historische Wörterbuch ist ein beredtes Zeugnis davon. Das Historische Wörterbuch behandelt viele Begriffe aus anderen Geisteswissenschaften, aus den Sozialwissenschaften und aus den Naturwissenschaften. Häufig handelt es sich um solche Begriffe, deren ursprünglicher Ort die Philosophie war, wie etwa die physikalischen Begriffe von Energie, Kraft, Atom, oder Materie. Es werden aber auch Begriffe wie «Metapher» oder «Narrativ» ausführlich behandelt, um zwei Begriffe zu nennen, die in den zeitgenössischen Geistes- und Kulturwissenschaften eine wichtige Rolle spielen. Es finden sich schließlich aber auch historische Begriffe, die höchstens einen indirekten Bezug zur Geschichte der Philosophie haben, wie z. B. «Stalinismus». Die Auswahl ist außerordentlich großzügig; mit rund 6000 Artikeln wird der die Bedeutung von Begriffen in ihrem historischen Wandel Suchende selten enttäuscht.
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Buchbesprechungen
Auch die moderne Wissenschaftstheorie und analytische Philosophie kommen nicht zu kurz; häufig sind die Artikel zu diesen Themen sogar ebenso umfangreich wie in entsprechenden spezialisierten Nachschlagewerken. Gerade dieser Umstand macht das Werk vielleicht trotz seinem stolzen Preis von 3400 CHF / 2380 EUR auch für viele Privatbibliotheken geeignet; man braucht eigentlich nicht noch weitere philosophische Nachschlagewerke zu Hause. Bei der Auswahl der Einträge scheint es eine gewisse Rolle gespielt zu haben, dass die behandelten Begriffe einen gewissen Grad von Allgemeinheit und Abstraktheit haben, wie sie heute die eigentliche Domäne der Philosophie sind. So findet sich beispielsweise ein ausführlicher Artikel zum Thema «Stoffwechsel», während die konkreteren und spezielleren Ausdrücke wie «Enzym», «Katalyse» oder «Gen» keine eigenen oder nur relativ kurze Einträge erhielten. Auch die behandelten mathematischen Fachbegriffe sind in der Regel abstrakte Begriffe oder Begriffe höherer Ordnung, wie «Zahl», «Axiom», «Lemma» u. Ä. Wie es in der Philosophie traditionell ist, wird den Begriffen der Logik ein relativ hoher Stellenwert eingeräumt, ohne jedoch für den philosophischen Hausgebrauch zu technisch zu werden. Viele Artikel sind in historische Epochen gegliedert, was die Übersichtlichkeit im Vergleich mit manchen anderen Werken stark erhöht. Beispielsweise beginnt der Artikel «Transzendental; das Transzendentale; Transzendentalien; Transzendentalphilosophie» mit einigen interessanten Vorbemerkungen, behandelt dann im II. Teil die Anfänge bis Meister Eckhart, im III. Teil Duns Scotus und den Skotismus, im IV. Teil die Renaissance und die katholische und protestantische Schulphilosophie, im V. Teil Wolff und seine Nachfolger (darunter Kant), im VI. Teil Idealismus und Romantik (darunter Fichte, Schelling und Hegel), im VII. Teil psychologische Kantinterpretationen, im VIII. Teil Entwicklungen im 19. Jahrhundert, im IX. Teil den Neukantianismus, im X. Teil die phänomenologische Bewegung, im XI. Teil die analytische Philosophie (darunter Wittgenstein, Strawson, Popper, und Davidson), im XII. Teil die Theologie. Dabei sind die Literaturhinweise jeweils separat am Ende eines jedes Teils angebracht, was die Übersichtlichkeit des umfangreichen Materials stark erhöht. Die Behandlung zeigt übrigens, dass es sich bei diesem Beispiel zugleich um ein zentrales, als auch als ein philosophisch einheitliches Thema handelt, das durch mehr als bloß das Wort zusammen gehalten wird. Wörter können manchmal eben doch verlässliche Wegweiser im Labyrinth des Denkens sein. Die lange Entstehungszeit des Historische Wörterbuch hat natürlich ihre Spuren hinterlassen. Es ist wohl unmöglich, eine bestimmte Praxis der Auswahl, wissenschaftlichen Behandlung und Redaktion von Einträgen über eine dermaßen lange Zeit konstant zu halten. Außerdem hat sich das verfügbare Wissen über die Geschichte der Philosophie in dieser Zeit natürlich stark vermehrt. Schließlich stehen heute zu den meisten Themen spezialisierte Fachleute zur Verfügung, die zu einzelnen Themen über ein enormes Wissen verfügen. Dies dürften die Gründe sein, warum die Einträge in den neueren Bänden tendenziell länger und auch detaillierter sind. Ein Nachteil eines gedruckten Werks im Vergleich mit entsprechenden OnlineProdukten besteht darin, dass frühere Einträge nachträglich nicht mehr revidiert werden können. Wenigstens in einer Hinsicht konnte dieser Nachteil durch den Registerband etwas aufgefangen werden: Frühere Auslassungen konnten in manchen Fällen
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in einem späteren Band unter einem anderen Namen noch aufgenommen werden (z. B. «das Böse», das in Band I, A-C, nicht vorkommt, erscheint als «Malum» in Band VI, Mo-O). Es empfiehlt sich also, immer zuerst den Registerband zu konsultieren, um einen Überblick über das verfügbare Material zu einem bestimmten und auch zu verwandten Stichwörtern zu erhalten; der Registerband (und auch die beigefügte CD-ROM) gibt dem Werk erst seinen vollen Gebrauchswert. Manche Informationen finden sich nicht gleich dort, wo man sie erwartete; aber sind dennoch vorhanden. Beispielsweise findet das bekannte Gettier-Problem unter «Erkenntnistheorie» keine Erwähnung, wird aber im Artikel «Wissen» ausführlich behandelt. Der Registerband beginnt mit einem ein Register der Sachgruppen, in dem die Artikel unter einer Sachgruppe oder einer Disziplin angeführt sind (z. B. «Erkenntnistheorie», oder «Chinesische Philosophie»). Dann folgt das ausführliche Register der Verweise, das durch eine kluge Auswahl der Verweise (d. h. Verzicht auf unnötige Verweise, die keine neue Information zu der des Hauptartikels hinzufügen) auffällt. Das beeindruckende Register der Verfasser schließt diesen Band ab. Es weist das Historische Wörterbuch als eine höchst ökonomische und übersichtliche Darstellung des gesammelten Wissens gleich mehrerer Generationen von deutschsprachigen PhilosophieGelehrten aus. Als solche wird es im Selbstverständnis der deutschsprachigen Philosophie in den kommenden Jahrzehnten weiterhin einen singulären Status besitzen. Der (durchaus existenten) angelsächsischen Schwester, der Routledge Encyclopedia of Philosophy, die ebenfalls ein Gemeinschaftswerk von rund 1300 Gelehrten ist, ist der geringere Stellenwert, den die Geschichte der Philosophie in der englischsprachigen im Vergleich mit der deutschsprachigen Philosophie besitzt, durchaus anzumerken. Dort gibt es zwar viele ausführliche Einträge zu philosophiehistorischen Themen, aber die Behandlung der systematischen Themen ist in der Regel stärker gegenwartsbezogen. Dies macht die beiden epochalen Werke in gewisser Hinsicht komplementär. Und im Vergleich mit Online-Enzyklopädien wie der (zu Recht) beliebten Stanford Encyclopedia of Philosophy besteht weiterhin ein Klassenunterschied besonders in der Organisation und der intelligenten Verweispraxis, aber auch im Umfang. Obwohl die Zukunft wohl den Online-Enzyklopädien gehört, sind diese momentan noch weit vom Niveau des Historischen Wörterbuchs entfernt. Und dass es eine schwarz auf weiß gedruckte und damit (zumindest in der vorliegenden Ausgabe) unveränderliche «Momentaufnahme» ist in dem Versuch, das philosophische Denken in seinem historischen Wandel zu durchdringen und zu begreifen, könnte sich eines Tages noch als großer Vorzug herausstellen. In der Philosophie dauern Momente eben manchmal ein halbes Jahrhundert. Marcel Weber, Basel
Pascal Engel : Va Savoir ! De la connaissance en général (Paris: Hermann, 2007) 256 p. Allons savoir ! Car il y en a à savoir ! C’est ceci que démontre contre le scepticisme radical Pascal Engel, professeur ordinaire à l’Université de Genève depuis 2006, dans son nouvel ouvrage. Le livre est d’une part une défense systématique
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d’une position néo-mooréenne en philosophie de la connaissance que l’auteur appelle « béotianisme dogmatique » (p. 13). D’autre part c’est une excellente introduction à la philosophie de la connaissance contemporaine. En six chapitres l’auteur nous amène minutieusement à travers les discussions les plus importantes des dernières décennies. Engel commence par exposer les deux défis auxquels une théorie de la connaissance doit répondre, le premier étant de définir la notion de connaissance, le deuxième étant le défi sceptique selon lequel il n’est même pas possible d’avoir une connaissance quelconque. Le deuxième défi prend deux formes radicales étroitement liées : le trilemme d’Agrippa (ou de Münchhausen) selon lequel toute recherche d’une justification dernière de la connaissance et confrontée au trilemme de conduire à une régression à l’infini, à un arrêt arbitraire ou d’être circulaire ; et le doute radical cartésien. La réponse classique au premier défi est la définition que l’on trouve dans le Théétète – que la connaissance soit une croyance vraie justifiée. Elle fut mise en question par le problème de Gettier : Nous pouvons être justifiés à croire une proposition vraie sans pour autant la savoir. Le flot de discussions qui s’en suivit et qui prit le nom de « gettierologie » (p. 10) donna naissance à différentes positions comme celles de l’internalisme et de l’externalisme, du fondationalisme et du cohérentisme, à la définition contrefactuelle et la définition fiabiliste de la connaissance – une discussion qu’Engel présente de manière claire et très abordable dans le premier chapitre. Le deuxième chapitre est consacré au scepticisme. L’argument sceptique de l’ignorance peut être formulé de la manière suivante : je ne sais pas qu’une hypothèse sceptique SH (comme l’hypothèse du Malin Génie ou du Cerveau dans une Cuve) est fausse ; si je ne sais pas que SH est fausse, alors je ne sais pas que p ; donc je ne sais pas que p. Cet argument présuppose le principe de clôture épistémique – si X sait que p, et sait que p implique q, alors il sait que q. Cela incita des auteurs comme Dretske et Nozick à rejeter le principe de clôture épistémique et à concevoir la connaissance de p comme demandant l’élimination de toutes les alternatives pertinentes à la vérité de p. Il en suivit une discussion toujours actuelle sur le contextualisme selon lequel la signification des mots « savoir » et « connaître » peut changer selon le contexte (DeRose), l’invariantisme sensible selon lequel la variation contextuelle est due aux intérêts du sujet (Hawthorne, Stanley), et la thèse classique de l’invariantisme insensible. Engel n’est convaincu ni par les arguments pour le contextualisme, ni par les arguments pour l’invariantisme sensible. Il retient donc la position classique de l’invariantisme insensible ainsi que le principe de clôture épistémique. C’est au troisième chapitre qu’Engel présente sa réponse plus directe au scepticisme qui consiste à rejeter la première prémisse de l’argument, c’est-à-dire à nier que nous soyons victimes du scénario sceptique. C’est la réponse du sens commun, c’est aussi la réponse fameuse donné par G. E. Moore – voici deux mains ; si deux mains existent, alors le monde extérieur existe ; par conséquent le monde extérieur existe. Mais alors que l’épistémologie classique part de la notion de croyance pour ensuite définir le savoir comme une croyance justifié, Engel (en suivant Timothy Williamson) part de la notion de savoir : le savoir est une notion inanalysable. Bien qu’inanalysable la notion peut être caractérisée par le principe de sécurité proposé par Williamson : Si l’on sait que p, on n’aurait pas pu aisément se tromper à propos
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d’un cas semblable. C’est ce principe qu’il faut adopter et rejeter le présupposé internaliste, le principe KK selon lequel savoir c’est savoir que l’on sait. Ce principe est à rejeter en raison de l’argument d’anti-luminosité de Williamson (p. 108-109). Savoir n’est donc pas « transparent » ou « lumineux » ; on n’a pas, en général, d’accès privilégié à notre savoir. Engel présuppose que cet argument est correct au moins pour la connaissance perceptive, mais note aussi que l’argument a été contesté par des contextualistes comme DeRose. L’adoption du principe de sécurité, en revanche, valide d’une part la réponse célèbre de Moore au scepticisme, d’autre part elle permet aussi une réponse au trilemme d’Agrippa : il n’y a pas à définir la notion de connaissance par des conditions nécessaires et suffisantes en premier lieu. Dans le quatrième chapitre Engel traite de la vertu épistémique. L’auteur montre que les tentatives de définir la notion de connaissance en utilisant des normes ou des vertus épistémiques ne sont pas satisfaisantes, la raison étant que ces normes relèvent de l’enquête plutôt que de la connaissance elle-même. Plus important pour l’argumentation du livre est le cinquième chapitre. C’est ici qu’Engel introduit la notion de justification directe (non-inférentielle) et défaisable, appelée souvent prima facie. L’autorisation épistémique – traduction de l’anglais « entitlement » – par témoignage en est un bon exemple : on fait confiance de principe aux témoignages. Cette confiance peut être entendue soit comme une forme de garantie basée sur une foi immédiate, soit comme une forme d’évidence primitive qui repose elle aussi sur des données et des preuves ; la première option semble peu plausible, Engel plaide pour la deuxième. Un autre exemple d’autorisation épistémique est la perception. Alors que des auteurs comme McDowell considèrent que le contenu perceptuel doit être conceptuel, des auteurs comme Peacocke et Engel lui-même sont de l’avis que ce contenu est non conceptuel. En utilisant l’idée de justification prima facie et en suivant les arguments de James Pryor, Engel propose un néo-dogmatisme : nous avons une justification prima facie de la vérité de notre jugement perceptif. Nos perceptions ne soutiennent pas nos croyances au sens où des données confirment une hypothèse crue, mais ce sont nos expériences perceptuelles elles-mêmes qui justifient nos contenus perceptifs (p. 196-197). Engel remarque que ce n’est pas la phénoménologie de nos perceptions qui justifie nos croyances, mais le contenu représentationnel ou informationnel qui un contenu non conceptuel – ce que Peacocke appelle l’« autorisation informationelle » (p. 197). La position défendue par Engel est donc un néo-mooréanisme et un néo-dogmatisme. Engel se présente comme proche de Moore en acceptant – par l’adoption du principe de sécurité – sa preuve de l’existence du monde extérieur comme correcte. Sa position se distingue cependant de la position de Moore au moins sur trois points. En acceptant une théorie externaliste de la connaissance, Engel n’a pas besoin de revendication explicite du savoir, ni de certitude, ni d’une revendication de la vérité des certitudes du sens commun (p. 118-119). C’est la première strate de sa position. La deuxième est un néo-dogmatisme basé sur le concept de justification prima facie : nous avons une justification prima facie de la vérité de notre jugement perceptif. Ainsi Engel accepte aussi un argument mooréen très proche du premier qu’il appelle « argument béotien » : je sais que p ; si je ne sais pas qu’une hypothèse sceptique SH (comme l’hypothèse du Malin Génie ou du Cerveau dans une Cuve) est fausse, je ne
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sais pas que p ; donc je sais que SH est fausse. Ce sont ces deux strates qui forment le béotianisme dogmatique. Le sixième chapitre traite de l’a priori. La justification prima facie peut-être considérée comme une justification a priori. Engel argumente qu’une conception modérée de l’a priori n’est pas touchée par les fameux arguments de Quine et que cela permet l’existence de normes épistémiques dans un cadre externaliste. Le livre se termine par une conclusion résumant l’argument et, en appendice, une liste utile d’arguments et de principes mentionnées dans le livre. L’argumentation d’Engel pour la position du béotianisme dogmatique est-elle convaincante ? Tout d’abord, il me semble important de noter que l’argumentation ne repose pas sur l’invariantisme insensible de la notion de connaissance. L’invariantisme insensible – qui me paraît d’ailleurs peu plausible par rapport aux phénomènes linguistiques – n’est pas nécessaire pour l’argument contre le sceptique puisqu’il suffit de dire que la réponse contextualiste passe à côté du problème (p. 226). L’invariantisme ne semble pas être nécessaire non plus pour garder le principe de clôture épistémique puisqu’on peut – et doit, si l’on est un contextualiste sans ambition de réfuter le sceptique par abandon du principe – le limiter à un seul contexte. L’argument ne repose non plus sur la conception modéré de l’a priori ; c’est plutôt une addition à la position dogmatique de l’interpréter comme a priori. L’argument est basé d’une part sur le rejet de principes internalistes comme le principe KK et d’autre part sur l’argument pour le néo-dogmatisme. Engel note qu’on pourrait néanmoins formuler l’objection que le rejet du principe KK est une pétition de principe (p. 156). C’est pour combler cette lacune qu’il essaie de défendre un néo-dogmatisme en ayant recours à la notion de justification prima facie qu’il développe avec les idées de Pryor et Peacocke : Nous avons une autorisation épistémique grâce à nos perceptions ; ce sont nos expériences perceptuelles elles-mêmes qui justifient nos contenus perceptifs. Engel constate à la fin qu’il y ait peu de chances que cela satisfasse le sceptique (p. 228). Mais – et c’est cela qui compte – le doute du sceptique ne peut pas mettre en danger la structure justificationnelle de l’argument mooréen (p. 195). La qualité du livre de Pascal Engel réside dans un regroupement systématique de différents arguments. En ceci, le livre sera donc lu avec grand profit aussi bien par le philosophe débutant que par le philosophe chercheur curieux des relations conceptuelles entre les différentes questions épistémologiques discutées ces dernières années. Jonas Pfister, Berne
Guillaume d’Ockham : Intuition et abstraction, textes introduits, traduits et annotés par David Piché (Paris: Vrin, 2005) [Translatio] 267 p. David Piché, actuellement professeur adjoint au département de philosophie de l’Université de Montréal, est un jeune historien de la philosophie médiévale déjà bien connu dans le monde francophone grâce à ses deux premiers ouvrages, portant respectivement sur La condamnation parisienne de 1277 (Paris, Vrin, 1999) et sur Le problème des universaux à la Faculté des Arts de Paris entre 1230 et 1260
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(Paris, Vrin, 2005). Un nouvel ouvrage vient encore compléter cette liste, portant sur la théorie de la connaissance de Guillaume d’Ockham, et fruit des recherches que l’Auteur a menées au Boston College Institute of Medieval Philosophy and Theology, sous la direction de Stephen Brown ; publié dans la collection Transatio de la Librairie J. Vrin, ce volume inaugure – avec celui de Ruedi Imbach (Thomas d’Aquin et Boèce de Dacie, Sur le bonheur) – une nouvelle série bâtie un peu sous le modèle des ouvrages publiés en allemand chez Philipp Reclam (cf. par exemple en ce qui nous concerne : Wilhelm von Ockham : Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, hg., übersetzt und kommentiert von Ruedi Imbach [Stuttgart: Reclam, 1984]), rassemblant pour une somme modique un corpus de texte en langue originale et en traduction, avec une introduction conséquente ou un commentaire. Intuition et abstraction est construit de la même manière : l’ouvrage contient une introduction doctrinale et les textes latins et traduits de Guillaume d’Ockham choisis par l’Auteur selon leur pertinence pour son propos. Une première partie brève de l’introduction est destinée à situer rapidement le personnage de Guillaume d’Ockham, et à présenter le sujet propre du livre : la duplex notitia incomplexa, soit l’intuition et l’abstraction (p. 7-8). L’Auteur aborde ensuite directement sa problématique de manière méthodique : a) contextualisation de la problématique (p. 8-16) ; b) technique d’approche utilisée par Guillaume d’Ockham (p. 17-18) ; c) la connaissance intuitive (p. 19-29) ; d) la connaissance abstractive (p. 30-47) et e) une conclusion (p. 47-49). a) D. Piché replace dans son contexte le thème de la duplex notitia incomplexa, et donne un panorama des problèmes traités à l’aide de ces notions. Le corpus pris en compte s’étend non seulement sur les Quodlibeta, mais aussi sur la Reportatio du Commentaire au second livre des Sentences, l’Ordinatio et ses Quaestiones in libros Physicorum Aristotelis. Il montre avec justesse comment les concepts d’intuition et d’abstraction naissent dans un contexte théologique (« la gnoséologie est un moyen et non une fin pour Ockham : elle est un instrument philosophique qu’il utilise pour résoudre des problèmes théologiques », p. 10), dont le cadre général d’application porte sur l’évidence des vérités théologiques. Ce chapitre lui donne la possibilité d’expliquer la notion d’évidence, de définir la connaissance incomplexe intellective – toujours anté-propositionnel selon son interprétation – et de mettre en relief à la fois l’importance de la connaissance abstractive pour l’assentiment évident aux propositions nécessaires mais aussi – et surtout – de celle de la connaissance intuitive pour les propositions contingentes. b) Dans le deuxième chapitre, l’Auteur aborde concrètement les définitions de la connaissance abstractive et de la connaissance intuitive et les oppose dans ce qui les distingue : respectivement l’impossibilité et la possibilité de juger avec évidence de la vérité d’une proposition existentielle au présent. Comme le remarque l’Auteur, la doctrine ockhamienne de la duplex notitia incomplexa est une « entreprise gnoséologique de mise au jour des conditions de possibilité primitives de l’actus iudicativus » (p. 18). c) Dans le troisième chapitre, D. Piché éclaire la thèse ockhamienne de la connaissance intuitive d’une chose non-existante en s’opposant à ceux qui la comprenne comme un scepticisme, arguant qu’elle « a pour horizon d’intelligibilité le champ
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des possibles que déploie le principe de la puissance divine absolue (potentia Dei absoluta) et [que] sa fonction théorique consiste à circonscrire la nature propre des connaissances intuitive et abstractive afin de pouvoir les différencier par ellesmêmes » (p. 19). Cette théorie permet à Ockham de répondre à Jean Duns Scot que, bien qu’il ait raison en ce qui concerne le cours normal des choses où il faut un objet extérieur pour en avoir une intuition, de potentia divina absoluta, Dieu peut faire que seule l’intuition existe en l’homme, sans son objet, et donc qu’une intuition du non-existant est de ce fait possible (cf. p. 21). Puis l’Auteur montre que, comme Ockham l’avait bien vu, il faut encore considérer, dans le cours naturel des choses, les conditions qui sont requises pour qu’il y ait intuition : la distance entre la chose et la faculté ne doit pas être trop grande et il doit y avoir une certaine attention que porte la faculté à la chose. Il est regrettable qu’à ce point, il n’y ait pas au moins quelque mots pour éclairer une problématique intéressante, qui est celle de savoir si l’on parle plutôt de non-existence d’un objet, ou simplement de non-présence ? d) Dans le quatrième chapitre, après avoir distingués trois sens différents de la notion de connaissance abstractive chez Ockham (connaissance abstractive in particulari, connaissance d’un universel abstrait de multiples singuliers et connaissance faisant abstraction de la manière individuée), D. Piché relève trois ambiguïtés qui entachent sa conception de la connaissance abstractive, visant principalement la connaissance in particulari : est-il possible qu’une connaissance abstractive in particulari fasse abstraction de l’existence selon toutes ses modalités temporelles ? cf. p. 35 ; est-il possible qu’une connaissance abstractive propre à une chose singulière en particulier puisse être simple ? cf. p. 40 ; comment concilier l’affirmation qu’à la fois la chose extra-mentale est cause partielle immédiate de la première connaissance abstractive et que celle-ci n’est pourtant pas immédiatement causée par la chose – l’intuition étant suffisante pour la produire cf. p. 43. e) Dans la conclusion, D. Piché enrichit l’analyse qu’il a lui-même nommée ‹transcendantale› de la duplex notitia incomplexa pour s’intéresser à « l’explication du processus gnoséologique qui va de la chose empiriquement donnée au concept naturellement formé qui la représente » (p. 47). Il dénombre trois principes directeurs du modèle gnoséologique ockhamien : la causalité, la naturalité et la représentationnalité. Si la causalité et la naturalité sont généralement acceptées par les commentateurs, il en est autrement de la représentationnalité, que l’Auteur affirme de toute notitia incomplexa, qui est alors considérée comme une similitude ou une représentation de l’objet. Il est fâcheux que D. Piché ne donne pas ici de plus amples explications à son lecteur, son point de vue étant loin d’être unanimement partagé : il se contente d’affirmer qu’il existe une similitude représentative sans species chez Ockham ; peut-être symptomatique de ce raccourcit, D. Piché n’a pas traduit ce terme de species, qui peut être traduit non seulement par espèce, mais aussi par image ou … représentation. Il aurait aussi été intéressant de voir cette interprétation confrontée à d’autres textes de Guillaume d’Ockham, par exemple II Reportatio, Q. 12-13 (Guillaume d’Ockham : Quaestiones in Secundum Librum Sententiarum. Reportatio, in Opera Theologica V, [St Bonaventure, NY : Franciscan Institute, 1981] p. 273.21-275.7) alors que les deux questions figurent dans l’anthologie de textes présentés par l’Auteur, mais pas le passage, pourtant pertinent pour cette question.
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Un autre problème se pose à la lecture de l’introduction doctrinale de D. Piché : il met à plat tous les textes qu’il examine comme s’ils étaient tous contemporains, ou présentant la même doctrine… or n’est-il pas possible qu’il ne soit pas nécessaire d’essayer d’accorder ensemble tous ces textes, mais plutôt de considérer une évolution dans la pensée de Guillaume d’Ockham ? Deux signes indiquent de prendre tout au moins cette hypothèse au sérieux : ces textes n’ont pas été écrits simultanément (par exemple, la Reportatio a été écrite bien avant l’Ordinatio, et les Quodlibeta en dernier, probablement lors de son séjour en Avignon), et certaines théories, comme celle du fictum, ne se retrouvent pas partout dans son œuvre. En ce qui concerne l’anthologie de textes et leur traduction, l’ensemble s’avère d’une excellente facture, mené avec le sérieux dont l’Auteur a habitué son lecteur. Le texte latin est emprunté à l’édition critique établie par les éditeurs du collège St Bonaventure à New York, et la traduction vise non seulement la lettre, mais aussi la compréhension du propos ockhamien. Seule ombre au tableau : si les coupures à l’intérieur d’un texte sont mentionnés, les coupures à l’intérieur d’une question ne sont pas indiquées ; par exemple, sans être mentionnés, dans le prologue de l’Ordinatio, tout le début de la question manque (quod non, ad oppositum, instantiae contra ultimam affirmationem, responsio ad instantias, De intellectu quaestionis), avant le § 21 il manque 80 lignes, avant le § 24 24 lignes, avant le § 27 14 lignes, avant le § 28 8 lignes, avant le § 30 11 lignes, avant le § 43 40 lignes, la fin de l’article VI manque, avant la solutio dubiorum il manque le ad primum et ad secundum, avant le § 63 manquent 50 lignes, avant le § 64 30 lignes, avant le § 70 5 lignes, avant le § 72 manque le ad nonum au complet et pour finir toute la fin de la première question, soit le responsio ad argumenta. Il en est de même pour presque tous les textes (sauf le Quodlibet 1 question 13, le 5 question 5 et le 6 question 6). Ces manques ne sont pas en eux-mêmes problématiques, l’étendue du corpus choisi par l’Auteur étant impressionnante ; ce qui est plus gênant, c’est que ces manques, non signalés, peuvent laisser croire au lecteur qu’il a sous ses yeux l’intégralité de la réflexion ockhamienne. Avec Intuition et abstraction, nous sommes en présence d’un bon ouvrage sur la pensée gnoséologique de Guillaume d’Ockham qui, de part la qualité technique de son introduction, n’est pas premièrement destiné aux étudiants débutants, et qui, de part l’absence de discussion plus poussées de thèses controversées, n’est pas non plus premièrement destiné aux spécialistes, mais – et c’est là une des réussites de l’ouvrage – il est finalement destiné à l’étudiant ayant déjà été en contact avec la pensée du Venerabilis inceptor, et qui désir en apprendre plus sans entrer cependant dans des débats trop complexes. Joël Lonfat, Genève
Diego Marconi : Per la verità. Relativismo e filosofia (Torino: Einaudi, 2007) IX, 172 p. Probabilmente la fortuna del relativismo nella cultura contemporanea dipende almeno in parte dalla generale avversione nei confronti del dogmatismo e del fanatismo. Poiché nessuno accetta volentieri di essere considerato dogmatico o fanatico,
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si potrebbe pensare che per essere nel giusto sia sufficiente far propria la posizione opposta, quella relativistica. I meriti del relativismo, se davvero ci sono, non gli possono però derivare semplicemente da una posizione parassitaria: una ragione contro il dogmatismo non è infatti necessariamente una ragione a favore del relativismo. Quali sono, se ci sono, gli argomenti che giustificano il relativismo? La discussione sul relativismo data in gran parte dal secolo scorso, benché le sue origini siano ben più remote e risalgano alla celebre dottrina dell’ ‹homo mensura› di Protagora. Secondo quanto scrive Platone, Protagora avrebbe esposto la tesi che «misura di tutte le cose è uomo», nell’opera che si intitolava La verità, poi andata perduta. Le ricostruzioni che ne sono state tentate, a partire dai dialoghi platonici, soprattutto nel Teeteto, non ci permettono di giungere a conclusioni certe sul suo significato. La questione posta da Protagora è pertanto soltanto l’abbrivio di una discussione che si è dispiegata in tutta la sua ampiezza e la sua profondità in seguito, soprattutto nella filosofia contemporanea, che interessa sia il contenuto che la validità del relativismo, sia le questioni di significato che quelle di fondamento. Di tutto ciò si parla con notevole competenza in un recente saggio del filosofo torinese Diego Marconi dal titolo Per la verità. Relativismo e filosofia. L’autore non si propone né di esporre una nuova teoria della verità né di svolgere la confutazione che ancora mancava del relativismo. L’intenzione è invece più modestamente di «mettere un po’ d’ordine, richiamando distinzioni e argomentazioni ben note, ma forse non proprio a tutti; e comunque, a quanto pare, spesso dimenticate» (p. VII). Ciò nonostante, i meriti dell’indagine di Marconi non sono pochi. Condotta con metodo sicuro, essa mostra che anche in una materia come questa, non priva di tranelli, è possibile ottenere «non pochi risultati parziali». Quali risultati? Marconi ne elenca alcuni, almeno uno per ciascuna delle lezioni di cui l’opera si compone: nel capitolo sulla verità, «che il nostro uso comune della parola ‹vero› è governato da certi requisiti, e chi non li rispetta parla d’altro»; nel capitolo sui relativismi, «che è difficile parlare di ‹relativismo› senza ulteriori precisazioni»; e, nell’ultimo, che riguarda l’etica e la teoria politica, «che molte forme di relativismo sono incompatibili con l’idea che la tolleranza sia un valore assoluto» (pp. VI-VII). Nel primo capitolo l’autore compie un’analisi della nozione di verità che prende le mosse da un’intuizione comunemente accettata, quella realistica: c’è un modo in cui le cose stanno indipendentemente dal fatto che noi lo sappiamo o che crediamo che sia così. Per esempio, si sa che i Babilonesi pensavano che ci fosse una stella del mattino (che i Greci denomineranno Phosphoros) e una stella della sera (Hesperos per i Greci). In verità il pianeta è uno solo, Venere. Che fosse sempre lo stesso corpo celeste i Babilonesi non lo sapevano ma ciò non toglie che la proposizione «Hesperos è Phosphoros» fosse vera anche ai tempi dei Babilonesi. Da Aristotele a Tarski, gran parte della cultura filosofica occidentale accetta questa intuizione elementare. I realisti la pensano così e Marconi osserva che questa è «la caratteristica centrale del concetto di verità» (p. 6). Pertanto, se qualcuno usa il concetto di verità in modo non conforme a questa definizione, vi è ragione di credere che costui non stia parlando di verità, ma di qualcos’altro. Marconi rifiuta inoltre ciò che egli definisce la «drammatizzazione della verità», l’idea secondo cui la verità sia «una cosa inattingibile, più che umana, che non si può
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possedere ma soltanto instancabilmente ricercare» (p. 35). Prende così chiaramente le distanze da una tradizione filosofica che può vantare tra i suoi esponenti nobili figure intellettuali come Lessing e Popper, all’interno della quale la verità è considerata un ideale regolativo della ricerca; se stiamo al resoconto popperiano, un ideale che avviciniamo progressivamente con il metodo per congetture e confutazioni, in particolare con l’esame critico delle teorie scientifiche mediante controlli sperimentali vieppiù severi. L’autore liquida questa posizione in modo eccessivamente sbrigativo, ritenendo che l’idea al fondo di essa altro non sia che «una nobile sciocchezza»: «Se davvero si pensasse che non c’è nulla da trovare, o che è impossibile trovarlo, si smetterebbe di cercare» (p. 44). Nella seconda lezione l’autore precisa le differenze tra alcune versioni contemporanee del relativismo, distinguendo in particolare tra relativismo epistemico e relativismo concettuale. Il relativismo epistemico sostiene che non esistono criteri indipendenti in grado di giustificare una credenza. Tuttavia, secondo Marconi, esso «di per sé non coincide con il relativismo sulla verità, né lo implica» (p. 53), a meno di identificare la verità con la giustificazione. Per il filosofo antirelativista più temibile è però il relativismo concettuale. Esso sostiene che la conoscenza della realtà non è indipendente da particolari schemi concettuali; detto in altro modo, schemi concettuali diversi (come la fisica di Aristotele, quella di Newton o quella di Einstein) danno accesso a stati di cose diverse. Alcune correnti contemporanee della filosofia della scienza hanno mostrato attraverso l’analisi di episodi significativi della storia del pensiero scientifico che il relativismo concettuale non è implausibile, almeno entro certi limiti. Più difficile è stabilire con la necessaria precisione i confini entro i quali il relativismo concettuale può essere accettato. Per Marconi si può almeno fare la differenza tra chi sostiene che un modo in cui le cose stanno è accessibile da un particolare schema concettuale e chi ritiene invece che gli stati di cose esistano per via di un particolare schema concettuale. La prima tesi non fa problema; la seconda invece è molto controversa e, manco a dirlo, è quella che pare più alla moda oggi, specie tra i pensatori post-moderni. Il libro di Marconi chiarisce la differenza tra le due versioni e le ragioni per cui soltanto la prima è compatibile con l’intuizione elementare, realistica, dell’idea di verità. La prima tesi (ma non la seconda) dice infatti soltanto che ciò che è relativo ad uno schema concettuale «non è la verità di una proposizione ma la sua accessibilità» (p. 65): che il sale sia cloruro di sodio era vero già prima della chimica di Lavoisier anche se allora quella proposizione e la teoria che essa implica non erano accessibili. Nell’ultimo capitolo l’autore affronta la spinosa questione del relativismo morale. Su questa materia la riflessione filosofica è stata negli ultimi anni ampia ed approfondita. Il relativista ritiene che nessun sistema di valori possa essere oggetto di critica, perché non esiste un punto di vista indipendente da cui quel sistema possa essere giudicato. Ogni società ha i suoi valori, al punto che il relativista potrebbe essere involontariamente spinto ad accettare l’aforisma coniato da Martin Hollis «liberalismo per i liberali, cannibalismo per i cannibali», ovvero che un sistema di valori basato sui diritti umani potrebbe semmai andar bene all’Occidente, però non ad altre culture. Chi afferma che certi valori sono universali vorrebbe in definitiva imporre i suoi, così sostiene il relativista. Pertanto ogni universalismo è etnocentrico, anche
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quando si tratta di diritti umani. Fu questa per l’appunto la posizione che assunse nel 1947 l’American Anthropological Association quando era in discussione la promulgazione della Dichiarazione universale dei diritti dell’uomo. Per essere tolleranti, si dice, si deve essere relativisti. È proprio vero che il relativismo favorisce la diffusione della virtù della tolleranza? Su questo punto la riflessione di Marconi è particolarmente interessante. È un dato di fatto che il relativismo si diffonde più facilmente quando gli uomini fanno l’esperienza dell’incontro con culture diverse dalla propria. Per questo il relativismo è un modo di pensare che è molto familiare agli antropologi. Ciò però non prova che il relativismo morale promuova necessariamente la diffusione generalizzata di un principio di tolleranza nei confronti della diversità. La spiegazione è molto semplice: il relativismo non è in grado di opporsi con validi argomenti a chi in nome di qualche tradizione o di qualche religione, interpretata a proprio modo, conculca i diritti altrui, sopprime le differenze culturali di una minoranza, annienta un popolo inerme. In altre parole, osserva Marconi, «il relativista è condannato ad un’indulgenza universale» (p. 130), che non è esattamente la stessa cosa della tolleranza. Non si vuol dire che il relativista sia costretto ad approvare il razzismo o la pulizia etnica ma certamente i suoi argomenti per difendere un’applicazione generalizzata dei diritti umani o anche soltanto per perorare la causa della tolleranza potrebbero rivelarsi piuttosto deboli. Comunque sia, ci ricorda con molta saggezza l’autore, dal momento che «le tesi filosofiche hanno di rado implicazioni politiche dirette» (p. VIII), sarebbe bene evitare di decidere chi tra il relativista e l’antirelativista sia il vero nemico della democrazia liberale. Come dargli torto? Marcello Ostinelli, Locarno
Adressen der Autoren / Adresses des auteurs Stefania Achella, Dr. phil., Università di Napoli «Federico II», Facoltà di Lettere e Filosofia, Dipartimento di Filosofia «A. Aliotta», Via Porta di Massa 1, I-80133 Napoli Rossella Bonito Oliva, Prof. Dr. phil., Università di Napoli «L’Orientale», Facoltà di Lettere e Filosofia, Dipartimento di Filosofia e Politica, Largo S. Giovanni Maggiore 30, I-80133 Napoli Jacques Bouveresse, Dr ès lettres, professeur au Collège de France, 11, place Marcelin Berthelot, F-75231 Paris Cedex 05 Giuseppe Cantillo, Prof. Dr. phil., Università di Napoli «Federico II», Facoltà di Lettere e Filosofia, Dipartimento di Filosofia «A. Aliotta», Via Porta di Massa 1, I-80133 Napoli Roberto Celada Ballanti, Prof. Dr. phil., Università di Genova, Facoltà di Lettere e Filosofia, Dipartimento di Filosofia, Via Balbi 4, I-16126 Genova Andreas Cesana, Prof. Dr. phil., Studium generale der Universität Mainz, D-55099 Mainz Anna Donise, Dr. phil., Università di Napoli «Federico II», Facoltà di Lettere e Filosofia, Dipartimento di Filosofia «A. Aliotta», Via Porta di Massa 1, I-80133 Napoli Claudio Fiorillo, Dr. phil., Via Satrico 33, I-00183 Roma Angela Giustino Vitolo, Dr. phil., Università di Napoli «Federico II», Facoltà di Lettere e Filosofia, Dipartimento di Filosofia «A. Aliotta», Via Porta di Massa 1, I-80133 Napoli Helmut Hühn, Dr. phil., Humboldtstr. 34, D-07743 Jena Joël Lonfat, licencié ès lettres, Chemin du Trèfle-Blanc 16, CH-1228 Planles-Ouates Francesco Miano, Prof. Dr. phil., Università di Roma «Tor Vergata», Facoltà di Lettere e Filosofia, Dipartimento di Ricerche Filosofiche, Via Columbia 1, I-00133 Roma Marcello Ostinelli, Dr. phil., professore all’Alta Scuola Pedagogica, Piazza San Francesco, CH-6600 Locarno Jonas Pfister, Dr. phil., Universität Bern, Institut für Philosophie, Unitobler, Länggassstraße 49a, CH-3000 Bern 9 Thomas Rentsch, Prof. Dr. phil., Technische Universität Dresden, Institut für Philosophie, D-01062 Dresden
Paola Ricci Sindoni, Prof. Dr. phil., Università di Messina, Facoltà di Lettere e Filosofia, Dipartimento di Storia e Scienze Umane, Polo Annunziata, I-98168 Messina Joachim Ringleben, Prof. Dr. theol., Universität Göttingen, Vereinigte Theologische Seminare, Platz der Göttinger Sieben 2, D-37073 Göttingen Kurt Salamun, Prof. em. Dr. phil., Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Philosophie, Heinrichstraße 26/5, A-8010 Graz Hans Saner, Dr. phil. Dr. h. c., Wanderstrasse 10, CH-4054 Basel Harald Stelzer, Dr. phil., Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Philosophie, Heinrichstraße 26, A-8010 Graz Marcel Weber, Prof. Dr. phil., Universität Basel, Programm für Wissenschaftsforschung und Philosophisches Seminar, Missionsstraße 21, CH-4003 Basel Bernd Weidmann, Dr. phil., Gaisbergstraße 78, D-69115 Heidelberg Reiner Wiehl, Prof. em. Dr. phil., Universität Heidelberg, Philosophisches Seminar, Schulgasse 6, D-69117 Heidelberg
Redaktion / Rédaction Anton Hügli, Prof. em. Dr. phil., Universität Basel, Philosophisches Seminar, Nadelberg 6-8, CH-4051 Basel Curzio Chiesa, Dr ès lettres, maître d’enseignement et de recherche à l’Université de Genève, Département de philosophie, CH-1211 Genève 4 Gasteditor / Éditeur invité: Steffen Wagner, Dr. phil., Università di Napoli «Federico II», Facoltà di Lettere e Filosofia, Dipartimento di Filosofia «A. Aliotta», Via Porta di Massa 1, I-80133 Napoli
Das Signet des 1488 gegründeten Druck- und Verlagshauses Schwabe reicht zurück in die Anfänge der Buchdruckerkunst und stammt aus dem Umkreis von Hans Holbein. Es ist die Druckermarke der Petri; sie illustriert die Bibelstelle Jeremia 23,29: «Ist nicht mein Wort wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?»
Karl Jaspers hat in seiner Entfaltung des Kant’schen Gedankens einer Religion innerhalb der Grenzen der kritischen Vernunft einen Begriff des philosophischen Glaubens entwickelt, der keinen irrationalen Sprung voraussetzt, sondern auf dem nicht abweisbaren Glauben des einzelnen Menschen beruht, der sich – in seiner geschichtlichen Situation – in seinem Denken zu orientieren sucht und nach dem Umgreifenden fragt, das alles Seiende transzendiert und sich jeder Objektivierung und Fixierung entzieht. Jaspers stellt die Philosophie vor die Frage, wie sie es mit dieser Möglichkeit eines neben Wissenschaft und Offenbarungsreligion dritten Weges auf dem Boden einer universalen Vernunft hält. Dies ist nicht nur eine Schicksalsfrage der Philosophie, sondern in der heutigen Situation eines angeblich unversöhnlichen Kampfes der Kulturen letztlich auch eine Schicksalsfrage der Menschheit. Anton Hügli, geb. 1939, studierte Philosophie, Psychologie, Germanistik/Nordistik und Mathematik in Basel und Kopenhagen. Er war von 1981 bis 2001 Direktor des Pädagogischen Instituts Basel-Stadt und ab 1981 Privatdozent, dann außerordentlicher Professor und von 2001 bis 2005 vollamtlicher Professor für Philosophie und Pädagogik an der Universität Basel. Curzio Chiesa, geb. 1953, studierte Philosophie in Genf, Paris und Cambridge. Er ist seit 1978 Maître d’enseignement et de recherche für antike und mittelalterliche Philosophie an der Universität Genf.
S T U D I A P H I L O S O P H I C A Vol. 67/ 2008
Glaube und Wissen Croire et Savoir Zum 125. Geburtstag von Karl Jaspers À propos du 125e anniversaire de Karl Jaspers Redaktion: Anton Hügli Rédaction: Curzio Chiesa Gasteditor: Steffen Wagner
Glaube und Wissen Croire et Savoir
Steffen Wagner, geb. 1966, studierte Philosophie in Neapel, wo er 2003 promovierte. Seit 1997 ist er freier wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Neapel.
S T U D I A P H I L O S O P H I C A Vol. 67/2008
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Schwabe Verlag Basel
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